Scanner und K-Leser - Keulebernd
Mark Joseph
Taifun Duell
Thriller
Deutsch von Thomas Stegers
ECON Verlag
Düss...
48 downloads
926 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scanner und K-Leser - Keulebernd
Mark Joseph
Taifun Duell
Thriller
Deutsch von Thomas Stegers
ECON Verlag
Düsseldorf • Wien • New York • Moskau
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Typhoon
Originalverlag: Simon and Schuster, New York
Übersetzt von Thomas Stegers
Copyright © 1991 by Mark Joseph
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Joseph, Mark: Taifun-Duell: Thriller/Mark Joseph. Dt. von Thomas
Stegers. - Düsseldorf; Wien; New York; Moskau:
EGON Verl. 1992
ISBN 3-430-15136-8
Copyright ©1992 der deutschen Ausgabe by EGON Verlag GmbH,
Düsseldorf, Wien, New York und Moskau.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen,
fotome-chanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen
Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in
Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
Lektorat: Hanna Siehr, Berlin
Gesetzt aus der Bembo, Linotype
Satz: Lichtsatz Heinrich Fanslau, Düsseldorf
Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim
Druck und Bindearbeiten: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-430-15136-8
Inhalt 1. Kapitel
Zenko.................................................................................................. 7
2. Kapitel
Sowjetski Sojus ................................................................................. 19
3. Kapitel
Sorokin ............................................................................................. 27
4. Kapitel
Malakow ........................................................................................... 36
5. Kapitel
Deminow........................................................................................... 47
6. Kapitel
USS »Reno«...................................................................................... 55
7. Kapitel
Blaunasen.......................................................................................... 65
8. Kapitel
Blaue Lichter..................................................................................... 74
9. Kapitel
Die Barentssee................................................................................... 84
10. Kapitel
Archangelsk ...................................................................................... 93
11. Kapitel
Weißer Stern ................................................................................... 101
12. Kapitel
Petja ................................................................................................ 112
13. Kapitel
Minski............................................................................................. 122
14. Kapitel
Scharsarskiew.................................................................................. 132
15. Kapitel
Ein Loch im Wasser ........................................................................ 140
16. Kapitel
Margarita......................................................................................... 150
17. Kapitel
Geheiminformation.......................................................................... 159
18. Kapitel
Kommando und Kontrolle ............................................................... 169
19. Kapitel
Taifun ............................................................................................. 178
20. Kapitel
Big Iwan ......................................................................................... 186
21. Kapitel
Täuschung....................................................................................... 195
22. Kapitel
Minsk.............................................................................................. 206
23. Kapitel
Tamir .............................................................................................. 219
24. Kapitel
Das Weiße Meer.............................................................................. 231
25. Kapitel
Waffenstillstand .............................................................................. 244
26. Kapitel
Gorki............................................................................................... 255
27. Kapitel
Der Tanz ......................................................................................... 264
28. Kapitel
Schiffbruch...................................................................................... 275
29. Kapitel
Riziow............................................................................................. 290
30. Kapitel
Erster Mai ....................................................................................... 301
31. Kapitel
Durchbruch ..................................................................................... 309
32. Kapitel
Magnetische Flugortung .................................................................. 323
33. Kapitel
Fischer ............................................................................................ 331
34. Kapitel
Raketen ........................................................................................... 340
35. Kapitel
Eis................................................................................................... 353
36. Kapitel
Gefechtsregeln................................................................................. 364
37. Kapitel
Lenin............................................................................................... 377
38. Kapitel
Blitz ................................................................................................ 386
1. Kapitel Zenko Der Hafen des Marinestützpunktes Gremicha wurde von einem weit ins Meer hineinragenden Wellenbrecher geschützt, der die arktische Bastion der russischen Seestreitkräfte vor den Winden und der eisigen Barentssee abschirmte. Im April, wenn die Eisdecke zu schmelzen begann, spazierte der Sta tionskommandant des Stützpunktes, Vizeadmiral Stefan Zenko, in den Abendstunden gern den Damm entlang und hing seinen Gedanken nach. Am Ende des Brechers lag stets ein kleines Boot für ihn bereit, mit dem er anschließend in den Hafen zurückruderte. Zenko war ein kleiner, untersetzter Mann mit spitzem Bauch und einem tätowierten Schiffskompaß auf dem rechten Handrücken; nicht gerade sonderlich anziehend, aber gutmü tig. Als U-Boot-Mann mit Leib und Seele erfreute er sich bei den Männern, die er befehligte, großer Beliebtheit. Abend für Abend meldeten sich zehn Matrosen freiwillig für die ehren volle Aufgabe, das Boot ans Ende des Wellenbrechers zu rudern. Manchmal fand Zenko einen saftigen, reifen Pfirsich oder eine kleine Flasche georgischen Brandy unter den Riemen versteckt. Als einfacher Mann ohne jegliche Ansprüche war er jedesmal erstaunt und gerührt von diesen kleinen Gaben. An diesem Abend, Ende April, bestieg Zenko, bekleidet mit einem schwarzen Arbeitsanzug und ausgelatschten Gummi stiefeln, auf dem Kopf eine warme Pelzkappe, wie gewohnt das Boot für seine nächtliche Ausfahrt. Als er nach den Ruderpin nen griff, starrte ihm sein eigenes Gesicht vom Titelblatt des »Nordlicht« entgegen, der Wochenzeitung der Nordflotte, Trägerin des Rotbannerordens. Sicher hatte ein Matrose, stolz auf seinen Kommandanten, ihm die Zeitung ins Boot gelegt. Zenko nahm sie in die Hand, auf Armeslänge vorgestreckt, 7
hielt sie auf dem Kopf und fragte sich vergnügt, ob seine Frau ihn auf dem Bild wohl erkennen würde. Seinen Lesern präsentierte das »Nordlicht« den Fregattenka pitän des Sechsten Strategischen Raketen-U-Boot-Gcschwa ders als einen Mann mit weicher Haut, ernster Miene, geschlossenen Lippen, einer tadellos sitzenden Uniform und einer hohen, spitzen Mütze ohne Ohrenklappen. Der echte Stefan Zenko musste schmunzeln. Er verzog das pockennar bige Gesicht zu einem breiten Grinsen und zeigte eine Mund höhle voller Goldzähne. Seine Uniformen paßten nie, und seine militärischen Orden trug er nur selten, schon gar nicht den »Helden der Sowjetunion«, der auf dem Foto deutlich sichtbar ins Licht gerückt war und der jetzt, nach dem Zusammenbruch der Union, nicht mehr so gern gesehen war. Zenko seufzte. Held zu sein war langweilig. Die Bildunter schrift lautete: »Der Mann, der das Eis besiegte.« Wenigstens das stimmte, dachte Zenko, aber es las sich wie ein Nachruf. Während die meisten Offiziere in ihrer Ausbildung darauf vor bereitet wurden, gegen die U.S. Navy anzutreten, führte Zenko seinen Kampf gegen das Eis, in seinen Augen die Gitterstäbe im Seegefängnis, die das vereiste Meer für die russische Marine darstellte. Rußland hatte im Verlauf seiner Geschichte vielen seefahrenden Nationen gegenübergestanden - Schwe den, England, Deutschland, Polen, Japan und den Vereinigten Staaten -, deren Flotten die Hochsee durchpflügten, während russische Seeleute die langen Winter hindurch an der Küste festsaßen, durch das unerbittliche Eis an den Hafen gebunden. Im Sommer, wenn die Eisdecke schmolz und Schiffe von Archangelsk, Odessa, Sankt Petersburg und Wladiwostok aus ablegen konnten, mussten sie sich auf enge, leicht zu blockie rende Fahrrinnen beschränken. Jahrhundertelang war auf jeden spektakulären Sieg der Marine qualvolle Enttäuschung und Erniedrigung gefolgt. Zenko dachte zurück an den Tag vor sechsundvierzig 8
Jahren, als er als Achtjähriger in Murmansk im Eis eingebrochen war und überlebte, was einer Sensation gleichkam. Von dem Moment an wurde Eis zu seiner Leidenschaft. Je mehr er sich damit beschäftigte, desto mehr faszinierte ihn Meereis, seine komplexe Natur und physikalischen Eigenschaften. Als Kadett auf der Marineakademie verfaßte er Seminararbeiten über die geopolitische und militärische Bedeutung von jahreszeitlich bedingten Eisschichten. Er widersprach der fatalistischen Ansicht, Eis sei ein unüberwindliches Hindernis, und war der Überzeugung, Rußland könne, im Gegenteil, Nutzen aus dem Eis ziehen. In seiner Abschlußarbeit präsentierte er den Ent wurf eines riesenhaften atomgetriebenen U-Bootes, das unter dem Eis fahren, sich dort versteckt halten und kämpfen konnte. 170 Meter lang, 25 Meter breit, besaß sein U-Boot fast die Ausmaße eines Flugzeugträgers und hatte zwei miteinander verschweißte Druckkörperwände, die von einer dritten Wand, dem äußeren Rumpf, umgeben waren. Hauptmerkmal des Bootes war seine ungeheure Größe, die genügend Auftrieb schuf, um durch eine drei Meter dicke Decke aus festem Packeis zu stoßen und von der Wasseroberfläche aus Langstreckenraketen abzuschießen. Ein Phantast, dickköpfig und unnachgiebig wie das Eis, hatte Zenko zwanzig Jahre lang der Admiralität zugesetzt, bis das Ministerium für Rüstungsindustrie sein Eisschiff endlich bauen ließ, das größte und leistungsstärkste U-Boot, das jemals konstruiert worden war. Er nannte sein Schiff »Taifun«, der Russe. Wie das englische »Typhoon« war der Name von dem Begriff »Dai Fung« aus dem Mandarin abgeleitet, wo es »der stärkste Wind« bedeutet. Wie ein atomarer Wirbelsturm hatte die »Taifun« die alte Sowjetunion in eine starke Seemacht verwandelt. Im Gegensatz zu früheren Generationen sowjeti scher U-Boote war die »Taifun« außerordentlich leise. Auf Patrouille, irgendwo unter der Eisdecke versteckt, blieb sie für 9
die Sonare und Satelliten der NATO unauffindbar. Mit diesem Schiff und fünf weiteren derselben Klasse, die noch folgten, hatte sich die sowjetische Marine auf eine Stufe mit der U.S. Navy katapultiert, eine seegestützte atomare Bedrohung erster Ordnung. Hochgerüstet mit furchterregenden Waffen, hatten Zenkos Taifunboote die nördlichen Meere erobert und den Arktischen Ozean in russisches Gewässer verwandelt. Jetzt, im Alter von vierundfünfzig Jahren, konnte er ohne jede Übertrcibung in aller Bescheidenheit behaupten, das Unmögliche erreicht zu haben. Er hatte tatsächlich das Eis besiegt und im Verlauf seines Siegeszuges Rußlands Feinde mit Angst und Schrecken erfüllt. Für seine Dienste hatte er einen Heldenstern bekommen, und gelegentlich erschien sein Bild im »Nordlicht«. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, die Rote Armee war in Auflösung begriffen, aber seine Taifunboote hatten Bestand. Zenko legte die Zeitung auf den hinteren Sitz des Bootes und ruderte auf die Klippen von Gremicha zu. Neunzig Meter steil aus dem Meer aufragend, hatten die majestätischen Felsen Generationen von Seeleuten als Wegweiser gedient, der die Einfahrt ins Weiße Meer markierte. Jetzt hatten sie ausgedient. Mit der Errichtung des Marinestützpunktes Gremicha war der Hafen aus allen Seekarten getilgt worden. An die Seefahrer der ganzen Welt war die Nachricht ergangen: Jedes Schiff, das sich Gremicha auf zwanzig Kilometer nähert, wird aufgebracht oder versenkt. Zenko legte sich in die Riemen. Den Blick nach achtern gerichtet und die See im Norden, prüfte er den auf seiner Hand tätowierten Kompaß und lachte über seinen Aberglauben. 300 Meter unter der Wasseroberfläche, in einer Welt ohne Licht, brauchte Zenko nur auf seine Hand zu schauen; dort unten kam er sich nie verloren vor. Hier oben jedoch, im Schutz seines Heimathafens, mit zwei ausgedienten alten Pinnen gegen eine milde See anrudernd, spürte er, wie er die Orientierung verlor. 10
Die Dinge, die er am meisten liebte, seine Heimat, die Marine, die Taifunboote, alles, was sein Leben lang festgefügt und vorhersehbar gewesen war wie Packeis im Dezember, war zu einer bedeutungslosen Eiszone aus übereinandergeschobe nen gefährlichen Schollen und kleinen Eisbergen dahinge schmolzen. Politische und ökonomische Instabilität rissen das Land auseinander. Ethnische Auseinandersetzungen und der Abspaltungswille einzelner Republiken drohten in einen Bür gerkrieg zu münden. Wie bei einer Kabelung zerrten die wider streitenden Kräfte der Union und der Sezession selbst an der Marine. Zenkos Vorgesetzte, der Kommandant der Nordflotte, Admiral Iwan Deminow, hatte ein Rundschreiben zur Unter stützung der Union und Wiederzulassung der Partei unter den höheren Offizieren der Flotte zirkulieren lassen. Oberflächlich betrachtet war das Schreiben eine patriotische Erklärung, doch Zenko erkannte die wahre Absicht, die kaum verhüllte Dro hung gegen diejenigen, die die Sowjetunion zerstören wollten, und er hatte seine Unterschrift verweigert. Als Gegenmaßnahme hatte Deminow seine ganze Autorität ausgenutzt und seinen Schwiegersohn, den Ersten Kapitän Wladimir Malakow, zum Kommandanten des sechsten und letzten U-Boots der Taifunklasse ernannt, der gerade erst in Betrieb genommenen »Sowjetski Sojus«. Der Name kam noch aus der alten Zeit, und man stritt sich darüber, ob das U-Boot nicht umgetauft werden sollte in »Rußland«; aber solange nicht geklärt war, unter welches Oberkommando die Taifunboote in Zukunft gestellt werden sollten, blieb es zur Genugtuung von Deminow bei dem alten Namen. Zenko wurmte die Beförderung Malakows, aber er konnte nichts ausrichten. Malakow war besonders qualifiziert und hatte die höchste Bewertung aller U-Boot-Kommandanten der Nordflotte, mit Ausnahme von Zenko. Dann hatte Deminow, trotz der Ein wände Zenkos, Malakow während der ersten Patrouille der 11
»Sowjetski Sojus« befohlen, ein SS-N-20-Raketengeschoß abzufeuern, als Testschuß. Der Befehl war von keinem Gerin geren gegengezeichnet als von Flottenadmiral V. J. Walotin, Erster Kommandant der russischen Marine. Ganz im Zeichen von Glasnost hatte die Admiralität angeregt, den Film mit dem Raketentest nach amerikanischem Vorbild in der abendlichen Nachrichtensendung im Fernsehen auszustrahlen. Zenko hielt das für ausgemachten Schwachsinn, aber trotz Admiralsstrei fen und Heldenstern: er war bloß Fregattenkapitän eines UBoot-Geschwaders und machte keine Politik, er führte Befehle aus. Er ruderte weiter. Das Hafenwasser war durchsetzt von klei nen Schollen aus Neueis. In der finsteren arktischen Nacht sah die Lichterkette entlang des Wellenbrechers aus wie ein nach Norden weisendes Leuchtfeuer. Weiter draußen verriet eine Landschaft aus violettem Schaum und blinkenden Bojen die offene See. In den warmen Frühlingswochen hatte sich das Packeis 30 Kilometer von dem Küstenstreifen entfernt ins Weiße Meer zurückgezogen. Zenko war sich darüber im klaren, dass seine widerstandsfä higen, dreiwandigen U-Boote Produkte des Kalten Krieges waren und ausgedient hatten. Die Taifunboote waren Relikte der Geschichte, Wracks, am Felsen des Kommunismus ge strandet. Zenko hatte das Eis bezwungen und sein Land von einer geographischen Fessel befreit, doch am Ende seines Lebenswerks hatte er unergründliche Macht in die Hände von Männern übergehen sehen, deren Motiven und Ambitionen er mißtraute. Der Artikel im »Nordlicht« feierte die Inbetriebnahme der »Sowjetski Sojus«, des letzten Bootes der Taifunklasse. Wie ihre Vorläufer war auch sie mit Torpedos, Minen, Schiffsab wehrraketen und zwanzig Langstreckenraketengeschossen mit nuklearen Mehrfachsprengköpfen bestückt. Ein einziges Tai funboot konnte jedes Land auf der Erde auslöschen. 12
Fünf Staaten besaßen U-Boote mit Raketengeschossen an Bord - die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Amerika, England, Frankreich und China -, und jede Ausfahrt eines die ser Schiffe bedeutete einen möglichen atomaren Holocaust. Mit jedem Tag verringerte sich zwar die Bedrohung eines internationalen Konflikts, aber solange es diese Waffen gab, stellten sie für jeden Einzelkämpfer und für jede politische Gruppierung mit Gier nach Macht eine geradezu unwidersteh liche Versuchung dar. Gedankenverloren ruderte Zenko weiter und erreichte wenige Augenblicke später den Fuß der Klippen. Er wußte genau, dass er überwacht wurde, und als das Ruderboot bis auf zehn Meter an den Felsen herangekommen war, öffnete sich eine Verschlußklappe in der steinernen Wand. In gespenstischer Stille teilte sich der Felsen. Auf geräuschlosen Gaslagern glitten zwei geschickt getarnte Tore zurück und eröffneten den Zugang zu einer riesigen, in den Klippen versteckten Höhle. Dynamit und Preßluft hatten einen 900 Meter langen Stollen in den Granit getrieben und einen Hohlraum geschaffen, der 750 Meter tief und 150 Meter breit war. Beim höchsten Stand der Flut waren bis zur steinernen Decke noch 30 Meter Platz. Zenko ruderte mit seinem kleinen Boot durch die schmale Öffnung, und hinter ihm schloß sich die Seeschleuse wieder. Die Matrosen nannten sie nur Zenkos Höhle, und die traum hafte Pracht der Anlage verschlug ihm jedesmal den Atem. Alle sechs Boote der Taifunklasse lagen vor Anker, was selten der Fall war. Zenko war umgeben von seinen Schiffen, wie eine Schildkröte inmitten eines Schwarms Wale. Direkt vor ihm zerrten Taue an der »Lenin«, die am Tag zuvor von einer Patrouille heimgekehrt war. Das gewaltige UBoot wirkte wie eine einzige Stahlmasse, ein atomares Meerungeheuer. Matrosen bewegten sich wie wimmelnde Ameisen an Deck. Als die »Lenin« herumgezogen wurde, fiel 13
sein Blick auf die »Rodina« - das Vaterland -, die wie ein gestrandetes Seeungetüm auf einem Trockendock ruhte. Schweißer krochen über den fleckigen grauen Rumpf und reparierten die von zahllosen Zusammenstößen mit dem Pack eis herrührenden Beulen und Schrammen. Rechter Hand rollte ein riesenhafter Kran den zweiten Kai entlang, zwischen den spinnenhaften Stahlbeinen eine SS-N-20-Rakete. Am vorderen Ende des Kais hatte die »Erster Mai« angelegt, die Rake tensilos zur Neuausrüstung weit geöffnet. Die Wand am hinte ren Ende der Höhle schien ganz aus Tafelglas. Hinter den aus dem Felsgestein herausgeschnittenen Fenstern lagen Büros, ein halbes Dutzend Läden, ein Bunker aus gehärtetem Stahl für die Lagerung atomarer Waffen und eine abhörsichere Nachrichtenzentrale. Linker Hand hievte ein zweiter Kran ein Rumpfteil der Steuerbord-Reaktorabteilung des »Großen Vaterländischen Krieges« hoch. Dahinter lag die »Taifun«, die immer noch unter Zenkos Kommando stand. Hinter der »Taifun« hatte die »Sowjetski Sojus« festgemacht. Ein hellroter Wimpel, auf russischen Schiffen das Zeichen zum Auslaufen, flatterte am Heck des neuen Schiffes. In wenigen Stunden sollte Kapitän Malakow ins Weiße Meer fahren und von einem Raketenversuchsgelände aus eine Testrakete auf ein Ziel in Sibirien abfeuern. Zenko schüttelte bestürzt den Kopf. Der Raketenstart würde auf den Videoschirmen Dutzender NATO-Kommandostellen aufblitzen. Der Kondensstreifen würde im Westen als ein uner wartetes Wiedererstarken sowjetischer Macht verstanden wer den. Oder verfolgten Admiral Deminow und Flottenadmiral Walontin ganz andere Ziele? Zenko konnte sich über eine so törichte Übung nur wundern. Am Heck der »Sowjetski Sojus« klappte eine Luke auf, und der Rudergänger des Schiffes, Obermatrose Wadim Sorokin, stemmte sich hoch an Deck. Leise schloß er die Luke, richtete 14
sich auf, atmete die kühle, bewegungslose Luft ein und über flog mit einem Blick das Deck. Festgezurrt an der Pier, im grellen Scheinwerferlicht von Zenkos Höhle, sah der massige Rumpf der »Sowjetski Sojus« eher wie ein Fabrikschiff denn wie ein Kriegsschiff aus. Sorokin war achtundzwanzig Jahre alt; er hatte hohe, breite Wangenknochen und Tätowierungen von den Schulterblättern bis zu den Fingerknöcheln. Während er sich eine billige bulga rische Zigarre anzündete, ging er die paar Schritte bis zu dem gedrungenen Turm vor, wobei seine Füße lautlos über den schalldämpfenden Deckbelag glitten. Die vordere Raketenab teilung, so groß wie ein Moskauer Häuserblock, verschwand in einer Hülle aus Nebel. Die »Sowjetski Sojus« strahlte nackte Gewalt aus. Sorokin spürte förmlich die zwingende Kraft ihrer atomaren Magie, als er sich mitten auf der BackbordReaktorabteilung niederließ und seine in dieser Umgebung exotisch wirkenden Nike-Sportschuhe, die roten Shorts und einen weißen Pullunder anzog, auf denen noch die Insignien der sowjetischen Marine prangten. Vier Runden an Deck, vom Heck zum Bug, ergaben genau tausend Meter. Sorokin hatte sich vorgenommen, drei Kilo meter zu laufen, dann an Land zu gehen und eine letzte Flasche Wodka zu kippen, bevor das Schiff in See stach. Er klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne, zog seine lederne Panzer kommandantenkappe über die Ohren und setzte sich in Bewe gung. Er jagte über das Deck, wobei er die Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen unter seinen Füßen jeweils laut vor sich hin sagte: Backbord-Reaktorabteilung, hintere Trimmzellen, am Turm vorbei zum Scheitelpunkt, vordere Trimmzellen, Mannschaftsmesse, Kombüse, Kommandoabteilung, Steuer bord-Raketenabteilung, wieder zurück zum Heck, BackbordRaketenabteilung, Kommandoabteilung. Auf See lief Sorokin im Innern des Bootes, um die hellgelben Silos in den Rake tenabteilungen herum. Im Hafen zog er es vor, an Deck zu 15
laufen, selbst bei kältestem Wetter. Jetzt wieder am Turm vor bei, hinten über die Trimmzellen, die Reaktorabteilung, jetzt langsam zum Maschinenraum hinuntergleiten, durch das kalte Wasser am tiefsten Punkt des Ruders, das viereinhalb Meter über Deck aufragte. Nicht anhalten, nicht ausrutschen. Über der Raketenabteilung zählte Sorokin leise rhythmisch auf: New York, Washington, New London, Charleston, Nor folk, Omaha, Seattle, San Diego, Honolulu - zwanzig stra tegische Ziele, zwanzig Feuerstürme, zwanzigmal acht Mil lionen Tote. Wen kümmerte es schon, wo die Menschen wohnten? Jeden Tag joggte Sorokin über das schwimmende Raketengelände und dachte über Sinn und Zweck des Ganzen nach. Eine regelrechte Shiva, die die Welt sicherer machen sollte. Aber Waffen waren nicht sein Gebiet. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Mannschaft reibungslos funk tionierte, und er würde seine Pflicht tun, auch wenn die Silos mit Beton gefüllt wären. Er sah Zenkos Boot neun Meter unter sich langsam vorbei gleiten, hielt im Laufen inne und winkte dem Admiral zu. »'n Abend, Kapitän.« Als Kommandant der »Taifun« zog Zenko die Anrede »Kapitän« vor. »Admiral« klang in seinen Ohren zu ehrenvoll. »Guten Abend, Wadim. Ich sehe, Sie drehen Ihre übliche Runde.« »Sie wohl auch, Sir.« Die Obermatrosen, die Versorgungsoffiziere, bildeten das Rückgrat der Marine. Vor zehn Jahren war Sorokin als Rekrut an Bord der »Taifun« gekommen und war dem Schiff seitdem treu geblieben. Fasziniert von Zenkos Charisma, diente er in der Kerntruppe, die jede neue Mannschaft der Flottille ausbil dete. Als die »Sowjetski Sojus« in Betrieb genommen wurde, hatte Zenko ihn gebeten, als Obermatrose auf dem neuen Schiff zu bleiben. Sorokin gefiel die Idee nicht sonderlich, er hätte es 16
vorgezogen, auf der »Taifun« zu bleiben, aber Befehl war Befehl. Sorokin zeigte auf die Zeitung und sagte: »Ich habe Ihr Bild gesehen, Kapitän.« »Haben Sie das in mein Boot gelegt, Wadim?« »Ich gestehe.« »Und wo ist mein Brandy abgeblieben?« »Minski hat ihn getrunken.« Die beiden lachten. Zenko nahm die Pinnen in die Hände und machte sich wieder ans Rudern. »Das ist wohl Ihre Art, mir zu vermitteln, dass Sie wieder auf der >Taifun< Dienst tun wollen, hab' ich recht?« »Kapitän Malakow führt ein strenges Regiment«, sagte Sorokin. »Bei ihm kann ich nicht soviel Geld verdienen wie sonst.« Zenko schmunzelte. »Sorokin, Sie sind der einzige, den ich kenne, der meint, die Marine könnte ihn zu einem reichen Mann machen.« »Stimmt. Ich fasse das als Kompliment auf. Bloß kann ich zu nichts kommen, wenn ich nicht in Ruhe meinen Wettgeschäften nachgehen kann.« »Ich brauche Sie auf der >Sowjetski Sojus<, Wadim«, entgegnete Zenko plötzlich ernst. »Ich brauche Männer, denen ich vertrauen kann, auf allen Schiffen der Flottille.« »Ich habe verstanden, Kapitän.“ »Da bin ich sicher. Keine Sorge um das Geld. Ich kümmere mich um Sie.« »Vielen Dank, sehr nett von Ihnen, Kapitän.« »Halten Sie Augen und Ohren offen während der Raketen übung. Ich sehe Sie dann, wenn das Schiff wieder einläuft.« »In Ordnung. Schönen Abend noch, Kapitän.« Noch während er das Ruderboot hinter dem Bug der »So wjetski Sojus« verschwinden sah, entschloß sich Sorokin, seine Joggingsachen zusammenzupacken und sich die letzte Flasche 17
Wodka jetzt schon zu genehmigen.
18
2. Kapitel Sowjetski Sojus Am nächsten Morgen stand Zenko in seinem Büro in der abhörsicheren Nachrichtenzentrale im Innern der Höhle und schaute durch das Tafelglas auf die an den Kais festgezurrten Schiffe herab. An der »Sowjetski Sojus« lagen seewärts zwei Taue. In einer dreiviertel Stunde hatte die Flut ihren Höchst stand erreicht, Zeit für das Schiff, das Tor zu passieren und in See zu stechen. Das Wetter war bedeckt, die Sichtweite betrug fünf Meilen, ein herrlicher Tag, um unter die Eisdecke zu tau chen. Das Büro war wie der Mann, dem es gehörte: schlicht und schmucklos. Den Schreibtisch aus Metall zierte ein Bild seiner Frau Margarita. Zenkos wahres Zuhause war die Kapitänska jüte an Bord der »Taifun«, aber sein Schiff brachte, wie die anderen Schiffe der Flottille auch, stets bloß zwei Wochen auf See zu, und das nur alle drei Monate. Geschützt durch neunzig Meter massiven Granit, beher bergte die Nachrichtenzentrale die technisch fortschrittlichsten Funkeinrichtungen und Computer zur Codierung und Deco dierung von Meldungen, die es in den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes gab. Von hier verfügte Zenko über eine direkte Leitung zu seinen U-Booten, der Admiralität, dem Kreml, ja sogar zu Margarita in Sankt Petersburg. Jegliche Kommunikation mit den U-Booten der Taifunklasse hatte in diesen aus dem Felsen gehauenen, schallgedämpften« klimati sierten Räumen ihren Ursprung. ELF-Signale, extreme Nie derfrequenzsignale, die mehrere hundert Meter Meerwasser durchdringen konnten, wurden von einer riesigen oberirdi schen Antenne übertragen. VLF-Signale, einfache Niederfre quenzsignale, die fünfzehn Meter unter der Wasseroberfläche empfangen werden konnten, wurden hier zur Weiterleitung an 19
die Schiffe auf See über verschlüsselte Kanäle an Flugzeuge durchgegeben. Funksignale konnten auch von anderen Sendern auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wiederholt werden, die geheime Codierung jedoch, die für jede einzelne Operations phase eines strategischen U-Boots erforderlich war, konnte nur in Gremicha geleistet werden. Ein Stab von dreißig Kryp tographen entwarf immer wieder neue Nachrichtencodes und, was mindestens ebensowichtig war, auch die Geheimcodes tür die Bedienung der Atomwaffen. Zenko nahm den Hörer seines Telefons in die Hand und rief den Ersten Offizier vom Dienst der Zentrale zu sich, Major Boris Riziow vom GRU, dem militärischen Abschirmdienst. Der blonde, dreißig Jahre alte Nachrichtenoffizier klopfte an, betrat das Büro und wartete in respektvollem Abstand. »Guten Morgen, Boris. Wie geht es Ihrer Familie?« »Gut. Vielen Dank.« »Ist Genosse Computer bereit, uns die Geheimcodes für die >Sowjetski Sojus< zu generieren?« »Jawohl. Er ist bereit.« Begleitet von Riziow passierte Zenko zwei Sicherheits schranken, zeigte wie jeder Mitarbeiter seinen Ausweis und betrat den Codierraum. Er setzte sich an einen Computer, schloß den Terminal auf, tippte sein Paßwort ein und pro duzierte zur einmaligen Verwendung gedachte Algorithmen, die wiederum ein spezifisches Set von Codes hervorzauberten, das nur für ein Schiff und für eine Fahrt verwendet werden durfte. Der Computer leitete die Nachrichtencodes automatisch an den Funkraum weiter, wo ein zweiter Computer die Sequen zen überprüfte und bestätigte. Zenko ließ die Nachrichten- und Waffencodes zweimal auf Spezialpapier ausdrucken, kehrte zurück in sein Büro, noch immer in Begleitung von Major Riziow, und hinterlegte eine Codierungsserie in seinem Safe. 20
Die zweite Serie steckte er in einen Aktenkoffer und trug, eskortiert von Major Riziow, die ausgedruckten Seiten persön lich hinunter zum Kai, wo die »Sowjetski Sojus« lag. Bewaff nete Marineinfanteristen begrüßten den Admiral und Major Riziow mit einem Pfeifensignal an Bord, und beide kletterten durch eine Luke direkt in die Kommandozentrale des U-Boots. Verglichen mit den meisten anderen Schiffen der Marine war die »Sowjetski Sojus« ein Luxuskreuzer. Ein tiefroter Teppichbelag aus Industriefaser bedeckte den Boden der Kommandozentrale, und grelles Neonlicht beleuchtete die Schaltpulte. Das vordere Schott wurde vollkommen von einem Mitsubishi-Navigationsmonitor eingenommen, der eine elektronische Karte der Barentssee und der Reede von Gremicha anzeigte. Ein aufblinkender roter Lichtpunkt markierte die Position des U-Boots. Rudergänger Sorokin stand am Navigationstisch, bereit abzulegen. Ob zum Vor- oder Nachteil, die Admiralität setzte drauf, dass Maschinen verläßlicher seien als Menschen. Alle sechs UBoote der Taifunklasse besaßen eine fortschrittliche Auto matisierungstechnologie, die auf jedem der gewaltigen Schiffe eine Besatzung von 150 Mann erforderte. Während die Männer das Geschehen auf Anzeigentafeln verfolgten, verrichteten Computer und Roboter die eigentliche Arbeit, drehten an Ven tilen, regelten den Dampffluß zwischen den beiden Reaktoren und den Antriebssystemen und hielten das Schiff in der Waagerechten. Redundanz war in die Schiffe der Taifunklasse mit einge baut: doppelte Druckwand, zwei Reaktoren und eine Doppel schiffsschraube. Es spiegelte die parallel gelagerten Strukturen wider, die beim einige Jahre zurückliegenden Bau des Schiffes auch sonst in der früheren Sowjetunion existiert hatten. Die Partei glich der Regierung, der Backbordreaktor glich dem Steuerbordreaktor, und ebenso hatten alle sowjetischen Kriegsschiffe zwei Kommandanten. Der Erste Kapitän Wladi 21
mir Malakow, ein Marineoffizier, teilte sich das Kommando auf der »Sowjetski Sojus« mit einem »Zampolit«, dem Politof fizier, dem Ersten Kapitän Alexi Sergow, dessen Tage bei der Marine allerdings gezählt waren. Die beiden Kommandanten warteten in der Kapitänskajüte auf Zenko und Riziow. Als Zenko den Raum betrat, spürte er zum erstenmal deutlich das Ausbleiben jedes Zeichens von Willkommen an Bord eines Schiffes seiner Flottille, aber es gelang ihm, seine ablehnende Haltung gegenüber Malakow und Sergow hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. Er erledigte hastig die Formalitäten, übergab Malakow ein Set der Geheimcodes und verschaffte sich die nötigen Unterschriften. »Sie wissen, dass ich gegen diesen Raketentest bin«, sagte Zenko. »Was soll damit erreicht werden? Ich protestiere vor allem gegen den Vorschlag von Admiral Deminow, Aufnah men von dem Test im Fernsehen auszustrahlen.« »Bei allem Respekt, da muss ich widersprechen«, entgegnete Malakow steif und in offiziellem Tonfall. »Die Welt muss an die Macht der Marine erinnert werden.« Malakow hatte das gute Aussehen eines Filmstars, blonde Haare, die langsam ergrauten, ein ausgeprägtes Kinn und leuchtende blaue Augen. Er war über einen Meter achtzig groß, jeder Zoll der herrische Kommandant eines strategischen Raketen-U-Bootes. Er entstammte einer glanzvollen Familie von sowjetischen U-Boot-Männern. 1917 hatte sich sein Großvater, Andrej Malakow, der das Kommando über das UBoot »Beloye More« der kaiserlichen russischen Marine führte, den Revolutionären angeschlossen und einen Kreuzer des Zaren torpediert. Eine Generation später, 1945, während des Großen Vaterländischen Krieges, ging Malakows Vater Igor bei dem Versuch, einem deutschen Luftangriff über der Barentssee unter der Eisdecke zu entkommen, mit seinem UBoot, der SS-99, unter. Diese hehre Familientradition sowie seine Heirat mit der Tochter des Admirals Deminow 22
berechtigten Malakow dazu, sich als echter sowjetischer Ari stokrat zu fühlen, stolz, statusbewußt und empfindlich gegen über einem so gewöhnlichen Menschen wie Stefan Zenko. Der Zampolit Alexi Sergow kam aus einer völlig anderen Tradition. Politoffiziere repräsentierten die Partei und waren daher die direkten Nachfahren von Leo Trotzkis roten Kader truppen. Sergow war Terrorist aus Überzeugung, ein ver schlossener und humorloser Mensch, dessen Leben sich als eine lange Liste von Haßgefühlen zusammenfassen ließ. Für Zenko, der sich geweigert hatte, das Schreiben zur Unterstüt zung der Union und der Partei zu unterzeichnen, hatte er nur Verachtung übrig. Ausländer und ethnische Minderheiten konnte er nicht ausstehen, und bei den Begriffen Perestroika oder Glasnost oder gar Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bekam er cholerische Anfälle. Sergow war kein Mensch, der mit seiner Meinung hinterm Berg hielt. »Wir leben in einer neuen Zeit, Admiral«, sagte er zu Zenko. »Das Volk will sehen, wohin sein Geld fließt, und wir haben vor, es ihm zu demonstrieren. Sie werden ein Taifunboot zu sehen kriegen, eine Rakete, die Flugbahn und die Sprengköpfe, die mit bestechender Genauigkeit ihr Ziel treffen. Das wird nur zum Ruhm der Marine beitragen.« Zenko ließ die freundliche Fassade fallen. »Wenn das zuträfe«, entgegnete er scharf, »würde ich jeden Tag eine Rakete abschießen. Wenn Aufnahmen von diesem Test im Fernsehen gezeigt werden, sind fünf Minuten später die Stra ßen von Moskau mit Demonstranten übersät.« Sergow zuckte mit den Achseln. »Und genauso viele Men schen werden auf die Straßen gehen, um unsere unbesiegbaren Taifunboote zu feiern.« Zenko schüttelte den Kopf. »Sie haben Erlaubnis abzulegen, meine Herren«, sagte er. »Ich erwarte einen ausführlichen Bericht über den Raketentest, sobald Sie in Archangelsk ange kommen sind.« 23
Zenko machte auf dem Absatz kehrt und ging von Bord, Riziow folgte ergeben. Er ging zurück in sein Büro und nahm den Telefonhörer auf. »Geben Sie mir meine Frau in Sankt Petersburg, bitte.« Einen Augenblick später hörte er Margaritas helle Stimme aus dem Admiralitäts-Krankenhaus, wo sie als Chirurgin ar beitete. »Stefan?« »Hallo, Genossin Gemahlin.« Kokett entgegnete sie: »Ich habe heute das Bild eines Frem den in der Zeitung gesehen, mit deinem Namen darunter.“ »Sag mal, kannst du nicht die Pendelmaschine nehmen und heute noch herkommen?« fragte er unvermittelt. »Stimmt irgendwas nicht?«, wollte sie wissen. Sie hörte eine leichte Spannung in seiner Stimme. »Nein, wieso? Ich würde mich nur sehr über deine Gesell schaft freuen.« »Hab' schon einen Platz reserviert, Genosse Matrose.“ Zenko legte den Hörer auf, wandte sich um und betrachtete die »Sowjetski Sojus« durch die Glaswand seines Büros. Russische U-Boote legen ab wie einfache Straßenbahnen. Kein Musikkorps spielt auf, keine Familien stehen am Pier und wünschen gute Fahrt. Im Innern der Höhle rollten Kräne hin und her. Eine Kompanie der »Lenin« war am Kai angetreten und trieb Gymnastik, ohne sich umzudrehen und zuzuschauen. Nur Zenko folgte mit seinem Blick dem riesigen U-Boot, als es die Höhle verließ und durch die breiten Seeschleusen hinaus fuhr. In gespannter Stille tauchte die »Sowjetski Sojus« in die graue Kuppel des arktischen Himmels. Eine feine Kruste aus neuem Eis bedeckte den Hafen, aber das U-Boot durchschnitt die Eisschicht und glitt um den Wellenbrecher herum. Über dem Turm kreiste eine Radarantenne auf einem Mast. Schaum kronen und kleine weiße Eisschollen sprenkelten die Wasser 24
oberfläche, eine Mahnung an die zurückweichende Eisdecke dreißig Kilometer nördlich und östlich. Der vorgezogene Frühling hatte auch eine frühe Schmelze zur Folge gehabt, und entlang der Küste der Halbinsel Kola blieb nur die Gorlostraße fest zugefroren, der schmale Kanal, der von der Barentssee zum Weißen Meer führte. Ein Hubschraubergeschwader der U-Boot-Abwehr kreiste über ihnen und flog der »Sowjetski Sojus« voraus, während sie durch die Wellen pflügte. Fünfzehn Kilometer weiter draußen ließen die Hubschrauber die ersten von einem ganzen Dutzend Sonarbojen fallen, die das Wasser nach U-Booten absuchten, nach irgendwo lauernden NATO-Spionageschiffen, die viel leicht vor der Küste Position bezogen hatten, um die Schiffsbe wegungen von Gremicha aus zu überwachen. Ohne auf eine Tarnung angewiesen zu sein, aktivierten sich die Sonarbojen von selbst, klingelten laut durch das Wasser und horchten auf ein mögliches Echo. Malakow befahl langsame Fahrt voraus, und die »Sowjetski Sojus« stieg und fiel sanft mit der Dünung. »Funk an Brücke.« »Brücke hier. Was gibt's?« »Hubschrauber melden keine Unterwasserkontakte.« »Sehr gut. Bereitmachen zum Abtauchen. Funkoffizier, Masten einziehen.« Die Funk- und Radarmasten wurden in den Turm abge senkt. Malakow schickte die Beobachtungspostcn nach unten, verschloß die Luke und stieg den Turm hinab. Der Navigationsmonitor zeigte ein elektronisches Schaubild der Einfahrt in die Gorlostraße. Der blinkende rote Cursor, der die »Sowjetski Sojus« darstellte, bewegte sich gleichmäßig Richtung Osten. Malakow ließ sich in dem bequemen KommandantenLedersessel nieder und regulierte die Helligkeit an seinen Videoschirmen. 25
»Tauchoffizier, Meldung.« Tauchoffizier Nordow reagierte prompt. »Alle Lichter zei gen grün.« »Also gut. Vordere Ballasttanks fluten.« »Vordere Ballasttanks fluten, aye.« »Drei Grad abwärts.« »Drei Grad abwärts, aye.« »Sehr gut. Volle Fahrt voraus.« »Volle Fahrt voraus, aye.« Malakow spürte, wie das Deck nach vorne kippte und ver folgte den Tiefenmesser, während die »Sowjetski Sojus« von der Barentssee geschluckt wurde.
26
3. Kapitel Sorokin Mit einer Reisegeschwindigkeit von gemächlichen vier Kno ten, die Turmspitze knapp drei Meter unter der Wasseroberflä che, folgte die »Sowjetski Sojus« einem Eisbrecher durch die Gorlostraße und passierte die Sonarstation bei Pulonga. Die Sonaroperatoren verfolgten das gewaltige Schiff, dargestellt als ein leuchtender Punkt auf ihren Schirmen, während es ein deaktiviertes Minenfeld überquerte, das angelegt worden war, um NATO-U-Boote von der Einfahrt ins Weiße Meer abzu halten. In der Kommandozentrale überließ Malakow die Leitung des Schiffes seinen Offizieren und den Obermatrosen. Als Quartiermeister für den alltäglichen Betrieb verantwortlich, führte Sorokin das Befehlsprotokoll und die Logbücher, teilte die Wachen ein, organisierte Trainingsprogramme und hatte die Aufsicht über die Kommandoabteilung. Wenn der Deckof fizier einen Befehl gab, hatte Sorokin dafür zu sorgen, dass er ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Im Prinzip war er es, der das Schiff lenkte, aber heutzutage ein U-Boot der russischen Marine zu lenken, hieß, in politisch vermintes Gelände abzu tauchen. Sorokin konnte die Litanei des Jammers der Marine auf sei nen Armen nachlesen. Als junger Matrose war er der russischen Tradition gefolgt und hatte sich die Namen aller Häfen, die er angelaufen hatte, in die Haut tätowieren lassen. Auf dem linken Unterarm hatte ein estnischer Künstler eine Karte der Baltischen See und der Hafenstädte Klaipeda, Liepaja und Tallin eingeritzt. Mit der Abspaltung der baltischen Republiken waren sie für immer verloren. Die ehemals bedeutende Baltische Flotte war nach Sankt Petersburg zurückgedrängt worden. 27
Sorokins rechte Schulter erinnerte ihn an eine Fahrt mit der »Rodina« nach Wladiwostok. Das Schiff hatte eine ganze Woche an der Reede außerhalb des Hafens festgelegen, wäh rend Marineoffiziere eine Meuterei nichtrussischer Matrosen niederzuschlagen versuchten. Aufstände, wo man auch hinblickte. Auf Sorokins linker Schulter prangte das Souvenir einer Reise nach Odessa am Schwarzen Meer: die wohlproportionierten Umrisse des Schlachtschiffes »Potemkin« in Flammen, Symbol der Beteili gung der Marine an der Oktoberrevolution von 1917. Jetzt dagegen hatte die Schwarzmeerflotte unter grassierender Fah nenflucht zu leiden, und die bedauernswerten Matrosen, die der Flotte treu blieben, vergeudeten ihre Zeit mit der Jagd auf islamische Waffenschmuggler. Lediglich die rein russische Nordflotte blieb intakt, aber Vertreter der alten Linie wie Malakow und Sergow trieben immer mehr Matrosen in die Fänge der republikanischen Gegner einer Armee für die gesamte Gemeinschaft unter zentraler Führung, wie sie jetzt noch bestand. Sorokin kümmerte sich nicht um Politik oder die Meinung von anderen. Für ihn zählte nur der einzelne Mensch. Malakow war ein überhebliches Arschloch und Sergow ein diensteifriges Schwein. Allein Zenko zollte der altgediente Obermatrose seine Loyalität und seinen Respekt. Wie Zenko hatte auch Sorokin der Raketentest stutzig gemacht, aber er würde Augen und Ohren offenhalten, wie es der Admiral von ihm erwartete. Ansonsten wollte er bloß seiner Arbeit nachgehen, seine Wett spiele spielen und Schiff und Mannschaft heil und gesund heimbringen. Als das Schiff das Minenfeld hinter sich gelassen hatte, befahl der politische Offizier Sergow der Mannschaft, sich nach den einzelnen Divisionen zu sammeln. Sorokin ließ die Kommandodivision in der Schiffsbibliothek antreten, im Leninzimmer, nach dem die Bibliotheken auf allen Marine 28
schiffen benannt waren. Eine Bronzebüste von Wladimir Iljitsch Lenin war am Schott verschraubt. Blanke, ungelesene Ausgaben seiner gesammelten Werke standen aufgereiht in Regalen, die mit Stützgeländern versehen waren, neben tech nischen Büchern und Romanen von Tschechow, Tolstoi und Dostojewski. Zwei Obermatrosen, sieben einfache Matrosen und zwei Rekruten von der Schiffahrtsschule für U-Boote in Murmansk nahmen unter Sorokins starrem Blick Haltung an. »Oberma trose Plescharski«, bellte er. »Wem gehört das Schiff?« »Ihnen, Genosse Boß!« antwortete der zweite Steuermanns maat. »Rekruten zur See Typow und Bulgakow einen Schritt vor treten.« Die beiden Rekruten gehorchten. Bei einem schriftlichen Examen hatten die beiden jungen Seeleute am besten von den insgesamt fünfzehn frisch Eingezogenen abgeschnitten. Sorokin stand Fußspitze an Fußspitze mit einem großen, dunkelhaarigen Jungen von neunzehn Jahren und fragte mit leiser Stimme: »Seemann Typow, wie lautet die erste Pflicht eines U-Boot-Mannes?« »Unser ruhmreiches Vaterland zu verteidigen«, antwortete Typow rasch. »Haben sie euch das in dieser jämmerlichen U-Boot-Schule in Murmansk beigebracht?« Leichte Unsicherheit beschlich den Matrosen, als er sagte: »Ja, Obermatrose.« »Definieren Sie Salzigkeit.« »Salzigkeit ist, äh, Salzigkeit ... der Salzgehalt von Wasser.« »Was ist der durchschnittliche Salzgehalt der Barentssee?« »Ich, ich habe keine Ahnung, Obermatrose.« Sorokin schaukelte auf den Fersen hin und her und meinte: »Wenn Sie Versteck spielen wollen in Archangelsk, werden Sie schon noch drauf kommen.« 29
»Ja, Obermatrose.« Sorokin wandte sich dem anderen Rekruten zu, einem blon den, hellhäutigen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht. »Seemann Bulga kow, wie lautet die erste Dienstpflicht eines U-Boot-Man nes?« »Den Befehlen umgehend und ohne Fragen Folge zu leisten. Die Sicherheit und Integrität des U-Bootes zu gewährleisten.« »Klingt schon besser. Wie hoch ist die Schallgeschwindig keit in Salzwasser?« »Die Schallgeschwindigkeit in Salzwasser ist abhängig von der relativen Temperatur und dem Salzgehalt, sie beträgt unge fähr tausendfünfhundert Meter pro Sekunde.« »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Seemann Bulgakow, ich teile Sie hiermit der Division des Steuermannsmaats zu. Sie hören auf mein Kommando.« »Ja, Obermatrose.« »Rekrut Typow, hiermit teile ich Sie der Latrinendivision zu, bis Sie die Grundlagen der Physik beherrschen. Sie unterstehen Obermatrose Plescharski.« »Ja, Obermatrose.« »Zurücktreten.« Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt Sorokin die Front der Seeleute ab. »Dass wir uns richtig verstehen. Bestimmte Dinge kann man nicht oft genug wiederholen. Wir befinden uns im Kampf mit dem erbarmungslosesten Feind, den man sich vorstellen kann, der See. Salzwasser hat keine Vorlieben und vergibt keinen Fehler. Hilfe von Ihren Müttern können Sie hier nicht erwarten. Unser ruhmreiches Vaterland, wie Seemann Typow beliebte, es auszudrücken, kann die Schallgeschwindigkeit nicht ändern. Nicht der Komsomol, das Hohe Kommando der strategischen Raketeneinheiten, nicht mal Genosse Lenin kommandiert dieses Schiff. Ich habe hier das Kommando! Meine Aufgabe ist es, den Befehlen des 30
Kapitäns, dem Genossen Malakow, zuvorzukommen. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass diese Befehle ausgeführt werden. In der Kommandozentrale haben wir nur einen Gedanken, hier herrscht ein und derselbe Geist. Wir sind die Seele der >Sowjetski Sojus<. Wir jagen sie unters Eis, in die tiefste See, und wir bringen sie wieder hoch. U-Boot-Männer werden auch die Söhne Neptuns genannt. In der Kommando zentrale denken Steuermann, Tiefenrudergänger und Nach richtentechniker alle wie ein Mann, wie die Herren der Tiefe, denn wir steuern das mächtigste Unterseeboot der Welt, mein Boot, meine geliebte >Sowjetski Sojus<. Mit Ausnahme von Typow kennen hier alle Ihre Pflichten. Erfüllen Sie sie, so gut Sie können, seien Sie pünktlich, wenn Sie mit der Wache dran sind, und zögern Sie nicht, Fragen zu stellen. Man lernt nichts, wenn man keine Fragen stellt, und ein aus Unwissenheit begangener Irrtum kann uns alle das Leben kosten. Noch Fra gen?« »Ja, Obermatrose, ich habe eine Frage«, entgegnete See mann Typow resolut. »Was haben Sie auf dem Herzen, Typow?« »Wie sieht unser politisches Programm aus?« »Wie bitte?« »Wir sollen doch Texte zur Diskussion vorgelegt bekom men. Wir sollen unser politisches Bewußtsein bilden, um den Kommunismus aufzubauen.« »Ach, tatsächlich?« Allgemeines Gekicher und unflätige Geräusche hallten von der Wand wider, an der die Büste Vladimir Iljitschs hing. Mit einem strengen Blick brachte Sorokin seine Schützlinge zum Schweigen. »Sie kommen von einer landwirtschaftlichen Produktions genossenschaft in der Nähe von Minsk, stimmt's, Genosse Typow?« »Das stimmt, Obermatrose.« 31
»Sie waren der Leiter der örtlichen Komsomolbrigade, wenn ich mich nicht irre.« »Stimmt genau, Mishman.« »Sie haben sich freiwillig für den U-Boot-Dienst gemeldet. Und jetzt wollen Sie einen Text vorgelegt bekommen, damit wir die analytischen Instrumente des Marxismus-Leninismus richtig anwenden können, um unsere Probleme zu lösen, den Kommunismus aufzubauen und der Marine als der Vorhut des Volkes und der Partei beizustehen. Das wollen Sie doch, stimmt's?« »Ja, Obermatrose. Stimmt haargenau.« »Na gut.« Sorokin kramte in den Bücherregalen, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er zog das Buch hervor und drückte es Typow an die Brust. »Hier ist Ihr Text«, knurrte er. »Bitte lesen Sie der versammelten Mannschaft den Titel laut vor.« Typow schaute erst hinunter auf das Buch, dann hinauf zu Sorokin. Seine Stimme sprang eine halbe Oktave höher, als er kreischend vorlas: »Die Eigenschaften von gesättigtem Dampf unter Druck.« »Sie sind herzlich eingeladen, unsere Diskussion bei der nächsten Zusammenkunft zu leiten, Typow«, sagte Sorokin. »Das wäre alles. Wegtreten. Bulgakow, mit Ihnen habe ich noch zu reden, wenn Sie erlauben.« Bulgakow blieb zurück und ging ein paar Minuten lang die Bücher in den Regalen durch, während Sorokin in seinen Unterlagen kramte. Schließlich blickte Sorokin auf und fragte: »Wie heißen Sie mit Vornamen?« »Petja.« »Also gut, mein kleiner Petja. Sie haben einen Sankt Peters burger Akzent.« »Ja, Obermatrose.« »Sogar einen gebildeten Akzent.« »Bei Ihnen hört sich das an, als sei das ein Verbrechen, 32
Obermatrose.« Sorokin grinste. »Kein Verbrechen, nur ungewöhnlich. Wir kriegen hier auf den strategischen Raketen-U-Booten alle möglichen Rekruten, eine Menge Vollidioten darunter, mit Verbindungen, ungebildete Leute vom Land, mit wenig Grips, Leute, die meinen, Atomkrieg sei ein Vergnügen, aber wir kriegen kaum je Studenten von der Universität in Sankt Peters burg. Das sind Sie doch, oder?« »Ich habe angefangen zu studieren ...« Bulgakow brachte den Satz nicht zu Ende. »Und?« »Steht alles in meiner Akte, Obermatrose.« »Ich möchte es von Ihnen persönlich hören.« »Die Verwaltung hat mich wegen Schwarzmarktschiebe reien rausgeworfen, und ich wurde einberufen.« »Und so steht es in Ihrer Akte?« »Ja.« »Scheiß auf Akten. Sagen Sie mir die Wahrheit.« Der junge Rekrut sah dem Obermatrosen direkt in die Augen. »Ich habe mich geweigert, einer der Leiterinnen der Komsomol Rabatte auf Videobänder zu gewähren. Da hat sie mich angezeigt.« »Was noch?« »Ich wollte nicht mit ihr ins Bett.« »Ist ja interessant. Warum nicht?« »Mit jemandem schlafen, sollte erotisch sein, keine politi sche Angelegenheit, Obermatrose.« Sorokin lachte und klopfte Bulgakow auf die Schulter. »Da komme ich nicht mehr mit, mein Junge, aber Sie sind jetzt ein Seemann. Es ist mir egal, mit wem sie vögeln oder nicht. Es ist mir auch egal, mit was für Videobändern Sie handeln und an wen Sie sie verkaufen. Ich will bloß, dass Sie Ihre Arbeit erledigen, und Ihre Aufgabe ist es, das zu tun, was ich Ihnen sage.« 33
»Ja, Obermatrose.« »Sie sind Seemann. Sagen Sie, aye, aye.« »Aye, aye, Obermatrose.« »Schon besser. Wie kommt es, dass Sie hier auf dem UBoot gelandet sind?« »Ich weiß es auch nicht. Eigentlich wollte ich auf einem Zerstörer eingesetzt werden.« Mit einem Schuß Sarkasmus in der Stimme fragte Sorokin: »Weil Sie ausländische Häfen anlaufen und den Schwarzmarkt abgrasen können?« »Nein, nein, Obermatrose. Ich wollte in der Nähe von Sankt Petersburg stationiert sein.« »Wollen Sie uns das Leben schwermachen?« fragte Sorokin sanftmütig. »Nein, Obermatrose. Ich will nur meine Zeit abdienen.« »Damit wir uns richtig verstehen, mein kleiner Petja, will ich Sie in ein paar Dinge einweihen, die Sie wissen sollten. Die Männer in der Raketenabteilung sitzen die ganze Zeit über auf ihren fetten Knallfröschen, vom ersten Tag an, wenn wir aus Gremicha auslaufen, bis zum letzten Tag, wenn wir zurück kommen. Dasselbe bei den Sonarleuten, im Torpedoraum, der technischen Abteilung und den Atomsprengköpfen in der Reaktorabteilung. Der Quartiermeister dagegen hat das Schiff zur freien Verfügung. In meiner Abteilung kommt man überall rum. Wir gucken zu und hören hin, sind freundlich zu allen, aber reden nicht viel. Wir erfahren, was die Leute wollen und brauchen.« Sorokin zündete sich eine Zigarre an und zog zwei-, dreimal kräftig daran, bevor er fortfuhr: »Ich werde die nächsten fünf zehn Jahre auf diesem Schiff verbringen. Wenn meine Zeit um ist, ziehe ich mich in eine Erdgeschoßwohnung in einem Puff in Murmansk zurück, vielleicht den >Goldrubel<. Sie werden zweieinhalb Jahre hierbleiben, mein kleiner Petja. Es liegt an mir, ob Ihre Zeit hier interessant und ergiebig wird oder die 34
reinste Hölle für Sie.« »Ich habe verstanden, Obermatrose«, sagte Bulgakow. »Gut. In der Abteilung des Steuermannsmaats hält ein Fun ken Intelligenz lange vor. Von jetzt ab sind Sie zweiter Steuer mannsmaat, zur Ausbildung auf diesem Schiff. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, wie man den Dienstplan liest, damit Sie bei Wachwechsel die Wachberichte der einzelnen Abteilungen ein sammeln und sie mit dem Dienstplan vergleichen können. Wenn die Leute wissen, wer Sie sind, können Sie auch andere Besorgungen für mich erledigen und sich ein bißchen Geld nebenher verdienen.« »Geld?« »Die Frischlinge hier auf dem Schiff wetten um alles und jedes«, sagte Sorokin. »Sie wetten, wie weit das Schiff fährt, wann es fährt, wie lange es unterm Eis bleibt. Es gibt Kartenund Würfelspiel, und es gibt sogar welche, die setzen Wetten, wer den dicksten Schwanz hat, aber keiner geht hier eine Wette ein ohne mich. Kapiert?« »Aye, aye, Genosse Boß.« »Und keiner kauft oder verkauft hier was ohne mich.« »Wieviel nehmen Sie?« »Das geht Sie einen Scheißdreck an, aber ich habe nicht vor, nach meinem Abschied von der Marine nur mit einer beschis senen staatlichen Rente dazustehen. Damit wir uns richtig ver stehen. Es läuft da was Nettes, aber das klappt nur, wenn wir zuerst die Marine bedienen, und zwar richtig.« Sorokin führte Bulgakow in die Kommandozentrale und fing an, ihn in die Grundlagen der Buchführung und der Buch macherei einzuweihen. Vielleicht konnte er auf dieser Fahrt ja doch ein paar Rubel nebenher verdienen.
35
4. Kapitel Malakow Vierundzwanzig Stunden nachdem sie Gremicha verlassen hatte, schwebte die »Sowjetski Sojus« unter einer zwei Meter dicken Eisdecke im Weißen Meer. Als ausgedehnte Binnen bucht trägt das unfreundliche Weiße Meer seinen Namen auf Grund des ständig herrschenden Nebels, der eingeschneiten Küsten und einer Oberfläche, die sich von September bis Mai ausschließlich aus Eis zusammensetzt. Der Sage nach soll die Uferregion des Weißen Meeres die Heimat der Urrussen, der Vikinger-Vorfahren aller Russen gewesen sein. Seit 1922 bean sprucht die Sowjetunion das Weiße Meer als Binnengewässer. Im Sommer wimmelt es auf dem Weißen Meer von Fischer booten und Ausflugsschiffen, die von Rußlands ältester Ha fenstadt, dem sagenhaften Archangelsk, aus in See stechen. Im September, wenn das Eis kommt, werden die Vergnü gungsdampfer an Land vertäut, die Fischer weichen nach Norden aus, in die wärmere Barentssee, und unter der trüben Eisdecke verkehrt jetzt eine Flotte anderer Art. Im Winter wird das Weiße Meer zu einem abgeschirmten Refugium für die Boote der Taifunklasse. Von der Luft aus nicht zu sehen, von den Infrarotsensoren der Satelliten nicht zu erkennen, von keinem Sonar aufzuspüren, stellt ein bis an die Zähne bewaffnetes Taifunboot mit dem bloßen Auftrag der strategi schen Abschreckung eine tödliche Bedrohung dar. Im Gegen satz zu landgestützten Raketen an festen Standorten konnten die seegestützten Waffen auf den riesigen U-Booten, die von Gremicha aus operierten, von keinem Feind aufgespürt oder gar zerstört werden. Während dieser kurzen Ausfahrt wurde eine der SS-N-20 Raketen auf der »Sowjetski Sojus« für den Test mit einem System zur Fernmessung und acht Sprengkopfattrappen aus 36
gestattet. In der Kommandozentrale stand Kapitän Malakow neben dem Periskopgehäuse und leitete die Startvorbereitun gen ein. Ein Boot der Taifunklassc zu kommandieren bedeutete ihm nichts, wenn seine Waffen unbenutzt herumlagen. Er bedauerte das Abflauen des Kalten Krieges, der ihm Ruhm und Ansehen eingebracht hatte. Doch jetzt, so glaubte er, war die alte »Nomenklatura« einer noch viel größeren Gefahr ausge setzt, einer Gefahr, die nicht von außen kam, sondern von innen. Antisowjetischer und antikommunistischer Republika nismus hatte die Nation wie ein bösartiger Virus befallen und drohte die politischen und militärischen Institutionen zu stür zen. Wie ein zaristischer Prinz haßte Malakow die republikani schen Separatisten, die ihm sein Geburtsrecht streitig machen wollten. Einen Augenblick lang gab er sich seinen Phantasien hin und stellte sich den Schaden vor, den sein Schiff der repu blikanischen Sache zufügen konnte. Zisch ... die erste Rakete wischt das Baltikum beiseite. Zisch ... eine zweite radiert die unverbesserlichen Transkaukasier, Georgier, Aserbaidschaner und Armenier aus. Eine dritte zeigt es den verdammten Muslimen im Südosten. Zisch, zisch, bumm, bumm, auf Nimmerwiedersehen. War er verrückt oder bloß ein loyaler sowjetischer Patriot? Wenn es nach Malakow ginge, würde das nächste Ziel Zenkos Namen tragen. Zisch. Allein der Gedanke an Zenko versetzte ihn in Wut. Dieser kleine, fettleibige Kerl hatte nicht nur eine hübsche Frau, er trug auch den Heldenstern in Silber, das Schmuckstück, das Malakow mehr als alles in der Welt begehrte. Die Republiken hatten sich durchgesetzt, die Union hatte aufgehört zu existieren, er musste auf dem Flohmarkt um seinen Orden feilschen. Zenko, der die mächtigste Streitkraft der neuen Gemeinschaft befehligte, hatte erklärt, Politik habe in seinem Kommando nichts zu suchen. Dieses Schwein hatte seine Unterschrift unter Deminows Loyalitätserklärung verweigert und sich gegen den Raketentest ausgesprochen, mit der 37
Behauptung, das würde den Westen verärgern und antimi litärische Ressentiments wecken. Na und? Was durch Gesprä che nicht zu erreichen war, besorgten Angst und Einschüchte rung. Politik, so Malakows Ansicht, taugt nichts. Sollte das Militär die Führung übernehmen, dann gab es keine Politik. Eine Partei, eine Union, ein Herz und eine Seele, wie in alten Zeiten. Die Obermatrosen und Matrosen - Bosse und Frischlinge in der Sprache der russischen U-Boot-Männer - an Bord der »Sowjetski Sojus« waren weder Republikaner noch Unioni sten, weder Patrioten noch Rebellen; sie waren Jugendliche oder junge Männer, die für Sex, Rock 'n' Roll, anständiges Essen und Geldspiele lebten, vor allem für Geldspiele in Form von Wetten. Sollte der Raketentest gut verlaufen, hatte man der Mannschaft eine Woche Landurlaub in Archangelsk ver sprochen, eine herrliche Aussicht. Die meisten wehrpflichti gen Matrosen in Gremicha hatten noch nie Landurlaub in einer Hafenstadt erhalten. Um nach Archangelsk zu kommen, hätten die Frischlinge den Nächstbesten aus ihren Reihen, der einen Fehler begangen hätte, umgebracht. Obermatrose Sorokin musterte sein Chronometer und beugte sich zu dem zweiten Navigator hinunter, Obermatrose Plescharski. »Wir werden diesen nutzlosen Vogel in nicht mal zehn Minuten wegblasen«, sagte er im Flüsterton. »Wenn wir rechtzeitig sind, hast du die gemeinsame Kasse gewonnen, du Glücklicher.« Klein, dick, eine Bulldogge von einem Mann, entgegnete Plescharski ebenfalls flüsternd: »Das werden wir ja sehen, Wadim. Wenn der Abschuß planmäßig läuft, war's das erste Mal in der Geschichte.« »Eintausend Rubel, Mann. Davon kannst du dir schon ein paar Mösen in Archangelsk leisten, wenn du gewinnst.« »Zehn zu eins, dass ich das Ziel treffe«, meinte Plescharski voll Selbstvertrauen. 38
»Sagen wir zwanzig zu eins, auf fünf Rubel.« »Mit fünf Rubel bist du dabei, Genosse Boß.« Die leise Unterhaltung wurde von Malakow unterbrochen. »Sorokin«, befahl er, »stellen Sie ein Brückenkommando zusammen.« »Aye, Kapitän.« Sorokin stieß Plescharski in die Seite. »Zieh dir die Stiefel an, Matrose«, sagte er. »He, mein kleiner Petja, weißt du, wie man arktische Ausrüstung anlegt?« »Ja, Genosse Boß.« Immerhin, dachte Sorokin bei sich, immerhin weißt du, wie ich heiße. »Dann zieh sie an.« Politoffizier Sergow meldete sich auf seinem Posten in der Backbord-Raketenabteilung, 45 Meter der Kommandozentrale vorgelagert. Um eine Rakete abzuschießen, mussten er und Malakow die Auslöseschlüssel gleichzeitig herumdrehen, damit die Sprengköpfe scharfgemacht und die Abschußcom puter eingeschaltet wurden. Zehn hellgelbe Wannen, behängt mit Drähten, Rohren, »Rauchen-verboten«-Schildern und Instrumententafeln, scho ben sich in der Mitte der 60 Meter langen, hohlförmigen, zylindrischen Abteilung vor. Schwarzer, feuerfester syntheti scher Gummibelag bedeckte den Boden, und Hunderte von Kabeln und Leitungen sowie zwei übereinander liegende Stege liefen der Länge nach vom Bug bis zum hinteren Schott, wo die vollautomatischen Feuerleitsysteme untergebracht waren. Raketenoffizier, Erster Leutnant Mikhail Minski, saß am Steuerterminal der Abschußvorrichtung. Er war 23 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Archangelsk, und hatte sich für Raketentechnik als Spezialfach entschieden, weil dieses Gebiet schnellen Aufstieg in der Armee versprach. Für den einzelnen Menschen, dessen Finger auf dem entscheidenden Knopf ruhte, waren die psychologischen Hemmnisse ungeheuer. Es war 39
nicht der Präsident, nicht der Flottenadmiral, nicht einmal der Kapitän des Schiffes, der eine atomare Waffe zum Einsatz brachte, es war ein rothaariger Leutnant mit Sommersprossen und blauen Augen, ein Junge aus Archangelsk, der seinen Hund vermißte und der peinlich berührt war, wenn in der Offiziersmesse dreckige Witze erzählt wurden. »Backbord-Raketenabteilung auf Posten«, meldete Minski. »Einloggen«, kommandierte Sergow. Alle vier Obermatrosen an den Steuerpulten gaben ihre militärischen Kennummern ein. »Diagnoseprogramme laufen lassen.« Die Männer überprüften ihre Computer, überzeugten sich, dass sie einwandfrei funktionierten, und riefen mit lauter und deutlicher Stimme durch: »Posten eins, bereit.« »Posten zwei, bereit.« Als alle Meldung gemacht hatten, schaltete Sergow den Kopfhörer und das integrierte Mikrofon ein und verkündete: »Backbord-Raketenabteilung an Kommandozentrale. Bereit zum Abschuß.« Die Männer verfolgten die Digitalanzeiger auf ihren Com puterbildschirmen. Bei der Tausend-Rubel-Wette hatten alle auf einen verzögerten Abschuß gesetzt. Diesmal würde der Abschuß rechtzeitig erfolgen. Irgendein Glückspilz würde den Topf gewinnen. Malakow in der Kommandozentrale fragte: »Sorokin, ist Ihr Brückenkommando bereit?« »Ja, Kapitän.« »Lassen Sie das Pfeifsignal ertönen. Ich will zu der Mann schaft sprechen.« Ein magnetisch erzeugter Glockenschlag tönte durch das Schiff. Malakow richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sprach in das Bordmikrofon. »Achtung, Achtung, Männer der >Sowjetski Sojus<. Hier spricht der Kapitän. Wie Sie alle wis 40
sen, ruht die Verteidigung unseres Landes letzten Endes auf den Taifunbooten. Heute wollen wir allen unseren Feinden, wo immer sie auch sein mögen, demonstrieren, dass die Union auch Zeiten größter Not überstehen wird. Unsere Pflicht ist eindeutig. Mit diesem Raketentest wird auch unser Wille auf die Probe gestellt. Alle Abteilungen fertig machen zum Auf tauchen. Das ist alles.« Stimuliert bis hin zu einer fast sexuellen Erregung, schaute sich Malakow in der Kommandozentrale um. Neben dem Ses sel des Kommandanten standen Sorokin, Bulgakow und Ple scharski in voller arktischer Ausrüstung. Die Funk- und Radaroffiziere beugten sich über ihre elektronischen Steuerter minals für Abwehrmaßnahmen. Das Chronometer tickte beständig. »Brückenkommando in den Turm«, befahl Malakow. Sorokin, Bulgakow und Plescharski hasteten die Leiter hin auf und machten sich daran, die Luke nach draußen, in die ark tische Nacht zu öffnen. »Alle Ballasttanks anblasen. Notaufstieg.« »Alle Ballasttanks anblasen«, wiederholte der Tauchoffizier. »Notaufstieg.« Tauchoffizier Nordow drückte einige Knöpfe auf seinem Steuerpult, und ein Luftstrahl preßte unter Hochdruck sämtli ches Wasser aus den Ballasttanks heraus. Der Auftrieb des Schiffes verdoppelte sich. Ein gräßliches, in die Länge gezoge nes Kreischen erfüllte die Kommandozentrale, als sich der gewaltige Rumpf des Bootes gegen die Eisdecke stemmte. Malakow ertappte sich dabei, wie er aufschaute, als erwartete er, dass jeden Augenblick ein gezückter Eiszapfen die Doppel wand durchbohrte und ihn ins Herz traf. Mit einem Ruck, der einem den Magen umdrehte, und donnerndem Getöse gab das Eis nach; die »Sowjetski Sojus« brach durch die Decke und schaukelte auf der Wasseroberfläche. »Brückenkommando, Turmluke öffnen«, befahl Malakow. 41
»Luke geöffnet«, meldete Sorokin. »Wir gehen raus.« Eine Brise frischer Kaltluft wehte in die Kommandozen trale. Die drei Matrosen kletterten durch die Luke und blieben oben auf dem Turmrand stehen. Mit den Augen suchten sie den Horizont ab, sahen aber nichts als strahlend weiß leuchtende Eismassen, die das Schiff in allen Richtungen umgaben, die trostloseste Landschaft der Welt. In 200 Meter Entfernung stand ein dreibeiniges Stativ mit einer großen Kamera auf dem Eis, etwa drei Kilometer weiter westlich schwebte ein Hub schrauber. Bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt herum dachte Sorokin, ihm würden die Augäpfel ausfallen. Er hielt die Hände vors Gesicht, versuchte, die Kälte abzuhalten. »Kommando an Brücke. Meldung«, sagte Malakow in das Mikrofon. »Turm ist frei«, antwortete Sorokin ruhig. »Abschußrohr Eins von einem großen Eisbrocken zugeschüttet.“ »Radaroffizier. Radarmast ausfahren«, befahl Malakow. »Radarmast fährt aus.« »Sehr gut. Meldung.« »Ich habe ein stationäres Ziel, einen Hubschruber, Entfer nung drei Kilometer, Peilung Zwei Sieben Eins, Höhe fünf hundert Meter.« »Das ist Admiral Deminow im Aufklärungshubschrauber«, stellte Malakow fest. »Er ist genau da, wo er sein soll. Ein gutes Zeichen.« »Ich habe ein zweites Zielobjekt, Entfernung fünfzig Kilo meter, Peilung Eins Sieben Acht, Geschwindigkeit dreihundert Stundenkilometer. Es kreist.« »Sehr gut, sagte Malakow. »Die Maschine mit den Instru menten ist auf ihrem Posten. Ausgezeichnet. Funkoffizier. Fernmesser ausfahren.« »Telemeter fährt aus.« Der Funkoffizier drückte diverse Tasten auf seiner Konsole, 42
und die »Sowjetski Sojus« schickte Funk- und Radarsignale an das kreisende Flugzeug. »Waffenoffizier, Eiskanone ausrichten.« »Eiskanone ausrichten, aye.« Vor dem Turm, hinter den Raketensilos, glitt ein kleiner Lukendeckel zur Seite, angetrieben von einem elektrischen Motor rollte ein Geschütz mit einer weiten Mündung nach vorne. »Brücke an Kommando. Eiskanone bereit«, verkündete Sorokin. »Feuer«, sagte Malakow, worauf der Waffenoffizier auf einen schwarzen Knopf drückte. Eine Niedergeschwindigkeitsgranate schoß mit einem Pfeif geräusch hervor und zertrümmerte den Eisblock, der das Raketensilo Eins blockierte. Vom Brückcnkommando her knisterte es durch die Gegen sprechanlage. »Brücke an Kommando, Abschußrohr Eins frei.« »Sehr gut. Waffenoffizier, Eiskanone einfahren.« »Eiskanone einfahren.« »Raketenoffizier, Abschußrohr Eins öffnen.“ »Abschußrohr Eins öffnen, aye.« »Brückenkommando, melden.« »Brücke an Kommando, Luke offen und frei.« »Funkoffizier, melden.« »Funk meldet Kontakt mit Instrumentenflugzeug. Teleme triesysteme verbunden.« »Kapitän Sergow, Rakete vorbereiten zum Scharfmachen.“ In der Backbord-Raketenabteilung steckte der Politoffizier einen roten Schlüssel in die Steuerkonsole der Abschußvor richtung. »Bereit zum Scharfmachen«, sagte er ins Bordmi krofon. Malakow führte seinen Schlüssel ein und sagte: »Also gut. Rakete scharfmachen.« 43
Beide Männer drehten die Schlüssel herum. »Rakete im vorderen Steuerwerk scharf«, sagte Malakow. »Gut«, verkündete Sergow. »Rakete im hinteren Steuerwerk scharf.« »Kommando an Brücke. Unter Deck. Luke verschließen.« »Das war's«, meinte Sorokin auf der Brücke. »Runter mit euch.« Plescharski ließ sich durch die Luke gleiten. Bulgakow schaute sich noch einmal um. »Ich will mir ein Souvenir mit nehmen.« »Was willst du?« Bevor Sorokin ihn zu fassen bekam, kletterte der junge Matrose über das Geländer der Brücke und setzte an, die drei Meter runter auf das Deck zu springen. Sorokin holte aus, schnappte nach Bulgakows Jacke und hielt ihn zurück. »Paß auf. Da ist keine Leiter!« brüllte er. »O, Mann«, meinte Bulgakow. »Ein Eisbrockcn von hier muss doch was wert sein.« »Idiot«, sagte Sorokin mit einem leichten Grinsen im Gesicht. »Mach, dass du runter kommst.« Einen Augenblick später kamen die drei am ganzen Leib zit ternden Männer die Leiter herunter und standen in der Kom mandozentrale. »Raketenoffizier, Auslöseknopf entsichern.« Minski suchte einen Augenblick nach der Karteikarte, dann las er die Ziffernfolge ab und gab den Computer-Code ein, der den Auslöseknopf freigab. Auf der Konsole glitt ein Schieber zur Seite, hinter dem sich ein kleiner blauer Knopf verbarg. »Auslöseknopf entsichert.« Malakow holte tief Luft und befahl mit tonloser Stimme: »Raketenoffizier, Rakete abschießen.« Minski drückte auf den blauen Knopf. Durch das Schiff ging ein kurzes Beben, als Gas unter hohem Druck die Rakete aus dem Silo drückte. 44
»Rakete abgeschossen!« Das Feststoff-Zusatztriebwerk der Rakete zündete, und ein furchtbares Grollen erschütterte den gesamten Schiffsrumpf. In den Raketenabteilungen waren alle Augenpaare nach oben gerichtet. Mehr als einmal war eine seegestützte Rakete explo diert und ins eigene Trägerschiff eingeschlagen. Einige Männer beteten, andere schwitzten Blut und Wasser und gaben sich alle Mühe, nicht ihr Frühstück auf den Computerterminals zu erbrechen. Auf einem Monitor in der Kommandozentrale erschien das vordere Deck der »Sowjetski Sojus« goldglühend, als die stämmige, kugelförmige V-Rakete in die Luft donnerte. Nach zehn Sekunden hatte die Rakete die Wolkendecke durchdrun gen und war Richtung Süden zum Versuchsgelände hin ver schwunden. Malakow spürte eine ungeheure, tiefe Erleichterung. Die vielen Warnungen, die ganze Ideologie und all der Patriotismus hin und her - worauf es letzten Endes hinauslief, waren korrekt verlötete Kabel und hundertprozentig schließende Lukendich tungen. Für einen erfolgreichen Abschuß mussten Millionen von Details reibungslos und gleichzeitig funktionieren. Die Mannschaft setzte zu einem ohrenbetäubenden Kriegsgeheul an. Ausgehend von der Kommandozentrale hallten nach kur zer Zeit Hurrarufe über das Schiff, bis schließlich die gesamte Besatzung von Festtagsstimmung ergriffen war. Sorokin hielt seinen Blick auf Malakow gerichtet und sah, wie eine Woge unendlichen Glücksgefühls über das Gesicht des Kapitäns lief. Malakow sah aus, als habe er soeben das Paradies erblickt. Plescharski am Navigationstisch grinste wie ein Irrer. Soro kin gab ihm einen Klaps auf die Schulter und küßte ihn auf die Wangen. Als er sah, wie ausgelassen seine Männer reagierten, platzte Malakow geradezu vor Stolz. Er spürte nicht, dass es den Männern völlig egal war, ob der Abschuß erfolgreich ver 45
laufen war oder nicht. Hauptsache, sie kamen nach Archan gelsk. Archangelsk! Frauen! Wodka! Leben! Eine ganze Woche an Land. Keine Marine, keine Ärmelstreifen, keine Taifunboote.
46
5. Kapitel Deminow Admiral Iwan Deminow verfolgte den Aufstieg der »Sowjetski Sojus« und den Raketenabschuß von seinem Hubschrauber aus. Es war für ihn ein äußerst erhebendes Spektakel. Ein Film team im Heck des Hubschraubers hatte den Start aufgenom men, und der erste Kameramann gab mit erhobenem Daumen sein Okay. Die Übung war Deminows Idee gewesen. Der Befehlshaber der Nordflotte hoffte, damit Glasnost zu kippen. Wenn das Volk nach Offenheit verlangte, sollte es sie haben. U-Boote sind von sich aus eine geheime Sache, und die russischen UBoote waren durch die Sicherheitsmaßnahmen so vollkommen abgeschirmt, dass die meisten Bürger des Landes nicht mal Fotos von ihnen zu Gesicht bekamen. Deminow hatte seine Freunde im Verteidigungsrat dazu überredet, diese Vor stellung aufzugeben. Immerhin, so lautete seine Argumenta tion, verfolgten die Amerikaner jeden Raketentest via Satellit, und die U-Boote der Taifunklasse würden sie sicher tief beein drucken und erschrecken. »Lassen Sie das Volk doch einmal sehen, wohin sein Geld geht«, hatte er erklärt. »Die Leute sol len stolz sein auf die Macht ihres Landes.« Angeschnallt im Sitz neben Deminow, zog der Sicherheits chef der Nordflotte, Oberst Anatoli Ludinow, kleine Baum wollpfropfen aus den Ohren, rümpfte die Nase über den beißenden Gestank der Raketenabgase und zog wieder den Kopfhörer über, um die Meldungen des Telemeters nicht zu verpassen. »Eine schöne Flugbahn haben wir da«, sagte er zu Deminow. »Rakete auf Kurs. Sprengköpfe lösen sich.« Deminow nickte zustimmend. Er hatte nichts anderes erwartet. Sollte die Rakete versagen, würde der stämmige GRU-Offizier mit dem Gangstergesicht ohne zu zögern an 47
Bord des U-Boots gehen und den Raketenoffizier eigenhändig erschießen. »Zieleinschlag in dreißig Sekunden«, sagte Ludinow. »Bodenkameras in Stellung.« 1500 Kilometer weiter südlich richteten Batterien von Mari nekameras ihre Linsen in den Himmel. Mit einer Geschwin digkeit von 5000 Kilometer pro Stunde produzierten acht rasende, aufblitzende Sprengköpfe leuchtspurähnliche Bilder aut den Infrarotfilmen, als sie auf dem sibirischen ewigen Eis aufprallten und zehn Meter tiefe Krater rissen. »Einschlag!« meldete Ludinow. Ein Lächeln huschte über Deminows Gesicht. »Geben Sie an die Filmteams in Sibirien durch, die Filmkassetten zu versiegeln und sie unverzüglich nach Sankt Petersburg zu schicken.« Ludinow übermittelte den Befehl per Funk, und Deminow gab dem Piloten Anweisung, auf dem Eis zu landen. Der Kameramann sprang auf die gefrorene Decke und lief los, um die ferngesteuerte Kamera zu holen, die den Start vom Eis aus gefilmt hatte. »Ich bin in fünf Minuten zurück«, sagte Deminow. »Infor mieren Sie schon mal Sankt Petersburg, dass ich in zwei Stun den in Murmansk ankomme.« »Aye, aye.« Deminow entstieg dem Hubschrauber und ging allein auf die »Sowjetski Sojus« zu. Er war ein kraftstrotzender Offizier von sechzig Jahren, mit stechenden grauen Augen und Haaren von der Farbe frisch gefallenen Schnees, aber unter seinem gesunden Äußeren verbarg sich ein zutiefst aufgewühlter Mensch. Seine Welt war im Zerfallen begriffen. Die Sowjet union, die stärkste Macht, die die Welt jemals gesehen hatte, durchlebte die Qualen der Selbstzerstörung. Gestern noch reichte Moskaus Herrschaftsbereich von der Elbe bis an den Pazifik, vom Arktischen Ozean bis ans Schwarze Meer. Heute 48
brach die Union in kriegerische Stämme auseinander. Als ehemaliger Kommandant eines strategischen U-Bootes hatte Deminow sein Leben lang die Union verteidigt. Ein leidenschaftlicher Ideologe, glaubte Deminow an die Kommu nistische Partei als das Bindemittel, das die Union seit der Revolution zusammengehalten hatte. Aber die Partei war vom richtigen Weg abgekommen. Er glaubte an die Marine, die das Land seit dem Großen Vaterländischen Krieg vor feindlichen Übergriffen aus dem Ausland beschützt hatte. Aber mit dem Abklingen des Kalten Krieges hatte die Marine ihren Auftrag verloren. Das einzig Intakte war sein Glauben an die Geschichte, in Deminows Augen eine mystische Kraft, die nur wenige verstanden oder gar zu steuern vermochten. Die Idio ten in Moskau hatte jegliche Kontrolle verloren. Von seinem Hauptquartier in Polyarny aus hatte Deminow die erschreckenden Entwicklungen im Kreml verfolgt. Gorba tschow und seine beiden verfluchten Giftpfeile Perestroika und Glasnost hatten die Schleusen der Unzufriedenheit geöffnet. Und nachdem die Rote Fahne vom Kreml eingeholt war, wucherten Anarchie und Chaos im ganzen Land. Mit jeder Nachricht über wieder neue Krawalle, Streiks, Demonstratio nen, über regelrechte Aufstände da und dort, versank er tiefer in Verzweiflung, Wut und schließlich entschiedenen, grimmi gen Haß auf die Feinde Rußlands, auf die Feinde der alten So wjetunion. Viele langgediente Offiziere teilten seine Bedenken. Nach dem er ihn monatelang bearbeitet hatte, konnte er den obersten Befehlshaber der Marine, Flottenadrniral V. J. Walotin, davon überzeugen, dass die Existenz der Gemeinschaft auf dem Spiel stand. Nicht mehr und nicht weniger. Nur das Militär konnte die alte Ordnung zwischen den Republiken wiederherstellen. Der Raketentest war der erste Schritt eines umfassenderen Plans, der in Deminows Überlegungen Gestalt angenommen hatte. Durch eine öffentliche Demonstration der unbesiegba 49
ren Macht der Nordflotte könnte das Militär wieder seine Stel lung als Vorhut der Nation einnehmen. Wenn die Öffentlich keit mit eigenen Augen sah, wie das massige Ungetüm eines Taifunboots durch die Eisdecke brach und 1500 Kilometer wei ter der Strahlentod einschlug, würde jede Republik, jeder eth nische Separatist, Anarchist, Pamjat-Nationalist, jeder Jude, Christ und Muslim auf dem Gebiet der alten UdSSR davon in Kenntnis gesetzt, dass sich niemand gegen Angriffe aus der Tiefsee wehren konnte. Sollte es zu Krawallen und Protesten kommen, konnten die abweichenden Elemente an die Öffent lichkeit gezerrt und vernichtet werden. Als sich Deminow dem U-Boot näherte, kletterte Malakow auf einer Strickleiter zur Eisdecke hinunter, ging seinem Schwiegervater ein paar Meter entgegen und grüßte ihn. Die beiden Männer umarmten sich, gaben sich den Bruderkuß und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Deminow fiel das Glasige in den Augen seines Schwiegersohns auf, der bitter süße Blick eines Mannes, der sich und seine Lust in einem teu ren Bordell verausgabt hatte und es mit dem Gefühl der Erschöpfung, aber keineswegs Befriedigung verlassen hatte. »Meinen Glückwunsch, Wladimir. Der Abschuß war per fekt.« »Wir hatten ein paar Schwierigkeiten bei den Startvorberei tungen, aber sonst scheint alles gut verlaufen zu sein.« »Ich beneide dich«, sagte Deminow. »Ich denke gern an meine Zeit auf See zurück.« »Ich hoffe nur, deine Kameras haben funktioniert«, entgeg nete Malakow. »Hat alles perfekt geklappt. Der Film wird im Fernsehen gezeigt, damit das ganze Land und die ganze Welt ihn sieht. Ich fürchte, ihr werdet ihn verpassen, denn er ist bereits gelaufen, wenn ihr in Archangelsk ankommt.« »Zenko war ziemlich sauer wegen der Sache«, meinte Mala kow. 50
»Ja, aber sein Stern ist im Sinken begriffen. Leider glaubt er, die Taifunboote seien sein Privatbesitz. Die Marine ist da anderer Ansicht. Mach dir keine Sorgen um den kleinen Admiral aus Gremicha. Er genießt einen guten Ruf, seine Aura überragt ihn geradezu, aber für die Admiralität ist er keineswegs ein Held. Soviel kann ich dir versichern.« Deminow stapfte mit den Füßen auf, rieb die behandschuh ten Hände aneinander und blickte zufrieden auf seine »So wjetski Sojus«. »Wie schnell könnt ihr in Archangelsk sein?« fragte er. »Ich schätze in sechzehn Stunden. Ich habe meiner Mann schaft Landurlaub versprochen.« »Gut. Aber behalte deine Offiziere und Obermatrosen an Bord, und halt dich bereit.“ »Wieso?« fragte Malakow überrascht. »Tu nur einfach, was ich dir sage, Wladimir, und sprich zu keinem darüber. Morgen abend werden wir beide uns ein paar genehmigen im Offizierskasino. Wir werden uns eine Menge zu erzählen haben.« »Aye, aye, Genosse Admiral.« »Und nochmals meinen Glückwunsch, Wladimir. Gut gemacht.« Deminow trottete zurück zu seinem Hubschrauber. Ludi now half ihm an Bord, und der Hubschrauber hob mit lautem Heulen von der Eisdecke ab. Malakow sah ihm nach, bis er in den Wolken verschwunden war, erklomm die Strickleiter an Deck über der Raketenabteilung, zog die Leiter ein und ließ sich durch die Luke gleiten. Minuten später war die »Sowjetski Sojus« wieder unter die Eisdecke getaucht. Deminow flog nach Murmansk. Auf dem Rollfeld der Mari neflugstation Poljarny stieg er aus dem Hubschrauber direkt in eine Maschine des Seeoffizierskorps um, die an unauffälliger Stelle das Kennzeichen des Oberbefehlshabers der Seestreit kräfte trug. 51
Flottenadmiral V. J. Walotin hatte eine Vorliebe für Geheimtreffen an Bord seines Dienstflugzeugs. Er brachte 140 Kilo auf die Waage, wenn sie es gut mit ihm meinte, und mochte seine massige Gestalt nicht mehr als eben nötig in Autos oder Aufzüge quetschen. Und auf sein leibliches Wohl legte er großen Wert. Bevor Deminow eintraf, sperrte er seine Geliebte ins Privatabteil, schickte seine Offiziere in den Salon und holte in dem komfortablen Büro der vorderen Kabine Wodka und andere alkoholische Getränke hervor. Als Vollblutpolitiker hatte Walotin früh in seiner beruflichen Laufbahn die Entscheidung getroffen, seine Schlachten bei der Admiralität in Sankt Petersburg statt auf hoher See zu schlagen. Obwohl er den höchsten Rang in der Marine bekleidete, blieb er eine undurchsichtige Figur. Er ließ lieber Menschen wie Zenko im Rampenlicht stehen und andere wie Deminow oder Malakow die Dolche führen, die er selbst sorgfältig versteckt hielt. Walotin glaubte an nichts, außer an Macht und gesellschaftliche Stellung. Zynisch, dekadent und exzentrisch, ging er ganz in Intrigen und Verschwörungsplänen auf wie ein Despot aus dem Orient. Ein Bursche kündigte die Ankunft Admiral Deminows an und verschwand wieder. »Ein Aperitif, Iwan?« »Ja bitte, Admiral, einen Wodka. Danke.« »Ich nehme an, Sie haben den Film bei sich.« »Ja, natürlich. Der Film aus Sibirien müßte jetzt ungefähr bei der Admiralität eingetroffen sein.« »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Die Ironie, ausgerechnet eins von Zenkos Schiffen für dieses Unternehmen zu benutzen, amüsiert mich besonders. Ein höchst unwahrscheinlicher Agent provocateur.« »Und ein höchst widerwilliger außerdem«, entgegnete Deminow. »Ich kann ihn von seinem Kommando entbinden Admiral, wenn Sie das wünschen.« 52
»Das könnte nötig sein, wenn wir zum nächsten Schritt übergehen«, sagte Walotin. »Schicken Sie ihn mit der >Taifun< auf See, mit ein paar Angriffs-U-Booten vom Siebten Geschwader als Eskorte. Instruieren Sie die Kommandanten. Sobald Zenko seinen zugewiesenen Sektor verläßt, versenken Sie ihn. Er wird als Held untergehen.« Das Siebte Geschwader, die Grauen Geisterschiffe von Mur mansk, eine von Deminows Erfindungen, war eine Einheit, die aus vier schnellen Angriffs-U-Booten der Akula-Klasse bestand. Die Boote waren ausschließlich mit Offizieren und politisch zuverlässigen Seeleuten besetzt, getreuen Mitglie dern der jetzt verbotenen Partei, die Deminow und seiner prounionistischen Fraktion voll und ganz ergeben waren. Malakow hatte einst, bevor er zur Taifun-Flottille in Gremicha überwechselte, eins der Grauen Geisterschiffe befehligt, die »Minsk«. »Ich nehme an, in Moskau sind alle Vorkehrungen getrof fen.« Walotin lächelte dünn. »In Moskau, Sankt Petersburg. Kiew, Minsk, Odessa, Archangelsk, Murmansk. Sie wären erstaunt, wie viele ehemals loyale sowjetische Bürger plötzlich meinen, sie müßten unbedingt auf die Straße gehen und gegen diese willkürliche Machtdemonstration protestieren. Sie tun Ihren Teil und kümmern sich um Zenkos Flottille.« »Und die Amerikaner?« fragte Deminow. »Gibt es irgend welche Meldungen, dass sich eins ihrer verfluchten U-Boote der Los-Angeles-Klasse in die Barentssee verirrt hat?« Walotin schüttelte den Kopf. »Nein. Wegen unserer Opera tion haben wir im voraus zig Schiffe von ihren regulären Pa trouillen abgezogen. Wir haben eine Art Wettkampfpause ein gelegt, und die andere Seite auch. Schließlich«, lachte Walotin leise in sich hinein, wobei seine Hängebacken wabbelten, »schließlich ist der Kalte Krieg vorbei. Der Hauptfeind ist nicht mehr die amerikanische Marine.« 53
Am selben Abend wurde ein einminütiger Filmausschnitt in den »Vremya« gezeigt, den Neun-Uhr-Nachrichten. Eine Stunde später tauchten die ersten Demonstranten in den Mos kauer Straßen auf; sie hielten Transparente hoch, auf denen die Marine angeprangert wurde. Um Mitternacht hatten sich zwanzigtausend russische Bürger auf dem Roten Platz versam melt. Die Menge schwoll von Minute zu Minute an, und in den Hauptstädten sämtlicher Republiken flammten Proteste auf. In der Frühe, nachdem Admiral Walotin ihn gewarnt hatte, die Proteste könnten sich auf das ganze Land ausweiten und zu einem Bürgerkrieg führen, hatte der Verteidigungsrat Admiral Deminow die geheime Vollmacht gegeben, die Operation Wei ßer Stern einzuleiten, den Notstandsplan der Nordflotte zur Niederschlagung eines bewaffneten Aufstands. Nach Beendigung der Sitzung des Verteidigungsrats rief Walotin Deminow in seinem Hauptquartier in Poljarny an, um den Befehl weiterzuleiten. »Haben Sie eine Flasche Wodka parat, Iwan?« »Natürlich, Admiral.« »Dann schenken Sie sich ein Glas ein.« »Aye, aye. Geschehen.« »Auf Operation Weißer Stern«, sagte Walotin. »Auf Weißer Stern«, wiederholte Deminow und leerte das Glas in einem Zug. Nach der kurzen Unterredung ging er auf das Fenster zu und schaute auf den Kolafjord hinab. Vor ihm, so weit das Auge reichte, erstreckte sich der Machtbereich der Nordflotte. Hunderte von Schiffen säumten die Kais, Zer störer, Kreuzer, Fregatten, Flugzeugträger und Angriffs-UBoote. Und schon bald würden die Boote der Taifunklasse unter seinen direkten Befehl gestellt werden. Geschichte! Man brauchte sie nur in die Hand zu nehmen, und schon gehörte sie einem.
54
6. Kapitel USS »Reno« Ein ungeheurer Sturm raste vom Nordpolarmeer heran und schob sich bis tief in die norwegische See vor. Windböen mit Geschwindigkeiten von über 150 Stundenkilometern peitsch ten über das gefrorene Meer, brachen die Eisdecke und ließen riesige Schollen wie Schaumberge auf und nieder tanzen. Unter der tobenden Schicht wühlte jedes Erzittern eine über 900 Meter in die Tiefe reichende Wassersäule auf, mischte die oberen Isothermen durcheinander und brachte Unruhe in die Fischschwärme. 80 Kilometer südlich von Spitzbergen patrouillierte die USS »Reno« leise durch die ihr zugewiesenen 13000 Quadratkilo meter große Sektion des Ozeans und horchte auf die Geräusche russischer U-Boote, die sich Richtung Süden in den Atlantik vorwagen wollten. Im Innern hatten sich 110 Männer auf die Langeweile von Patrouillefahrten durch die Arktis eingerich tet, dem hochfesten Stahl des Druckkörpers ausgeliefert. Auf nördlichem Kurs, bei zwölf Knoten, war die »Reno« so stabil, dass nur die beiden Sonarmänner und der Kapitän die Turbulenzen über ihnen wahrnahmen. 120 Meter unter der Wasseroberfläche zähmte allein schon der Druck die Gewalt des Zyklons. Bei 120 Meter Tiefe gab es weder Wetter noch Zeit. Kein Licht durchdrang die Urtiefen, wo sich blinde raub gierige Wesen auf der Jagd nach Geräuschen orientierten und sich von Echos und dem Geruch des Blutes durch die Finster nis leiten ließen. Drei Kilometer vor ihnen lag der Rand der Europäischen Kontinentalplatte und die Barentssee, die hei matlichen Gewässer der russischen Nordflotte. Hier würde die »Reno« die nächsten siebzig Tage unter der Eisdecke verbrin gen und russische U-Boote ausspionieren. Im Kontrollraum warf der Kapitän der »Reno«, »Plutonium 55
Jack« Gunner, einen verstohlenen Blick auf den Navigations bildschirm und täuschte Gleichgültigkeit vor, was die Position des Schiffes betraf. Er zündete sich eine Lucky Strike an und sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde die Mannschaft in der Messe die traditionelle, überschäumende Blaunasen-Zere monie abhalten, ein Initiationsritus für Matrosen, die zum erstenmal die Arktis berühren. Vom Kapitän wurde erwartet, dass er so tat, als wüßte er von dem bevorstehenden Ritual nichts, und Gunner spielte seine Rolle nur zu gern. Mit seinen 39Jahren, knapp l,80 Meter, groß, schwarzhaa rig und mit dunklen Augen, die seinem Gegenüber aus einem langen, schmalen Gesicht entgegenfunkelten, strahlte Gunner das Selbstvertrauen eines Mannes aus, der wußte, wo er hinge hörte. Er hatte den besten Job, den die Navy zu bieten hatte, und litt weder an falschem Ehrgeiz noch an moralischer Unsi cherheit. Wie bei den meisten befehlshabenden Offizieren im U-Boot-Dienst, hörte die »Reno« in erster Linie auf sein Kom mando, und er hatte jede Minute während seiner drei Jahre an Bord in vollen Zügen genossen. Jetzt, auf seinem sechsten und letzten Einsatz, spürte er, wie seine Identität in dem Boot auf ging, als sei die schallschluckende Verblendung auf der Außenhülle seine eigene Haut, als seien die Sonare seine Ohren, die Flugkörper und Torpedos die Steine, mit denen er als Kind seine Feinde beworfen hatte. Mit ihren durch zusätzliche Beschichtung gehärteten Decks und den für Einsatz im flachen Gewässer des Arktischen Oze ans kalibrierten Torpedos war die »Reno« in erster Linie für den Kampf unter Packeis entworfen und gebaut worden. Eine Waffe des Kalten Krieges, konnte die »Reno« mit ihren sech zehn Tomahawk Cruise Missiles, den sechs Harpoon-Schiffs abwehrraketen und vierundzwanzig Torpedos, manche mit atomaren Sprengköpfen, der Nordflotte der russischen Marine einen vernichtenden Schlag versetzen. Das Kommando über die »Reno« war der Höhepunkt von 56
Gunners militärischer Laufbahn. Es war schon immer sein dringlichster Wunsch gewesen, ein Atom-U-Boot zu führen. Nach dieser Patrouillenfahrt hatte die Navy vor, ihn zum Geschwaderkommandanten zu befördern, aber Gunner ver spürte keine Lust, einem Geschwader oder gar einer Flotte vor zustehen. Statt dessen wollte er den Dienst quittieren, sich nach Hawaii zurückziehen und die Sprache der Delphine lernen. Gunner war in Vallejo, Kalifornien, geboren und aufge wachsen, wo die Marine-Schiffswerft Mare Island beheimatet ist. Als Sohn eines Schweißers im Dienst der Marine, der drei ßig Jahre lang Stahlplatten für atomgetriebene U-Boote zurechtgeschnitten hatte, war er mit dem geheimnisvollen Nimbus und der Tradition, die die Atom-U-Boote und ihre Rolle im Kampf gegen den Kommunismus umgaben, groß geworden. In den 50er und 60er Jahren war der Kalte Krieg eine ständig gegenwärtige Tatsache in seinem Leben gewesen, und man hatte Gunner beigebracht, die Russen zu fürchten und zu hassen. Als junger Mann, der die Marineakademie besuchte und anschließend die Ränge des U-Boot-Dienstes durchlief, hatte zwar seine Begeisterung für tauchfähige Schiffe nie nach gelassen, aber sein Verlangen, die Russen zu bekämpfen, war verblaßt. Der Krieg, der kein Krieg war, hatte Gunners inner stes Wesen getroffen. Der Kapitän liebte Schiff und Besatzung, nur der Gedanke an »Renos« furchtbare Feuerkraft spendete keinerlei Trost. Sollte er sein Schiff jemals verteidigen müssen, hätte die Menschheit als Hüter des Planeten versagt. Jetzt, in den 90er Jahren, hatten sich die Polarisierungen des Kalten Krieges durch Aufruhr in Mitteleuropa, Krieg im Persi schen Golf und die Instabilität in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion verlagert. Selbsternannte Experten und Phanta sten gingen davon aus, dass der Kalte Krieg vorüber war, aber Gunner wußte es besser. Unter Wasser war er auf keinen Fall vorbei. 24 Stunden täglich, 365 Tage im Jahr durchpflügten russische Taifunboote und amerikanische Tridents die Welt 57
meere, ihre Massenvernichtungswaffen jederzeit abschußbe reit. Um die Bedrohung durch seegestützte strategische Waffen auszugleichen, unterhielten beide Supermächte ganze Flotten schneller Angriffs-U-Boote wie die »Reno«, sogenannte Hun ter-Killer, die die schnellen Geschosse in ihren Verstecken aus findig machten. Im hohen Norden, unter dem Polareis, ging das tödliche Versteckspicl unvermindert weiter. Im verborgenen, außer Reichweite für neugierige Fernsehkameras, war der Kalte Krieg bis zu seinem kältesten Punkt getrieben worden. Gunner hatte keine Skrupel, wenn es darum ging, mit der »Reno« russische U-Boot-Manöver in der Barentssee auszu spionieren. Ethnische und ideologische Kämpfe hatten eine brisante Situation heraufbeschworen in einem Land, in dem 30000 Atomsprengköpfe lagerten. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, aber auch die Nachfolgegemeinschaft drohte jeden Augenblick in fünfzehn einzelne Republiken auseinanderzufal len. Die Folge wäre ein Bürgerkrieg, bei dem Atomwaffen zum Einsatz kämen. Würde die Nordflotte dabei in einen innerstaatlichen Konflikt hineingezogen, sollte die »Reno« still und heimlich in russische Gewässer eindringen und jede Bedrohung, die über die Grenze der alten Sowjetunion hinaus reichte, abwehren. Vorläufig jedoch konnte es sich Gunner leisten, seine Gedanken schweifen zu lassen. 650 Kilometer von den russischen Marinebasen auf der Kolahalbinsel entfernt, war der Kapitän der Ansicht, dass die Mannschaft ihr Fest feiern konnte Im Kontrollraum mit seinem Durcheinander von Men schen, Instrumenten und Sensorschirmen bebte es förmlich vor Erwartung. Ein Küchenbelag aus Linoleum bedeckte den Boden, Kabel und Rohre machten die Decke unsichtbar, und Regale mit Monitoren stapelten sich am Schott. In der Mitte, hinter der Gefechtsstation, hing ein Doppelperiskopgehäuse umgekehrt von der Decke. Zu Gunners Rechten, mehr an einen 58
Flugzeugpiloten erinnernd als an einen Schiffsführer, griff der Steuermann nach einem Joystick. Neben ihm hielt der Tiefenrudergänger seine Steuerknüppel fest in der Hand, und beide warfen alle paar Sekunden einen Blick auf den Naviga tionsmonitor. In einem Halbkreis um die Gefechtsstation herum hielten Unteroffiziere den Gefechtsleitstand, den Tie fensteuerstand, den Terminal für interne Kommunikation und den Navigationstisch besetzt. »Sonar an Kontrollraum. Meeresboden steigt an. Reich weite neunhundert Meter zur Kontinentalplatte.« »Gut, Sonar«, antwortete Gunner. »Eis-Scanner aktivie ren.« In dem blau erleuchteten Sonarraum unweit des Schiftsbugs leitete der erste Sonarmann Mike Morrison den Befehl weiter an den Operator. Hochfrequenztöne niederer Leistung, ausge strahlt von Transduktoren, die auf der oberen Außenhaut des U-Boots montiert waren, zeichneten ein Bild der Eisdecke, das mittels Computer-Enhancing in seiner Qualität noch ver bessert wurde. Gunner verfolgte, wie sich auf dem SonarRepeater, einem Sichtanzeigegerät, das die Bildschirme aus dem Sonarraum überspielte, die Unterseite der Eisdecke auf baute. Sie erschien als eine chaotische Streuung leuchtender Punkte, während der Sturm oben das Packeis zerfleischte und riesige Schollen losbrach. In Gunners Augen war das Eis eine Art unnatürlicher Regenschirm über der Erdoberfläche. Wenn die Hölle gefriert, dachte er, dann muss sie wohl so aussehen. »Sonar an Kontrollraum. Tiefe 275 Meter.« Fast lautlos glitt die »Reno« in die Barentssee. Auf dem Sonar-Repeater erschien die visuelle Darstellung der durch den Sturm verursachten Turbulenzen als eine Landschaft aus scharfkantigen Gipfeln und Tälern, die für alle Bewegungen der wandernden Eiskappe standen. Es läuteten keine Glocken, an den Schotten tauchten keine Eiskristalle auf, nichts verän 59
derte sich. Als zutiefst überhebliches, selbstgenügsames Mari neschiff, blieb ein Unterseeboot ungerührt von seiner Umge bung. Nur Gunner spürte den feinen Unterschied; »Reno« hatte die russische Zone betreten. Er musterte den rothaarigen Leutnant Miles Sharpe, der im Durchgang stand und ein Gähnen unterdrückte. War er müde oder bloß gelangweilt? Gunner hielt letzteres für wahrscheinlicher. Sharpe hatte sich freiwillig zum Wachgang gemeldet und wollte auf die Blaunasen-Zeremonie verzichten. Gunner wußte, dass sein junger Gefechtszoffizier noch immer darunter litt, den Krieg am Persischen Golf verpaßt zu haben. Die »Reno« war unterwegs in der Norwegischen See, während Sharpes Kameraden von der Marineakademie Einsätze flogen, ihre Tomahawks über Bagdad abschossen und sich Beförde rungen einheimsten. Bevor die »Reno« zur Patrouillenfahrt aus Norfolk ausgelaufen war, hatte Sharpe seine Versetzung in die Überwasserstreitkräfte der Marine beantragt und nahm es Gunner übel, dass der einen ablehnenden Bescheid empfohlen hatte. Gunner fing Sharpes Blick auf und winkte ihn heran. »Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, Miles«, sagte er und beugte sich zu dem Leutnant vor. »Und das wäre, Sir?« »Ich hasse dieses verfluchte Eis. Es ist kalt, und drinnen ver stecken sich Taifunboote.« »Na ja, Skipper, deswegen sind wir ja hier. Das ist nun mal unser Jagdrevier.« Dann fragte er in aller Förmlichkeit: »Sind Sie bereit zur Ablösung?« »Ja«, antwortete Gunner und trat vom Gefechtsleitstand herunter. Sharpe ließ sich auf dem bequemen schwarzen Ledersessel nieder. »Bereit zur Ablösung am Gefechtsleit stand, Sir.« »Ich übergebe Ihnen das Kommando, Leutnant. Fahren Sie vorsichtig.« Dann fügte Gunner noch hinzu: »In der Offiziers 60
messe soll ein Pokerspiel im Gange sein, habe ich gehört?« »Stimmt, Sir. Nehmen Sie sich vor Leutnant O'Connell in acht, der hat gerade eine Glückssträhne.« Gunner sah sich noch einmal hastig im Kontrollraum um und verschwand dann Richtung Offiziersquartier. Als »Renos« Erster Offizier hatte Korvettenkapitän Augustus Trout jede Menge Papierkram am Hals. Als die »Reno« einmal in der Japanischen See vor Wladiwostok auf dem Meeresboden lag, hatte er nachgerechnet, dass er die Hälfte seiner insgesamt achtzehn Jahre in Uniform mit dem Ausfüllen von Formularen verbracht hatte, mit dem Lesen von Formularen, die andere ausgefüllt hatten, und mit der Anforderung neuer Formulare. Mit diebischer Vorfreude dachte er an die Rache, die er üben würde, wenn er sich den Admiralsstern verdient hatte. Er würde neue Formblätter entwerfen, um damit die rangniedrigen Offiziere zu drangsalieren. Sein winziger Schreibtisch war unter Stapeln von Wach scheinen, Bestellzetteln, Wartungs- und Instandhaltungslisten vergraben - lauter Unterlagen, die die Navy benötigte, um sich zu beweisen, dass ihr Schiff auf See war. Trout stand auf und reckte sich, sein wuchtiger Körper füllte die Kammer aus, die er sein Reich nannte. Er griff nach dem Telefonhörer und drückte einen Knopf mit der Aufschrift: »Steuermann, Wachoffizier.« Eine klare, volle Stimme antwortete: »Technische Abtei lung, Adams.« »Willie«, sagte Trout, »Ich habe keine Unterlagen über die neue Silberverlötung am sekundären Kondensator-Rohrleit system.« »Wir sind gerade dabei, Mr.Trout. Sie haben Sie vor Ende der Wache auf Ihrem Tisch.« »In Ordnung.« 61
Trout legte den Hörer auf und starrte gedankenverloren sein Bild in dem kleinen Spiegel hinterm Schreibtisch an. Wie immer erinnerte ihn die runde Gesichtsform an einen Schoko ladenkuchen. Die Navy hatte Gus Trout verwöhnt. Er kniff sich in seine feisten, braunen Wangen und dachte, vielleicht zu sehr verwöhnt. Was soll's, seine Frau hatte ihn verlassen, aber die Navy hatte ihn nie fallengelassen. Die Navy war seine Heimat, und die Spielregeln der Navy beherrschte er bis zur Per fektion. Auf See genauso sicher wie bei »Manövern« im Penta gon, wollte er einen Admiralswimpel für sich ergattern, und er hegte keine Zweifel, dass er ihn bekam. Er vernahm ein leises Klopfen, öffnete die Tür und sah Gun ner im Rahmen stehen, im Mundwinkel eine Zigarette. Im Gegensatz zu Trout war Gunners Abneigung gegen Marinepo litik notorisch. Der Kapitän war ein Seemann durch und durch, mit Bürokratie, Beförderungen oder vornehmem Getue konnte er nichts anfangen. Im Grunde seines Herzens ein Pirat, schlagfertig und selbstgenügsam, verfügte Gunner über genau die Mischung aus Vorsicht, Wagemut und Einfallsreichtum, die vom Kommandanten eines Angriffs-U-Boots erwartet wurde, aber er war kein Politiker. Trout war der Ansicht, dass sein Kapitän mehr in seinem Job leistete als jeder andere, der ihm bisher untergekommen war. Wenn er eine Macke hatte, dann die, dass er seine Mannschaft so hart rannahm, dass mehr Anträge auf Versetzung von der »Reno« kamen als von allen anderen Booten des Geschwaders zusammengenommen. »Wird langsam Zeit für die Party«, verkündete Gunner. »Gehen wir.« Die kleine Offiziersmesse der »Reno« diente gleichzeitig als Kantine, Konferenzraum, Kartenzimmer und Aufenthalts raum. Der jeweils befehlshabende Offizier bestimmte die Atmosphäre der Messe, und Gunner hatte seine Vorlieben deutlich gemacht und ein Poster mit dem Konterfei des großen englischen Admirals zur See, Sir Francis Drake, dem Pirat sei 62
ner Königin, aufgehängt. Als Gunner und Trout eintraten, beruhigte sich das ausgelassene Kartenspiel einen Augenblick. »Guten Tag, Skipper, Mr. Trout«, sagte Leutnant Eddy O'Connell und mischte das Blatt. Ein hoher Stapel mit Chips hatte sich vor dem jungen Leutnant aufgehäuft, dem einzigen Offizier, der sich noch nicht für den U-Boot-Dienst qualifi ziert hatte. O'Connell versuchte vergeblich, die Aufregung vor seiner ersten Blaunasen-Zeremonie zu verbergen. »Was spielen wir denn, meine Herren?« fragte Gunner, als Trout und er sich setzten. »Fünf Karten abheben, Buben oder höher.« Mit zitternden Händen teilte O'Connell ein Blatt gezogener Karten aus. Schwere Rauchschwaden hingen über dem Tisch. Gunner strahlte seine Offiziere an. Sie hatten nach Rang und Alter am Tisch Platz genommen, jeder ein Produkt der Mari neakademie, ein »Nuc«, ein U-Boot-Mann, ein Absolvent der Atomschule der Marine. Gunner sah sich um und blickte in ernste, erwartungsvolle Gesichter, junge Männer voller romantischer Vorstellungen, darauf erpicht, ihren Mut in gefährlichen Gewässern zu erproben. Die »Reno« fuhr Rich tung Norden, in den Hinterhof der Russen, und Gunner und seine Männer würden ihre Einfahrt in Kürze mit einem heili gen Ritus begehen. »Eröffne mit zwei blauen Chips«, sagte Trout mit barscher Stimme. Chips rasselten in die Mitte des Tisches. »Zwei Karten«, sagte der Offizier und fuhr fort: »Ich habe gehört, die Russen feiern eine Rotnasen-Zeremonie, wenn sie den Nordpol erreichen.« »Tatsächlich?« sagte Gunner. »Und wie geht das vor sich?« »Sie knüpfen sich alle nichtrussischen Matrosen vor, Letten, Georgier und weiß der Teufel, und schneiden ihnen die Nase ab, schnipp, schnapp! Einfach so! Und werfen sie den Polarbä ren zum Fraß hin.« 63
Leutnant O'Connell schaute mißbilligend erst seine Karten an, dann hinüber zu Trout. »Ich dachte, auf den russischen UBooten sind nur reinrassige Russen erlaubt«, sagte er. Aus Trouts Rachen dröhnte schallendes Gelächter. »Jetzt wissen Sie wenigstens, warum, junger Mann. Jetzt wissen Sie warum.«
64
7. Kapitel Blaunasen Die Matrosen im Funkraum hatten Karten gezogen, um so zu bestimmen, wer während der Blaunasen-Zeremonie Wache schieben sollte. Erster Obermaat Frederick Wu hatte eine bescheidene Kreuz Drei und verfluchte sein Pech. Allein mit einem halben Dutzend Fernschreibern und Rega len, vollgestopft mit hochentwickelter nachrichtentechnischer Ausrüstung, von der das meiste bei Tiefe unbrauchbar war, schlürfte Wu seinen Kaffee und las in einem Handbuch der Elektrotechnik. Bei einer Tiefe von 120 Metern konnte die »Reno« nur ELF-Funksignale auffangen, Signale von extrem niedriger Frequenz. Die außerordentlich langsame Übertra gungsrate von einer Ziffer pro Minute beschränkte den Gebrauch der Einrichtung auf die Übermittlung von kurzen, codierten Funksprüchen. Bei fünfzehn Meter Tauchtiefe konnte das Boot über VLF, die Niederfrequenz, auch umfangreichere Funksprüche empfangen, ohne sich der Gefahr der Entdeckung durch feindliches Radar aussetzen zu müssen. Nach Wus Meinung verhalf der Dienst in der Arktis der Langeweile zu neuen Höhenflügen. Eine Fahrt in die Barentssee bot keine Aussicht auf einen Anlaufhafen, kaum Funksprüche, nichts als kaltes Meerwasser und Eis, sich dauernd verschiebende, krachende, nervtötende unendliche Eismassen. Geboren und aufgewachten in San Diego, ließ ihn allein der Gedanke an Eis erschauern, ein rein psychisches Phänomen, da die Temperatur im Innern des Schiffes konstant blieb. Er umfaßte die Kaffeetasse mit beiden Händen, wärmte sich dann und träumte vom Strand in Lajolla. Die arktische Ödnis erinnerte ihn an eine Wüste, und genau das waren die im ewigen Eis versunkenen Regionen, arktische Wüsten. Im Sonarraum hockten Obermaat Mike Morrison und Erster 65
Sonarmann Billy Stewart vor Displayanzeigen und ComputerTastaturen. Signale vom Packeis, vom Sturm und von der reichhaltigen Biosphäre der Barentssee flimmerten über die Schirme. Die sensiblen Horchfelder im Bug und im Achterschiff ließen nicht auf die Anwesenheit von Maschinen in der Tiefe schließen. Morrison erhob sich von dem Stuhl des Aufsichtführenden und musterte die Bildschirme. Die buschigen Augenbrauen, das Nickelgestell auf der Nase und der altmodische graume lierte Bart verliehen ihm das Aussehen eines U-Boot-Mannes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mit 45 Jahren war er der Älteste an Bord, aber er fühlte sich mindestens so alt wie das zwanzigste Jahrhundert, von dem er ein ganzes Viertel in den diversen Sonarräumen der Unterseeboote der Atlantischen Flotte verbracht hatte. Normalerweise war der Sonarraum mit vier Wachgängern besetzt, aber für die Blaunasen-Zeremonie war eine Ausnahme gemacht worden. Morrison verschränkte die kräftigen Arme auf dem Rücken und klemmte sich ein unangezündetes kuba nisches Zigarillo zwischen die Lippen. Er bekleidete den tradi tionellen Posten des Chiefs, der einzigartig im U-Boot-Dienst war. Teils Priester, teils Seelendoktor, teils eine Art Stabschef, bestand die Aufgabe des Chiefs darin, Dinge ins rechte Lot zu rücken, bevor sie außer Kontrolle gerieten, zwischen den verschiedenen Rassen und ethnischen Gruppen Frieden zu stif ten, in den Hintern zu treten, wo es nötig war, und eine Blau nasen-Zeremonie abzuhalten, wenn sie auf der Tagesordnung stand. Er wandte sich an Stewart. »Sie müssen in der nächsten Stunde für uns alle hören, Billy, also nicht einschlafen!« Billy war zwanzig Jahre jünger und hatte die Figur eines Preisboxers. Er grinste und winkte ab: »Gehen Sie ruhig und blamieren Sie sich, ich scheiß' drauf. Meine Nase ist schon blau.« 66
»Der Computer hört sowieso alles eher als Sie«, meinte der Chief, womit er keineswegs Stewarts Fähigkeiten herabsetzte, sondern lediglich eine Tatsache konstatierte. Morrison ging, und Stewart fragte sich gelangweilt, ob der Chief ihm wohl den versprochenen Eisbecher bringen würde. Morrison bahnte sich einen Weg nach achtern zur technischen Abteilung. Im Steuerraum, von wo aus die Reaktoranlage bedient wurde, traf er Master Stabsbootsmann Willie Adams, »Renos« obersten Nuc. Alle paar Sekunden huschten Adams' Augen über Skalen und Meßinstrumente, die alle Wände in dem kleinen Kompart ausfüllten. »Keine Blaunasen heute?« fragte Morrison. »Ich kümmere mich schon um den Laden, danke«, sagte Adams. »Gehen Sie nur. Garrett schmeißt eine Party, bevor's losgeht.« Morrison schlüpfte durch eine Luke in den Maschinenraum. Eine auf lautlosen Lagern brummende Turbine übertrug ihre 35000 PS in ein superschallgedämpftes Untersetzungsgetriebe und schob die »Reno« weiter in die Barentssee hinaus. Morri son trat unauffällig in einen kleinen Lagerraum, wo Obertor pedomaat Darrell Garrett ihn mit einem Pappbecher Gilley begrüßte, in dem eine feurig rote Flüssigkeit schwamm. Gar rett hatte mehrere Einmachgläser Maraschinokirschen mit an Bord gebracht, den Sirup gegen trinkbaren Äthylalkohol aus getauscht, der sonst für die Reinigung der Torpedorohre ver wendet wurde, und das Gesöff eine Woche gelagert. Morrison trank einen Schluck, schmatzte mit den Lippen als Zeichen echter Kennerschaft. »Ausgezeichnet. Kein kühles Blondes, aber das tut's auch.« »Das macht zwei Dollar, Morrison.« Morrison kramte zwei verknüllte Geldscheine aus der Hosentasche, und Garrett goß noch einmal beide Becher voll. »Auf den Kalten Krieg«, sagte Garrett. »Auf dass er ewig währe und mir meinen Arbeitsplatz sichere.« 67
»Yeah, Bruderherz«, stimmte Morrison zu. »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Garrett schraubte den Deckel auf das Glas, verstaute es in einem Spind und sagte: »Bringen wir's hinter uns.« An der Tür der Offiziersmesse war ein heftiges Klopfen zu hören. »Ich mach' schon auf«, sagte Gunner. Morrison stand drau ßen im Durchgang. Sein Kaugummi konnte den Geruch von Gilley nicht übertünchen, was Gunner geflissentlich igno rierte. »Was kann ich für Sie tun, Chief?« »Skipper, erbitte Erlaubnis, die Blaunasen ins Mannschafts logis einberufen zu dürfen.« »Ist das Ihr Ernst, Chief?« »Bei allem Respekt, Kapitän, aber da wir unter Eis sind, dachte ich, jetzt wäre die passende Gelegenheit. Wir sind längst über den Polarkreis hinaus.« »Erzählen Sie keinen Scheiß.« Ein Chor erstaunter Ausrufe erscholl von den um den Kar tentisch versammelten Offizieren. »Ich erzähle Ihnen keinen Scheiß«, sagte Morrison. »Das will ich auch stark hoffen. Erlaubnis erteilt. Sie können die Besatzung zusammentrommeln. Wir kommen in fünf Minuten nach.« Morrison schaltete den Bordfunk im Kommandoraum ein und sprach ins Mikrofon. »Alle Mann, Achtung. Hier spricht der Chief. Alle Mitglieder des Edlen Ordens der Blaunasen werden gebeten, zu einem Initiationsritus im Mannschaftslogis anzutreten.« Leutnant Sharpe ließ die Geschwindigkeit auf kleine Fahrt drosseln. Im Steuerraum schnitt Chief Adams den Turbinen die Dampfzufuhr ab, und das Schiff verlor sofort an Fahrt. »Trimmlage sichern«, befahl Sharpe. »Tiefe bei 120 Meter halten.« 68
Zehn Minuten später versammelten sich die vorgesetzten Chiefs im Logis. Keiner trug irgendwelche Rangzeichen, und jeder hatte einen Klecks blauer Farbe auf der Nase ver schmiert. Eine lange Reihe Matrosen säumte die Durchgänge zum Logis. In feierlichem Schweigen zog die Schlange an den Offi zieren des Ordens vorbei, und Morrison malte jede Nase blau an. Die Blaunasen hatten bereits auf einer früheren Fahrt den Polarkreis überschritten. Als alle entsprechend gekennzeichnet waren, stellten sich die Blaunasen in einem zwanglosen Halb kreis auf. Morrison proklamierte: »Der Edle Orden der BlaunasenMatrosen, Kapitel USS >Reno<, eröffnet hiermit die Sitzung.« »Hört, hört«, tönte es einstimmig aus achtzig Kehlen. »Bringt den Eiskübel«, kommandierte Morrison. Trout und Gunner gingen in die Kombüse und kamen mit einer gewaltigen Wanne aus Wellblech zurück, gefüllt mit blauer Schlagsahne, grünen Äpfeln und Eiswürfeln aus mit blauer Lebensmittelfarbe getöntem Wasser. Die bereits vorher Gesalbten klatschten rhythmisch in die Hände, stampften mit den Füßen auf und stimmten einen Sprechchor an: »Blaunasen, Blaunasen, Blaunasen ...« »Alle Kirschroten jetzt bitte vortreten«, brüllte Morrison über das Getöse hinweg. 24 junge Männer mit entblößtem Oberkörper formierten sich zu einer zweiten Reihe, die sich vom Torpedoraum durch die Verbindungsgänge und über die Leiter zur Kombüse in das Logis schlängelte. »Kirsche Nummer Eins, melden.« Schwindlig vor Aufregung trat O'Connell vor Morrison. »Was bist du, Kirschroter?« verlangte Morrison zu wissen. »Ich bin nichts, weniger als nichts, o Meister.« »Woher kommst du?« »Aus dem abstoßenden, bedeutungslosen Land des Sonnen 69
scheins.« »Wo befindest du dich jetzt?« »Im Reich des Eises und der Finsternis.« »Bist du jungfräulich, Kirschroter?« »Ja, Meister, das bin ich.« »Würdest du einen Polarbären bumsen und ihr Junges fres sen?« »Wenn man mir den Befehl erteilen würde, o Meister.« »Würdest du deinen Schwanz abhacken und ihn König Nep tun zum Mahl reichen?« »Wenn man mir den Befehl erteilen würde, o Meister.« »Tunk ein, mein Kirschchen, und sei gesalbt oder ertrinke.« O'Connell fiel auf die Knie, tauchte seinen Kopf in die eisige Brühe, schnappte mit dem Mund nach einem Apfel und kam prustend wieder hoch. Blauer Schaum kleckerte auf seine Brust. »Erhebe dich und laß dich salben.« O'Connell rappelte sich auf, und Morrison verschmierte blaue Farbe auf seiner Nase. »Was bist du nun?« wollte er wis sen. »Eine edle Blaunase, o Meister der eisigen Tiefe.« »Nimm deinen Platz unter deinen Brüdern ein, Blaunase, und wisse, du bist in die gefrorene Einöde vorgedrungen, in die nur wenige ihren Fuß setzen.« Berauscht von der Ehre, die ihm sein neuer Status verlieh, reihte sich O'Connell wieder ein und grinste wie ein Idiot. »Kirsche Nummer zwei, vortreten.« Das Ritual nahm seinen Gang, bis alle 24 Neugeweihten auf ihrer ersten Fahrt durch die Arktis in den Orden aufgenommen waren. Am Schluß der Feierlichkeit war der Boden über schwemmt von schmelzenden blauen Eiswürfeln und Schlag sahne. »Was sind wir nun?« bellte Morrison die Kompanie an. Die Mannschaft nahm den Sprechgesang auf und wieder 70
holte: »Blaunasen, Blaunasen, Blaunasen«, bis sie heiser war und nichts mehr sagen konnte. Köche stellten Wannen mit blau gefärbten Kuchen und Eiscreme auf. Im Funkraum hockte Frederick Wu vor einer Schreibma schine und setzte einen Brief an seine Eltern auf. »Jetzt, wo der Kalte Krieg vorbei ist«, schrieb er, »glaube ich, dass ich in Sili con Valley bessere Möglichkeiten habe, neue Technik zu ler nen. Außerdem gibt es mehr Geld! Mein Wehrdienst ist bald um, in ...« Plötzlich tutete die ELF-Alarmanzeige gellend. Wu riß den Kopf herum, verschüttete seinen Kaffee und fluchte. »Ver dammt!« Ein rotes Lämpchcn blinkte unaufhörlich auf dem Hauptfernschreiber, der in großen Abständen dreimal hinter einander tickerte. B2D Wu holte tief Luft, ging rüber zur Dechriffriermaschine, prüfte nach, ob das Datum richtig eingesetzt war, und tippte den Code ein. Die Maschine spuckte sofort die entzifferte Nachricht aus: FÜR SOFORTIGE ÜBERMITTLUNG AUF VLF FUNKTIEFE AUFSTEIGEN »Die ganze Scheißmannschaft feiert Kindergeburtstag und schaufelt Eis und Kuchen in sich rein«, murmelte Wu vor sich hin, »und die Navy hat nichts Besseres zu tun, als mal eben guten Tag zu sagen.« Miles Sharpe saß an der Gefechtsstation und träumte von Tomahawk-Abschüssen vom Roten Meer aus, als er Wus ängstliche Stimme in seinem Kopfhörer vernahm. »Funk an Kommandoraum. Wir haben eine ELF-Nachricht aus Nor folk.« Aufgeschreckt fragte Sharpe: »Wie war das, bitte?« Wu wiederholte seine Meldung und las den Befehl vor, das Boot hochzubringen, um einen Funkspruch empfangen zu können. Sharpe zuckte vor Aufregung zusammen. Vielleicht war der 71
Golfkrieg wieder aufgeflammt. Vielleicht waren die Russen ausgerastet und hatten irgendwo Streit angefangen. Vielleicht würde das hier ja doch keine der üblichen langweiligen Pa trouillenfahrten werden. Sharpe drückte die Nummerntasten für das Mannschafts logis. Ein Koch war am anderen Ende der Leitung. »Geben Sie mir den Kapitän«, rief Sharpe nachdrücklich in den Hörer. Die Feier im Logis hatte ihren Höhepunkt an Ausgelassenheit erreicht. Mit Farbe und blauem Teigtöner vollgesogen, torkelte eine Garde frisch gesalbter Blaunasen durch eine stümperhafte Can-Can-Darbietung. Am Tisch in der Mitte des Raums artete ein Eiscreme-Wettessen in eine regelrechte Freßorgie aus. Gunner nahm dem Koch den Hörer ab, hörte zu und sagte dann zu Sharpe: »Bringen Sie sie rauf, Miles. Geben Sie Befehl, Klarschiff zum Gefecht.« Alarmlampen blinkten auf, und Sharpes Stimme verkün dete über den Bordfunk: »Achtung, alle Mann herhören, Klar schiff zum Gefecht, Klarschiff zum Gefecht.« Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung, bevor aus dem Haufen randalierender Blaunasen eine disziplinierte Truppe wurde. Das Boot legte sich schräg. Einige Männer rutschten auf dem geschmolzenen Eis aus und stürzten zu Boden, während sie gleichzeitig versuchten, zu ihren jeweili gen Gefechtsstationen vorzurobben. Unterdrückte Flüche hallten von den Wänden wider. Gunner wischte sich die Farbe aus dem Gesicht und sprintete zum Kommandoraum. Auf der Leiter zum oberen Deck hörte er hinter sich Trouts schwere Schritte. Außer Atem vom Laufen fragte Trout. »Was ist los, Jack?« »VLF-Nachricht angekündigt.« Als sie in den Kommandoraum kamen, übernahm Gunner die Ablösung von Sharpe und entspannte sich. Einer nach dem anderen kamen Blaunasen hereinmaschiert, hinterließen kleine 72
Pfützen an Deck und ließen blaue Farbe auf die Steuerpulte tropfen. In Gunners Augen sahen sie aus wie urzeitliche wilde Briten, die soeben eine römische Legion auf dem Vormarsch ausgemacht hatten. Lediglich Miles, der mit einer tadellosen Uniform vor der Operationszentrale stand, sah aus, als gehörte er in die elektronische Umgebung eines Atom-U-Bootes. Gunner prustete vor Lachen. »Was ist daran so komisch?« fragte Trout genervt. Gurmer breitete die Arme aus, mit einer weiten Geste den gesamten Kommandoraum umfassend, und meinte: »Sehen Sie sich diese Typen mit der Faschingsbemalung an. Wenn Sie ein Russe wären, was würden Sie dann von denen denken?« Trout konnte daran nichts Komisches entdecken.
73
8. Kapitel Blaue Lichter Die »Reno« stieg in einem leichten Neigungswinkel auf, den eisigen Turbulenzen der Wetterfront ausgesetzt. Der Sturm drang durch Brüche in der Randeiszone und wühlte das Wasser auf. Zum ersten mal, seit es aus Norfolk ausgelaufen war, kam das Schiff ins Schlingern. Wie ein Wal beim Spiel in der Meerestiefe kippte das U-Boot drei Grad nach Steuerbord. Gunner im Kontrollraum musste schmunzeln; der angstvolle Ausdruck, der Lieutenant O'Connell im Gesicht stand, amü sierte ihn. »Was war das, verdammt noch mal?« fragte O'Connell. Gunner tat so, als spreche er ins Mikrofon. »Sonar, haben wir einen Wal gerammt?« fragte er trocken. Erschrocken stieß O'Connell ein ersticktes »Was?« aus. »Danke, Sonar«, sagte Gunner ernst. »Es war kein Wal, Leutnant. Der Mann am Sonar meint, vielleicht ein russisches U-Boot. So was kann passieren, und keiner weiß was oder hat was gesehen.« O'Connell erbleichte. »Warum ist kein Kollisionsalarm aus gelöst worden? Wie haben die Russen es fertiggebracht, das Schiff ins Schlingern zu bringen?« In den achtzehn Jahren, in denen er zur See fuhr, unter Was ser, hatte Gunner Dutzende solcher beängstigender Situa tionen erlebt. Im Vergleich dazu war ein Sturm ein harmloses Ereignis. Er verstand die Besorgnis des jungen Offiziers, aber konnte sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. »Noch nie was von dem neuen russischen SchiffsverschlingerElektromagneten gehört? Damit kann der Iwan jetzt auf fünf tausend Meter der >Reno< und jedem Besatzungsmitglied einen tödlichen Elektroschock versetzen.« »Diese Schweine«, zischte O'Connell zwischen zusammen 74
gepreßtcn Zähnen hervor. Gunner dachte zurück an die Zeiten, als die Atom-U-BootMänner noch echte blaue Jungs waren, die das offene Meer kannten und einen Sturm noch in tausend Meter Tiefe wittern konnten. Heutzutage waren die jungen Matrosen hochintelli gente Techniker ohne jedes Salz in den Adern. Gunners Ansicht nach war O'Connell in der Lage, das beste Floß der Welt zu entwerfen. Aber den Mississippi könnte er damit nicht überqueren. Wenn man es sich recht überlegte, war die gesamte verfluchte Mannschaft der »Reno« so. Immer wenn das Boot bei schwerer See auftauchte und wirklich mal hin- und herschaukelte, wurde gleich die halbe Mannschaft seekrank. Gunner blickte O'Connell in die Augen. »Hat Ihnen auf die sem Boot schon mal jemand gesagt, dass der Kalte Krieg vorbei ist? Wenn in diesen Gewässern ein russisches Schiff auftauchte, dann würden uns die Jungs einladen, auf Wodka und Kaviar an Bord zu kommen.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Es ist bloß ein Sturm.« »Ein Sturm?« Ein Ausdruck der Verwirrung verfinsterte O'Connells Miene. »Ein gewaltiger Sturm braut sich da oben zusammen«, erklärte Gunner geduldig. »Macht aber nichts. Denken Sie ein fach an all die wunderbare Technik, die nötig ist, um uns eine Nachricht zu schicken. An all die Tausende von Wissenschaftlern in Hunderten von Forschungslabors, die Milliarden Dollar ausgeben, um die schwarze Kunst der Kryptologie, der Raketentechnik, der Elektronik, die Umlaufbahnen der Satel liten und die Niederfrequenz-Funkübertragung zu beherr schen. Das ist doch was! Dieses massive Aufgebot an Hard ware wird bestellt, nur damit mir ein Wetteroffizier in Norfolk verklickern kann, was ich ohnehin schon weiß: Schwerer Sturm über Wasser. Und die Navy will sicherstellen, dass wir Bescheid wissen.« »VLF-Tiefe«, sagte Trout am Tiefensteuerstand durch. 75
»Gut«, sagte Gunner. »Bring sie in die Horizontale.« Ein Satellit im Synchronorbit um die Erde, 40000 Kilome ter über dem Nordatlantik, schickte einen hochkomprimierten und chiffrierten Datenfluß an ein Flugzeug der Navy, das über Norwegen kreiste. Computer an Bord der Maschine wandelten die Daten in VLF-Frequenzen um und übermittelten einen nicht abreißenden Signalstrom an das U-Boot-Geschwader der Atlantischen Flotte. »Funk an Kontrollraum. Erhalten VLF-Meldung.« »Sehr gut, Funk.« Im Funkraum filterten Computer die für die »Reno« bestimmten Signale aus der allgemeinen Funkübertragung heraus. Ein Teil der Nachricht blieb verschlüsselt, sie musste vom Kapitän entziffert werden. Gunner ging mit der Nachricht in den Dechiffrierraum, gab sein Paßwort in die Maschine ein, und ein paar Minuten später waren die digitalen Codefolgen in eine lesbare Sprache umgewandelt. AN DIE USS RENO: SOW.MAR. KLASSE TAIFUN HEUTE 0900 GMT IN DER BARENTSSEE NICHT ANGEKÜNDIGTEN SS-N-20 RAKETENTEST DURCH GEFÜHRT. SOW TV. FILM DER ÜBUNG AUSGE STRAHLT. IN GANZ USSR ANTI SOW.MAR. DEMON STRATIONEN. POLITISCHE FOLGEN UNKLAR. UMGEHEND GREMICHA ANSTEUERN UND BEWE GUNGEN DER TAIFUN AUFNEHMEN. Taifun! In Gunners Vorstellung beschwor allein das Wort das Bild eines atomaren Monsters herauf, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit seinen 110 Metern war die »Reno« ein langes Schiff, so lang wie ein Fußball-Feld. Ein Taifunboot würde das gesamte Stadion einnehmen. Die »Reno« war ausdrücklich zum Zweck der Verfolgung dieser riesigen Schiffe unter Eis gebaut worden, aber die Schiffe der Taifunklasse waren schwere Beute, die fast ausschließlich in den militärisch gesperrten Gewässern der Weißen See 76
operierten. Bei den fünf früheren Patrouillenfahrten in die Arktis hatte die »Reno« keinen einzigen Kontakt mit derart schwerem Gerät gehabt. Gunner konnte sich leicht ausmalen, was im Pentagon abge laufen war, als unerwartet eine Rakete aus dem Weißen Meer schoß. Alarmzeichen, Glocken, Summer, zehn Sekunden lang Panik, bis die Flugbahn berechnet war; wütende Anrufe über die Hot Line nach Moskau; eine hastig einberufene Krisensit zung über mögliche Reaktionen; welches U-Boot haben wir denn gerade in der Nähe von Gremicha? Die USS »Reno«, SSN 777. Schicken Sie Gunner hin. Wenn die Russen Spielchen spielen wollen, dann ist er der richtige Mann. Gunner spürte, wie ihn der Mut verließ. Sowjetisches Fern sehen? Demonstrationen? Politische Folgen nicht absehbar? Was zum Teufel bedeutete das alles? Handelte es sich um einen nicht genehmigten Abschuß? War irgendein dummdreister russischer Kommandant auf die Idee gekommen, mal eine Rakete in die Luft zu ballern, nur um sich den Kondensstreifen anzusehen? Sollte hier der Kalte Krieg wieder aufgewärmt werden? In was für eine Sache wollte ihn das Pentagon da reinziehen? Gunner ging zurück in den Kontrollraum. »Mr.Trout«, sagte er, »kommen Sie bitte in meine Kajüte.« Die winzige Kajüte des Kapitäns war spärlich eingerichtet, schmucklos, ohne jede persönliche Note, und es paßten kaum zwei Menschen hinein. Gunner setzte sich an seinen Schreib tisch und las den kurzen Funkspruch laut vor, während Trout hin und her lief, soweit der Raum das zuließ. »Diese Scheißrussen können einfach die Finger nicht von den Dingern lassen«, explodierte Trout, als Gunner geendet hatte. »Ich wette, diese Dreckskerle wollen den Kalten Krieg gar nicht aufgeben. Sie haben das nur gemacht, um uns zu pro vozieren.« An Trouts Tiraden gewöhnt, wartete Gunner einen Augen 77
blick, bis sich sein Offizier abreagiert hatte. »Treiben Sie nebenher ein bißchen strategische Planung für die Russen, Gus?« fragte er. »Verflucht, ja.« »Wir testen Raketen, sie testen Raketen«, sagte Gunner, eine Spur verärgert. »Was ist also dabei?« »Wir kündigen unsere Tests vorher an, wie sich das gehört, damit sich keiner aufzuregen braucht«, protestierte Trout aggressiv. »So wie russische Demonstranten, oder wie Sie?« fragte Gunner sanft. Gemaßregelt, unternahm Trout einen Versuch, sich zu beru higen. »Sieht ganz so aus, als ob die Russen eine Prise Sechzi ger verabreicht bekommen sollen, dreißig Jahre später«, meinte er. »Russische Raketenversuche im Fernsehen und Demonstranten auf den Straßen. Ich wünsche es mir für sie, nettere Typen gibt's doch gar nicht.« »Die Welt hat sich verändert, Gus«, sagte Gunner. »Es ist nun mal so, dass das russische Reich erledigt ist. Nur weiß das die Admiralität noch nicht. Ein einzelner Raketentest kann daran auch nichts mehr ändern. Beruhigen Sie sich. Immerhin patrouillieren wir jetzt nicht mehr in einer leeren Barentssee. Wir hocken draußen vor Gremicha, und Sie werden genug von Ihren bösen Russen zu sehen kriegen.« Trout ließ sich auf Gunners Koje nieder und massierte kurz seine Kopfhaut. »Der Kalte Krieg ist noch nicht vorbei, Jack«, sagte er. »Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Na und? Wir können den Kalten Krieg ewig aushalten, solange er nicht in einen heißen Krieg umschlägt. Mensch, Gus, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut. Die Russen werden niemals angreifen, weil sie nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben. Selbst wenn sich ihre Politiker verschätzen, ihre hohen Militärs wissen genau, dass sie nicht mithalten können. Sie können uns nicht besiegen, nicht in tau 78
send Jahren, und das wissen sie auch. Wenn sie uns wirklich bedrohen, würden wir sie in einer einzigen Minute auslö schen.« »Vielleicht«, sagte Trout, »aber die alte Sowjetunion zerfällt immer mehr, und das gefällt einigen von den hohen Tieren überhaupt nicht. Meine These: Niemand gibt freiwillig Macht ab. Das einfachste Mittel, von inneren Problemen abzulenken, ist, sich einen äußeren Feind zu suchen.« Gunner klopfte eine Lucky aus der Packung und zündete sie an. »Sagen Sie bloß. Genialer Gedanke. Dasselbe hat Bush mit Noriega und Saddam gemacht. Panama und der Irak sind dritt klassige Dritte-Welt-Länder, aber die Russen haben ein erst klassiges Dritte-Welt-Land. Sie springen nicht außerhalb ihrer Grenzen rum. Jetzt nicht, und auch in Zukunft nicht. Die Zei ten sind vorbei.« Als erzkonservativer Kalter Krieger hielt Trout, wie Hun derte Offiziere auch, an seiner antirussischen Einstellung fest. »Nein?« fragte er. »Haben sie sich auf wundersame Weise über Nacht in gute Menschen verwandelt?« »Gus, ich mache keine Politik. Ich bin U-Boot-Mann, und ich fahre, wohin man mich beordert. Keiner verlangt, dass Sie die Russen mögen, aber ich finde, es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn man sie haßt.« Trout legte eine Pause ein, als denke er über eine grundle gende Wahrheit nach. »Ich hasse sie nicht, ich traue ihnen nur nicht über den Weg.« »Das ist nur recht und billig«, sagte Gunner und zeigte sich versöhnlich. Trout blickte sehnsuchtsvoll auf Gunners Zigarette und unterdrückte den Trieb, sich eine zu schnorren. »Mensch, Trout«, sagte Gunner, »nach diesem Einsatz krie gen Sie eine Trident. Darauf können Sie sich verlassen. Sie befehligen einen Riesenwal, und wenn Sie die Russen immer noch nicht mögen, können Sie sie dann ja zum Teufel jagen.« 79
Für Trout blieb Gunner ein Buch mit sieben Siegeln. Er redete wie ein Peacenik, aber Trout wußte, dass »Plutonium Jack« keine Sekunde zögern würde, den Startknopf für die Atomraketen zu drücken. Außer seinem Kommando hatte Gunner anscheinend keine Interessen. An Land führten sich die meisten U-Boot-Offiziere wie alle einigermaßen intelligenten menschlichen Wesen auf, mit ihren Fehlern und Macken und ihren klapprigen, halb verfaulten Segelbooten. Trout hatte geheiratet, war geschieden, hatte Kinder in die Welt gesetzt, ging angeln, bergsteigen und schipperte seine alte Triton durch die Chesapcake Bay. Nicht so Gunner. Der Kapitän hatte nie geheiratet. In Norfolk hatte er sich nicht dem Offiziersclub angeschlossen, nie an geselligen Veranstaltungen teilgenom men, tat nie was anderes, als sich auf die Patrouillefahrt in ark tischen Gewässern vorzubereiten. Er hatte sogar die MilitärSprachenschule in Monterey besucht, hatte Russisch gelernt und las häufig russische Bücher, Zeitungen und Militärzeit schriften. Für einen Menschen, der die Russen nicht bekämp fen wollte, hatte er die erste Regel für den Kampf gewissenhaft befolgt: Kenne deinen Feind. Gunner schloß seinen Safe auf, holte eine Mappe in einem roten Schutzumschlag hervor, auf dem »Top Secret« zu lesen war, und entnahm ihr Satellitenaufnahmen und eine genaue Analyse der letzten russischen Marineoperationen. Er breitete die Unterlagen in seiner Kajüte aus. »Sehen Sie sich das mal an, Gus«, sagte er. »In letzter Zeit hat sich ein ungewöhnliches Bewegungsmuster für die Schiffe der Russen entwickelt. Die alte Rote Armee hatte selten mehr als fünfzehn Prozent ihrer Schiffe gleichzeitig auf See. Diese Zahl ist jetzt auf zehn Prozent geschrumpft und nimmt weiter ab. Schiffe im Einsatz kehren heim, ohne dass sie durch neue ersetzt werden. In der Baltischen See, dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer patrouillieren kaum noch Schiffe.« »Das sind ja auch im wesentlichen Gebiete, in denen nicht 80
russische Volksgruppen leben«, warf Trout ein. »Der wichtig ste Schwarzmeerhafen, Odessa, liegt in der Ukraine.« »Stimmt«, sagte Gunner, »aber die Pazifische und die Nord flotte ziehen sich ebenfalls zurück. Die Marine ist schon immer die unabhängigste der drei Waffengattungen gewesen, und bekanntlich können sich die zivile Regierung in Moskau und die Marineführung in Sankt Petersburg nicht riechen. Liegen die Schiffe im Hafen, ist eindeutig, wer das Sagen hat. Sind sie aber auf See, vor allem strategische Raketen-U-Boote, wird die Antwort schon schwieriger.« »Wollen Sie damit andeuten, dass Moskau Angst vor seiner eigenen Flotte hat?« »Das ist eine Erklärung, und sie ist entweder gültig oder nicht. Im Moment hat Moskau vor allem möglichen Angst. Die Sowjetunion gibt es schon nicht mehr, und auch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten kann jede Minute ausein anderbrechen. Ich glaube, es wird darauf hinauslaufen, dass sich die Russen darum streiten, wer das Oberkommando über ihre bewaffneten Kräfte hat. Wir können nichts anderes tun, als die Situation im Auge behalten und ermitteln, ob sie für uns irgendwie bedrohlich ist. Das ist doch nur redlich.« »Ich würde eine SS-N-20 als eine schlimme Bedrohung ansehen«, stellte Trout fest. »Einverstanden«, seufzte Gunner. »Der Vogel flog aus einem Taifunboot heraus. Für diesen Test kommt nur ein Mensch in Frage.« »Zenko!« sagte Trout. »Ja, Zenko. Die Boote der Taifunklasse sind sein Leben. In einem Bürgerkrieg könnte sein Geschwader die halbe Welt ver wüsten, von der Ukraine bis China. Wir müssen herauskrie gen, was Zenko mit seinen Booten vor hat und wie er sie einsetzen will. Vielleicht sollte genau das der Raketentest bewirken, Gus - ein Signal an Moskau.« »Was sollen wir der Mannschaft sagen?« fragte Trout. 81
»Die Wahrheit. Wir fahren nach Gremicha. Vielleicht müs sen wir auf Grund gehen und wochenlang Ruhe im Boot hal ten. Schwerer Dienst für alle Mann. Sie sind jetzt Blaunasen. Die werden das schon aushalten.« Gunner stand auf und öffnete die Tür, um Trout zu entlassen. »Halten Sie Kurs auf einen Punkt 250 Kilometer nördlich von Gremicha«, sagte er. »Wir nehmen sie uns von Norden her vor und gehen so nah wie möglich ran.“ »Aye, aye, Skipper.« Gunner schloß leise die Tür und streckte sich auf seiner Koje aus. Er wußte, er würde nicht einschlafen können. Immer wenn er die Augen zumachte, sah er grelle blaue Lichter, winzige Punkte über einer ausgedehnten weißen See. Einer nach dem anderen schossen sie in den Himmel und verschwanden. Von dem Moment an, wo die »Reno« in Norfolk ablegte, hatten die Lichter an Intensität zugenommen, bis jetzt, nach zwölf Tagen auf See, jeder Lichtschein impulsweise strahlte und hinter seinem Augapfel zu einer Nova wurde. Manchmal, wenn die Lichter aufstiegen, stellte sich Gunner vor, es seien menschliche Seelen, die gegen den Himmel streb ten, aber die Flugbahn schlug eine Kurve zurück zur Erde, und die Seelen stürzten in das Höllenfeuer explodierenden Plutoni ums. Sechzehn Zündungen, sechzehn blaue Lichter, sechzehn Tomahawk Cruise Missiles, die quer durch das Universum rasten und das Ende der Zivilisation bedeuteten. Die Lichter flackerten, wurden stärker und verblaßten dann. Auf seiner letzten Patrouille hatte Gunner die Hoffnung aufgegeben, diese ganz privaten Dämonen auszutreiben, bevor er für immer von Bord ging. Er spürte die Finsternis der dicken, kalten Eismassen, die ihn wie ein unsichtbarer Panzer umgaben. Er spürte, wie das UBoot beschleunigte und wie der Dolch eines Mörders in die feindlichen Gewässer trieb. Vor ihm lag eine See voller 82
Taifune und Akulas, Zyklonen und Haie, die ältesten Feinde der Seeleute. »Plutonium Jack« Gunner hatte Angst.
83
9. Kapitel
Die Barentssee
Wenn die Barentssee eine mit Wasser gefüllte Badewanne war, dann war der Baldachin aus Eis der Seifenschaum, der oben schwamm. Selbst der tiefste Eiskiel hinterließ kaum eine Beule im Becken, das im Durchschnitt 230 Meter tief war. Bei einer Fahrttiefe von 120 Metern ließ die »Reno« die Komponente Eis in der Gleichung der arktischen Seefahrt unberücksichtigt. Vor dem Aufkommen der Atom-U-Boote waren Fahrten unter Eis auf wenige Stunden begrenzt. Ein U-Boot mit die selelektrischem Antrieb benötigt Sauerstoff und muss wieder unter der Eisdecke hervortauchen, um neue Luft zu tanken. Ein Atom-U-Boot stellt seine Atemluft selbst her, indem es Meerwasser entsalzt und das Süßwasscr einer Elektrolyse unterwirft. Ein Atom-U-Boot kann daher fast unbegrenzt unter Eis bleiben, bis seine Vorräte ausgehen oder die Mannschaft durchdreht. Für die »Reno« stellte die Durchquerung einer eisbedeckten See kein größeres Problem dar als eine Kreuzfahrt im Atlantik. Eis und der Effekt, den der magnetische Pol auf einen Ma gnetkompaß ausübt, machen ein genaues Navigieren in nörd lichen Breiten unmöglich. Die Erforscher der Arktis fanden sehr schnell heraus, dass sich ihre Kompaßnadel wie wild drehte, was erfahrene Seeleute als Breitenroulette bezeichnen. In der langen Polarnacht, in der es keinen erkennbaren Hori zont zu geben scheint und der Himmel sich um einen Nord stern dreht, der direkt über dem Betrachter steht, ist Astrona vigation per Sextant nicht möglich. In der gleich langen Tagesphase schwebt die Sonne an einem verschwommenen Horizont. Die ersten mutigen Abenteurer, die den Nordpol erobern wollten, gingen im Kreis, verloren die Orientierung und fanden auf der wandernden, wild zerklüfteten Eisdecke 84
den Tod. Der Arktische Ozean blieb lange Zeit das letzte Meeresge biet, das es zu erobern galt - bis 1958, als das erste atomgetrie bene U-Boot, die USS »Nautilus«, die erste Durchquerung des Polargebietes unter Wasser unternahm. Ausgestattet mit Inertialnavigation, drei Gyroskopen, die von einem festen Ausgangspunkt aus Bewegungen in drei Richtungen genaue stens messen können, blieb die »Nautilus« von den Auswir kungen des magnetischen Pols verschont. Heutzutage sind Satelliten oder das Standard-Loran in der Lage, die Genauigkeit der Inertialnavigation zu überprüfen. Eine zweite Kontrolle läßt sich mittels Distanzmessungen vornehmen, der Entfernung zu bekannten geologischen Merkmalen auf dem Meeresboden. Nach über dreißig Jahren Unterwassernavigation ist der Grund der Barentssee sorgfältig kartiert. Meeresberge und -rinnen sind allgemein bekannt. Die »Reno« durchquerte daher die Barentssee unter der Eisdecke und erreichte kursgernäß die Mittelstraße zwischen der Küste der Kolahalbinsel und Nowaja Zemlaja, einer großen Insel aus Permafrost und Kältesteppe, die von den Russen als Atomtestgelände genutzt wird. Zwischen der Insel und Kola, 250 Kilometer südlich, erstreckt sich ein ausgedehntes Sonar netz. Kommandant Trout meldete: »Wir befinden uns über dem äußeren Gürtel des russischen Sonarnetzes, Kapitän.« »Ruhe an Bord«, befahl der Kapitän.« »Ruhe an Bord, aye.« Leise hallte das Kommando in jeder Abteilung wider. »Alle Maschinen stop.« »Alle Maschinen stop, aye.« Der Dampffluß wurde unterbrochen, die Schraube blieb ste hen, und das Schiff trieb allein durch den Schwung vorwärts. »Kontrollraum an Sonar, melden.« Das Sonarsichtgerät, das das gesamte Netz erfaßte, zeigte 85
Eisgewitter an der Oberfläche und die Reflexion vom Boden an. Eisscanner wiesen unweit des Küstenbereichs der Insel ver ankertes Eis aus - Unterwasser-Stalagmiten, die wie umge drehte Eiszapfen aussehen. Das Prozeßsignal zeigte überhaupt nichts an. Und die Sonarcomputer stießen auf keine mechani schen oder elektronischen Geräusche. »Sonar meldet, alles klar, Skipper.« Gunner strich sich über das Kinn. »Wo steckt er, Gus? Wo ist unser alter Freund, der Iwan?« »Offenbar sucht er nicht nach uns.« »Ihr Verhalten war doch sonst immer so vorhersehbar«, schnaubte Gunner. »Sind sie klüger geworden oder leiser, oder beides?« »Vielleicht haben sie die Flotte versenkt und ihre Matrosen zum Kartoffelpflanzen geschickt.« »Das würde mich nicht überraschen«, meinte Gunner. »Wenn ich Hunger hätte, würde ich das auch tun.« Gunner schaltete die Gegensprechanlage ein und drehte die Lautstärke herab. »Achtung, alle Mann herhören«, begann er seine Durchsage. »Wir betreten feindliche russische Gewässer. Von jetzt an herrscht bis auf weiteres Ruhe an Bord. Sie alle sind erfahrene U-Boot-Männer und kennen ihre Arbeit. Von jetzt an sind wir Piraten. Unser Auftrag besteht darin, der rus sischen Marine ihre militärischen Geheimnisse zu entreißen, und das können wir nur, wenn sie nicht weiß, dass wir hier sind. Also halten Sie Ruhe. Das ist alles.« »Bravo«, sagte Trout. »Vielen Dank«, antwortete Gunner. »Kontrollraum an Steu erraum.« »Steuerraum.« »Triebwerke einschalten.« »Triebwerke eingeschaltet, aye.« Chief Adams verstärkte den Dampf auf den Turbogenerator und führte zwei hinter dem Heckruder montierten Wasser 86
kraftantrieben elektrische Energie zu. »Steuerraum an Kontrollraum. Triebwerk bereit.« »Alle Kraft auf Trieb werk.« Die beiden kleinen, aber starken elektrischen Hydroturbi nen spülten Meerwasser nach achtern und schoben das Boot mit einer Geschwindigkeit von sechs Knoten geräuschlos voran. Seit Beginn der Unterwasserschiffahrt im 19. Jahrhundert galten die U-Boot- Männer als Außenseiter. Im Ersten Welt krieg demonstrierten die U-Boot-Besatzungen. dass Feldzüge gegen den Feind nicht länger von feinen Herren geführt wur den, sondern von Piraten, die ihre Unsichtbarkeit dazu nutz ten, Schrecken zu verbreiten. Unter Wasser gibt es keine Gesetze. Irgendein Seerecht nannte die Barentssee zwar internationa les Gewässer, aber Gunner war klar, dass er das Privatrevier der Nordflotte betreten hatte. Von jetzt an galt auch er als Outlaw, und die russische Marine würde jedes Vordringen weiter südlich als einen Akt der Aggression bewerten. Gunner ließ alle halbe Stunde anhalten und horchte ins Was ser hinein. Jedesmal verkündete Morrison: keine Kontakte. Nach der dritten Meldung formte sich in Gunner der Verdacht, dass die Russen die Barentssee längst geräumt hatten. »Wo stecken sie, Gus? Wo zum Teufel stecken sie?« Die »Reno« bewegte sich geräuschlos, mit List und Tücke, wie ein Einbrecher bei Nacht. Die russischen Sonare registrier ten keinen Maschinenlaut. Das ausgeklügelte System des auf dem Boden ausgelegten Sonarnetzes, dazu konstruiert, jeden Einbruch unter Wasser im Küstengebiet der Kolahalbinsel auf zuspüren, versagte total. Ungesehen und ungehört kroch die »Reno« wie ein geschickter Kampftaucher ins Innere Rußlands vor. Keine ein zige Vibration erschütterte die Decks. Nur das Inertialnaviga tionssystem des Schiffes nahm die Passage der »Reno« durch 87
die finsteren Gewässer der Barentssee wahr. Ohne Wetter, ohne Himmel, ohne Horizont, ohne jegliche Temperatur schwankungen lösten sich Tag und Nacht auf. Der Zeitablauf wurde allein durch den Wachwechsel markiert. Jeder Diensttu ende hatte vier Stunden Wachgang, gefolgt von acht Stunden Freizeit, die fürs Schlafen, Essen oder Kartenspiel draufgin gen, fürs Pauken für Qualifizierungen und Examen oder für das Aushecken noch phantasievolleren Zeitvertreibs, um bei Verstand zu bleiben. Alle sechs Stunden bereiteten die Köche hundert Mahlzeiten, und die Vorräte an grünem Salat und Frischmilch verringerten sich rasch. Alle zwölf Stunden sagte der Steuermannsmaat über die zentrale Lautsprecheranlage Datum und Uhrzeit in mittlerer Greenwichzeit an, aber nur wenige Matrosen zeigten Interesse, solange sich der Einsatz nicht in die Länge zog. Das Datum war genauso egal wie der Breitengrad oder die Tiefe. Die wirkliche Welt war weit weg, ausgetauscht gegen eine Stahlröhre, kaum mehr als zehn Meter im Durchmesser. Im Sonarraum wurde Billie Stewart von Morrison die Erlaubnis erteilt, seinen Pornobuchladen zu öffnen. Jeder Matrose durfte zwei Seesäcke mit persönlichen Gegenständen an Bord nehmen. Statt mit Kleidungsstücken hatte Stewart seine Säcke mit Hunderten billiger Pornoheftchen und einer ansehnlichen Sammlung in Plastik eingeschweißter Fotos mit obszönen Darstellungen gefüllt. Torpedoschütze Garrett war einer der ersten, der Interesse an Stewarts Bibliothek bekundete. Er tauchte im Sonarraum auf und sagte zu Garrett: »Ich habe gehört, Sie hätten Bücher anzubieten?« »Ach ja?« »Und Plastikbildchen?« »Die habe ich auch.« »Zeigen Sie mal so 'n Buch her.« Stewart schnürte einen der beiden Säcke auf und reichte 88
Garrett ein Taschenbuch mit dem Titel »Eine Nacht in Hamburg«. Der reißerisch aufgemachte Umschlag zeigte eine düstere Straße, gesäumt von Häusern, in deren Fensterrahmen spärlich bekleidete Frauen unter roten Laternen hockten. Garrett schlug das Buch auf, las wahllos eine Seite und zupfte sich an der Nase. »Zeigen Sie mal so ein Foto.« Stewart schob ihm die postkartengroße Farbaufnahme einer nackten Frau hin, die sich auf einem Bett fläzte, die Beine gespreizt. »Ich möchte ein Buch kaufen und ein paar Bilder. Was macht das zusammen?« »Diese Bücher sind nicht zum Verkauf«, erklärte Stewart. »Sie werden nur gegen Gebühr ausgeliehen. Wenn Sie Ihren Spaß haben wollen, müssen Sie sich in die Kartei einschrei ben.« »Wieso?« Stewart ließ Garrett weiter das Buch und die Fotos anschauen, während er ihm die Geschäftsbedingungen ausein andersetzte. »Ich führe dreihundert verschiedene Buchtitel und sechshundert Fotos. Sie suchen sich ein Buch und zwei Fotos aus, behalten sie, solange Sie wollen, bringen sie zurück, und ich gebe Ihnen eine neue Kombination. Sie können sich pro Einsatztag zwei Kombinationen ausleihen und haben trotzdem niemals ein und dieselbe. Abwechslung lautet das Zauberwort, Mann, ununterbrochenes Lesevergnügen auf Dauer, und dazu hübsche Bilder, mit denen Sie auch unter die Dusche gehen können.« »Wieviel macht das?« »Weil Sie's sind, Garrett, zwei Scheinchen.« »Und wieviel ist das?« »Leben Sie hinter'm Mond, Garrett? Zweihundert Dollar.« »Das ist ja der reinste Nepp!« »Ach ja? Vielleicht gibt's ja noch einen anderen Pornoladen auf dem Schiff, Kumpel.« »Ich überleg's mir noch.« 89
»Tun Sie das. Und wenn Sie nicht auf Mädchen stehen, ich habe auch Bilder von Jungs, mit Riesentorpedos.« »Ich bin keine Schwester.« »Mir doch egal.« Fünf Minuten später stand Garrett wieder da, in der Hand ein Bündel zerknüllter Geldscheine. Bei einer guten Patrouil lenfahrt machte Stewart einen Schnitt von fünftausend Dollar, die er größtenteils heim Poker wieder auf den Kopf haute. Morrison sorgte dafür, dass zehn Prozent der Einnahmen in die sogenannte Sonargaststiftung abführte, bares Geld, das am Ende einer Patrouille immer für eine riesige Schlemmerei für die Sonartruppe draufging. Ein paar Stunden später, als die Wache endete, platzte Morrison in die Messe der Chiefs. Er trug die schwarze Mütze der russischen U-Boot-Männer und wedelte mit einem kleinen russischen Marinewimpel. Sein dröhnendes Lachen hallte von den Wänden wider und erfüllte den engen Raum mit einem magischen Gejohle. »Iwan ho!« brüllte er, schlug Chief Garrett auf die Schulter und blaffte mit russischem Akzent: »Imperialistisches Schwein! Hast du mich vermißt? Du wirst mich noch vermis sen. Da. Ich gehe jetzt nach Hause.« Er streifte mit einem Zeigefinger am Hals entlang und meinte: »Kalter Krieg vorbei. Finito. Kaputt. Womit sollen wir jetzt die Zeit totschlagen?« »Ich weiß nicht, was daran so komisch sein soll, Morrison«, sagte Garrett. Seine Unterlippe zuckte. »Um Himmels willen, Garrett. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« »Du Würstchen, Morrison. Verpiß dich.« »Komm schon, Mann. Nimm's nicht so schwer. Dein gan zes Leben hat man dir beigebracht, die Russen sind dein Feind, das Reich des Bösen und den ganzen Scheißdreck. Jetzt ist der Eiserne Vorhang verschwunden und Frieden ausgebrochen. O 90
je, was soll ein Kalter Krieger, der mit Leib und Seele bei der Sache ist, da anstellen?« Garrett überlegte einen Augenblick, stocherte in seinem Essen rum. »Wenn der Kalte Krieg vorbei ist, wieso sind wir dann hier? Kannst du mir das verraten, Klugscheißer?« Morrison holte sich ein Tablett und schaufelte sich Leberkäse und Kartoffelbrei auf seinen Teller. »Gute Frage. Warum sind wir hier auf unserem guten alten Dampfer >Reno<. Mit dem ganzen tödlichen Waffenarsenal, das mitten auf Rußland zielt. Weil wir die Guten sind und die Russen die Bösen? Vielleicht deshalb? Schon mal >Warten auf Godot< gesehen?« »Hör mal, Eierkopf«, sagte Garrett. »Ich weiß verdammt noch mal genau, warum ich hier bin, auch wenn du es nicht weißt.« »Du hast eine große Klappe, Garrett, aber ich kann zurück beißen. Also gut, warum?« »Weil mir der Kalte Krieg den größten Spaß meines Lebens bereitet hat. Der Kommunismus oder die Russen sind mir scheißegal. Mit Iwan Schiffe versenken, das ist das tollste Spiel überhaupt.« »Vielleicht war es das mal«, sagte Morrison, »aber die Zeiten sind vorbei. Tick, tick, tick, tack, das letzte Pfeifsignal.« Er stieß seine Gabel in ein Stück Leberkäse und hielt sie hoch. »Die russische Bedrohung ist wie dein Mittagessen, das schutzlos an deiner Gabel steckt. Jetzt kannst du's noch sehen« - er hielt einen Moment inne, um sich den fettigen Bissen in den Mund zu stopfen -, »und schwupp, schon ist es weg.« »Du hast nur Scheiße im Sinn«, sagte Garrett kopfschüt telnd. »Hab' ich nicht.« Morrison lachte. »Ich hab' nur Leberkäse im Sinn, so wie du.« Er blickte sich um, drehte den Kopf blitz schnell nach links und rechts und raunzte: »Wo bleibt denn die Getränkekellnerin? Ich hatte mir doch noch einen Wodkalemon 91
bestellt. Was ist bloß mit der Navy los? Scheiße, wäre ich doch bloß betrunken.« »Halt die Klappe, Morrison. Halt deine verfluchte Klappe und laß uns in Ruhe essen.« Morrison aß ein paar Bissen von seinem Leberkäse und dachte an die Barentssee. Hier hausten die abscheulichen Tai fune unter der Eisdecke, bewacht von einem Geschwader leiser schneller Angriffs-U-Boote der Akula-Klasse. Warum, ver dammt noch mal, waren sie hier? Die »Reno« rückte zentime terweise gegen Gremicha vor, und Morrison argwöhnte, dass die Navy einen brennenden Holzscheit an die Glut des Kalten Krieges hielt, um ihn wieder voll entflammen zu lassen. Gar rett würde die Chance seines Lebens erhalten, mit den Russen zu spielen, aber irgendwie, dachte Morrison, würden die Rus sen ein amerikanisches U-Boot in ihren Gewässern nicht als Spielzeug ansehen.
92
10. Kapitel Archangelsk An Bord der »Sowjetski Sojus« stieg Obermatrose Sorokin zum Quartier der Rekruten hinab, um die erste Wache auszu rufen. Er stieß auf Typow, den Jungen von der Komsomol, der im Durchgang hockte und aufmerksam den Text über gesättig ten Dampf las, den er ihm als Hausaufgabe gegeben hatte. »Wie geht's?« fragte Sorokin, der sich darüber freute, dass der junge Frischling seine Pflichten ernst nahm. »Es ist schwierig«, gab Typow mit naiver Offenheit zur Antwort, »aber interessant.« »Hat man Ihnen in der Komsomol nicht beigebracht, dass Sozialismus Wissenschaft ist?« »Doch, Obermatrose, aber in Babajewo haben wir keine Atomkraftwerke. Da hat noch nie jemand was von gesättigtem Dampf gehört. Das ist nicht wie in Sankt Petersburg.« »Möchten Sie wirklich Seemann werden?« »Ich weiß nicht, jedenfalls will ich kein Dummkopf blei ben.« Sorokin wandte sich ab, fragte aber noch: »Warum liegen Sie nicht in Ihrer Koje? Ist doch viel bequemer als im Durch gang.« »Gehen Sie mal rein. Sie werden schon sehen«, nuschelte Typow und vertiefte sich wieder in die Seite mit den Gleichun gen. Sorokin drängte sich in den Raum und störte ein Dutzend Frischlinge bei ihrem Budenzauber. Rockmusik tönte aus einem Kassettenrekorder, und junge Matrosen schwoften zu »Dancin' in the Street« von Martha and the Vandellas. Petja Bulgakow tänzelte rüber zu Sorokin und sagte: »Hallo, Genosse Boß. Tanzen Sie doch mit.« »Mittanzen? Ihr könnt mich mal. Ist das dein Musikapparat, 93
Kleiner?« »Ja. Gefällt er Ihnen?« »Ich dachte, du hättest etwas mehr Grips, kleiner Scheißer«, sagte Sorokin streng. »Macht den Apparat aus. Wenn euch ein Offizier erwischt, gibt's Ärger.“ »Wieso? Wir haben unsere blöde Rakete doch abgeschossen, Genosse. Was können uns die hohen Tiere schon antun, was schlimmer ist, als auf diesem Schiff zu dienen?« »Sie können euch die Freiheit nehmen, Schwachkopf«, brüllte Sorokin über die Musik hinweg. »Wir tauchen in einer Viertelstunde auf. Kapiert? Wenn ihr tanzen und Frauen aufrei ßen wollt in Archangelsk, dann macht gefälligst die Musik aus.« Kopfschüttelnd machte Sorokin kehrt und ging zurück zur Kommandozentrale. Die Musik hinter ihm erstarb. Zwölf Uhr mittags tauchte die »Sowjetski Sojus« in einer langen, von einem Brecher eisfrei gehauenen Rinne 8000 Meter vor Archangelsk auf. Der Ausguck blickte auf eine Dunstglocke aus braunem Qualm über der alten Stadt. Archangelsk! Allein der Name versetzte die Mannschaft in Aufregung. Der Ausguck reckte die Daumen in die Höhe und grinste. Von der Brücke aus entdeckte Kapitän Malakow nur zwei kleine Eisbrecher und eine weiße Fähre, die durch den sonst so betriebsamen Hafen tuckerten. Selbst im strengsten Winter herrschte hier durch die zahllosen Schlepper und ihre Last kähne immer reges Treiben, heute war es leer. Der Raketenoffi zier Leutnant Minski, geboren in Archangelsk, vom Kapitän auf die Brücke gebeten, bemerkte, wie ruhig und geduckt die Stadt heute wirkte. Gerade schoben sich die hohen Schornsteine der Schiffs werft 402 des Ministeriums für Rüstungsindustrie von Sewe rodwinsk ins Blickfeld. Minski fiel auf, dass einige Schorn 94
steine, die sonst tagein, tagaus in Betrieb waren, heute keinen Qualm austießen, Ein weiteres unheilvolles Zeichen. »Funk an Brücke«, meldete sich der Funkoffizier über den Bordlautsprecher. »Ich habe den Werftkommandanten in der Leitung. Er will mit Ihnen sprechen, Kapitän.“ »Stellen Sie durch.« »Kapitän Malakow?« fragte eine nervöse Stimme. »Hier Oberst Wolostow vom Rüstungsministerium. Wir haben ein Problem. Unsere zivilen Arbeiter haben heute morgen einen wilden Streik ausgerufen und ihren Arbeitsplatz verlassen.« Malakow spürte plötzlich aufkommende Mordgelüste, aber er blieb ruhig. »Können Sie uns einen Liegeplatz besorgen?« »Ja, aber ...« »Was, aber ...« »Es wäre besser, wenn Sie wieder nach Gremicha zurück fahren würden!« »Kommt nicht in Frage! Sie haben doch Marinepersonal auf der Werft, oder nicht?« »Ja.« »Dann treiben Sie die Männer gefälligst zur Arbeit, wenn sie nicht massenhaft desertiert sind. Malakow, Ende!« Zwei Marineschlepper legten längsseits an und schoben die »Sowjetski Sojus« sanft nach Sewerodwinsk. Als sich das UBoot dem Küstenstreifen näherte, erkannte Malakow zwei grüne Oberleitungsomnibusse im Hafengebiet, aber kaum anderen Verkehr. Ein paar Lastwagen und ein einzelnes militä risches Streifenfahrzeug rollten den Weißmeer-Boulevard hin unter. Archangelsk lag versunken im Schlaf. Die Schlepper lotsten das Schiff zu einem der überdachten Liegeplätze, die angelegt worden waren, um das kostbare Gerät der Marine gegen die Unbilden des nördlichen Wetters zu schützen. Als das U-Boot einfuhr, spürte das Brücken kommando förmlich die unheimliche Stille. Statt der gewohn ten Geräuschkulisse mit quietschenden Kränen, heulenden 95
Schweißgeräten und stampfenden Maschinen lag die Schiffs werft diesmal verlassen da. Von der Brücke aus verfolgte Malakow, wie ein notdürftig zusammengestelltes Küstenkommando aus Marineinfanten sten seiner Besatzung beim Anlegemanöver zur Hand ging. Am Ende des Kais stand eine einsame Gestalt, unruhig und jämmerlich: Werftkommandant Oberst Wolostow. Als die »Sowjetski Sojus« am Poller festgezurrt war, klet terte Malakow von der Brücke hinunter und brüllte wütend: »Was zum Teufel ist hier los?« »Kapitän Malakow, die Stahlarbeiter haben Lohnerhöhung verlangt und heute morgen einen wilden Streik ausgerufen, und die übrigen Arbeiter haben sich aus Sympathie angeschlossen. Heute wurde am Haupttor gegen die Marine demonstriert. Die Arbeiter wollen mehr Geld, und die Demonstranten sagen, sie kriegen zuviel. Es kam zu einem Kampf, und als die Miliz anrückte, gingen Arbeiter und Demonstranten gemeinsam gegen sie vor.« Malakow blickte den Mann haßerfüllt an. »Das hier ist ein Militärhafen! Sie Schlappschwanz! Ich könnte Sie dafür erschießen lassen.« »Ich kann nichts dafür, Kapitän, ich bitte Sie. Die Zivilisten kehren nach ein paar Tagen wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, vielleicht sogar schon morgen. Ich versichere Ihnen ...« »Ihre Versprechungen können Sie sich sparen«, zischte Malakow. »Haben Sie die Admiralität verständigt?« »Selbstverständlich.« »Und das Hauptquartier der Nordflotte?« »Ja, Kapitän. Sie waren auf See. Wir haben nichts als Pro bleme.« Malakow begriff, dass es keinen Sinn hatte, einen glücklosen Funktionär zusammenzustauchen, der Kräften unterlag, auf die er keinen Einfluß hatte. Das hier war Rußland, hoffnungslos, hilflos, wie gelähmt. »Wie kann man bloß so 96
eine Marine führen?« sagte er. »Genosse Werftkommandant, wir brauchen für die Routinewartung Ihre Geräte und Ersatzteile aus dem Lager. Wir kümmern uns lieber selbst um unser Schiff.« »Unsere Ersatzteillager sind leergeräumt«, jammerte der Kommandant. »Die Eisenbahnarbeiter haben zur Unterstüt zung der Werftarbeiter ebenfalls ihre Arbeit niedergelegt. Es stinkt zum Himmel, Kapitän, die Lage könnte nicht schlimmer sein.« »Funktioniert überhaupt noch irgend etwas in dieser gott verfluchten Stadt?« »Die Bars, Kapitän«, antwortete Wolostow mit leuchtenden Augen. »Der Wodka fließt in Strömen.« »Na wunderbar«, sagte Malakow spöttisch. »Erst streiken, dann saufen, dann nach Hause gehen und fernsehen. Das ist das moderne Rußland. Ich halte mich an die Marineinfanterie, um Eisenbahnwaggons zu entladen, wenn es sein muss.« »Ich begreife nicht, was in diesem Land vor sich geht«, jam merte Wolostow. »Ich schwöre, ich versteh's einfach nicht.« »Ich schon«, schnauzte Malakow ihn an. »Arschlöcher wie Sie kommandieren eine Schiffswerft. Gehen Sie mir aus den Augen!« Wolostow schlich sich davon, dachte nur noch an die Wod kaflasche, die er in seinem Büro versteckt hatte. Zerrieben zwi schen den Gewerkschaften und der Marine, konnte man gleich ins Wasser springen. Wenn das Eis in ein, zwei Monaten geschmolzen war, würde er es versuchen. Malakow ließ Sorokin holen und befahl ihm, sich um die Energieversorgung am Anlegeplatz zu kümmern. Eine Stunde später schlängelten sich Stromleitungen über den Kai, in den Schiffsrumpf hinein. Sergow postierte Marineinfanteristen als Wachen und schickte seine technischen Ingenieure los, um das Werftgelände nach Ersatzteilen abzusuchen. Dem Wartungs personal im Reaktorraum befahl er, den Reaktor bei zehn Pro 97
zent zu fahren und den Dampfdruck zu halten. Als das Schiff vertäut war, rief Sorokin die Mannschaft zusammen und schickte 105 Matrosen von Bord. Mit geschulterten Seesäcken überquerten die Frischlinge das Gelände und gingen auf einen langgestreckten, halb verfallenen, nicht isolierten Bau zu, der als Kaserne diente. Jeder hatte sich sein Bettzeug vom Schiff mitgebracht und beanspruchte nun eine Koje für sich. Die Köche brachen gewaltsam in die seit langem ungenutzte Küche ein, fanden aber nichts Eßbares vor und kehrten zurück zum Schiff, um die Kombüse zu plündern. Sorokin ließ die Männer in Rangordnung antreten und ver kündete offiziell den Landurlaub. »Wie lange werden wir hier bleiben, Boß?« fragte Petja Bulgakow. »Drei Tage«, antwortete Sorokin. »Es hieß, wir würden eine Woche kriegen.« »Klappe, Kleiner. Nerv nicht. Du hast deinen Landurlaub, nun sei zufrieden. Und deine Musik kannst du auch so laut spielen, wie du willst.« »Müssen wir Uniform in der Stadt tragen?« wollte ein ande rer Matrose wissen. »Nein. Bleibt in Gruppen zusammen, und dass ihr mir ja keinen Ärger macht. Keinen Streit, keinen Scheiß.« »Dürfen wir zu Hause anrufen?« fragte Typow. »Wenn ihr ein funktionierendes Telefon findet und genug Geld für ein Gespräch habt.« »Was ist, wenn unser Proviant zu Ende geht?« Von allen Seiten stürmten Fragen und Klagen auf den Quar tiermeister ein. Schließlich hob Sorokin einen Arm und sagte: »Ihr seid Seeleute, verdammt noch mal. Hört auf, wie Kinder rumzuheulen, und führt euch auf wie Erwachsene. Und du«, er zeigte mit dem Finger auf Petja Bulgakow, »dass du mir kei nen Scheiß baust.« 98
»Aye, aye, Genosse Boß.« Sorokin kehrte zurück an Bord, in der Hoffnung, die Ober matrosen würden auch einen Tag Landurlaub bewilligt bekommen. Er hatte ein paar alte Freunde in Archangelsk, ehe malige Frischlinge, die vielleicht Lust hatten, mit ihm eine Fla sche Wodka zu kippen. Andererseits, wenn er nicht in die Stadt käme, würde es ihm auch nicht das Herz brechen. Er hatte genug zu tun. Auf dem Schiff war es jetzt ruhig. Es glänzte noch immer wie neu. Die »Sowjetski Sojus« war hier in Sewerodwinsk gebaut worden, auf der Fertigungsstraße des angrenzenden Werks. Sorokin erinnerte sich noch gut daran, wie er mit Zenko und einer zwanzigköpfigen Besatzung die ersten Tauch versuche auf See unternommen hatte. Wenige Monate später hatten sie das Schiff in Gremicha abgeliefert. Er dachte zurück an den Tag in Zenkos Höhle, als Malakow das Kommando übernahm und mit sieben Offizieren des berüchtigten Siebten Geschwaders von Murmansk, den »Grauen Geistern«, an Bord kam. Normalerweise tolerierte Sorokin Offiziere, aber Malakow und seine Genossen waren kompromißlos in ihren politischen Anschauungen und trafen nun auf eine Flotte, die bislang ausgesprochen apolitisch war. Eine Ausnahme bildete Leutnant Minski, der Raketenoffi zier, der Anzeichen von Menschlichkeit erkennen ließ. Jetzt hatte er Gelegenheit, ihn auszuhorchen, sich mit ihm anzu freunden und vielleicht nach der geheimen Einkaufsliste für den Schwarzmarkt der anderen Offiziere zu suchen. Er konnte sich ein bißchen Geld nebenbei verdienen und in seiner Eigen schaft als Zenkos Spitzel sogar noch ein paar wichtige Informationen einholen. Er fand Minski über den Navigationstisch gebeugt, im Gespräch mit Plescharski. Es ging um den Raketentest. Gerade wollte er sich in das Gespräch einmischen, als Malakow eine Konferenz im Leninzimmer einberief. 45 Männer drängelten 99
sich durch die Tür. Der politische Offizier Sergow teilte Gläser mit heißem Tee aus. »Kriegen wir auch Landurlaub wie die Frischlinge?« flü sterte Plescharski Sorokin zu. »Halt die Klappe, Idiot. Steck deine tausend Rubel lieber in die Altersversorgung.« »Ich bin schon alt.« »Meine Herren«, hob Malakow an, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es für uns Offiziere keinen Landurlaub gibt. Wir sind aufgefordert, uns in Bereitschaft zu halten.« Die Gesichter verrieten keinerlei Gefühlsregung. Bereit schaft wofür, dachte Minski, den dritten Weltkrieg? Malakow schwadronierte lang und breit über Patriotismus und den ruhmreichen Dienst in der Marine. Sorokin musste sich zusammennehmen, um nicht einzuschläfern. Als der Kapi tän fertig war, ließ Sergow eine Tirade gegen die Offiziere und Obermatrosen los und appellierte an die politische Verantwor tung der Divisionskommandanten. Plescharski stieß Sorokin unterm Tisch mit dem Fuß an. »Aufwachen, Boß.« Sergow bediente sich des alten Vokabulars und verfiel in ein endloses Zitieren der Parteiideologen von einst. Als er endlich zum Schluß kam, sagte Malakow: »Ich fahre nach Archangelsk und treffe mich dort heute abend mit Admiral Deminow. Ich vermute, dass eine lobende Erwähnung wegen des erfolgrei chen Raketentests in Kürze bevorsteht. Das wäre alles. Wegtre ten.« Offiziere und Obermatrosen kehrten in ihre Quartiere zurück. Sorokin ging an Deck und schlenderte rüber zu den Kasernen. Die Frischlinge waren ausgeflogen. Er fragte sich, wie viele sich wohl zurückmelden würden.
100
11. Kapitel Weißer Stern Um acht Uhr, mit einer Stunde zur freien Verfügung vor sei nem Treffen mit Deminow, entließ Malakow seinen Fahrer und schlenderte zu Fuß durch die gepflasterten Straßen von Archangelsk. Wie jeder langgediente Seemann war er dankbar für eine Atempause an Land und hoffte, ein bißchen Frühlings grün zu entdecken. Schon nach wenigen Minuten bereute er seine Entscheidung für einen Spaziergang. Wie Staub auf einer Fensterscheibe lag Unheil über der alten Stadt. Im Stadtzentrum stieß er auf zornige Werftarbeiter, die in Gruppen zusammenstanden, auf müde wirkende Frauen mit Einkaufsnetzen, leidlich gefüllt mit schlechten Waren, und auf Jugendliche mit zerzaustem Haar und weißen Gesichtern. Ent lang der Uferpromenade bedeckte schmutziger Schneematsch den Boden, und der Geruch nach verbrannter Kohle verpestete die Luft. Er ging vorbei an heruntergekommenen Bootshand lungen, Anlegeplätzen von Fähren und an alten Männern, die von Bänken an der Kaimauer aus auf das Eis starrten. Nach ein paar Straßen bog er wieder stadteinwärts, blieb aber unterwegs vor einem Wohnblock stehen und las die Plakate, die man an Häuserwände gekleistert hatte. Neben Theaterspielplänen und Anschlägen für Gebrauchtmöbel entdeckte er einen primitiv gedruckten Aufruf zum Generalstreik zur Unterstützung der Werftarbeiter, einen zweiten zu einer Kundgebung, zur Unterstützung einer autonomen russischen Republik außerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, und einen dritten, der die Freigabe von Brot verlangte. Ein viertes Plakat, das die Bürger beschwor, die Union zu unterstützen, war mit einem Hakenkreuz beschmiert. Malakow spürte den Drang, es runterzureißen, aber dann sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite das gleiche Plakat, und weiter die Straße runter 101
noch eins. An der nächsten Ecke geriet er in eine Schlange von Men schen, die nach Brot anstanden. Die Schlange reichte drei Straßen weit. Ein frecher Pantomime unterhielt die Men schenmenge, brachte sie zum Lachen und entlockte ihr einen Geldregen. Er karikierte Gorbatschow, Jelzin, einen Polit kommissar und, als er Malakow sah, einen Marineoffizier. Der Pantomime drückte die Brust heraus, krümmte den Rücken und marschierte im Stechschritt. Die Menge johlte, und Malakows Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Am liebsten wäre er mit den Fäusten auf den Pantomimen losgegangen und hätte die Menge angegriffen, aber es waren so viele, zu viele. »Nimm unser Geld«, kreischte ein Mann und warf dem Straßenkünstler eine Münze zu. »Wir können uns doch nichts dafür kaufen.« Mit einem boshaften Grinsen an Malakow gewandt, fügte er hinzu: »Die Marine hat uns alles weggenommen, um sinnlose Raketen auf Sibirien abzufeuern.« Die Menge klatschte Beifall, und einige verhöhnten Mala kow ganz offen. Der Mime hob das Fünfzig-Kopeken-Stück auf, versuchte es mit den Zähnen zu beißen, blickte mißmutig und warf es über die Schulter. Die Menge applaudierte und pfiff. Einen Augenblick später kroch er auf dem Boden und ließ die Münze in einem Schuh verschwinden. Malakow setzte seinen Weg fort, die Buhrufe aus der Men schenmenge verfolgten ihn. Überall sah er heruntergelassene Rolläden und Gitter, als laste ein schweres Unwetter auf Archangelsk. Aber Fenster und Türen waren nicht wegen des langen Winters verschlossen, der längst vorbei war, sondern zum Schutz vor der fast greifbaren Bedrohung durch Gewalt und Anarchie. Wenn die Menschen kein Brot haben, dann stür men sie die Bäckereien. Wenn sie keine Hoffnung mehr haben, brennen sie die Bäckereien nieder. Um neun Uhr hatte er genug gesehen. Vom Hafen her wehte ein kalter Wind, als er den Weißmeer-Boulevard zum hell 102
erleuchteten Marineoffiziersklub hinunterging. Vom Eingang her tönte Musik. Limousinen fuhren vor, und Offiziere in ele ganten Uniformen mit tadellosen Epauletten stiegen aus. Die Fahrer bogen dann um die Ecke, wo sie in der Kälte ausharren mussten. Vor 1917 war das prunkvolle Hafengebäude des Klubs das Hauptquartier der Kaiserlichen Weißmeerflotte gewesen. Während des Großen Vaterländischen Krieges hatte die American Lend-Lease-Commission den Komplex okkupiert. Wie sich die Dinge wandelten, dachte Malakow, und wie sie sich weiter wandeln. Malakow stieg die hölzernen Stufen hinauf und griff nach dem Messingknauf der Eingangstür, als ihm der Wachposten, ein Soldat, prompt den Weg versperrte. »Nur für Mitglieder, Genosse Offizier.« Malakow zog seinen Militärausweis aus der Brieftasche her vor und wedelte damit vor den Augen des Wachpostens. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann mit plötzlichem Respekt. »Ich habe Sie nicht erkannt. Mach auf, Dimitri! Hier draußen steht Erster Kapitän Malakow!« »Malakow? Von der >Sowjetski Sojus Willkommen, der Herr. Wir haben Ihr Schiff im Fernsehen gesehen. Was für ein Anblick.« Die Wachposten salutierten zackig und stießen die Tür weit auf. Drinnen erhellten Kronleuchter das Foyer und die große Treppe. Ein Streichertrio schlenderte Mozart spielend durch die Räume. Im Marineklub drängten sich Flieger vom Ge schwader Archangelsk und Besatzungsmitglieder der Zerstö rer vom Weißmeergeschwadcr der Nordflotte. Die Stimmung war gut. Die Szenerie erinnerte Malakow an das Rußland von 1917, kurz vor der Revolution. Während die privilegierten Offiziere aßen und tranken und tanzten, brach das alte Regime über ihren Köpfen zusammen. An der Hauptbar waren alle Stühle besetzt. Malakow fand Deminow am Kopfende eines Ecktisches, an dem ein halbes 103
Dutzend Offiziere Platz genommen hatten. Neben dem Admi ral saß der Sicherheitschef der Flotte, Oberst Ludinow, ein Mann mit einem Gesicht aus Granit. Er ließ den Blick über die kleine Gesellschaft schweifen wie ein Hai, der einen Thun fischschwarm abschätzt. Deminow sprang auf und drückte seinem Schwiegersohn ein Glas in die Hand. »Meine Herren, ein Trinkspruch«, grölte er. »Auf den Kommandanten der >Sowjetski Sojus<, der uns gestern die Macht unserer modernen Marine vorgeführt hat.« »Auf Malakow«, brüllten die Offiziere und schütteten den Wodka in sich hinein, als sei es frisches Quellwasser. Schon ziemlich betrunken, hätten sie bereitwillig auch auf die Köni gin von England angestoßen, wenn nur der Alkohol weiter fließen würde. »Ich möchte auch einen Trinkspruch ausbringen«, sagte Malakow, das Glas hebend. »Meine Herren«, sagte er in sarka stischem Tonfall, »einen Trinkspruch auf die treuen Werftarbeiter von Sewerodwinsk. Mögen sie ihren gerechten Lohn kassieren.« »Auf die Arbeiter!« brüllten die Offiziere. Kalte Wut packte Malakow. Deminow mochte seinen Schwiegersohn nicht besonders, aber sein Zorn konnte sich als nützlich erweisen. Er legte einen Arm um Malakows Schulter und sagte: »Wladimir, ich habe ein Zimmer für dich oben reservieren lassen. Oberst Ludinow, würden Sie mich als Vorsitzenden dieser Tafelrunde vertreten?« »Natürlich, Admiral«, entgegnete Ludinow. »Mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren«, sagte der Admiral zu der Tischgesellschaft betrunkener Piloten und Offiziere, wandte sich dann ab und begleitete Malakow zur großen Frei treppe. Der Tisch für zwei Personen im privaten Speisezimmer war mit altem Silberbesteck, Kristallglas und vergoldetem Tafelge schirr gedeckt. In einem Eiskühler aus Sterlingsilber lag eine 104
Wodkaflasche bereit. Berge von Kaviar, Rahmbutter und Brot nahmen die Mitte des Tisches ein. Ein Marinesteward in golde ner Livreeuniform stand zu Diensten. Deminow gestattete ihm, zwei Glas Wodka einzuschenken, und gab ihm dann ein Zeichen zu verschwinden. Malakow blickte auf den üppig gedeckten Tisch und dachte wieder an die Menschenschlange, die nach Brot anstand, und an den Pantomimen. Plötzlich holte er mit dem Arm aus und schmetterte sein Glas gegen die Wand. »Was ist los mit dir?« rief Deminow belustigt. Malakow beugte sich über den Tisch und zischte. »Nein, Iwan. Was ist los mit dir, muss ich fragen. Bist du schon in der Stadt gewesen? Hast du die Leute gesehen, die Plakate an den Hauswänden? Sie haben voller Abscheu auf meine Uniform geschaut und hätten mich gesteinigt, wenn sie sicher gewesen wären, dass sie ungeschoren davongekommen wären. Ich hätte nie geglaubt, dass mir soviel Haß entgegenschlagen würde.« Von dem Geräusch des zersprungenen Glases alarmiert, klopfte der Steward an die Tür und trat ein, doch Deminow winkte heftig ab. »Sieh dir das an!« schimpfte Malakow. Seine Stimme zitterte vor Empörung. »Kaviar und Weißbrot! Und unten ein Rattennest voller Besoffener!« »Beherrsch dich, Wladimir. Oder laß dir noch mal so eine hübsche Geste einfallen und hau alles in Stücke.« »Du bist ein dekadenter Mensch, Iwan Iwanowitsch.« »Das will ich hoffen. Da der Kalte Krieg nun für beendet erklärt ist, habe ich eine Flotte ohne Auftrag. Der rote Admi ralsstreifen sollte doch für irgend etwas gut sein, also amüsiere ich mich. Ich brauche mich nicht zu den erbärmlichen Men schen von Archangelsk zu begeben, um zu erfahren, was in diesem Land los ist. Ich bin weder blind noch blöd.« Er streifte einen Löffel schwarzer Störeier an einer Scheibe Weißbrot ab. »Du solltest den Kaviar probieren, Wladimir. Er 105
ist wirklich gut. Es hat keinen Zweck, guten Kaviar verkom men zu lassen, genauso wie es keinen Zweck hat, mich anzu raunzen, nur weil dich draußen auf der Straße keiner als Held feiert.« »Da draußen ist das Chaos«, rief Malakow. »Irgend jemand muss Ordnung schaffen.« »Ganz recht«, pflichtete Deminow ihm bei. »Ordnung, unser altes Schreckgespenst, stimmt's? Lenin hat Ordnung geschaffen, Stalin hat Ordnung aufgezwungen, sogar Bre schnew hat eine korrupte Ordnung durchgesetzt. Man hatte die Wahrheit gepachtet und kannte die Antwort auf alle Fragen, allein durch die strikte Anwendung des marxistisch-leninisti schen Gedankenguts. Selbst Dekadenz hatte seinen Platz in der Ordnung der Dinge.« Malakow goß sich ein neues Glas Wodka ein und stürzte es hinunter. »Dekadenz und Schwäche haben uns diese jämmerlichen Verhältnisse eingebrockt.« »Na und«, sagte Deminow. »Dann bin ich eben schwach und obendrein dekadent.« »Deine Idee, die Marine zu verherrlichen, hat es gezeigt«, sagte Malakow mit Verachtung. »Deine Fernsehsendung ist nach hinten losgegangen. Die Leute fluchen auf die Marine, genau die Reaktion, die Zenko vorhergesagt hat.« »Natürlich. Ich habe den Demonstrationen hier und da sogar ein bißchen nachgeholfen.« »Aber wieso?« fragte Malakow, noch immer skeptisch. »Admiral Walotin hat die Operation Weißer Stern geneh migt.« Jeder Offizier der Flotte war mit Operation Weißer Stern vertraut, einer der zahlreichen vom Verteidigungsrat ausgear beiteten militärischen Notstandspläne. Malakow teilte die weit verbreitete Vorstellung, bei Weißer Stern handele es sich in Wahrheit um eine kaum verhüllte Strategieplanung für den 106
Bürgerkrieg. Die militärische Konvention ging davon aus, dass ein sowjetischer Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden ausgetragen würde. Weißer Stern war der Kriegsplan für den Norden, die Variante eines alten sowjetischen Projekts der Invasion Norwegens und Finnlands von der Kolahalbinsel aus, dahingehend verändert, dass von Süden statt von Westen angegriffen wurde. Weißer Stern mobilisierte die Nordflotte für einen Angriff auf das europäische Rußland, Bjelorußland, die Ukraine und die Baltischen Republiken. Phase Eins beinhaltete die Stationierung zweier U-Boote der Taifunklasse, eins im Weißen Meer, das andere in der Barentssee. Sollten die Republiken sich in den Besitz von Atomwaffen bringen, konnten die Taifunboote zu einem schnellen und vernichtenden Schlag gegen jeden beliebigen Punkt auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausholen. Phase Zwei umfaßte die allmähliche und geheime Mobili sierung von dreißig Angriffs-U-Booten und sechzig Über wasserschiffen, die für den Angriff zu Land in Aufstellung gebracht wurden. Phase Drei aktivierte den Nordwest-Schau platz, ein elementares Kriegskommando, das die Verbände der Kola-Halbinsel unter das Kommando der Nordmeerflotte stellte. In Phase Drei sollte Admiral Deminow die Führung über zwei Fallschirmspringerdivisionen, sechs motorisierte Infanteriebataillone, acht taktische Luftgeschwader, zwei stra tegische Bombergeschwader und zwölf Regimenter SpetsnazSondereliteeinheiten übernehmen. »Phase Eins der Operation ist mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt«, sagte Deminow, wobei er die Reaktion seines Schwiegersohns genau beobachtete. »Du wirst natürlich das Kommando über die >Sowjetski Sojus< übernehmen.« Malakows Mißmut schlug sofort um. Zum erstenmal huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. »Und wer hat das Kommando über das andere Taifunboot?« »Zenko«, antwortete Deminow. »Stefan Zenko ist treues 107
Parteimitglied gewesen, und Anführer der Gruppe, die sich der Bewegung zur Auflösung der politischen Führung wiedersetzt hat. Er war einverstanden mit der Entscheidung, zur Nieder schlagung der Aufstände in Wladiwostok Marineinfanterie der Pazifischen Flotte einzusetzen. Er hat bislang keinerlei Nei gung gezeigt, die Abspaltung der Republiken gutzuheißen. Seine Weigerung, sich mit uns auf die Seite der Union zu schlagen, ist unsinnig, absolut unsinnig. Trotzdem, er wird tun, was man ihm sagt. Und wenn nicht, werde ich ihn von dem Kommando entbinden.« »Er ist ein Anhänger der Republiken«, behauptete Malakow, als handelte es sich um eine unumstößliche Tatsache. »Selbst wenn du ihn von seinem Kommando entbindest, wird er sich der Operation Weißer Stern widersetzen, außerdem hat er ein flußreiche Freunde in Moskau.« Malakow unterbrach, um sich noch ein halbes Glas Wodka einzuschütten. Eine Idee begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. »Als ich bei Zenko in Frunze Taktik studierte, predigte er uns andauernd, Überra schung sei die Essenz des U-Boot-Kampfes. Überraschung, Stille und List würden den Sieg bringen. Warum bereiten wir Zenko nicht eine Überraschung?« Darauf hatte Deminow gewartet. Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte er nach: »Was für eine Überraschung, Wladimir?« »Wenn ich heute abend mit der >Sowjetski Sojus< auslaufe, steht Zenko vor vollendeten Tatsachen.« »Ein ziemlich gewagter Vorschlag, mein Junge. Du würdest ein beträchtliches Risiko eingehen. Dein Schiff auch. Die >Sojus< steht unter Zenkos Kommando.« »Und Zenko steht unter deinem Kommando«, entgegnete Malakow süffisant. »Es ist kein Risiko dabei. Keiner kann ein Taifunboot unter Eis aufspüren. Keiner.« »Ist deine Besatzung nicht auf Landurlaub?« fragte Demi now. 108
»Ich brauche keine Besatzung. Ich kann mein Schiff auch mit vierzig Offizieren und Obermatrosen betreiben. Entbinde mich von meiner Order, und ich fahre noch heute abend.« Deminow schien sich die Sache zu überlegen und tat so, als denke er nach. »Ja«, sagte er schließlich, »das wäre im Rahmen der Operation Weißer Stern vertretbar.« Er langte in seine Tasche, zog ein offizielles Formblatt der Marine hervor und schob ihm die versiegelte rote Aktenmappe über den Tisch zu. »Vor Sewerodwinsk wartet ein Eisbrecher.« Malakow brach in Lachen aus. »Du gerissener alter Fuchs.« »Das will ich meinen«, sagte Deminow. »Wie wäre es jetzt mit ein bißchen Kaviar?« Strahlend schaufelte Malakow einen Löffel auf eine Scheibe Brot und kostete die salzige Pracht. Deminow schaute ihm eine Weile zu und sagte dann, seine Worte mit Bedacht wählend: »Es bietet sich uns eine einmalige Gelegenheit, Wladimir.« »Zenko loszuwerden?« »Noch viel mehr.« »Was meinst du damit, Iwan?« »Der Verteidigungsrat hat Weißer Stern genehmigt, aber ich bezweifle, dass Walotin bereit ist, ihn zu drängen, die Opera tion bis zu ihrem logischen Ende durchzuführen.« »Und das wäre?« »Die Eliminierung jeglicher Opposition gegen die Union und die Einsetzung einer Militärregierung.« »Ein zweiter Putsch?« »So gut wie«, sagte Deminow. »Und das soll weniger gewagt sein?« sagte Malakow mun ter. »Mit einem Taifunboot läßt es sich so gewagt sein, wie es uns gefällt«, sagte Deminow. »Die Geschichte gehört uns. Mit der >Sowjetski Sojus< auf See kann ich dem Präsidenten ein Ultimatum stellen.« 109
»Und was willst du verlangen?« »Dass er zurücktritt und Walotin die Macht übergibt. Er wird dann Phase Zwei und Drei von Weißer Stern genehmi gen, und ich habe die absolute Kontrolle.« »Was ist, wenn Walotin davor zurückschreckt?«, fragte Malakow. »Die Aussicht auf die allerhöchste Macht im Staat wird ihn blenden. Wenn er zögert, kriegt er einen Warnschuß vor den Bug.« »Noch eine Attrappe?« fragte Malakow. Deminow schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ein Kriegsfeuer. Einen einzigen atomaren Sprengkopf.« Malakow blickte zufrieden drein. »Auf welches Ziel?« fragte er. »Tiflis, Georgien. Du erzählst deinen Offizieren, die Geor gier hätten einen bewaffneten Aufstand angezettelt, womit genau der Fall eingetreten sei, den die Operation Weißer Stern verhindern sollte.« »Atomare Erpressung«, sagte Malakow leise. »Die Rettung der Union.« Malakow blickte seinem Schwiegervater lange ins Gesicht und versuchte, in seinen ausdruckslosen Augen zu lesen. »Irgendwelche Bedenken, Wladimir?« fragte Deminow. Malakow zögerte nicht mit der Antwort. »Sicherlich, aber ich muss mir nur vor Augen führen, was passiert, wenn wir nicht handeln. Wenn ich die Rakete abfeuere, töte ich Hundert tausende von Menschen, aber wenn ich für die Regierung keine glaubwürdige Bedrohung darstelle, werden Millionen im Bürgerkrieg fallen.« »Der kann ohnehin ausbrechen«, sagte Deminow. »Sei's drum. Die Geschichte wird uns richten.« »Nein«, sagte Deminow. »Wir sind die Geschichte. Wir sind die Richter, wir beide allein, hier in diesem Raum, und natür lich deine Offiziere. Glaubst du, dass Sergow sich auf unsere 110
Seite schlägt?« »Zweifellos. Alexi haßt die Anhänger der Republik und der Gemeinschaft wahrscheinlich mehr als wir. Bleibt noch eine Frage offen. Wie verfahren wir mit Zenko?« »Ich fahre morgen früh nach Gremicha«, sagte Deminow. »Es wird ihm keine andere Wahl bleiben, als sich der Operation zu fügen. Einverstanden?« Malakow strahlte. Ihm wurde Erlaubnis erteilt, Atomwaf fen abzufeuern. Sein Weg zum Ruhm war deutlich markiert. Er ergriff die Hand seines Schwiegervaters und schüttelte sie kräftig. »Einverstanden.«
111
12. Kapitel Petja Ein paar Kilometer südlich vom Offizierskasino flüchtete sich der Rekrut zur See Petja Bulgakow in die Straßen von Archan gelsk. Er war allein, trug seine nietenbesetzte Lederjacke, ein schwarzes T-Shirt, seine italienische Sonnenbrille mit rötlich getönten Gläsern und das Wertvollste, was er zu bieten hatte: seine Petersburger Miene. Ich bin hip, sagte Petja zu sich selbst. Ich komme aus Sankt Petersburg, und ich bin voll drauf, und das ist meine weitläufige, zynische, Los-verpiß-dichJames-Dean-ich-bin-cool-ich-bin-aus-Sankt-Petersburg-Miene. Die wenigen Menschen auf den trostlosen Straßen würdig ten den zwanzigjährigen Matrosen kaum eines Blickes. Archangelsk, wie alle russischen Städte, bebte im Zwielicht der Revolution von einst. Die lange Reise von 1917 über Glasnost und Perestroika bis in die Unabhängigkeit hatte in eine Sackgasse geführt, zu Streiks, Inflation, Hunger und der schlimmen Aussicht auf Bürgerkrieg. Geschichte und Politik gegenüber gleichgültig, mehr inter essiert an Stil als an Substanz, verlangte es Petja nur nach einem Hauch schwarzen Afghan und danach, irgendeine kleine Katarina im Minikleid aufs Kreuz zu legen. Mit forschen Schritten den Weißmeer-Boulevard hinaufwandernd, suchte er nach einem Underground-Rockklub namens Placebo, in dem, wie er gehört hatte, die Getränke billig, die Musik laut und die Mädchen freundlich sein sollten. Der Klub zog jede Woche um, änderte seinen Namen und hatte nur zu später Stunde geöffnet. Er schlenderte die Prome nade entlang und war drauf und dran, die Suche aufzugeben. Er spürte förmlich, wie sich seine Leningrader Großstadt überheblichkeit in das verzweifelte Bibbern eines durchgefro renen, einsamen jungen Matrosen auflöste. Das eisverhüllte 112
Weiße Meer zu seiner Linken glühte leuchtend violett. Die Temperatur war auf wenige Grad über den Gefrierpunkt gestiegen, und die Eisdecke brach hier und da auf, ein Reißen und Krachen erfüllte die mitternächtliche Stille. Fünfzehn Kilometer entfernt, jenseits der Inseln im Hafen, erkannte er die Lichter der Werft von Sewerodwinsk. Noch zweieinhalb Jahre, bis sein Dienst am Vaterland zu Ende war und er sich das Haar wieder wachsen lassen konnte. Die Marine war schon ganz in Ordnung, gutes Essen, rechtschaffene Kameraden, nur die Offiziere, erst recht die politischen Offiziere, fand er zum Kotzen. Wir müssen den Kommunismus aufbauen! Wir müs sen die Union erhalten! Was für einen Haufen Scheiße die erzählen. Die Union gab es längst nicht mehr, die Partei war verboten, der Kommunismus hatte ausgedient, aber die Offi ziere redeten so wie früher. Von der höchsten Stelle einer Brücke über die Mündung der Dwina aus erblickte Petja in einer Straße eine unordentliche Menschenschlange. Die Ansammlung Langhaariger und Punks sah ganz nach dem aus, was er suchte. Er rückte die Son nenbrille zurecht, strich sich mit der Hand über das kurzge schorene Haar und verfluchte die Marine. In Sankt Petersburg hatte er schulterlanges Haar getragen, bis zum Tag seiner Ein berufung. Er hoffte bloß, den Mädchen würde nicht auffallen, was der Schlächter von Militärfrisör seinem Haar angetan hatte. »Steht ihr für die Placebo-Bar an?« »Ja, Bruder, aber sie heißt jetzt nicht mehr Placebo. Statt dessen No Name.« Petja reihte sich in die Schlange ein, die bis zur nächsten Ecke reichte und dann in eine Seitenstraße bog. Die kleine Rot blonde vor ihm war sicher schon achtzehn, trug tolle Lederkla motten und hatte vier mit Steinen besetzte Ringe im linken Ohr. »Wartest du schon lange?« fragte Petja. 113
»Ein paar Minuten.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Na, Brüderchen«, sagte sie und bot ihm eine Zigarette an, »von der Marine?« »Ist wohl nicht zu übersehen, was«, sagte Petja und errötete. Er nahm die Zigarette und zündete ein Streichholz an. »Ich bin Petja. Und wie heißt du?« »Melissa.« »Das ist kein russischer Name.« »Griechisch.« »Bist du aus Griechenland?« »Es gibt nicht viele Griechen in Archangelsk«, sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht. »Irgendwann will ich mal nach Griechenland fahren und nackt auf einer Insel leben.« »Ist das so üblich bei den Griechen?« »Ja.« »Muss ziemlich warm da sein. Nicht so wie hier.« »Wie heißt dein Schiff, kleiner Matrose?« »>Sowjetski Sojus<.« »Oho, ein U-Boot-Mann. Ein Tintenfischchen.« »Woher kennt so 'n Mädchen wie du die Namen und die dazugehörigen Schiffe?« »Was soll das heißen, so 'n Mädchen wie du? Ich arbeite auf der Werft in Sewerodwinsk, wenn du's genau wissen willst. Das heißt, bis wir angefangen haben zu streiken.« »Du machst bei dem Streik mit?« fragte Petja. »Klar. Alle machen mit«, sagte Melissa. »Alle Macht den Arbeitern.« »Hörst dich ziemlich politisch an. Für den Umbau?« »Ja, bin ich. Alle im No Name sind dafür.« »Ich interessiere mich mehr für Musik als für Politik«, sagte Petja. »Paßt doch zusammen. Das sollten sogar Marinejungs vom Alten Peter mitgekriegt haben. Ich mag deinen Dialekt.« Die Schlange setzte sich in Bewegung, zögernd zunächst, 114
dann schob sie sich schnell um die Ecke. Der Klub hatte geöff net, und die Leute verschwanden einer nach dem anderen in einem Loch im Gehsteig. »Wie bei Alice im Wunderland! Komm schon, Petja, mein kleiner Matrose, gib mir 'ne Cola-Rum aus.« Er hatte einen Volltreffer gelandet. Melissa nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu dem unterirdischen Eingang. Blaues Licht und Rauch quollen aus dem Kanalschacht hervor. Petja vernahm den eingängigen Rhythmus einer verkratzten JamesBrown-Platte. Billiger blauer Samt verdeckte die Wände des Vorraums. Beim Eintritt händigte eine unglaublich dicke Frau, weiß geschminkt und in einem wallenden Hauskleid, jedem Gast einen bedruckten Zettel aus. Abgelenkt von der dick aufgetra genen Bühnenschminke der Frau, nahm Petja den Zettel entge gen, ohne einen Blick darauf zu werfen. Plötzlich blinkte irgendwo in seinem Kopf ein Alarmlämpchen auf - weiße Schminke, weiße Schminke, das bedeutete doch irgendwas, aber er wußte nicht mehr, was. Hinter der Frau verlangte ein weißgeschminkter Mann in einem gestreiften Pullover halb sprechend, halb singend: »Zwei Rubel, zwei Rubel, zwei Rubel.« Instinktiv bezahlte Petja für sich und den Rotschopf. Melissa kniff ihn in den Unterarm, als Dank für seine Großzügigkeit. Sie folgten der Menschenschlange durch einen Vorhang in einen dunklen, feuchten Raum, voll mit geisterhaften Gestalten, viele weiß geschminkt. Aus einer Ecke wehten die Rauchschwaden von brennenden Räucherstäbchen herüber. James Brown röhrte seinen Song zu Tode, während hinter der Bühne bereits Gitarren gestimmt wurden. Petja stolperte im Dämmerlicht gegen einen Tisch, fand einen Stuhl, setzte sich hin und rieb sich das Schienbein. »Gib mir etwas Geld, und ich besorge uns Getränke«, sagte Melissa. 115
Petja wühlte in seiner Hosentasche, kramte einen zerknüll ten Geldschein hervor und reichte ihn dem Mädchen, das in der Menge untertauchte. Petjas Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und er las den Zettel, den man ihm an der Tür in die Hand gedrückt hatte. »Der Staat ist der Feind des Volkes!« stand da. »Die Partei ist der Feind des Volkes. Die Armee ist der Feind des Volkes. Unterstützt den Streik von Sewerodwinsk. Alle Macht dem Volk! Unterstützt die Veteranen aus Afghanistan gegen den kommunistischen Faschismus. Soldaten! Matrosen! Desertiert! Meutert! Verweigert den Gehorsam! Tötet Eure Offiziere! Revoltiert! Lang lebe Rock 'n' Roll! Ewige Freiheit!« Kopfschüttelnd zerknüllte Petja das hauchdünne Blatt Papier und ließ es auf den Boden fallen. Politik. Radikale Verrückte, ausgerechnet in Archangelsk. Plötzlich ergab auch die weiße Schminke wieder einen Sinn. Sie war das Symbol der anarchi stischen Kommune, der total Übergeschnappten. Die weiß Geschminkten müssen doch die Bullen anziehen wie Motten das Licht, überlegte Petja. Er spürte das Verlangen, auf die Tür loszurennen, ließ aber davon ab, als Melissa mit zwei klimpernden Gläsern zurückkam. »Kubanischer Rum und Pepsi-Cola«, sagte sie und ließ sich lächelnd neben ihm nieder. »Der All-Unions-Drink.« »Bist du Mitglied der anarchistischen Kommune?« fragte Petja. Melissas Lächeln blieb, doch ihre Augen wurden wachsam. »Warum fragst du?« Wie alle Russen verstand Petja sofort den ängstlichen und mißtrauischen Ausdruck in ihrem Gesicht. »Ich bin kein Infor mant«, sagte er, »Mein Blut ist rot, aber mein Herz ist weiß.« »Du bist beim Militär, kleiner Matrose.« »Stimmt. Für mich heißt es, ab in die Arbeitsbrigade, wenn ich hier erwischt werde«, entgegnete Petja. »Hast du Angst?« 116
»Ein bißchen.« »Immerhin bist du ehrlich. Das ist gut. Und irgendwie süß. Was hältst du von der anarchistischen Kommune?« »Ich weiß nicht viel über sie. Der ganze Kram passierte, als ich in der Marine war. Ich bin ein bißchen draußen.« »Ich bin kein Mitglied«, sagte Melissa. »Aber zwei Mitbe wohner von mir. Ich überlege noch, ob ich eintrete. Ich habe die Schnauze voll von diesem Land. Ich hab's satt, mich nur für einen Teller Suppe abrackern zu müssen. Hast du von der Meu terei der weiß Geschminkten in Poljarny gehört?« »Nein.« »Sechs Seeleute auf dem Flugzeugträger >Kiew< haben sich geweigert, an einer obligatorischen Versammlung zur politi schen Indoktrination teilzunehmen. Sie wurden wegen Meu terei angeklagt und kamen weiß geschminkt zum Prozeß vorm Militärgericht.« »Scheiße. Was ist mit ihnen passiert?« »Keiner weiß Bescheid. Ist eigentlich auch egal. Es werden doch immer mehr. Ihr beim Militär müßt jetzt alle selbst für euch entscheiden. Auf wessen Seite steht ihr? Seid ihr Sowjets? Seid ihr Russen? Oder einfach bloß Menschen, und fühlt euch verbunden mit dem Rest der Menschheit und unserem Plane ten? Die Typen von der >Kiew< haben ihre Wahl getroffen, und die waren bloß die ersten.« Ach du Scheiße, dachte Petja, ich soll bekehrt werden. Was soll's, muss wohl der Preis für Liebe sein. »Ich würde deine Mitbewohner gerne kennenlernen.« »Ich kann deine Gedanken lesen, Matrose«, sagte Melissa mit einem kessen Grinsen. »Trink erst mal was.« Begleitet von einem Trommelfeuer hob sich der Bühnenvor hang, und sogleich warf sich die Band mit voller Kraft in einen Rock-'n'-Roll-Wirbel. Einer der Gitarristen trat vors Mikrofon und kreischte: »Schlagt sie, schlagt sie, schlagt sie, wo ihr sie trefft!« Leiber schleuderten sich auf die Tanzfläche, trampelten 117
über Tische und Stühle, rempelten sich an und prallten wie Autoscooter wieder voneinander ab. »Was soll das denn sein? fragte Petja. »Ich kann dich nicht verstehen«, schrie Melissa. Ihre Augen funkelten. Sie beugte sich zu ihm hinüber und brüllte ihm ins Ohr. »Der Tanz heißt die Neue Revolution. Phantastisch. Los, tanzen wir.« Sie sprang auf und begann, sich wild im Kreis zu drehen, die Hände in die Luft, das Becken kreisend, die Beine nach vorne werfend, in Richtung Decke. Petja tanzte den Petersburger-Shuffle, schob die Füße hin und her und wirbelte die Arme wie Windmühlen in der Luft. Melissa knallte mit einer weiß geschminkten Frau zusammen. Beide fielen der Länge nach auf den Boden und lachten sich halb tot. Die Musiker der Band hüpften wie wahnsinnig auf der niedrigen Bühne herum, stießen immer wieder zusammen. Blaue Funken sprühten aus einem Verstärker hervor, und mit einer blauen elektrischen Stichflamme erstarb eine Gitarre. Der Gitarrist schlug mit dem Instrument auf den durchgebrannten Verstärker ein. Wie ein Kind beim Gerangel im Sandkasten, ließ sich Petja gehen und steigerte sich mit jedem Zusammenprall weiter in einen Rausch hinein. Melissa verlor er bald aus den Augen, dann schien er sich selbst zu verlieren. »Schlagt sie, schlagt sie, schlagt sie, wo ihr sie trefft...« Plötzlich fiel der Strom aus. Der Sänger kreischte noch einen Moment lang weiter; der Schlagzeuger stand auf seinem Hocker und schlug auf ein Becken ein, schaute sich um, verun sichert, ein Bein in der Luft, ehe er umkippte. Schreie waren zu hören, Buhrufe, dann herrschte Stille. Petja, der einen Blick von Melissa am anderen Ende des Raums erhaschte, wandte sich zum Eingang und sah Polizei uniformen. Ein Hauptmann der Miliz in Schaftstiefeln schaute von dem mit politischen Parolen bedruckten Zettel auf und blickte in die Runde. 118
»Sondert die weiß Geschminkten aus und bringt sie aufs Revier«, sagte er laut. »Die anderen auf Wache Vierzehn. Na los, macht schon, der ganze Abschaum in Reih und Glied auf stellen. Ausweise vorzeigen.« Der Hauptmann schritt die Schlange ab und überprüfte die Ausweise. Als die Reihe an Petja kam, sagte er: »Was haben wir denn hier?« »Rekrut zur See«, nuschelte Petja. Der Hauptmann musterte Petjas Marineausweis. »Hier steht, du bist auf der >Sowjetski Sojus<. Das ist doch das Schiff drüben in Sewerodwinsk, stimmt's?« »Ja.« »Ich habe gehört, Wadim Sorokin ist dem Schiff zugeteilt worden.« »Obermatrose Sorokin? Ja. Der ist mein Boß.« »Du willst mich doch wohl nicht belügen?« »Nein.« Der Polizist legte den Arm um Petjas Schulter und zog den Jungen aus der Schlange heraus. »Was hast du denn in einem anarchistischen Klub verlo ren?« »Ich hab' einfach was zum Vögeln gesucht«, sagte Petja. »Ich hatte keine Ahnung, was das hier ist.« »Quatsch nicht. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen, nicht bei dem Dialekt.« »Ich schwöre, Hauptmann, ich bin kein Politischer.« »Hinsetzen und Maul halten. Sind irgendwelche von deinen Kameraden hier?« »Ich habe keinen gesehen.« »In Ordnung. Ich rufe Sorokin an. Wenn er sich für dich verbürgt, können wir uns vielleicht einigen. Hast du Geld da bei?« »Nicht viel. Vielleicht fünfzig Rubel.« »'ne Menge für einen Matrosen. Vielleicht arbeitest du für 119
Sorokin. Setz dich gerade hin.« Der Hauptmann drehte sich um, mit dem Rücken zum Raum. »Sergeant, rufen Sie den Transportwagen. Schaffen Sie die Leute hier raus. Und jemand soll mir ein Telefon besorgen, das funktioniert.« An Bord der »Sowjetski Sojus« stieg Sorokin an Deck, um seine abendliche Laufrunde zu absolvieren. Die kurze Fahrt unter der Eisdecke hatte scharfe Kratzer im Rumpf des Bootes hinterlassen. Dellen und weiße Sprenkel verunzierten den gleichmäßigen grauen Anstrich. Die »Sowjetski Sojus« trug keine Nummer, keinen Namen, überhaupt keine Bezeichnung irgendwelcher Art. Oben lauerten zwei riesige Kräne bedrohlich über dem UBoot. Und über den Kränen ersetzte das Dach den Himmel. Sorokin vermißte die Sterne nicht sonderlich. Im Gegensatz zu Seeleuten auf Überwasserschiffen warf er selten einen Blick auf die Sternbilder. Was er vermißte, war der Lärm der zweiten Nachtschicht der Werft, der Klang von Metall, das Dröhnen der Lötlampen, die Rufe der Männer bei der Arbeit. Die arbeitenden Massen von Sewerodwinsk hatten die heilige Pflicht, den Kommunismus aufzubauen, aufgegeben und die Werft einfach lahmgelegt. Sorokin konnte es ihnen nicht verübeln. Gezwungen, im Zwei-Schichten-System zu arbeiten, ange sichts einer lähmenden Inflation und Preisanstieg, waren Tau sende nicht mehr zur Arbeit erschienen. Die Ruhe erinnerte ihn an einen Friedhof, den Friedhof des Kommunismus. Sorokin hielt sich selbst weder für einen Kommunisten noch einen Antikommunisten, eher für einen Unkommunisten. Er war Seemann der Arktis, ein Patriot des Eises. »Sorokin!« Politoffizier Sergow, Wachhabender im Kom mandoraum, brüllte durch die Luke. »Ja!« »Kennen Sie einen Mann namens Scharsarskiew von der 120
Miliz drüben in Archangelsk?« »Ja. Den kenne ich.« »Er verlangt nach Ihnen am Telefon.« Sorokin ließ sich durch die Luke in den Kommandoraum gleiten und nahm den Hörer auf. »Obermatrose Sorokin hier.« »Hallo, Wadim. Roman Scharsarskiew hier. Kannst du gleich mal herkommen?« »Es ist zwei Uhr morgens.« »Ich habe einen deiner Männer hier. Bulgakow. Ich glaube, es wäre besser, wenn du kommst und ihn abholst, bevor die Militärpolizei spitz kriegt, dass er hier ist.« »Du bist ein guter Mensch, Roman. Ich bin in einer Stunde da. Nenn mir die Adresse, und ich sehe zu, dass ich einen Wagen auftreiben kann.« Sorokin legte auf. »Ich muss nach Archangelsk und einen gestrauchelten Frischling befreien«, sagte er zu Sergow. Der Politoffizier schaute auf die Uhr und sagte: »Sie sind in zwei Stunden zurück. Nicht später.«
121
13. Kapitel Minski Ein leichter Schauer ging auf Malakow nieder, als er draußen vor dem Offizierskasino auf seinen Wagen wartete. Er fing ein paar Tropfen auf, leckte die Handfläche ab und schmeckte den Regen. Der Wagen fuhr vor, und er stieg hinten ein. Zwanzig Kilometer einer schlechten Straße trennten Archangelsk von der Werft. Der April war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm gewesen, und der Fahrtweg, seit Oktober gefroren, hatte sich in eine eklige, zerfurchte Schlammstrecke verwandelt. Zweimal blieb der Wagen stecken, aber Malakow überhörte das Fluchen des Fahrers. Die Ungeheuerlichkeit dessen, dem er zugestimmt hatte, war durch die unzähligen, für den Ablauf entscheidenden Ein zelheiten wieder weggewischt worden. Beim Borschtsch hat ten Malakow, Deminow und Oberst Ludinow im Privatzim mer des Offizierskasinos ihren Plan ausgearbeitet. Um die Geheimhaltung der Operation zu garantieren, sollte Oberst Ludinow in einer Stunde mit einem Zug Spetsnaz-Sondereli teeinheiten folgen, die Werft sichern und Besatzungsmitglieder Zwangsverpflichten, die zurückgeblieben waren, als die »So wjetski Sojus« auslief. 36 Stunden später würde Deminow dem Kreml ein Ultimatum stellen und der Regierung zwölf Stunden Zeit für eine Antwort gewähren. Im idealen Fall lief es auf einen unblutigen Putsch hinaus. Wenn sich dann, nach dem Rücktritt der Regierung, die einzelnen Republiken der Gemeinschaft erhoben, würde die Operation Weißer Stern mit ihrer ganzen Schlagkraft einsetzen. Sollten die Aufständischen sich gar erbeuteter Atomwaffen bemächtigen, konnte Mala kow jedes ihm passende Ziel treffen. Aber was war, wenn, trotz seiner gegenteiligen Beteuerun gen, Malakows Offiziere sich weigerten, eine Atomrakete zu 122
starten oder gar meuterten? Was war, wenn Deminow irgendwas passierte? Kein Plan war absolut sicher, aber eine große Sache erforderte auch ein großes Risiko. Wenn das Komplott fehlschlug, würde er an die Wand gestellt. Wenn es gelang, würde er dereinst seinen rechtmäßigen Platz im Pantheon so wjetischer Helden einnehmen. Als sich die Limousine der Werft näherte, tauchte plötzlich ein klappriger alter Lastwagen in der Einfahrt auf und donnerte die Straße nach Archangelsk runter. Malakow erhaschte einen flüchtigen Blick von Sorokin am Steuer des Wagens. »War das einer meiner Männer, der gerade das Tor passiert hat?« fragte er den Wachposten am Eingang. »Ja. Ich glaube schon.« »Wie viele Matrosen sind in die Stadt gegangen?« »Siebzig, achtzig vielleicht. Ungefähr ein Dutzend sind zurückgekommen.« »Betrunken?« »Zugelötet bis obenhin, Kapitän, nicht wiederzuerkennen.« »Gut«, sagte Malakow. »Trommeln Sie Ihre gesamte Mari neinfanterie hier am Tor zusammen und warten Sie, bis Oberst Ludinow von der GRU kommt. Er wird sich ausweisen und Ihnen weitere Befehle geben.« »Aye, aye.« Malakow stieg am Ende der Kaimauer aus. Kleine Wellen klatschten gegen die Betonrampe, und ein leichter Ölfilm schimmerte auf der Wasserfläche. Die »Sowjetski Sojus« lag an der Pier wie ein schlafender Riese. Der Zweite Steuermannsmaat Plescharski stand am Fuß der Fallreep, ein Sturmgewehr über den Schultern. »'n Abend, Kapitän.« »'ne ruhige Nacht gehabt, Obermatrose?« »Grabesruhe hier drin, Kapitän.« »Wo musste denn Sorokin so eilig hin?« »Ein Tintenfischchen von der Miliz abholen.« 123
»Ach so. In dem Fall, Plescharski, ernenne ich Sie zum stellvertretenden Steuermannsmaat der >Sowjetski Sojus<.« Plescharski nahm wie versteinert Haltung an und salutierte. »Danke, Kapitän.« »Steuermannsmaat, bereitmachen zum Ablegen in einer Stunde.« »In einer Stunde?« Malakow warf Plescharski einen Blick zu, der selbst Haie in ihrer rasenden Vorfreude auf Fütterung zum Stillstand gebracht hätte. »Ja, Kapitän. Aye, aye.« Im Kommandoraum begegnete Malakow Sergow; lauter Akten waren auf dem Navigationstisch ausgebreitet. »Alexi?« »Tag, Wladimir. Wie war das Essen?« »Das Kasino hat einen ausgezeichneten Koch. Komm in meine Kajüte. Es wird eine lange Nacht.« In seiner Kajüte legte Malakow Uniformjacke und Mütze ab, schloß eine alte Truhe aus Holz auf, ein Geschenk von Katarina, und holte eine Flasche Pfefferminzwodka hervor. »Ein Glas, Alexi?« »Nur wenn's groß ist.« »Recht hast du.« Malakow schenkte die blaßrosa Flüssigkeit in zwei hohe Gläser ein. »Worauf sollen wir anstoßen?« fragte er, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Auf den ehrenwerten Ste fan Zenko?« »Lieber trink ich Pferdepisse, bevor ich auf den anstoße«, schnaubte Sergow. Malakow hob das Glas. »Auf die Union«, sagte er. »Auf die Union«, wiederholte Sergow feierlich. »Wir sollten uns betrinken, Alexi«, sagte Malakow. »Nur du und ich, wie echte alte Seeleute, hier in der Kajüte des Kapitäns der >Sowjetski Sojus<.« 124
»Ich bin dabei«, sagte Sergow und langte gierig nach der Flasche. »Aber statt dessen fahren wir raus auf See.« »Was? Jetzt?« »Ja. Jetzt sofort. Wir verdrücken uns.« Malakow übergab Sergow den von Deminow und Walotin unterzeichneten Befehl. Auf die Ellbogen gestützt, las sich Ser gow das Schriftstück genau durch. »Der Verteidigungsrat hat also endlich ein Einsehen. Das hier hätte schon vor Jahren geschehen sollen.« »Dann stimmst du also zu, dass das ein rechtmäßiger Befehl ist?« »Da die Unterschrift von Zenko fehlt, ist er nicht recht mäßig, nein, aber gültig. Und ich werde ihn befolgen«, sagte Sergow und traf damit eine feine Unterscheidung. »So eine drastische Methode ist absolut notwendig, andernfalls ist die Revolution für immer verloren, der Kommunismus gestorben, die Union gestorben, unser Leben würde bedeutungslos und wertlos. Auf diese Weise können wir den Zug der Abspal tungen zum Stillstand bringen, bevor er so richtig ins Rollen kommt.« »Darauf laß uns trinken. Auf die >Sowjetski Sojus<, die So wjetunion.« Sie tranken ihre Gläser leer, und Malakow schloß die Flasche wieder ein. »Sind die Offiziere und Obermatrosen an Bord?« »Alle außer Sorokin.« »Gut. Sorokin soll sich sonstwohin scheren. Ohne ihn haben wir es leichter.« »Was ist mit der Mannschaft?« Malakow sah auf die Uhr. »Die örtliche Miliz hat Order, sie aufzumischen und sie im unklaren zu lassen, bis die Operation vorbei ist.« Die »Sowjetski Sojus« hatte nur vierzehn Stunden im Hafen 125
verbracht und war bereit, ohne Verzögerung abzulegen. Im UBoot waren 43 Männer, mehr als nötig, um die Wachen zu besetzen und das vollautomatische Schiff zu steuern, damit beschäftigt, Skalen einzustellen und Meßgeräte abzulesen. Malakow befahl Steuermannsmaat Plescharski, Kurs auf die Kandalakschabucht zu nehmen, die tiefste Stelle des Weißen Meeres. Als sich Plescharski am Computer zu schaffen machte, spazierte Rekrut zur See Typow in die Kommandozentrale und blieb neben dem Navigationstisch stehen. »Was zum Teufel machst du denn hier?« wollte Plescharski wissen. »Du hast hier auf dem Schiff nichts verloren.« Typow rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich hatte keine Lust, in die Stadt zu gehen, und da bin ich wieder zurückge kommen, um mir was zu essen zu holen. Ich glaube, dabei bin ich eingeschlafen. Wo ist der Genosse Boß?« »Hat sich den falschen Abend freigenommen, vermute ich mal«, antwortete Plescharski. »Warum brechen wir Hals über Kopf auf? Wo ist die Mann schaft?« »Klappe, Typow«, schnauzte Plescharski. »Wo du jetzt schon mal hier bist, steh uns wenigstens nicht im Weg.« »Warum hat der Kapitän unsere Befehle nicht ausge hängt?« »Manchmal macht er's eben, manchmal nicht.« »Gibt es eine Krise? Ist irgend etwas passiert? Ist Krieg?« »Du sollst deine dreckige Schnauze halten!« Die Stromversorgung wurde gekappt, Bug- und Heckleinen gelöst, die Luken verschlossen. Oberst Ludinow stand am Kai, umringt von schwarz uniformierten Spetsnaz-Kommandos. Sondereinheiten besetzten jetzt die Eingänge zum Werftgelände und nahmen jeden fest, der hereinkommen wollte. Der Kapitän eines kleinen Eisbrechers gab über Funk durch, er sei jetzt in Position. Auf der Brücke schob Malakow seine 126
Pelzmütze in die Stirn. »Gib mir Dampf, Junge«, befahl er. »Alle Maschinen, langsame Fahrt voraus.« Doppelschrauben wühlten das Wasser auf, und das riesige U-Boot bewegte sich langsam von der Stelle. Der Abstand zwischen Rumpfund Pier vergrößerte sich, und die »Sowjetski Sojus« fuhr aus dem überdachten Dock heraus. Im sanften Regen leuchtete unter Wolkenfetzen der Glorienschein von Archangelsk auf und machte die harten Kanten Rußlands weich. »Radar an Brücke. Eisbrecher voraus, Kapitän. Entfernung fünfhundert Meter.« Malakow schaute durch das Fernrohr auf die einen halben Meter dicke Eisdecke. Der Brecher rammte vorwärts und zer brach das Eis in gewaltige Schollen. Die unregelmäßige Ober fläche bewegte sich und wippte auf und ab. »Hecktanks fluten.« »Hecktanks fluten, aye.« Wasser strömte in die Hecktanks, und der Bug der »So wjetski Sojus« stieg auf, gerade hoch genug, um über den Rand der ersten Eisscholle zu schliddern. Dann zertrümmerten 30000 Tonnen Stahl die Scholle. Ein gewaltiges Beben durchlief den Rumpf vom Bug zum Heck. Die Abwärtsbewegung wurde gestoppt, und durch den Auftrieb kam der Bug wieder hoch und spaltete die Decke von unten. So bahnte sich die »Sowjetski Sojus« wie ein atomgetriebener Eisbrecher den Weg aus Archangelsk heraus. Der Rumpf war stabil, aber die in den Stahlmantel eingebau ten Hydrophone waren empfindliche Instrumente. Malakow wußte, dass jede Kollision mit dem Eis die überlebenswichtige Fähigkeit des Schiffes, unter Wasser zu horchen, beeinträchti gen konnte. Aber Zurückhaltung war jetzt nicht geboten. Die Beobachtungsposten klammerten sich mit Sicherheitsleinen an der Reling fest und bangten um ihr Leben. Drei Kilometer vor der Küste fiel der Boden plötzlich ab; 127
ausreichend Tiefe, um unter die Eisdecke zu tauchen. Malakow schickte die Beobachtungsposten nach unten, verschloß die Luke und stieg hinunter in die Kommandozentrale. »Kommando an Sonar. Schadensmeldung.« »Sonar hier. Wir haben zwei seitliche Richthydrophone angeschlagen, aber die Hauptkapsel ist unbeschädigt.« »Tauchoffizier. Schadensmeldung.« »Ein paar Kratzer an der Außenhülle, Kapitän.« »Tiefe unter Kiel?« »Siebenundzwanzig Meter.« »Bring sie runter.« Mit einem letzten Rumms des Turmes gegen das Eis tauchte die »Sowjetski Sojus« unter. In der Kommandozentrale herrschten Ruhe und Anspan nung. Malakow schaltete das Bordmikrofon ein. »Männer der >Sowjetski Sojus<, fing er an. »Wir sind mit einer geheimen Mission betraut worden, per Anweisung von Admiral Demi now, Kommandeur der Nordflotte und des Operationsgebietes Nordwest. Ein Aufstand antirussischer Kräfte steht kurz bevor. Nationalistische Rebellen haben in der Republik Georgien die Hauptstadt Tiflis eingenommen. Loyalen russischen Bürgern hat man befohlen, ihre Häuser zu räumen. Die Gemeinschaft wird diese destruktiven, separatistischen Tendenzen, die unser Land in den Ruin treiben, nicht länger dulden. In den kommenden achtundvierzig Stunden werden wir erfahren, ob wir zur Pflicht gerufen werden, die Gemeinschaft zu schützen oder nicht. Das ist alles.« »Verstehe ich nicht«, flüsterte Typow Plescharski zu. »Was für eine Pflicht?« Plescharski vermißte Sorokin sehr. Der Genosse Boß hatte immer auf alles eine Antwort und wußte, was zu tun war. »Das hier ist ein Taifunboot, Typow«, sagte er. »Unsere Pflicht ist es, Atomraketen abzuschießen.« Eine Stunde nach der Ausfahrt von Archangelsk ließ 128
Malakow die Offiziere im Lenin-Zimmer antreten. Als Leutnant Minski sich durch die schmale Tür schob, teilte Politoffizier Sergow gerade Teegläser aus. Malakow räusperte sich. »Wie Sie alle wissen, meine Her ren«, sagte er, »ist die Gemeinschaft in großer Gefahr. Als treue Offiziere ist es unsere Pflicht, jeden Angriff auf die Gemeinschaft, egal aus welcher Richtung er kommt, abzu wehren. Zu diesem Zweck hat der Kommandant der Nord flotte, Admiral Deminow, einen Plan ausgearbeitet, wie man einem Aufstand, wie wir ihn derzeit erleben, begegnet. Kapi tän Sergow, wenn Sie jetzt bitte die Unterlagen verteilen wür den.« Sergow reichte Kopien einer Seite mit dem Stempelaufdruck »Geheim« herum. Die Überschrift lautete: »Operation Weißer Stern«. »Lesen Sie sich das Dokument durch«, befahl Malakow, »unterschreiben Sie die Erklärung zur Geheimhaltung unten auf der Seite und geben Sie das Schriftstück Kapitän Sergow zurück.« Minski überflog die Absätze, die er als die stark kompri mierte Fassung einer wesentlich ausführlicheren Folge von Einsatzbefehlen erkannte. Er fühlte sich entmutigt durch das, was er las, aber er war nicht weiter überrascht. Nach dem Blatt Papier zu urteilen, war die Ausfahrt der »Sowjetski Sojus« ein Teil der Phase Eins der Operation Weißer Stern. Der junge Raketenoffizier war davon ausgegangen, dass die Operation Weißer Stern mit ihrer massiven Anwendung von Gewalt und der Stationierung von Streitkräften mehr als bloß ein Plan zur Unterdrückung eines Aufstands in einer fernen Republik sei. Die Rakete mit dem einfachen Sprengkopf in Silo Sechs sollte auf die Stadt Tiflis ausgerichtet werden. Die Hauptstadt von Georgien mit einer SS-N-20 bedrohen, das hieß für Minski, mit Kanonen auf Tauben schießen. Er setzte seine Unterschrift unter das Papier und reichte es 129
Sergow mit dem Kommentar zurück: »Es mangelt offenbar an einer Analyse der gegnerischen Kräfte.« »Stimmt«, sagte Sergow. »Weißer Stern ist ein Plan für den Eventualfall. Er geht davon aus, dass meuternde Armee- und Milizeinheiten unter den Einfluß von Republikanhängern geraten. Strategische Zentren und sogar Atomwaffen könnten auf diese Weise in die Hände der Aufständischen gelangen. Wir denken dabei nicht bloß an Straßenkrawalle, sondern an einen regelrechten Aufstand von seiten der Streitkräfte. Denn, um ehrlich zu sein, nicht alle unsere Einheiten sind so treu ergeben wie die Nordflotte.« »Ich verstehe«, sagte Minski. »Vielen Dank, Genosse Polit offizier.« Es folgte eine Diskussion über den Plan bis in die frühen Morgenstunden. Die Offiziere des Geschwaders »Graue Gei ster« respektierten Autorität und waren es gewohnt, Befehlen unwidersprochen Folge zu leisten. Niemand schien alarmiert oder weiter überrascht. Minski jedoch blieb stumm, sein Ver dacht unausgesprochen. Einige Ungereimtheiten quälten ihn. Was war, wenn die Georgier sich weigerten, ihre Waffen abzu legen? Was war, wenn die »Sowjetski Sojus« tatsächlich Order erhielt, Atomraketen auf die aufständische Republik abzufeu ern? Wer würde den Befehl dazu geben? Zenko bestimmt nicht, da war er sicher. Zenko und Deminow, dessen Unter schrift auf dem Schriftstück stand, konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. War das Ganze nur ein Machtkampf zwischen den beiden? Hatte Deminow die »Sowjetski Sojus« nur aus laufen lassen, um getarnt als Manöver eines Geheimplans, in Abwesenheit von Zenko die Kontrolle über die Boote der Taifunklasse an sich zu reißen? Auf diese Fragen hatte er keine Antwort. Minski wußte nur eins ganz sicher: Wenn der Befehl zum Abschuß kam, würde Malakow Tiflis in Schutt und Asche legen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber warum? Was war der Zweck einer solchen Ungeheuerlichkeit? 130
Je weiter die »Sowjetski Sojus« Richtung Nordwesten durch das Weiße Meer auf die Kandalakschabucht zufuhr, desto mehr graute Minski vor der Tragweite ihres Auftrags. Wie um alles in der Welt konnte er gestoppt werden?
131
14. Kapitel Scharsarskiew Sorokin zog die lederne Panzerkommandantenkappe über die Ohren und fuhr weiter auf der matschigen Straße nach Archan gelsk. Die Vorstädte rückten immer näher, und er versuchte, den Lastwagen um Schlaglöcher und herausgebrochene Betonsteine herum über eine schmale Brücke zu manövrieren. Zu seiner Linken grollte die schmelzende Eisdecke des Weißen Meeres wie ferner Kanonendonner. Zu seiner Rechten erstreckte sich ein Kiefernwald bis ins russische Kernland. Vor ihm leuchtete die Stadt blauweiß, wie ein gigantischer Reak tor, dessen Abwärme das frühlingshafte Tauwetter verursacht hatte. Sorokin war sonst ein ausgeglichener Mensch, aber diesmal fluchte er auf die Straße, den ramponierten alten Lastwagen, die Marine, die Lasterhöhle Archangelsk, und am meisten auf Petja Bulgakow, der sich von der Miliz hatte erwischen lassen. Scharsarskiew hatte ihm nicht gesagt, was Petja verbrochen hatte. Der Junge war erst zwanzig, aber er schien das zu besit zen, was bei der Marine als Grips galt. Sorokin glaubte, der Kleine hätte das Zeug zu einem richtigen U-Boot-Mann, wenn er nur lernte, sich nicht dauernd Ärger einzuhandeln. Er überquerte eine zweite Brücke über den Hauptarm der Dwina und kam in die Innenstadt. Zwölfstöckige Wohnhäuser säumten die Straßen. Blockhäuser, dachte Sorokin, vorfabri zierte Eisberge für die Massen. Die Menschen verbrachten allein zwanzig Stunden pro Woche mit Anstehen für Brot oder ein Paar Schuhe. Das muss man sich mal klarmachen! Der ein zige Ausweg war, zur See zu gehen. Er fand die Adresse, nach der er suchte, und stieg in den unterirdischen Nachtklub hinab. Die schwarzen Mahre hatten ganze Arbeit geleistet. Von der No-Name-Bar war nur noch der 132
schwebende Geruch von Räucherstäbchen und Haschisch übriggebliebcn. In einem Hinterzimmer saß ein gefügig gemachter und verängstigter Petja Bulgakow und trank heißen Tee mit Hauptmann Scharsarskiew. »Was hat er ausgefressen?« fragte Sorokin den Milizbeamten. »Das hier ist so einer von diesen kurzlebigen Klubs für die Bleichgesichter. Er meint, er hätte das nicht gewußt, als er reinkam. Ist er ein Politischer?« »Nein, bloß ein Neunmalkluger. Hier.« Sorokin blätterte fünfzig Rubel hin. »Danke, Wadim. Was macht das Leben in der Marine?« »Dasselbe wie zu deiner Zeit. Und wie steht's bei dir?« »Das übliche, bloß schlimmer«, sagte der Milizbeamte mit einem breiten Grinsen. »Der Streik hat viel vermasselt, aber ob Streik oder nicht, die Leute klauen und lügen und betreiben illegale Klubs. Da hat sich nichts verändert.« »Kenne ich zur Genüge.« Sorokin wandte sich Bulgakow zu. »Was hast du zu sagen, Arschloch?« »Entschuldigung, Boß.« »Entschuldigung, Boß. Entschuldigung, Boß. Da hast du noch mal Glück gehabt, Frischling, sonst säßest du jetzt ganz schön in der Scheiße, Junge. Los, gehen wir.« »Einen Augenblick, Wadim.« Scharsarskiew nahm Sorokin beiseite und sagte leise: »Gerade ist der Befehl gekommen, alle Besatzungsmitglieder der >Sowjetski Sojus< in Gewahrsam zu nehmen und am Betreten des Schiffes zu hindern.« »Wieso? Was ist los?« »Ich weiß auch nicht. Mein Melder sagte, der Befehl käme von der GRU-Einheit des Fluggeschwaders Archangelsk.« »Oh, Scheiße. Und, nimmst du uns in Gewahrsam?« Roman Scharsarskiew hatte zehn Jahre seines Lebens in der Marine verbracht, die letzten beiden auf der »Taifun«, zusam men mit Sorokin. Als Schiffskameraden hatten sie gemeinsam 133
getrunken, gepokert und wie Millionäre rumgehurt. »Einmal Frischling, immer Frischling«, sagte Sorokin. »Na gut«, sagte der Milizbeamte. »Ich habe euch nie gese hen. Verschwindet von hier, aber seid vorsichtig. Habt ihr eure zivilen Ausweise dabei?« »Nein. Selbst wenn, ich seh' ja doch aus wie aus einem Rekrutierungsplakat ausgeschnitten.« »Da hast du recht«, sagte Scharsarskiew und überlegte noch mal. »Ich bringe euch besser zurück zu eurem Schiff. Ihr kommt sonst nicht durch.« »Bestimmt?« »Ja. Fahren wir.« Der Milizbeamte schob die beiden nach draußen zu einen Polizeiwagen Marke Lada. »Was passiert denn jetzt, Genosse Boß«, fragte Bulgakow. »Eine kleine Spazierfahrt nach Hause«, entgegnete Sorokin, wobei er sich nach Bulgakow umdrehte, der auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. »Du hast mich fünfzig Rubel gekostet. Die schuldest du mir noch.« Der Regen hatte nachgelassen. Während der Fahrt nach Sewerodwinsk unterhielten sich Sorokin und Scharsarskiew über die alten Zeiten, und die neuen. Scharsarskiew hatte eine Familie gegründet und führte ein geregeltes Leben. »Nichts für mich«, sagte Sorokin. »Ich treibe mich lieber auf See rum.« »Du und Zenko, dieser alte Gauner«, meinte Scharsarskiew mit einem Lachen. »Er hat geheiratet«, sagte Sorokin. »Du machst Witze.« »Eine zwanzig Jahre jüngere Frau. Ärztin.« »Einigen wird das Glück in die Wiege gelegt«, sagte Schar sarskiew. Dann fragte er weiter: »Wie ist der Neue, Malakow? Ist der nicht jetzt dein Vorgesetzter?« Sorokin nickte. »Er ist vielleicht ein erstklassiger Seemann, 134
aber sonst ein ganz abgebrühter Scheißkerl. Ich glaube, der hat sich zu sehr in die Raketen auf unseren U-Booten verguckt.« »Ach, so einer ist das. Finger immer schießwütig am Abzug, was? Wie hat der sich denn an Zenko vorbeigemogelt?« »Er hat Deminows Tochter geheiratet. Beziehungen, Mann, das ist der Schlüssel zu einem Taifun-Kommando.« Als sie sich der Schiffswerft näherten, fuhren zwei Lastwa gen an ihnen vorbei, voll mit Kommandotruppen, in die ent gegengesetzte Richtung. »Spetsnaz!« rief Scharsarskiew überrascht. »Verdammt!« »Gefällt mir gar nicht«, sagte Sorokin und drehte sich nach hinten, um zu sehen, wie die Lastwagen in der Ferne ver schwanden. »Irgend etwas ist faul an der Sache. Gibt es noch einen anderen Zugang zur Werft?« »Ja«, sagte Scharsarskiew. »Ich zeige ihn euch.« »Kann mir mal jemand verraten, was hier eigentlich los ist?« quengelte Bulgakow vom Rücksitz. »Wir wissen es auch noch nicht«, entgegnete Sorokin. Die Straße führte in einem Bogen um die Werkhallen der Werft. Ein paar hundert Meter vom Haupttor entfernt und außer Sichtweite der Wachposten hielt Scharsarskiew den Wagen an und fragte Sorokin: »Willst du mal reinschleichen und nachsehen, ob die Luft rein ist?« »Laß mir zehn Minuten Zeit. Los Petja, komm schon, Klei ner. Halt dich an mich dran und gib keinen Mucks von dir.« Die beiden Männer schlüpften durch ein Loch im Zaun und schlichen sich über das im Dunkeln liegende Werftgelände, vorbei an Werkstätten und Stapeln riesiger Schiffsschrauben aus Messing. Als sie sich der Kaserne für die Soldaten näherten, nahmen Sorokins Ohren plötzlich die seltsame Stille wahr. Auf Landurlaub sollte man erwarten, dass die Frischlinge betrunken waren und Radau machten. Hinter einem Schuppen kauernd, legte er einen Finger an die Lippen und flüsterte Bulgakow zu: »Versteck dich hier und sei still.« 135
Sorokin ging um die Kaserne herum und lugte um die Ecke. Von hier aus konnte er durch das an den Enden offene, über dachte Dock bis zum Kai sehen, wo die »Sowjetski Sojus« ver täut gewesen war. Das Schiff war verschwunden. Unter den Spetsnaztruppen, die sich am Dock herumtrieben, erkannte Sorokin auch Oberst Ludinow von der Sicherheitsabteilung der Flotte. Einen Augenblick später holte er Bulgakow ab, und gemein sam kehrten sie zum Loch im Zaun zurück. Sie sahen, dass Scharsarskiew sich mit einem Spetsnaz-Offizier unterhielt. Als der Offizier wieder in seinen Lastwagen stieg, schob Sorokin seinen jungen Begleiter durch den Zaun in den Wagen der Miliz. »Was wollte der Kerl?« fragte Sorokin. »Ach, nichts Besonderes. Nur dass jeder Frischling, der auf taucht, zum Fluggeschwader Archangelsk gebracht werden soll. Er hat nicht gesagt, warum.« »Das kann ich dir sagen«, verkündete Sorokin. »Das Schiff ist weg, Mann, einfach verschwunden. Meine Vermutung ist, dass sie die Besatzung einsperren wollen, damit es keiner erfährt.« »Die Marine leistet sich immer wieder solche blöden Scherze«, sagte Scharsarskiew achzelzuckend. »Was regst du dich so auf.« »Fahr mich zum nächsten Fernsprecher«, sagte Sorokin und fragte dann: »Verfügt deine Abteilung über ein Flugzeug?« »Ein Flugzeug? Wozu denn das?« »Was kostet ein Flugschein nach Gremicha?« fragte Soro kin. »Das kann ich nicht machen. Du bist übergeschnappt. Das ist gesperrter Luftraum. Die schießen alles ab, was auch nur in die Nähe kommt.« »Wenn ich das mit der Flugleitung auf dem Stützpunkt abspreche, kannst du mir dann still und heimlich den Schein 136
besorgen?« »O Mann, du verlangst eine ganze Menge.« »Sieh mal, alter Freund. Erster Kapitän Wladimir Malakow hat sich gerade mit einem Taifunboot, gespickt mit ballisti schen Raketen, davongemacht. Kapierst du das? Auf dem gesamten Werftgelände wimmelt es von Spetsnazärschen. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt und was es bedeutet, aber eins weiß ich genau. Ich muss zurück nach Gremicha und Zenko Bescheid sagen.« Scharsarskiew holte einmal tief Luft und stieß sie dann wie der aus. »Also gut«, sagte er. »Wir können das Telefon auf meiner Leitstelle benutzen.« Scharsarskiew parkte den Wagen auf der Rückseite der Polizeiwache. Drinnen saßen drei Milizbeamte in feuchten Uniformen und schlammbeschmierten Schuhen, tranken Tee und rauchten Zigaretten. »He, Scharsarskiew, was hast du denn da mitgebracht?« »Frischlinge«, sagte Scharsarskiew. »Ist das nicht toll, wir erledigen die Drecksarbeit für die Marine. Ich bringe die bei den in mein Büro zum Verhör.« Scharsarskiew ignorierte das dreckige Gelächter und zeigte auf die Reihe von Telefonen auf seinem Schreibtisch. »Die grüne Leitung ist eine Direktverbindung zur Fernver mittlungsstelle in Archangelsk«, sagte er. »Sei vorsichtig, das ist eine offene Leitung.« Sorokin kramte ein Stück Papier aus seiner Hosentasche. Als er den Hörer aufnahm, meldete sich umgehend das Vermittlungsamt, und Sorokin las die lange Nummer vom Zettel ab. Wie durch ein Wunder hörte er schon nach dem zweiten Läuten: »Sicherheitsleitung.« »Geben Sie mir 75-43-22. Berechtigungsnummcr 2BC.« »Bitte warten.« Einen Moment lang hörte Sorokin nur statische Geräusche, dann mehrere Male ein Klicken, dann sagte eine Stimme: 137
»Riziow.« »Sorokin hier.« »Eh, Wadim. Wo steckst du?« »Archangelsk.« »Du Glückspilz.« »Hör mal, Boris, ich möchte nach Hause. Ich habe hier einen kranken Matrosen, einen Rekruten zur See.« »Na und, bring ihn in einem örtlichen Krankenhaus unter.« »Boris, ich möchte nach Hause.« Nach einer langen Pause hatte Riziow endlich begriffen und sagte: »Ich verstehe.« »Gut«, sagte Sorokin. »Ich habe meinerseits alles, was ich benötige, wenn du die Sache mit der Flugleitung abklärst.« »Na klar, wird gemacht.« »Ich gebe dir die Nummer durch.« Als Sorokin auflegte, sagte Scharsarskiew: »Jetzt laß mich dran.« Eine dreiviertel Stunde später überquerten Sorokin und Bulgakow das Rollfeld des Städtischen Flughafens Archangelsk und gingen auf eine zweimotorige Seagull zu, ein von der Armee ausrangiertes Flugboot. Die Maschine gehörte jetzt der örtlichen Miliz, war aber in den Farben der Küstenwache gestrichen. Der Pilot war ebenfalls ein ehemaliger Angehöriger der Marine. Wortlos strich Sorokin zweihundert Rubel von seinem Bündel und stopfte die Banknoten in die Brusttasche des Man nes. »Haben Sie den Code für die Durchflugerlaubnis?« wollte der Mann wissen. »Ja, habe ich.« »Wehe, wenn das nicht klappt. Sie müssen schon ein hohes Tier sein, um Durchflugerlaubnis bis Gremicha zu kriegen.« »Wir sind bloß zwei kleine Matrosen, die nach Hause wol len«, sagte Sorokin. 138
Mit aufheulenden Propellerturbinen rollte die Maschine auf die Startbahn. Sorokin blickte zurück, aber Scharsarskiew war schon nicht mehr zu sehen. »Du wirst doch nicht luftkrank, mein Kleiner?« »Ich weiß nicht. Ich bin noch nie geflogen.« Die Maschine hob ab. Weit im Osten schimmerte am Hori zont die Dämmerung, eine feine Linie, im Westen lag das Weiße Meer, so dunkel wie der Himmel über ihnen. Sorokin starrte hinunter aufs Eis und malte sich das bösartige Geschwür aus, das sich unter der Oberfläche verbarg. Malakow, dachte er, du altes Arschloch. Du hast mir mein Schiff geklaut. Nach nicht einmal einer Stunde erreichte die Maschine den Luftraum über Gremicha. Der Pilot schaltete den Funk ein, gab den Code für die Durchflugerlaubnis durch, den Schar sarskiew ihm genannt hatte, und erhielt Landeerlaubnis. Bulgakow drückte sich die Nase am Fenster platt und ver kündete aufgeregt, dass er die Hafenlichter bereits erkennen könne. Von einer Seite durch die dunkle Barentssee, von der anderen durch die noch dunklere Kolahalbinsel eingerahmt, leuchtete der Marinestützpunkt aus der allgemeinen Finsternis heraus. Sorokin lachte. »Sei froh, dass du kein Flakfeuer siehst, mein Kleiner.« Der Pilot drückte den Steuerknüppel nach vorn, und die Seagull setzte zum Landeanflug auf die Klippen von Gremicha an.
139
15. Kapitel
Ein Loch im Wasser
65 Kilometer nordöstlich von Gremicha schlich die »Reno«, auf der Suche nach einem Unterschlupf, knapp unter der Eis decke entlang. Der Kommandoraum war derart von Spannung erfüllt, dass Gunner glaubte, jeden Moment müßte Kondens wasser von den Schotts tropfen. »Finden wir nun einen Eis kiel?« fragte er Trout. »Oder wird uns der Iwan zuerst aufspü ren?« »Das dürfen wir nicht mal denken, Kemo Sabe«, antwortete Trout. »Wir sind tief in russischen Gewässern, tiefer geht's nicht.« Der VLF-Fernschreiber im Funkraum begann zu ticken. »Funk an Kontrollraum. Erhalten VLF-Meldung.« »In Ordnung, Funk. Ich komme sofort.« Er wandte sich an Trout. »Rufen Sie mich, wenn Sie einen Eiskiel sichten.« Gunner schloß sich im Codierraum ein und entschlüsselte die Meldung. AN DIE USS RENO: RUSSISCHE MARINE HAT TAI FUN INS WEISSE MEER VERLEGT. ERHÖHTE AKTI VITÄT IN POLJARNY UND MURMANSK. ZWEI SSN AKULAS AUSGELAUFEN HEUTE 0600 GMT. ERWAR TEN WEITERE VERLEGUNGEN. ERMÄCHTIGUNG EINFAHRT INS WEISSE MEER IN EIGENEM ERMES SEN. In eigenem Ermessen. Mit anderen Worten, Herr Stellvertre tender Kommandant der USS »Reno«, wenn noch ein Taifun aus Gremicha ins Weiße Meer ausläuft, hefte dich an seine Fer sen und nimm die Verfolgung auf. Das Weiße Meer. Die »Reno« auf einen Schiffahrtsweg nach Archangelsk bringen, das kam in etwa dem heimlichen Eindringen eines russischen U-Boots in den Puget-Sund gleich; 140
eine aggressivere Provokation konnte sich Gunner nicht vor stellen. Als Übung in gefährlicher Taktik stellte ihn die Verfol gung eines Taifuns ins Weiße Meer vor interessante Probleme. Der VLF- und ELF-Funksprechverkehr der U.S. Navy konnte nicht bis ins Weiße Meer vordringen. Wenn er mit der »Reno« einfuhr, war er ohne jede Verbindung mit der Außenwelt, es sei denn, er würde auftauchen. Er sprach zwar Russisch, aber mit ten im Eismeer konnte er sein Schiff schlecht als Fischerboot ausgeben. Und was würde geschehen, wenn man die »Reno« entdeckte? Zu diesem Zeitpunkt, da die Spannungen in der ehemaligen Sowjetunion und den Nachfolgestaaten noch latent waren, bedeutete ein Eindringen in fremde Gewässer ein Fiasko. Das wäre die »Pueblo«- und die Flugzeugkatastrophe KAL 007 in einem. Gunner ging wieder in den Kontrollraum zurück und reichte Trout die Nachricht, der das maschinengeschriebene Blatt Papier schnell überflog. »Allmächtiger«, sagte Trout. »Sieht so aus, als könnten wir noch tiefer rein.« »Sieht ganz so aus«, stimmte Gunner zu und setzte seinen Kopfhörer auf. Einen Augenblick später vernahm er: »Sonar an Kontrollraum. Doppelter Eiskiel voraus, Entfernung 900 Meter.« »Alle Maschinen stop«, befahl Gunner. Auf dem Sonar-Repeater erinnerte das Bild des doppelten Eiskiels an zwei Zinken einer Gabel, zwölf Meter auseinander und 25 Meter tief ins Meer herunterhängend. »Was meinen Sie, Gus?« »Da könnten wir uns tagelang verstecken«, sagte Trout. »Zwei Meter Eis über uns, und südliche Strömung von einem Viertel Knoten. Sieht gut aus, wenn Sie mich fragen.« Gunner nickte zustimmend. »Fünf Sekunden sehr langsame Fahrt voraus«, lautete sein Befehl. Die »Reno« kroch vorwärts, bis der Bug zwischen die bei den gezückten Eiszapfen unter Wasser stieß und das Boot 141
zum Stehen kam. »Triebwerk abschalten.« »Triebwerk abgeschaltet, aye.« »Reaktor auf zwanzig Prozent runterfahren.« Das Kommando wurde im Flüsterton an den Steuerraum weitergegeben. Chief Adams drückte die Regelstäbe tiefer in den Kern, was den Energieaustoß und den Lärm des Atomre aktors sogleich reduzierte. »Trimmtanks leerlaufen lassen«, sagte Gunner. »Schön langsam!« Trout drückte ein paar Knöpfe auf dem Tiefensteuerstand, und allmählich strömte Druckluft in alle Trimmtanks der »Reno« gleichzeitig. Das Boot stieg auf, bis der Turm sanft gegen die Unterseite der Eisdecke stieß. »Trimmtanks sichern«, sagte Trout »Sagen Sie allen Bescheid«, meinte Gunner. »Kann sein, dass wir ein paar Tage hier festsitzen. Keinen Lärm, nichts, gar nichts. Wir sind ein Loch im Wasser, und das wollen wir blei ben. Übernehmen Sie den Kontrollraum. Ich leg' mich lang.« Gunner hatte während der Fahrt kaum geschlafen. Ab und an hielt er mal ein Nickerchen, aber in seinen Träumen wurde er immer wieder durch tödliches, blaues Licht aufgeschreckt. Statt sich schlafen zu legen, setzte er sich an seinen winzigen Schreibtisch und studierte Karten und Tabellen. Er vertraute darauf, dass das Schallortungsgerät erst noch erfunden werden musste, das die »Reno«, mucksmäuschenstill versteckt zwi schen zwei Eiskielen, aufspüren konnte. Trotzdem war Gunner in Schweiß gebadet. Er war ein Spion, und sein U-Boot ein Spionageschiff. Im Krieg, ob heiß ob kalt, wurde mit Spionen kurzer Prozeß gemacht. Die »Reno« kauerte still 65 Kilometer vor der Küste der Kolahalbinsel, dem Daumen der skandinavischen Hand. Die Halbinsel von der Größe West Virginias, mit rauher Landschaft und niedrigen Bergzügen, gefrorenen Seen, lachsreichen 142
Flüssen und Permafrost, erstreckte sich von der russischen Grenze mit Finnland und Norwegen fast 500 Kilometer südöstlich bis zum Weißen Meer. Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Nordflotte, mit Hauptsitz in Poljarny, nicht weit von Murmansk, zu einer Streitmacht von dreihundert Schiffen ausgebaut worden, davon über hundert Atom-U-Boote. Zum Schutz der Flotte wurde die Kolahalbinsel hoch aufgerüstet und galt Ende der achtziger Jahre als die am stärksten militärisch durchsetzte Region der ehemaligen Sowjetunion. Hunderttausende rein russischer Truppen, viele aus ehemaligen Stützpunkten in befreundeten Warschauer-Pakt-Staaten hierher verlegt, verdrängten die ursprünglichen Bewohner, die nomadischen Lappen mit ihren Renen. Südlich und östlich von Murmansk fächerartig verstreut, wachte ein Komplex aus Luftbasen, Marinehäfen, Armeestützpunkten, Raketenbatterien, Radarstationen und Nachrichtennetzen über die verwundbare nördliche Flanke. Entscheidend waren die Stützpunkte der Raketen-U-Boote, sie bildeten den Kern der strategischen Verteidigung des früheren sowjetischen Imperiums. 320 Kilometer südöstlich von Murmansk lag das Schmuckstück dieses Komplexes, die Basis der Taifun-U-Boote, Gremicha. Milliarden Rubel, Millionen Arbeitsstunden und eine gesamte Flotte waren ein zig und allein zu dem Zweck investiert worden, amerikanische U-Boote daran zu hindern, was Gunner gerade gelungen war. Die »Reno« lag mitten in der verbotenen Zone auf Lauer. Jede falsche Berechnung, jede Fehleinschätzung der Lage konnte die Versenkung des Schiffes und den Tod von 110 Männern zur Folge haben. Über den Schreibtisch gebeugt, untersuchte Gunner Satelli tenaufnahmen des Marinestützpunktes Gremicha, einem Wirr warr von Flachbauten, Radarantennen, Flugabwehrraketen batterien, einem Rollfeld mit verstärkten Flugzeughallen für UJagd-Hubschrauber, einem gigantischen Komplex für 143
Funksprechübermittlung - nur keine U-Boote. Die hochgerü steten Taifunboote lagen unter der Erde, versteckt in einem in den Granitfelsen gesprengten Hohlraum. Ohne dafür den kleinen Hafen von Gremicha verlassen zu müssen, war ein Taifunboot in der Lage, weitreichende Rake ten abzufeuern, die Nordamerika auslöschen konnten. Und ohne sich weit von der Heimatbasis zu entfernen, fuhren die Taifunboote unter der Eisdecke an der Küste entlang, unsicht bar für die U-Jagd-Flugzeuge der NATO, die von Norwegen aus operierten. Meist eskortierten zwei Angrifts-U-Boote der Akula-Klasse ein Taifunboot auf Patrouillenfahrt und bildeten somit einen Kampfverbancl von immenser Feuerkraft. Die Tai tunboote machten sich die Eisdecke und den natürlichen Schutz des Weißen Meeres zunutze, so wie amerikanische TridentRaketen-U-Boote die riesigen Weiten des Atlantischen und Pazifischen Ozeans nutzten, um ihre Bewegungen abzu schirmen. Unter Eis, im leicht zu sichernden Weißen Meer, waren Taifunboote so gut wie unverwundbar, außer durch einen massiven atomaren Angriff oder einen getarnten lautlo sen U-Jäger, unter dem Kommando eines heimtückischen Piraten. Als Kalifornier musste sich Gunner gehörig anstrengen, um zu begreifen, was die Arktis für die Russen bedeutete. In ihren Augen war der eisige Norden weder fern abgelegen noch geheimnisvoll. Es war ihr eigener Hinterhof, bildete die Quelle grenzenloser Reichtümer, aber auch jahrhundertelanger Enttäuschungen. Ironischerweise war die U.S. Navy an dem Ereignis schuld, das den Russen den Anstoß für die Eroberung des Arktischen Ozeans gegeben hatte. Als die »Nautilus« zum erstenmal den Nordpol unterquerte, begriff die damalige sowjetische Admiralität sehr schnell, dass atomgetriebene UBoote der Schlüssel für die Schiffahrt in der Arktis waren. Aber erst die Weitsicht und Entschlossenheit eines einzelnen führten dazu, dass ein Geschwader von gigantischen Eis-U 144
Booten aufgeboten wurde. Die U-Boote der Taifun-Klasse waren die Erfindung des legendären Stationschefs des Marinestützpunktes Gremicha, Vizeadmiral Stefan Zenko. Gunner hatte die Akte über Zenko so oft gelesen, dass er sie in- und auswendig kannte. Nach einer Laufbahn als glänzender Schüler der Marineakademie Frunze war Zenko 1962 im Alter von zwanzig Jahren in den U-Boot-Dienst der sowjetischen Marine getreten. Zwanzig Jahre später lief die »Taifun« in Sewerodwinsk vom Stapel. Im Lauf der nächsten Jahre wurden fünf weitere Riesen-U-Boote gebaut, und 1989 wurde der Marinestützpunkt Gremicha fertiggestellt. Gunner ließ Zenkos Werdegang Revue passieren. Er suchte nach dem Schlüssel zu dieser erstaunlichen Leistung. Was für ein Mensch war Stefan Zenko? Gunner wußte, dass er unter setzt war, eher rundlich, schlechte Zähne hatte und literweise französischen Branntwein trank. 1978 führte er das Kom mando über ein Raketen-U-Boot der Yankee-Klasse, das einen Maschinenschaden erlitt und fünfzig Kilometer vor der ameri kanischen U-Boot-Basis in Charleston, South Carolina, auf tauchte. Die U.S. Navy hatte nicht einmal gewußt, dass es sich dort befand, bis es plötzlich wie ein Seeungeheuer aus dem Meer hervorkam. Als sein Boot durch den Atlantik geschleppt wurde, sendete Zenko ununterbrochen amerikanische Popmu sik, die er während seines Versteckspiels vor der Küste von Carolina aufgenommen hatte. Anscheinend verfügte er über eine einzigartige Mischung aus Humor und Unverfrorenheit, die Gunner bewunderte. Wenn der Kalte Krieg wirklich zu Ende ging, wenn nicht auch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wie die ehemalige Sowjetunion in tödliche Agonie ver fiel, wenn sich die Welt einen Funken gesunden Menschenver stand und Gerechtigkeit bewahrte, dann würde Gunner seinem Gegenpart Zenko gern mal einen Drink spendieren, vielleicht sogar mehr als nur einen, und den ganzen Abend und die ganze Nacht über U-Boote und Eis und ihre gemeinsamen Träume 145
plaudern. Im Augenblick jedoch drängte sich, wie immer, die Wirklichkeit vor den frommen Wunsch. Die neuesten Satellitenfotos von Gremicha zeigten einen 32 Kilometer breiten Streifen offenen Wassers zwischen der Küstenlinie und der Randeiszone. Sollte tatsächlich ein Taifunboot von Gremicha aus in See stechen und nordwärts in die Barentssee abtauchen, hatte Gunner die einmalige Gelegenheit, die Verfolgung aufzunehmen. Wenn das Boot jedoch Richtung Süden fuhr, durch die Gorlostraße ins Weiße Meer, wie sollte die »Reno« sich dann an seine Fersen heften? Bei Routineeinsätzen fuhr den Booten der Taifunklasse immer ein Eisbrecher durch die Straße voraus. Eine Verfolgung hieße, das Risiko eingehen, mit gefährlichen Eisschollen zusammenzusto ßen. Dazu kam, dass die gegnerischen Sonarfallen in der seich ten, engen Fahrrinne bestimmt ihre Wirkung zeigen würden. Die »Reno« war ein leises Boot, aber ob sie leise genug sein würde, blieb fraglich. Geschicklichkeit würde Gunner bis zu einem bestimmten Punkt bringen. Darüber hinaus müßte er sich wie ein Dieb bewegen und auf sein Glück bauen. Hatte er die Straße erst einmal passiert, dachte er, konnte er einem Tai funboot ohne weiteres bis ins Weiße Meer folgen, aber in den kommenden dreißig Tagen würde ein Großteil der Eisdecke schmelzen, und U-Jagd-Fregatten würden zu Routinepatrouil len ausschwärmen. Was sollte er machen, wenn die Russen die »Reno« in ihren Gewässern aufspürten? Er konnte sich schlecht den Weg freischießen. Er müßte auftauchen und sagen, »gut gemacht« - ein Scheißschlußpunkt für seine Karriere. Wollte das die Navy vielleicht? War er bloß ein Spion und auf Kamikazemission geschickt worden, um die Russen zu provozieren und den Kalten Krieg zu verlängern? Er beherrschte sein Schiff, er war ein guter Offizier, aber im großen Welttheater auch nicht mehr als der letzte Rekrut. Gunner hatte keinen Grund zur Annahme, dass die riesigen 146
Taifunboote und ihre Raketengeschosse die Vereinigten Staaten bedrohten. Sie waren einfach da, wie der Mount Everest, wie der Mond, wie Amerikas Trident-Raketen. Er war fest davon überzeugt, dass die Russen gar nicht mehr den politischen Willen hatten, sie gegen den Westen einzusetzen. Der letzte Akt des Kalten Krieges zeichnete sich genau wie die vorhergegangenen ab, ein Kräftemessen atomarer Riesen, die sich nur in Posen ergingen. Er streckte sich auf seiner Koje aus, wälzte sich hin und her, versuchte zu schlafen, aber wieder plagten ihn die blauen Lich ter. Wie eine Maschine, die nicht ausgeschaltet werden konnte, spielte er im Geist ein Szenario nach dem anderen durch. Die Telefonlampe leuchtete auf. Gunner befreite sich mit einem Kopfschütteln von den wirren Gedanken und nahm den Hörer ab. »Gunner.« »Trout hier, Skipper. Sonar meldet Kontakt unter Wasser.« »In welcher Entfernung?« »Vermutlich fünfzig Kilometer, Peilung zwei sechs neun, Geschwindigkeit sechs Knoten, Tiefe sechzig Meter, Kurs eins zwei sechs.« »Identifikation?« »Liegt noch nicht vor, jedenfalls ist es kein Taifunboot.« Gunner nahm sich eine Zigarette, »Melden Sie dem Sonar raum, ich komme sofort runter«, sagte er. »Geben Sie Morri son Bescheid, und befehlen Sie absolute Stille im Boot. Ich will keinen Atemzug hören.« In drei Minuten war Gunner im Sonarraum vor den Bild schirmen. Chief Morrison stand direkt hinter ihm und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Was sagen Sie dazu, Chief?« »Ich bin gerade erst gekommen, Skipper. Ich muss ihn mir erst mal anhören.« Morrison setzte sich den Kopfhörer auf und starrte auf den 147
Schirm. »Okay«, sagte er, »ein Eisbrecher, der Richtung Süden fährt, auf die Gorlostraße zu, mit einem Geleitzug von drei Schiffen.« Er drückte ein paar Tasten an seinem Terminal und filterte die Schiffsgeräusche an der Wasseroberfläche raus. »Und dann gibt's da noch ein U-Boot auf Schleichfahrt, aber ich kann es deutlich hören. Es ist leise, aber nicht so leise. Sehen Sie, da ist es auf dem Schirm, eine gleichmäßige Linie.« »Der Computer arbeitet noch an der Kennung«, sagte Ste wart. »Akula-Klasse, Skipper, wahrscheinlich die >Gorki< oder die >Odessa<.« Stewarts Bildschirm füllte sich mit Daten über die beiden russischen Angriffs-U-Boote »Gorki« und »Odessa«, Baube schreibung, Vorgeschichte, Liste der gemeldeten Kontakte, Position in der Schlachtordnung und die jeweiligen Komman danten. »Akula bedeutet Hai«, sagte Morrison, »und genau damit haben wir es hier zu tun, Skipper, ein U-Jagd-Unterseeboot, ein Hunter-Killer wie wir.« »Und worauf macht er Jagd, Chief?« »Weiß nicht. Wir sind ein Loch im Wasser. Ich glaube nicht, dass er hinter uns her ist.« »Bleiben Sie dran, Chief. Ich komme zurück.« Gunner eilte in den Kontrollraum, entlastete Trout von der Überwachung des Steuers, und gemeinsam schauten sie auf den Sonar-Repeater. Die Akula blieb in der vom Eis gebeutel ten südlichen Schiffsroute von Murmansk untergetaucht, während sie die offene Reede von Gremicha ansteuerte. »Ist sie Teil der Taifun-Eskorte?« fragte Trout. »Oder hält sie Ausschau nach uns?« Gunner schüttelte den Kopf. »Der weiß nicht, wo wir sind.« »Sind Sie sicher, dass er uns nicht entdeckt hat?« »Ja«, sagte Gunner. »Wenn er uns entdeckt hätte, wäre er volles Rohr auf uns zugekommen. Ich glaube vielmehr, der macht genau dasselbe wie wir, vor Gremicha liegen und auf ein 148
Taifunboot warten. Ich glaube, wir sind in einen Aufmarsch von Taifunbooten geraten.« »Sonar an Kontrollraum. Wir haben einen zweiten Kon takt.« »Damit wäre die Sache klar«, rief Gunner aus. »Morrison, haben Sie den ersten Kontakt identifiziert?« »Ja, Sir. Positive Identifizierung, Akula-Klasse, die >Gorki<.« »Die Grauen Geister von Murmansk«, murmelte Gunner. »Siebtes Geschwader, regulärer Auftrag: Begleitschutz für Tai funboote.« Zwei Stunden lang verfolgten die Männer gespannt die Manöver der beiden russischen U-Boote. Die »Gorki« schob sich langsam heran und kam schließlich zwanzig Kilometer vor dem Hafen von Gremicha zum Stehen. Das zweite U-Boot, ebenfalls eine Akula, die »Minsk«, vom Siebten Geschwader, glitt zwischen der »Reno« und Gremicha hindurch und setzte seine Fahrt Richtung Osten fort, in die Zugänge zum Weißen Meer. Fünfzig Kilometer von der »Reno« entfernt schaltete sie die Maschinen ab und kam zur Ruhe. »Sonar an Kontrollraum. Wir haben die >Minsk< verlo ren.« »Ihr kriegt sie schon wieder rein«, meinte Gunner. »Warten wir ab. Gus, an die Besatzung weitersagen: Wir haben zwei kleine Iwans in der Nähe, die auf den großen Iwan warten. Ich will keinen Ton hören.«
149
16. Kapitel Margarita Stefan Zenko saß in einem alten Baumwollmantel in der Küche seiner bescheidenen Wohnung in Gremicha. An Schlaf war nicht zu denken, aus Angst vor schlechten Träumen. Es war halb fünf Uhr morgens. Die ganze Nacht über hatte er Rake tenflugbahnen berechnet, Strömungen und Meerwasserdichte aufgezeichnet, sich stundenlang mit Schreibarbeit beschäftigt. In wenigen Stunden sollte er planmäßig mit seinem Schiff, der »Taifun«, auf Patrouillenfahrt ins Weiße Meer auslaufen. Trotz Raketentests und der unsinnigen Ausstrahlung im Fernsehen blieb die Hauptmission der Flotte weiterhin strategische Abschreckung. Er rechnete mit einem ruhigen Einsatz. Seit über einem Monat waren in der Barentssee keine NATO-UBoote mehr gesichtet worden, aber Zenko wußte auch, dass die leisen amerikanischen U-Boote der Los-Angeles-Klasse in der Lage waren, sich ungestraft an den Sonarschranken vor beizuschleichcn. Während er sonst in seiner militärischen Laufbahn immer Gefallen daran gefunden hatte, Räuber und Gendarm mit der U.S.Navy zu spielen, konnte er heute mor gen nicht behaupten, dass er sich auf den dreiwöchigen Einsatz freute. Die politische Instabilität in Moskau schien von Stunde zu Stunde zuzunehmen, und in drei Wochen konnte auch die Nachfolgeorganisation der Sowjetunion, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, von der politischen Bühne verschwun den sein. Er lauschte dem schwachen Stöhnen eines Nebelhorns über Gremicha. In seinen Ohren klang die tiefe Baßnote zur War nung herannahender Schiffe wie die Stimme der Rodina, des Vaterlandes, die um ihre verlorenen Kinder trauert. Außer dem Nebelhorn konnte er ein schwaches, unregelmäßiges, stakka toartiges Krachen ausmachen, das Geräusch entfernter Eis 150
schollen, die in der trägen Strömung zusammenstießen. Lauter und eindringlicher dagegen war der lärmende Lastwagen, der über die gepflasterte Straße polterte. Aus dem Zimmer nebenan hörte er die weichen, gurrenden Schlaflaute seiner Frau. Ach, Margarita, vielleicht träumt sie von Sankt Petersburg im Frühling. Zenko widerstand dem Drang, sie aufzuwecken und ihr von seinen Ängsten und Alpträumen zu erzählen. Eine namenlose Furcht nagte an seiner Seele. Er schloß die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Plötzlich sah er etwas Orangefarbenes aufblitzen, und sofort packte ihn der Schrecken. Doch keine Druckwelle legte seine Wohnung in Asche, statt dessen sickerte bloß sanftes orangefarbenes Licht von den taktgesteuerten Quecksilberdampflampen durchs Fenster. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, lachte über sich selbst und strich sich über die ansehnliche Wampe. Zehn Jahre lang hatte er sich krank gemacht vor Sorge wegen eines amerikani schen Angriffs auf den Marinestützpunkt Gremicha. In einem Konflikt wäre Gremicha das erste Ziel gewesen. Ein Schuß, ein Aufleuchten, ein Knall, Staub und Asche. Diese Angst hatte sich nie bestätigt, und er war sicher, sie würde sich auch in Zukunft nicht bestätigen. Warum dann dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend? Was hatte er zu befürchten? Er reckte sich und ging auf die Schlafzimmertür zu, in der er einen Moment stehenblieb und seine schlafende Frau anschaute. Margarita erinnerte ihn in gewisser Weise an ein Gemälde des alten Petrograd. Sie ging schnell, redete schnell, hatte zu allem und jedem was zu sagen und sprudelte über vor Einfällen. Sie war eigens aus Sankt Petersburg hergekommen, mit einem Bouquet köstlicher Düfte, Geräusche, einer Flasche guten Cognac und erotischen Absichten. Er bewunderte ihre Schönheit. Mit vierunddreißig hatte sie noch immer einen strammen Körper, feste Brüste, eine modische Lockenfrisur, ein schnelles Lachen und mongolische Augen, die wie Eiszap 151
fen glitzerten. Sie war ausgebildete Chirugin am Marinehospi tal in Sankt Petersburg und flog an den Wochenenden nach Gremicha. Jedesmal brachte sie Leckerbissen und eine will kommene Aufheiterung mit in den freudlosen Ort. Zenko fragte sich oft, wie er es geschafft hatte, dieser wunderbaren Frau, zwanzig Jahre jünger als er, den Hof zu machen und sie für sich zu gewinnen. Sein Äußeres konnte es ihr bestimmt nicht angetan haben. Er ging ins Wohnzimmer und warf einen Blick durch das doppelt verglaste Fenster. Im Hof unten strahlte ein Scheinwerfer die Marineflagge an, die Tag und Nacht vor dem Gebäude wehte. An diesem trüben Morgen fiel der aufsteigende Lichtstrahl auf ein Fahnentuch, das sich um den Mast gewickelt hatte, so dass Zenko nur den roten Stern auf weißem Grund über einem breiten blauen Band erkennen konnte. Hammer und Sichel waren ganz verschwunden. Wie er es vierzig ehrenvolle Jahre lang getan hatte, warf er auch jetzt die Hand zu einem feierlichen Salut an die Stirn. Hinter dem Fahnenmast lag die schwarze Barentssee, das Eis. Gefrorene Standbilder wirbelten in seinem Kopf herum. Wie die Eskimos kannte er zahllose Begriffe für Eis: Grundeis, Matscheis, Treibeis, schweres Brucheis, leichtes Brucheis, Neueis, trübes Eis, Schmiereis, Neupresseisrücken, Restpreß eisrücken, Höckereis, Klumpeneis und Kieleis. Als Kadett träumte er davon, wie Amerikas berühmte U-Boote, die unter dem ewigen Eis hindurchfuhren, die »Nautilus«, »Skate« und »Seadragon«, im blauen Dunst der Mitternachtssonne mit der »Leninskii Komsomol« der sowjetischen Marine zusammen stießen. Seit seiner Kindheit fürchtete er sich vor der Kälte, vor dem Schreckensbild eines Todes im Eis, die Lungen angefüllt mit messerscharfer Luft, aber er hatte die Angst vor dem Eis besiegt, indem er die Taifune baute. Jetzt hatten ihn schlim mere Ängste gepackt, gräßliche Vorahnungen, Schreckge spenste, die er nicht einmal benennen konnte. »Guten Morgen, Genosse Matrose.« 152
Er spürte, wie sich warme Arme um seinen Bauch legten und seinen Träumen ein Ende setzten. »Guten Morgen, Genossin Gemahlin.« »Hast du schlafen können. Stefan?« »Nicht viel.« Er drehte sich zu ihr um und küßte sie auf die Wange. Frisch geduscht stand sie unter dem Frotteemantel triefend und nackt vor ihm. Von seinen Gedanken ganz gefangengenommen. hatte er das Rauschen des Duschwassers gar nicht gehört. »Musst du schon wieder aufbrechen?« fragte Margarita. »Ja, in Kürze. Wie fühlst du dich?« »Besser, als mir zusteht.« Sie ging rüber zu einer eingebauten Kochnische, klapperte an seinem alten Samowar herum und kochte Tee. Er setzte sich an den kleinen Tisch, das Kinn auf einen Arm gestützt. »Es war ein schönes Wochenende, Stefan. Wir haben reich lich gegessen und reichlich getrunken und uns reichlich geliebt. Aber wir haben kaum miteinander geredet.« Er legte seine Hände um ihr Gesicht und sagte: »Dann rede.« »Will Deminow dir das Kommando entziehen?«, fragte sie. Zenkos weiche, rundliche Mine verfinsterte sich. Er war verärgert. »Was soll die Frage, Margarita?« »Das fragen sich derzeit alle in der Admiralität, Stefan. Ich will nur wissen, was ich tun soll.« »Was du tun sollst, meine liebe Frau, verrät dir dein Gewis sen.« »Stefan, ich meine es ernst. Häßliche Gerüchte machen die Runde.« Auf die Ellbogen gestützt, sagte er: »Rußland nährt sich seit Jahren von Gerüchten. Ohne Gerüchte würden wir ersticken.« »Aber in Sankt Petersburg geht das Gerücht, Deminow wollte dich ablösen«, sagte Margarita und setzte sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch. 153
»Das wird also gemunkelt?« »Ja. Weil du dich geweigert hast, seinen dreckigen kleinen Aufruf zu unterzeichnen, geht man davon aus, dass du für die Unabhängigkeit der Republiken bist, und das macht Deminow rasend.« »Der Gedanke an Iwan Iwanowitsch Deminow raubt mir keine Minute Schlaf.« »Unsinn«, erregte sich Margarita. »Du siehst dir die >So wjetski Sojus< in >Vremya< an und brütest anschließend die ganze Nacht vor dich hin. Deminow ist ein Nazi, der sich den Roten Stern angeheftet hat. Er propagiert in aller Offenheit eine Militärregierung. Er hat das Kommando über Tausende atomare Sprengköpfe.« »Meinst du vielleicht, er würde sie auf Moskau werfen?« fragte Zenko mit einem spöttischen Lachen. »Das würde wenigstens unsere Probleme mit der Bürokratie lösen.« Entnervt gestand Margarita: »Stefan, ich liebe dich, aber du bist ein umögliches Arschloch. Deminow ist ein mächtiger Mann, und er wartet nur auf den richtigen Moment, um die Kontrolle über deine Flotte an sich zu reißen. Er ist eine große Gefahr für dich, und ich will wissen, was du dagegen zu unter nehmen gedenkst.« »Soll ich ihm vielleicht einen Kopfschuß verpassen, wie in den amerikanischen Filmen, die du so gerne anguckst? Ver dammt noch mal, es gibt im Leben nicht nur schwarz und weiß, gut und böse. Erspar mir deine Moralpredigten. Soll sich der Verteidigungsrat mit Deminow auseinandersetzen.« »Und was passiert, wenn er dir den Befehl gibt, entweder seinen schmutzigen Aufruf zu unterzeichnen oder dein Kom mando niederzulegen? Hast du dann auch noch vor, ihm das durchgehen zu lassen?« »Liebling, gerade du solltest doch eigentlich wissen, dass ich Befehle im allgemeinen befolge. Wie dem auch sei, das Thema ist vielschichtig und außerdem geheime Sache, und ich 154
darf darüber nicht sprechen, also bitte, reden wir nicht mehr davon«, bat er und versetzte ihr einen leichten Klaps auf den Po. »Ich diskutiere nicht gern mit einer nackten Frau über Poli tik. Komm, geh wieder ins Bett.« »Nicht so eilig, Genosse Admiral. Vor mir kannst du dich nicht mit der ewigen Entschuldigung Geheimsache oder Ver schlußsache rausreden, nicht wenn deine Taifunboote vor aller Öffentlichkeit im Fernsehen aufmarschieren, nach einem Raketentest, den du verhindern wolltest.« »Margarita, ich bitte dich, ich kann darüber nicht spre chen.« »Stefan, ich kann einfach nicht glauben, dass du seelenruhig auf deinem Hintern sitzen bleibst und dich von Deminow überrollen läßt.« Zenko schaute zu, wie das orangefarbene Licht durch das Fenster fiel. Dort begann die Wirklichkeit, gleich hinter dem Doppelfenster. Vielleicht war es genau das, wovor er Angst hatte, dass die Wirklichkeit ihn bedrängte, wie das Meer ein UBoot bedrängt, ihn zusammenpreßt und schließlich zerdrückt, wenn er sich zu weit in die Tiefe vorwagte. Er nahm Margarita an die Hand und führte sie ins Schlafzimmer. »Und was meinen die Experten in der Admiralität, wie meine Chancen stehen, dass ich mein Kommando behalte?« »Sie glauben, dass Deminow dein Image als Held zerstören und dich zwingen will, ihm ewige Treue zu schwören.« »Ewige Treue? Ist die Marine vielleicht so eine Art mittelal terliches Königreich?« »Natürlich.« »Und wie stehen die Wetten?« »Drei zu eins für dich«, sagte sie, als sie nebeneinander im Bett lagen. »Höher nicht?« fragte er und umkreiste müßig mit einem Daumen ihre Brustwarze. »Letztes Jahr stand es fünf zu eins.« »Deminow ist hinter dir her, mein berühmter Admiral 155
Zenko, und alle wissen es. Glücksspiel ist kapitalistische Deka denz«, schimpfte sie. »Wußtest du das nicht?« Zenko schmiegte sein Gesicht an ihre Brüste und streichelte ihre Oberschenkel. Mit zärtlichem Lachen drehte sich Marga rita auf den Rücken, und sie fingen an, sich lustvoll zu lieben. Das Telefon klingelte. »Scheiße!« Fluchend kroch Zenko aus dem Bett, stapfte ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. »Zenko!« »Major Riziow hier. Obermatrose Mishman Sorokin von der >Sowjetski Sojus< ist hier wegen einer Sicherheitsmeldung und ...« »Sorokin? Der steckt doch in Archangelsk.« »Er begleitet einen kranken Matrosen.« »Mein Gott, dann schickt ihn auf die Krankenstation.« »Er möchte Sie sprechen. Er sagt, es sei dringend.« Zenkos Gedanken rasten. Sorokin würde nicht einfach nur mal so von Archangelsk nach Gremicha fahren - wie zum Teu fel hatte er das überhaupt angestellt? -, um ihn mit irgendeiner trivialen Angelegenheit zu belästigen. Auf der »Sowjetski Sojus« musste irgend etwas vorgefallen sein. »Gut«, entgegnete er. »Ich bin in einer halben Stunde in meinem Büro.« »In Ordnung.« »Schicken Sie einen Wagen und reservieren Sie in dem Pen delflugzeug nach Sankt Petersburg für heute einen Platz für meine Frau.« »Wird gemacht.« Zenko legte den Hörer auf und ging zurück ins Schlafzim mer. »Was ist?« fragte Margarita. »Ich muss los.« »Gerade wo es spannend wird, Genosse Liebhaber?« »Ich weiß. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.« Er sprang schnell unter die Dusche, rasierte sich und stieg in 156
seine Marineuniform. Der silberne Stern steckte schief an der Brust, darunter, in unordentlicher Reihenfolge, ein ganzes Dutzend minderer Orden. Margarita zog einen blumengemusterten Morgenrock über, setzte noch mehr Tee auf und schaute ihrem Mann zu. Zenko war ein Mensch, der versuchte, jeden Tag so erfüllt zu leben, als sei es sein letzter. Er liebte Sex, Alkohol, er liebte es, die ganze Nacht über aufzubleiben und Geschichten zu erzählen, im Schnee spazierenzugehen und Gemüse in seinem winzigen Garten anzubauen, aber Margarita wußte auch, dass das alles nichts galt im Vergleich zu seiner noch größeren Liebe zu UBooten. Die Mannschaft war seine eigentliche Familie. Eines Tages, dachte sie, wenn die Marine ihm seine U-Boote wegnahm, würde sie einen verbitterten alten Mann an ihrer Seite haben. »Wie lange wirst du diesmal fortbleiben, Stefan?« »Routineeinsatz. Drei Wochen.« »Besuch mich in Sankt Petersburg, wenn du zurück kommst. Ich mache uns einen Gänsebraten und spiele Musik.« »Hört sich wundervoll an.« »Irgend etwas stimmt nicht. Ich spüre es.« »Margarita, bitte.« Er zog sich die Schuhe an und wühlte im Garderoben schränkchen nach seinem Überzieher. Margarita zupfte an ihm herum, strich das Revers glatt und richtete die Orden. Sie setzte ein strenges Gesicht auf und verlangte: »Und jetzt gib mir einen Kuß, Genosse Held, und ich schicke dich in den Krieg gegen das arktische Eis.« »Mit dem Küssen ist's vorbei, Margarita. Helden küssen nicht, sie plündern und vergewaltigen. Sie zerstoßen die gefro rene See zu Eiswürfeln, für die Getränke des Kommissars.« »Dann plündere mich eben in Sankt Petersburg aus, Stefan. Ich warte auf dich.« An der Tür machte Zenko noch einmal kehrt, wie es sonst 157
nicht seine Art war, nahm Margarita in die Arme, drückte sie an sich und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuß. »Aus Glück«, sagte er. »Aus Liebe.« Dann war er fort.
158
17. Kapitel Geheiminformation Ungeachtet seines Ranges und seiner Stellung musste auch Zenko eine Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen und seinen Ausweis vorzeigen, bevor er den Personenaufzug betre ten durfte und neunzig Meter tief zu den U-Boot-Bunkern von Gremicha hinabfahren durfte. Ungeduldig und ungehalten hastete er den Kai entlang und betrat die abhörsichere Nach richtenzentrale. Als er am Haupttisch vorbeikam, sprang der wachhabende Offizier, Major Riziow, auf und verkündete. »Admiral Deminows Maschine hat sich gerade gemeldet. Er ist unterwegs von Archangelsk und wird in einer halben Stunde landen.« Zenko blieb abrupt stehen und drehte sich langsam zu dem jungen blonden Geheimdienstoffizier um. »Hat er irgendwel che Befehle gegeben?« »Nur dass Sie nicht vor seiner Ankunft in See stechen sol len.« »Tatsächlich?« Kein Protokoll, keine Warnung, und, dachte Zenko, keine Gnade. »Gremicha ist ein beliebtes Reiseziel heute morgen«, sagte er. »Wo ist Sorokin?« »Er wartet vor Ihrem Büro.« Zenko fand die beiden Seeleute auf einer Bank draußen im Flur. Petja war eingeschlafen, und der Fußboden vor Sorokin war übersät mit Zigarettenkippen. Verärgert und mit verquol lenen Augen erhob sich der Obermatrose langsam von der Bank und salutierte. »Wer ist das?«, fragte Zenko und musterte den eingenickten Matrosen. »Rekrut zur See Bulgakow, Kapitän«, antwortete Sorokin. »Ist er krank?« 159
»Nein.« »Verstehe. Lassen Sie ihn schlafen. Kommen Sie rein, Wa dim.« Zenko schloß sein Büro auf, schob sich durch die Tür, winkte Sorokin herein und wies ihm einen Stuhl zu. Der Ober matrose blieb stehen. »Warum sind Sie hergekommen, Wadim?« »Ich habe vielleicht nicht das Recht zu fragen, aber ich möchte wissen, warum die Besatzung der >Sojus< verhaftet wird?« »Was sagen Sie da, Obermatrose?« »Nachdem das Schiff ausgelaufen ist, wurde die Werft.. .« »Nachdem das Schiff ausgelaufen ist? Welches Schiff?« »Na, die >Sojus<, Kapitän.« Zenko war wie vom Donner gerührt. »Die >Sowjetski Sojus< ist aus Sewerodwinsk ausgelaufen?« »Ja.« »Wann? Wer führt das Kommando?« »Ungefähr um zwei Uhr heute morgen. Kapitän Malakow hat das Kommando. Haben Sie nicht den Befehl zum Auslauf gegeben?« Zenko bekam eine Gänsehaut. Margarita hatte recht. Er spürte förmlich die hinterhältige Bedrohung. Sein Verstand hatte den Siedepunkt erreicht. Die »Sowjetski Sojus« durfte nicht ohne die ausdrückliche Order des Flottenchefs oder eines im Rang Höherstehenden in See stechen. Deminows Ankunft stand kurz bevor, und Zenko fragte sich, ob sein Verbleib in Gremicha möglicherweise nur noch eine Frage von Minuten war. »Nein, ich habe keinen solchen Befehl erteilt. Bitte, setzen Sie sich.« Sorokin ließ sich steif auf der Kante des Stuhls nieder. Zenko bot ihm eine Zigarette an und nahm sich selbst auch eine. Sorokin bemerkte ein nervöses Zittern in der Hand des 160
Admirals, als dieser ihm Feuer reichte. »Und jetzt berichten Sie mir haarklein, was passiert ist«, sagte Zenko mit leiser, aber fester Stimme. Sorokin erzählte von Bulgakows Verhaftung, seiner Fahrt nach Archangelsk, um ihn loszubekommen, und von Schar sarskiews Großzügigkeit. »Als wir zurück nach Sewerodwinsk kamen, war das Boot verschwunden, Spetsnaztruppen hatten das Werftgelände unter ihre Kontrolle gebracht, und die Miliz verhaftete alle Besatzungsmitglieder, die noch an Land waren.« »Haben Sie irgend jemanden wiedererkannt, den Sie in Sewerodwinsk gesehen haben?« »Oberst Ludinow von der Flottensicherheit.« »Deminows Mann fürs Grobe«, sagte Zenko. »Wann haben Sie Malakow zuletzt gesehen?« »Kurz bevor er an Land ging, um sich mit Admiral Demi now in Verbindung zu setzen. Er schmiß eine Rede, ließ lauter so patriotische Parolen vom Stapel, >ruhmreich< kam in jedem zweiten Satz vor. Ich habe ihn beobachtet, wie er die SS-N-20 abschoß, Kapitän. Den Ausdruck auf seinem Gesicht werde ich so schnell nicht vergessen.« »Das war schon recht, dass Sie hergekommen sind, Wadim. Ich danke Ihnen.« »Was ist los? Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Ja«, antwortete Zenko. »Ich ernenne Sie hiermit erneut zum Steuermannsmaat der >Taifun<.« »Danke. Ist wie eine Heimkehr für mich. Was soll ich mit Bulgakow machen?« »Ist er ein tüchtiger Seemann?« »Er lernt noch.« »Nehmen Sie ihn mit an Bord und sagen Sie ihm, er soll sein Maul halten. Gehen Sie und beziehen Sie Posten. Wir laufen mit der Flut aus.« »Aye, aye, Kapitän.« Sorokin verließ das Büro und holte Petja ab. Durch das 161
große Fenster schaute Zenko den beiden nach, wie sie den Kai entlanggingen. Ein roter Wimpel flatterte am Heck der »Taifun«, doch Zenko bezweifelte, dass er heute noch auslaufcn würde, viel leicht nie wieder. Sein Überlebensinstinkt sagte ihm, dass seine Loyalität auf eine Probe gestellt werden sollte. Aber Loyalität wem oder was gegenüber? Zehn Jahre lang hatte seine Loyali tät gegenüber seinem Schiff und seiner Mannschaft an erster Stelle gestanden. Darüber hinaus war er loyal gegenüber der Marine gewesen, der Partei, der Union und der Rodina. Jetzt galt es, tiefer in sich selbst hineinzuhorchcn. Für eine Verände rung war er nicht zu alt. Die Marine war aufgebaut worden, um in einem Krieg gegen die Amerikaner anzutreten, der nie stattfinden sollte. Die Partei hatte die Revolution verraten, und die Union war entlarvt worden, hinter ihr versteckte sich die Fratze des Russischen Imperiums. Was blieb übrig? Die Rodina, das Vaterland, das russische Volk. Walotin und Deminow hatten ihn praktisch aus dem Verkehr gezogen und Malakow ins Weiße Meer geschickt. Egal welche Absichten seine Vorgesetzten verfolgten, Zenko hatte starke Zweifel hinsichtlich Malakow, der sein Schiff als verlängerten Arm seiner eigenen Person begriff, als eine Waffe, die zur Befriedigung eigenen Größenwahns eingesetzt werden konnte. Man nehme eine Handvoll angereichertes Uran, genügend Stahl, um eine Brücke über die Gorlostraße zu bauen, zweihunderttausend röntgengetestete Schweißnähte, eisernes Training, lebenslange Infiltration einer brüchigen Ideologie, einen Mann, der süchtig nach Ruhm ist - und was kommt dabei heraus: ein übergeschnappter Kapitän Nemo, ein atomarer Mahlstrom, ein Ungeheuer aus der Eiszeit, mit strahlenden Stoßzähnen. Zenko nahm den Hörer des Telefons auf. »Major Riziow«, sagte er, »geben Sie mir Admiral Walotin in Sankt Peters burg.« 162
»Ja, sofort.« Den Kopf auf die Hände aufgestützt, konnte Zenko den Druck spüren, der sich wie eine Welle im Packeis hinter seinen Augen auftürmte. »Admiral Walotin ist in der Leitung. Ich stelle Sie durch.« »Zenko?« »Ja, Admiral. Ich habe erfahren, dass die >Sowjetski Sojus< ohne mein Wissen mit einer Notmannschaft ausgelaufen ist.« »Das ist richtig. Ist Deminow schon angekommen?« »Er wird in Kürze hier sein.« »Dann können Sie es ja auch von mir erfahren, Stefan Grigorowitsch. Ich habe Operation Weißer Stern genehmigt. Deminow wird Ihnen Befehl erteilen.« Walotins Stimme war kalt, formell und distanziert. Zenko sah ein, dass es zwecklos war zu widersprechen. »Ich verstehe«, sagte er, »in Ordnung.« Ein Klicken, und die Leitung war tot. Weißer Stern. Er hätte es sich denken können. Als einziger unter den Kommandanten der Taifunboote war bei Malakow damit zu rechnen, dass er bereit war, eine Rakete abzuschießen. Mit dem Waffenarsenal an Bord der »Sowjetski Sojus« konnte er die Hauptstadt jeder Republik in Schutt und Asche legen, selbst Moskau. War es das, was Deminow und Walotin im Schilde führten? Benutzten sie Weißer Stern bloß als Tarnung? Mit Malakow am atomaren Hebel, verfügten sie über die nötige Stärke, einen Putsch hinzukriegen. Margarita hatte gemeint, sie würden nur noch auf den passenden Moment warten. Jetzt taten sie alles, damit dieser Moment eintrat. Ihm war, als müsse er durch einen Sumpf von Täuschung und Verrat stapfen. Walotin und Deminow waren nicht darauf angewiesen, ihn seines Kommandos zu entheben. Sie brauch ten ihm lediglich den Befehl zu geben, in See zu stechen; unter der Eisdecke blieb er von der Außenwelt abgeschnitten, und sie konnten die Regierung mit der »Sowjetski Sojus« erpressen. 163
Oder sie sperrten ihn in die Arrestzelle von Gremicha. Irgendwie musste er die Schweinehunde an ihrem Vorhaben hindern, aber dazu brauchte er Hilfe. Er griff zum Telefon. »Major Riziow, bitte kommen Sie zu mir.« Der Major klopfte an der Tür und trat ein. Zenko brauchte einen vertrauenswürdigen Mann, der Zugang zu den Einrich tungen zur Funkübertragung hatte, aber es blieb ihm nicht die Zeit, jeden einzelnen der fünfzig Beschäftigten der Nachrich tenzentrale zu überprüfen. Er musterte den blonden, dreißig Jahre alten Offizier und traf eine spontane Entscheidung. »Setzen Sie sich, Boris.« »Danke.« »Sie sind seit mehreren Jahren hier, wenn ich mich recht erinnere. Letztes Jahr bot sich Ihnen die Chance, nach Poljarny ins Hauptquartier der Flotte versetzt zu werden, aber Sie haben damals entschieden hierzubleiben.« »Ja, das stimmt.« »Hat Oberst Ludinow von der Flottensicherheit Sie gebeten, in Gremicha zu bleiben?« »Nein. Er wollte mich nach Poljarny schicken.« »Warum sind Sie gebliebcn? Gremicha liegt ziemlich abseits, es gibt hier nicht viel Abwechslung. Sie haben einen kleinen Sohn, der mitten in einer Eiswüste aufwächst.« »Admiral, unser Lebensstandard ist der beste in der ganzen Marine. Die Regale in den Geschäften sind voll. Wir brauchen nicht Schlange zu stehen und gehen nie leer aus.« »Den meisten reicht das nicht aus, sie gehen trotzdem.« »Wir verrichten hier wichtige Arbeit«, sagte Riziow. »Was kann wichtiger sein, als einen Atomkrieg zu verhindern.« »Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu«, entgegnete Zenko. »Aber Sie sind von der GRU, Major, nicht von der regulären Marine. Sie sind ein Spezialist des militärischen Nachrichten dienstes, mit einem Wort, ein Spion. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie hiergeblieben sind, um mich auszuspionieren?« 164
Riziow lief rot an und seine Unterlippe zitterte. Er holte tief Luft und sagte: »Ja, das gehört auch zu meinem Auftrag.« »Und wem sind Sie unterstellt?« »Oberst Ludinow.« »Verstehe. Haben Sie Ludinow gemeldet, dass Obermatrose Sorokin aus Archangelsk eingetroffen ist?« »Nein.« »Warum nicht?« »Ich melde so wenig wie möglich, Admiral. Manchmal lasse ich monatelang nichts von mir hören.« »Wann haben Sie sich zuletzt in Poljarny gemeldet?« »Vor drei Wochen. Ludinow wollte wissen, warum Sie den Aufruf zur Unterstützung der Union und der Partei nicht unterzeichnet haben. Außerdem wollte er wissen, wie Sie zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und den Republiken ste hen. Ich habe ihm gesagt, Sie seien der patriotischste Offizier, unter dem ich bisher dienen durfte. Ehrlich, ich glaube, Sie meinen, Politik hat in der militärischen Führung nichts zu suchen.« »Ich finde, Patriotismus ist wichtiger als Politik. Können Sie dem zustimmen, Boris?« »Ja«, antwortete Riziow. Er war gespannt, wohin dieses Verhör führte. »Wann haben Sie dienstfrei?« fragte Zenko. »Sobald die >Taifun< abgelegt hat.« »Die >Taifun< soll in zwei Stunden auslaufen«, sagte Zenko. »Wenn ich weg bin, führt Admiral Deminow das Kommando über den Stützpunkt. Admiral Walotin hat Operation Weißer Stern genehmigt. Sind Sie damit vertraut?« »Nur oberflächlich. Es ist ein Plan für den Eventualfall, um einen bewaffneten Aufstand zu unterdrücken.« »Ja, aber er läßt sich genausogut als ein Plan für einen bewaffneten Aufstand lesen.« Zenko machte eine Pause und fuhr dann fort. »Was ich Ihnen jetzt sage, wird vielleicht ein 165
Schock für Sie sein, Major, aber Admiral Deminow wird von hier aus der >Sowjetski Sojus< möglicherweise Signal geben, eine Rakete abzuschießen, nur ist es diesmal ein echter Schuß, kein Test.« Riziows kluges, junges Gesicht verfinsterte sich. »Gegen wen?« Es war die einzige Frage, die ihm in diesem Augenblick in den Sinn kam. »Ich weiß es nicht, aber vermutlich gegen eine der Republi ken.« Major Riziow schnappte nach Luft. »Also ein Bürgerkrieg?« »Ja«, sagte Zenko. »Deminow und Admiral Walotin bedienen sich der >Sowjetski Sojus< für ihre eigenen Zwecke. Ich finde, es ist unsere Pflicht in der Flotte, die beiden aufzuhalten.« Er sah, dass der Major erschrocken und verwirrt wirkte. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Ja. Es ist nur ein bißchen viel auf einmal.« »Ich brauche Ihre Hilfe, Major.« »Was kann ich tun?« »Ich fürchte, sobald ich weg bin, wird Deminow für weitere Schläge gegen das Land noch ein Taifunboot in Stellung brin gen. Wir beide könnten einen einfachen Code absprechen, damit Sie mich immer auf dem laufenden halten können, wenn ich unter Eis bin.« Riziow zögerte. »Ich weiß nicht, Admiral. Die Sicherheits systeme sind sehr effizient.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, meinte Zenko. »Wenn Deminow dahinterkommt, werden Sie an die Wand gestellt. Da können Sie Gift drauf nehmen.« Riziow zögerte noch immer. Er hatte schon verstanden, dass Zenko an seine persönliche Integrität appellierte. »Major, ich vertraue Ihnen«, sagte Zenko. »Sie können mir jetzt sagen, ja, ich bin einverstanden, und mich dann bei Demi now anschwärzen, wenn der in wenigen Minuten eintrifft. Ich habe die Absicht zu verhindern, dass meine Schiffe mein eige 166
nes Land angreifen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen, Major. Jetzt gleich.« »Was haben Sie vor, Admiral?« »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie das nicht so genau wis sen.« In Wirklichkeit wußte Zenko selbst noch nicht, was er vorhatte. Das Telefon klingelte, und Zenko hob ab. »Flugsicherung hier. Admiral Deminows Maschine hat gerade aufgesetzt.« »Danke. Sorgen Sie dafür, dass er angemessenen Geleit schutz bekommt, und bringen Sie ihn her.« »Ja, verstanden.« Zenko legte den Hörer auf die Gabel und wandte sich wieder Riziow zu. »Nun, wie haben Sie sich entschieden?« »Ich werde Ihnen helfen. Ich werde mein Bestes versu chen.« »Also gut. Wenn Deminow der >Sowjetski Sojus< den Startbefehl für eine Rakete gibt, funken Sie >Taifun< und zweimal den Buchstaben B. Wenn er Anstalten trifft, ein zweites Taifunboot einzusetzen, zweimal den Buchstaben K.« Riziow nickte. »Doppel-K. Verstanden.« Zenko führte Riziow durch die Sicherheitsschranken in den Codierraum, setzte sich an einen Terminal und produzierte die Codes für die Patrouillenfahrt der »Taifun.« Die Computer überprüften und verifizierten die Sequenzen, bevor Zenko sie zweimal ausdrucken ließ. Sich an das übliche Verfahren hal tend, kehrten sie in Zenkos Büro zurück und hinterlegten einen Ausdruck im Safe. »Muss ich noch irgend etwas Bestimmtes wissen?«, fragte Riziow. Seine Miene drückte Besorgnis aus. »Wahrscheinlich wissen Sie schon viel zuviel«, sagte Zenko. »Nur Mut, Boris. Vielleicht schickt mich Deminow ja auch gar nicht weg. Vielleicht verbringe ich die nächsten Tage in der Arrestzelle. In dem Fall...« Er zuckte mit den Schultern 167
und steckte den anderen Ausdruck mit der Codefolge in seine Aktentasche.
168
18. Kapitel
Kommando und Kontrolle
In tadelloser weißer Uniform rauschte Iwan Deminow wie ein herrschaftlicher Prinz in Zenkos Höhle. Mit einem Hofstaat von zwanzig Stabsoffizieren marschierte er den Kai entlang, vorbei an Kränen und unbeholfenen Frischlingen. Seinen Mili tärausweis mit ausgestrecktem Arm vorzeigend, stolzierte er an den Wachposten der Marineinfanterie vorbei in die Nach richtenzentrale. Hinter dem Haupttisch stand Major Riziow und beobach tete, Böses ahnend, wie Deminow näherkam, ein Wirbelwind blitzender roter Streifen auf weißem Stoff. In gebührendem Abstand folgte, in einschüchterndes Schwarz gekleidet, mit versteinertem Gesicht, der Geheimdienstoffizier Oberst Ludi now, dem der Major unterstellt war. Deminow sprach am Haupttisch vor und verkündete: »Diese Einrichtung untersteht ab sofort dem Kommando der Nordflotte.« Riziow nahm Haltung an und salutierte: »Ja. Wachhabender Offizier, Major Riziow, zu Ihren Diensten.« Deminow erwiderte den Gruß. »Wo ist Ihr Kommandant?« »In seinem Büro. Soll ich ihn holen?« »Nicht nötig. Ich weiß schon, wo ich Stefan Gregorowitsch Zenko finde.« Als Deminow den Flur entlangging, trat Ludinow an den Tisch und beugte sich zu Riziow hinüber. »Guten Tag, Boris«, sagte er. »Lange nichts von Ihnen gehört.« Admiral Deminow trug eine goldene Delphinnadel, das Abzeichen der U-Boot-Offiziere. Fünfzehn Jahre seiner langen militärischen Karriere hatte er in U-Booten verbracht und einmal sogar eine Flottille strategischer Raketen-U-Boote der Delta-II-Klasse befehligt. Die Jahre unter Wasser hatten ihn 169
jedoch nur unruhig und nachlässig werden lassen. Im Gegensatz zu Zenko hatte er weder für die See noch für Schiffe etwas übrig. Für ihn repräsentierten die Boote der Taifunklasse nackte Gewalt - eine Gewalt, die er Zenko schließlich und endlich entrissen hatte und jetzt selbst kontrollierte. Seit dreißig Jahren hegte er Verachtung für Zenkos Genie und seine ehrliche und offene Art. Aus vielen vorherigen Auseinandersetzungen war Zenko immer als Gewinner hervorgegangen, diesmal sollte es anders sein. Die Tür zu Zenkos Büro war offen. Er stand hinter seinem Schreibtisch und wartete, die Uniform zerknittert, seine Würde intakt. Wenn Riziow ihre kleine Unterredung Ludinow meldete, dann war es mit seiner Karriere in fünf Minuten aus und vorbei. Falls sich Riziow doch nicht als bloßer Befehls empfängcr der GRU entpuppte, hoffte Zenko, Deminow ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen und soviel Informa tion wie möglich aus ihm herauszukriegen, ohne ihn allzusehr zu verärgern oder Verdacht zu erregen. Er brauchte die genaue Position der »Sowjetski Sojus« und musste mehr über Demi nows Pläne und Absichten erfahren. Als Deminow den Raum betrat, ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht, sagte Zenko: »Willkommen in Gremicha, Iwan Iwanowitsch. Kommen Sie rein.« Bevor Deminow etwas erwidern konnte, fuhr Zenko fort: »Setzen Sie sich. Nehmen Sie Ihre Mütze ab. Ich hoffe doch, Sie bleiben eine Weile.« Zenko kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging zu einem alten Samowar und fing an, Tee aufzubrühen. Von Zen kos Ungezwungenheit überrumpelt, sah Deminow seine Rache im Geklapper der Löffel und Gläser untergehen. Zenko lächelte freundlich, löste den oberen Kragenkopf und führte sich ganz und gar nicht wie ein Mann auf, dessen Karriere auf dem Spiel stand. Vor Jahren, als beide als junge Offiziere Dienst auf einer langen Patrouillenfahrt taten, waren sie beinahe Freunde geworden, aber als sie in den Heimathafen einliefen, war 170
Zenko klargeworden, dass Deminow ein Mensch ohne Visionen war, ausgestattet mit einem Hunger nach Macht. »Ich will nicht um den heißen Brei herumreden«, erklärte Deminow, »Vizeadmiral Stefan Grigorowitsch Zenko, ich ent hebe Sie hiermit des Kommandos über die Sechste Strategische Raketen-U-Boot-Flotte.« Die Worte hingen wie Motten in der Luft. Deminow wartete darauf, dass Zenko zusammenbrach, fluchte, rumbrüllte, statt dessen kehrte er mit einem Glas Tee in der Hand an seinen Schreibtisch zurück. »Nehmen Sie an?« »Natürlich nehme ich an. Ich habe keine andere Wahl, Iwan, und ich habe noch nie einen Befehl verweigert.« »Sie werden mir alle Waffen- und Nachrichtcncodes für die Schiffe Ihrer Flotte übergeben.« Zenko beugte sich vor und schrieb die Kombination des Safes auf einen Notizblock. »Major Riziow hat Zugang zu allen relevanten Akten. Ich verfüge über eine ausgezeichnete Mannschaft. Sie wird Ihnen zu Diensten stehen. Soll ich sie rufen lassen und sie Ihnen vorstellen?« »Zu gegebener Zeit.« Zenko öffnete seine Aktentasche und holte die Waffen- und Nachrichtencodes der »Taifun« hervor. »Ich nehme an, Sie werden meinem Schiff einen neuen Kommandanten zuweisen. Hier sind die Codes für den Einsatz, die Major Riziow und ich heute morgen festgelegt haben.« Er schaute auf die Uhr und griff nach seiner Mütze. »Iwan, ich bin seit zehn Jahren auf diesem Posten. Mit einemmal ist es vorbei, und das war's dann. Wenn ich mich beeile, erwische ich noch das Pendelflugzeug nach Sankt Petersburg, mit dem meine Frau fliegt. Ich möchte keine Minute länger hier bleiben als absolut notwendig.« Deminow hatte einen Wutanfall erwartet. Er hatte Zenko schon mal wütend erlebt, ein beeindruckender Anblick. In der Vorausahnung, dass Zenko seine Order zurückweisen würde, 171
hatte er Ludinow vorgewarnt, sie müßten ihren Widersacher vielleicht in die Arrestzelle sperren. Aber statt vehement zu protestieren, führte sich Zenko wie ein unterwürfiger Rekrut auf. »Warum so eilig, Stefan Grigorowitsch?« sagte Deminow. »Sie werden auch weiterhin Ihre Funktion als Kommandant der >Taifun< ausüben und voll und ganz an der Operation Weißer Stern teilnehmen.« »Erst entbinden Sie mich von meinem Kommando, und dann erwarten Sie, dass ich mich an einer militärischen Opera tion beteilige, die ich verabscheue? Sie könne mich mal, Iwan.« Das war der Zenko, den er kannte, der Mann, den er in die Knie zwingen würde. »Sie können sich nicht weigern. Ich ordne Ihre Festnahme an!« »Das würden Sie nicht wagen.« »Das würde ich, und ich werde es. Sie und die gesamte Besatzung, wenn es sein muss, und jeden Dreckskerl auf die sem Stützpunkt, der sich den Befehlen des Kommandanten der Nordflotte widersetzt.« Plötzlich gefügig, schien Zenko vor seinen Augen zusam menzusinken. Deminow legte eine versiegelte rote Mappe auf den Schreibtisch. »Hier sind Ihre Befehle. Sie werden unver züglich mit der >Taifun< in den Sektor 6122 in die Barentssee auslaufen und bis auf weiteres dort auf Ihrem Posten bleiben. Die >Taifun< erhält Begleitschutz von der >Gorki< vom Siebten U-Boot-Geschwader. Die >Gorki< steht unter dem Kommando von Viktor Lorinski. Kennen Sie ihn?« »Natürlich. Ich kenne alle >Grauen Geister<. Ich habe ihnen Taktik in Frunze beigebracht.« »Merken Sie sich, Zenko, Sie sollen auf dem kürzesten Weg zu Ihrem zugewiesenen Sektor fahren. Weichen Sie auch nur einen Meter ab, hat Lorinski Befehl, Sie aus dem Wasser zu pusten.« »Und die >Minsk< haben Sie ins Weiße Meer geschickt, um 172
Malakow zuzusetzen?« »Die >Minsk< patrouilliert vor der Einfahrt in die Gorlo straße.« »Ich verstehe.« »Da bin ich sicher.« Zenko erbrach das Siegel, klappte die Akte auf und las die Befehle. »Von einem Einsatz der >Sowjetski Sojus< ist hier nicht die Rede. Wenn ich das Oberkommando hätte, würde ich Malakow in den Kandalakschagolf schicken.« Es war reine Vermutung, aber Deminow faßte sie als ein Kompliment auf. »Sie scheinen außergewöhnlich gut infor miert«, sagte er. »Ich habe eben mit Walotin gesprochen.« »Dann wissen Sie auch, dass die Gemeinschaft in einer Krise steckt.« »Sieht ganz so aus«, sagte Zenko. »Weißer Stern geht von einem bewaffneten Aufstand aus. Bitte, sagen Sie mir doch, wo ist der Aufstand?« Deminow sah ihn mit Verachtung an. »Sie haben hier in Gremicha lange weitab vom Schuß gelebt, Stefan. Das ganze verfluchte Land ist in Aufruhr. Auf den Schiffswerften des Militärs haben sie sogar Streiks ausgerufen.« »Und Sie halten mit Raketentests dagegen, die Proteste pro vozieren, was Ihnen wiederum Anlaß zum Säbelrasseln gibt.« »Was wollen Sie damit andeuten?« »Nur dass Ihre Reaktion auf die augenblickliche politische Situation in keinem Verhältnis dazu steht.« »Sind Sie auf einmal Anhänger der Republiken?« »Stellen Sie meine Loyalität in Frage?« entgegnete Zenko sanft. »Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich Politik immer aus meinen Kommando herausgehalten habe, ungeachtet meiner persönlichen Meinung.« »Hier geht es nicht um Politik. Hier geht es ums Überle ben.« 173
»Wessen Überleben?« wollte Zenko wissen. »Ihres? Meins?« »Der Gemeinschaft«, antwortete Deminow heißblütig. »Es ist bereits zu weit gegangen. Die sogenannten Reformer haben uns nur Anarchie und Unruhen eingebracht. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die Baltischen Staaten und Georgien versinken im Chaos. Als nächstes verlieren wir die Ukraine und Belorußland, und, Gott behüte, dann ist Rußland selbst dran. Wir werden von Rasputins mit Computern und ihrer ver fluchten Marktwirtschaft ausgeplündert! Vor Gorbatschow hatten wir Frieden zwischen den Republiken. Wir hatten Stabi lität und keinen Zweifel an unserer Mission in der Welt. Wir sind dabei, alles zu verlieren, aber das werde ich nicht zulassen. Ich werde nicht tatenlos danebenstehen.« »Also keine weitere Diskussion? Die Sache ist für Sie klar?« »Ja.« »Sie könnten damit einen Bürgerkrieg auslösen«, meinte Zenko finster. »Mag schon sein«, erklärte Deminow. »Mein Ziel ist es, die Union wieder zu etablieren. Betrachten Sie doch mal die Alter native: Die Union ist zerstört und Rußland von unabhängigen Republiken umringt, die mit Atombomben bewaffnet sind und auf Rache sinnen. Gefällt Ihnen das etwa? Wir müssen unsere Feinde vernichten, bevor sie sich gegen uns erheben. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das war schon immer so, Zenko. Wir werden nicht zulassen, dass die Geschichte wie ein kalter Wind über uns hinwegweht. Wir werden die Geschichte selbst in die Hand nehmen. Wir brauchen Ordnung.« Ja, dachte Zenko, die Geschichte Rußlands ist mit Blut geschrieben, von selbsternannten Erlösern, die Ordnung her stellen wollten. »Und während Sie die Union retten«, sagte er, »bin ich unter Eis und drehe Däumchen. Was ist meine Rolle in dem Spiel?« 174
»In Ihrem Sektor zu bleiben und auf Befehle zu warten, nicht mehr und nicht weniger.« »Und Malakow?« »Für den gilt dasselbe.« »Was ist mit den Amerikanern?« wollte Zenko wissen. »Wenn Sie so viele Schiffe auf einmal einsetzen, wird denen das nicht entgehen. Und wenn ein Bürgerkrieg ausbricht, werden sie erst recht nervös.« »Die Amerikaner sind hier ohne Bedeutung«, schnaubte Deminow. »Sie machen ein bißchen Lärm, geben Erklärungen ab, rufen ihre Botschafter zurück, aber am Ende bleibt nichts übrig. Sie ziehen nicht in den Krieg, nur weil bei uns zufällig die Regierung wechselt.« »Sie haben die Absicht, die Regierung zu stürzen?« »Das ist unvermeidlich.« Also doch, dachte Zenko, ihr Verräter wollt es tatsächlich drauf anlegen. »Ich stimme Ihnen zu, unseren augenblickli chen Kurs können wir nicht einhalten.« Deminow, der sich jetzt zutiefst selbstsicher fühlte, holte zwei offizielle Schreiben hervor und reichte sie Zenko. »Das hier«, sagte er, »ist die Order, die Sie vom Kommando des Marinestützpunktes Gremicha entbindet. Und das hier eine Erklärung, in der Sie zum Ausdruck bringen, dass Sie mit allen Direktiven der Operation Weißer Stern einverstanden sind. Bitte beide unterschreiben.« Zenko warf einen kurzen Blick auf beide Schriftstücke und unterzeichnete, vorgeblich schweren Herzens und resigniert. »Mein Kommando gehört Ihnen. Warten Sie einen Moment, und ich stelle Ihnen die Mitarbeiter der Zentrale vor.« Er ging aus dem Büro und suchte Riziow auf. Ein Blick des Majors verriet ihm, dass dieser vor Oberst Ludinow nicht kapi tuliert hatte. Riziow versammelte über fünfzig Techniker, Funkoffiziere, Dechiffrierer und Angestellte in einem Konfe renzsaal. Zenko kam mit Deminow an seiner Seite herein und 175
stellte ihn mit gebührendem Respekt vor. »Die Admiralität hat Operation Weißer Stern eingeleitet«, sagte er. »Sie unterstehen jetzt dem unmittelbaren Befehl der Nordflotte und Admiral Deminow. Der Marinestützpunkt Gremicha bleibt bis zum Abschluß dieser Operation von der Außenwelt abgetrennt. Sie halten sich in Alarmbereitschaft. Admiral Deminow wird die Flotte von hier aus befehligen. Bis auf weiteres werden alle Verbindungen mit der Flotte von dieser Zentrale aus gelenkt, Sie werden also in den folgenden Tagen vollauf beschäftigt sein. Ich möchte Sie daran erinnern, dass alle Terminaleingaben und Funksignale aus Sicherheitsgründen aufgezeichnet werden. Ihre Leistungen werden ständig überwacht. Major Riziow ist für die Kommunikationssicherheit verantwortlich. Das wäre alles. Weiter so und viel Glück.« Zenko und Deminow gingen zurück in Zenkos Büro. Deminow schaute zu, wie der abgesetzte Meister von Gremi cha seinen Überzieher nahm und seine Mütze aufsetzte. Er streckte ihm die Hand hin. Zenko schüttelte sie ohne ein Zei chen von Gefühlsregung und verließ die Nachrichtenzentrale. Vom Panzerglasfenster aus sah Deminow ihn den langen Weg am Kai entlang zu seinem Schiff antreten, mit hängenden Schultern, in der Haltung eines gebrochenen Mannes. Demi now grunzte vor Zufriedenheit. Das erste Hindernis bei sei nem Plan war mit erstaunlicher Leichtigkeit aus dem Weg geräumt worden. Er ging zurück in die Nachrichtenzentrale und erteilte Major Riziow seinen ersten Befehl. »Schicken Sie eine Nachricht an die >Sowjetski Sojus<.« 320 Kilometer südwestlich von Gremicha schwebte die »So wjetski Sojus« in 275 Meter Tiefe durch den Kandalakschagolf, die tiefste Rinne im Weißen Meer. Malakow hatte sein Schiff vorsichtshalber im Tiefen Wasser versteckt und nicht, wie sonst üblich bei den Taifunbooten, gleich unterhalb der Eisdecke. Er erwartete zwar keinen 176
Spanner in der Nähe, aber jedes U-Boot auf der Suche nach der »Sowjetski Sojus« konnte sich auf eine Überraschung gefaßt machen. In der Kommandozentrale war es ruhig. Malakow ging auf geregt zwischen den Sonarrepeatern und dem Funkraum hin und her, er wartete gespannt auf einen Funkspruch via ELF aus Gremicha. Endlich blinkte die Alarmlampe für eingehende Nachrich ten auf, und die ELF-Meldung tickerte mit einer Ziffer pro Minute über den Schreiber. Eine halbe Stunde später war die chiffrierte Übertragung entschlüsselt, und Malakow las: ZENKO AUF SEE. ABSENDER DEMINOW. Zenko hatte also klein beigegeben. Für einen Augenblick empfand Malakow tiefe Befriedigung. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten. Der nächste Funkspruch war entweder die Mitteilung, dass sie auf ganzer Linie gesiegt hatten, oder der Befehl, eine Rakete abzuschießen.
177
19. Kapitel Taifun Zenko spürte förmlich, wie sich Deminows Blick in seinen Rücken bohrte, als er die Kaimauer entlangging. Iwan Iwano witsch ist ein ausgemachter Dummkopf, dachte er. Er hat mir die einzige Waffe in die Hand gegeben, die diesem verräteri schen Spuk ein Ende bereiten kann, mein Schiff. Als er sich der »Taifun« näherte, bemerkte er eine Unruhe auf dem Vorderdeck. Männer krochen durch Luken und formierten sich in Reih und Glied. Sorokin ging vor der Besatzung auf und ab und brüllte Exerzierplatzkommandos. Zenko erreichte die Seite des U-Boots, als der Obermatrose vor versammelter Mannschaft stehenblicb und seinen Kapitän ansah. »Achtung!« Hinter ihm schlugen 150 Hackenpaare zusammen. »Salutieren!« 150 Hände salutierten wie ein Mann. »Melden!« »Vizeadmiral Stefan Grigorowitsch Zenko, wir grüßen Sie, Kapitän der >Taifun
Er trat einen Schritt vor und rief: »Männer der >Taifun<, seid ihr bereit, in See zu stechen?« »Wir sind bereit.« »Also gut, Söhne des Neptun«, schrie Zenko mit aller Stimmkraft, »dem Himmel ein Abschiedskuß!« Die Mannschaft schrie zurück: »Dem Himmel ein Ab schiedskuß!« Zenkos Schiff, Zenkos Erkennungszeichen. Der Kapitän bestieg das Fallreep, warf seinen Überzieher auf Deck und ver schwand in der Luke. Die »Taifun« war wie ein alter Freund. Die Kommandozentrale war in Dunkelblau gehalten, was Zenko dem Rot der neuen Schiffe vorzog. Er schaute zu, wie die Mitglieder der Kommandoabteilung nacheinander den Raum betraten. Sorokin nahm seinen Posten als Rudergänger am Navigationstisch ein und ließ seinen Blick über die Monitorbank schweifen. Alles war in Ordnung, das Schiff war bereit. Im Funkraum stieß Zenko auf den Politoffizier der »Taifun«, Kapitän Sascha Kugarin, der Chiffrierblätter vorbereitete. Nach fünfzehnjährigem gemeinsamen Dienst waren Zenko und Kugarin enger miteinander verbunden als beide mit ihren Ehefrauen. Zenko hatte für Zampolits wie Sergow auf der »Sowjetski Sojus«, die kein Ventil schließen oder den Dampfdruck überwachen konnten, nichts übrig. Der See ist es egal, ob man Lenin gelesen hatte, und einem Reaktor brauchte man nicht mit einem Zitat von Marx zu kommen. Kugarin hatte die Marineschule für U-Boote in Murmansk besucht und trug neben dem Parteiabzeichen am Revers stolz den goldenen Delphin der U-Boot-Offiziere. Überschwenglich, leicht erregbar, mit Lockenhaar und dik ken Brillengläsern, schüttelte Kugarin warmherzig Zenkos Hand. »Sei gegrüßt, Genosse Stefan. Wie geht's Margarita?« Zenko breitete seine kurzen Arme so weit wie möglich aus. »Wie ein Champagnerglas. Nein, wie eine ganze Flasche, drei 179
Flaschen. Himmel, ich hätte eine gleichaltrige Frau heiraten sollen.« »Willst du tauschen? Ich nehme Margarita, und du nimmst Wadja.« »Nein, danke, Genosse Vaterheld.« Auf russischen Marine schiffen wurde derjenige mit den meisten Kindern grundsätz lich Vaterheld genannt. »Du kannst deine fette Alte behalten«, schimpfte Zenko zum Spaß. »Ist sie wieder schwanger? Erzähl mir lieber, wie es deinen sieben kleinen Kommunisten geht, Sascha.« »Du willst wissen, was meine Kinderchen so treiben? Kann ich dir sagen. Iwan schmiert sich weiße Schminke ins Gesicht und ist jeden Abend bedröhnt von Haschisch. Alexi will in einer Rockband auftreten. Katarina ist der Grünen Partei bei getreten und sagt mir, ich sei ein Feind des Volkes. Verstehst du das? Mein eigen Fleisch und Blut. Außerdem fordert sie, dass jegliche Form von Atomkraft verboten und die Marine ganz abgeschafft wird. Es gibt immer viel zu lachen mit ihr bei den Mahlzeiten. Georgi hängt den ganzen Tag vor der Glotze und telefoniert. Maia ist Leiterin der Pioniergruppe ihrer Klasse und kommt jedesmal heulend nach Hause, weil die anderen Kinder gesagt haben, der Kommunismus sei eine einzige große Verarschung und Lenin das Arschloch. Sie und Katarina streiten sich wie zwei Georgier. Die Zwillinge sind im Kindergarten und noch zu klein, um Ärger zu machen. Ich sage dir, Stefan, die Welt ist verrückt.« Zenko hörte sich geduldig die Klagen des Politoffiziers an und fragte dann: »Bist du bereit zum Aufbruch?« »Ich kann es nicht abwarten, endlich hier wegzukommen. Drei Wochen Ruhe und Friede, das hört sich für mich wie der Himmel auf Erden an.« Zenko verschränkte die Arme vor der Brust. »Bist du schon den ganzen Morgen an Bord?« »Ja. Ich habe die Nacht an Bord verbracht.« 180
»Schon an Deck gewesen?« »Nein.« »Hast du Sorokin gesehen?« »Unseren guten alten Wadim? Er ist vor einer Stunde an Bord gekommen und hat in Windeseile die Aufsicht über die Mannschaft übernommen, als wäre er keine Minute weg gewesen.« »Hat er dir gesagt, warum er hier ist?« »Ich habe ihn nicht gefragt.« »Wir fahren keinen regulären Einsatz. Ich hatte heute morgen Besuch von unserem Freund Iwan Deminow.« »Wollte wahrscheinlich nur wieder seinen alten Sermon los werden«, sagte Kugarin. »Solidarität mit der Union, die es längst nicht mehr gibt. Der kann mich mal. Was hat er gewollt? Noch einen Raketentest?« Zenko lehnte sich mit dem Rücken gegen ein Pult. »Er hat mich von meinem Kommando über die Flotte entbunden«, erklärte er ohne Umschweife. »Wie bitte?« Kugarin riß erstaunt die Augen auf. »Ja«, sagte Zenko. »Und Walotin hat die Operation Weißer Stern eingeleitet.« »Mir bleibt die Spucke weg«, stotterte Kugarin. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt fragen soll, warum.« »Und Malakow ist gestern abend auf Deminows Anweisung mit der >Sowjetski Sojus< in See gegangen, ohne mich vorher zu konsultieren.« Kugarin war mit einemmal ganz blaß im Gesicht und zit terte. »Malakow? Malakow ist der Typ, der alles unternehmen würde, um noch den letzten Widersacher aus dem Weg zu räu men.« Zenko zeigte dem Offizier seine Order. »Das ist ja nicht zu fassen«, stieß Kugarin hervor. »Wir sollen zehn Raketen auf heimische Ziele umprogrammieren?« 181
Zenko nickte bloß, seine Augen zu Sehschlitzen verengt. »Ich zeige die Schweine an«, sagte Kugarin. »Anzeigen?« rief Zenko. Kalte Wut stieg in ihm hoch. »Glaubst du, wir könnten Deminow mit einer Anzeige stop pen? Manchmal denkst du wie ein verdammter Apparatschik und nicht wie ein Marineoffizier. Eine Flotte bezwingt man mit Torpedos. Eine Meuterei schlägt man nieder, indem man die Meuterer tötet.« Die Wahrheit explodierte wie eine Granate in Kugarins Kopf. »Was schlägst du vor, Stefan?« »Ich will Malakow zur Strecke bringen und die >Sowjetski Sojus< versenken.« Wie vom Donner gerührt, sah Kugarin sich von einem gewaltsamen Mahlstrom in die Zukunft gerissen. Zenko hatte die Karten auf den Tisch gelegt. »So weit ist es also gekom men«, sagte er. »Wir ziehen in den Krieg.« »Genau«, sagte Zenko. Er hatte seine Ruhe wiedergewon nen. »Und wir eröffnen das Feuer.« »Ein Schiff gegen die gesamte Flotte.« »Ja. Keine rosigen Aussichten. Ich brauche dich, Sascha, aber du kannst meinen Plan verhindern, wenn du jetzt von Bord gehst. Du hast die Wahl, noch kannst du dich Deminow und seiner verrückten Bande anschließen. Aber denk auch an deine Kinder und ihre Zukunft. Willst du, dass sie für den Rest ihres Daseins in einer Militärdiktatur leben? Wenn Deminow durchkommt, wird der Kalte Krieg wieder aufgenommen, oder, schlimmer noch, wir kriegen einen neuen Stalin.« »Weiß Sorokin Bescheid?« »Noch nicht. Ich wollte es erst dir erzählen. Ohne dich habe ich keine Chance. Bist du auf meiner Seite?« Ohne eine Sekunde zu zögern schlug sich Saselja Kugarin auf Zenkos Seite. »Natürlich. Aber wie in aller Welt hast du dir gedacht, an der Gorlostraße vorbeizukommen?« »Ich finde schon eine Möglichkeit«, sagte Zenko mit einem 182
verschlagenen Grinsen. »Und jetzt bringen wir diese Bade wanne unter Eis, bevor Deminow seine Meinung ändert.« Wenige Minuten später stand Zenko, eine Kappe auf den Kopf gestülpt, ausgerüstet mit Schutzbrille, Jacke, Kopfhörer und Fernglas, neben Sorokin auf der Brücke der »Taifun«. Breitbeinig, mit einem fetten Grinsen, das seine Goldzähne sehen ließ, brüllte und fluchte er wie ein alter Seebär. »Junge, Junge, was für ein potthäßliches, beschissenes Boot. Dagegen bin ich ja eine wahre Schönheit.« Sorokin schob seine Kappe auf den Hinterkopf. »Das Meer ist blind. Dem ist es egal.« »Blind, aber nicht taub, Genosse. Direkt unterm Eis warten zwei Akulas auf uns.« »Geleitschutz?« »Oder Mörder«, entgegnete Zenko. Er schaute Sorokin ins Gesicht. »Wir ziehen in den Krieg, Wadim.« »Malakow«, erklärte Sorokin ohne jedes Erstaunen. »Ja, wenn ich ihn auftreiben kann. Ich brauche Ihre Hilfe mit der Mannschaft.« »Aye, Kapitän.« Sorokin nickte. »Sagen Sie den Männern die Wahrheit, und sie gehen durchs Feuer für Sie. Mich brau chen Sie ja nicht zu fragen.« »Dann nichts wie los. Brücke an Kommandoraum«, befahl Zenko. »Beide Maschinen langsame Fahrt.« »Langsame Fahrt, aye.« Unter dem Heck wurde weißes Wasser aufgewühlt. Mit einem durchdringenden Zucken schob sich der Rumpf von der Kaimauer weg. »Steuerruder zehn Grad links.« »Drehung zehn Grad links.« »Seeschleusen öffnen.« Die schweren Tore glitten seitwärts, und ein Schwall kühler Luft wehte durch die Höhle. Als die »Taifun« an »Erster Mai« vorbeiglitt, fiel Zenko 183
eine Gruppe junger Offiziere auf, die sich auf dem Vorderdeck versammelt hatte. Er winkte ihnen zu, aber nicht einer der zweiten und dritten Leutnants erwiderte seinen Gruß. Zenko fühlte einen Stich ins Herz, dann wurde ihm klar, dass die jungen Männer soeben von der Operation Weißer Stern in Kenntnis gesetzt worden waren und erfahren hatten, dass Zenko sich einverstanden erklärt hatte, an ihr mitzuwirken. Sie fühlten sich verraten. Zenko war ihr Held, nicht weil er einen silbernen Stern trug, sondern weil er immer seinen eige nen Weg gegangen war, sich geweigert hatte, mit der Admira lität politisch zusammenzuarbeiten. Jetzt erwies sich Zenko, sei es, um sein Kommando nicht zu verlieren, sei es aus einem anderen Grund, den sie nicht ahnen konnten, als genauso ab gebrüht und zynisch wie der Rest der Führungsbande der Marine. Er konnte nichts tun, als stur geradeaus blicken und seinen Schmerz zurückhalten. Der Bürgerkrieg hatte seine ersten Opfer gefordert, und sein Schiff war noch nicht einmal aus dem Hafen. Wie ein erwachendes Seeungeheucr glitt die »Taifun« durch Zenkos Höhle. Ihr 170 Meter langer Rumpf schien eine Ewig keit zu brauchen, um durch die Einfahrt zu kommen, als wehre sie sich dagegen, ans Licht zu treten. Von der Brücke aus ver folgte Zenko, wie der erste Schwarm U-Boot-Abwehrhub schrauber oberhalb der Klippen auftauchte, auf die offene See hinausflog und Sonarbojen abwarf. Er füllte seine Lungen mit Seeluft und rief dem Ausguck zu: »Nach Eischollen Ausschau halten.« »Aye, aye, Kapitän.« Sorokin blickte zurück auf die sich hinter dem Schiff schlie ßenden Tore. Gremicha, seit zehn Jahren sein Zuhause, schien fremd und feindlich, so wie es einem amerikanischen U-Boot erscheinen müßte, würde es jemals in die Nähe von Zenkos Höhle gelangen. 184
Sie passierten den Hafendamm. Zenkos kleines EinmannRuderboot hatte sich von seinem Liegeplatz losgemacht und trieb hilflos im Hafen. Eine Seite aus einer Illustrierten flatterte aus dem Boot heraus in die Luft, landete im Wasser und ver sank auf der Stelle. Über ihm rotierten Funk- und Radarmasten auf ihrer Pei lung, und darüber flatterten Seevögel und stürzten sich auf die Wasserfläche. Kleine Eisschollen drifteten vorbei. Zenko roch das Eis, das Meer, das Salz und, wenn er genauer nachspürte, seine eigene Angst. Die »Taifun« warf sich ins Meer, so widerwillig, wie nur ein Matrose in die tiefe blaue See stechen konnte, und doch stärker als hundert Marineverbände zusammengenommen. Ihr Furien Rußlands, dachte Stefan Zenko, seht her, was habt ihr ange richtet.
185
20. Kapitel Big Iwan Die Klimaanlagen an Bord der »Reno« waren auf die niedrigste Stufe gestellt, die Duschräume durften nicht mehr benutzt werden. Im Innern des Rumpfes stank es wie in einem Versuchsschiff aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Phantasieturnier im Torpedoraum hatte das Viertelfinale erreicht. Im Steuerraum hatten die »Nucs« den Punkt der tief sten Langeweile überschritten und sich darangemacht, einen nuklearen magnetohydrodynamischen Antrieb zu entwerfen. Alle Männer im Boot hatten die Stille, die Pornoheftchen, die Gesellschaft ihrer Kameraden satt, sie verschliefen die Zeit in verschwitzten Kojen und träumten von Zuhause. Im Kommandoraum verfolgte Gunner auf dem Bildschirm, wie die Inertialnavigation anklickte. Die »Reno« trieb weiter südlich in einer Viertel-Knoten-Strömung, und in zwölf Stun den würde Gremicha außer Sonarreichweite liegen. Wenn keine Taifunboote erschienen, blieb Gunner nichts anderes übrig, als die beiden Antriebe anzuwerfen, nach Norden aus zuweichen und sich einen anderen Eiskiel zu suchen; bei zwei russischen Angriffs-U-Booten in der Nähe ein riskantes, wenn nicht ausgesprochen selbstmörderisches Unterfangen. Im Sonarraum träumte Morrison mit offenen Augen vor sich hin. Er ging zu Fuß übers Eis nach Archangelsk, an der Promenade tobten ausgelassen eine Schar russischer Schönhei ten in Bikinis. Kalter Krieg, zum Teufel damit. Kalte Liebe, das bringt's, auf dem Eis, im Schnee. Laßt die Polarbären tanzen und die Blaunasen auftreten. Billie Stewart klatschte Morrison auf den Oberschenkel. »Aufwachen, Chief.« »Ich schlafe nicht.« »Dann schnarchen Sie aber, wenn Sie wach sind.« 186
»Mann, ist ja schon gut. Irgendein Anzeichen von Big Iwan?« »Noch nicht.« »Die sollen mich mal.« Plötzlich blinkte es auf den Schirmen wie am Times Square zu Silvester. Die schläfrige Stimmung, die den Sonarraum befallen hatte, war wie weggeblasen. Morrison spürte augen blicklich einen Adrenalinschub. »Gütiger Gott. Sonarbojen.« Der Ausdruck von Angst machte sich auf Billie Stewarts Gesicht breit. »Haben sie uns entdeckt?« kreischte er. »Nein«, antwortete Morrison. »Das ist bloß russisches Standardverfahren, wenn Big Iwan rauskommt.« Er knipste seinen Kopfhörer an. »Sonar an Kontrollraum. Aktive Sonare im Wasser.« Im Kommandoraum verfolgten Gunners Augen das Geschehen auf dem Sonar-Repeater. Eine Serie von Gipfeln und Tälern wanderte über den Bildschirm, ein Zeichen, dass klingelnde Sonarbojen aus Hubschraubern abgeworfen wur den. Kalter Krieg hin oder her, ein Taifunboot lief aus dem Hafen von Gremicha aus, und die »Reno« würde das Boot ver folgen, wohin es auch fuhr. »Ich sehe es auf dem Repeater, Chief. Entfernung?« »Fünfzig bis sechzig Kilometer, Skipper. Sieht mir ganz nach einem Standard- Suchmuster aus. Wir sind zu weit weg für sie, als dass sie uns heraushören können. Und wenn sie uns überhaupt auf der Anzeige haben, halten sie uns bestimmt für einen Eiskiel.« »Halten Sie sich fest«, sagte Gunner. »In fünf Minuten ist Big Iwan auf Ihren Schirmen zu sehen.« Morrison schaltete das Mikrofon der Gegensprechanlage aus. »Und wir vielleicht auf seinem«, mahnte er die Operators. »Neues Spiel, neues Glück.« Im ganzen Boot sagten Flüsterstimmen durch: »Alle Mann 187
Achtung! Klarschiff zum Gefecht!« Noch an der Wasseroberfläche warf sich die »Taifun« in die Dünung und bespritzte das Brückenkommando mit kalter Gischt. »Brücke an Kommandoraum. Halbe Fahrt voraus«, befahl Zenko. »Halbe Fahrt, aye.« »Funk an Brücke.« »Was gibt's?« »Hubschrauber melden Unterwasserkontakt, Peilung Null Eins Eins, Entfernung fünfundzwanzig Kilometer. Identifika tion, Akula-Klasse, wahrscheinlich die >Gorki<.« »Sind Sie sicher, was die Position betrifft?« »Ja, Kapitän.« »Brücke an Ruder. Steuern Sie Kurs Null Null Null.« »Kurs Null Null Null, aye.« Ein zweites Geschwader von Hubschraubern dröhnte vor bei, ein Schwarm mechanischer Bienen, an der Unterseite des Rumpfes eine Batterie kugelförmiger Wasserbomben. »Kontrollraum an Sonar«, verlangte Gunner auf der »Reno«. »Wo ist das zweite Akulaboot, die >Minsk« »Sie hat sich nicht gerührt, Kapitän«, antwortete Morrison. »Ich weiß nicht, wo sie steckt, aber wenn sie mit derselben Geschwindigkeit treibt wie wir, kann sie nicht weit von ihrer letzten Position sein. Sie muss etwa vierzig Kilometer weiter südöstlich liegen. Wenn Big Iwan ins Weiße Meer fährt, wird er direkt ihren Bug schneiden.« »Morrison, wie sieht's aus unten im Sonarraum?« »Es stinkt, Sir. Wir könnten etwas Kaffee gebrauchen.« »Dranbleiben, dranbleiben. Big Iwan muss jede Minute auf tauchen.« »Wir werden ihn schon hören, Skipper.« Gunner trommelte mit den Fingern auf dem Sehrohrge 188
häuse. Ein paar Meter weiter stand Trout, rieb sich die Augen und gähnte. Die Besatzung wurde unruhig. »Verflucht«, sagte Gunner. »Was gäbe ich drum, wenn ich ihren Funkverkehr abhören könnte.« Auf der Brücke der »Taifun« gab Zenko Befehl an Sorokin und den Ausguck: »Brücke an Tauchoffizier, Masten einzie hen.« Die Funk- und Radarmasten versanken im Turm. Zenko verharrte einen Moment reglos, sah die See über den Bug wogen. Eine Eisscholle, halb so groß wie das Boot selbst, getrieben von Wind und Strömung, driftete längsseits vorbei. Er verriegelte die Luke und kletterte den Turm hinunter. Der große Navigationsmonitor zeigte eine elektronische Karte der offenen Reede von Gremicha. Ein blinkender roter Cursor markierte die Position der »Taifun«, blaue Lichtpunkte stellten die »Gorki« und die »Minsk« dar. Zenko ließ sich in dem bequemen Kommandanten-Leder sessel nieder und justierte die Helligkeit auf seinen Videoschir men. »Tauchoffizier, melden.« »Alle Lampen zeigen grün.« »Sehr gut. Vordere Ballasttanks fluten.« »Vordere Ballasttanks fluten, aye.« »Neigungswinkel drei Grad.« »Drei Grad runter, aye.« »Große Fahrt voraus.« »Große Fahrt voraus, aye.« Zenko spürte, wie das Deck nach vorne kippte, und beob achtete den Tiefenmesser. Die »Taifun« glitt unter die Wasser oberfläche. Zwanzig, dreißig, vierzig Meter Wasser türmten sich über ihr auf. »Bei fünfzig Meter Tiefe ausrichten.« »Fünfzig Meter ausrichten, aye.« 189
»Sonar, Eisüberwachung einschalten.« »Eisüberwachung eingestellt, aye.« Monitore leuchteten auf, als die Hochfrequenz-Scanner ein geschaltet wurden, die mit geringer Leistung arbeiteten und das Eis abtasteten. »Große Fahrt halten.« »Große Fahrt, aye.« Zenko drehte leicht nach Nordwesten ab, folgte dem von Deminow ausgelegten Kurs und tat genau das, was Kapitän Lorinski in der »Gorki« von ihm erwartete. Im Sonarraum der »Reno« beugte sich Morrison vor, die Ellbogen bohrten sich in die Knie, die Augen tanzten über ein halbes Dutzend Bildschirme. Die »Reno« trieb weiter langsam in der Strömung, was die Techniker zwang, genaue Justierun gen an dem Sonarnetz vorzunehmen. »Konzentriert euch auf die Peilung«, sagte Morrisson. »Genau, genau. Moment. Stop. Frequenzmesser einschalten.« Der Computer filterte die Geräusche der Eisdecke und der See heraus, wonach nur noch ein tiefes, differenziertes, mecha nisch dröhnendes Rauschen übrigblieb. »Das ist er. Er ist abgetaucht«, sagte Morrison und schaltete sein Mikrofon ein. »Sonar an Kontrollraum. Ich habe eine Hohlraumbildung unter Wasser. Big Iwan ist aus seinem Loch hervorgekrochen.« Im Kommandoraum versammelte sich eine Gruppe Neugie riger um den zweiten Sonarschirm und sah einen leuchtenden Punkt über den CRT-Schirm schleichen. Obwohl moderne Technik russische Triebwerke leiser gemacht hatte - ein Taifun verdrängte 30 000 Tonnen, und die Bewegung solcher Wasser massen im Meer ging nicht geräuschlos vonstatten. Bei Tiefen in Flachwasser, unter 120 Meter, schlugen ihre Propeller Hohl räume auf, und die Unterwasserhorchgeräte der »Reno«, um einiges empfindlicher als alle russischen Entwicklungen, nah men jede noch so winzige, von einem Taifun verursachte 190
Geräuschnuance auf. Eine Folge vertikaler Linien wurde vor dem leuchtenden Punkt hergeschoben. »Hochfrequenz, Niedervolt-Eis-Scan ner«, sagte Gunner. »Er macht sich ein Bild, und für uns gleich auch eins. Leutnant Sharpe, lassen Sie zum Schein ein Angriffsprogramm laufen. So eine günstige Gelegenheit krie gen wir nicht alle Tage.« »Aye, aye.« »Er dreht nach Nordwesten«, sagte Trout. »Kurs Drei Vier Null rechtweisend.« »Die >Taifun<, Skipper.« »Zenkos Schiff«, sagte Gunner. »Das kleine Arschloch höchstpersönlich. Und er fährt in die andere Richtung, weg vom Weißen Meer.« Eine halbe Stunde nach dem Auslauf aus Gremicha verkündete der Sonaroffizier der »Taifun«: »Nähern uns dem Eis. Entfernung zweitausend Meter.« Der rote Cursor auf dem Navigationsmonitor bewegte sich entlang einer Linie, die die Randeiszone markierte. Das Bild ging über in eine dreidimensionale Darstellung der Eisdecke direkt über ihnen. In Randnähe war das Eis nur dreißig Zenti meter dick. Brocken lösten sich krachend ab und trieben als kleine Inseln davon. Wind und Strömung drückten unablässig gegen das Packeis, preßten den Rand zusammen und erzeugten einen ungeheuren Druck, der Eisblöcke über Wasser zu Eis kämmen und unter Wasser zu Eiskielen schichtete. Die Verschiebungen und das Krachen der langsam schmel zenden Eisdecke übertönten die leisen Maschinengeräusche und machten es schwierig, jedoch nicht unmöglich, die »Tai fun« zu lokalisieren. Je weiter das U-Boot ins Innere der Pack eismassen vordrang, desto dicker wurde die Decke. Mit einem Meter Eis über und der seichten Barentssee unter ihr, fuhr die »Taifun« stur geradeaus, wie die Goldene Horde, die einst über die Steppe hinwegfegte. 191
An Bord der »Gorki« meldete der Sonaroffizier: »Die >Taifun< nähert sich, Kapitän. Entfernung zwölf Kilometer, abnehmend. Geschwindigkeit zwanzig Knoten.« »Alle Maschinen volle Kraft voraus«, befahl Kapitän Lorinski. Auf parallelem Kurs beschleunigte die »Gorki« langsam, bis sie die Geschwindigkeit der »Taifun« erreicht hatte. Auf der »Reno« brüllte Morrison ins Mikrofon: »Wir haben sie! Sonar an Kontrollraum. Wir haben die >Gorki< auf dem Schirm. Die >Taifun< nähert sich unserer maximalen Reich weite.« »Nicht vom Fleck rühren«, sagte Gunner. »Wenn wir einen haben, geht uns auch der andere nicht flöten, und wir können uns nicht bewegen, solange nicht beide außer Sonarreichweite sind.« Auf der »Taifun« bestellte Zenko die Offiziere und Obermatrosen in den Leninraum. Als er vor den 45 Männern stand und das Schiff, auf den automatischen Piloten geschaltet, weiter auf Kurs blieb, entschloß er sich, Sorokins Rat zu beherzigen und den Männern reinen Wein einzuschänken. »Meine Herren«, sagte er, wobei Kummer in seiner Stimme mitschwang, »ich möchte Ihnen die Order für die >Taifun< vorlesen, so wie sie mir von Admiral Deminow ausgehändigt worden ist.« Er las die kompliziert formulierte Befehlsfolge in ihrer ganzen Länge vor und endete mit dem Abschnitt: »Para graph Siebzehn: Nach Erhalt des Funksignals 77M9 Rakete Sieben starten, Steuerbordsilo, Zielkoordinaten vierundvierzig Grad, fünfzig Minuten Ost, siebenunddreißig Grad, neunzehn Minuten Nord.« Er sah von dem Schriftstück auf und schaute seine Männer an. »Diese Koordinaten gelten für die Stadt Tiflis.« Entsetzen verbreitete sich im Raum wie die Druckwelle nach einer gewaltigen Explosion. Bevor sich die Männer von dem Schock erholen konnten, verkündete Zenko: »Ich habe 192
nicht die Absicht, diese Befehle zu befolgen.« Ein Stimmengewirr brach los. Die Männer fingen an, unter einander zu diskutieren. Zenko bat um Ruhe. »Meine Herren«, sagte er, »wie Sie wissen, wurde die Operation Weißer Stern vom Verteidigungsrat ins Leben gerufen, um einem Bür gerkrieg entgegenzuwirken. Die Union gibt es nicht mehr, und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ist gebeutelt von Unzufriedenheit und Unruhen, aber es gibt keinen Bürger krieg. Ich glaube, Flottenadmiral Walotin und Admiral Demi now haben die Operation gestartet, um einen zweiten Militär putsch zu versuchen. Sie beabsichtigen, die Regierung mit den Raketen der >Taifun< und mit denen der >Sowjetski Sojus<, die bereits auf ihrem Posten im Weißen Meer ist, zu erpressen. Ihr Ziel ist es, die zivile Regierung gegen eine Militärdiktatur auszutauschen. Wenn die Führung in Moskau nicht auf ihre Forderungen eingeht, werden Kapitän Malakow und ich Order erhalten, Raketen abzuschießen. Wie bereits gesagt, werde ich dem nicht Folge leisten, aber ich habe keine Zweifel, dass Kapitän Malakow Atomwaffen gegen unser Vaterland einsetzen wird.« Er machte eine Pause und überflog mit einem Blick den Raum. Er versuchte, in den Gesichtern der Männer zu lesen. Sie kannten Malakow, und er sah, dass sie ihm recht gaben. »Keiner in der Marine glaubt mehr an die Gemeinschaft als ich«, fuhr er fort, »und Atomwaffen gegen eine unserer Repu bliken einzusetzen ist unvernünftig und kann nicht geduldet werden. Flottenadmiral Walotin, Admiral Deminow und Erster Kapitän Malakow meinen, ihre Aktion würde die Union wiederherstellen. Ich glaube, sie sind Machtbesessene, deren Verbrechen für unsere Heimat nur Tod und Vernichtung bedeuten. Männer der >Taifun<, wir werden sie aufhalten. Wir werden mit unserem Schiff kämpfen.« Von allen Seiten prasselten Fragen auf ihn ein, bis er erneut um Ruhe bat. »Sie werden sicher viele Fragen haben«, sagte er, 193
»Zweifel und Befürchtungen, aber wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wenn sich jemand unserem Kampf nicht anschließen will, soll er das jetzt sagen. Es ist nichts Ehrenrüh riges an einem Menschen, der die Courage hat, offen zu reden. Ich bitte Sie, mit mir auf eine gefahrvolle Reise zu gehen. Wir müssen die Gorlostraße durchqueren und möglicherweise gegen die gesamte Nordflotte antreten.« Zenko blickte sich im Raum um, schaute nacheinander jedem ins Gesicht, dem ersten Maschinisten Borzonow, Reak toroffizier Gandanow, Tauchoffizier Ludnow und den Ober matrosen, Computertechnikern, Raketenschützen, Torpedo schützen, Funkern. Plötzlich trat Sorokin vor. Er hob die Faust und sang laut und deutlich: »Dem Himmel ein Abschiedskuß.« Kugarin nahm den Ruf auf und wiederholte Sorokins Worte wie einen heiligen Gesang, dann folgte ein dritter und ein vier ter. Das Leninzimmer bebte von Zenkos Kriegsgeheul. Sein Herz floß über vor Gefühlen, dann hob Zenko beide Arme. Sofort trat Stille ein. »Männer der >Taifun<, besetzt eure Gefechtsposten.«
194
21. Kapitel Täuschung »Fertigmachen zum Manöver«, befahl Gunner. »Sieht so aus, als könnten wir unsere Kreuzfahrt ins Weiße Meer abblasen. Alle Mann auf Manövrierstation.« Die Nachricht, dass die »Reno« aus ihrem Versteck hervor kriechen sollte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Matro sen steckten in Plastik verschweißte Fotos unter ihre Kopfkis sen und bezogen Posten. »Noch fünf Minuten«, sagte Gunner. »Nur noch fünf Minu ten.« Auf der »Taifun« wurden auch die Frischlinge eingeweiht. Sorokin musterte die um den Navigationstisch versammelte Kommandoabteilung. »Einige von Ihnen kennen mich nicht«, sagte er. »Ich habe fünf Jahre auf diesem Schiff gedient, und die letzten fünf Jahre auf anderen Schiffen der Taifunklasse. Mein letzter Standort war die >Sowjetski Sojus<, zusammen mit Matrose Bulgakow. Vergangene Nacht ist Kapitän Malakow mit der >Sowjetski Sojus< in See gestochen, in geheimer Mission, die Regierung zu stürzen. Die Mannschaft war auf Landurlaub. Sie wurde von der GRU aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt. Unser Auftrag lautet, die >Sowjetski Sojus< zu finden und Malakows verräterischen Absichten ein Ende zu setzen. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Malakow total verrückt ist und aufgehalten werden muss. Wir befinden uns nun im Krieg, und ich erwarte, dass Sie sich entsprechend verhalten. Gefechtsposten beziehen!« Verwirrt, aber willfährig nahmen die jungen Matrosen den Befehl entgegegen. Als sie ihre Posten einnahmen, fragte ein Gefreiter Bulgakow: »Stimmt das? Malakow ist verrückt?« Bulgakow nickte altklug. »Die sind alle übergeschnappt«, 195
antwortete er. »Alle miteinander.« Vom Kommandostand aus befahl Zenko: »Torpedoraum, Attrappe in Rohr eins laden.« Die Torpedoschützen luden mit Hilfe einer hydraulischen Hebemaschine eine torpedoförmige Attrappe in das Rohr. Einmal im Wasser ausgesetzt, war die Attrappe darauf pro grammiert, die Geräusche der »Taifun« zu simulieren. »Torpedoraum an Kommandozentrale, Attrappe geladen.« »Programmieren Sie den Torpedo so, dass er unserer mo mentanen Geschwindigkeit und unserem Kurs folgt«, befahl Zenko. »Momentane Geschwindigkeit und Kurs, aye.« Der Waffenoffizier gab die Navigationsdaten in den Bord computer der Attrappe. »Attrappe programmiert und bereit.« »Steuermann, bereitmachen zum Anhalten.« »Bereitmachen zum Anhalten.« »Auf mein Zeichen, alle Maschinen stop und Attrappe abfeuern. Drei, zwei, eins, los.« Die Maschinen wurden abgeschaltet, und gleichzeitig schoß die Attrappe aus der Röhre. »Sonar an Kommandozentrale. Attrappe ausgesetzt, läuft einwandfrei.« »Meldung über die >Gorki<«, bellte Zenko. »Hält Kurs und Geschwindigkeit.« Zenko schaute hinüber zu Kugarin, der auf den Sonarbild schirm starrte. »Was meinst du, Sascha?« Der Politoffizier brachte seine Hoffnung zum Ausdruck. »Die Marinekommandanten sind ausgebildet, ihren Compu tern mehr zu trauen als ihrem Verstand. Wenn der Computer Lorinski sagt, die Attrappe sei die >Taifun<, dann wird er es auch glauben.« Auf dem Bildschirm bewegten sich zwei Leuchtpunkte auf parallelem Kurs stetig Richtung Norden. Die »Gorki« hatte den Köder geschluckt und fuhr Seite an Seite neben der Attrappe. 196
»Ruder, hart rechts«, befahl Zenko. »Alle Maschinen langsame Fahrt voraus.« Die Attrappe täuschte das Sonarsystem der »Gorki«, jedoch nicht das sensiblere an Bord der »Reno«. Auf dem Repeater schirm im Kontrollraum wurden aus den zwei Lichtpunkten drei, und der dritte machte eine scharfe Kehrtwende um 180 Grad und fuhr Richtung Süden. »Manöver einstellen«, befahl Gunner. »Ruhe im Boot. Was geht da vor, verdammt noch mal? Kontrollraum an Sonar. Morrison! Was halten Sie davon?« »Ein Punkt ist eine Attrappe, Skipper.« »Welcher, verfluchte Scheiße?« »Soll ich eine Münze werfen?« »Kommen Sie mir nicht so! Finden Sie's raus.« »Die sind ziemlich weit weg, Kapitän«, sagte Morrison, »aber ich glaube, der Punkt, der umkehrt, auf uns zu, ist das UBoot. Ich glaube, die haben eine Attrappe losgelassen, um die Akula zu täuschen.« »Wieso? Aus welchem Grund?« fragte Gunner. »Wahrscheinlich ist es eine Übung, Skipper. Zenko will die Kommandanten der Angriffs-U-Boote auf die Probe stellen. Schade, dass wir ihn nicht einfach fragen können.« »Hat sich die >Minsk< gerührt?« »Keinen Finger breit«, antwortete Morrison. »Ich habe kei nen Muckser gehört, aber sie ist da, Skipper, auf jeden Fall. Ich kann sie förmlich riechen.« Eine Stunde lang verfolgte die »Gorki« denselben Kurs wie die Attrappe. Als die Batterien, die die Attrappe speisten, ver braucht waren, starb der Elektromotor ab, und der Torpedo sank. Der Sonaroffizier meldete Kapitän Lorinski, die »Taifun« sei verschwunden. Lorinski erhob Einspruch. »Ein U-Boot verschwindet nicht einfach so, es sei denn, sein Kommandant läßt es verschwin den.« 197
»Ich widerspreche Ihnen nur ungern«, sagte der Offizier, »aber die >Taifun< hat sich aufgelöst. Sie ist nicht mehr auf dem Bildschirm.« Lorinski zögerte keine Minute. »Geschwindigkeit auf lang same Fahrt voraus, starten Sie ein Suchfeld, und halten Sie nach dünnem Eis Ausschau«, befahl er. »Wir tauchen auf und schicken Gremicha einen Funkspruch.« In Gremicha hielt sich Admiral Deminow in der Nachrichtenzentrale auf und stellte Major Riziow einer Gruppe Stabsoffiziere aus Poljarny vor. Einen ganze Stapel Funkbefehle in der Hand, war Riziow überwältigt von den Ausmaßen der Operation Weißer Stern. Gewöhnlich unterhielt die Nachrichtenzentrale nur zu zwei bis drei Schiffen gleichzeitig Funkkontakt, aber die Nordflotte schickte sich an, mehrere Geschwader von U-Booten und Überwasserschiffen ausschwärmen zu lassen. Ein Techniker kam aus dem Funkraum gerannt. »Eine ver schlüsselte Meldung von der >Gorki<«, sagte er außer Atem zu Deminow. »Nur für Sie bestimmt.« Deminow ging mit dem Durchschlagpapier in den Codier raum und schloß die Chifiriermaschine auf. Einen Augenblick später lief er hochrot vor Zorn an und ließ eine Schimpfkano nade gegen die Wände der schalldichten Kammer los. Er stürmte aus dem Codierraum in Zenkos Büro und rief über eine an das Verschlüsselungsgerät angeschlossene Sicherheits leitung Walotin in Sankt Petersburg an. »Admiral«, sagte er, wobei er versuchte, seine Erregung zu verbergen, »Zenko hat uns verraten. Er ist der >Gorki< entwischt. Weiß der Himmel, was er vorhat, vielleicht will er durch die Gorlostraße entkom men und die >Sowjetski Sojus< verfolgen. Jedenfalls müssen wir Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Dieser Scheißkerl«, zischte Walotin. In der Leitung herrschte ein paar Sekunden Stille. »Suchen Sie ihn und vernichten Sie ihn«, befahl Walotin schließlich. 198
»Unverzüglich. Und mit minimalem Aufwand. Minimaler Aufwand, haben Sie mich verstanden. Wir müssen das geheimhalten. Der Verteidigungsrat darf auf keinen Fall erfahren, dass etwas schiefgelaufen ist mit Weißer Stern.« »Wir können die >Taifun< in Pulonga stoppen«, sagte Deminow. »Durch die Meerengen kommt kein Taifunboot, nicht mal Zenko.« »Minimaler Aufwand«, wiederholte Walotin. »Keine Hub schraubergeschwader. Wir können nicht alle Radarschirme zwischen Gremicha und Moskau aufflammen lassen.« Deminow knallte den Hörer auf. Er hatte Zenko entwischen lassen. Wenn dieser Putsch wieder scheiterte, würde sein Kopf als erster rollen. »Major Riziow«, brüllte er. »Funkspruch an die >Gorki<. Sagen Sie Lorinski, er soll zur Gorlostraße fahren. Dann Meldung an Kutsnetsow auf der >Minsk<. Sagen Sie ihm, dass Zenko mit der >Taifun< womöglich die Gorlostraße ansteuert. Der Scheißkerl wird noch wünschen, niemals ein U-Boot von innen gesehen zu haben. Oberst Ludinow, rufen Sie Ihre Sicherheitstruppe zusammen. Sie besetzen die Sonarstation in Pulonga. Ich selbst spreche mit der Hubschrauberbesatzung.« Er wandte sich an seine Stabsoffiziere und sagte: »Meine Herren, wir haben unsere erste Krise.« Die Südströmung schob die »Reno« und ihr Eisversteck immer weiter aufs Weiße Meer zu. Schließlich klickte es auf dem Inertialnavigationsschirm, und die einzugebene Peilung lautete: 68 Grad, 20 Minuten nördlicher, 40 Grad, 10 Minuten östlicher Breite. »Wir haben die Linie überschritten«, verkündete Trout. »Wir befinden uns in russischem Binnengewässer.« »Jetzt dürfen wir uns auf keinen Fall mehr rühren«, entgeg nete Gunner. »Big Iwan sitzt uns im Nacken.« Durch das Herannahen der »Taifun« waren die Amerikaner 199
wie gebannt. Das russische U-Boot hatte einen weiten, geschwungenen Bogen beschrieben, den entgegengesetzten Kurs eingeschlagen und war parallel zur Schiffsroute zurück gefahren, die zur Gorlostraße führte. Der Lichtpunkt der »Gorki« war auf den Bildschirmen erloschen und musste von nun an wie die »Minsk« als Unbekannte in einer gefährlichen Situation gelten. Die »Taifun« hielt auf die Straße zu, und die »Reno« trieb mitten in einen Aufmarsch der U-Boote der rus sischen Nordflotte. Im Sonarraum liefen Tonbandgeräte, Bildschirme flimmer ten. »Nicht atmen, nicht niesen, nicht aufstoßen«, flüsterte Morrison den Technikern zu. »Ein geübter Arm könnte Big Iwan mit einem Steinwurf treffen.« Er schaltete die Gegen sprechanlage ein und sagte: »Sonar an Kontrollraum. Die >Tai fun< passiert fünf Kilometer Backbord voraus. Sie läuft sehr leise, Skipper.« Gunner spürte eine Beklemmung in der Brust. Die »Taifun« war so nahe, dass er die Hand ausstrecken und sie berühren wollte, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich da war. Die »Taifun« glitt vorbei, von dem amerikanischen U-Boot hatte sie scheinbar nichts bemerkt. Bis hierher hatten Ruhe und Geschick die »Reno« vor Entdeckung geschützt, aber wie lange noch? Der russische VLF-Funkverkehr nahm zu. Gunner vermutete, dass Gremicha mit der »Gorki« und der »Minsk« in Verbindung stand, wahrscheinlich auch mit der »Taifun«, aber es gab keine Möglichkeit, ihre Funksprüche zu dechiffrieren. Er schloß die Augen und sah blaue Lichter, atomare Seeun geheuer und die geheimnisvolle Gestalt von Stefan Zenko. Nach zwei Stunden langsamer Fahrt erreichte die »Taifun« einen Punkt 25 Kilometer vom Kap Orlow-Terski Tolstoi, anderthalb Kilometer von der Schiffahrtsroute durch die Gor lostraße entfernt. Zenko befahl alle Maschinen stop, und die »Taifun« schwebte unweit der Westküste der Gorlostraße, im sogenannten »Rachen«, dem gefrorenen Wasserweg zwischen 200
der Barentssee und dem Weißen Meer. An der schmalsten Stelle vor Pulonga, 43 Kilometer in der Ausdehnung, gefror die Gorlostraße als erste und taute als letzte wieder auf. Während des kurzen eisfreien Sommers passieren die U-Boote unter Wasser; im Winter, wenn zwei Meter dickes Eis die Straße versperrt, folgen die U-Boote atomgetriebenen Eisbrechern. Zenko trat in den Sonarraum und studierte noch einmal genau das Sonarbild der Eisdecke, das gleich nach dem Auslaufen aus Gremicha gemacht worden war, eine dreidimensionale Darstellung dichten Packeises, das mit einer Geschwindigkeit von drei Knoten nach Süden driftete. »Tauchoffizier, bring uns nach oben.« Tauchoffizier Ludinow drückte ein paar Kommandoknöpfe an seinem Steuerpult, und der Tauchcomputcr machte sich an die Arbeit. Mit Hochdruck ausgeblasene Luft preßte das Meer wasser aus den hinteren und vorderen Ballasttanks heraus. Das Hochfrequenz-Sonarnetz schickte die Information an den Computer weiter, der sofort automatisch Dutzende von Trimmtanks zwischen der äußeren und inneren Hülle regu lierte. Die »Taifun« stieg langsam auf und schmiegte sich an die Unterseite der Eisdecke. Zenko warf einen Blick auf das Chronometer. »Sonar«, befahl er, »achten Sie auf Eisbrecher. Die >Arktika< muss jeden Augenblick aufkreuzen.« Im Kontrollraum der »Reno« ertappte sich Gunner bei dem Gedanken an General Custer am Little Big Horn. Custers Nie derlage hatte das Opfer der Amerikaner veredelt, einen mäch tigen Feind aufgedeckt und die Eroberung des Westens gerechtfertigt. Der Verlust der »Reno« unter dem arktischen Eis enthielt nichts Edles. Ein plötzlich aufflammender Kampf zwischen zwei U-Booten beschwor längst nicht mehr das Schreckensbild eines Dritten Weltkriegs herauf. Und dennoch spielten sie hier die abgedroschenen Rollen des Kalten Krieges, mit dem Gedanken an eine Katastrophe, die letzten Endes 201
überhaupt nichts bedeutete. Menschheitsbedrohende U-Boote, Custers letztes Gefecht, mieser Kaffee aus dem Mikrowel lenherd, arktisches Eis - was für ein Leben. Gunner blickte zu Trout hinüber, der seit Stunden die Augen nicht vom Sonar schirm abgewendet hatte. »Sind die Red Sox dies Jahr dein Lieblingsverein?« fragte er leise. Trout sah sich kein Baseball an, und Gunner wußte das. Ohne von den Schirmen aufzuschauen, sagte er: »Laß den Scheiß, Jack.« »Machst du dir Sorgen wegen der Russen?« fragte Gunner mit einem spöttischen Unterton. »Sie wissen nicht mal, dass wir hier sind.« »Bist du dir da so sicher?« »Ja, aber wenn Zenko gegen uns ist, ist das Spiel aus, und ich lag falsch.« »Ein Scheißversteckspiel ist das«, sagte Trout. »Diese russi schen Schiffe brauchen nur ihr Angriffssonar anzuwerfen, und schon können sie sich ein hübsches Bild von der >Reno< machen.« »Dann haben sie eben Glück gehabt, und wir vertrauen auf eine schalldichte Schicht, auf das Eis und auf defekte russische Sonargeräte. Ich würde sagen, die Chancen stehen gleich.« Kapitän Boris Kusnetsow an Bord der »Minsk« las den Funkspruch aus Gremicha und fluchte mächtig. Zenko hatte direkt Kurs auf die Barentssee gehalten, als er untergetaucht war. Wahrscheinlich fuhr die »Taifun« auf Kusnetsows Sektor zu. Kusnetsow war Erster Kommandant der Nordflotte, hatte Deminows Aufruf zur Unterstützung der Union als erster unterschrieben und sich bereit erklärt, die Straße zu bewachen. Die Aussicht, die »Taifun« zu versenken und Zenkos steile Karriere zu zerstören, bereitete ihm kein sonderliches Vergnügen, aber er sagte sich, dass kein Offizier sich über die Marine erheben dürfe, und die Marine, so glaubte er, stehe 202
geschlossen hinter der Union. Wenn Zenko versuchen sollte, die Meerenge zu kontrollieren, würde er zu Tode kommen. Die Richtlinien der Nordflotte schrieben vor, dass die Boote der Taifunklasse mit ihren ungeheuren Ausmaßen einen Eis brecher benötigen, um sie durch die Meerenge zu lotsen. Um die Sicherheit zu gewährleisten, wurde die zivile Schiffahrt nie von der Anwesenheit von U-Booten in der Meerenge und der weiteren Umgebung unterrichtet. Zenko musste sich in das Kielwasser eines der drei oder vier Eisbrecher einschleusen, die jeden Tag durch die schmale Wasserstraße fuhren. »Kommandant an Sonar«, befahl Kusnetsow. »Eisbrecherwache postieren. Zenko wird keine Zeit vergeuden. Er wird dem erstbesten Brecher durch die Straße folgen, und die >Arktika< muss gleich kommen.« Kusnetsow studierte die Anzeigen auf seinen Sonarschir men. Seine Befehle waren klar, der Plan einfach. Wenn die »Taifun« seinen Bug kreuzte, wahrscheinlich nur zehn Kilometer entfernt, würde er ihren Schutzschirm achtern durchbrechen und ihr folgen. Wenn alles nach Plan ging, war die Sonarverteidigung in Pulonga instruiert und hielt sich bereit. U-Boot-Abwehrhubschrauber würden einen ersten Vorstoß versuchen. Sollte die Artillerie der Helikopter die Eisdecke nicht durchbrechen, hatte Kusnetsow Anweisung, die »Taifun« mit Torpedos zu vernichten. In Gremicha eilten Deminow und Oberst Ludinow von der Basis hinüber zum Landeplatz. In der Halle für Hubschrauber besetzte Ludinow eine Maschine mit einer Spetsnaz-Elite truppe, während Mechaniker unter einem kleineren Kampf hubschrauber kugelförmige Wasserbomben und zwei Torpe dos vom Typ 533 montierten. Im Normallfall hätte Deminow Dutzende von Abwehrhub schraubern und Starrflügelluftfahrzeugen zur Lokalisierung und Zerstörung eines U-Boots eingesetzt, aber Walotin hatte auf minimalem Aufwand bestanden. Unter diesen Umständen 203
hatte er eine Besatzung aus den erfahrensten Männern des Abwehrhubschraubergeschwaders zusammengestellt. Drei junge Männer im Kampfanzug standen in der Halle und muss ten sich von einem ihnen nicht weiter bekannten Admiral erzählen lassen, die Welt stehe in Flammen. In tiefernstem Tonfall sagte Deminow: »Genossen, wir haben es mit einer Krise zu tun, die die nationale Sicherheit unseres Landes bedroht. Seit über dreißig Jahren hat die Flotte strategische U-Boote im Einsatz, die mit Atomraketen bestückt sind. Die Kommandanten dieser Schiffe erfreuen sich bei allen Offizieren unserer Streitkräfte höchsten Vertrauens. Es ist meine traurige Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu set zen, dass einer der Kommandanten dieses Vertrauen miß braucht hat. Wir haben einen Verbrecher unter uns. Um es deutlich zu sagen, einer der Kommandanten dieses Marine stützpunktes ist durchgedreht und bedroht unser Land mit bal listischen Raketen.« Ganz Aufmerksamkeit, Tee trinkend und billige Zigaretten rauchend, scharrten die Flieger mit den Füßen am Boden und tauschten vielsagende Blicke aus. Zenko? Malakow? Alle beide? »Zum ersten Mal«, setzte Deminow seine Ansprache fort, »werden Sie ein U-Boot versenken, und wenn Sie Ihre Arbeit erledigt haben, werden Sie Orden erhalten, die Sie niemals anlegen dürfen. Sie werden mit niemandem über diese Mission sprechen, weder mit Ihren Vätern noch mit Ihren Frauen. Wir werden keinen allgemeinen Alarm auslösen. Sie allein werden den Piraten ausfindig machen und versenken. Sie stehen unter dem Kommando von Oberst Ludinow, der von der Sonarsta tion in Pulonga aus operiert. Viel Glück und eine erfolgreiche Jagd.« Deminow verabschiedete sich mit einem Handschlag von jedem einzelnen Soldaten. Die Mechaniker meldeten den Hub schrauber einsatzbereit, und die kleine Armada hob ab zum 204
kurzen Flug nach Pulonga, hundert Kilometer südlich, an der Küste der Gorlostraße.
205
22. Kapitel Minsk Alle fünfzehn Sekunden hob sich der mächtige Rumpf des atomgetriebenen Eisbrechers »Arktika« und fuhr wie der Hammer Thors auf die dicke Eisdecke der Gorlostraße nieder. Auf den Sonarschirmen der »Taifun«, der »Minsk« und der »Reno« machte sich das als ein und derselbe rhythmisch blin kende Lichtpunkt bemerkbar. Die drei bildeten auf dem letzten Abschnitt der Großen Nordmeerroute von Wladiwostok aus einen Konvoi, geführt von der »Arktika«, die mit stattlichen sechs Knoten Archangelsk ansteuerte. In der Kommandozen trale der »Taifun« verfolgte Zenko gespannt das Geschehen auf dem Sonarschirm. In seinen Augen war jedes Wasserfahrzeug, das ungestraft gegen die Eisdecke antreten konnte, ein mächti ger Feind, der Respekt verdiente. Der nördliche Ozean gehörte den Eisbrechern. »Sorokin«, sagte er, »stellen Sie mir den gro ßen Schirm auf die Gorlostraße ein.« Die elektronische Karte wechselte vom Weißen Meer im kleinen Maßstab zur Gorlostraße im größeren Maßstab. Der blinkende rote Cursor zeigte an, dass das U-Boot und die Eis decke über ihm vierhundert Meter weitergetrieben waren, seit sich die »Taifun« in ihr Nest verzogen hatte. »Sonaroffizier«, kommandierte Zenko, »füttern Sie den Navigationscomputer mit der Position und dem Kurs der >Arktika<.« Die passiven Sonargeräte im Bug des Schiffes schickten die Maschinengeräusche des Eisbrechers und des Geleitzugs an den Computer, der die Signale verarbeitete und das lärmende Aufbrechen der Eisdecke herausfilterte. Vier gelbe Punkte, die langsam sich vortastende »Arktika« und der Konvoi, tauchten auf dem Bildschirm auf. »Geben Sie jetzt dieselbe Information an die Torpedoat 206
trappe weiter. Einmal hat es funktioniert. Vielleicht klappt es noch mal. Wir stellen die Attrappe so ein, dass sie dem letzten Schiff folgt, >Tamir<. Wir selbst beschleunigen langsam und scheren aus ins Weiße Meer.« An Bord der »Minsk« verfolgte Kusnetsow auf seinem Sonarschirm, wie der Eisbrecher durch die Treibeisschollen der Gorlostraße stampfte. »Wenn Zenko tatsächlich hier durchkommt, dann ist jetzt die beste Gelegenheit für ihn. Bleiben Sie auf der Hut, Sonaroffizier. Kann sein, dass Sie jeden Moment die Maschinengeräusche der >Taifun< im Ohr haben.« Im Kontrollraum der »Reno« beobachtete Gunner das Herannahen der Schiffe wie ein Bergsteiger eine auf ihn zukommende Lawine. Wenn Zenko sich nach den Gepflogenheiten der russischen Marine richtete, würde die »Taifun« hinter dem letzten Schiff im Konvoi zurückbleiben. Gunner würde die »Reno« in die Leitbleche der »Taifun« lenken und die Kombüse am Ende des Geleitzugs bilden. Zeit für eine Überprüfung der hygienischen Verhältnisse, sagte er sich. »Was haben diese Russen bloß vor?« fragte er Trout. »Da bin ich überfragt, Skipper«, antwortete Trout, die Augen auf den Schirm geheftet. »Und wo zum Teufel steckt die >Minsk« »Attrappe abfeuern«, befahl Zenko. Hydraulischer Druck schob das lange, schmale Projektil leise aus der Torpedoröhre. Die Attrappe, angetrieben von geräuscharmen Elektromotoren, glitt südlich auf den Schiff fahrtskanal zu und fing drei Minuten nach dem Start an, Geräusche auszusenden, die den Maschinenlärm der »Taifun« simulierten. 207
»Kontakt«, sagte der Sonaroffizier auf der »Minsk«. »Es ist die >Taifun<.« »Computertest laufen lassen«, befahl Kusnetsow. »Der Computer hat die >Taifun< identifiziert, Kapitän.« Kusnetsow legte sich nicht mit Computern an. Das Leben war sicherer auf diese Weise. »Alle Maschinen langsame Fahrt«, befahl er. Die »Minsk« vollführte eine langsame Drehung, die sie direkt hinter den als »Taifun« identifizierten Kontakt brachte. »Sonar an Kontrollraum«, sagte Chief Morrison. »Wir haben zwei Kontakte. Einer ist ganz sicher als die >Minsk< identifiziert, bei dem anderen bin ich mir nicht so sicher, Skipper. Der Computer meint, es ist die >Taifun<, aber ich glaube, es ist nur eine Attrappe.« »Warum, Morrison?« fragte Gunner. »Er läuft zu gleichmäßig. Sehen Sie sich die Linie auf dem Schirm an, Kapitän, gleichförmig wie ein Stein im freien Fall. Kein U-Boot fährt so in seichtem Wasser unter Eis. Und jetzt sehen Sie sich das nachfolgende Schiff an, das läuft nicht so gleichmäßig. Das vordere ist eine kleine Attrappe, das hintere ist ein wesentlich größeres Wasserfahrzeug.« »Warum«, wollte Gunner wissen, »tut die >Minsk< dann so, als wäre der Leitkontakt die >Taifun Der Kapitän müßte den Unterschied doch erkennen.« »Über Geschmack läßt sich nicht streiten«, sagte Morrison. »Vielleicht gehört es zu einem Manöver, und er soll einer Attrappe folgen.« »Was meinen Sie, Gus?«, fragte er Trout. »Ich meine, wenn ich das Atmen sein lassen könnte, würde ich aufhören zu atmen.« Ein scharfer Wind wehte über die Straße, peitschte den Schnee von der Eisdecke und erweckte den Eindruck eines Schneesturms. Eine blasse Sonne schien auf die »Arktika« und 208
ihren mit schwerem Ölbohrgerät und einem zerlegten japanischen Sägewerk beladenen Geleitzug. Die »Arktika« fraß sich durch das Eis, ihre Mission eine des friedlichen Handels, während unter ihr, unsichtbar und leise, wie die Kehrseite einer gespaltenen Persönlichkeit, tödliches Kriegsgerät verbracht wurde - und mit ihm Konflikte und Tragödien. Beim Lotsen des letzten Schiffes in die Meerenge beobach tete der Seekapitän der »Tamir«, wie plötzlich ein Angriffshub schrauber vor dem Schiffsheck auftauchte. Als ehemaliger Marinesoldat erkannte er sofort die unter dem Fluggerät mon tierten Waffen zur U-Boot-Abwehr und wußte, was das zu bedeuten hatte. »Taifunboote«, sagte er zu seinem Obersteuermann. »Wieder mal Kriegsspiele.« Fünfzehn Kilometer westlich von der Position der »Taifun« landete Oberst Ludinows Helikopter, unweit des jakutischen Fischerdorfes Pulonga an der Nordküste der Gorlostraße. In einer Niederung neben dem Dorf lag ein von der Marine not dürftig errichteter Unterstand, vollgestopft mit elektronischen Apparaten. Ludinow führte den Elitetrupp der Spetsnaz in das Quartier und stieß dort auf den kommandierenden Leutnant Igor Tarinski. Ein Generator für die elektrische Heizung war ausgefallen, und die Temperatur im Innern lag nur gering über dem Gefrierpunkt. Ludinow zog sich eine Pelzkappe über die Ohren und hauchte sich in die behandschuhten Hände. »Wir befinden uns in einer heiklen Situation, Leutnant«, sagte er zu Tarinski. »Einer unserer Taifun-Kommandanten ist durchgedreht und versucht, durch die Straße zu entkommen. Wir werden ihn gleich hier an Ort und Stelle vernichten, aber wir müssen streng auf Sicherheit achten.« »Ja«, sagte Tarinski, der sich seinen Schock nicht anmerken ließ. »Wir haben Order vom Flottenhauptquartier, jedes UBoot an der Durchfahrt zu hindern, aber man hat uns nicht gesagt, warum.« 209
Ludinow trat vor die Regale mit der Funkausrüstung. »Als erstes erstellen Sie mir einen chiffrierten Sicherheitskanal nach Gremicha.« »Ja.« Einen Augenblick später hatte Ludinow Deminow in der Leitung von Zenkos Büro. »Irgendwelche Kontakte?« fragte der Admiral, dessen Stimme durch die Frequenzverwerfung verzerrt klang. »Nein, noch nicht.« »Halten Sie diese Leitung frei.« Ludinow ging unruhig hin und her, bedrängte den Funker, den Radar- und Sonaroperator, ihre Geräte zu bedienen, trotz ihrer halb erfrorenen Finger. Die Anwesenheit des Sicherheits chefs der Nordflotte wirkte einschüchternd und ließ ihr Herz rasen. Der Boden der Straße war übersät mit Minen, die deakti viert wurden, sobald ein Eisbrecher mit Geleitzug passierte. Neben den Minen waren dort unten ein gutes Dutzend Sonare verankert, die bei den strengen Wasserverhältnissen launisch reagierten. In Küstenbatterien standen Minenwerfer bereit, aber deren Granaten würden nur Löcher ins Eis ballern, ohne Wirkung auf die Schichten darunter. Ludinow war klar, dass die Verteidigung der Straße auf dem einzigen Angriffshubschrauber aus Gremicha und auf den Torpedos an Bord der »Minsk« ruhte. »Oberst«, verkündete der leitende Sonaroffizier der Station, »Eisbrecher >Arktika< ist mit einem Geleitzug von drei Schiffen in die Meerenge eingefahren. Hinter dem letzten Schiff möglicher Unterwasserkontakt.« Ludinow nahm erneut den Hörer auf und gab die Meldung an Deminow in Gremicha weiter. »Das ist er«, sagte Deminow mit einem Anflug von Triumph in der Stimme. »Das ist die >Taifun<. Nur Zenko glaubt, er könne ein Taifunboot unbe merkt durch die Gorlostraße schmuggeln. Geben Sie mir Leut 210
nant Tarinski.« Als Tarinski Deminows Stimme hörte, nahm er instinktiv Haltung an. »Admiral«, sagte er, »wir haben keine absolut positive Identifizierung. Gibt es noch andere U-Boote da unten?« »Es ist die >Taifun<«, erklärte Deminow voller Überzeu gung. Tarinski warf einen Blick auf den Sonarschirm, sah hinüber zu dem mißmutig gestimmten Ludinow und fragte sich, warum er hier überhaupt ein fachliches Urteil abgab. »Sollen wir das Minenfeld aktivieren?« »Nein«, sagte Deminow. »Minen würden die >Arktika< und den Konvoi versenken und die Straße auf Monate hinaus blok kieren. Geben Sie mir wieder Oberst Ludinow.« »Ludinow hier, Admiral.« »Geben Sie Order an die >Arktika< und die anderen Schiffe, weiterzufahren, egal was passiert, und Funkstille einzuhalten. Lenken Sie alle Frequenzen außer den Sicherheitsleitungen in den Hubschrauber und zu mir.« »Ja. Verstanden. Ich halte Sie auf dem laufenden.« Ludinow stellte das Telefon wieder an seinen Platz und wandte sich an Tarinski. »Geben Sie Order an den Hubschrau ber, ein Tauchsonar abzuwerfen und den Kontakt zu verifizie ren.« »Ja.« Ludinow sehnte sich nach einer Zeit, in der sich die Menschen mit Kanonen bekriegten, die auf die im Wind flatternde Regimentsfahne des Gegners abzielte. Im Kampf gegen einen Feind, dem er nicht ins Auge sehen konnte, auf elektronische Apparate angewiesen zu sein, war ihm verhaßt. Trotz der Kälte gab er einem der Soldaten der Elitetruppe ein Zeichen, ihn nach draußen zu begleiten. Übereinander geschichtete Eisschollen und Nebel lagen über dem Küstenstreifen. Ludinow ging den felsigen Strand entlang, trat 211
gegen das Eis und redete vor sich hin, zur Bestürzung seines dick eingehüllten Begleiters. »Du sitzt in der Falle, Zenko. Daraus gibt's kein Entkom men«, rief er in den Wind. »Wie bitte, Genosse Oberst?« fragte der Soldat höflich nach. »Dieser Schweinehund«, zischte Ludinow. Die Wache schwieg lieber und hielt respektvoll Abstand. »Reichen Sie mir Ihr Gewehr«, befahl Ludinow. Der Spetsnaz legte seine Kalaschnikow ab. Ludinow über prüfte den Ladestreifen, entsicherte mit einem Schnippen und ballerte dreißig Schuß ins Eis. Das Geschützfeuer hallte über die gefrorene See wider. »Ich hasse Eis«, sagte Ludinow und reichte dem entsetzten Soldaten die Maschinenpistole zurück. »Sie nicht?« Die Tür der Hütte sprang auf und Männer kamen herausge rannt. Stimmen hingen über den Felsen: »Oberst?« »Nichts! Nichts! Es ist nichts!« schrie Ludinow zurück. Der Soldat starrte ihn an, im Kopf rechnete er aus, wie viele Tage sein Wehrdienst noch dauerte. In Afghanistan hatte er schon zusammen mit Verrückten gedient, und von diesem Wahnsinnigen hier hatte er genug. Ludinow kehrte zurück in die Hütte. Der Radarschirm zeigte den Eisbrecher und den Konvoi und die Hubschrauber, die über der Straße in der Luft schwebten. »Störsender in Betrieb«, sagte der Funkoffizier. Die Spannung in dem eiskalten Unterstand stieg sofort an. In den aufblinkenden roten Lämpchen auf den Chronometern spiegelten sich die Gesichter der Männer wider, die erste Müdigkeitserscheinungen in der Kälte zeigten. Der Soldat, der mit Ludinow nach draußen gegangen war, stand in der Ecke und fragte sich, ob der Admiral hier seine große Schau abzie hen und auf die Bildschirme schießen würde. Das wäre doch was gewesen, was er den Kameraden in Poljarny hätte erzählen können. 212
»Hubschrauber meldet positiven Kontakt!« rief der Funkof fizier. Ludinow eilte vor den Bildschirm. Mit Hilfe der Daten vom Hubschrauber machten die Sonartechniker Maschinengeräu sche eines U-Bootes im Kanal Richtung Süden aus. Wind, das Krachen der Eisdecke und vier Oberwasserschiffe trugen zu der allgemeinen Störung bei und vermittelten nur ein vages Bild von einem U-Boot. Innerhalb von Sekunden tauchte es mal vor oder hinter sich selbst, dann sogar als Reflexbild auf. »Es könnten zwei verschiedene Kontakte sein«, meinte der Sonaroffizier. »Ich kriege kein klares Bild. Die Eisverhältnisse sind sehr schlecht.« »Hören Sie einen Propeller oder zwei?« fragte Tarinski. Ein Taifunboot hatte zwei, ein Boot der Akula-Klasse nur einen Propeller. »Das kann ich nicht sagen.« Ohne die erhoffte positive Iden tifikation sah der Sonaroffizier hinüber zu Tarinski, aber der Leutnant zuckte nur mit den Schultern und schwieg. Ludinow schnappte sich den Telefonhörer. »Positiver Kon takt, Admiral.« Deminow in Gremicha spürte förmlich die Falle zuschnap pen. »Ist der Hubschrauber auf seinem Posten?« »Ja.« Deminow wußte um das Risiko und hegte einen Moment Zweifel. Kusnetsow hätte die »Minsk« nicht in die Straße geleitet, wenn er nicht der »Taifun« folgte, und die Sonare in Pulonga müßten zwei Unterwasserkontakte anzeigen. Aber auf die Sonare war kein Verlaß. Er konnte der »Minsk« befehlen aufzutauchen und dann abwarten, aber wenn sich die »Taifun« bereits im Geleitzug befand, würde Zenko entkommen. Der Sonaroffizier an Bord der »Minsk« hatte jetzt auch Zweifel, was den vom Computer als »Taifun« identifizierten Kontakt betraf. Der Kontakt war auf neunzig Meter Entfernung vom letzten Schiff im Konvoi herangekommen und schickte 213
sich an, unter dessen Heck abzutauchcn. Dafür war ein Taifun boot jedoch viel zu groß, oder nicht? Der Offizier sagte nichts, und die »Minsk« kroch weiter vorwärts. »Feuer!« befahl Deminow. »Feuer!« kommandierte Ludinow. »Feuer!« wiederholte der Funkoffizier für die Hubschrau berbesatzung. Im Hubschrauber drehte sich der Pilot zu dem Sonar- und Waffenoffizier auf dem Rücksitz um. »Los geht's.« »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir Zenko kaltstellen«, sagte der Waffenoffizier, »wenn es stimmt.« »Halt die Klappe, Michail. Du sollst deine Arbeit tun, sonst nichts.« Auf der Brücke der »Tamir« sahen Offiziere und einfache Matrosen ehrfürchtig erstaunt zu, wie ein einsamer Hub schrauber auf die zerbostene Eisdecke in ihrem Kielwasser zuhielt und kleine kugelförmige Bomben abwarf. Der Kapitän zündete sich eine Pfeife an. »Muss ein Amerikaner sein, der versucht, sich ins Weiße Meer zu mogeln«, sagte er mit leisem Abscheu. »Deswegen haben sie den Funkverkehr gestört.« »Ich dachte, der Kalte Krieg sei vorüber«, sagte der Ober steuermann. »Das sind Wasserbomben«, meinte der Kapitän und zog an seiner Pfeife. »Ich glaube nicht, dass die Marine dazu überge gangen ist, Fische zu töten.« Die erste Wasserbombe traf den Turm der »Minsk«, prallte ab, explodierte einen Meter vor der Steuerbordseite und zerstörte drei Hydrophone. Das Trommelfell des Sonaroffiziers platzte, er schrie wie am Spieß, riß sich den Kopfhörer runter und wälzte sich vor Schmerz auf dem Boden. Die Mannschaft, bestehend aus jungen Gefreiten, geriet in Panik. Die Disziplin in der Kommandozentrale löste sich in einen Tumult auf. Verschreckte Männer liefen Amok. In dem 214
allgemeinen Durcheinander stolperte jemand über ein Sonar pult, riß dabei ein Stromkabel aus und hüllte damit das gesamte U-Boot in Finsternis. Selbst kurz davor, in Panik zu geraten, kreischte Kusnetsow: »Notaufstieg! Strom wieder einschalten!« Die zweite Bombe explodierte oberhalb des Hecks, riß Ruder und Propeller aus ihrer Verankerung und durchstieß den Druckkörper. Wasser quoll in den Maschinenraum. Schaltun gen zischten, an mehreren Stellen brachen Brände aus, und schwarzer Rauch füllte die Abteilung. In der Kommandozentrale schaltete das Notstromaggregat die Lichter wieder ein. »Notdienst. Alle Tanks anblasen.« Der Tauchoffizier behielt einen kühlen Kopf und drückte ein paar Knöpfe auf seinem Steuerpult. Hochdruckluft zwang den Ballast aus den vorderen Ballasttanks, aber die Hecksteuerun gen versagten. Der Bug hob sich leicht und rammte die Ober fläche aus gebrochenem Eis wie ein wildgewordener Wal. Männer und Gerät rutschten nach achtern. Kusnetsow robb te zur Sonarstation vor, stieg über den bewußtlosen Sonaroffi zier und schaute auf den einzigen funktionierenden Schirm. Der Kontaktpunkt, dem er gefolgt war, bewegte sich ungerührt weiter nach Süden hinter dem Konvoi her und war schon fast durch die Meerenge hindurch. »Zenko!« brüllte er. »Funker! Sag Bescheid, sonst entwischt uns die >Taifun
war bei dem Getöse nicht zu hören. Der Kapitän warf sich auf die Leiter, die in den Turm führte. In der Spitze des Turms drängten sich ängstlich Matrosen. »Luke öffnen!« Keiner rührte sich vom Fleck. Kusnetsow stieß die Männer beiseite und drehte an dem Verschluß. Wasser strömte herein, die Männer schrien und wurden zurück ins Boot geworfen. Der Bug sank bereits, als Kusnetsow durch das eisige Wasser nach oben trieb. »U-Boot an der Oberfläche«, rief der Radaroffizier in Pulonga. »Wir haben ihn.« Dann hielt er inne und lauschte, was ihm durch den Kopfhörer gemeldet wurde. »Der Hubschrauberpilot meint, es sei kein Taifunboot. Es ist eine Akula«, sagte er, seine Stimme klang trocken und zitterte. »Sie sinkt.« Auf der verzweifelten Suche nach jemandem, dem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte, griff Ludinow nach dem Telefonhörer. »Admiral«. sagte er kurz angebunden zu Demi now, »wir haben das falsche U-Boot attackiert. Die >Minsk< versinkt in der Gorlostraße.« Deminow scherte sich einen Dreck um die »Minsk«. Im Krieg passieren nun mal Fehler. »Wo steckt dann die >Taifun<, verdammt noch mal?« warf er zurück. Die »Minsk« sank in Windeseile, mit dem Heck voran. Feuer und Rauch quollen in die vorderen Abteilungen, und rußgeschwärzte Matrosen krochen aus den Luken. Drei Seenotrettungsinseln schaukelten im eisigen Wasser. Dann rutschte der Bug unter die Oberfläche. Dreißig Mann waren in den Rettungsinseln, und ein Dutzend im Wasser, die an Unterkühlung starben. Kapitän Kusnetsow kam bei dem Versuch um, einen Rekruten aus dem Turm zu zerren. Die Leichen von siebzig Männern, ertrunken oder verbrannt, trieben im Wasser der Gorlostraße. Von einer Eisscholle gerammt, kenterte eine Rettungsinsel auf der Stelle und warf 216
die Männer in die tödliche kalte See. Entsetzt verfolgten die Matrosen der »Tamir« die Todesqua len der »Minsk«. Eine zweite Rettungsinsel geriet ins Trudeln. »Kapitän«, sagte der erste Obersteuermann, »wir sollten ein Boot aussetzen. Die Männer tragen die Uniform der russi schen Armee.« Als Mann der See wußte der Kapitän, dass es seine Pflicht war, Menschen in Gefahr Beistand zu leisten. Er verstand den Grund für das Spektakel nicht, dessen Zeuge er geworden war, und bei dem gestörten Funkverkehr konnte er nicht nachfra gen, aber er hatte keinen Zweifel, dass die »Tamir« versenkt würde, wenn er jetzt anhielt. Er zog an seiner Pfeife und schüt telte den Kopf. In Pulonga telefonierte Ludinow noch immer, als der Sonar operator ausrief: »Unterwasserkontakt. Ich habe die >Taifun< wiedergefunden. Sie ist vor dem Eisbrecher und fährt aufs offene Meer raus.« Fassungslos wiederholte Ludinow die Meldung für Demi riow. Deminow saß in Zenkos Büro in Gremicha, hielt den Telefonhörer weit von sich und starrte ihn entsetzt an. Zenko war ins Weiße Meer eingebrochen. Kalte Wut pulsierte in seinen Schläfen, und einen Augenblick lang war er sprachlos. Er hätte Zenko gleich hier in seinem Büro erschießen sollen. Es wäre besser gewesen, wenn er selbst nach Pulonga gefahren und einen kompetenteren Kommandanten als diesen Kusnetsow ausgesucht hätte. Nach einer Weile hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und bellte Ludinow an: »Schicken Sie den Hubschrauber zwanzig Kilometer weiter südlich von der Straße, mit dem Befehl, die Eisdecke zu durchbohren. Wenn sie irgendwas hören, haben Sie verstanden - irgendwas, das kleinste Geräusch -, sollen sie Torpedos durch die Löcher schießen. Postieren Sie zwei Männer auf der >Arktika< und auf die anderen Schiffe im Konvoi, um 217
Funkstille zu gewährleisten. Die Schiffe sollen fünfzig Kilometer ins Weiße Meer vordringen und im Kreis fahren.« »Ja, verstanden. Anscheinend gibt es Überlebende von der >Minsk<.« »Bringen Sie sie nach Gremicha«, befahl Deminow. »Lassen Sie einen Teil Ihrer Mannschaft in Pulonga. Und sagen Sie Leutnant Tarinski, er soll sich darauf einstellen, dass die >Gorki< in ein paar Stunden durch die Straße fährt.« »Ja. Verstanden.« Der Admiral knallte den Hörer auf und stürmte in die Nach richtenzentrale. Zenkos Absichten waren ihm jetzt kristallklar. Der kleine Schweinehund von Verräter machte sich heimlich an Malakow ran. »Major Riziow«, brüllte Deminow. »Ich brauche eine Verbindung mit der >Sowjetski Sojus<.«
218
23. Kapitel Tamir »Wasserbomben gesichtet!« Nach tagelanger erzwungener Stille hallte Morrisons War nung in Gunners Ohr nach. Eine Explosion nach der anderen hatte die »Minsk« auf den Bildschirmen der »Reno« zu elek tronischen Trümmerteilchen pulverisiert. Kein Mitglied der Besatzung hatte jemals die Versenkung eines Schiffes im Gefecht erlebt. Der häßliche Lärm, der mit dem Untergang eines U-Boots verbunden war, das Kreischen von Metall und das Dröhnen der Wassermassen, die in sonst geheiligte Räume eindringen, waren durch die Sonare deutlich zu vernehmen. Lange nachdem auch der letzte Widerhall ver klungen war, blieben die Geräusche für immer und ewig im Gedächtnis der Männer eingebrannt. Alle im Kontrollraum hatten nur einen Gedanken: Das hät ten wir sein können. »Jetzt wissen wir, was uns in der Straße erwartet«, sagte Trout ruhig. Gunner kämpfte darum, einen klaren Kopf zu behalten. »Was in drei Teufels Namen geht da draußen vor, Gus? Warum versenken die Russen eins ihrer eigenen U-Boote?« »Die >Minsk< dachte, sie würde die >Taifun< verfolgen«, sagte Gunner. »Wenn sie die >Minsk< versenkt haben, dann versuchen sie, die >Taifun< zu schützen, aber ich sage Ihnen eins, ich kann die Guten nicht von den Bösen unterscheiden. Wo steckt die >Taifun< jetzt? Kontrollraum an Sonar. Was ist mit der Attrappe passiert?« »Sie ist weg, Skipper«, sagte Morrison mit matter Stimme. »Es gibt soviel Lärm und Wirrwarr da draußen, ich weiß es einfach nicht. Vielleicht haben sie sie in die Luft gejagt.« »Alles in Ordnung bei euch im Sonarraum?«, fragte Gun 219
ner. »Wir sind in reinster Partylaune hier, Skipper. Wir ...« »Lassen Sie die blöden Bemerkungen, Chief. Die sind im Moment nicht angebracht.« Gunner schaltete die Sprechanlage ab, rieb sich die Augen und versuchte, sich die Szenerie über Wasser vorzustellen. Hubschrauber, Flugzeuge, die Sonarstation in Pulonga, die halbe Nordflotte. War die »Minsk« ein Außenseiter? War die »Reno« als nächstes dran, wenn sie sich von der Stelle rührte? Oder wenn sie sich nicht rührte? Wo steckte die »Gorki«? Und wo die »Taifun«? Die Fragen konnten einen verrückt machen. »Jack, wir müssen uns mal unterhalten. Ich komme hoch.« Gunner schaute auf und sah Trout, der sich wie ein besorgter Onkel zu ihm hmunterbeugte. »An dieser Sache wird das Pentagon zehn Jahre zu knacken haben«, sagte er. »Mann, ich weiß nicht, in was wir da hineingeschliddert sind. Die >Taifun< ist immer noch da draußen und wartet. Vielleicht hat Zenko überhaupt nicht vor, durch die Gorlostraße zu fahren.« Trout zog Gunner in eine Ecke der Steuerzentrale. »Jack, Sie müssen den Untergang der >Minsk< in Norfolk melden«, sagte er. »Deswegen haben sie uns doch hergeschickt.« »Ich kann jetzt schlecht meinen Funkmast ausfahren«, meinte Gunner. »Wenn Zenko sich rührt, schließe ich mich ihm an. Ich will nicht den Schwanz einziehen und abhauen.« »Sie bringen sich gegenseitig um«, insistierte Trout. »Wir könnten als nächste dran sein.« »Gus. Ich habe Angst. Sie haben Angst. Jeder normale Mensch hätte Angst. Aber unser Befehl lautet nun mal, einem Taifunboot zu folgen, egal wo es hinfährt.« »In Ihrem Ermessen«, erinnerte Trout seinen Kapitän an den Wortlaut des Funkspruchs. »Sie haben die Befugnis, ins Weiße Meer zu fahren. Es ist kein Befehl.« »Wo ist da der Unterschied?« Gunner spürte, wie Ärger in ihm aufstieg, und versuchte, sich zu beherrschen. »Hören Sie, 220
Gus«, sagte er, »mir gefällt es auch nicht, mich in russischem Gewässer rumzutreiben, wenn die Russen sich gegenseitig versenken, aber wir sind nun mal hier, und wir bleiben hier. Wenn die >Taifun< nach Archangelsk fährt, fahren wir auch hin. Das ist eine Kommandoentscheidung.« »Ave, aye«, entgegnete Trout knapp und kehrte zurück an den Navigationstisch. Auf der »Taifun« hatte die Wirklichkeit des Bürgerkriegs der Kommandozentrale einen Schock versetzt. Nach all dem Gerede und den Drohungen, nach all den Posen und Polarisie rungen war es jetzt soweit, dass Russen auf Russen schossen. Die »Minsk« war zerstört, aber jeder wußte, dass die »Taifun« das eigentliche Ziel war. Zenko stand vor dem Kommando pult, das Gesicht dicht am Bildschirm. »Sie haben auf uns gewartet«, sagte er leise zu Kugarin. »Ich kannte die meisten Offiziere auf der »Minsk«. Kuznetsow habe ich Taktik beige bracht. Er hätte besser aufpassen sollen.« »Glaubst du, dass die Attrappe es geschafft hat?« fragte Kugarin. »Das bezweifle ich. Sorokin!« »Ja?« »Rufen Sie eine Darstellung der Minen und Sonare in der Straße auf.« Die Karte erschien auf dem Bildschirm, rote Punkte für Minen und blaue für die Sonare, die die Schiffahrtskanäle Richtung Süden und Norden säumten. Zenko studierte das Diagramm genau. »Deminow hat keine Minen eingesetzt, aus Angst, den Konvoi zu versenken«, bemerkte er. »Die Wasser bomben und die Explosionen auf der >Minsk< haben vielleicht einige Sonare zerstört, aber wir müssen davon ausgehen, dass alle funktionstüchtig sind. Sonar! Meldung über den Konvoi.« »Alle vier Schiffe bewegen sich weiter Richtung Süden, mit sechs Knoten«, antwortete der Sonaroffizier. »Die haben nicht angehalten.« 221
»Was willst du jetzt machen?« fragte Kugarin. Zenko antwortete mit Bestimmtheit. »Sofort die Straße durchqueren, solange Verwirrung herrscht. Wenn wir der >Tamir< unmittelbar folgen, dürften wir keine Probleme mit dem Eis haben. Wenn wir die Enge bei Pulonga passiert haben, wird das Wasser tiefer, und wir können aus dem Konvoi aus scheren. Wenn wir hier sitzenbleiben, kommen wir nie an Malakow ran.« Er schaltete die Lautsprecheranlage ein. »Män ner der >Taifun<. Bereitmachen zum Passieren der Gorlostraße. Kann sein, dass man uns mit Wasserbomben attackiert, aber unser Schiff kann ein Dutzend Explosionen von solchen Wasserbomben überleben. Alle Mann bei den Leckstationen melden. Das wäre alles.« Er schaltete das Mikrofon aus und befahl: »Tauchoffizier, auf zwölf Meter Tiefe gehen.« »Zwölf Meter, aye.« Langsam ließ sich das U-Boot aus seinem Horst unter der Eisdecke fallen. Zwölf Meter zwischen der Turmspitze und der Wasseroberfläche gaben der »Taifun« genügend Raum, um unter dem Kiel der »Tamir« durchzufahren, sollte sich der Eis brecher aus irgendeinem Grund entschließen anzuhalten. »Tiefe zwölf Meter, Kapitän.« »Gut. Maschinenraum, langsame Fahrt voraus.« »Langsame Fahrt«, tönte die Bestätigung. Die »Taifun« gewann an Fahrt. In Pulonga übernahm Oberst Ludinow den Terminal des Funkoffiziers und gab dem Angriffshubschrauber den Befehl, nach Süden zu fliegen, ein Loch ins Eis zu schießen und ein Tauchsonar ins Wasser zu lassen. Danach wandte er sich an Tarinski. »Ich fliege mit dem Kommandohubschrauber, um je zwei Männer auf die Schiffe im Konvoi zu stationieren und dann die Überlebenden der >Minsk< einzusammeln«, sagte er. »Halten Sie ein wachsames Auge auf die Sonare. Das AngriffsU-Boot >Gorki< wird in ein paar Stunden in die Straße 222
einlaufen. Kapitän Lorinski wird Zeichen geben, bevor er durchfährt.« Einen Sergeanten der Spetsnaz und einen Kommandotrupp zurücklassend, mit der Anweisung, jeden zu erschießen, der den Versuch unternahm, die Funkstille zu durchbrechen, lud Ludinow den Rest seiner Mannschaft in den Hubschrauber und flog davon. Die »Arktika« befand sich jetzt sechs Kilometer vor Pulonga, der Konvoi hinter ihr erstreckte sich über eine Länge von fast einem ganzen Kilometer. Wieder im Befehl über seine Station, bot Tarinski seiner Wachmannschaft zunächst Tee an. »Verdammt kalt hier drin«, sagte der Sergeant. »Der Generator ist zusammengebrochen«, erklärte Tarinski. »Wir waren gerade dabei, ihn zu reparieren, als der Oberst kam.« »Ludinow ist weg. Jetzt können wir für Wärme sorgen«, schlug der Sergeant vor. »Eine gute Idee«, meinte der Sonaroffizier. »Ich fange gleich an.« Keinem in der Hütte lag daran, über das Vorgefallene zu sprechen. Tarinski rechnete damit, dass in den kommenden Tagen viele gefrorene Wasserleichen angeschwemmt würden, er hoffte nur inbrünstig, dass er nicht auch auf diese Weise enden würde. Während der Sonaroffizier mit dem Generator beschäftigt war, überwachte Tarinski den Sonarschirm und sah ein Flackern, was auf mögliche Maschinengeräusche unter Wasser hindeuten konnte. »Wasili«, sagte er zu dem Sonaroperator. »Sieh dir das mal an.« »Was sehen Sie da?« fragte der Spetsnaz-Sergeant. »Einen möglichen Kontakt im Kanal.« Der Sonaroffizier warf einen Blick auf den Schirm und sagte: »Das ist ein Taifunboot.«
223
Auf der »Reno« gönnte sich Gunner eine fünfminütige Pause vom Dienst im Kontrollraum, um Makkaroni mit Käse aus der Mikrowelle zu essen. Die schale Mahlzeit stellte den knurrenden Magen zufrieden, aber die kurze Erholung wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen. »Offiziersmesse, Gunner.« »Big Iwan hat sich gerührt, Skipper.« Gunner war umgehend im Kontrollraum. »Kontrolle an Sonar. Wo steckt er?« »Peilung Zwei Eins Zwei. Entfernung fünfeinhalb Kilome ter.« »Scheiße«, sagte Gunner. »Näher als ich dachte. Kontrolle an Steuerraum. Zwanzig Prozent Dampf.« »Aye, aye, Kapitän. Zwanzig Prozent.« Gunner schaltete das Bordmikrofon ein. »Alle Mann Ach tung. Bereitmachen für Schleichfahrt.« »Ruder, Eins Neun Zwei Grad steuern«, befahl Zenko. »Steuerung Eins Neun Zwei.« »Dreitausend Meter.« »Wir wollen fünfhundert Meter hinter ihr ins Glied treten«, sagte Zenko. »Rufen Sie die Entfernung in Hundertmeterab ständen aus.« »Aye, aye, Kapitän. Zweitausendneunhundert, zweitausend achthundert, zweitausendsiebenhundert...« Nach fünfzehn Minuten hatte sich der Abstand auf sieben hundert Meter verringert. Zenko hielt den Atem an, wartete auf Wasserbomben. »Entfernung fünfhundert Meter, Kapitän«, sagte der Sonar offizier. »Offenes Wasser über uns. Wir sind in ihrem Kielwas ser.« »Zwei Null Fünf Grad steuern.« »Steuerung Zwei Null Fünf.« »Recht so. Tauchoffizier, Tiefe unter Kiel?« 224
»Zwanzig Meter, Kapitän.« »Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn die Tiefe unter zwan zig Meter fällt.« »Aye, aye.« »Und erinnern Sie mich daran, dem Schiffsführer der >Tamir< eine Flasche georgischen Sekt zu schicken.« »Sonar an Kontrollraum. Big Iwan fährt hinter dem letzten Schiff des Konvois Richtung Süden in den Kanal ein.« »Steuerraum, langsame Fahrt auf den Propellern«, befahl Gunner. »Auf in den Kampf!« Wie eine Giftschlange schlüpfte die »Reno« aus ihrem geheimen Nest unter der Eisdecke hervor. Gunner manövrierte das Boot in den Kanal und stellte Kurs und Geschwindigkeit genau auf die der »Taifun« ein. »Kontrollraum an Sonar. Bleiben Sie dicht dran, Morrison. Ich will mindestens fünfhundert Meter von ihm entfernt sein, für den Fall, dass er ausflippt.« »Das ist wie ein Kampf gegen Windmühlen, Skipper.« Unter der Eisdecke, hinter der »Tamir«, fuhr die »Taifun« in die Meerenge vor Pulonga ein. Zenko bestellte ein Glas Tee. »Sorokin, programmieren Sie die Karte vom Kandalakscha golf, bitte«, sagte er zum Steuermannsmaat. »Aye, aye Kapitän. Sie ist schon im Pufferspeicher.« Zenko trank einen Schluck Tee und gab sich Mühe, Ruhe auszustrahlen. Ludinows Hubschrauber schwebte über der »Tamir«. Das Schiff verlangsamte die Fahrt, um den beiden Kommando trupps Gelegenheit zu geben, auf dem Hebedeck abgesetzt zu werden. Während der Pilot mit dem Drahtseil manövrierte, krächzte plötzlich der Funkempfänger auf dem verschlüsselten Kanal. »Meeresbrise, Pulonga hier.« »Meeresbrise hier«, antwortete Ludinow. 225
»Wir haben zwei Kontakte im Kanal. Wiederhole, zwei Kontakte.« Erstaunt begriff Ludinow die ganze Tragweite der übereilten Zerstörung der »Minsk«. Zwei Kontakte, das mussten die »Tai fun« und die »Gorki« sein. Deminow hatte die Angriffshub schrauber zu früh Richtung Süden geschickt. Ludinow hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Die Ausrüstung des Komman dohubschraubers bestand aus zwei Geschützen, Flugabwehr raketen und einem Maschinengewehr, unbrauchbar im Kampf gegen ein U-Boot. »Erbitte Erlaubnis, die Minen zu aktivieren, Oberst«, ersuchte Tarinski über Funk. »Nein! Warnen Sie den Angriffshubschrauber, dass das Ziel von Norden her auf sie zukommt.« »Soll ich Admiral Deminow informieren?« Wozu, dachte Ludinow. »Ja«, sagte er dann, »ich fürchte, ja.« Der Sonaroffizier auf der »Taifun« meldete: »Sonar an Kommandozentrale. Die >Tamir< verlangsamt die Fahrt.« »Alle Maschinen stop«, befahl Zenko. »Wir wollen sie schließlich nicht rammen.« »Alle Maschinen stop, aye.« »Maschinen rückwärts, halbe Kraft.« »Maschinen rückwärts, halbe Kraft, aye.« Das U-Boot bebte, als sich die Schiffsschrauben in umge kehrter Richtung drehten, um das Schiff rückwärts zu bewe gen. »Entfernung zur >Tamir« »Vierhundert Meter, abnehmend.« »Wassertiefe unter uns?« »Sechzig Meter.« »Tauchoffizier, bringen Sie uns noch zehn Meter runter. Alle Maschinen langsame Fahrt.« »Entfernung zweihundert Meter, abnehmend.« 226
»Sie wird umkehren«, sagte Zenko. »Einhundert Meter, abnehmend.« Über ihnen, bei dem Versuch, unter dem Hubschrauber zu manövrieren, blieb die »Tamir« mitten im Eis stehen. Ihre Schrauben drehten sich jetzt in die entgegengesetzte Richtung und zogen das Heck nach unten, gegen den empfindlichen Bug der »Taifun.« »Vordere Ballasttanks fluten«, sagte der Tauchoffizier. Ein Zögern in der Stimme verriet seine Angst. »Sonar an Kontrollraum«, meldete sich Morrison mit über triebener Gelassenheit über den Bordfunk. »Big Iwan hat seine Schräubchen gedreht.« »Alle Propeller stop«, befahl Gunner. »Antriebswelle in Gang setzen. Klarmachen zur Rückwärtsfahrt.« Die »Reno« bewegte sich nur noch aus der Schwungkraft nach vorne. Das Boot war so leise, dass Gunner zu hören meinte, wie das Wasser in die Trimmzellen schwappte. Seine Hände zitterten. Trout sah aus, als müßte er sich jeden Augen blick übergeben. »Schon Ihre Versicherungsprämie für dies Jahr gezahlt?« fragte Gunner. »Fahren wir jetzt rückwärts, oder sollen wir uns Witze erzählen?«, erwiderte Trout scharf. »Wenn ich jetzt meine Schraube anwerfe, hören mich die Russen.« »Wenn wir sie rammen, hören sie uns ganz bestimmt.« »Kontrollraum an Sonar. Wie ist unsere Entfernung zur >Taifun« »820 Meter, abnehmend.« Abrupt kippte der Bug der »Taifun« in einem spitzen Winkel leicht nach vorn, und das riesige U-Boot glitt unter den Rumpf der »Tamir«, knapp einen Meter an der Schraube vorbei. Die Besatzung der Kommandozentrale starrte nach oben an die Decke, als würde jeden Augenblick das 227
Schiffsruder durch den Turm brechen. Wie eine Panzerdivision, die durch einen Wald rast, rollte das Dröhnen der Maschinen durch das U-Boot hindurch. Je weiter die »Taifun« vorrückte, desto mehr wurde der Maschinenlärm durch das Krachen der Eismassen verdrängt. »Sonar an Kontrollraum. Wir sind an ihr vorbei.« Gedämpfter Jubel erschallte im Kommandoraum. Die Gefahr einer Kollision mit der »Tamir« war gebannt, aber die Gefahr, den Boden der flachen Straße zu streifen, war dramatisch gestiegen. Nur Zenko sah unbekümmert aus. Er hätte auf Grund gehen und abwarten können, bis das Schiff über ihnen vorbeigezogen war, aber er entschloß sich weiterzufahren. Mit einem Blick auf die Karte sagte er: »Rudergänger, links in den Nordkanal steuern, und folgen Sie der Vierzig-Meter-Linie Westsüdwest.« »Vierzig-Meter-Linie Westsüdwest, aye.« »Wir umgehen den übrigen Konvoi. Wenn sie vorhatten, das Minenfeld zu aktivieren, dann hätten sie das längst gemacht. Maschinenraum, zehn Knoten.« »Zehn Knoten, aye.« »Tiefenwasser voraus, Kapitän«, sagte der Tauchoffizier. »Wir können achtern ein Sonarnetz auslegen, wenn Sie wol len.« »Noch nicht«, sagte Zenko. »Gehen Sie runter auf fünfzig Meter.« In Gremicha bereitete Admiral Deminow eine Warnmeldung an Malakow vor, als Tarinskis Anruf aus Pulonga kam. »Was haben Sie?« brüllte Deminow in den Hörer. »Zwei Kontakte. Das Leit-U-Boot ist mit Sicherheit ein Tai fun .« »Hat die >Gorki< schon ihr Einlaufen gemeldet?« »Nein.« »Welches ist dann das zweite U-Boot?« 228
»Bei diesen Eisbedingungen ist keine positive Identifizie rung möglich«, sagteTarinski. »Wir glauben, dass es die >Gorki< ist.« Deminow reagierte seine Enttäuschung ab, indem er noch lauter schrie. »Mich interessiert nicht, was Sie glauben. Ich will wissen, was Sie sehen.« Tarinski hatte die Hoffnung aufgegeben, dahinterzukom men, was es genau mit diesem Konflikt auf sich hatte und wer daran beteiligt war. Die Sonare zeigten eindeutig zwei U-Boote in der Straße, erklärte er Deminow. Das Taifunboot hatte sich an dem Konvoi vorbeigemogelt und das Minenfeld fast durchquert. Während Tarinski jede einzelne Bewegung schilderte, wurde Deminow zusehends verzweifelter. »Aktivieren Sie die beiden letzten Minen, in beiden Kanalrichtungen«, befahl er. »Aber«, warf Tarinski ein, »die Minen könnten den Eisbre cher und die anderen Überwasserschiffe beschädigen.« »Folgen Sie meinem Befehl, Leutnant, oder ich lasse Sie erschießen.« »Ja. Verstanden.« Tarinski entsicherte das Minensteuerpult. Ein Feld von drei ßig grünen Lämpchen leuchtete auf der Schalttafel auf. Der Leutnant betätigte zwei Schalter, in der Erwartung, dass die zwei entsprechenden Lämpchen von Grün auf Rot sprangen, doch nichts geschah. Er probierte es ein zweites Mal, und wie der dasselbe. Er probierte einen dritten und vierten Schalter. Entweder hatte das Salzwasser während des langen Winters die Kabel zerfressen, oder einige Verbindungen auf der Schalttafel selbst waren fehlerhaft oder schlampig verarbeitet. Defekte Minen waren keine Seltenheit in der Marine. Tarinski schlug mit seiner Karatehand auf die Platte, gab auf und kehrte zum Telefon zurück. »Das Minenfeld reagiert nicht, Admiral. Ich glaube, das Steuerpult ist defekt.« 229
»Wo ist die >Taifun< jetzt?« fragte Deminow. »Durch die Enge durch, fast im offenen Meer.« »Dann sitzt er im Weißen Meer in der Falle«, sagte Demi now. »Nehmen Sie Verbindung mit dem Angriffshubschrau ber auf, und überzeugen Sie sich davon, dass er kampfbereit ist. Zenko soll uns kein zweites Mal entkommen.« »Sonar an Kontrollraum«, sagte Morrison auf der »Reno«. »Big Iwan legt zu.« »Danke, Sonar. Rudergänger, zehn Grad links steuern. Wir umfahren den Konvoi. Maschinenraum, Gas geben. Zehn Knoten.« Die »Reno« bog in den Kanal Richtung Norden ab, gewann rasch an Geschwindigkeit und fuhr ins Weiße Meer hinaus. Keine Wasserbomben zündeten auf den Sonarschirmen, keine Torpedos schossen aus der »Taifun« hervor. Vielleicht, dachte Gunner, war es nur eine Frage der Zeit.
230
24. Kapitel
Das Weiße Meer
Hundertzweiundfünfzig Kilometer südwestlich von Pulonga leuchtete im Funkraum der »Sowjetski Sojus« der ELF-Alarm auf. Routinemeldungen aus Gremicha waren planmäßig alle zwei Stunden eingegangen, aber zum erstenmal befahl die aus zwei Buchstaben bestehende ELF-Meldung Malakow, auf VLF-Tiefe aufzusteigen. Gerade zwanzig Stunden waren vergangen, seitdem sich die »Sowjetski Sojus« aus Sewerodwinsk abgesetzt hatte, aber Malakow fühlte sich Lichtjahre von der Vergangenheit ent rückt. Irgendwo zwischen dem leuchtenden Archangelsk und der trüben Tiefe von 275 Meter unter der Eisdecke hatte er eine deutliche Wende vollzogen und in deren Verlauf eine Befreiung erfahren, wie sie nur Außenseiter und Revolutionäre kennen. Die Tatsache, dass er mit seinem Boot auf dem Grund des Kandalakschagolfs hockte, ausgerüstet mit scharfen Atom waffen, zwang Malakow auf eine neue Stufe der Selbsterkennt nis. Bei der vielen Zeit, die ihm zum Nachdenken blieb, wurde ihm klar, dass er für eine einzigartige Mission auserwählt war. Er hoffte inständig, die Regierung werde auf die Forderungen seines Schwiegervaters nicht eingehen. Wenn er den Befehl zum Startschuß erhielte, würde er die besondere Erregung des jenigen verspüren, der etwas tat, was niemand vor ihm je gewagt hatte. Nur die Tat zählte, nicht Ursache oder Wirkung. Moral hatte er überwunden, er war jenseits von Gut und Böse und hatte ein anderes Reich betreten, eine verbotene Zone, in der nichts verboten war. »Tauchoffizier, bringen Sie uns auf VLF-Funktiefe hoch.« Das U-Boot stieg auf, die Nachricht wurde übermittelt. In der Hoffnung auf den Startbefehl nahm Malakow das ausge 231
druckte Stück Papier in einem Zustand äußerster Anspannung in den Codierraum. Statt dessen las er: KOMMANDANT OPERATION WEISSER STERN AN BEFEHLSHABENDEN OFFIZIER SOWJETSKI SOJUS: TAIFUN UM 18:00 UHR INS WEISSE MEER EINGE FAHREN. BEMÜHEN UNS BOOT ZU LOKALISIEREN UND AUFZUHALTEN. ZEITPLAN ZWÖLF STUNDEN VERZÖGERT. DEMINOW Malakow war enttäuscht, und dennoch verspürte er eine seltsame Hochstimmung. Zenko konnte nur einen Zweck im Weißen Meer verfolgen, und ein Duell mit einem solchen Gegner reizte den Kommandanten der »Sowjetski Sojus«. Er versuchte, sich die Szene in Gremicha vorzustellen. Deminow hatte mit seiner Genehmigung, Zenko in See stechen zu lassen, einen fatalen Fehler begangen. Hatte Panik seinen Schnitzer nun noch verschlimmert? Die Unsicherheit, die die Nachricht auslöste, war aufreibend, aber nicht verheerend. Bevor Zenko angreifen konnte, musste er die »Sowjetski Sojus« erst einmal finden. Solange die »Sojus« sich still verhielt, war Zenkos Unterfangen unmöglich gemacht. Um für das Abfeuern einer eigenen Waffe nahe genug heranzukommen, musste sich die »Taifun« zu erkennen geben - und die Konsequenzen hinneh men. »Tauchoffizier, bringen Sie uns wieder auf Grund.« Während die »Sowjetski Sojus« in die Tiefe abtauchte, zeigte Malakow die Meldung Sergow. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, von Stefan Zenko gejagt zu werden«, sagte der Politoffizier. Die Angst hatte ihn gepackt. »Zenko soll ruhig glauben, dass er uns jagt«, sagte Mala kow, »denn damit ergibt sich für uns eine Gelegenheit, ihn kaltzustellen. Wenn er uns sucht, wird er Lärm machen. Wir brauchen nur abzuwarten. In wenigen Stunden spielt das alles keine Rolle mehr. Wir schießen, und die >Taifun< ist vernich 232
tet.« »Sollten wir der Mannschaft nicht Bescheid geben?« »Nein«, sagte Malakow. »Sie helfen uns gern, wenn es darum geht, eine Million Georgier zu töten, aber ich glaube, vor Zenko haben sie genausoviel Angst wie Sie, mein tapferer Zampolit.« Die »Sowjetski Sojus« nahm ihre stille Wache wieder auf. Malakow durchschritt die Raketenkammer, überprüfte die Computer, kontrollierte die Schaltkreise, zählte die Minuten. Die »Taifun« hatte zwanzig Kilometer von Pulonga aus zurückgelegt, als die Computer im Funkraum zwei Sprüche aufzeichneten, die von Gremicha an die »Sowjetski Sojus« übermittelt worden waren. Ohne Codeschlüssel blieben die Signale unverständlich. Zenko erriet trotzdem ihre Bedeutung. Die erste ELF- Meldung war eindeutig ein Befehl zum Auftauchen, und das zweite VLF-Signal eine Warnung. Zu Zenkos Vorteil war Deminow auf Geheimhaltung ange wiesen. Alles musste sich unter Wasser und außer Sichtweite abspielen, wodurch ihm nicht mehr das gesamte U-BootAbwehrpotential der Nordflotte zur Verfügung stand. Soviel er wußte, wurde die »Sowjetski Sojus« von keiner Eskorte begleitet. Sie hatte weder Hubschrauber noch Angriffs-UBoote zum Schutz. Eine angreifende Einheit, die sich auf Sonare verließ, würde sich schwertun, die »Sowjetski Sojus« und die »Taifun« voneinander zu unterscheiden. Deminows Leute hatten mit der Versenkung der »Minsk« bereits einen Fehler begangen. Malakow stand allein, mit einem Schiff auf Schleichfahrt und einer nervösen Mannschaft, der man ver mutlich gesagt hatte, sie würde ihre vaterländische Pflicht tun. Ist Malakow verrückt, fragte sich Zenko. Nein, seine Über heblichkeit macht ihn furchtlos, und das ist seine Schwäche. »Sorokin«, rief Zenko. »Rufen Sie die Abteilung am Kom mandostand zusammen.« 233
Als sich die Männer versammelt hatten, sagte Zenko: »Wir haben keine Zeit, das ganze Weiße Meer nach der >Sowjetski Sojus< abzusuchen. Wir suchen zuerst im Kandalakschagolf. Bevor wir aus Gremicha ausliefen, hat Malakow wenigstens gestanden, dass er sich dort herumtreibt. Wenn nicht, werden wir ihn vielleicht nie finden. Wenn doch, dann können wir ihn mit etwas Glück aus der Reserve locken. Divisionskomman deure, alles klarmachen zur Besetzung der Gefechtsstationen. Wir fangen mit Gefechtsübungen an und verwandeln dieses Schiff in einen Hunter-Killer. Torpedoübung in fünf Minu ten!« In 1800 Meter Entfernung kroch die »Reno« im Kielwasser des russischen U-Bootes durch das Wasser. In jeder Abteilung leuchtete eine rote Warnlampe: »Achtung. Schleichfahrt.« Die Köche in der Kombüse produzierten am laufenden Band Mahlzeiten im Mikrowellenherd und ernteten für ihre Mühen bei jedem Essenfassen einen Kommentar über »Bluenose Air ways« und deren fade Bordverpflegung. In der Offiziersmesse nahm Morrison sein Plastiktablett ent gegen. »Was ist das, Cookie«, fragte er mißtrauisch. »Salisbury Steak.« »Das soll ein Steak sein?« »Wie wär's mit Tofu, Chief? Oder Seetang, oder doch lieber rohen Fisch?« »Wie beliebt. Das kriege ich auch zu Hause. Ich möchte Bremsklötze«, verlangte Morrison und meinte Hamburger. »Ja, ich auch«, sagte der Koch. »Aber uns ist das Schmieröl ausgegangen, und leise Bremsklötze gibt es leider nicht.« Am Tisch, gegenüber von Adams, Garrett und Deutermann, stocherte Morrison lustlos in seinem Essen herum. Die Haut unter den Augen hing schlaff herunter, Bartstoppeln zierten sein Kinn, in den Ohren hallten Wasserbomben wider. »Wo hast du deine schwarze Kappe gelassen, Morrison?«, fragte Garrett. 234
»Du siehst schlimm aus«, sagte Deutermann. »Was ist los mit dir?« »Keinen Schlaf.« »Glaubst du immer noch, der Kalte Krieg sei vorbei, Morri son? Wir haben ein Taifunboot, das läuft frei herum und ist größer als ein Stück Scheiße.« Morrison griff unters Hemd, holte die schwarze russische Kappe hervor, öffnete das Schiffchen mit einem Knall und schob es sich auf den Kopf. »Ho, Amerikanski, du ins Weiße Meer einfahren, du toter Mann!« »O Mann, es geht wieder los.« Im Kontrollraum sagte Trout voller Stolz: »Alle Achtung, Skipper, Sie haben es bis ins Weiße Meer geschafft. Das können nur wenige Menschen von sich behaupten.« »Gar nichts habe ich, solange ich uns hier nicht auch wieder rauskriege«, entgegnete Gunner schnaubend. Die Meeresengen der Straße lagen hinter ihnen, die »Taifun« vor ihnen. Wenn Zenko ein aktives Sonar einschaltete, würde die »Reno« wie ein schwarzes Auge hervorstechen. »Wo fährt er hin, und was hat er vor, Gus?« Trout beugte sich über den Navigationstisch und führte einen Fettstift am Richtlineal entlang. »Das ist die Tausenddol larfrage. Er wird sich unter der Eisdecke verstecken, auf eine Nachricht aus Moskau warten und den Dritten Weltkrieg aus lösen.« »Sie sind ja verrückt.« »Irgend jemand spielt hier verrückt, soweit bin ich mittler weile auch. Sie geben sich keine Mühe, Zenko aufzuhalten. Deswegen haben sie die »Minsk« in die Luft gejagt. Jetzt haben sie zwei Taifunboote im Weißen Meer, und sie wollen keinen in der Nähe haben, uns eingeschlossen. Sieht nicht gut aus, in meinen Augen«, sagte Trout. Er wollte ganz offen sein. »Taifunboote haben nur einen Zweck, die Welt in Trümmer zu 235
legen. Ich glaube, Zenko und seine Truppe wollen einen Krieg vom Zaun brechen, und die anderen wollen ihn daran hindern.« Gunner zündete sich eine Zigarette an. »Scheint, als hätten Sie sich entschieden, wer die Guten sind. Zenko ist demnach also der Böse.« »Liegt doch auf der Hand«, stellte Trout fest. »Ein Taifun boot kann unmöglich der Gute sein.« »Dann sollte ich ihm vielleicht gleich ein Torpedo zwischen seine Schrauben verpassen, einen kleinen Atomsprengkopf zum Beispiel.« Ein dünnes Lächeln kräuselte Gunners Lippen. Zigarettenrauch zog an seinem Gesicht vorbei. »Wozu habe ich denn sonst meinen Spitznamen weg, Plutonium Jack?« »So weit würde ich nicht gehen. Das wäre eine Kriegshand lung.« »Ins Weiße Meer einfahren ist auch eine Kriegshandlung«, sagte Gunner. »Fragen Sie einen Richter.« Aus der Luft sahen die südlichen Kanalabschnitte der Gorlo straße wie eine gefrorene Salzmine aus. Zehn Kilometer nörd lich von der Position der »Reno« schwebte 150 Meter über der Wasseroberfläche Deminows Angriffshubschrauber, warf eine kleine Ladung Plastiksprengstoff ab und drückte ein neun Meter breites Loch in die Eisdecke. Der Sonaroperator an Bord des Hubschraubers ließ ein Unterwasserhorchgeräte an einem Kabel fünfzehn Meter tief ins Wasser und hörte sofort Maschinengeräusche von einem UBoot. »Kontakt«, sagte er zu dem Piloten. »Unglaublich, gleich beim ersten Versuch.« »Was hören Sie? Eine Schraube oder zwei?« »Schwer zu sagen. Nach der Computeranzeige beträgt die Entfernung elftausend Meter. Peilung Eins Acht Sieben. Ich habe einen Kontakt. Dieselbe Peilung, Entfernung zwölf tausend Meter. Wir hocken fast direkt über zwei U-Booten.« »Welches ist welches?« 236
»Scheiße, woher soll ich das wissen?« »Wir haben heute schon mal ein falsches U-Boot in die Luft gejagt!« »Na und? Wir suchen uns die Ziele nicht aus. Wir befolgen nur Befehle.« Auf der »Reno« hätte die Explosion beinahe drei Sonartechniker aus ihren Sesseln gehauen. »Was zum Teufel war das?« sagte Billie Stewart. »Sonar an Kontrollraum. Explosionsanzeige, möglicherweise im Wasser, möglicherweise an der Oberfläche.“ »Was für eine Explosion, Billie?« »Weiß nicht, Sir. Eine Scharfmeldung, Entfernung zehn Kilometer, Peilung Null Null Acht.« Gunner kontrollierte seinen Sonarmonitor. Der Bildschirm zeigte Eisschlag an der Oberfläche an, den Widerhall vom Boden, und die »Taifun«, die beständig zehn Knoten Fahrt machte. Gunner wußte, dass die »Reno« die Schallwellen der Explosion zurückwerfen und damit der »Taifun« ihre Position verraten würde. »Das Spiel ist aus«, sagte er und schaltete das Bordmikrofon ein. »Bereitmachen für schnelles Manövrieren. Alle Mann, Klarschiff zum Gefecht.« Morrison in der Offiziersmesse unterbrach mitten im Kauen. »Verdammt«, fluchte er. »Was jetzt?« Eine halbe Minute später kam er in den Sonarraum gestürzt und übernahm den Platz des Aufsichtsoffiziers. Die »Taifun« blieb stehen. Die »Reno« wich links aus, um nicht das Heck des russischen U-Boots zu rammen. Zenko in der »Taifun« hörte die Explosion und wußte, was es war. »Sie ballern Löcher ins Eis. Alle Maschinen stop.« Die Dampfzufuhr wurde sofort unterbrochen, aber das Boot glitt noch weiter vorwärts. Der Sonaroffizier nutzte die günstige Gelegenheit, ohne Maschinenlärm die Sonare am Heck abzuhören. Was er vernahm, versetzte ihm einen Schock. 237
»Sonar an Kommandozentrale! U-Boot direkt hinter uns!« Zenko ließ den Plastikbecher mit Tee auf den blauen Teppich der Kommandozentrale fallen und starrte wie gebannt auf den sich ausweitenden Fleck. »Was soll das, verfluchte Scheiße? Sonar, können Sie das Boot identifizieren?« »Ich habe nur einen kurzen Blick erhascht, aber der Compu ter meint, es sei keine Akula.“ »Keine Akula?« Das Entsetzen in der Stimme des Sonaroperators brachte den Lautsprecher der Gegensprechanlage zum Vibrieren. »Nach vorläufiger Computeranzeige handelt es sich um die amerikanische Los-Angeles-Klasse, Kapitän.« Zenko stellte den Monitor auf erweiterte Sonarnetzanzeige und erkannte einen Leuchtpunkt, der langsam in der Spur der »Taifun« dahinkroch. Er trommelte mit den Fingern auf den Kartentisch. Ein Amerikaner! Scheiße mit Honig. Mach das Arschloch kalt. Sofort. Sprachlos vor Entsetzen rückte Kugarin näher an den Schirm heran. Nach einer Weile hatte er seine Stimme wieder gefunden und sagte: »Du kannst ihn nicht versenken, Stefan.« »Was hat der hier zu suchen?« »Was die immer suchen«, entgegnete Kugarin. »Er ist ein Spion.« Zenko zeigte auf den Schirm. »Im Weißen Meer?« Er spürte, wie das Schreckgespenst des Kalten Krieges wie der von seinem alten Freund Besitz ergriff. Der Hauptfeind. Die Amerikaner. Kugarin sprach schnell und mit Nachdruck. »Stefan, küm mere dich nicht um ihn. Vielleicht treibt er sich seit Monaten im Weißen Meer rum. Du weißt, wie leise ihre Boote sind. Wenn er irgend etwas im Schilde führte, wäre er längst lästig 238
geworden. Du darfst ihn nicht abknallen!« »Ich muss nicht«, sagte Zenko. »Unsere Freunde werden das für uns erledigen.« Der Hubschrauberpilot über ihnen gab den Befehl: »Torpedo scharfmachen.« Wie der größte Teil der russischen Kriegsflotte waren die ASW-Hubschrauber des Geschwaders Gremicha mit veralte ten sonargelenkten Torpedos vom Typ 533 ausgerüstet. Schnell, tödlich und verläßlich, waren sie ausdrücklich zu dem Zweck entworfen, amerikanische U-Boote auszuschalten. Nie war je erwogen worden, wie wirkungsvoll sie gegen ein Boot der Taifunklasse sein würden. »Torpedo scharfgemacht«, antwortete der Waffenoffizier. »Anzeige nur noch auf einem Kontakt«, verkündete der Sonaroffizier. »Der Befehl lautet, unseren Fisch abzuwerfen, auf alles was schwimmt«, sagte der Pilot. »Torpedo abwerfen.« »Torpedo ausgeklinkt«, sagte der Waffenoffizier. Der 4,5 Meter lange Torpedo klatschte auf dem Wasser auf, sank sechs Meter tief und startete den Elektromotor. Passive Sonare in der Geschoßspitze nahmen die Bewegungsgeräusche der »Reno« im Wasser auf, und in dreißig Sekunden beschleu nigte der tödliche Fisch auf vierzig Knoten. Das Geräusch kam aus dem Nichts, als hätte es die See selbst erzeugt. Das russische Torpedo, das auf die »Reno« zuraste, hörte sich wie ein Güterzug an. Zum erstenmal in seiner militärischen Laufbahn kreischte Morrison ins Mikrofon. »Torpedo im Wasser! Entfernung neuneinhalb Kilometer, rasch abnehmend. Peilung Null Null Sieben.« Gunner fluchte leise vor sich hin. Du Blödmann. Du hast dich zu weit rausgelehnt, und jetzt haben sie dich gehört. Bei diesem Versteckspiel bleibst du auf der Strecke. Er schnappte sich das Bordmikro. »Ruder, scharf links! Steuerraum, mehr Geschwindigkeit.« 239
Mit einem Aufwerfen gewaltiger Blasen krallte sich die Schraube ins Wasser. Die »Reno« schoß nach vorn. Im Kon trollraum spürte Gunner den beißenden Geruch der Angst. »Sonar an Kontrollraum. Wir haben Hohlraumbildung.« »Das weiß ich auch, Morrison. Halten Sie die Klappe!« Wie ein Flugzeug sich scharf nach links in die Kurve legend, gewann die »Reno« langsam Fahrt. »Sonar an Kontrollraum. Torpedoentfernung sechstausend Meter, abnehmend.« »Ich kann ihn auf meinem Schirm sehen, Morrison«, rief Gunner. »Halten Sie die Luft an. Das ist ein Befehl. Kontroll raum an Waffenkammer. Statische Attrappe in Rohr Eins laden. Captor-Minen in Rohre Vier, Fünf und Sechs laden.« Im Torpedoraum zogen Chief Garrett und vier Torpedo schützen eine Attrappe aus der Halterung, steckten elektroni sche Lenkmodule auf und führten den Zylinder in das Rohr. »Torpedoraum an Kontrollraum. Attrappe schußbereit. Laden jetzt Captor-Minen.« »Rohr Eins fluten. Außenklappen öffnen. Steuerraum, ich will einhundert Prozent Dampf. Nachbrenner einschalten.« Zenko verfolgte das Geschehen auf dem Schirm mit äußerster Verwunderung. Das amerikanische U-Boot gewann an Geschwindigkeit, aber einem Torpedo vom Typ 533 würde es niemals davonlaufen können. Er konnte hören, wie das Boot beschleunigte, ins Leere. »Wie lange, meinst du, ist er uns schon auf den Fersen, Sascha?« »Seitdem wir aus Gremicha ausgelaufen sind.« »Und wir haben ihn nie gehört. Das ist erschreckend. Er hätte uns jederzeit versenken können, aber er hat es nicht getan.« »Er muss die Versenkung der >Minsk< mit angesehen haben«, sagte Kugarin. »Ohne Zweifel«, entgegnete Zenko. »Er ist ins Kreuzfeuer 240
geraten. Und er wird ausgelöscht, ohne jemals zu erfahren warum.« Vorgesehen für leise Fahrt und taktische Kriegsführung, schwer hochgerüstet mit Waffen und Elektronik, war die »Reno« kein Draufgänger. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 37 Knoten konnte sie dem Torpedo nicht davonlaufen, und Gunner wußte das. Als sie zwanzig Knoten erreicht hatten, befahl er: »Leutnant Sharpe, Attrappe abfeuern.« Sharpe drückte ein paar Knöpfe auf dem Feuerleitstand, und die statische Attrappe fiel aus dem Torpedorohr. Dieselben Geräusche wie die »Reno« aussendend, blieb die Attrappe unbeweglich im Wasser stehen, während sich die »Reno« schleunigst davonmachte. Der Torpedo ignorierte die Attrappe und setzte die Verfol gung des U-Boots fort. »Sonar an Kontrollraum. Torpedo holt auf! Entfernung drei tausend Meter.« »Torpedoraum«, befahl Gunner. »Captor-Minen klarma chen zum Auslegen, nacheinander, in Zehn-, Zwanzig- und Dreißig-Sekunden-Abstand.« In anderthalb Minuten hatten Chief Garrett und die Torpe domannschaft drei Captor-Minen in die Rohre geladen. Als verkleidete Torpedos verfügten die Minen über akustische Auslöser. Sobald die eingebauten Sonare Maschinenlärm hör ten, aktivierten sie die Torpedos. »Torpedoraum an Kontrollraum. Captor-Minen geladen und scharf gemacht. Automatische Aktivierung auf ZehnSekunden-Intervalle eingestellt.« »Rohre fluten.« Leutnant Sharpe öffnete die Außenklappen der Torpedo rohre und flutete sie mit Meerwasser. Komprimierte Luft drückte die Minen aus den Röhren her aus. Zwanzig Sekunden später schaltete sich der erste Aktiva 241
tor ein. Das Horchgerät der Mine hörte die »Reno«, aber eine automatische Sicherung schaltete das U-Boot als Ziel aus. Das Gerät setzte seine Suche fort, bis es den russischen Torpedo, mittlerweile nur noch 1500 Meter entfernt, mit vierzig Knoten heranrasen hörte. Der Aktivator klinkte den Torpedo aus, im selben Augenblick schaltete sich der Aktivator der zweiten Mine ein. Der zweite Aktivator hörte den ersten Torpedo, ent schied sich für ihn als Ziel und klinkte seinen eigenen Torpedo aus. Drei Sekunden später zerstörte der Torpedo der zweiten Mine den ersten in einer grandiosen Unterwasserexplosion. Der dritte Aktivator schaltete sich ein und hörte die russische Waffe, loggte ein und klinkte aus. Die beiden Torpedos stürm ten durchs Wasser und kollidierten mit einer Aufprallge schwindigkeit von siebzig Knoten. Druckwellen von beiden Explosionen schlugen in die »Reno« ein, die sich wie ein Spielzeugboot sträubte und unbe schadet ihre Fahrt fortsetzte. »Sonar an Kontrollraum, Ich habe zwei freie Schirme. Tor pedo zerstört.« »Alle Maschinen stop«, befahl Gunner. »Ruhe im Boot.« Die »Reno« drosselte ihre Geschwindigkeit. Die Männer im Kontrollraum sahen aus, als wären sie eben der Badewanne entstiegen. Leutnant Sharpe hielt sich verkrampft am Waffen steuerpult fest. Panische Angst entstellte das engelhafte Gesicht von Leutnant O'Connell, der im Türrahmen zum Funkraum lehnte. Und Gus Trout stand wie zur Salzsäule erstarrt vor den Sonarschirmen. Bevor eine allgemeine Lähmung einsetzen konnte, ließ sich Gunner über den Bordfunk vernehmen. »Meine Herren«, sagte er, »wir haben soeben einen Torpedoangriff überlebt, weil jeder auf seinem Posten war und seine Arbeit getan hat. Dreißig Jahre lang haben wir uns gefragt, womit uns der Iwan bewerfen kann, jetzt wissen wir Bescheid. Wir sind noch nicht raus aus der Sache, aber wir wissen, dass wir überleben kön 242
nen. Jetzt nicht nachlassen. Die Russen bombardieren die Eis decke und werfen Torpedos ab, und sie könnten es noch mal versuchen.« Die Sonarschirme zeigten Trümmer, die auf den Meeresbo den absackten, aber keine Torpedos und keine »Taifun«.
243
25. Kapitel Waffenstillstand Der Angriffshubschrauber schwebte noch immer über dem Eis. »Zwei Detonationen«, meldete der Sonaroffizier, »aber kein Schiffbruch. Wir haben danebengeschossen.« »Zweiten Fisch laden«, befahl der Pilot. Der Waffenoffizer betätigte einige Schalter und wartete dar auf, dass das rote Lämpchen aufleuchtete. »Torpedo scharf machen«, wiederholte der Pilot. Seine Stimme hob sich. »Das Scheißding will nicht scharfgemacht werden.« Der Waffenoffizier wühlte hektisch in einem Werkzeugkasten herum. »Leonid. Ich muss die Kontrollampe für den Leistungs schalter überprüfen.« »Testest du deine Schaltkreise nicht regelmäßig, Michail?«, fragte der Pilot vorwurfsvoll. »Doch, verdammt noch mal. Aber wie oft werfen wir schon mal echte Torpedos ab?« »Wirf das Torpedo trotzdem ab. Mal sehen, was passiert.« Der Waffenoffizier sah den Sonarmann an und verdrehte die Augen. »Hast du gehört, Nikita? Er hat mir befohlen, einen nicht scharfen Torpedo abzuwerfen.« »Wir haben fast kein Benzin mehr. Nun mach schon«, befahl der Pilot erneut. »Ich fliege doch nicht mit einem halbvollen Waffenschrank zurück nach Pulonga.« Der Waffenoffizier drückte den Auslöseknopf. Die 533 fiel heraus, sackte durch das Loch in der Eisdecke und startete umgehend. Der Pilot grunzte zufrieden. Das Lenksystem des Torpedos schaltete sich ein. Der Sonar konnte keine Schiffsge räusche ausmachen, und der Torpedo kreiste in einem spiral förmigen Suchmuster im Wasser. Auf der »Reno« verkündete Morrison: »Sonar an Kontroll 244
raum. Ich habe einen zweiten Torpedo im Wasser. Dieselbe Peilung, Entfernung vierzehntausend Meter.« Statt dem 533-Torpedo davonzulaufen, blieb die »Reno« bewegungslos im Wasser, und Gunner lauschte mit leisem Ent setzen dem Geräusch des Motors und der Schraube, die sich durch das Gewirr krachender Eismassen wühlte. Eingekapselt in eine Maschine, auf Gedeih und Verderb der Maschine ausgeliefert, Maschinen als Pixel auf Bildschirmen wahrnehmend, fragte sich Gunner, ob es vielleicht einen Gott der Maschinen gab, der sein Gebet vernahm. Der russische Torpedo hörte sich wie eine Maschine des Todes an. Ohne ein Ziel, das sie anvisieren konnten, wurden die Sonare der Torpedos durch die vom seichten Meeresboden reflektierten Eisgeräusche verunsichert. Vier Minuten nach Aufnahme des Spiralmusters griff das Torpedo eine abtau chende Eisscholle an. Der Leuchtpunkt auf dem Schirm explo dierte. »Das war's, du Scheißkerl!« rief Gunner. »Na, wie gefällt Ihnen das, Gus? Der russische Fisch hat sich im Eis verirrt.« »Wie viele noch?«, stöhnte Trout. »Wie sind wir bloß in diesen Krieg geraten?« Anderthalb Kilometer von dem Hubschrauber entfernt brach eine Eissäule wie ein gefrorener Geysir aus dem Wasser hoch. »Wieder ein Fehlschuß«, bemerkte der Sonaroffizier trok ken. »Na ja«, meinte der Waffenoffizier, »wenigstens war der Sprengkopf geladen. Das Problem muss an der Kontrolleuchte liegen.« »Wir brauchen Treibstoff«, sagte der Pilot. »Wir müssen umkehren.« Der Hubschrauber stieg auf und drehte bei. »Irgend etwas sagt mir, dass diese Operation von denselben Leuten geplant wurde, die steinhartes Zahnpulver und verrostete Rasierklin gen an die Flotte ausgeben«, sagte der Pilot. 245
Der Sonaroffizier flüsterte. »Es war überhaupt nicht geplant. Es ist einfach passiert. Alles passiert einfach nur so.« »Was erzählst du da für 'n Unsinn, Nikita?« »Hör zu, Genosse. Ich bin Anhänger der neuen Strukturali sten. Die Welt versinkt im Chaos. Ordnung ist eine Illusion. Atombomben werden auch die letzten Illusionen zerstören, und das Universum wird zu seinem natürlichen Zustand der Entropie zurückkehren.« »Müssen wir uns das anhören?« fragte der Waffenoffizier. »Die ganze Zeit, bis nach Pulonga«, sagte der Offizier und verdrehte die Augen. Zenko wartete eine Viertelstunde lang auf einen dritten Tor pedo. Bei einer echten U-Boot-Abwehroperation hätten ein ganzes Dutzend Hubschrauber ihre Torpedos ins Wasser geschleudert und einen Angriff gestartet, den kein U-Boot überlebt hätte. Zenko hatte seine Waffeneinheiten einem gründlichen Training unterzogen, feindliche Eindringlinge zu lokalisieren, zu verfolgen und zu zerstören, aber Deminow hatte offenbar entschieden, das Hubschraubergeschwader zurückzuhalten. Eine Begegnung mit einem NATO-U-Boot im Weißen Meer, damit hätte Zenko nie gerechnet, und die Ironie der augenblicklichen Situation war ihm höchst unangenehm. Mit ten in der Verfolgung der »Sowjetski Sojus«, haßte er die Vor stellung, dass ein amerikanischer Eindringling in seinen Privat gewässern schnüffelte. »Was soll ich bloß mit diesem Eindringling machen, Sascha?« fragte er seinen politischen Offizier. »Nichts«, entgegnete Kugarin. »Ich habe befürchtet, dass du das sagst«, meinte Zenko. »Das ist wie ein schlechter Traum. Was Malakow und Deminow tun, kann ich nachvollziehen. Ihre Verrücktheiten sind irgendwie typisch russisch. Aber das hier ... ich weiß 246
nicht.« »In einem leeren Raum passiert auch nichts, Stefan.« »Der Kalte Krieg ist vorüber«, insistierte Zenko. »Ein ame rikanischer Kapitän hat im Weißen Meer nichts zu suchen. Das ist eine Provokation.« »Stefan, wir befinden uns nicht im Krieg mit den Amerika nern. Wir befinden uns im Krieg mit der >Sowjetski Sojus< und Wladimir Malakow.« »Hör auf, mir ständig dasselbe zu erzählen. Ich kann diesen unwillkommenen Besucher nicht einfach ignorieren. Ist dir aufgefallen, wie schnell der begriffen hat? Nach dem ersten Torpedo war dem klar, dass er sich ruhig verhalten muss, um eine 533 zu überleben.« »Wir haben immer gewußt, dass die Amerikaner beachtliche Gegner sein würden«, sagte Kugarin. »Ja, ja, schon«, pflichtete Zenko ihm mit einem Lächeln bei. »Aber ist er ein Gegner? Er hat nicht geschossen. Warum nicht?« Der politische Offizier dachte über die Frage nach. »Er weiß, er ist nicht der Hauptfeind«, sagte er. Der Hauptfeind. Während des Kalten Krieges hatte die Admiralität immer die Marine der Vereinigten Staaten als den Hauptfeind bezeichnet. »Er ist angegriffen worden«, widersprach Zenko. »Aber nicht von der >Taifun<, entgegnete Kugarin. »Er ist ein Spion. Er hat Order zu beobachten und davon Meldung zu machen.« »Ja, und wenn er sieht, wie die >Taifun< die >Sowjetski Sojus< versenkt, was wird er dann wohl melden?« »Stefan, du kannst ihn nicht angreifen.« »Sascha«, sagte Zenko ungeduldig, »ich versuche eine takti sche Analyse zu machen, und du unterbrichst meine Gedan kengänge mit deinem politischen Kauderwelsch. Wenn diese Los Angeles unsere >Taifun< bedroht, wird sie versenkt. Kann 247
ich es mir etwa leisten, so lange zu warten, bis ihr Komman dant seine Angriffssonare auf meine Schrauben richtet? Bis seine Torpedos durchs Meer rasen? Ich kann keine Zeit damit verschwenden, mich an diesen dreisten Ami ranzuschleichen. Ist er nun eine Bedrohung für die >Taifun< oder nicht?« »Wir wissen es nicht mit Sicherheit.« »Nein, und das ärgert mich maßlos. Das sind unsere Gewäs ser.« »Wenn er eine Bedrohung ist«, erklärte Kugarin, »dann wird es nicht leicht sein, ihn zu versenken.« »Ich fürchte, in dem Punkt hast du mal ausnahmsweise recht, Genosse Politoffizier«, gestand Zenko. »Und wir kön nen hier nicht bleiben. Alle Maschinen langsame Fahrt voraus. Kurs Zwei Sieben Sieben Grad steuern.« Die Schrauben der »Taifun« begannen sich zu drehen. Das gewaltige U-Boot geriet in Bewegung und fuhr Richtung WestNordwest, seitlich weg von dem amerikanischen U-Boot. »Er wird uns folgen«, sagte Kugarin. »Na fein«, meinte Zenko. »Dann weiß ich wenigstens, wo er steht. Stell dir vor, Sascha, diese Los Angeles hat einen 533 Angriff überlebt. Das ist ein Wahnsinnsschitf und ein Wahn sinnskapitän.« »Mag ja sein«, sagte Kugarin, »aber das hier ist die >Taifun<. Wir haben 65er an Bord.« »Sonar an Kontrollraum. Big Iwan rührt sich wieder.« »Wie ist unsere Entfernung, Sonar?« fragte Gunner. »Schätze fünfzehntausend Meter, Skipper.« Gunner rollte ein rotes Halstuch zu einem Band und schlang es sich um den Kopf. Kalter Krieg, Heißer Krieg, Bürgerkrieg, er war kein Krieger im Kampf ums Überleben. Trout zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Leutnant O'Connell starrte den Kapitän ehrfurchtsvoll an. »Langsame Fahrt voraus«, befahl Gunner. »Kontrollraum an 248
Sonar. Morrison, wir bleiben knapp zweitausend Meter hinter ihm. Wo er hinfährt, fahren wir auch hin.« Die »Reno« kam in Bewegung. Fünfzehn Kilometer vor ihnen stampfte die »Taifun« Richtung West-Nordwest. Gunner fühlte sich irgendwie mit Stefan Zenko verbunden. Der russi sche Kapitän musste längst wissen, dass er verfolgt wurde, aber durch die einfachen Tatsachen, dass sie sich nicht gegenseitig umbrachten, hatten sie, wenigstens für den Augenblick, eine tiefe Kluft der Geschichte überbrückt und unter der Eisdecke eine Art Waffenstillstandsabkommen geschlossen. »Er fährt auf den Kandalakschagolf zu«, verkündete Trout vom Navigationstisch. »Der Ort, an den sich Taifune zum Sterben zurückziehen«, sagte Gunner. In Pulonga nahmen Leutnant Tarinski und der Funkoffizier das defekte Minensteuerpult auseinander, fanden jede Menge korrodierte Kabelverbindungen und behoben den Fehler. Der Sonaroffizier reparierte die Generatoren, und die Bewohner der notdürftigen Unterkunft fühlten sich wieder wie Warmblüter. »>Gorki< ruft Marinestützpunkt Pulonga. Erbittet Erlaub nis, Straße zu durchfahren«, krächzte es aus dem Funkapparat. »Pulonga hier. Bitte per Kennung identifizieren.« »7Z99Z9.« »Erlaubnis erteilt.« Tarinski schüttelte verwundert den Kopf. Wenn das die »Gorki« sein sollte, und zwei U-Boote waren nach dem Desa ster mit der »Minsk« schon durch die Straße gefahren, wer steuerte dann das zweite U-Boot? Bevor er diese verblüffende Nachricht an Deminow in Gre micha weiterleiten konnte, kam die Hubschrauberbesatzung rein und meldete Kontakt mit zwei U-Booten und ihren miß glückten Versuch, sie zu versenken. »Rufen Sie Deminow an«, verlangte Tarinski vom Piloten. 249
»Soll er Sie anbrüllen und nicht mich.« »Wenn Deminow ein Taifunboot versenken will, braucht er mehr als einen Angriffshubschrauber. Mehr fällt mir dazu nicht ein«, sagte der Pilot. »Ich habe viele vermasselte Operationen während meiner Dienstzeit erlebt, aber dieses Chaos ist wirklich der Gipfel.« Tarinski deutete beiläufig auf die Wachen der Spetsnaz. »Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen.« »Die können mich mal. Geben Sie mir das Telefon.« Deminow in Gremicha hörte sich den Bericht des Piloten von der erfolglosen Torpedoattacke an, dann kam Tarinskis Meldung vom Funkkontakt der »Gorki«. Die »Taifun« jagte die »Sowjetski Sojus«, die »Minsk« war versenkt, und jetzt war auch noch ein Geisterschiff ins Weiße Meer eingedrungen. Was kam als nächstes? Deminow spürte, wie sich sein Komplott in nichts auflöste. Mit jeder neuen Katastrophe hatte er das Gefühl, dass sich die Hitze anstaute, bis zum Siedepunkt. In wenigen Stunden würden die »Arktika« und ihr Konvoi ihre Ankunftszeit in Archangelsk überschreiten, und die zivilen Behörden würden mit ihren Nachforschungen beginnen. Die Funkgeheimhaltung hatte Major Riziow zufolge soweit geklappt, und es hatte kein elektronisches Leck gegeben, das vom Verteidigungsrat hätte angezapft werden können. Was sollte er machen? Wenn er Malakow den Befehl gab, sofort eine Rakete abzuschießen, müßte er seinen Plan eines Putsches ohne Blutvergießen aufgeben. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass die »Gorki« die »Taifun« versenkt hatte, bevor Zenko die »Sowjetski Sojus« aufspürte. Er hatte keine Wahl. Er musste noch ein Taifunboot in See schicken. Drei Stunden lang versuchte die »Taifun« weder Ausweichmanöver noch irgendwelche gewagten »Iwan« Haken zu schlagen, um ihren Verfolger abzuwimmeln. Sie blieb stur auf ihrem Kurs Richtung Westen, mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Knoten. Auf der »Reno« 250
vergingen die Minuten, wie Tropfen aus einem undichten Hahn fallen. Über die Sonarschirme flackerten Lichtpunkte, Linien, graphische Darstellungen, Karten, das Bullenauge der »Taifun« immer genau in der Mitte. Trout beaufsichtigte die Computertechniker, deren Rechner Gigabytes an Daten über das Weiße Meer und die »Taifun« sammelten, militärische Geheimnisse von unschätzbarem Wert, Wasser auf die hungrigen Mühlen der amtlichen Spionageringe. Die Daten über die russischen Torpedos, Wasserbomben und Eissprengstoffe wurden einer intensiven Computeranalyse unterworfen und verfeinerten die Verteidigungstaktiken der »Reno«. Die uralte militärische Schaukelpolitik von Angriff und Verteidigung beschäftigte die elektronischen Gehirne unter dem arktischen Eis. Nach Gunners Verständnis war die Gleichung nicht ausge wogen. Warum ließ Zenko es zu, dass die »Reno« ihn verfolgte? Warum schoß die »Taifun« nicht? Nach zwei Runden der Gewalt waren die Kommandanten des amerikanischen und des russischen U-Bootes zu den Regeln des Kalten Krieges zurückgekehrt, mit einer seltsamen Wende. Niemals zuvor war das Spiel so tief in russischen Gewässern ausgetragen worden. Die Mannschaft fühlte sich wie im Belagerungszustand. Nach stundenlangem Verharren in Gefechtsstationen stank es in dem Schiff wie in einem Umkleideraum. Die Eisdecke über ihnen krachte, aber die Männer versuchten nicht daran zu den ken, wo sie sich befanden. Als ob die Russen da wären und gleichzeitig nicht da wären, und auch die »Reno« da wäre und nicht da wäre, eingehüllt in die trüben Tiefen des Planeten, eine winzige Raumkapsel auf der Jagd in einem fremden, feindli chen Meer. »Er ist immer noch hinter uns, Genosse Boß. Er gibt nicht nach.« Fasziniert das Bild auf dem Sonarschirm verfolgend, ver 251
suchte sich Petja das Leben an Bord eines amerikanischen UBoots vorzustellen. Seine Kenntnisse von Amerika waren eine Mischung aus Propaganda, alten Filmen, Rock-'n'-Roll-Lyrik und ein paar unverdauten Brocken Englisch. »Gud day, zir and madam. I am likink smashed egg this day for eatink. Yes, tank you. Good golly. Miz Nolly, I'm bad to the bone, yes?« »Was brabbelst du da vor dich hin, Kleiner?« fragte Soro kin. »Wie, das wissen Sie nicht? Das ist Englisch.« »Ist ja putzig«, spottete Sorokin. »Mach, dass du in den Backbord-Maschinenraum kommst, und bring den Dienstplan mit.« »Aye, aye.« Bulgakow schlenderte pfeifend nach hinten. »We all live in a yellow submarine.« »Ihr kleiner Freund scheint die Amis zu mögen, Wadim«, sagte Zenko. »Er ist zu unvernünftig, um Angst zu haben, Kapitän.« Zenko grinste. »Ich beneide ihn. Wenn man zwanzig ist, ist das Leben das reinste Vergnügen, sogar Krieg.« Sorokin trat dichter an Zenko heran. »Genosse Kapitän, wie sollen wir Malakow finden? Er braucht sich nur still zu verhal ten.« Zenko strich sich übers Kinn und musterte den Bildschirm. »Das habe ich mich auch schon hundertmal gefragt, Wadim«, sagte er. »Wir benutzen den Amerikaner als Köder.« Kapitän Malakow an Bord der »Sowjetski Sojus« duschte, rasierte sich und zog eine frisch gebügelte neue Uniform an. Zwei weitere Routinemeldungen aus Gremicha waren recht zeitig eingetroffen und hatten keine Veränderung des Status quo angezeigt. Die »Taifun« war nicht versenkt worden. In nicht einmal achtzehn Stunden würde Admiral Deminow 252
im Kreml anrufen und sein Ultimatum stellen. Malakow amü sierte die Vorstellung, wie der Präsident den Anruf in seiner Wohnung entgegennahm. Es würde acht Uhr abends sein, Essenszeit. Gäste würden anwesend sein, Sicherheitsbeamte und das ganze Drum und Dran der Machtelite. Leichter Schneefall ging vor den Fenstern nieder, der Minuten später wieder geschmolzen war. Deminow würde alle behördlichen Hürden mit einem Sprung nehmen und direkt den großen Reformer selbst konsultieren, der dazu vielleicht allein in einem Vorzimmer stand, den Hörer am Ohr. Die Nachricht aus Gremicha würde knapp und präzise ausfallen. Übergeben Sie die Macht dem Verteidigungsrat, andernfalls wird Tiflis zu radioaktivem Staub verwandelt. Keine Verhandlungen. Asch fahl würde der Präsident Rußlands ins Speisezimmer zurück kehren, das sofort von den Gästen geräumt werden müßte. Der Präsident würde alle maßgeblichen Leute anrufen, einen Krisenstab einberufen. Alarmglocken würden ausgelöst, Hupen ertönen, alles vergeblich. Wie verzweifelte Bienen in ihrem zerstörten Stock würden die Politiker in seiner Umgebung wild um sich schlagen und sich gegenseitig abstechen. Moskau würde in Panik geraten. Tiflis würde in Panik geraten. Keiner würde eine Entscheidung fällen, und die »Sowjetski Sojus« würde ihre erste Rakete abfeuern. CNN würde schon nach wenigen Minuten live aus Moskau berichten. Deminow genoß den Luxus, CNN in Gremicha empfangen zu können, und würde mit Genugtuung am Fern sehen verfolgen, wie die schwarzen Limousinen im Eiltempo am Kreml vor- und wieder abfuhren. Die tiefe Stimme eines amerikanischen Reporters würde melden: »Unbestätigten Berichten zufolge ist die Stadt Tiflis in der südlichen Republik Georgien von einer atomaren Explosion zerstört worden.« Am unteren Rand des Schirms würde ein Band mit russischen Untertiteln zu lesen sein. »Gleich geht's weiter.« Pepsi-Wer bung. Das neue Rußland. Schnitt zurück auf den Roten Platz, 253
Sirenenheulen der Zivilverteidigung ... Unvermittelt stoppte Malakow seine Phantasie. Wie ein Riß durch die Leinwand rui nierte der Gedanke an Stefan Zenko das Bild. Irgendwo da draußen in trüber Finsternis war Zenko auf der Jagd. Malakow geriet nicht in Panik. Er hatte schon daran gedacht, die »Sowjetski Sojus« aus dem Graben im Golf zu verlegen, aber der Einsatz der Schiffsmotoren würde Lärm verursachen, der die Aufmerksamkeit der »Taifun« erregte, sollte sich Zenko zufällig in der Nähe aufhalten. Er konnte auf dem Meeresgrund bleiben, wenn er wollte, und die »Taifun« über sich vorbeiziehen lassen, aber er rechnete damit, dass Zenko den Grund zuerst absuchen würde. Die grausame Wahr heit der U-Boot-Kriegsführung war nie so deutlich geworden wer zuerst hört, lebt länger. Je mehr er die Sache drehte und wendete, desto mehr gefiel ihm die Idee, die »Taifun« zu zer stören und Zenko zu töten. Er kam zu dem Schluß, einen Hin terhalt zu legen. Er ging zurück in die Kommandozentrale, in seiner funkelnden neuen Uniform. »Tauchoffizier«, kommandierte er, »brin gen Sie uns rauf und verstecken Sie uns unter der Eisdecke. Langsam und leise. Lassen Sie sich Zeit.«
254
26. Kapitel Gorki Dreißig Kilometer östlich vom Kandalakschagolf gab Zenko den Befehl, die Fahrt auf sechs Knoten zu reduzieren. Bei der Geschwindigkeit musste die »Sowjetski Sojus« auf fünftausend Meter herankommen, um die »Taifun« aufzuspüren. Achtern folgte der Amerikaner auf dem Fuße, und gemeinsam näherten sich die beiden Schiffe vorsichtig dem Golf. Nach mehreren Minuten langsamer Fahrt befahl Zenko eine weite 90-Grad-Kurve nach rechts, setzte die Fahrt einen Kilometer Richtung Norden fort, befahl dann wieder eine Rechtskurve, entgegen dem ursprünglichen Kurs. Er beab sichtigte, einem Muster zu folgen, hin und her, wobei mit jedem Durchlauf der Amerikaner ein Stück weiter über den tiefen Graben geschoben wurde, wo Zenko das Versteck der »Sowjetski Sojus« vermutete. Mit etwas Glück würde er den Amerikaner zwischen die »Taifun« und die »Sowjetski Sojus« schieben und Malakow zum Schießen reizen. Zenko musterte die Wiedergabe des Sonarnetzes am Heck. Er erwartete, dass sich die »Sowjetski Sojus« zuerst mit einem Angriffssonar als aufleuchtender Lichtpunkt auf seinen Schirmen bemerkbar machte, Sekunden später gefolgt von Torpedomotoren vom Typ 65. Weitaus intelligenter als die Torpedos vom Typ 533, verfügten die 65er über ein kompli ziertes Lenksystem, einschließlich Infrarotsensoren. Wenn der Schuß aus westlicher Richtung kam, würde Malakow seine Position verraten, während sich die Infrarotsensoren auf den Torpedos der »Sowjetski Sojus« auf das Los-Angeles-Boot einloggten. Zenko wischte seine schlimmste Befürchtung beiseite, dass sich Malakow überhaupt nicht in der Nähe des Kandalakscha golfs befand. In sechs Stunden müßte er dann die »Taifun« 255
einem hohen Risiko aussetzen und die Wasseroberfläche mit Radar absuchen. Malakow würde nur für einen Abschuß auf tauchen und nicht lange oberhalb der Eisdecke bleiben. Zenko nahm an, dass er die »Sowjetski Sojus« mit einer Schiffsab wehrrakete versenken konnte. Aber dann hätte sie bereits ihre erste tödliche Atomrakete abgeschossen. In seinem Versteck unter Eis genoß Malakow alle Vorzüge, die Zenko in die Boote der Taifunklasse eingebaut hatte. Zenko hatte zu gute Arbeit geleistet, fürchtete er. Gunner folgte der »Taifun« in ihrem weit ausholenden Bogen, hielt zwischen der »Reno« und dem russischen Boot etwa drei Kilometer Abstand. Zuerst dachte er, Zenko hätte damit einen zugewiesenen Sektor erreicht, wo er leise patrouillieren und den Startbefehl für den Abschuß einer Rakete abwarten würde, aber dann wurde er mißtrauisch. »Gus«, sagte er zu seinem XO, »das sieht mir nach einem Suchfeld aus. Er hält Ausschau nach dem anderen Taifun.« »Warum sollte er das wohl tun?« fragte Trout. »Vielleicht sucht er nach einer Erhebung im Eis, um seinen Mast auszu fahren und eine Nachricht zu schicken. Eine Nachricht über uns, Jack. Dann schickt Gremicha dem anderen Taifunboot einen Funkspruch, und wir sitzen in der Falle.« »Wozu der Umstand?«, entgegnete Gunner. »Er könnte jederzeit einen Schuß auf uns abfeuern, wenn er wollte. Wir verstecken uns weiß Gott nicht vor ihm. Außerdem hat er seine Eisscanner nicht eingeschaltet.« Morrisons Stimme im Lautsprccher unterbrach das Gespräch. »Sonar an Kontrollraum.« »Was gibt's Neues, Sonar?« »Unterwasserkontakt, Peilung genau Null Acht Acht, Entfernung zweiundzwanzigtausend Meter, Geschwindigkeit wahrscheinlich einunddreißig Knoten, Tiefe sechzig Meter. Identifizierung, Akula-Klasse, wahrscheinlich die >Gorki<.« Mit der »Sowjetski Sojus« und dem amerikanischen 256
Eindringling beschäftigt, traf Zenko völlig unvorbereitet, was er als nächstes vernahm. »Sonar an Kommandozentrale, Kontakt direkt voraus, Akula-Klasse, Peilung Null Acht Acht, Entfernung zweiund zwanzigtausend Meter, Geschwindigkeit einundreißig Kno ten.« Zenko brummte der Schädel. »Die >Gorki<«, rief er. »Alle Maschinen stop.« Die Motoren kamen zum Stillstand, und die »Taifun« glitt aus eigener Kraft durchs Wasser. Zenko schaltete das vordere Sonarnetz ein und hörte die »Gorki« mit erhöhter Geschwin digkeit durchs Wasser pflügen. Ihre eigenen Horchgeräte taub machend, raste sie auf den Kandalakschagolf zu. Krieg ist schmutzig, dachte Zenko, schmutzig und ver schwenderisch. Lorinski ging wie ein säbelschwingender Kosacke auf das Jagdrevier los. »Kommandozentrale an Sonar. Wo ist der Amerikaner?« »Er hat angehalten, als wir anhielten, Kapitän.« »Wir können die Akula nicht einfach ignorieren«, sagte Zenko zu Kugarin. »Ich dachte, Lorinski würde in der Barents see bleiben, um uns die Ausfahrt aus der Gorlostraße zu ver sperren. Ich habe mich geirrt.« »Ich glaube nicht, dass er uns gehört hat«, sagte Kugarin. »Dafür fährt er zu schnell.« Zenko warf einen verstohlenen Blick hinüber zu Sorokin. Mit grimmigem Gesicht fuhr sich der Steuermannsmaat mit der Hand über den Nacken. Zenko nickte. »Kommandozentrale an Torpedoraum. Flach wassertorpedos Typ 65 in Rohre Eins, Zwei und Drei laden.« Das Kommando hallte im Torpedoraum wider. Der Torpe dooffizier gab die entsprechenden Befehle in sein Steuerpult ein, und eine hydraulische Hebevorrichtung zog drei schnelle, leichte U-Boot-Killer aus einem Regal, öffnete die Innenklap pen von drei Steuerbordrohren, schob die Torpedos hinein und 257
schloß die Klappen wieder. »Torpedoraum an Kommandozentrale. Rohre geladen.« »Mündungklappen auf Eins, Zwei und Drei öffnen. Rohre fluten.« Die Klappen öffneten sich, und Meerwasser strömte in die Rohre. »Torpedos scharfmachen, auf drei Kilometer Minimalreich weite stellen.« Die Computer im Torpedoraurn fütterten die Lenksysteme an Bord der Unterwassergeschosse mit Sonardaten. Die »Tai fun« war klar zum Schnappschuß, ein schnelles Torpedofeuer im Nahkampf. »Torpedos scharfgemacht, Kapitän.« Morrison hörte die unverwechselbare Kombination von Geräuschen: hydraulische Stöße, gefolgt von dem auffälligen Klatschen von Wasser, das in Hohlräume stürzt, dann das Blubbern von Blasen. Torpedoklappen öffneten sich, und Rohre wurden geflutet. »Sonar an Kontrollraum. Die >Taifun< flutet die Rohre.« »Kontrollraum an Sonar. Wiederholen!«, befahl Gunner, jede Panik in der Stimme vermeidend. Morrison wiederholte die Warnung, und Gunner schaltete den Bordfunk ein. »Alle Mann Achtung!« sagte er. »Gefechts stationen besetzen. Klarmachen zum Ausweichmanöver.« Adrenalinstöße durchpulsten die Männer der »Reno«. In lei ser Aufregung räumten sie die Messe, krochen aus Kojen her vor und rannten, die Hose hochziehend und das Hemd knüp fend, auf ihre Posten. Sharpe und O'Connell stürmten halbnackt in den Kontroll raum. »Was ist los?« »Ich weiß noch nicht genau«, sagte Gunner, »aber die >Tai fun< ist schußbereit.« »Sie will uns beschießen? Gütiger Gott!« »Ich weiß nicht! Verdammt noch mal. Ich weiß es einfach 258
nicht, aber ich will auf alles gefaßt sein. Bitte anschnallen! Er schießt entweder auf uns oder auf die Akula.« Die »Reno« hing im Wasser, jederzeit bereit zu fliehen. Gunner befahl eine Anhebung der Reaktorleistung, was den Lärm, den das Boot ins Wasser ausstrahlte, verstärkte. Plötzlich sah Morrison mit Befremden, dass sich der Schirm neu aufbaute. Der Computer zeigte nun an, dass die Akula viel näher war, als die vorherigen Analysen ergeben hatten. Sie stand 9,5 Kilometer östlich und 6,5 Kilometer von der »Taifun« entfernt, und näherte sich rasant in einem schiefen Winkel, der sie auf einige hundert Meter an Zenkos Schiff heranführen würde. Kapitän Lorinski an Bord der »Gorki« war sich der Gefahr bewußt, mit der er spielte. Sein Boot erzeugte so viel Lärm, dass er jedem Sonar im Weißen Meer seine Position verriet. Er hatte die Absicht, Zenkos Aufmerksamkeit von der »Sowjetski Sojus« abzulenken, ein dreistes und gefahrvolles Manöver. Er wußte, dass sowohl Malakow als auch Zenko die »Gorki« in den Kandalakschagolf einfahren hörten, und er baute darauf, dass beide die richtigen Schlüsse zogen. Malakow würde Bescheid wissen, dass Lorinski kam, um ihn zu schützen, und Zenko würde zu sehr von der »Gorki« abgelenkt werden und der »Sowjetski Sojus« seine Position verraten. Lorinski sah auf den Fahrtanzeiger. Die Akula vibrierte unter seinen Füßen. In zehn Minuten würde die »Gorki« über dem tiefen Graben sein, dann würde er anhalten und lauschen. Bis dahin war er blind und taub und raste weiter durchs Meer. »Genosse Computer, hast du eine Lösung für unser Problem?« Zenko gab Kugarin, der am Feuerleitstand saß, ein Zeichen. »Sascha«, sagte er, »der Computer kann nicht für sich selbst antworten. Du musst das für ihn erledigen.« »Ja, Kapitän«, sagte Kugarin. »Ich habe eine Lösung.« Die »Gorki« war jetzt fünf Kilometer steuerbordseits von 259
der »Taifun« entfernt. Wenn sie nicht beidrehte, würde sie nahe genug vorbeifahren, um die Torpedolenksysteme zu programmieren, ohne die aktiven Suchsonare der »Taifun« einzuschalten. Die Männer in der Kommandozentrale hatten tiefernste Gesichter. Keiner von der Besatzung der »Taifun« hatte je einen echten Schuß abgefeuert, und keiner stellte die Entscheidung des Kapitäns in Frage, einen solchen Schuß ausgerechnet gegen eins seiner eigenen Schiffe abzufeuern. Zenko konnte keine Wut in den Gesichtern ausmachen, nur Trauer und grimmige Entschlossenheit. Die »Gorki« rückte näher. Bei einer Entfernung von drei Kilometern ließ sich die Hohlraumbildung hinter ihren Propellern durch den Rumpf der »Taifun« hören. »Lorinski muss wissen, dass er Selbstmord begeht«, sagte Zenko traurig. »Gott stehe ihnen bei. Feuer.« Kugarin drückte drei rote Knöpfe. Drei Torpedos Typ 65 schossen aus den Steuerbordrohrcn und rasten auf die »Gorki« zu. Ein Infrarot-Lenksystem hielt den Fisch unter Eis, über Grund und auf dasjenige Ziel gerichtet, das die stärkste Hitze ausstrahlte. Die »Gorki« reagierte überhaupt nicht. Als die Sonaropera toren das hohe Aufheulen elektrischer Motoren vernahmen, war die hochexplosive, tödliche Ladung nur noch einhundert Meter entfernt. »Bereitmachen zum Einschuß!« brüllte Lorinski. Der erste Torpedo schlug mittschiffs ein, unweit der größten Hitzequelle, dem Reaktorraum. Die Ladung durchbrach den Druckkörper und flutete die Abteilung. Innerhalb von Sekun den spülte eiskaltes Meerwasser über die Wärmeaustauscher, so dass sich blitzschnell Dampf ausbreitete. Die Schotten wur den aufgeblasen und herausgedrückt und das U-Boot in zwei Hälften gespalten. Der zweite Torpedo drang achtem durch die Hülle und explodierte im Innern des Maschinenraums, die 260
Maschinentechniker waren auf der Stelle tot. Der dritte deto nierte vor dem Turm und sprengte die Kommandozentrale in Stücke. Der Bugabschnitt war umgehend überflutet und sank. Die »Gorki« und mit ihr alle Seeleute an Bord war innerhalb von neunzig Sekunden ausgelöscht. Die Wrackteile sanken langsam auf den Grund. Keiner in der Kommandozentrale der »Taifun« brach in Jubel aus. Sorokin hielt seinen Blick starr auf die Sonarschirme gerichtet, achtete auf jede Bewegung, die das amerikanische U-Boot machte. Bulgakow wäre am liebsten durch die nächste Luke geschlüpft, an die Wasseroberfläche getaucht, durchs Eis gestoßen und zu Fuß nach Archangelsk gegangen. Er versuchte, sich das rothaarige Mädchen aus der Bar vorzustellen, aber er konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Kugarin betete leise. »Männer der >Taifun<, sagte Zenko über Bordfunk, seine Stimme zitterte. »Wir haben die Akula >Gorki<, vom Siebten Geschwader in Murmansk versenkt. Einhundert tapfere See leute befanden sich auf dem Schiff. Wir wollen einen Augen blick schweigend ihrer gedenken.« Die Männer nahmen ihre Mützen ab und senkten die Köpfe. »Und jetzt nichts wie raus hier«, sagte Zenko. »Kurs Zwei Sie ben Zwei steuern. Geschwindigkeit auf sechs Knoten.« »Ach du Scheiße.« »Ach du Scheiße.« »Ach du Scheiße.« Fünfzehn ergriffene Männer auf der »Reno« wiederholten den Fluch. Kein einziger, der Zeuge des russischen Torpedo feuers geworden war, wollte so etwas ein zweites Mal erleben. »Wie eine Breitseite von einem Schlachtschiff«, sagte Trout. »Himmel, wie soll man da noch die Guten von den Bösen unterscheiden?« »Weiß der Teufel«, antwortete Gunner, »jedenfalls wissen wir, wer die Toten sind.« 261
»Ist er fertig?« wollte Trout wissen. »Oder sind wir als nächste dran?« »Sonar an Kontrollraum. Die >Taifun< gibt Gas«, sagte Morrison. »'ne dolle Show, was Kapitän?« »Ich hoffe, Sie haben diese Farce auf Band, Morrison.« »Ja, Sir. Ein Jahrhundertband.« Gunner rieb sich mit den Handrücken die Augen. »Ist Zenko völlig übergeschnappt?« fragte er Trout. »Jetzt weiß ich immerhin, dass wir mitten in einen Bürgerkrieg geraten sind.« Fünfzig Kilometer weiter brachten die Schallwellen der Explosion die Sonarsysteme der »Sowjetski Sojus« in Schwin gung. »Sonar an Kommandozentrale. Drei Explosionen, Kapitän, Volltreffer Typ 65, und zahlreiche Folgeexplosionen. Die >Gorki< ist zerstört, aber wir kriegen hier seltsame Schatten auf unsere Schirme.« Malakow ging rüber in den Sonarraum, um die Bänder vom Angriff der »Taifun« zu prüfen. Die »Sowjetski Sojus« hatte das schnelle Herannahen der Gorki gewittert, und durch das plötzliche Auftauchen von drei Torpedos musste die »Taifun« ihre Position preisgeben, aber die Schallwellen der Explosionen wurden von zwei Schiffskörpern zurückgeworfen. »Der eine ist die >Taifun<«, sagte Malakow. »Aber wer zum Teufel ist der andere?« Die Sonarmänner sahen sich an und schüttelten den Kopf. »Keine Ahnung, Kapitän.« »Was hören Sie jetzt?« »Nichts.« Zenko war ganz nah, zu nah. Malakow kehrte zurück in die Kommandozentrale. »Torpedoraum«, befahl er, »alle Rohre mit Torpedos Typ 65 laden, konventionelle Sprengköpfe.« »Torpedoraum, alle Rohre Typ 65, aye.« »Backbord-Raketenkammer.« »Backbord«, antwortete Raketenofflzier Minski. 262
»Klarmachen zum Abschuß.«
263
27. Kapitel Der Tanz »Die >Taifun< zu verfolgen ist nicht gerade gesundheitsför dernd«, sagte Gunner zu Trout. »Wie hat es die >Gorki< bloß durch die Straße geschafft, nachdem die >Minsk< mit Wasser bomben versenkt wurde?« »Genauso wie wir«, antwortete Trout. »Sie hat sich durch gemogelt.« »Glaube ich nicht«, sagte Gunner. »Ich glaube, die >Gorki< war erst der Anfang. Wenn Zenko einen Alleingang wagt, wird die Nordflotte alles gegen ihn einsetzen, was sie aufzubieten hat, bis die >Taifun< zerstört ist. Ein Torpedo war bereits auf uns gerichtet, und es werden mehr, wenn wir im Kreuzfeuer bleiben.« »Will Zenko eine Rakete abfeuern?« fragte Trout. »Wenn ja, müssen wir an ihm dranbleiben.« »Wenn er wirklich vorhat, eine Rakete abzufeuern, dann würde er nicht auf Biegen und Brechen ins Weiße Meer wollen. Er könnte genausogut von der Barentssee aus schießen. Also ist er hinter irgend etwas anderem her. Nehmen wir mal an, er sucht das andere Taifunboot. Aber, wenn das zutrifft, und das andere Taifunboot ist das eigentliche Piratenschiff, warum wurden dann Akulas und Hubschrauber eingesetzt, um die >Taifun< zu versenken? Das ergibt alles keinen Sinn.« »Das Ratespielchen können wir den ganzen Tag spielen«, meinte Trout. »Ich brauche Informationen. Washington braucht Informa tionen«, stöhnte Gunner, immer wieder ein Streichholz anrei bend, das einfach nicht aufflammen wollte. Er war fast soweit, das Risiko einzugehen und einen Funkmast auszufahren, aber ein Meter gefrorenes Meerwasser trennte die »Reno« von den kreisenden Satelliten. Jeden Augenblick konnte wieder ein Tor 264
pedo durch die Eisdecke fallen, konnte die »Taifun« wieder einen Schuß abfeuern. Oder es tauchten noch mehr Akulas auf. Wenn die »Reno« versenkt würde, bevor Gunner melden konnte, was ihre Sonare aufgezeichnet hatten, wären Mann schaft, Schiff und Kapitän für nichts und wieder nichts umge kommen. »Sonar an Kontrollraum. Big Iwan bewegt sich wieder Richtung Westen.« »Danke, Sonar. Wir folgen in einem größeren Abstand. Geben Sie ihm achttausend Meter Vorsprung, dann passen wir uns seinem Kurs und seiner Geschwindigkeit an.« »Aye, aye.« »Gus, bereitmachen für eine Meldung über das, was wir bis her gesehen haben, unsere Position und die augenblickliche Lage.« »Den Funkmast auszufahren bedeutet ein ziemlich großes Risiko«, sagte Trout überrascht. »Natürlich«, stimmte Gunner zu, »aber ich will bereit sein, falls sich eine günstige Gelegenheit ergibt.« »Aye, aye, Skipper.« »Kontrollraum an Sonar.« »Sonar.« »Morrison, suchen Sie uns eine offene Wasserrinne, ohne die Eisscanner zu aktivieren.« Morrison im Sonarraum kratzte sich am Kopf und kaute auf seiner Zigarre. »Unmögliches dauert etwas länger, Skipper.« »Ich weiß. Geben Sie Ihr Bestes.« »Aye, aye.« Auf der »Taifun« wartete Zenko darauf, dass der Amerikaner achtern wieder in Formation folgte. Die Sonarcomputer der »Taifun« waren nicht in der Lage, den Namen des U-Boots der Los-Angeles-Klasse zu identifizieren, aber Zenko hatte den gesamten Kalten Krieg in strategischen 265
U-Booten verbracht und Versteck mit amerikanischen SSNs gespielt. Von Anfang an hatten die amerikanischen atomgetriebenen U-Boote den Vorteil überlegener Wendigkeit, bis sich die leisen Taifunboote mit ihnen messen konnten. Jetzt, und dessen war sich Zenko voll bewußt, wollte er versuchen, das zu tun, was in der Ausbildung amerikanischer U-Boot-Kommandanten an erster Stelle stand: ein Taifunboot unter Eis aufspüren. Er beneidete die Los Angeles um ihre sensiblen Sonare und geräuscharmen Propeller, aber in der Haut des Kapitäns wollte er nicht stecken. Er befand sich tief in feindlichen Gewässern, wo frühere Feinde ihre eigenen Schiffe versenkten. Zenko fragte sich, wie der Amerikaner die Situation wohl interpretierte. »Sonar an Kommandozentrale. Eingedrungenes U-Boot rührt sich nicht, Kapitän.« »Er ist verwirrt«, sagte Zenko. »Verwirrt, frustriert, veräng stigt, und wohl auch ein bißchen sauer. Er wird schon noch aufschließen, über kurz oder lang, wie ein aufsässiges Schoß hündchen. Kurs und Geschwindigkeit beibehalten.« In der Kommandozentrale der »Sowjetski Sojus« waren alle Ohren auf Sonarmeldungen eingestellt, warteten auf das ferne Grollen von Kühlpumpen, das Pfeifen von Propellern und das Surren der Untersetzungsgetriebe. Zwei U-Boote näherten sich dem Golf. Aus der Computeranalyse der Sonarbänder ging hervor, dass die Akula durch Torpedobeschuß von einem Taifun zerstört worden war. Zenko war am Leben. Die »Taifun« war fünfzig Kilometer entfernt, in Begleitung eines geheimnisvollen Verbündeten, wahrscheinlich einer Akula. Eine Rakete abschießen oder lieber abwarten? Malakow musste sich entscheiden. Er konnte durch die Eisdecke stoßen, sofort seine Rakete abschießen und sich darin Zenko und seine Eskorte vornehmen. Die Lage in Gremicha war unsicher, aber falls Zenko die Unterstützung eines zweiten U-Boots von der 266
Nordflotte hatte, dann hatte Deminow wieder Mist gebaut und nicht nur die Kontrolle über den Stützpunkt, sondern über die gesamte Nordflotte verloren. War die »Sowjetski Sojus« allein, aufgegeben? War der Putsch gescheitert? Malakow starrte auf leere Bildschirme. Wenn sich die »Taifun« bewegte, dann fuhr Zenko heimlich und mit äußerster Vorsicht. Die Sonare der »Sowjetski Sojus« konnten kein anderes Taifunboot mit sechs Knoten Fahrt ausmachen, solange das Zielobjekt über fünf Kilometer entfernt war. Bei drei Knoten betrug die Sonarreichweite achthundert Meter. »Nun komm schon, Stefan Zenko, Held der Sowjetunion. Steig ein in meine Badewanne«, raunte Malakow. Sechzig Meter weiter vorne, in der Backbord-Raketen kammer, herrschte eine Luft zum Schneiden. Der politische Offizier Sergow, Raketenoffizier Minski und drei Techniker gingen den letzten Probelauf vor dem Start durch. Stromkreis Scharfschalter geprüft, Test. Stromkreis lift off, geprüft, Test. Druckstickstoffsysteme geprüft, Test. Raketentriebwerkssy steme geprüft, Test. Trägheitssystem geprüft, Test. Startaus lösesystem geprüft, Test. Sprengkopfauslösemechanismus geprüft, Test. 147 verschiedene Systeme mussten überprüft werden, ein zweites und schließlich ein drittes Mal. Am anderen Ende des Raums, im vorderen Silo, wurde Rakete Nummer Elf darauf programmiert, 2479 Kilometer Richtung Süden zu fliegen und einen atomaren Sprengkopf fünfhundert Meter über dem Hauptplatz in Tiflis zu zünden. Das letzte Schnellfeuerkommando löste sich als Echo im Innern des höhlenartigcn Raums auf. Gespannte Stille herrsch te. Die Techniker starrten auf ihre Hände und atmeten in kurzen Stößen. Sie sollten eine Rakete abfeuern, zur Verteidi gung einer Idee, die längst keine Geltung mehr hatte; an die Zerstörung, die sie anrichten würde, wagte niemand zu den ken. »Wie spät ist es in Tiflis?« fragte Minski. 267
»Was macht das schon aus?« entgegnete Sergow und schaute dabei auf die Uhr. »Neun Uhr abends. Zeit für die >Vremya<, die Abendnachrichten.« Vor dem Feuerleitstand am hinteren Schott wirbelte Ser gow auf seinem Drehstuhl herum und fuhr mit den Augen die zehn blanken gelben Zylinder entlang, numeriert von elf bis zwanzig. Rote Blinklichter strahlten den letzten Kanister an. Sergow fummelte am Startschlüssel. Eine einzige Drehung, ein Knopfdruck und - Liftoff, die Rakete würde abheben. Hiroshima, Nagasaki, Tiflis. Eine Million Menschen würden den Tod finden, die totgeglaubte Union würde wieder auf erstehen. Seit dem Bürgerkrieg von 1917 bis 1922 hatte der Kommunismus nur überlebt, weil er seine Feinde rücksichts los ausgemerzt hatte. Sergow betrachtete die Einäscherung einer aufständischen Stadt als die logische Weiterentwicklung der ehrenwerten Tradition des politischen Terrorismus. »Per manente Revolution, mit allen Mitteln.« Diese Losung schrieb es vor, mit »allen« Mitteln. Selbstgefällig, verzehrt von Fanatismus, begeistert von der Vorstellung, aus großer Distanz und durch Fernsteuerung ungeheure Gewalt auszuüben, ging Sergow davon aus, dass die anderen Männer der Abteilung genauso dachten wie er. In sei nen Augen waren sie ideologische Werkzeuge, keine Men schen. Einen Meter neben ihm fing Raketenoffizier Minski an zu zittern. »Das ist falsch, was wir hier tun«, schrie es in seinem Kopf, »unverzeihlich und unsagbar.« Schweiß rann an seinem Körper hinab und sammelte sich in der Lendengegend. Minski zog die Unterhose hoch, ihm war übel. Er hatte den Probelauf für die Startprozedur wie ein Roboter befolgt, aber jetzt wußte er nicht mehr, was er machen sollte, war sich nicht sicher, was er überhaupt machen konnte. Sergow trug eine Waffe an der Seite und würde ihn erschießen, wenn er eine falsche Bewe gung machte. Ängstlich und dem Erbrechen nahe stand er von 268
seinem Terminal auf und raste auf die Latrine. Im Torpedoraum direkt unter der Kommandozentrale leuchteten rote Warnschilder über den sechs Torpedorohrklap pen auf. »Achtung! Sprengköpfe geladen!« Die »Taifun« fuhr sehr leise bei einer Geschwindigkeit von drei Knoten, und Malakow wußte, dass seine Chance erst bei einer extrem kur zen Entfernung gekommen war, so kurz, dass ein atomarer Sprengkopf nicht nur das Zielobjekt, sondern auch die »So wjetski Sojus« zerstören würde. Alle sechs Rohre waren mit Torpedos vom Typ 65 geladen, lediglich mit konventionellen hochexplosiven Sprengköpfen bestückt, und die äußeren Schleusenklappen waren zur See hin offen. Keiner der sieben Offiziere und Obermatrosen in der Torpe dogruppe hatte jemals ein lebendes Ziel anvisiert. Kurz nach dem sie aus Archangelsk ausgelaufen waren, hatte Malakow irgend etwas davon verlauten lassen, dass Rebellen in Georgien die Macht ergriffen hatten, aber seitdem hatte der Kapitän nichts Näheres über ihren Auftrag oder die Lage an Land bekanntgegeben. Geheimnistuerei gehörte zum Alltag der russischen Marine, aber nicht in Zenkos Flotte. Taifun-Kom mandanten waren angehalten, ihre Befehle zu erklären, aber keiner hatte eine Erklärung dafür, warum das Hunderte von Kilometer weit entfernte Georgien die Sicherheit der »So wjetski Sojus« im Weißen Meer bedrohen konnte. Ein Gefühl der Beklommenheit beschlich die Abteilung, aber niemand wagte es, als erster offen auszusprechcn, was alle dachten. Die Torpedoschützen rauchten Zigaretten, tranken Tee und trugen Privatfehden in ihren Köpfen aus. An Deck über dem Torpedoraum saß Malakow wie versteinert im Kommandantensessel. Der Gedanke an das ganze Ausmaß einer atomaren Katastrophe in einer Dreimillionenstadt schlug wie ein Blitz, strahlender als der Sonnenschein, bei ihm ein. Die Macht dieses Bildes berauschte den Kapitän der »Sowjetski Sojus«, und diesen Rausch genoß 269
er in vollen Zügen. Von Einstein bis Stefan Zenko - zahllos waren die Menschen, die daran mitgewirkt hatten, dass er heute in einem U-Boot saß, den Finger am Auslöser einer Atomrakete, und er wollte ihnen allen danken. Er war die Frucht ihrer großartigen Anstrengungen. Er liebte sie für ihre theoretische Physik und Raketenwissenschaften, ihre Atomreaktoren und computergesteuerten Feuerleitungen. Er liebte die sechs Kilo Plutonium in Rakete Elf. Er liebte seine Frau Katarina, ihre gemeinsamen Kinder, Andrej und Natascha, und seinen Schwiegervater, Iwan. Seine eigenen Eltern waren seit langem tot, aber er liebte auch sie. Er war überwältigt von soviel Liebe und glaubte, er würde gleich in Tränen ausbrechen. Einigen Offizieren in seiner Umgebung war aufgefallen, dass Malakow steif dasaß, sprachlos und versteinert, wie in Trance. Der Moment ging vorüber, der Kapitän blinzelte mit den Augen und richtete sich in seinem Sessel auf. »Sonar, melden.« »Bildschirme frei, Kapitän.« »Tauchoffizier, bringen Sie das Schiff rauf zur Eisdecke, klarmachen zum Auttauchen.« »Klarmachen zum Auftauchen, aye, Kapitän.« Auf der »Reno« hörte Gunner, wie die »Taifun« gleichmäßig Richtung Westen stampfte. Als die Entfernung zwischen beiden U-Booten achttausend Meter betrug, befahl er: »Alle Maschinen langsame Fahrt voraus.« Die »Reno« glitt durchs Wasser, kaum dass man ein Glucksen vernahm. Im Sonarraum lauschten Morrison und die Techniker den lebhaften Geräuschsalven aus der reichen Biosphäre des Wei ßen Meeres. Die Ankunft des Frühjahrs witternd, brachen Millionen Seesterne Richtung Süden auf, in die Untiefen des Kap Tschischginski. Krebse, Garnelen und Heringsschwärme, die sich vom Laich der Seesterne ernähren, rauschten durchs Wasser und verursachten ein gleichbleibendes Hintergrundge 270
räusch. In diesem brodelnden Lärm spürten die Unterwasser ortungsgeräte der »Reno« ein stilles Loch auf, das den gewalti gen Rumpf des achttausend Meter entfernten, langsam durch die Biosphäre fahrenden U-Boots umgab. Selbst dann, wenn es anhielt, scheuten die Meerestiere die »Taifun«. Riesenstöre tauchten ab, Heringe stoben davon, und Krebse verkrochen sich unter Steinen. Das Meer verfiel in Schweigen, wie der Urwald, sobald ein Tiger durch die Nacht streicht. Nach zweistündiger Verfolgung der »Taifun«, mit sechs Knoten, entdeckten die Sonare der »Reno« 27 Kilometer vor ihnen, 19 Kilometer westlich der »Taifun«, wieder ein stilles Loch. »Da ist er«, sagte Morrison. »Das andere Taifunboot. Sonar an Kontrollraum. Möglicher stehender Kontakt, fünfundsech zig Grad, zweiundvierzig Minuten Nord, fünfunddreißig Grad, zwölf Minuten Ost.« »Was haben Sie da, Morrison?« »Ein Loch im Wasser, Skipper. Die Computerschätzung liegt bei siebzig Prozent, dass es sich um einen U-Boot-Rumpf handelt, der die Fische verjagt.« »Bingo«. frohlockte Gunner. »Alle Maschinen stop.« Die Sonarmänner auf der »Taifun« hörten den Amerikaner nicht mehr, ihre Horchgeräte konnten auch nicht den feinen Unterschied der Hintergrundgeräusche ausmachen, mit denen sich die »Sowjetski Sojus« der »Reno« offenbarte. Blind und taub rückte Zenko immer weiter in die tiefsten Wasserrinnen des Weißen Meeres vor, dem regulären Operationsgebiet der Boote der Taifunklasse und dem Ort, an dem sich Malakow logischerweise versteckt halten würde. Er musste davon ausgehen, dass der nächste Befehl aus Gre micha an die »Sowjetski Sojus« die Startorder für eine Rakete sein würde. »Wir haben keine Zeit für eine gründliche Suche«, teilte Zenko der Kommandoabteilung mit. »Wir müssen ihn hervorlocken, indem wir sein Feuer auf uns lenken.« 271
»Uns demselben Schicksal wie die >Gorki< aussetzen?« fragte Kugarin besorgt. »Ich hoffe, nicht. Ich werde vier Torpedos in einem Breiten winkel von hundertzwanzig Grad abschießen. Einer trifft ihn vielleicht, wenn er überhaupt hier ist«, sagte Zenko mit einem fatalistischen Schulterzucken. »Stefan«, mahnte Kugarin, »ein Torpedo vom Typ 65 mit einem hochexplosiven Sprengkopf allein versenkt kein Taifun boot. Die einzige Möglichkeit, Malakow zu vernichten, ist ein Treffer mit nuklearem Gerät.« »Stimmt.« »Willst du vier Atomwaffen blindlings ins Meer ballern?« fragte Kugarin empört. »Nein«, sagte Zenko. »Konventionelle Sprengköpfe. Aber wenn Malakow sie hört, muss er glauben, es ist die Hölle, die da auf ihn zukommt. Wenn er dann seine Verteidigungsmittel aktiviert, haben wir ihn.« »Und er hat uns auch«, meinte Kugarin. »Waffenkammcr, klarmachen zum Torpedoabschuß. Vier Torpedos Typ 65 HE in Rohre Eins, Zwei, Drei und Vier laden. Streuungswinkel hundertzwanzig Grad.« Die Befehle hallten aus der Kommandoabteilung zurück in die Torpedokammer. Matrosen luden, bestückten und pro grammierten die Geschosse. »Torpedos bereit, Kapitän«, sagte der Torpedooffizier. »Eins, Feuer; Zwei, Feuer; Drei, Feuer; Vier, Feuer.« Die Torpedos klinkten sich aus den angewinkelten Rohren des U-Boots und schwärmten westwärts fächerartig aus. Zenko gab Befehl, die Rohre nachzuladen, drehte scharf rechts bei und fuhr nach Norden, um Distanz zwischen der »Taifun« und der Auslöseposition zu schaffen. »Großer Gott«, sagte Gunner ins Bordmikrofon im Kontroll raum der »Reno.« »Sonar, was um Himmels willen geht da 272
vor? Wie erklären Sie sich das, Morrison?« »Ein neu entwickelter Torpedotyp, Kapitän. Noch nie gese hen. Ich höre kein aktiviertes Lenksystem, aber es rast mit fünfundfünfzig Knoten.« »Infrarot«, erklärte Gunner. »Schlechte Nachrichten.« Trout stellte schnell einige Berechnungen an. »Er schießt ins Blaue, aber mit Infrarotsteuerung trifft er sein Ziel vielleicht.« Malakow an Bord der »Sowjetski Sojus« hörte die panische Angst aus der Stimme des Sonaroperators, als der junge Offi zier Peilung, Entfernung, Geschwindigkeit und Tiefe der vier Torpedos vom Typ 65, die von Osten her durch das Meer rasten, über den Bordfunk durchgab. »Kapitän«, preßte er her vor, »das nördlichste Geschoß wird fünftausend Meter weiter südlich passieren, und bei der Entfernung reißt der Überdruck einer normalen atomaren Sprengladung jeden Druckkörper in Stücke.« »Ihre Bemerkung zeugt von Aufsässigkeit«, schnauzte Malakow ihn an. Der Offizier hatte mehr Angst vor Torpedos mit Atom sprengköpfen als vor Malakow. »Wer schießt auf uns?« ver langte er zu wissen. »Bei allem Respekt, ich behaupte, dass das russische Torpedos sind. Irgend jemand hat da einen furchtba ren Fehler gemacht.« Malakow schaute sich in der Kommandoabteilung um und blieb vor Steuermannsmaat Plescharski stehen. »Plescharksi, gehen Sie runter in den Sonarraum und lösen Sie den Sonarof fizier ab. Setzen Sie den Sonarobermatrosen an seine Stelle.« »Aye, aye, Kapitän.« Plescharski betrat den Sonarraum, wo die vier Männer voll kommen entsetzt auf ihre Schirme starrten. »Ich soll Sie von Ihrem Posten ablösen«, sagte er zum Sonaroffizier. »Schauen Sie sich die Schirme an, Plescharski«, sagte der Offizier heiser. »Sagen Sie mir, was Sie sehen.« 273
Plescharski brauchte nur die Schriftzeile zu lesen, die am unteren Rand der Bildschirme verlief: Torpedotyp, Geschwin digkeit, Entfernung, Kurs, Peilung, alle relevanten Daten. »Heiliger Strohsack«, rief er. »Sie können mich ablösen, aber die vier Torpedos mit Atomsprengköpfen nicht!« brüllte der Sonaroffizier erregt. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. »Wir verrecken, wenn die Torpedos nicht zerstört werden.« »Woher kommen die?« fragte Plescharski. »Wir wissen es nicht.« Panische Angst schien seinen Kopf in einzelne zusammen hanglose Teile zu sprengen. Mit einem Schlag versagte seine Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten. »Was soll ich dem Kapitän sagen?« jammerte Plescharski. »Was soll ich ihm bloß sagen?« »Sie haben unsere Unterstützung«, meinte der Sonaroffi zier. »Sagen Sie ihm, Sie hätten uns alle abgelöst. Bringen Sie mich zur Torpedokammer. Ich überrede die Waffenschützen dazu, die Kommandozentrale zu überrumpeln und Attrappen abzufeuern. Das ist unsere einzige Chance. Malakow lügt. Er führt uns direkt in den Tod.« »Das ist Meuterei«, stammelte Plescharski. »Sie sind abge löst!« Malakows Stimme war plötzlich durch einen Lautsprecher an der Decke zu hören. »Sonar, melden.« Keiner rührte am Mikrofonschalter. »Antworten Sie ihm!« verlangte Plescharski. »Ich bin abgelöst«, sagte der Offizier. »Sie!« Plescharski zeigte auf den Obermatrosen. »Zu Befehl!« entgegnete der Obermatrose zackig, beugte sich vor und hieb auf den Alarmknopf für Torpedokollision. In jeder Abteilung heulten plärrende Signalhörner auf und verwandelten die »Sowjetski Sojus« von einem stillen Loch im Wasser in eine einzige Geräuschbake. 274
28. Kapitel Schiffbruch In der Kommandozentrale wurde Malakow von den heulenden Sirenen aufgerüttelt. »Schweinehund!« fluchte er. »Stellen Sie den Alarm ab!« Alle Hände griffen zum Ausschalter, und der Alarmton erstarb. »Brückenkommando in den Turm!« Drei Obermatrosen in Schutzbrillen und Mänteln hasteten die Leiter hoch. »Auftauchen!« schrie Malakow. Im Fernmanövrierbetrieb betätigte der Tauchoffizier ein paar Knöpfe auf seinem Schaltpult, und die »Sowjetski Sojus« strebte nach oben. Der Turm stieß durch die Eisdecke. »Brückenkommando. Melden.« »Schlechtes Wetter, Kapitän. Schneeregen.« »ECM-Mast ausfahren!« »ECM-Mast, aye.« »Melden.« »Kein Radar, Kapitän.« Der Rumpf preßte die Eisdecke auseinander. Die Raketen schleusen waren der kalten, arktischen Luft ausgesetzt. »Brücke an Kommandozentrale. Vorderes Deck frei.« »Raketenkammer. Klarmachen zur Raketenzündung.« Die Position der »Sowjetski Sojus«, dreißig Kilometer ent fernt, erschien plötzlich auf den Sonarschirmen der »Taifun«. Zenko bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt, seit er damals als kleiner Junge ins Eis eingebrochen war. Wie durch ein Wunder rasten die vier Tor pedos der »Taifun« direkt auf die »Sowjetski Sojus« zu, aber Zenko wußte, dass sie nicht mehr rechtzeitig einschlagen wür 275
den. »Sie ist zu weit weg«, sagte Kugarin deprimiert. »Die Torpedos brauchen für die Strecke annähernd achtzehn Minuten. Die >Sowjetski Sojus< kann in sechs Minuten oder sogar weniger abfeuern.« »Malakow schafft es in vier«, sagte Zenko. »In Raketentechnik war er schon immer gut. Wir rücken näher ran und schießen noch mal. Vielleicht schafft er es, eine Rakete zu starten, aber keine zwei. Ruder, hart Backbord. Volle Kraft voraus!« »Sonar an Kommandoraum. Melden Kontakt mit Stör-UBoot.« Die Los Angeles war wieder auf den Schirmen aufgetaucht. »Der kann mich mal«, sagte Zenko. Gunners schlimmste Befürchtung enthüllte sich auf den Sonarschirmen der »Reno«. Er war ins Weiße Meer eingefahren, fest entschlossen, nicht zu kämpfen. Sein Auftrag lautete, ausspionieren, nicht, die Vereinigten Staaten in einen ausländischen Bürgerkrieg zu verwickeln, und trotzdem sah er sich plötzlich einem Szenario aus der schlimmsten Hexenküche des Kalten Krieges gegenüber, ein russisches ballistisches Raketen-U-Boot, schußbereit. »Der Scheißkerl will die Rakete zünden. Zenko versucht, ihn aufzuhalten, aber die Torpedos holen ihn niemals ein. Klar machen zum Auftauchen. Waffenkammer, Tomahawk zur Schiffsabwehr mit Atomsprengkopf zum Einsatz klarmachen. Sofort! Wir schicken unsern Ballermann auf Spazierfahrt. Sonar. Wie sind die Eisverhältnisse?« Morrison schaltete den Eisscanner ein. »Dickes Eis, Skip per«, meldete er. »Zwei Meter.« »Jack, wir wissen nicht, was da oben los ist«, rief Trout. »Gleich werden wir es wissen«, schnauzte Gunner. »In fünf Minuten schießt eine SS-N-20 in die Luft. Das ist nicht 276
erlaubt.« Das rote Stirnband um den Kopf, mit glänzenden Augen, duldete Gunner keinen Widerspruch. Er hatte den ultimativen Befehl gegeben - klarmachen zum Abschuß einer Tomahawk mit Atomsprengkopf -, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Trai ning und Disziplin bezwangen den ersten Schock, und die Mannschaft machte sich an die Aufgabe, die Tomahawk mit einem scharfen Sprengsatz zu bestücken. Der Turm der »Reno« preßte gegen das Eis. Die Decke wölbte sich, brach aber nicht entzwei. Der Torpedoalarm im Torpedoraum der »Sowjetski Sojus« brach unvermittelt ab. Der befehlshabende Leutnant der Tor pedoschützen wählte den Sonarraum an und brüllte in den Hörer: »Speist mir die Ziele direkt ein!« Die Zielschirme erwachten zum Leben. Der erste Torpedo war vorbeigerast, aber die anderen drei hatten die »Sowjetski Sojus« aufgespürt und kamen direkt auf das Schiff zu. Plötzlich erschien die »Taifun« auf dem Schirm. Der Leutnant startete den verzweifelten Versuch, drei Torpedos zu entladen, um sie mit Attrappen neu zu beladen. »Wir haben keine Zeit zum Entladen. Das ist Wahnsinn. Rohr Eins auf Ziel >Taifun< programmieren.« »Es ist nicht atomar«, sagte der Obermatrose. »Mehr können wir nicht tun«, antwortete der Leutnant. In der Backbord-Raketenkammer lief Leutnant Minski von der Latrine zu seinem Steuerpult, ein paar Spritzer vorne im Schritt seiner Uniform. Gerade als er sich hinsetzen wollte, betätigte Sergow den Zündschalter für den Sprengkopf. »Rakete im vorderen Leitwerk gezündet«, sagte er ins Mikro fon. »Rakete im hinteren Leitwerk gezündet«, sagte Malakow von seinem Posten in der Kommandozentrale aus. Sergow ging rüber zum Waffenterminal, um den blauen 277
Startknopf zu entsichern und die Rakete selbst abzufeuern. Minskis Checkliste von dem Probelauf klebte noch am Pult. Sergow gab drei Zahlen ein, die Abdeckplatte glitt zurück und gab den Blick auf den Knopf frei. Der Leutnant im Torpedoraum gab den Versuch auf, Attrap pen in die Torpedorohre zu laden. Drei mit konventionellen hochexplosiven Sprengköpfen bestückte Torpedos zielten auf die »Taifun«, die jetzt mit zwölf Knoten auf die »Sowjetski Sojus« zukam. Der Leutnant gab sich nicht mehr mit Kom mandos ab. Er drückte den entsprechenden Knopf selbst, und der erste Torpedo vom Typ 65 sprang aus dem Rohr und schoß sich auf die »Taifun« ein. »Torpedo im Wasser, über Bug«, schrie der Sonarofflzier auf der »Taifun.« »Infrarot-Attrappe in Rohr Sechs laden«, befahl Zenko see lenruhig. »Ausweichmanöver. Ruder, hart Steuerbord. Maschinenraum, mehr Geschwindigkeit.« 27 Kilometer entfernt brach der Turm der »Reno« schließ lich durch die Eisdecke, aber es gelang dem Rumpf nicht, eine Bresche zu schlagen. Auf der Turmspitze sprang ein ECMMast heraus und begann zu kreisen. »Kein Funkverkehr, Skipper. Kein Radar. Nichts.« Gunner setzte den Kopfhörer auf, kletterte die Leiter im Turm hoch, drehte den Verschluß der Luke auf und hielt den Kopf in die frische Luft. Regen und Schnee schlugen ihm in die Augen und peitschten ihm ins Gesicht. Die Sichtweite betrug keine fünfzehn Meter, aber über dem Bug erblickte er einen großen Hügel Stapeleis, das den Rumpf daran hinderte ganz aufzutauchen. »Rakete starten«, befahl Malakow. Sergow stand vor Minskis Pult und drückte den Knopf. Im Bug der »Sowjetski Sojus« schob Preßluft die SS-N-20 aus 278
ihrem Silo heraus. Das Schiff bebte leicht. »Nein!« kreischte Minski und hechtete nach dem Terminal. Überrascht tastete Sergow nach seiner Pistole, zog sie aus dem Gürtelhalfter, entsicherte sie und schoß Minski in den Ober arm. Unbeirrt drängte Minski seinen Widersacher beiseite, holte tief Luft, drückte mehrere Befehlstasten und traf den Knopf für vorzeitigen Abbruch. Von Preßluft nach oben gedrückt, schlüpfte gerade das Raketenende aus dem Silo, als Minskis Befehl den Zündkreis unterbrach. Das Raketentriebwerk zischte, aber die Zündung versagte. Einen Augenblick lang verharrte die SS-N-20 frei schwebend in der Luft, Lenkflügel ausgestreckt, die Druck ventile ließen Dampf ab, ein geschmeidiger Pfeil, abschußbe reit, bereit für den Wahnsinn. Dann geriet die fünfzehn Meter lange, vierzig Tonnen schwere Masse aus Titan, Treibstoff, vergoldeten Kabelleitungen und dem Plutonium-Sprengkopf ins Taumeln und krachte auf das Deck, so dass beide Druckkörper aufplatzten. Ein tiefes Läuten wie von Höllenglocken tönte durch das Schiff. Der Bug tauchte unter Wasser ab, und automatisch schlossen sich die Luken am hinteren Ende der Raketenkammer. Minski stöhnte auf. Sergow kroch das wogende Deck entlang und entlud das Magazin seiner Pistole in Minskis Kopf. Ein reißender Strom Meerwasser ergoß sich in die Abtei lung. Sergow klammerte sich vergebens an die Luke. Die Techniker wurden mit Wucht weggerissen, bis sich ihre Lungen mit Wasser gefüllt hatten und ihre Leichen die Raketensilos verstopften. In Stücke zerborsten, glitt die Rakete unter die aufgebrochene Eisdecke und sank. Die Seeleute in beiden Raketenkammern wurden ein Raub der See. Achtern von der Raketenkammer entzündete sich durch eine Reihe rasch aufeinanderfolgender Kabelbrände ein Sauerstoff tank. Er explodierte, wobei Teile des Schotts in den Sonarraum flogen und die Techniker zu Tode quetschten. In der Komman 279
dozentrale fühlte Malakow, wie ihm der Boden unter den Füßen wegglitt, während das Schiff mit dem Bug zuerst sank. Schwerer schwarzer Rauch quoll durch die Luken aus den vor deren Abteilungen, gefolgt von Flammen und einem Schwall Meerwasser. Plescharski versuchte, die Leiter zur Brücke zu erklimmen, aber er stürzte und brach sich an einem Steuerpult das Genick. Malakow sah, wie einige Männer schreiend den Mund aufrissen, aber er hörte keinen Ton. Elektrische Leitun gen schmorten durch und knallten. Lampen flackerten, dann rissen weitere Explosionen auch die vorderen Schotten auf. Eine Wand aus Wasser und Eis überschwemmte das Schiff, flutete den Torpedoraum und die Kommandozentrale. Malakow hielt sich am Geländer der Leiter zur Brücke fest und konnte durch die offene Luke einen winzigen Flecken finsteren Himmel erkennen. Das Brückenkommando war verschwun den. Die herumfliegenden Wrack teile warfen ihn zu Boden, das Schiff kippte steil nach unten, und Malakow rutschte nach vorne und ertrank im eisigen Wasser des Weißen Meeres. Akkumulatorenbatterien explodierten. Tanks mit leichtem Heizöl und brennbaren Gasen gerieten in Brand. Die »So wjetski Sojus« tauchte auf den Grund des Kandalakschagolfs, rammte ihren Bug in den Schlamm und legte sich dann auf die Steuerbordseite. Angezogen von der Hitzeausstrahlung der Explosion visierten die Infrarot-Lenksysteme von zwei Torpe dos der »Taifun« die Wrackteile des riesigen U-Boots an. Die Unterwassergeschosse schwenkten um, stoben in den Rumpf und rissen die hinteren Räume in Stücke. Auf der Brücke der »Reno« rechnete Gunner damit, das Leuchtfeuer eines Raketenantriebs zu sehen, ein Licht, das bei jeder Wetterlage noch aus dreißig Kilometer Entfernung zu erkennen war. Statt dessen hörte er Morrison in sein Mikrofon sagen: »Sonar an Brücke. Melde Unterwasserexplosion und einen Schiffbruch.« 280
»Die >Taifun« »Nein. Skipper, das andere.« »Donnerwetter!« Gunner knallte die Luke zu und kletterte die Leiter runter in den Kommandoraum. Das Geräusch von Explosionen don nerte wie ferne Vulkaneruptionen durch die Sonargeräte. Ergriffen beobachtete er den Schirm, während sich die »So wjetski Sojus« selbst zerstörte. »Mein lieber Mann, die ist in die Luft geflogen«, sagte er. »Auftauchen verschieben. Tanks fluten. Auf dreißig Meter Tauchtiefe. Tomahawk sichern.« Die »Reno« hörte auf, gegen die Eisdecke zu rammen, und stieg ab. Gunner hatte das Gefühl, als müsse ihm jeden Augenblick das Herz zerspringen. Er war kurz davor gewesen, eine Atom waffe gegen ein russisches Schiff abzufeuern. Sein Verstand war ein einziges helles blaues Licht. »Ich habe keine Explosion gesehen«, sagte er zu Trout. »Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, was da passiert ist, aber gestartet ist die Rakete nicht.« Er holte tief Luft. »Das war verflucht knapp.« Er holte noch einmal tief Luft. »Kontrollraum an Sonar. Wo ist die >Taifun« Morrison nannte eine Reihe Zahlen. »Sie kriegt in dreißig Sekunden einen Torpedoeinschlag ab.« »Es ist Zeit, so schnell wie möglich zu verschwinden«, sagte Gunner. »Alle Maschinen halbe Fahrt voraus. Auf Kurs Null Null Null.« Die »Reno« machte kehrt, ließ die »Taifun« hinter sich und fuhr auf die Gorlostraße zu. Wie ein gigantisches Fluggerät wendete die »Taifun« mit einer scharfen Rechtsdrehung vor dem Torpedo. Eine Explosion nach der anderen streute elektronische Häcksel von der »Sowjetski Sojus« über den Sonarschirm. Die Computer konnten nicht genau feststellen, was die Explosion ausgelöst 281
hatte, die Torpedos der »Taifun« waren es jedenfalls nicht. Zenko wußte, dass er nicht getroffen hatte, aber er fühlte sich, als hätte pures Glück oder ein gnädiger Gott sein Leben gerettet. Malakow war geschlagen. Auf dem Hauptschirm sah er jetzt einen einzelnen Torpedo, der mit vierzig Knoten von links auf sie zukam. »Wenn der atomar ist, sind wir tot«, sagte Kugarin. »Halt die Klappe, Sascha«, schnauzte Zenko. »Manchmal kannst du eine ziemliche Nervensäge sein.« »Sonar an Kommandozentrale. Torpedoeinschlag in dreißig Sekunden.« »Waffenoffizier. Attrappe abfeuern.« »Attrappe abgefeuert.« Die Infrarot-Attrappe, eine mit Magnesiumscherben gefüllte Hitzebombe, schoß aus dem Rohr und blieb 180 Meter vor dem Schiff regungslos im Wasser stehen. »Kommando an Maschinenraum. Wir brauchen mehr Tempo.« Von ungeheurer Trägheit, wobei sich die Propeller wie Windräder drehten, versuchte die »Taifun« vergebens, die fest stehende Attrappe hinter ihr Steuerruder zu bringen. Im Backbord-Maschinenraum rann den sechs Ingenieuren der Schweiß in Strömen herunter. Unbarmherzige Hitze aus unzähligen Dampfventilen verwandelte den mit Maschinen vollgepfropften Raum in eine Sauna. Kaltes, durch Kondensatoren zirkulierendes Meerwasser kühlte eine Heißluftschicht, verursachte aber einen knöcheltiefen Nebel auf dem Gummiboden. Als Zenko mehr Tempo verlangte, drückte der zweite Oberingenieur Borzonow das Drosselkommando für die Backbordturbine. Heißdampf aus Wärmeaustauschern brachte die Turbine bis an ihre Leistungsgrenze, wobei sie wie eine Hyäne aufheulte. Im Steuerbord-Maschinenraum nebenan herrschten die gleichen Bedingungen, aber die Klimaanlage funktionierte besser, und die Temperaturen blieben 282
verhältnismäßig kühl. Auf der Backbordseite stieg die Temperatur auf 45 Grad Celsius, und sechs schweißüberströmte Männer zogen ihre Hemden aus, falteten sich aus Stoffresten Stirnbänder und holten das Letzte aus den dröhnenden Maschinen. Der Geräuschpegel stieg, je heftiger die Ventile arbeiteten, je schneller sich Getriebe, Pumpen und Kurbeln drehten. Überall in der Abteilung lief heißes Öl unter Hochdruck durch Leitungen. Borznow mit freiem Oberkörper wischte sich über die Stirn, beugte sich zum Steuerpult hinunter und verfolgte genau die Temperaturanzeige in der Schmiereinrichtung. 180 Meter vor dem Druckkörper sichteten die Sonare an der Infrarot-Attrappe der »Taifun« den sich rasant nähernden Tor pedo. Während sich das gewaltige Schiff mit qualvoll langsa mer Geschwindigkeit vorbeischob, explodierte die Attrappe. Scherben weißglühenden Magnesiums verursachten eine sich rasend schnell ausdehnende Dampfblase, auf die wiederum die Infrarotsensoren im Lenksystcm des Torpedos ansprangen. Das Ruder drehte sich leicht, die Tauchflügel paßten sich der Richtungsänderung an, und der Torpedo richtete sich auf die heiße Stelle im Wasser. Als die Spitze auf die Blase traf, explo dierte der Sprengkopf, und die Druckwelle schlug seitlich in die »Taifun« ein. Im Backbord-Maschinenraum rissen alle den Kopf zur Seite in Richtung des ohrenbetäubenden Lärms. Die Explosion im Wasser, unmittelbar vor dem Raum, wölbte den Druckkörper, der sich dehnte und kurz darauf mit einem donnernden Krach in die Ausgangsposition zurückknallte. Die Zeit schien stehen zubleiben, während die Techniker darauf warteten, dass Meer wasser in tödlichen Strahlen, die einen Menschen entzwei schneiden konnten, in die Abteilung strömte. Die Schweißnähte hielten. Der Stahl blieb unversehrt, und es waren auch keine Lecks entstanden, nur in einer Leitung, die Schmieröl in die Hauptturbine transportierte und einen brenn 283
baren, braunen Geysir in den Raum spuckte. Ohne zu zögern langte Borznow nach dem Stromausschal ter. Ohne Energiezufuhr blieben die Ölpumpen stehen, der Druck in den Leitungen fiel ab, und der klaffende Riß im Rohr spuckte nicht länger Öl, aber der Raum war in Finsternis getaucht. Borznow löste Alarm aus, und kreischende Signal hupen erfüllten mit ihrem unablässigen Heulton das Schiff. Eine schwache Notbeleuchtung flackerte auf, und wilde Schat ten tanzten am Schott. Schreie und Flüche hallten im ganzen Maschinenraum wider. Die Temperatur in der Turbine stieg an. Borznow schnitt die Dampfzufuhr ab, und sofort hörte die Turbine auf, sich zu drehen. »Kommandozentrale an Backbord-Maschinenraum. Mel den!« befahl Zenko. Der Techniker hatte ihn gehört, aber der Kapitän musste sich gedulden. »Alle Mann Atemmasken aufsetzen«, schrie Borznow. »Lecksicherungsgruppe, schnappt eure Geräte und sprüht alles mit Schaum ein.« Drei Matrosen sprangen in ihre Asbestanzüge, stülpten sich die Atemmasken über und sprühten Schaum auf das heiße Öl. Borznow zog sich umständlich selbst eine Maske über, schnallte eine Sauerstoffflasche auf den Rücken und verschloß die Luke. Zwei junge Maschinisten am anderen Ende des Raums kamen nach vorne gerannt zu dem Notatmungsgerät, das an der Schottwand hing. »Maschinenraum an Kommandozentrale«, sagte Borznow in das in die Maske integrierte Funkgerät. »Wir haben Totalaus fall in der Zentralschmierung im Backbord-Maschinenraum. Ich mache den Raum luftleer. O Mann.« »Was ist los?« rief Zenko, alarmiert von der Angst, die aus Borznows Stimme klang. »Es brennt!« Nichts an Bord eines U-Boots ist so gefährlich wie Feuer. Ohne Schmierung schnellte die Temperatur der Turbinenla 284
ger in die Höhe, so dass sich das verschüttete Öl entzündete. Zu seinem Entsetzen sah Borznow einen Matrosen wie eine lebende Fackel in Flammen gehüllt. Wild fluchend schlug er auf seinen Terminal ein, und in Sekundenschnelle tauschten leistungsstarke Klimaanlagen die sauerstoffreiche Atmosphäre in dem Raum gegen inaktiven Stickstoff aus. Die Flammen starben so schnell, wie sie aufgelodert waren, aber der Raum quoll über vor Rauch. Ein Matrose ohne Maske taumelte durch die nitrogengeschwängerte Atmosphäre und brach vor Borznow zusammen. Drei Matrosen in Asbestanzügen tauchten aus dem Qualm auf, mit weit aufgerissenen Augen - aber lebend. Schwarzer öliger Diesel wirbelte vor den Lüftungsklappen der Klimaanlage. Notbeleuchtung flackerte. Ruß bedeckte Spundwände und die Gesichter der verzweifelten Männer. In der Kommandozentrale stürzte Sorokin auf einen Schrank zu, zog einen weißen Asbestanzug heraus und zwängte sich im Laufen in den Schutzanzug. Sirenen heulten wie Klageweiber. Offiziere überwanden ihre Angst, brachen Feuerlöscher aus ihrer Halterung und organisierten Leckdiensttrupps. Feuer konnte die »Taifun« vernichten, und mit ihr alle Mann der Besatzung. Zenko bewahrte Ruhe und rief wiederholt den Ingenieur über Bordfunk. Seine Stimme knackte in Borznows Funkgerät. »Kommandozentrale an Maschinenraum. Können Sie mich hören, Borznow?« Schließlich kam die Antwort. »Ich kann Sie hören, Kapi tän.« »Gibt es Verletzte?« »Zwei Tote. Ich kämpfe hier mit reinem Nitrogen. Wir kom men jetzt raus.« »Wie viele sind bei Ihnen?« »Drei in Hitzeanzügen und mit Atemmasken.« Sorokin erreichte die Luke zwischen dem Reaktorraum und dem Backbord-Maschinenraum und rief den Kapitän. 285
»Bringen Sie sie raus!« befahl Zenko. Sorokin betätigte den Schraubverschluß, zog die Luke auf, und vier Techniker, halb erstickt und mit schweren Brandwun den, taumelten aus den Rauchschwaden ins Freie. Sorokin knallte die Luke wieder zu und lehnte sich gegen die Verschlußkurbel. Langsam erlahmte der Schwung des Schiffskörpers, und das U-Boot kam zum Stillstand. »Sascha«, rief Zenko. »Schalte die Sirenen aus.« Der Kapitän atmete mehrmals tief durch und merkte, dass seine Atmung das lauteste Geräusch in der ganzen Komman dozentrale war. Die »Taifun« lag jetzt still im Wasser, die Turmspitze dreißig Meter unter Eis. Als das Feuer im BackbordMaschinenraum ausbrach, hatte die Disziplin unter den wehrpflichtigen Frischlingen der anderen Abteilungen nachgelassen, ohne sich jedoch aufzulösen. Zenko wußte, dass sich die emotionale Belastung während eines U-Boot-Gefechts auch in der umfassendsten Ausbildung nicht simulieren ließ. Man bekam nie den Feind zu Gesicht, der alles darauf anlegte, einen zu töten; nie den Ozean, der einen töten wollte, und nur selten die eigenen vorgesetzten Offiziere, die wahrscheinlich auch versuchten, einen fertigzumachen. Tatsächlich sah man kaum etwas anderes außer der Abteilung, der man zugeteilt war, und die schreckenerregenden Bilder, die einem die eigene Phantasie bescherte. Feuer. Wasserbomben. Torpedos. Meerwasser, das durch den Druckkörper einbrach. Eingekapselt in einen atomaren Koloß, der sich wie ein vom Wind gepeitschtes Spielzeugboot hin und her drehte, schwitzte man in seinem feuerfesten Asbestanzug, in dem tropische Temperaturen herrschten. Von Angst verzerrte Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder, und dann die Explosion, so laut und so nah, dass einem das Herz stehenblieb. Sogar Zenko vermochte solche Angst kaum 286
auszuhalten. Erst als das letzte Echo des Torpedos abgestorben war, fin gen die 150 Menschenherzen wieder an zu schlagen, stockend zuerst, hoffnungsvoll, schließlich in ihrem normalen Rhyth mus. Nach dem Anschwellen war die Angst wieder auf ein erträgliches Maß gesunken. Ein Schnelldurchlauf der Systeme in der Kommandozen trale ergab, dass das Sonarnetz backbords zerstört war. Der Tiefensteuerstand zeigte nur grüne Lichter, was darauf schlie ßen ließ, dass der Druckkörper nicht gebrochen war. Zenko schaltete das Bordmikrofon ein. »Männer der >Tai fun<. Das Feuer im Backbord-Maschinenraum ist gelöscht. Das Schiff ist wieder sicher. Lecksicherungsposten einstel len.« Eine Adrenalinübelkeit erfaßte die Besatzung. Vor den Latrinen bildeten sich zappelige Schlangen. »Wir können hier unmöglich bleiben«, sagte Zenko. »Die Explosionen sind nicht unbemerkt geblieben. Steuerruder, ich will langsame Fahrt voraus. Kurs Null Acht Null.« Das Schiff setzte sich unter dem Steuerbord-Propellcr lang sam in Bewegung. Zenko bezwang seine eigenen Horrorvisio nen und marschierte durch das Schiff, sprach leise mit jungen Matrosen, beschwichtigte Ängste und flößte mit seiner ver ständnisvollen Miene Vertrauen ein. Dann betrat er die Kran kenstation, wo Borznow und die überlebenden Techniker nach dem Schock und wegen der Verbrennungen in Behandlung waren. »Was ist mit der >Sowjetski Sojus< passiert, Kapitän?« fragte Borznow. »Sie ist gesunken.« »Dann sind meine Jungs für nichts gestorben.« »Ja«, sagte Zenko. »Ich weiß nicht, was mit uns passiert, aber ich weiß, was Sie verdient haben.« Zenko nahm seinen Heldenstern in Silber von der Uniform 287
ab, steckte ihn Borznow an die Brust und salutierte vor dem Zweiten Ingenieur. Auf der »Reno« meldete Morrison: »Sonar an Kontrollraum. Die >Taifun< rührt sich. Ich kann sie kaum erkennen. Entfer nung 45 Kilometer. Ich glaube, sie fährt nur mit einem Antrieb, Skipper.« »Achten Sie auf Kurs und Peilung, Chief«, befahl Gunner. »Wollen wir hoffen, dass er schnurstracks auf die Straße zufährt. Ruder, langsame Fahrt voraus.« Drei Tequilas wären jetzt genau das richtige, dachte Gunner. Das Problem als Kapitän eines Aufklärungsschiffes in feindli chen Gewässern liegt darin, dass man wie ein Kapitän auftreten musste, ein getreuer Verteidiger nationaler Interessen, der Hal tung bewahrte, eine Symbolfigur und ein Vorbild für die untergebenen Offiziere. Gunner beherrschte all das und emp fand Stolz darüber, aber ebensogut hätte er jetzt einen starken Drink gebrauchen können. Wie tief musste man in der Scheiße stecken, bis man kapiert hatte, was man hier eigentlich ver loren hatte? Und wie tief in der eigenen Scheiße steckte Zenko? Die »Taifun« hatte einen Treffer abbekommen und überlebt. Das würde die Waffentechniker nicht ruhen lassen. Der »Reno« war es in einer Notlage nicht gelungen, die dicke Eisschicht zu durchbrechen. Noch mehr Planung und Entwürfe würden die Folge sein. Die russischen Torpedos vom Typ 65 verfügten offenbar über Infrarot-Lenksysteme. Auf der einen Seite hatte Gunner eine Unmenge an Informationen, auf der anderen Seite einen totalen Mangel. Lauwarmen Kaffee schlürfend, hatte er das Gefühl, als würden Engel in seiner Seele lesen. Er war kurz davor gewesen, eine Atomrakete abzufeuern. In der Mitte des Kommandoraums spielte Trout mit der Pe riskopsteuerung. 288
»Nichts zu erkennen da oben«, sagte Gunner. »Besser, du hättest einen Funkmast ausgefahren und einen Funkspruch abgeschickt, Jack.« »Dann hätte der GRU meine Übermittlung abgehört, und sie würden jetzt wieder auf uns schießen. Und was wäre gewesen, wenn mein Funkspruch den richtigen Kanal getroffen hätte? Unsere Idioten in Washington hätten deren Idioten in Moskau angerufen, und unsere Leute hätten gesagt, wieso bringen sich eure Leute gegenseitig um? Und die Typen hätten geantwortet, das geht euch einen Scheißdreck an. Wieso ist euer Schiff in unseren Gewässern und mischt sich in unsere Angelegenheiten ein? Ich will keinen Krieg anfangen, egal ob heiß oder kalt.« »Sie waren drauf und dran, das Knallbonbon mit einem Atomsprengkopf zu laden, Skipper.« »Und ob ich das war. Ich lass' die Russen ja auch keinen Raketenkrieg anfangen.« Gunner zündete sich die nächste Zigarette an. »Was soll's. Wir haben uns nun mal auf die Party eingelassen. Zu spät jetzt für ein Taxi, um nach Hause zu fahren.« Das Deck war übersät mit Zigarettenkippen. Trout war der maßen nervös, dass er eine von Gunners Lucky Strikes nahm, sie anzündete und einen tiefen Lungenzug nahm. »Ich dachte, Sie hätten aufgehört mit dem Rauchen«, sagte Gunner erstaunt.
289
29. Kapitel Riziow Deminow spürte mehr und mehr, dass es komplizierter war als gedacht, Zenko in Gremicha zu ersetzen. Es reichte nicht, sich einfach selbst zum Kommandanten des Stützpunktes zu ernen nen. Bis zum äußersten loyal gegenüber Zenko, lehnten die Belegschaft und die Bewohner des kleines Ortes die Besetzung durch eine ihnen feindlich gesonnene Armee in schwarzen Kampfuniformen ab. Die Ladeninhaber hatten ihre Geschäfte geschlossen, das Telefonsystem brach zusammen, und dem Wagenpark ging das Benzin aus. Unter einer Welle des passiven Widerstandes kam das öffentliche Leben in Gremicha allmählich zum Erliegen. Deminow stand in Zenkos Büro vor dem Fenster aus Tafel glas und stieß wilde Flüche gegen die vier Riesen-U-Boote aus, von denen kein einziges auslaufbereit war. Die »Erster Mai« war ohne Besatzung, die »Rodina« lag im Trockendock, am dritten Boot, »Großer Vaterländischer Krieg«, wurde ein Rumpfabschnitt über dem Backbord-Reaktorraum entfernt, und die »Lenin« war teilweise abgerüstet. Bei einer Inspektion der Schiffe machte Deminow einen kritischen Problembereich nach dem anderen aus. Die Maschi nenräume waren in hervorragendem Zustand, aber die Rake tenkammern steckten voller Gefahrenstellen: defekte Compu ter, eigenwillige elektrische Systeme, mangelhafte Zusam mensetzung des Raketentreibstoffs - die Logbücher waren voll mit Reparaturlisten. Darüber hinaus hatte Zenko die Sicher heitsvorschriften für die Waffen der Nordflotte verbessert und ausgebaut. Wenn ein Schiff von einer Patrouille heimkehrte, wurden alle Waffensysteme ausgebaut, in ihre Einzelteile zer legt und in Bunkern im hinteren Teil der Höhle gelagert. Atomwaffen wurden ebenfalls auseinandergenommen und 290
die Komponenten getrennt gelagert. Im Ergebnis betrug die effektive Gefechtsbereitschaft der Flotte gleich Null. Deminow schauderte bei der Vorstellung, was wohl passiert wäre, wenn in Gremicha jemals höchster Alarm ausgelöst worden wäre. Die schlagkräftigsten strategischen Waffen wären unbeweglich und wirkungslos gewesen. Zenkos Hinterlassenschaft reichte weit. Der Herr von Gre micha hatte vorgesorgt, dass auf seinem Posten der Dritte Weltkrieg nicht ohne reifliche Überlegung ausgelöst wurde. Abrupte Kommandowechscl waren in der Marine an der Tagesordnung, und Zenko war auf alles vorbereitet. Er hatte sein Büro geräumt, nicht ohne die in seinem Safe eingeschlos sene echte Codefolge für die Waffen gegen eine falsche auszu tauschen. Ohne die Codes konnte Deminow die »Lenin« nicht mit Waffen bestücken. Er rief Major Riziow zu sich, der mit roten Augen und gähnend eintrat. »Wie sieht es mit unserer Einsatzbereitschaft aus, Major?« »Die Befehle an die Flotte sind programmiert. Wir können sie alle mit einem Schlag zustellen, jederzeit.« »Ihre Effizienz ist bemerkenswert«, stellte Derninow fest. »Zenko hat Sie gut ausgebildet.« »Danke.« »Setzen Sie sich.« »Danke.« »Major, ich muss unbedingt wissen, was ich tun muss, um die >Lenin< auf Patrouille zu schicken.« Eine dunkle Angst beschlich Riziow, und er gähnte, um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu unterdrücken. »Zunächst benötigen Sie die Waffenauslösecodes, um die Einzelteile aus dem Lager zu holen, dann eine zweite Codefolge, um die Waf fen zusammenzusetzen, und eine dritte, um sie scharf zu machen und abzufeuern.« »Wer hat Zugang zu den Codes?« 291
»Der befehlshabende Offizier.« »Sonst noch jemand?« »Der Stationskommandant.« »Admiral Zenko hat es versäumt, die richtigen Codes in sei nem Safe einzuschließen.« Riziow musste ein peinliches Schweigen aushalten, bevor Deminow seine nächste Frage formulierte. »Können Sie die Codes wiederherstellen, Major?« »Ja. Dafür gibt es eine Prozedur, aber sie ist aufwendig und langsam.« »Versuchen Sie es.« »Ja.« Riziow verließ das Büro, und Deminow ließ den befehlsha benden Offizier der »Lenin« holen, den Ersten Kapitän Emile Rubikoff. Schlecht gelaunt und in einer Stimmung, die kein Entgegenkommen erwarten ließ, betrat Rubikoff Zenkos Büro und blieb wie eine wütende Bulldogge vor Deminow stehen. »Warum ist Zenko von seinem Kommando entbunden wor den?« verlangte er zu wissen. »Ein Maßnahme der Operation Weißer Stern. Im übrigen braucht Sie das nicht zu kümmern, Kapitän.« »Tut es aber sehr wohl. Ich bin nach ihm der Ranghöchste.« »Ich habe jetzt das Kommando, Rubikoff. Nehmen Sie Ver nunft an.« »Sie können mich mal. Überall laufen Geheimdienstleute auf meinem Schiff rum und quetschen meine Offiziere aus.« »Setzen Sie sich«, sagte Deminow. »Möchten Sie ein Glas Tee? Wodka?« Rubikoff beugte sich vor, über den Schreibtisch, und reckte sein Gesicht gegen Deminow. »Nein. Ich stehe lieber.« Deminow verzog keine Miene. »Rubikoff«, sagte er, »Sie sind immer ein loyaler Anhänger der Union gewesen, aber es scheint, als würden alle hier auf dem Stützpunkt Zenkos Perso nenkult betreiben.« 292
»Zweifeln Sie meine Loyalität an?« »Ja. Genau darum geht es. Ich habe vor, Sie mit der >Lenin< auf Fahrt zu schicken.« »Auf Ihre eigene Verantwortung?« »Ja.« »Ohne Zenkos Zustimmung?« »Ja.« »Sie können mich mal.« »Ihre Karriere steht auf dem Spiel, vielleicht sogar Ihr Leben«, drohte Deminow. »Wenn Sie nicht mit Ihrem Schiff auslaufen, befehle ich Ihnen, die Waffencodes zu übergeben.« »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, Admiral.« »Sie sind ein mutiger Mann, Rubikoff. Sie haben ein Recht auf eine Erklärung. Zenko hat sich von der Truppe abgesetzt. Er hat Befehle verweigert und ist im Weißen Meer, um die >Sowjetski Sojus< zu versenken.« Rubikoff lachte, ein knappes, häßliches Bellen. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Selbst wenn es stimmt, wäre das kein Grund, Ihnen die Codes zu geben. Sie brauchen keine Taifunboote. Wenn Zenko sich abgesetzt hat, brauchen Sie Abwehrhub schrauber.« »Geben Sie mir die Codes, Kapitän, oder ich lasse sie erschießen.« »Was können Sie mit den Waffencodes schon anfangen?« spottete Rubikoff. »Planen Sie einen Atomangriff?« »Sie haben noch eine Minute zu leben. Es sei denn, Sie ändern Ihre Meinung.« Deminow griff zum Telefon und sagte: »Schicken Sie Oberst Ludinow.« Rubikoff wollte nicht glauben, dass Deminow es ernst meinte. Ludinow betrat den Raum und schloß leise die Tür hin ter sich. »Schießen Sie ihm ins Knie«, befahl Deminow. Ludinow zog seelenruhig seine Neun-Millimeter-Pistole aus dem Halfter und schoß eine Kugel in Rubikoffs rechtes Knie. Der Getrof 293
fene stürzte nach hinten, hielt sich das Bein, aber blieb trotzig. »Geben Sie mir die Kombination für den Safe auf Ihrem Schiff«, verlangte Deminow. Rubikoff hatte seit drei Jahren das Kommando über die »Lenin«. Während der Monate auf See hatte er reichlich Zeit gehabt, über die schrecklichen Auswirkungen nuklearer Waf fen und seine Verantwortung als ihr Hüter nachzudenken. Die Nächte hatte er sich mit Zenko um die Ohren geschlagen, hatte mit ihm gezecht, über die Taifunboote gefachsimpelt, über Meereis, die Seesterne im Weißen Meer, Meerjungfrauen, die Moskauerinnen und über Atomwaffen. Es waren wundervolle Nächte gewesen, die nie wiederkehren würden. Wenn Zenko sich Deminow widersetzt hatte, dann konnte er das auch, koste es, was es wolle. »Niemals«, stieß er hervor. »Scheren Sie sich zum Teufel.« Ludinow schoß ihn zweimal in die Brust und halfterte die Pistole. »Die sind hier alle wie Rubikoff auf diesem Stütz punkt«, sagte er ohne jede Gefühlsregung. »Es wäre Muni tionsverschwendung, sie alle zu töten.« Deminow würdigte die Leiche am Boden keines Blickes. »Rufen Sie das Siebte Geschwader in Murmansk, und sagen Sie dem befehlshabenden Offizier, er soll eine Besatzung von den Grauen Geistern mit Taifun-Erfahrung zusammenstellen und sie umgehend hierherschicken. Ich fahre selbst mit der >Lenin<.« »Aye, aye, Genosse Admiral.« Major Riziow hatte Kapitän Rubikoff zu Deminow hinein gehen sehen. Ein paar Minuten später war Ludinow gefolgt, und zu seinem Entsetzen hatte Riziow schallgedämpfte Schüsse gehört. Das Morden hatte angefangen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sich Riziow nicht absolut sicher gewesen, ob Zenko die Wahrheit gesagt hatte, aber jetzt begriff er, dass Deminow ein Verräter war, und verzweifelt. Rubikoff musste sich geweigert 294
haben, ihm die Waffencodes zu übergeben, was bedeutete, dass Riziow die dazu nötigen digitalen Kombinationen wieder her stellen musste oder dasselbe Schicksal erleiden würde. Riziow zeichnete sich nicht durch besondere Tapferkeit aus, aber er wollte auch nicht umsonst sterben. Wenn Deminow genügend Leute erschoß, würde am Ende ja doch einer der Techniker die Zahlenfolge irgendwo in den Computern auffin den. Nichts würde Deminow davon abhalten können, die »Lenin« mit Waffen zu bestücken. Das einzige, was Riziow machen konnte, war, soviel Zeit wie möglich rauszuschinden. Keiner außer ihm hatte die Schüsse gehört. Riziow beobach tete, wie Deminow und Ludinow aus Zenkos Büro traten, die Tür verschlossen und nach draußen an den Kai gingen, um die »Lenin« zu inspizieren. In Abwesenheit beider Offiziere legte sich die mörderische Hektik der Nachrichtenzentrale. Drei Stunden versah Riziow die ihm auferlegten Pflichten, setzte seinen besten Dechiffrie rer auf die Waffencodes an, zeichnete alle Routinemeldungen an die »Sowjetski Sojus« auf und beantwortete eine Flut von Anfragen von den Stabsoffizieren der Nordflotte. In einem ruhigen Moment ging Riziow in den Fernmelde raum, wo zwei Techniker die ELF- und VLF-Sendegeräte bedienten. In der Ecke hockte ein gelangweilter Marineinfan terist und spielte mit seiner Pistole. »Ich habe eine Nachricht für die >Sowjetski Sojus<, sagte Riziow. »Wollen wir mal sehen«, meinte der dienstältere Operator. »Ich schick sie selbst los. Gönnen sie sich mal 'ne Pause.« »Vergessen Sie nicht, sich als Absender einzuloggen, Major.« »Alles klar.« Riziow setzte sich hin, tippte seine Personalkennung ein, meldete sich im ELF-System an, drückte die dreiziffrige Ken nungszahl der »Taifun«, dann zweimal die K-Taste, das Signal, 295
das Zenko anzeigte, dass noch ein Taifun mit Waffen bestückt und in See stechen würde, und meldete sich wieder ab. Der zweite Operator neben ihm öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er würgte die Worte hinunter. »Dem Himmel ein Abschiedskuß«, flüsterte Riziow. »Funk an Kommandoraum. Erhalten ELF-Spruch«, tönte es aus dem Lautsprecher im Kommandoraum der »Taifun«. Erstaunt fragte Kugarin: »Aus Gremicha? Unmöglich.« »Ich fürchte, es ist ganz und gar nicht unmöglich«, sagte Zenko. Zehn Minuten später, die Meldung in der Hand, verließ Zenko den Funkraum und fühlte sich um Jahre gealtert. Er machte Kugarin ein Zeichen, ihm zu folgen, und zog sich in seine Kabine zurück. Zenko hatte die geräumige Kapitänskajüte mit Büchern und alten Karten gefüllt und den modernen Kubus aus Kunststoff in einen Hort der Tradition verwandelt. Er warf einen Blick auf eine Karte des Weißen Meeres aus dem 18. Jahrhundert und glitt mit dem Finger an einem Bücherregal entlang. Er holte eine Taschenbuchausgabe der »Brüder Karamasoff«, blätterte drin herum und stellte sie wieder ins Regal. »Ja, ja, die menschliche Seele«, sagte er, als spräche er zu sich selbst, »der Großinquisitor, die Verstrickungen von Gut und Böse. Vielleicht sind wir über das Gute hinausgegangen, aber das Böse steckt doch in uns. Trinken wir einen, Sascha.« Er öffnete eine Flasche Wodka. »Ich glaube, heute dürfen wir die Vorschriften der Marine mal freier auslegen als sonst.« »Aber klar. Auf was sollen wir trinken?« Zenko hob sein Glas. »Wir trinken in Gedenken an die Tai fune.« »Was soll denn das heißen?« fragte Kugarin überrascht. »Trink aus, Sascha. Ein Salut auf die Sechste strategische Raketen-U-Boot-Flottille. Wollen wir ihr Dahinscheiden 296
respektvoll betrauern.« »Kapier' ich nicht.« »Du wirst schon noch. Trink aus.« »Auf die Taifunboote.« Kugarin salutierte und trank das Glas in einem Zug aus. »Weißt du was«, sagte Zenko, »die Frischlinge sagen immer, das Meer sei blind, aber das glaube ich nicht. Unter Wasser kann ich deutlicher sehen, als wenn ich bei Sonnenschein auf festem Boden spaziere.« »Das sagst du nun schon seit Jahren. Wahrscheinlich glaubst du schon selber dran.« »Ich glaube es wirklich, und ich kann dir auch sagen, warum. Als kleiner Junge bin ich im Kolafjord in Murmansk ins Eis eingebrochen. Normalerweise überlebt man so was nicht, aber ich schaute von unten durchs Eis und sah die Sonne, und da wußte ich, dass ich weiterleben werde. Ein Mann kam und zog mich mit einem Seil aus dem Wasser, und noch Wochen später konnte ich an nichts anderes denken: Ich kann durchs Eis hindurchblicken. Ich konnte die Sonne sehen. Wahr scheinlich war ich höchstens ein paar Sekunden unter der Eis decke, aber es hat gereicht.« Kugarin hatte die Geschichte schon viele Male gehört, aber jetzt stellte er eine neue Frage. »Wer war der Mann?« »Ich weiß nicht«, sagte Zenko. »Irgend jemand, ein gewöhnlicher Mann. Als ich wieder trocken war, und er sah, dass mir nichts passiert war, verschwand er. Vielleicht habe ich mein Vertrauen in gewöhnliche Menschen ihm zu verdanken. Aber vielleicht habe ich das auch von dir gelernt, mein politi scher Freund.« »Das möchte ich gern glauben, dass du etwas von mir gelernt hast, aber dafür kenne ich dich zu gut«, sagte Kugarin. »Unterschätz dich nicht, Sascha. Du hast mir viel beige bracht. Du hast mich jahrelang vor der Partei und der Marine führung in Schutz genommen. Du hast es ermöglicht, dass ich 297
mir meinen Lebenstraum erfüllen und diese wundervollen Schiffe bauen konnte, die unter Eis fahren können. Du hast ein Recht, dein Urteil abzugeben.« »Ich bin kein Richter.« »Und ob du das bist«, entgegnete Zenko. »Immerhin ist das deine Aufgabe als politischer Offizier auf einem Raketen-UBoot. Die Kapitäne dieser Schiffe sind die einzigen Kom mandanten strategischer Waffen außerhalb der Reichweite des Generalstabs. Unter Wasser bin ich auf mich allein gestellt, und es ist deine Pflicht, mich davon abzuhalten, meine Kompetenzen zu überschreiten. Das ist die erste Lektion, die man euch auf der Schule für Parteioffiziere beibringt.« Kugarin wußte, dass sein Freund irgendwann im Lauf des Gesprächs noch auf die Meldung aus Gremicha kommen würde, und schließlich sagte Zenko: »Deminow will noch ein Taifunboot einsetzen.« Kugarin verschluckte sich fast an seinem Wodka und fluchte. »Aber ohne Waffencode kann er keine Rakete abfeuern.« »Glaub mir«, sagte Zenko, »er kriegt die Codes. Mit etwas Geduld können die Computer die Algorithmen wieder her stellen.« »Was hast du jetzt vor, Stefan?« Zenko schloß für einen Moment die Augen und war in Gedanken verloren. Dann musste er lachen. »Rußland braucht keine dreißigtausend Atomsprengköpfe«, sagte er. »Kein Hit ler und kein Napoleon bedroht uns. Ich habe die Taifunboote gebaut, um das Eis zu erobern. Ich wollte die Schiffe, nicht die Waffen, aber ich hatte keine Alternative. Keiner baut Atom-UBoote, nur das Ministerium für Rüstungsindustrie. Ich fürchte, ich habe ein schlechtes Geschäft gemacht. Ich trage einen Admiralsstern, Sascha, aber ich bin nie Krieger gewesen.« »Jetzt sind wir Krieger, ob wir wollen oder nicht«, sagte Kugarin. »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Stefan. Was 298
hast du jetzt vor?« Wenige Minuten später ließ Zenko die Offiziere, die Obermatrosen und so viele Frischlinge, wie in den Lenin-Raum paßten, antreten. Lautsprecher trugen die Worte des Kapitän's zu den einzelnen Dienstposten im ganzen Schiff. »Männer der >Taifun<«, sagte Zenko. »Die >Sowjetski Sojus< ist gesunken, aber die Gefahr für das Vaterland, die von Admiral Iwan Deminow ausgeht, ist noch nicht gebannt. Ich habe soeben eine Meldung aus der Nachrichtenzentrale in Gremicha übermittelt bekommen, von Major Riziow, einem sehr tapferen Offizier. Deminow macht noch ein Taifunboot klar zum Einsatz auf See, wahrscheinlich die >Lenin<, die vermutlich in acht Stunden beladen und bestückt wird. Weitere werden nachfolgen. Daher habe ich mich nach reiflicher Überlegung und einer gründlichen Gewissensprüfung dazu entschlossen, Gremicha anzugreifen.« Stöhnen und Proteste war die einhellige Reaktion auf die Ankündigung. Zenko hob die Hand und gebot Ruhe. »Ich weiß, Ihre Familien sind dort, unsere Freunde und Schiffskameraden sind dort, aber wir müssen sie als Geiseln betrachten. Wenn Deminow die >Lenin< in die Barentssee schickt, dann werden Millionen Menschen sterben. Um so eine Ungeheuerlichkeit zu verhindern, bin ich bereit, die Dinge zu opfern, die ich am meisten liebe. Ich habe die Taifunflotte aufgebaut, um das Vaterland zu schützen, ich habe nie daran gedacht, dass sich meine Schiffe gegen mein eigenes Land richten könnten. Das ist der traurigste Tag in der Geschichte unserer Marine. Wir sind im Krieg mit unseren eigenen Brüdern. Drei stolze Schiffe und dreihundertsiebzig tapfere Seeleute sind heute unterge gangen, dazu zwei Tote auf diesem Schiff, aber wir dürfen nicht eher aufgeben, als bis das Übel mit der Wurzel ausge räumt ist. Eins kann ich Ihnen versprechen: Ich werde keine Atomwaffen einsetzen, wenn es sich vermeiden läßt. Ich will nur die Schiffe in der Grotte zerstören, nicht die Bauten auf 299
dem Festland. Ihre Familien sind also in Sicherheit.« Die Trauer, die aus Zenkos Stimme sprach, traf die Männer, die dicht gedrängt im Leninzimmer standen, mitten ins Herz. Sorokin spürte die Stimmung der Mannschaft, und in einem zittrigen Bariton fing er an, ein tragendes, kummervolles See mannslied zu singen. Nach und nach stimmte die ganze Mann schaft mit ein.
300
30. Kapitel Erster Mai Ein großer Militärtransporter rollte auf der Landebahn des Flughafens von Gremicha aus und entließ 150 U-Boot-Männer vom Siebten Geschwader, den Grauen Geistern von Mur mansk, sowie fünfzig schwerbewaffnete Kommandos der Eli tesondereinheit der Spetsnaz. Die Seeleute begaben sich sofort zu den Personenaufzügen und fuhren runter zu Zenkos Höhle. Die Kommandos dagegen eilten mit Gepäck, Sturmgewehren und schwarzen Baskenmützen im Laufschritt durch den Stütz punkt, eine absichtliche Einschüchterung der dienstfreien Frischlinge und ihrer Familien. Von der Nachrichtenzentrale aus beobachtete Major Riziow, wie Oberst Ludinow die Grauen Geister vom Aufzug zum Lie geplatz der »Lenin« führte, wo Deminow sie bereits erwartete. Der Dechiffrierer hatte die Montagecodes für die Waffen geknackt, und in den Bunkern wurden schon die Sprengköpfe für drei Raketen zusammengesetzt. Deminow erschien auf der Brücke der »Lenin« und fing an, dem Kranführer zuzurufen und zu gestikulieren. Am äußeren Liegeplatz, jenseits der »Lenin«, ankerte die »Erster Mai«. Ganz auf die »Lenin« konzentriert, hatten Demi now und seine Offiziere die »Erster Mai« außer acht gelassen. Mit einem prüfenden Blick auf den Dienstplan sah Riziow, dass sein Trinkbruder Leutnant Jewgeni Scharinski der »Erster Mai« als Deckoffizier zugeteilt worden war. Riziow ging in sein Büro, schloß die Tür und rief in der Offiziersmesse an. Die drei jungen Offiziere an Bord der »Erster Mai« freuten sich auf einen Tag ohne Vorgesetzten an Bord und mit leichtem Dienst. Das U-Boot verfügte über fünf Prozent Energie in den Reaktoren, genug für einen Notstart, aber die Offiziere rechneten nicht damit, vor Ablauf eines Monats in 301
See zu stechen. Alles Nötige - Reparaturlisten auf den neuesten Stand bringen, kleinere Ersatzteile anfordern, Zubehör an die Maschinenwerkstatt schicken - konnte achtern von vier Obermatrosen im technischen Dienst erledigt werden. Der Kapitän und der politische Offizier waren in Sankt Petersburg, die Maschinenoffiziere in Murmansk und die Mannschaft an Land und erfreute sich der guten Luft. In der Offiziersmesse floß der illegale Wodka in Strömen. Immer wieder füllten die jungen Offiziere die Gläser aufs neue. Zweiter Waffenoffizier Jewgeni Scharinski war betrunken, seit er gesehen hatte, wie Zenko in der »Taifun« durch die Schleu sentore der Höhle ausgelaufen war. Desillusionierung und der Wodka hatten den jungen Offizier in eine schwere Depression gestürzt, er hing seinen aufrührerischen Ideen nach. Er hielt einen Meßbecher für Spirituosen in die Höhe und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf die russische Republik.« Seine Kameraden teilten seine Gefühle, wollten sie aber unter diesen Umständen nicht unbedingt auf einem Kriegs schiff zum Ausdruck bringen. »Hör auf, Jewgeni.« Sie tranken aus, und wieder goß Scharinski nach. Das Tele fon klingelte, und er nahm den Hörer ab. »>Erster Mai<, Leut nant Scharinski.« »Hier spricht Riziow«, sagte der Major heiser, aber ver nehmbar flüsternd. »Jewgeni, wer ist außer dir noch auf dem Schiff?« »Nikolai und Alexander und vier Atomsprengköpfe. Wieso?« »Bist du betrunken?« »Nur ein klein bißchen.« »Kannst du Dampf machen?« »Was soll ich? Sprich lauter.« »Das kann ich nicht«, sagte Riziow. »Ich bin in meinem Büro, und die Leute können mich verstehen.« 302
Scharinski lachte. »Was willst du? Komm runter und geneh mige dir einen.« »Kannst du Dampf machen?« »Wieso? Willst du eine Kreuzfahrt nach Norwegen machen?« »Jewgeni, hör doch mal zu. Wir müssen etwas sehr Ernstes besprechen. Hast du gesehen, wie Zenko mit der >Taifun< aus gelaufen ist?« »Ja doch. Es war ja unübersehbar. Das fette dicke Schwein ist Deminow in den Arsch gekrochen und ist davongesegelt, weil er die Welt in die Luft jagen will. Er hat uns verraten, Boris. Ich will seinen Namen nicht mehr hören.« »Nein, Jewgeni. Es ist genau andersherum. Deminow ist der Verräter, und Zenko versucht, ihn aufzuhalten. Deminow hat Kapitän Rubikoff von der >Lenin< zu sich bestellt und ihn vor wenigen Minuten in Zenkos Büro erschossen.« »Was?« »Ja.« »Du spinnst ja.« »Jewgeni, ehrlich. Die Verbindungen nach draußen sind ein geschränkt. Wir können weder Zenko noch sonst irgendwem einen Funkspruch schicken. Deminow benutzt die Operation Weißer Stern, um die Regierung zu stürzen. Er schickt gerade eine neue Mannschaft auf die >Lenin<. Die >Erster Mai< inspizieren seine Männer bestimmt auch gleich.« Scharinski hielt die Hand vor die Muschel. »Stellt die Gläser weg«, sagte er zu den anderen in der Offiziersmesse, und dann wieder zu Riziow: »Danke für die Warnung.« »Scharinski«, sagte Riziow jetzt eindringlich, »Deminow schickt die >Lenin< in See. Du musst ihn aufhalten! Bring die >Erster Mai< in den Kanal und versenk sie. Versperr ihm den Weg, um Himmels willen!« »Du bist wirklich übergeschnappt«, stammelte Scharinski. »Jetzt hör mir mal zu! Malakow ist mit der >Sowjetski 303
Sojus< im Weißen Meer und hat eine Rakete an Bord auf Tiflis gerichtet. Ich schwöre dir, ich habe die Codes gesehen. Deminow benutzt die Taifunboote, um die Regierung zu erpressen. Er will einen Bürgerkrieg auslösen. Jetzt, wo Zenko nicht da ist, müssen wir ihn aufhalten. Moment, es kommt gerade jemand rein.« Scharinski hörte eine Stimme brüllen: »Verschwinden Sie vom Telefon!« Die Leitung wurde unterbrochen. Scharinski versuchte, den Alkohol im Blut abzuschütteln. Tiflis. Er hatte Verwandte in Tiflis. »Ihr werdet nicht glauben, was Riziow mir gerade er zählt hat«, sagte er zu seinen Kameraden. Ludinow stand mit gezogener Pistole im Türrahmen von Riziows Büro. »Mit wem haben Sie gerade gesprochen?« fragte er wutschnaubend. »Meine Gespräche sind geheim, Oberst.« Ludinow hielt ihm einen Computerausdruck von seinen Funksprüchcn an die »Taifun« vor die Nase. »Wie der hier? Sie sind verhaftet, Major!« »Auf wessen Veranlassung?« tobte Riziow. »Ich verlange eine direkte Verbindung mit der Admiralität in Sankt Peters burg.« Ludinow lachte ihm mitten ins Gesicht. »Nehmen Sie die Hände hoch, und dann werden wir uns mal mit Admiral Deminow unterhalten.« Widerstrebend fügte sich Riziow. Sie verließen das Büro und gingen den Flur entlang. Als sie sich der Nachrichtenzentrale näherten, wo etwa ein Dutzend Menschen zuschauten, drückte Riziow mit dem Ellbogen auf einen roten Knopf für den Feueralarm. Ein ohrenbetäubendes Schrillen brach im Raum aus. Diejenigen, die Zeuge der Szene geworden waren und Riziows Verzweiflungstat gesehen hatten, suchten Deckung unter ihren Tischen. Die anderen in der Zentrale, Mitarbeiter und Techniker, im Glauben, ein Feuer sei ausge 304
brochen, verließen ihre Terminals und zwängten sich durch die Ausgänge. Unten, im Innern von Zenkos Höhle, heulten Sirenen auf, und automatische Sicherheitsschleusen wurden geschlossen. Aufgeschreckt durch das chaotische Hin- und Hergerenne um ihn herum, fluchte Ludinow und feuerte Riziow vier Schüsse in den Rücken. »Haltet sie auf.« schrie Riziow mit letzter Kraft den sich duckenden Technikern entgegen. »Sie wollen...« Mit einem Kopfschuß brachte Ludinow ihn zum Schweigen. Neunzig Meter über der Nachrichtenzentrale kamen die Spetsnaz-Kommandos mitten im lautesten Gedröhn der Alarmsirenen zu den Schnellaufzügen. Der kommandierende Hauptmann trat auf den jungen Marineinfanteristen zu, der dort Posten stand, und befahl: »Öffnen Sie die Aufzugtüren!« Der Wachposten stand sofort still. »Die Türen haben sich automatisch geschlossen. Ich kann sie von hier aus nicht öff nen.« »Dann brechen Sie sie auf!« »Darf ich Ihre Vollmacht sehen? Kein Einlaß ohne Voll macht.« »Treten Sie beiseite, Mann!« Eine Sirene schnitt mit einem lauten Kreischen durch die Luft. Lichter blinkten auf. Ein Marineleutnant kam über den Betonboden gerannt. »Was geht hier vor?« rief er. Der Wachposten antwortete: »Diese Männer verlangen Zutritt zu den U-Boot-Bunkern.« »Unten ist ein Feuer ausgebrochen. Keiner darf nach unten«, sagte der Leutnant. »Ich befehle Ihnen, den Alarm abzustellen und die Aufzug türen aufzuschließen«, verlangte der Hauptmann. »Das darf ich nicht.« »Wenn hier ein Feuer ausgebrochen ist, dann war das Sabo tage«, brüllte der Hauptmann. »Meine Männer müssen nach 305
unten.« Er wandte den beiden Infanteristen den Rücken zu und gab einem Sergeanten mit einem Kopfnicken ein Zeichen. Ein Sturmgewehr fauchte, und der Wachposten und der Leutnant sanken zu Boden, Blut spritzte aus ihren Wunden. »Verschafft euch Zugang über die Treppe«, befahl der Hauptmann. »Alle erschießen, die sich in den Weg stellen.« Die Alarmsirenen im Innern der Höhle tönten so laut, dass sie bis in die Offiziersmesse der »Erster Mai« drangen. Scharinski lief nach vorne zur Kommandozentrale, stieß eine Luke auf und sah sich einem höllischen Chaos gegenüber. Hupen kreischten. Offiziere und Gefreite liefen auf den Kais hin und her. Plötzlich verstummten die Alarmsirenen. Ein paar Sekunden später öffneten sich die Aufzugtüren, und Spetsnaztruppen stürmten die Kaianlagen, auf die Schiffe zu. Auf der Brücke der »Lenin« tauchte Deminow auf. Scharinski ließ sich wieder in die Kommandozentrale hinab, warf das Steuerruder hart Backbord und blockierte es. Benommen taumelten die anderen beiden diensthabenden Offiziere in den Raum. »Wir werden angegriffen!«, schrie Scharinski. »Angriff?« fragte einer, betrunken und verwirrt. »Die Amerikaner?« fragte der andere. »Abtrünnige versuchen, die >Lenin< zu klauen«, brüllte Scharinski. »Wir müssen den Kanal blockieren.« Er sprintete nach achtern zum Backbord-Steuerraum, warf den wachhabenden Kadetten um und drückte den Reaktor notauslöser. Auf das Gebrüll im Gang hin kamen zwei ver dutzte Mechaniker durch die Luke vom Maschinenraum und wurden von einem wild dreinblickenden Scharinski über rascht, dessen Gesicht weiß wie Schnee war. Bevor ihnen klar wurde, was er vorhatte, preßte er die Restwärme des Reaktors in die Wärmeaustauscher und löste damit die Bildung einer »Kugel« aus überhitztem Dampf aus. Er hämmerte auf den 306
Computerterminal ein, und innerhalb weniger Sekunden fing die Hauptantriebsturbine Backbord an sich wie irrsinnig zu drehen. Mit einem unkontrollierten Ruck sprang das Schiff vor. Die Backbordschrauben spritzten Wasser über den Kai, und der Bug schwenkte in Richtung Kanal. Eine Stahltrosse richtete sich auf, spannte sich und riß mit donnerndem Getöse die Ver täupoller aus dem Boden. Statt Scharinski zu stoppen, liefen die beiden Mechaniker auf die Luken zu. Die beiden anderen, weiter hinten im Maschinenraum, riefen gleichzeitig über den Bordfunk. Der Bug der »Erster Mai« glitt in den Kanal. Das Ruder stieß gegen die Kaimauer, zertrümmerte die Betonplatten, drückte den Stahlrumpf ein. Die Heckleine zog ein zehn Meter langes Stück der Kaimauer heraus, mehrere Matrosen stürzten dabei ins Wasser. Ein Trupp der Spetsnaz-Sondereliteeinheit sprang vom Kai aus auf das Deck des Schiffes. Ein übereifriger erschoß den ersten Maschineningenieur, der den Kopf aus der Luke steckte. Der Soldat stieß die Leiche mit dem Fuß beiseite und sprang hinunter in die Kommandozentrale. Zwei ange trunkene erschrockene Offiziere standen am Tauchsteuerpult, und ein Obermatrose des Maschinenraums lag ausgestreckt am Boden. »Nach hinten!« rief der Maschineningenieur. »Einer von den Offizieren ist durchgedreht.« Als das Schiff sich etwa fünfzehn Meter vom Pier entfernt hatte, sprangen die Landkabel mit einem prasselnden Funken regen auseinander. Scharinski eilte rüber in den BackbordMaschinenraum, erreichte die Seewasserventile und warf die Hebel um. Wasser sprudelte in den Raum. In panischer Angst quetsch ten sich die beiden anderen Maschineningenieure schreiend durch die Luke und gerieten mit dem Kopf in einen Kugelhagel der Spetsnaz. Das Schiff begann sich heckwärts schräg zu 307
legen. Die Spetsnazsoldaten wateten durch knietiefes Wasser und fanden Scharinski, der wie ein Irrer grinsend neben dem Turbogenerator stand. Als das Wasser auf Stromleitungen traf, sprühten erneut Funken auf, und Brände brachen aus. Schwar zer Rauch erfüllte die Luft. Mit seiner Baßstimme begann Scharinksi die russische Nationalhymne zu singen. Eine Salve aus einer Kalaschnikow beendete den Gesang. Von der Brücke der »Lenin« aus verfolgte Deminow entgei stert, wie die »Erster Mai« mit dem Heck zuerst sank, bis ihr Steuerruder auf dem Betonboden unter Wasser lag. Schwarzer Rauch quoll durch die offenen Luken und stieg zur Decke der Höhle empor. Die Seeschleusen waren versperrt. Die »Lenin« konnte nicht auslaufen, solange das versunkene U-Boot nicht geborgen war. »Na warte, Stefan Zenko«, murmelte Deminow halblaut. »Dafür wirst du büßen.«
308
31. Kapitel Durchbruch Eine kleine Boje trieb an die Oberfläche einer offenen Wasser straße und richtete ihre Antenne in die Luft. »Keine Funksignale, Kapitän.« »Persikop ausfahren.« Ein schlankes Suchperiskop glitt aus seinem Gehäuse und durchbrach die Oberfläche. Zenko beugte sich über den Sucher. »Regen und Schnee«, sagte er. »Bei dem Wetter wagt sich kein Hubschrauber raus. Periskop einfahren. Geschwindigkeit zwanzig Knoten. Wir fahren durch die Gorlostraße.« Das herausfordernde Kommando tönte durch das Schiff. Der Magen des nuklearen Kraftprotzes knurrte, und Milliarden Uranatome im Reaktor des Schiffes spalteten sich, um die »Taifun« unter Eis anzutreiben. Rotierende Wellenlager müh ten sich, um den massigen Schiffskörper gegen den Widerstand der See voranzutreiben, brachten das Schiff immer schneller voran, bis es zwanzig Knoten erreicht hatte, die Höchstge schwindigkeit auf einem Antrieb. Die »Taifun« schnitt durchs Wasser, Eisscanner brannten unter der gefrorenen Decke den Weg frei, die Steuerbordturbine schwirrte, Kühlpumpen stampften, die Schrauben wirbelten wie Schaumschläger Hohlräume auf und schickten Schallwellen aus, die von der Eisdecke zurückgeworfen wurden und vom Meeresboden widerhallten. »Wir machen mehr Lärm als ein Zerstörer«, sagte Kugarin, das Gesicht von Sorge und Angst verzerrt. Zenko lachte. »Du bist ein aufmerksamer Beobachter aku stischer Phänomene, Sascha«, spottete er. »Würdest du mir bitte mal erklären, was du vorhast?« Zenko gab Befehl, eine Darstellung der Straße auf den Mitsubishischirm zu holen. »Egal, welche Fahrt wir machen, 309
ob schnelle oder langsame«, sagte er, »die am Meeresboden der Straße verankerten Sonare fangen uns auf. Das ist nun mal nicht zu vermeiden. Diesmal ist kein Geleitzug da, die Schützen können also Granaten abfeuern. Bei langsamer Fahrt können sie sich auf uns einpeilen, durch die Eisdecke stoßen, und wir kriegen dann den Schlag ab. Aber Marineschützen haben noch nie gehört, dass ein U-Boot mit Volldampf durch die Gorlostraße fegt und sind nicht ausgebildet, auf bewegliche Ziele zu schießen. Ihre Patronen werden kleinlaut auf der Eisdecke krepieren.« »Mag sein«, sagte Kugarin skeptisch, »aber wie steht es mit den Minen?« Zenko tippte ein paar Daten in das Navigationspult, und ein Netz von roten Lichtern erschien auf der elektronischen Karte. »Da hast du dein Minenfeld«, sagte er. »Wir wissen, wo sie lie gen. Diese Waffen sind ausgelegt worden, um amerikanische U-Boote aufzuhalten, nicht ein U-Boot der Taifunklasse, des sen Kapitän die Positionen kennt. Ich habe der Nordflotte jah relang U-Boot-Taktik beigebracht. Ich habe immer gepredigt, Ruhe, Ruhe, Ruhe, und das erwarten sie jetzt. Ich werde das Gegenteil tun und sie überrumpeln.« Er rief Sorokin herbei. »Welche Chance geben Sie uns, dass wir heil durch die Straße kommen?« Sorokin kratzte sich am Hinterkopf und schaute mit einem Stirnrunzeln rüber zum Navigationsschirm, auf dem ein beachtliches Netz aus Sonaren, Minen und Granatwerfern zu erkennen war. »Sechs zu eins dagegen«, erklärte er. Zenko kramte in seiner Hosentasche und zog eine Handvoll Geldscheine hervor. »Hier sind fünfhundert Rubel, die dafür sprechen. Ein Jahresgehalt für einen Seemann.« »Kapitän« , sagte Sorokin, »wenn Sie verlieren, bin ich auch nicht mehr da, Ihren Einsatz zu kassieren.« »Sonar an Kontrollraum«, sagte Chief Morrison. »Die >Taifun< macht Fahrt. Sie läuft immer noch auf einer Turbine 310
und einer Schraube. Sieht so aus, als steuere sie auf die Meerenge von Pulonga zu.« »Verdammte Scheiße!« fluchte Gunner. »Wenn es jemals einen Iwan den Verrückten gegeben hat, dann ist es der Typ. Kontrollraum an Steuerraum. Mehr Tempo.« Sorgen wühlten Gunners Magen auf. Eine neue Packung Luckies aufreißend, sagte er: »Der Kanal verläuft in einer Tiefe von sechsunddreißig Meter, bis zu dem Punkt vor Pulonga, wo Zenko sie bei der Einfahrt mit einer Attrappe reingelegt hat. In Pulonga selbst ist der Meeresboden bei fünfundzwanzig Metern, was uns elf Meter Freiraum läßt. Dass wir den Boden streifen oder die Eisdecke rammen könnten, darüber mache ich mir keine Sorgen, aber nehmen wir an, Zenko will sie über rumpeln und wischt glatt durch. Dann kommen wir, und die Hubschrauber lassen ihre Ladung auf uns fallen. Wieder im Kreuzfeuer. Viel Vergnügen.« »Wäre es nicht besser, wenn wir unsere Fahrt drastisch dros seln?« fragte Trout. »Dann würden wir sie verlieren.« »Besser wir verlieren die Russen als die >Reno<«, warf Trout ein. Gunner musterte die Navigationskarte und schaute auf seine Uhr. »Bei zwanzig Knoten Fahrt braucht Zenko vierzig Minu ten bis zur Meerenge, und wir sind dreißig Minuten hinter ihm. Wir verlangsamen und strecken in genau zwanzig Minuten unsere Fühlerchen aus.« »Bis dahin haben uns die Küstensonare längst auf ihren Schirmen ausgemacht«, sagte Trout. »Ja, aber sie wissen nicht, wer wir sind.« 35 Minuten später befand sich die »Taifun« siebzehn Kilometer vor der Meerenge. »Attrappen laden«, befahl Zenko. Das automatische Ladesystem der Torpedokammer schob 311
fünf Torpedos ein, öffnete die Außenklappen und flutete die Rohre. »Torpedokammer an Kommandozentrale. Attrappen be reit.« Die erste Attrappe wurde darauf programmiert, dem U-Boot vorauszueilen, direkt in das Minenfeld. Die zweite sollte einem Kurs folgen, den Zenko zu steuern beabsichtigte, und die dritte und vierte sollte nach rechts und links ausscheren, um die Schützen zu verwirren. Die fünfte diente als Reserve. Zenko holte tief Luft und sagte mit ruhiger Stimme. »Attrappe Eins abfeuern.« Sorokin drückte den Knopf. »Maschinen drosseln.« Die Dampfzufuhr ließ nach, aber die »Taifun« glitt aus eige nem Antrieb weiter. Der Operator im Sonarraum nutzte die Schleichfahrt, um sein Sonarnetz steuerbords zu aktivieren, und staunte mal wieder über das, was er da zu hören bekam. »Sonar an Kommandozentrale. Der Amerikaner ist wieder da.« »Entfernung?« »Fünfunddreißig Kilometer, abnehmend.« »Scheiße«, zischte Zenko«. Er trommelte mit den Fingern auf den Kartentisch. »Ich habe die Schnauze voll von diesem Wolf im Schafspelz.« Kugarin wiederholte die alte Leier. »Du darfst ihn nicht ver senken, Stefan. Wenn wir mit Deminow fertig sind, brauchen wir alle Freunde, die wir kriegen können, besonders die Ame rikaner.« »Du hast recht, Sascha. Aber ich kann's nicht haben, wenn er mir ewig im Nacken hockt. Kommandozentrale an Waf fenkammer. Attrappe fünf umprogrammieren auf Torpedo Typ 65-Simulation. Klarmachen zum Abschuß ins Kielwasser.« Der Waffenoffizier tippte fieberhaft Kommandos in den Waffencomputer, machte einen Programmierfehler und musste 312
die Eingaben wiederholen. Ein grünes Licht leuchtete auf. »Attrappe bereit.« »Feuer!« »Attrappe abgeschossen.« »Äußerste Kraft voraus!« »Torpedo im Wasser!« rief Morrison aus dem Sonarraum. »Typ Fünfundsechzig.« Die Attrappe brauste mit 55 Knoten durchs Wasser, aber diese Geschwindigkeit in Verbindung mit den zwanzig Knoten der »Reno« ergab eine Aufprallgeschwindigkeit von 140 Stun denkilometer. Morrison stellte blitzschnell Berechnungen an. »Aufprall in sechzehn Minuten«, sagte er. »Empfehle beizudre hen, Skipper.« Gunner stieß einen leisen Fluch aus. Zenko wollte ihn nicht versenken, dafür war die Entfernung zu groß. Der Russe wollte den Amerikaner nicht davon abhalten, der »Taifun« durch die Straße zu folgen. Scheiße, dachte Gunner, mit einem Torpedo vom Typ 65 soll man nicht spaßen. »Ruder, hart Backbord!« befahl er. »Geschwindigkeit halten. Hundertachtzig Grad beidrehen.« »Wir können ihm davonlaufen«, rief Trout. Während die »Reno« beidrehte, blieb der Torpedo weiter auf Kurs. »Das Lenksystem scheint defekt«, sagte Trout. »Darauf können wir uns nicht verlassen«, sagte Gunner. »Kontrollraum an Waffenkammer. Captor klarmachen.« Im Torpedoraum zogen Chief Garrett und drei Torpedo schützen eine Captormine aus der Halterung, setzten die nöti gen elektronischen Bauteile ein und führten den Aufbringer ins Rohr. »Torpedoraum an Kontrollraum. Captor klar.« »Sonar an Kontrollraum. Torpedogeräusch hat aufgehört. Der Fisch liegt tot im Wasser.« »Sind Sie sicher, Morrison?« 313
»Ich kann es nicht mehr hören, Skipper. Es ist weg.« »Hoffentlich haben Sie recht. Vielleicht ist er nur defekt. Torpedokammer, Captor einbehalten. Ruder, zehn Grad rechts, zurück auf unseren alten Kurs.« »Aye, aye.« »Eine Galgenfrist«, sagte Gunner zu Trout. Die Techniker an Land waren doch aufmerksamer, als Zenko erwartet hatte. Der Sonaroffizier verfolgte seit zehn Minuten das Herannahen eines Taifunschiffes. Leutnant Tarinski hatte das Minensteuerpult repariert, aber die am Boden verankerten Minen waren so alt, keiner in Pulonga rechnete damit, dass sie funktionierten. Tarinski war der Ansicht, dass die günstigste Gelegenheit für ihn, ein Schiff in der Meerenge zu versenken, bei den Granatwerfern lag. Zusätzliche Granaten waren aus dem Waffenarsenal herangekarrt und sorgfältig mit elektrischen Heizgeräten angewärmt worden. Per Funk mit den Geschützen verbunden, fanden sich die Sonarmänncr in der Hütte damit ab, als Minenaufklärer zu fungieren. Tarinski rief Gremicha. In Gremicha stellte Deminow hektische Überlegungen an, wie man die »Erster Mai« heben konnte. »Admiral, Leutnant Tarinski ist in der Leitung.« Deminow nahm den Hörer auf. »Was gibt es denn schon wieder, Leutnant?« fragte er gereizt. »Ein Taifunboot nähert sich von Süden her mit rasanter Geschwindigkeit der Straße.« »Ein Taifunboot? Sind Sie sicher?« »Absolut. Fährt nur auf einer Maschine.« Deminow war fassungslos. Malakow würde niemals seinen Posten verlassen, ohne vorher einen Funkspruch zu schicken. Es musste die »Taifun« sein, und Zenko würde keinen zweiten Anlauf nehmen, die Straße zu durchqueren - es sei denn, die »Sowjetski Sojus« war versenkt worden. Deminow verfluchte 314
seinen Schwiegersohn heimlich. Was zum Teufel hatte sich da abgespielt? Egal. Zenko musste auf jeden Fall vernichtet wer den. »Wie ist die Wetterlage in der Straße«, fragte er Tarinski und gab sich alle Mühe dabei, seine Wut zu verbergen. »Immer noch schlecht. Die Hubschrauber sind am Boden. Das Ortungsflugzeug für magnetische Störungen ist in der Luft, fängt aber nur Streuanzeigen auf, wahrscheinlich vom Wrack der >Minsk<.« »Leutnant, hiermit befehle ich Ihnen, das Minenfeld zu akti vieren. Nutzen Sie alle Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, Sie müssen die >Taifun< versenken. Habe ich mich klar ausge drückt?« »Ja, vollkommen klar«, entgegnete Tarinski, dem erst jetzt aufging, dass Stefan Zenko das eigentliche Ziel war. »Halten Sie mich auf dem laufenden«, befahl Deminow und knallte den Hörer auf. »Signalisieren sie der >Sowjetski Sojus<, sie soll auftauchen, und stellen Sie sofort Funkkontakt her«, rief er noch und wußte gleichzeitig, dass sein Befehl vergebens ausgeschickt werden würde. »Ich erkenne ein zweites Ziel, Leutnant«, sagte der Sonarof fizier in Pulonga. »Mindestens dreißig Kilometer hinter dem Leitziel, und es blendet sich ein und aus.« »Was kann das bloß sein?« fragte Tarinski und gab sich selbst die Antwort. »Muss eine Schleppattrappe sein. So ein übler Trick ist Zenko zuzutrauen.« »Das Leitziel hat sich aufgeteilt«, meldete der Sonaroffizier. »Ein Zielobjekt rast direkt auf das Minenfeld zu.« »Noch eine Attrappe«, sagte Tarinski. »Zenko weiß, wo die Minen liegen. Kein Wunder, er hat ja die meisten selbst gelegt.« »Erkenne immer mehr Zielobjekte, Leutnant.« Die Sonarschirme in Pulonga erwachten zum Leben, mehr und mehr blaue Blinklichter tauchten auf. In Hunderten von 315
Trainingseinheiten hatte der 24jährige Leutnant unzählige Ziel punkte auf den Simulatoren verfolgt, aber keiner der elektroni schen Punkte stellte je ein echtes U-Boot dar. Und nicht nur irgendeins — die »Taifun« war in der Straße. »Taifun«. Er wußte nicht, warum, aber er hatte Befehl, das berühmteste UBoot der Nordflotte zu versenken. Umgehend wurde sich Tarinski seiner Rolle bewußt. Ein namenloser Junge aus Moskau war plötzlich auf die Bühne der Weltgeschichte gestoßen worden. Sein Herz schlug wie ein Kolbenmotor. Er war bereit, wirkliche Schüsse auf ein U-Boot mit wirklichen Menschen abzufeuern, Russen wie er. Er würde die »Taifun« versenken und mit ihr Stefan Zenko. Beförderungen und Auszeichnungen winkten. Einer der Leuchtpunkte auf dem Schirm näherte sich jetzt der am südlichsten Punkt des Feldes gelegenen Mine. Bei zwanzig Knoten stieß Zenkos erste Attrappe zwischen zwei Minen auf, aktivierte magnetische Auslöser und sprengte beide gleichzeitig in die Luft. Mitten in der Straße brachen zwei Geysire durch die Eisdecke. Eisbrocken von der Größe eines Autos flogen durch die Luft und krachten mit lautem Getöse zurück. Die Explosion blendete die Sonarmänner in der Hütte. Die Minen funktionierten tatsächlich! Tarinski stieß einen Jubel schrei aus. und die Männer spendeten Beifall. »Die Attrappen werden sich auf den Minen selbst vernichten«, sprach Tarinski aufgeregt ins Funkgerät zu den Granatschützen. »Der dann noch übrigbleibt, ist unser Ziel.« Während der kleinen spontanen Siegesfeier wendete Tarinski seine Aufmerksamkeit wieder den Sonarschirmen zu. Einen Moment starrte er ungläubig, alle Schirme waren leer. »Ach du lieber Himmel«, sagte er. »Wir haben uns selbst in die Luft gejagt!« Die wichtigen Hydrophone des Sonarsystems lagen in Trümmern auf dem Grund der Straße, zerstört durch die 316
Erschütterungen der Minenexplosionen. Pulonga war taub. Tarinski legte die Hände vors Gesicht und weinte. »Attrappen Drei und Vier abfeuern«, befahl Zenko. Noch mehr Attrappen, noch mehr Explosionen, und dann die Werfer. Ohne Sonarlenksystem feuerten Granatschützen blindlings entlang der Schiffahrtsroute über dem tiefsten Kanal, und die Patronen drückten harmlose Löcher ins Eis. Die »Tai fun« konnte ungehört und ungesehen die Meerenge passieren. Elektronische Leuchtpunkte strichen über die Sonarschirme der »Taifun«, als Granaten nördlich des Schiffes explodierten. Zenko erriet, was geschehen war. »Die Minen haben die Sonare zerstört«, sagte er. »Sie können uns nicht mehr hören.« Die Gefahr war noch nicht vorüber. Unbeirrt und metho disch wanderten die Granatwerfer Richtung Süden, sprengten Dutzende Löcher ins Eis. Sieben Minuten nachdem das Sperrfeuer eingesetzt hatte, explodierte eine verirrte Patrone direkt über der »Taifun«. Das Schiff erzitterte. Dann traf eine zweite Patrone die Eisdecke oberhalb der SteuerbordRaketenkammer. »Der Außenrumpf ist gerissen, Kapitän«, sagte der Tauchof fizier mit erstaunlicher Ruhe. »Beide Druckkörper intakt. Wir haben einen Trimmtank verloren.« »Sind die Raketenkammern getroffen?« »Nein. Intakt.« »Systemcheck bei allen Raketen durchführen.« »Aye, aye.« »Sorokin. Mach dich drauf gefaßt zurückzuzahlen, du klei ner Hurenbock aus Murmansk. Die >Taifun< kann zwanzig Risse in der äußeren Hülle aushalten und noch immer kampf bereit sein.« »Genosse Kapitän«, sagte Sorokin, »wir fahren nur auf einem Antrieb, unsere Backbordsonare sind defekt, und unser Schiff ist durchlöchert. Wenn Sie uns hier lebend rausbringen, spendiere ich Ihnen eine Nacht im besten Puff von ganz Mur 317
mansk.« Eine Maschine mit einem magnetischen Minensuchgerät kreiste über der Straße. Granathülsen, Minen und das Wrack der »Minsk« auf dem Meeresgrund brachten den Detektor durcheinander. Während die »Taifun« sich Richtung Norden bewegte, flog die Maschine nach Süden, und das U-Boot ent kam. Als sie Kap Woronow passiert hatten, nahm die Wassertiefe zu, und Zenko stieg bis unterhalb der Reichweite der Detek toren ab. Mit ihren beschädigten vorderen Sonaren war die »Taifun« zwar gelähmt, aber immer noch seetüchtig. Ein ame rikanisches Schiff war ebenfalls im Wasser und verpestete die Luft, und soweit Zenko wußte, wartete die gesamte Nordflotte in der Barentssee. Sechs zu eins? Scheiße, dreißig zu eins würde dem eher entsprechen. »Und jetzt ganz leise, wenn ich bitten darf. Geschwindigkeit auf acht Knoten drosseln«, befahl er. »Draufzahlen, Sorokin.« Tarinski nahm seinen ganzen Mut für einen zweiten Anruf bei Deminow zusammen. »Schlechte Neuigkeiten, Admiral. Die Minen haben die Sonare zerstört, und ich weiß nicht, ob die >Taifun< entwischt ist. Vielleicht hat sie nur den Kurs geändert. Wir haben nur eine Anzeige über dem Wrack der >Minsk<, sonst nichts weiter.« Deminow legte auf. Das Unmögliche war geschehen. Die Verteidigungsanlagen der Gorlostraße hatten zweimal versagt, und Zenko lief noch immer frei herum und konnte ungeheuren Schaden anrichten. Nach dem ursprünglichen Plan der Opera tion Weißer Stern sollte die Nordflotte nach einer Stunde aus laufen. Jetzt musste er Sankt Petersburg anrufen und Walotin mitteilen, dass sie Phase Zwei noch einmal um 24 Stunden ver schieben mussten. Deminow hörte auf ein Klicken in der verschlüsselten 318
Sicherheitsleitung, als der Anruf durchgestellt wurde. Walotin hatte die Operation Weißer Stern angeordnet als ein Mittel, den Republiken ihre Gelüste nach Unabhängigkeit ein für allemal auszutreiben, aber Deminow zweifelte, dass er auch den letzten Schritt gehen und die Regierung stürzen würde. Der fettleibige Flottenadmiral neigte zur Feigheit. Nach einigen Minuten war Walotin in der Leitung. »Ich hoffe, Sie melden, dass Zenko versenkt ist und Sie jetzt die Flotte einsetzen können, Iwan«, sagte er. »Ich fürchte, nicht, Admiral«, entgegnete Deminow. »Ich bedaure außerordentlich, aber die >Sowjetski Sojus< ist wahr scheinlich gesunken. Ich warte noch auf Bestätigung, aber ich habe keine Zweifel, dass Zenko Malakow geschlagen hat. Vor wenigen Minuten hat die >Taifun< versucht, durch die Straße in die Barentssee einzufahren, und ich fürchte, es ist ihr gelun gen.« »Aber Sie sind sich dessen nicht gewiß?« »Nein. Die Sonare in der Straße wurden zerstört.« »Was kann denn noch alles schiefgehen?« fragte Walotin wütend. »Ich bin drauf und dran, die ganze Operation abzubla sen, Iwan, und Sie wegen Inkompetenz erschießen zu lassen.« »Admiral«, sagte Deminow, »kein Grund zur Panik. Ich kann in wenigen Stunden mit der >Lenin< auslaufen, und selbst das Kommando übernehmen. Sobald ich auf Posten bin, können wir die Schiffe aus Poljarny und Murmansk einsetzen. Mit der ganzen Flotte auf See wird der Regierung nichts anderes übrigbleiben, als militärisch gegen die Republiken vorzugehen.« »Was ist mit Zenko?« »Auf den hetze ich die Grauen Geister.« »Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit«, sagte Walo tin. »Wenn Zenko bis dahin nicht vernichtet ist, verschieben wir die Operation und schicken die gesamte Flotte auf Suchund Zerstörungsmission.« 319
»Ich kümmere mich persönlich um Zenko, Admiral«, sagte Deminow und legte den Hörer auf. Für Walotin hatte er nur Verachtung übrig. Wenn die »Lenin« erst mal sicher unter Eis gebracht war und ihre Raketen auf Moskau zielten, dann wür den Walotin und die anderen Säcke im Verteidigungsrat die Befehle von ihm empfangen. Die Wiederherstellung der Algorithmen für die Waffencodes der »Lenin« kam langsam voran. Das Laden und Programmieren der Raketen in ihren Silos würde mindestens einen halben Tag in Anspruch nehmen. Wie auch immer, die »Lenin« konnte nicht auslaufen, solange die teilweise gesunkene »Erster Mai« nicht aus dem Weg geräumt war. Nachdem zwei leistungsstarke Schlepper den riesigen Schiffskörper nicht hatten wegziehen können, hatte Deminow einer Gruppe Schiffsbaumeister die Anordnung gegeben, Wasser aus der überfluteten Kammer herauszupumpen und das Schiff so schnell wie möglich zu bergen. Die trübe arktische Sonne war hinter der Kolahalbinsel untergegangen. Nach dem Telefongespräch mit Sankt Peters burg schaute Deminow aus dem Fenster von Zenkos Büro und sah, dass das untergetauchte Heck der »Erster Mai« noch immer den Kanal versperrte. Ihm platzte der Kragen vor Wut, er lief auf den Kai und ließ einen Schwall von Beschimpfungen auf die Männer los. Eingeschüchterte Arbeiter erklärten, dass sich die Pumpar beiten verzögert hätten, als man feststellte, dass aus den zerbro chenen Wärmeaustauschern radioaktive primäre Kühlmittel leckten. Deminow tat das als Ausreden ab. »Dann pumpe ich das Scheißschiff eben selber hoch«, verkündete er. Ein Schlepper wurde längsseits festgezurrt, und unter den Augen bewaffneter Wachposten versammelte sich am Heck ein Dutzend Männer in Strahlenschutzanzügen. Wutschnaubend setzte Deminow in einer Barkasse über und kletterte an Bord des Schleppers. Er quälte sich in einen Schutzanzug und blickte 320
die verängstigten Männer dabei finster an. Er zog den Overall über, stieg in die Gummistiefel, die Plastikstulpen, dann ein zweites Paar Gummistiefel, streifte Baumwollhandschuhe über, zwei Paar Gummihandschuhe, einen schweren Schutzmantel aus Plastik, eine Skimütze und eine Schutzbrille. In voller Montur und ausgerüstet, um radioaktiv verseuch tes Gebiet zu betreten, beschimpfte er die Männer. »Das Schiff wurde von Meuterern versenkt. Auf Meuterei steht die Todes strafe. Wenn Sie sich weigern, Ihre Pflicht zu tun, machen Sie sich an diesem abscheulichen Verbrechen mitschuldig. Die >Erster Mai< muss geborgen werden. Ich selbst werde in den Maschinenraum steigen, um die Schläuche auszulegen. Folgen Sie mir, oder Sie machen sich strafbar.« Deminow ließ sich auf das schrägstehende Deck des Schiffes hinab, schnappte sich ein Stück von einem dicken Schlauch und schleppte ihn zur vorderen Luke. Die Wachposten spannten den Hahn ihrer Sturmgewehre. Fluchend und stöhnend folgten die Schiffsbaumeister Deminow in das Innere des U-Boots. Ein tickender Geiger-Zähler lag an Deck, ein Arbeiter unweit der Luke der überfluteten Abteilung hatte ihn in seiner Panik fallen lassen. Deminow trat dagegen, zertrümmerte das Gerät am Schott und watete mit dem Schlauch hinter sich durch knietiefes Wasser. Er blieb nur drei Minuten in dem ver seuchten Raum, gerade so lange, um den ersten Schlauch aus zulegen. Zehn Minuten später floß kontaminiertes Wasser aus der »Erster Mai«, verseuchte Zenkos Höhle, aber das gesun kene Heck stieg auf. Deminow ging zurück zur Barkasse, stieg aus der verseuch ten Kleidung und ließ sich zur Kaimauer übersetzen. Am Pier senkte ein Kran einen leuchtend gelben Torpedo vom Typ 65 durch die geöffnete Waffenluke der »Lenin«. Deminow ging an Bord des U-Boots, benannt nach dem Staatsgründer der So wjetunion, und ließ die Offiziere antreten. 321
Zehn Männer des Siebten Geschwaders Murmansk, wo Deminow täglich Kontakt mit ihnen hatte, versammelten sich in der Offiziersmesse der »Lenin«. Sie waren gewissermaßen handverlesen, ausgewählt nach politischer Zuverlässigkeit und früheren Dienstjahren auf Taifunbooten. Deminows wage mutige Geste auf der »Erster Mai« hatte auf die erfahrenen UBoot-Männer keinen geringen Eindruck gemacht. »Meine Herren«, sagte er, »wir fahren zur See, weil wir uns im Kriegszustand befinden, und die >Lenin< wird das Flagg schiff der Nordflotte sein.«
322
32. Kapitel
Magnetische Flugortung
»Ich hab's satt, laufend angeschossen zu werden, Skipper«, sagte Morrison zu Gunner, als der Kapitän den Sonarraum betrat. »Kann ich mir vorstellen«, stimmte Gunner zu. »Wo steckt die >Taifun< im Augenblick?« »Schwer zu sagen. Soviel ich weiß, ist sie auf eine Mine gelaufen. Hört sich zwar nach Drittem Weltkrieg da oben an, aber dass ein Schiffskörper gebrochen wäre, habe ich nicht gehört. Ich glaube nicht, dass wir sie getroffen haben.« Morri son zog die russische Panzerkommandantenkappe tiefer ins Gesicht. »Ich kann nicht gerade sagen, dass mich das froh stimmt. Ich mag Typen nicht besonders, die Torpedos in meine Richtung abfeuern.« »Das war nur ein Warnschuß«, sagte Gunner. »Er wollte uns abschütteln, und er hat gekriegt, was er wollte.« »Werden wir uns den Scheißkerl vorknöpfen, Skipper?« »Ich bin überrascht, das aus Ihrem Mund zu hören, Morri son.« »Die schießen auf uns, Sir. Da will ich zurückschießen.« »Wir wollen uns lieber nicht in einen russischen Bürgerkrieg einmischen, Chief.« Gunner lehnte sich gegen das Schott, rauchte und beobach tete die Sonarmänner. Morrison strahlte unter seiner Kappe und kaute auf seiner Zigarre. Daten füllten seinen Schirm. Unter normalen Umständen verkörperte der Sonarraum den Inbegriff moderner Waffentechnik als High-Tech-Ablenkungs-manöver - bis der erste Schuß fiel. Jetzt stank der Raum nach Angstschweiß, wie die Bunker in Khe San. Gunner trat aus dem Sonarraum in den Durchgang. Mit sich allein, war die Ruhe, die er vor seinen Männern ausstrahlte, 323
wie weggeblasen. Er spürte Brechreiz, hielt sich mit beiden Hände den Magen, und die Galle rutschte wieder den Rachen hinunter. Wenn er im Weißen Meer blieb, saß er in der Falle. In der Gorlostraße warteten scharfe Minen auf ihn. Noch nie hatte er sich so allein gelassen gefühlt. Er konnte keine Nachricht schicken, ohne seine Position zu offenbaren, aber vielleicht konnte er eine empfangen. Er ging zurück in den Sonarraum. »Schneller Durchlauf mit dem Eis scanner, er soll nach einer offenen Fahrtrinne suchen«, sagte er zu Morrison. »Nachschauen, was im Briefkasten ist?« »Erraten, Chief.« 42000 Kilometer über Island kreiste ein Fernmeldesatellit der U.S. Navy auf seiner geostationären Bahn und leitete unaufhörlich Nachrichten an Schiffe im Atlantischen und Arktischen Ozean weiter. Vom Absender codiert, wurde der Zyklus der chiffrierten Nachrichten alle acht Minuten wiederholt. Nach einer Stunde hatte Morrison einen schmalen Streifen offenen Wassers gefunden. Gunner steuerte die »Reno« bis knapp unterhalb der Rinne, zwischen zwei Eisschollen. »Und jetzt rauf mit ihr, Gus.« Die »Reno« stieg auf, bis die Turmspitze einen Meter über der Wasseroberfläche herausragte. »ECM-Mast ausfahren.« Eine lange, dünne Antenne glitt aus dem Rumpf durchs Wasser in die Luft. Im Funkraum prüften die Techniker ihre Instrumente auf Anzeichen elektronischer Aktivitäten in der Atmosphäre. »Kein Radar, Kapitän. Alles frei.« »Sehr schön. Funkmasten ausfahren.« »Masten draußen, aye.« »Russische Frequenzen abtasten.« 324
»Ich kriege verschlüsselten Sprechverkehr auf Frequenzen im Luftraum Gremicha rein.« »Hubschrauber oder magnetische Flugortung«, meinte Gunner. »Schalten Sie auf Navykommunikation Eins.« Die Mastspitze drehte sich und neigte sich in Richtung des Marinesatelliten. Acht gespannte Minuten lang blieb die »Reno« ungeschützt, während die Computer fieberhaft die Nachrichten nach dem Code der »Reno« durchsuchten. »Volltreffer«, sagte der leitende Dechiffrieroffizier. »Da will sich jemand mit uns unterhalten.« Ein Drucker ratterte kurz, und der Offizier riß den Ausdruck mit den vierzig fünfstelligen Ziffernfolgen ab. »Schicken Sie sie durch die Dekodiermaschine«, sagte Gun ner. Während die Dekodiermaschine die Ziffernfolgen in Worte übersetzte, befahl Gunner, die Masten in den Turm einzuzie hen. Die »Reno« verschwand wieder unter der Eisdecke. Gunner las die Meldung, als sie sich langsam aus der Maschine herausschob. VON U-BOOT KOMMANDANT ACHTUNG USS RENO: GLÜCKWÜNSCHE ERSTER TORPEDOSCHÜTZE WILLIAM GARRETT. GEBURT VON WILLIAM GARRETT JUNIOR AM 12 APRIL GEWICHT 3,5 KG. ENDE Er hatte die »Reno« umsonst der Gefahr der Entdeckung ausgesetzt. Er schüttelte empört den Kopf und verließ den Kon trollraum. Trout sah ihn erwartungsvoll an. »Die Navy kann uns nicht helfen«, sagte Gunner. »Sie haben keine Ahnung.« »Wie lautet die Nachricht?« »Chief Garrett ist Vater geworden.« »Das ist alles?« »Wir sind auf uns allein gestellt, Gus. Wir müssen die Straße durchqueren. Wird Zeit, dass wir in die Trickkiste greifen.« 325
»Wir können abtauchen, die Dinge sich etwas beruhigen las sen«, sagte Trout leise. »Und dann durchhuschen.« »Nichts wird sich beruhigen«, sagte Gunner. »Wenn du mich fragst, befinden sich die Russen im Kriegszustand, und die >Reno< ist unsere einzige Informationsquelle.« »Die verdammte Straße ist vermint.« »Die wird auch noch in einem Monat vermint sein. Was zum Teufel ist los auf diesem Schiff? Morrison, der Pazifist, will, dass ich Zenko in die Luft jage. Und Sie, alter Kalter Krieger, halten sich plötzlich zurück. Wofür, meinen Sie, werden wir wohl bezahlt, Gus?« »Die Navy bezahlt uns nicht dafür, ein Milliarden-U-Boot aufzugeben.« »Was soll's«, meinte Gunner mit einem Grinsen. »Sie hat doch noch achtzig andere.« Zurück im Funkraum, schloß Gunner einen kleinen Schrank auf und holte eine Standard-Seenotboje der russischen Armee hervor, ein silberner Zylinder, 1,80 m lang und zwanzig Zenti meter im Durchmesser. Jedes U-Boot der russischen Marine führte zwei solcher Seenotbojen mit Sendeautomatik mit sich, die leider zu häufig verwendet wurden. Zusammen mit einem Techniker brauchte Gunner nur fünf Minuten, um eine Zeituhr einzubauen, die in drei Stunden das Notrufsignal der Boje aus lösen würde. Mit Hilfe eines elektronischen Datenschreibers im Dechiffriercomputer programmierten sie die Boje mit dem Codesignal der »Taifun«. Gunner trug die Boje in den Turm, legte sie in die Auftriebskammer und setzte sie aus. Die Boje trieb an die Oberfläche, in eine eisfreie Fahrtrinne, und fuhr automatisch ihre zwei Meter lange Antenne aus. »Äußerste Kraft voraus«, befahl Gunner. »Kurs Null Sechs Null. Alle Mann Achtung. Klarmachen zur geräuschlosen Fahrt. Meine Herren, wir werden ein russisches Minenfeld überqueren. Jetzt können Sie sich Ihre Gefahrenzulage verdie nen.« 326
Die Sonare der »Reno« hatten die Spur der »Taifun« in der Straße aufgenommen und sie auf Band aufgezeichnet. Gunner machte sich die elektronische Aufzeichnung zunutze und folgte Zenkos Route in die Meerenge gegenüber von Pulonga. Leutnant Tarinski trotzte vor einem Glas Tee vor sich hin. Seine Sonare waren taub, und die »Taifun« war entkommen. Plötzlich ertönte von der Funkleitstelle ein Alarmsignal. »U-Boot-Seenotsignal, Leutnant.« »Sind Sie sicher? Welche Frequenz?« »Ich seh' mal im Buch nach. Hier steht es, die >Taifun<.« »Ich werd' verrückt! Wir können sie uns doch noch schnap pen. Überprüfen Sie den Code. Beeilen Sie sich.« »Der Code paßt.« »Wo? Wo steckt sie?« schrie Tarinski immer aufgeregter. »Südlich. Er muss den Versuch aufgegeben haben, die Straße zu durchfahren, und umgekehrt sein.« Tarinski ging zum Telefon und rief in Gremicha an, um Deminow den Empfang des Notrufsignals zu melden. »Das ist eine Finte, Leutnant«, sagte Deminow ungeduldig. »Selbst wenn Zenko auf Grund sitzt, wäre er nicht so blöd, mit einem Notrufsignal einen Angreifer anzulocken.« »Trotzdem«, beharrte Tarinski flehentlich, »ich finde, wir sollten eine Maschine mit magnetischen Ortungsgeräten an Bord losschicken.« »Nein. Die Maschine soll nördlich und südlich der Meer enge suchen. Wenn Zenko auf Grund liegt, soll er doch verrot ten.« Keine achttausend Meter von der Hütte in Pulonga entfernt kroch die »Reno« durch die Meerenge hindurch. Als das UBoot an die Stelle kam, wo Morrison die Spur der »Taifun« verloren hatte, befahl Gunner: »Echolot einschalten.« Das war der gefährlichste Augenblick. Echolote schickten Geräuschimpulse ins Wasser, die vom Meeresboden widerhall 327
ten. Eine Messung der zeitlichen Abstände der Echos versetzte den Computer in die Lage, das Profil des Meeresbodens und die Wassertiefe unter Kiel zu bestimmen. Echolote konnten Minen und im Boden verankerte Sonare aufspüren, jedoch würden die russischen Sonare die akustischen Signale der Echolote hören. »Echolote eingeschaltet.« Ein dreidimensionales Bild des Meeresbodens erschien. Ein knotiges künstliches Objekt in einer Entfernung von etwa hundert Meter löste sich beim Näherkommen in einem Zylin der mit drei Beinen auf. »Gütiger Gott«, sagte Trout. »Wir sind mitten in ein Hydro phon getreten.« »Es liegt auf der Seite«, stellte Gunner fest. »Es ist taub.« Die Geschütze blieben ruhig. Die Echolote entdeckten drei tiefe Krater im Boden, wo Minen explodiert waren, aber keine scharfen Minen. »Kontrollraum an Steuerraum. Schrauben sichern«, befahl Gunner. »Triebwelle anwerfen. Geschwindigkeit steigern.« Das Ortungsflugzeug in der Luft ging in die Querlage, um nördlich abzudrehen, als die Nadeln auf dem magnetischen Detektor über die gesamte Skala ausschlugen. »Wir haben eine Anzeige, Kapitän«, sagte der Operator zum Piloten. »Heiliger Strohsack«, meinte der Pilot. »Da haben wir ein U-Boot auf dem Boden, das nicht da sein dürfte, und dasselbe U-Boot direkt unter uns in der Straße, und da soll es angeblich auch nicht sein. Es muss das zweimal verschwundene, zweimal wieder aufgetauchte Geisterschitf sein, gleichzeitig an zwei Orten. Ich kehre noch mal um.« »Ich prüfe erst noch mal nach.« Fünf Minuten später hatte sich der Pilot versichert, dass sich ein U-Boot in der Straße befand. Als er Tarinski davon in 328
Kenntnis setzte, brach der Leutnant in Jubel aus. Die erste Granate landete 275 Meter steuerbordseits vor dem Bug der »Reno« und riß ein harmloses Loch ins Eis. Die Explosion hallte durch den Schiffskörper. Die Männer fluch ten und beteten. Zehn weitere Granaten knallten um das Boot herum auf die Eisdecke. »Kontrollraum an Torpedokammer. Zwei Attrappen laden. Auf Kurs Null Sechs Null einstellen.« »Attrappen, aye. Kurs Null Sechs Null.« »Eisscanner und Echolote volle Kraft.« »Volle Kraft, Eisscanner und Echolote.« »Torpedokammcr an Kontrollraum. Attrappen bereit.« »Attrappe Eins feuern.« Die Attrappe schoß aus dem Rohr und raste auf dem Kurs der »Reno« direkt vor dem U-Boot her. »Kontrolle an Sonarraum. Achtet auf die Attrappe. Wenn sie auf keine Mine trifft, folgen wir in ihrem Kielwasser nach. Kontrolle an Steuerraum, halbe Fahrt voraus.« Im selben Moment explodierte eine Granate direkt über dem Maschinenraum und preßte mit einem ohrenbetäubenden Knall einen Eisbrocken gegen den Schiffsrumpf. Der harte Stahlmantel gab nicht nach, und die »Reno« sprang wie ein Rassepferd durchs Wasser. Der nächste Granatenbeschuß schlug achtern ein. Dreißig Sekunden später traf die Attrappe auf eine Mine und explodierte. Die »Reno« bockte kurz, der Bug hüpfte hoch und rammte die Unterseite der Eisdecke. Die Sonarschirme flammten auf wie Flipperautomaten. »Attrappe Zwei abfeuern. Derselbe Kurs«, riet Gunner. »Attrappe abgefeuert.« »Gus! Sinksicherheit prüfen!« Aufgeschreckt überflog Trout mit einem Blick das Tauchin strumentenbrett. Die Lampen waren alle grün geblieben. »Keine Lecks, Skipper.« 329
»Die müssen sie bei Electric Boat gebaut haben! Sonarraum, könnt ihr die Attrappe aufspüren?« »Na klar, Skipper. Attrappe auf Kurs.« Einen Augenblick später war die »Reno« außer Reichweite, und die Granatwerfer hörten auf zu schießen. Nach einer hal ben Stunde verlor die zweite Attrappe der »Reno« an Schub und sank. Gunner war sich jetzt sicher, dass er das Minenfeld hinter sich gelassen hatte. Die Wassertiefe nahm zu, und das UBoot sank auf 25 Meter unter Eis. »Kontrolle an Steuerraum. Geschwindigkeit reduzieren. Langsame Fahrt voraus.« Das Ortungsflugzeug hatte die »Reno« auf den Schirmen, aber keine Munition an Bord, die in der Lage gewesen wäre, die Eisdecke zu durchdringcn. Die nächsten Hubschrauber waren eine Flugstunde entfernt, und bevor die eingetroffen wären, hätte das Flugzeug nach Grcmicha zurückkehren müs sen, um nachzutanken. Hilflos schaute der Pilot auf die Schirme, während die »Reno« Richtung Norden abdampfte. Dann übermittelte er die schlechte Nachricht nach Pulonga. Das geheimnisvolle U-Boot hatte die Straße durchquert. Tarinski stöhnte verzweifelt auf und verfluchte sein ewiges Pech. Gunner verspürte keinerlei Hochgefühl. Er hatte die Straße zweimal durchfahren, aber das war ihm nur gelungen, weil die Technik der Russen versagt hatte. Mit Zenko verhielt es sich anders. Die »Taifun« war irgendwo weiter vorn und versteckte sich unter der Eisdecke. Soweit Gunner die Lage einschätzte, wartete der russische Kapitän nur auf eine Gelegenheit, ein Torpedofeuer zu eröffnen. Gunners Magen war ein einziger verkrampfter Knoten. Er übergab Trout den Kontrollraum, ging in seine Kajüte und übergab sich. Zu wissen, dass er das Unmögliche geschafft hatte, machte es auch nicht besser.
330
33. Kapitel Fischer Den Schneeregen, der der Randeiszone vor der Kolahalbinsel auch das Tauwetter brachte, führte der warme Golfstrom her über. Näher zur Küste hin torkelten bereits einzelne Eisschol len gefährlich durch offene Wasserrinnen, aber ein paar wage mutige Fischer trotzten den Unbilden und fingen die ersten Dorsche des Frühjahrs. Auf halber Strecke zwischen Pulonga und Gremicha warf ein alter Mann in seinem klapprigen Boot seine Netze über Bord und schimpfte dabei vergnügt auf den Regen und das Eis. In seinem Kopf spielte sich wie eine zu oft gehörte Platte der traditionelle Frühjahrsstreit mit seiner Frau ab. »Du bist verrückt, bei den vielen Eisschollen rauszufahren«, hatte sie gemurrt. Beherzt hatte er entgegnet: »Ich fische seit sechzig Jahren in den Gewässern. Das Eis kann mir gestohlen bleiben.« »Aber schwimmen kannst du noch immer nicht«, hatte sie daraufhin gequengelt. »Brauch' ich auch nicht. Wenn ich ins Wasser falle, hat die See in drei Minuten alles Leben aus meinem Körper gesaugt. Da kann ich mich noch so abstrampeln, ich sterbe sowieso.« Die rituelle Unterhaltung spann sich immer weiter in seinem Kopf, als plötzlich irgend etwas Gewaltiges an seinem Netz zerrte und ihn fast über Bord schleuderte. In Sekundenschnelle war das sorgfältig ausgelegte Netz abgetaucht und schleifte das Boot heckwärts mit vier Knoten durchs Wasser. Der Fischer kannte seine Jagdgründe. Vor der Küste der Kolahalbinsel schwamm nur ein Ungeheuer, das so viel Kraft besaß, sein Boot davonzuziehen. Laut schimpfend, nun gar nicht mehr vergnügt, trennte er das Netz los. Das Boot schau kelte in seinem eigenen Kielwasser, und das Netz verschwand unter der schaumigen Wasseroberfläche. »Verfluchte Marine!« 331
schrie der alte Mann. »Das war ein verdammt gutes Netz. Warum haltet ihr euch nicht aus den Fischgründen raus? Ich fische ja auch nicht drüben in Gremicha, wo ihr eure ver dammten U-Boote liegen habt.« Verärgert schaltete er sein Bord-Land-Funkgerät ein, stellte den Sender auf den Notrufkanal der Küstenwache und brüllte in das verrostete Mikrofon: »Hier XBR9T, >Pulonga Seestern<, XBR9T, rufe eure verfluchte GremichaMarinestation. Ende.« Keine Antwort. Der Fischer hatte sich schon bei anderer Gelegenheit wegen verlorener Netze bei der Marine beschwert und für seinen Ärger nur Funkrauschen und freundliches Abstreiten geerntet, aber keinerlei Entschädigung. Er ver suchte es noch mal, schaltete das Mikrofon ab und lauschte. »Hier Gre...cha. Mari...Station. Bin nicht be... Sie Sta... XB. ..T. Ende.« Immer das verdammte Rauschen. »Ich kann euch nicht ver stehen, Gremicha. Eines von euren verdammten U-Booten hat gerade mein Netz zerrissen!« »XBR9T, ich kann...« Zum Teufel, dachte der alte Mann. Er knallte das Mikrofon in die Gabel, schaltete das Funkgerät ab, warf den Motor an, öffnete eine Flasche Wodka und fuhr nach Hause. Der Operator in der Nachrichtenzentrale in Gremicha notierte in sein Logbuch den Empfang eines unvollständigen Funksignals von einem Fischer. Der Operator war seit drei Jahren in Gremicha stationiert und hatte der Zivilbevölkerung gegenüber eine tolerante Haltung entwickelt. Wenn sie sich darüber beschwerten, dass U-Boote ihre Netze verschleppten, hörte er höflich zu, ignorierte aber ihre Einsprüche. XBR9T kannte er persönlich, einen miesepetrigen alten Suffkopp mit der geradezu unheimlichen Begabung, mehr U-Boote als Seesterne mit seinem Netz zu fangen. Diesmal war ihm wahrlich ein dicker Fisch ins Netz gegangen, die »Taifun«, das 332
einzige U-Boot, das sich in den Gewässern befinden konnte. Zenko war also da, direkt vor Gremichas Haustür. Sein neuer Aufseher, ein GRU-Major aus Poljarny, kam zu ihm rüber und wollte wissen, wer sich da gemeldet hatte. Der Operator warf einen Blick auf das Pistolenhalfter am Gürtel des Mannes, was einen Schwall von Bildern in seiner Phantasie auslöste. Zenko abgehauen, Riziow tot, die »Erster Mai« sabotiert, Spetsnaz-Truppen, die Gremicha überrumpel ten und aus einem angenehmen Stationsdienst einen Knast machten. Schlägertypen mit schwarzen Stiefeln von der GRU hatten die Nachrichtenzentrale übernommen und eine Flut neuer Verordnungen erlassen. Keine Aufzeichnung von Zivil funk oder Fernsehsendungen mehr. Keine Privatgespräche. Keine Meldungen, die über die normalen Durchsagen von Wetterbedingungen hinausgingen. Was ist schon normal, dachte der Operator: Diese Leute setzten alles daran, Admiral Zenko zu töten, den einzigen anständigen Offizier, den ich je kennengelernt habe. Ich weiß nicht, warum, und eigentlich geht es mich auch nichts an, aber ich wäre schön blöd, wenn ich denen auch noch helfen würde. »Der Frühling ist ausgebrochen«, versuchte er dem GRU-Mann geduldig auseinanderzusetzen. »Die Eisdecke bricht auf, und die ersten Fischer fahren raus aufs Meer. Die rufen dauernd an. Egal, was passiert, immer sind wir schuld.« »Was hat er gesagt?« »Ich habe ihn nicht verstanden. Sie haben alte Funkgeräte, echten Schrott. Was soll's?« »Rufen Sie ihn. Vielleicht hat er was gesehen.« Der Operator stellte den Sender auf den Kanal der Küsten wache ein. »Hier Marinestützpunkt Gremicha. Rufe XBR9T. Ende.« Bei ausgeschaltetem Funkgerät und einer Flasche Wodka war der alte Fischer eifrig dabei, sich eine Geschichte von einem Riesenstör zurechtzulegen, der sein Netz geklaut hatte. 333
Er hörte das Funksignal nicht. »Versuchen Sie es weiter«, befahl der GRU-Mann. Auf der »Taifun« hatte keiner das Reißen an einem Fischernetz gespürt. Knapp fünftausend Meter vor der Küste, der Turm spärliche sechs Meter unter eisfreiem Wasser, kroch das U-Boot bloß 25 Kilometer von Gremicha entfernt über Grund. Zenko fühlte sich wie ein Schlosser, der versuchte, ein Schloß zu knacken, das er selbst angefertigt hatte. Die Verteidigungsanlagen von Gremicha zielten darauf ab, UBoote aufzuhalten, die aus Hunderten Kilometer Entfernung angriffen, nicht auf ein U-Boot, das sich bis nah an die Küstenlinie heranschlich. »Alle Maschinen stop», befahl er. Die Schrauben hörten auf, sich zu drehen, und die »Taifun« trieb, nur von der Strömung mitgezogen, weiter. »Kommandozentrale an Sonarraum. Irgendein Kontakt mit dem Amerikaner?« »Die Schirme sind frei, Kapitän, aber die vorderen Sonare sind ausgefallen.« »Glaubst du, dass er durch ist, Sascha?« »Wir haben es jedenfalls geschafft«, antwortete Kugarin achselzuckend. »Das ist ein ganz Dreister. Ich würde nicht dagegen wetten.« »Kommandozentrale an Funk. Gibt es VLF-Funkverkehr?« fragte Zenko. »Keinen Piep, Kapitän.« »Die Flotte scheint also immer noch unter Wasser in Gremi cha zu sein«, sagte Zenko. »Funkoffizier, Mast für elektroni sche Abwehrmaßnahmen ausfahren.« Die übliche Bestätigung des Befehls blieb aus. Zenko nahm das Mikrofon erneut in die Hand, drauf und dran, den Befehl zu wiederholen, mit energischer Stimme diesmal, doch zögerte er. Kugarin am Tiefensteuerstand war weiß vor Angst. Wenn Hubschrauberradar einen Mast an der Oberfläche ausmachte, war die »Taifun« leichte Beute. Zenko schaute sich um. Alle in der Kommandozentrale waren starr vor Entsetzen, außer Petja 334
Bulgakow. Der Junge stützte sich am Navigationstisch auf und grinste seinen Kapitän an. Zenko schaltete den Bordfunk an. »Männer der >Taifun<«, sagte er, »vom ersten Augenblick an, als wir in Gremicha aus liefen, haben wir unser Leben aufs Spiel gesetzt. Ich habe Angst, Kapitän Kugarin hat Angst, wir alle haben Angst. Was Obermatrose Sorokin betrifft, ich weiß nicht, ich jedenfalls habe mir heute schon zweimal in die Hose gemacht.« Keiner in der Kommandozentrale lachte, außer Petja. »Ich fahre jetzt den Funkmast aus und horche auf Signale aus Gremicha«, fuhr Zenko fort. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich selbst die Verteidigungsstrategie von Gremicha entworfen habe. Ich kenne die Position der Sonare und des Stationsfunks und die Radarfrequenzen. Theoretisch ist es unmöglich für ein U-Boot, so nahe an die Küste heranzukommen, wie wir es im Augenblick sind. Die werden uns hier nicht suchen. Wenn zufällig doch ein aufmerksamer Radaroperator unseren Mast entdeckt, hält er uns für ein Fischerboot. Und jetzt, Funkoffizier, fahren Sie bitte den ECMMast aus.« Der Mast ging hoch. Der Offizier im Funkraum registrierte sofort den üblichen landgestützten Radar in Gremicha; Zenko wußte, dass der den Mast nicht entdecken würde. Die Gefahr kam aus der Luft, von einem Flugzeug, aber der Mast konnte auch keine fliegende Radarstation ausmachen. »Funkmast ausfahren.« Eine Funkantenne schaute aus dem Wasser hervor und streckte sich höher in die Luft. Die Empfänger im Funkraum unterschieden schnell diversen verschlüsselten Funksprechver kehr, der sich dichtgedrängt auf sechs Frequenzen verteilte und den die Dechiffriercomputer als der Luftflotte von Gremicha entstammend identifizierten. Mit normalen Entzerrern schlüs selten die Elektrotechniker an Bord das Geplappere zwischen den Hubschrauberpiloten und der Bodenstation in Gremicha 335
auf. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Hubschrauber suchten nördlich und südlich im offenen Meer, der nächste war 150 Kilometer entfernt. »Mast einfahren.« »Mast fährt ein, Kapitän.« »Alle Abteilungen, Achtung«, sagte Zenko. »In vier Stun den haben wir unseren Standort erreicht, um anzugreifen. Ich wiederholte, ich werde Gremicha nicht mit Atomwaffen angreifen. Schiffsabwehrraketen mit konventionellen hochex plosiven Sprengköpfen reichen, um die Flotte zu zerstören. Ihre Familien sind in Sicherheit. Jeder, der noch Zweifel an unserer Mission hat, sollte sie jetzt vorbringen.« Kugarin, hin und her gerissen zwischen Angst um seine Familie in Gremicha und dem Wunsch, Iwan Deminow zu ver nichten, stellte sich in die Mitte der Kommandozentrale. Mit all seiner Kraft rief er aus voller Kehle: »Dem Himmel ein Abschiedskuß!« Sorokin erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich neben Kugarin. Petja Bulgakow tat es ihnen nach, gefolgt von den übrigen Männern in der Kommandozentrale. Gemeinsam stimmten sie in Zenkos Schlachtruf ein. Zenko liefen Tränen über die Wangen. Er holte tief Luft und sprach ins Mikrofon. »Kommandozentrale an Torpedokam mer. Schiffsabwehrraketen in Rohr Vier, Fünf und Sechs klar machen. Vorlaufkontrollen einleiten. Klarmachen zum Unter wasser-Raketenstart.« »Schiffsabwehrraketen für Unterwasserstart klarmachen, aye.« »Sorokin, geben Sie einen Kurs ein, der uns fünf Kilometer vor Kap Swatoj Nos bringt. Von dort aus setzen wir ihnen einen sauberen Schuß direkt vor die Seeschleusen. Die erste Rakete wird die Tore zerstören, die nachfolgenden treffen die U-Boot-Kais, ohne die Gebäude oberhalb der Klippen zu beschädigen oder die Menschen drinnen. Die erste Reihe der 336
Verteidigung nehmen wir im Überraschungsangriff und feuern drei Raketen in die Höhle ab. Und dann, Männer, fahren wir in den Hafen ein und erobern Gremicha zurück. Alle Maschinen langsame Fahrt voraus.« »Langsame Fahrt voraus, aye.« Die »Taifun« fuhr Richtung Norden, parallel zur Küstenli nie. Zenko spielte ein simuliertes Startmanöver durch, und alle Mitglieder der Besatzung beherrschten ihre Rolle perfekt. In Gremicha war die »Erster Mai« gehoben und aus dem Weg geräumt. Während Spetsnaz-Wachposten die Kaimauern observierten, widmeten sich die Arbeiter jetzt der »Lenin«. Deminow stand auf der Brücke der »Lenin« und verfolgte, wie die Raketentechniker das letzte Raketensilo verschlossen und versiegelten. In seinem Kopf spürte er förmlich eine Uhr wie eine Zeitbombe ticken. Die mit dem Rufsignal der »Tai fun« ausgerüstete Boje hatte sich tatsächlich als Finte entpuppt. Anscheinend war es Zenko nicht gelungen, die Straße gleich beim ersten Versuch zu durchfahren; er musste gewendet, die Boje als Ablenkungsmanöver ausgesetzt und die Gorlostraße beim zweiten Anlauf passiert haben. Deminow blieb nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass die »Taifun« die Barentssee erreicht hatte. Zenko. Deminow erkannte, dass er Zenkos Widerstandswil len unterschätzt hatte. Widerstand gehörte einfach nicht zum alten sowjetischen Kodex, wie Deminow ihn kannte. Siebzig Jahre lang hatte das kommunistische Regime jeden Widerstand mit den Mitteln der Einschüchterung und der Gewalt unter drückt, eine Tradition, die sich Deminow sehnlichst zurück wünschte. Phase Drei der Operation Weißer Stern wäre längst angebrochen. Die Regierung wäre über die atomare Bedro hung von Tiflis gestürzt, und die Nordflotte hätte Gefechts stellung bezogen, wäre bereit gewesen, die Republiken nieder zuschlagen. Statt dessen sah sich Deminow mit einer Katastro 337
phe konfrontiert. Seine einzige Hoffnung war die, die »Lenin« seetüchtig zu machen, bevor Walotin die ganze Operation abblies. Um Zenko aufzuspüren und Walotin zu besänftigen, hatte er endlich drei Hubschraubergeschwader freibekommen und das Flugzeug mit dem magnetischen Suchgerät an Bord nach Nor den in die Barentssee umgeleitet. Bislang ging der Verteidi gungsrat davon aus, dass die Luftbewegungen Teil der Opera tion Weißer Stern waren; aber sobald die »Lenin« unterwegs war, würde er die Flotte auf See befehligen, ohne weiter darauf angewiesen zu sein, irgend einen Anschein zu wahren. Deminow stieg von der Brücke hinunter und ging unruhig in der Kommandozentrale auf und ab. Die ungeheure Machtfülle, die ihm die Waffen an Bord verliehen, und die historische Bedeutung seiner Mission stärkten mehr und mehr sein Selbst vertrauen. Nach so vielen Jahren an Land war es ein gutes Gefühl, wieder das Kommando über ein strategisches Rake ten-U-Boot zu führen. Er ließ seinen Blick über die vornehme Ausstattung der Kommandozentrale schweifen. Wie die »So wjetski Sojus« war das Innere der »Lenin« ganz in Rot gehal ten: Polster, Auslegware und die Wände, alles rot. Von einem der Steuerpulte aus gab der erste Maschinenoffi zier die letzten Befehle an die Reaktorkammern. »Energie am Backbordreaktor bis zum kritischen Punkt.« »Backbordreaktor anfahren, aye.« »Energie am Steuerbordreaktor bis zum kritischen Punkt.« »Steuerbordreaktormannschaft meldet, Energie angefahren.« »Wann können wir los?« wollte Deminow wissen. »In fünf Minuten, Kapitän. Sie können die Schleusen öffnen.« Deminow rief Ludinow in die Kommandozentrale. »Öffnen Sie die Schleusentore und kappen Sie die Landkabel.« »Admiral«, sagte Ludinow, »ich erbitte ergebenst um 338
Erlaubnis, mit Ihnen auslaufen zu dürfen.« »Ich brauche Sie hier an Land«, entgegnete Deminow scharf. »Sie sind der einzige Offizier, dem ich zutraue, dass er strengste Sicherheitsvorschriften einhält. Schicken Sie meine Order an die Flotte, sobald wir untergetaucht sind.« »Mit Vergnügen, Admiral. Wenn Sie zurück sind, trinken wir auf Ihren Erfolg. Viel Glück!« Ludinow gab Befehl, die Seeschleusen zu öffnen, und trat ans Fenster, um zuzuschauen, wie die gewaltigen Tore von Zenkos Höhle zur Seite glitten. Draußen hatte es sich aufge klärt. Matrosen liefen hektisch auf Deck der »Lenin« hin und her und kappten die Versorgungsleitungen. Am Heck flatterte ein roter Wimpel. Wasser wurde oberhalb der Schrauben aufgewühlt, und langsam legte die »Lenin« von der Kaimauer ab.
339
34. Kapitel Raketen Mit gemächlichen acht Knoten dampften die »Reno« fünfzig Kilometer östlich von Gremicha nordwärts Richtung Barents see. Gunner tastete sich mit Bedacht vor, blieb immer unter Eis und weitab von der Küste. In knapp einer Minute würde die »Reno« die russischen Binnengewässer verlassen und sich außerhalb der Hoheitszone bewegen. Wie ein Freibeuter, aus gestattet mit einem Kaperbrief, war Gunner in das Territorium einer souveränen Nation eingedrungen, hatte Militärgeheim nisse gestohlen und war wieder entkommen. Trotz des techni schen Fortschritts hatten sich Regierungen und die Marine seit den Zeiten der Wegelagerer und Piraten kaum verändert. Von der Navigationsstation aus verkündete Trout: »Zehn Sekunden bis zur internationalen Grenze. Countdown, drei, zwei, eins. Standort, achtundsechzig Grad, zwanzig Minuten nördliche Breite, einundvierzig Grad, zehn Minuten östliche Länge. Wir sind über die Linie. Wir sind wieder legal.« »Hipp, hipp, hurra«, sagte Gunner trocken. »Den Russen ist das egal, wenn sie uns hier aufstöbern.« An Bord der »Reno« hatte sich eine Veränderung vollzogen. Die Mitglieder der Besatzung hatten das finstere Aussehen von Männern, die sich im Krieg befanden. Wenn rund umher Gra naten explodieren, dann achtete keiner mehr darauf, wer recht oder unrecht handelt, nur darauf, wer lebt oder stirbt. Ein mit effizienter Technik vollgestopftes U-Boot wird zu einem tödli chen Stein - in der Hand von Wilden. Während der nervenaufreibenden Fahrt durch die Straße hatte die »Reno« ein Bombardement überstanden, das alles übertraf, was ein amerikanisches U-Boot jemals seit dem Zweiten Weltkrieg aushalten musste. Gunner machte Stolz und Wut in den Gesichtern der Männer im Kontrollraum aus. Wenn 340
er diese Energie in disziplinierte, konzertierte Aktion lenken konnte, hatten sie eine Chance, aber gleichzeitig fragte er, was er der Mannschaft noch alles zumuten konnte. Der Haß des Kalten Krieges auf seiten der Russen saß tief. Seine Leute gehörten der dritten Generation Kalter Krieger an, und Russen schossen auf sie. Instinktiv wollten sie zurückschießen. Sich immer wieder dieselben Fragen stellend, spielte Gunner diverse Gefechtsszenarios in seinem Kopf durch. Umsicht ließ ihn vermuten, dass die Nordflotte bewaffnet ausgelaufen war. Sollten die Russen die »Reno« aufbringen, würden sie als erste schießen und keinerlei Fragen stellen. Gunner überlegte, welche Möglichkeiten er hatte. Die eine war, nach Nordosten zu fahren, weg von den russischen Mari nestützpunkten auf der Kolahalbinsel, bevor er nach Westen abdrehte und in einem großen Bogen in die von der NATO kontrollierten Gewässer der Norwegischen See einlief. Von dort aus konnte er ungehindert kommunizieren, einen Bericht an den Geheimdienst schreiben und auf weitere Befehle war ten. Ein so ausgedehntes Manöver würde 24 Stunden in Anspruch nehmen, vielleicht mehr, während deren die »Reno« viel Lärm machen und möglicherweise ungewollt Aufmerk samkeit erregen würde. Nein. Sein Auftrag lautete, Informationen über die Kriegs fähigkeit der Russen zu sammeln, und die Schweine führten einen Krieg, wenn auch einen Bürgerkrieg im eigenen Land. Drohte eine Seite damit, den Dritten Weltkrieg anzuzetteln, und versuchte die andere, das Inferno zu verhindern? Stefan Zenko und sein verfluchtes Schiff hatten die Antwort, aber die »Taifun« war wie vom Erdboden verschwunden. War sie gesunken? Lag sie am Meeresboden, unfähig aufzutauchen? Je mehr Gunner versuchte, Zenkos Gedankengänge nachzuvoll ziehen, desto weniger verstand er die Beweggründe und Handlungen des Russen. Warum hatte Zenko die »Gorki« ver senkt und das andere Taifunboot angegriffen? Hatte der Knall 341
frosch wirklich die Absicht gehabt, eine Atomrakete abzufeu ern? Mit welchem Ziel? Zenko hatte die »Gorki« mit ziemli cher Skrupellosigkeit zerstört. Nur ein zutiefst erbitterter Mann würde seine eigenen Landsleute abschlachten. Was machte Zenko so wütend - und so entschlossen? Dann wiederum hatte er vier harmlose konventionelle Torpedos gegen das zweite Taifunboot abgeschossen, und die Sache wäre mit einem einzigen Atomsprengkopf erledigt gewesen. Dann hatte er sich ein zweites Mal durch die Gorlostraße gewagt, obwohl er vom Weißen Meer aus mit der vor Waffen strotzenden »Taifun« jedes Ziel in der Welt getroffen hätte. Wieso? War er auf dem Heimweg nach Gremicha? Keine fünfzig Kilometer von der »Reno« entfernt, in Gremi cha, lag der Schlüssel. »Ruder hart Backbord«, befahl Gunner dem Rudergänger. »Kurs Zwei Acht Null steuern. Steuerraum, Geschwindigkeit auf vier Knoten runterfahren. Klarmachen zum Anhalten.« Die »Reno« wendete, und das sensible Sonarnetz am Bug schwenkte um, bis es auf Gremicha ausgerichtet war. Im Sonarraum beobachtete Morrison, wie sich ein Leuchtpunkt langsam quer über die Anzeige schob. »Sonarraum an Kon trollraum. Wir haben einen Kontakt. Ich höre Schiffsschrauben an der Wasseroberfläche in Küstennähe. Ein Taifunboot läuft aus.« »Es läuft aus?« rief Gunner erstaunt. »Heiliger Bimbam, auf welcher Seite steht der Typ nun wieder? Morrison, können Sie das Schiff identifizieren?« »Nein, Skipper, aber wir registrieren zwei Schrauben. Mit Sicherheit ein Taifunboot.« »Alle Maschinen stop«, befahl Gunner. Um Ruhe brauchte er nicht zu bitten, keiner machte ein Geräusch. »Ist das Zenko?« fragte Trout im Flüsterton. »Ist er zurück gekommen nach Gremicha, um sich mit neuen Waffen einzu decken?« 342
»Glaube ich nicht«, antwortete Gunner. »So schnell hätte er seinen beschädigten Antrieb nicht reparieren können. Das ist ein anderes Schiff, und wir werden es bis ins Weiße Meer zurückverfolgen, wenn's sein muss. Das Taifunboot auf unse rem Schirm ist dasjenige, worauf es ankommt, egal, wer am Steuer sitzt.« Wie ein nukleares Ungetüm tauchte die »Lenin« aus Zenkos Höhle auf. Von der Brücke hoch oben über dem Turm lotste Deminow das U-Boot durch den Hafen. Die Stahltore zur Höhle achtern standen weit geöffnet. Das massive Deck ober halb der Raketenkammern hielt sich ruhig in der aufgewühlten See. Zu seiner Rechten erstreckte sich das Kap Swjatow Nos, unweit der Landspitze stieg aus einem Kraftwerk eine Dampf wolke in einen schnell aufklarenden Himmel. Deminow schmeckte die salzige Gischt, die an Deck spülte, und nahm seine Mütze ab, um die Haare im Wind flattern zu lassen. Die Ausgucke hoben sich scharf von der klaren arktischen Umge bung ab. Über ihm wirbelte eine Radarantenne, und oberhalb des Mastes knatterte die alte Marineflagge der Sowjetunion, die er selbst dort angebracht hatte, roter Stern, Hammer und Sichel. »Funk an Brücke«, hörte er die Stimme des Funkoffiziers in seinem Kopfhörer. »Die Hubschraubereskorte ist aufgestie gen.« »Danke, Funker. Geben Sie den Piloten Anweisung, stan dardmäßige U-Boot-Aufklärung in der Umgebung zu betrei ben.« Deminow und die Ausgucke suchten den Himmel ab, als vier Hubschrauber am Horizont auftauchten. Als U-Boot-Killer ausgelegt, führte jede Maschine Tauchsonare und zwei unterhalb des Flugwerks vertaute Torpedos vom Typ 533 mit. Außerhalb des Hafens kommandierte Deminow die Beob achtungsposten nach unten, warf einen letzten Blick Richtung 343
Horizont, stieg den Turm hinab, verschloß die Luke und gab Befehl zum Tauchgang. Geräuschvoll öffneten sich Ventile, Meerwasser strömte in die vorderen Ballasttanks, und der Bug der »Lenin« sackte unter die Wasseroberfläche. In 6500 Meter Entfernung, zwischen der »Lenin« und der »Reno«, lag die »Taifun« auf Grund, unter einer sechzig Meter dicken Wasserschicht, die Steuerbordrohre mit drei schlagkräf tigen Schiffsabwehrraketen geladen, jede mit einem hochex plosiven Sprengkopf ausgerüstet. Die Vorlaufprozeduren vor dem Start waren abgeschlossen, die Mündungsklappen geöff net und die Rohre für den Abschuß unter Wasser geflutet. Es brauchte nur noch eine Funkboje ausgesetzt zu werden, um die elektronische Umgebung zu erfassen. »Boje auslösen«, befahl Zenko. Die Boje brauchte eine Minute, bis sie die Wasseroberfläche erreicht hatte. Zenko wartete auf die Bestätigung des Funkoffi ziers und war überrascht, als er die aufgeregte Stimme des Sonaroffiziers vernahm. »Kapitän, ich höre ein U-Boot im Wasser. Es taucht unter!« Die beschädigten Sonare der »Taifun« hatten die Fahrt der »Lenin« an der Wasseroberfläche nicht gemeldet. Erst als sie abtauchte, machten das Fluten der Hauptballasttanks und die Hohlraumbildung an den Schrauben genug Lärm, um vom Sonarnetz am Heck der »Taifun« registriert zu werden. »Verfluchte Scheiße«, schimpfte Zenko. »Das hätte ich mir denken können. Sonarraum, nennen Sie mir Entfernung und Peilung.« »Unbestimmt, Kapitän. Entfernung wahrscheinlich sechs bis siebentausend Meter, Peilung wahrscheinlich zehn Grad, relativ. Sie schneidet quer über unseren Bug.« »Kommandozentrale an Torpedokammer, Rohre Eins, Zwei und Drei mit Typ 65 laden«, befahl Zenko. Noch ehe der Befehl bestätigt wurde, hörte Zenko noch eine 344
zweite Stimme. »Funk an Kommandozentrale. Boje ist an der Oberfläche. Wir hören jede Menge Störgeräusche auf den mei sten Frequenzen. Der Kanal für den Flugverkehr in Gremicha ist frei und deutlich zu verstehen. Es gibt Hubschrauber in der Gegend, Kapitän, nicht weit entfernt.« »Tauchoffizier, bringen Sie uns rauf auf Abschußtiefe.« »Abschußtiefe, aye.« »Kommandozentrale an Waffenoffizier. Raketen scharf machen.« »Raketen scharf machen, aye.« »Sonarraum an Kommandozentrale. Sie ist fast vollständig untergetaucht.« »Habt ihr sie identifiziert?« »Ja, es ist die >Lenin<.« Die »Taifun« hob vom Boden ab und begann aufzusteigen. Beim Tauchgang erzeugte die »Lenin« so viel Lärm, dass ihre eigenen Sonare taub wurden und Deminow die Anwesenheit der »Taifun« in seiner unmittelbaren Nähe ohne jede Vorwarnung traf. Auf der »Reno« dagegen waren die Geräusche von zwei U-Booten, das eine beim Aufstieg, das andere beim Tauchgang, deutlich vernehmbar in Morrisons Kopfhörer. Der erste Sonaroperator schüttelte ungläubig den Kopf. Wo zum Teufel kam das zweite U-Boot her? »Sonar an Kontrollraum. Wir haben einen zweiten Kontakt.« »Ich habe ihn auf dem Repeaterschirm, Chief«, antwortete Gunner. »Ich kann ihn sehen. Das ist Zenko. Er muss sich auf dem Boden versteckt haben, der alte Fuchs.« »Ich weiß nicht, Skipper. Ich habe jedenfalls keinen Mucks von ihm gehört.« »Nicht Ihre Schuld, Chief. Wahrscheinlich hockt er seit Stunden da unten.« Neun Meter unter der Wasseroberfläche unterbrach die »Taifun« ihren Aufstieg. Die »Lenin« näherte sich ihrem Bug 345
fast im rechten Winkel. »Torpedos vom Typ 65 dringen niemals bis zu ihrem Verteidigungssystem vor«, protestierte Kugarin. »Ich weiß«, antwortet Zenko. »Willst du also doch ...« »Keine Atomwaffen!« rief Zenko. »Die Torpedos kommen wahrscheinlich aus heiterem Himmel für ihn, aber wenn es sein muss, ramm ich ihn. Torpedos abfeuern!« Drei Torpedos vom Typ 65 sprangen aus den Steuerbordrohren der »Taifun« und rasten auf die »Lenin« zu. Die Ballasttanks geflutet und das Deck unter Wasser, hörte die »Lenin« auf, soviel Lärm zu produzieren. Die Sonaroperatoren warteten auf die üblichen Geräusche, die das Leben unter Wasser hervorbrachte, und hatten nicht damit gerechnet, den hohen Pfeifton eines Torpedomotors zu hören, der sich mit rasanter Geschwindigkeit ihrem Schiff näherte. Eine ängstliche Stimme kreischte in Deminows Kopfhörer. »Sonarraum an Kommandozentrale. Drei Torpedos Typ 65 im Wasser Steuerbord querab. Entfernung sechstausend Meter. Drei Minuten bis Einschlag.« Deminow erbleichte. Das war Zenko, und wenn seine Tor pedos Atomsprengköpfe mit sich führten, war ein Entkommen unmöglich. Wenn nicht, war er gewappnet. Er reagierte umgehend. »Drei Infrarot-Attrappen abfeuern!« Die Rohre stießen drei mit Magnesiumscherben geladene Geschosse aus. In tausend Meter Abstand vom Schiff zündeten die Sicherungen, und sofort verwandelten sich die Attrappen in Hitzequellen, die das Infrarot-Leitsystem von zwei Torpedos auf sich lenkten, die wiederum einpeilten und explodierten, ohne weiteren Schaden anzurichten. Die Druckwellen brachten erst die »Lenin« ins Schaukeln, und Sekunden später die »Taifun«. Der dritte Torpedo wurde abgelenkt. Die Automatik schnitt dem Elektromotor die Energiezufuhr ab und schaltete 346
die Steuerung auf aktives Sonar um. Das System erkannte die »Lenin«, die, 180 Meter entfernt, an Geschwindigkeit zunahm, aber der Bordcomputer bestimmte als Ziel die »Taifun«, und der Torpedo weigerte sich, sein eigenes Schiff anzugreifen. Er kreiste noch einmal, unterband die Energiezufuhr, entschärfte den Sprengkopf und sank. Deminow grinste in sich hinein. Zenko besaß erstaunliches Talent, das musste er zugeben. Keiner wäre so nahe an den Stützpunkt herangekommen, ohne vorher entdeckt zu werden, doch trotz seiner beeindruckenden Fähigkeiten fehlte ihm doch letztlich der Mut, ganze Arbeit zu leisten, mit Plutonium. Deminow wußte, dass er mit seinen eigenen konventionellen Sprengköpfen auch nicht viel mehr Glück gegen die »Taifun« gehabt hätte, und ein nuklearer Sprengsatz würde neben dem Zielobjekt auch die »Lenin« zerstören. »Mehr Geschwindigkeit über Normal!« befahl er. Unbeschadet bog die »Lenin« in tiefere Wasser ab. Die Torpedoexplosionen donnerten durch die Schallortungs geräte der »Reno« und flackerten über die Schirme. »Er hat danebengeschossen«, rief Gunner erstaunt. »Auf sechstausend Meter hat er danebengeschossen.« »Ich wünschte, wir hätten auch ein paar von diesen heißen Attrappen«, meinte Trout. »Erzähl keinen Scheiß. Wenigstens wissen die immer noch nicht, dass wir hier sind.« An Bord der »Taifun« gab Zenko mit gefaßter Stimme den Befehl. »Sascha«, sagte er zu Kugarin, »Startknöpfe entsi chern.« Kugarin, der am Startpult saß, gab die Codeziffern ein, und drei kleine blaue Abdeckplatten glitten zurück. »Startknöpfe entsichert.« »Wir müssen es tun«, sagte Zenko. »Wir können nicht drei 347
Taifunboote in den Händen von Wahnsinnigen lassen.« »Ich weiß«, sagte Kugarin. »Rakete Eins abfeuern.« Kugarin drückte den Knopf. Komprimierte Luft drückte die erste Schiffsabwehrrakete aus dem Rohr, an die Wasseroberflä che, in die Luft. Flügel und Ruder klinkten ein, der Motor zün dete, und die dünne zigarrenförmige Rakete raste auf die geöff neten Seeschleusen von Zenkos Höhle zu. »Rakete Zwei abfeuern.« Als die zweite Rakete aus dem Meer auftauchte, hatte die erste eine Geschwindigkeit von 480 Stundenkilometer erreicht und beschleunigte noch immer. »Rakete Drei abfeuern«, sagte Zenko und wandte sich schweren Herzens von dem Startpult ab. Sein Traum war aus geträumt. Keine zehn Sekunden vor dem ersten Einschlag schrie ein Radaroperator in der Nachrichtenzentrale: »Einschuß!« Oberst Ludinow hörte Lärm im Funkraum und ging zum Telefon, um zu fragen, ob die »Taifun« entdeckt worden sei. Er warf einen Blick durchs Fenster auf die Höhle. Ein Laufkran hob gerade eine Sektion der »Rodina« an. Am Kai herrschte Hochbetrieb, es wimmelte von Menschen, Matrosen in blauen Pullovern, Spetsnaztruppen in schwarzen Kampfanzügen, Arbeiter in gelben Regenjacken. Ein Matrose ganz hinten an der Kaimauer fiel Ludinow besonders auf. Gerade wandte sich der Junge vom Teewagen ab, eine heiße Tasse in der Hand, als er sie fallen ließ und mit ausgestreckter Hand auf die weit auf gesperrten Tore zeigte. Nur knapp ein Dutzend Männer sahen die Rakete durch die Öffnung fliegen, mit 650 Stundenkilometer. Verdattert schaute Ludinow zu, wie sie wie ein Blitz vorbeiraste, und bevor er reagieren konnte, schlug die Rakete in die hintere Wand ein und explodierte in einem Feuerball. Die Sprengladung rollte weiter durch die Höhle und schlug in die »Rodina« ein, warf 348
das riesige Schiff aus den Verstrebungen des Trockendocks und zerschmetterte beide Druckkörper. Drei Sekunden später traf die zweite Rakete auf die Erschütterungswelle der ersten und zündete den Sprengkopf direkt gegenüber dem Tafelglas der Nachrichtenzentrale. Ludinow hatte gerade noch Zeit, die phantastische Gewalt und Genauigkeit der Rakete zu bewundern, bevor herumfliegende Glasscheiben seinen Kör per in blutige Fetzen rissen. Die dritter Rakete versenkte die »Großer Vaterländischer Krieg« und die »Erster Mai«. Eine Feuerkugel umhüllte den gesamten Raum und verwandelte Zenkos Höhle in einen Schmelzofen. Fünf Kilometer nördlich vom Hafen beobachteten die Hub schrauberbesatzungen, wie die »Lenin« untertauchte. Dann plötzlich verwandelten infrarote Leuchtfeuer unter Wasser und Torpedodetonationen die unruhige graue Oberfläche mit rasender Schnelligkeit in einen Hexenkessel aus Funkenregen und Licht. Einen Augenblick später schoß eine Rakete aus dem Wasser, glitt rasend schnell über die Oberfläche auf Zenkos Höhle zu, gefolgt von zwei weiteren Raketen. Der Pilot des Leithubschraubers behielt einen kühlen Kopf und zog die einzig mögliche Schlußfolgerung. »Die >Taifun< muss direkt vor uns sein«, sagte er. »Torpedos scharf machen.« »Torpedos scharfgemacht.« »Hier Weißer Wolf, an alle Einheiten. Wir haben den Ernst fall. Stürzen wir uns ins Getümmel.« Nun, da seine Position preisgegeben war, begriff Zenko die Bedrohung aus der Luft. Sobald die Rakete aus dem Rohr aus gebrochen war, gab er den Befehl: »Nottauchgang! Geschwin digkeit über Normal. Wir müssen unters Eis!« Die »Taifun« fiel auf 45 Meter Tiefe ab und bewegte sich vorwärts. »Alle Rohre mit Attrappen laden.« 349
Die automatischen Ladegeräte füllten sechs Torpedorohre mit Attrappen. »Sonarraum an Kommandozentrale. Eins, zwei, drei, vier Torpedos ins Wasser!« »Hubschrauber!« brüllte Zenko. »Attrappen Eins bis Vier großflächig schießen und neu laden.« Die Attrappen rasten in alle vier Himnmelsrichtungen und entfachten magnesiumhaltige Feuersbrünste. Zwei der vier auf sie zukommenden Torpedos schwenkten über und explodier ten mit Attrappen. Der dritte Torpedo kam von seinem Kurs ab, lief unter dem Schiff durch nach Süden, auf die Küste zu. Der vierte schlug in die »Taifun« ein und explodierte außerhalb der Steuerbord-Raketenkammer. Die Ladung zerstörte eine im Durchmesser sechs Meter große Fläche der Außenhülle. Mit einem schallenden Klang wölbte sich die Druckhülle nach innen und sprang in ihre Aus gangsposition zurück, wobei ein meterlanger Riß in dem dik ken Stahlmantel entstand. Wasser sprudelte in die Abteilung, wie von einer Teufelspumpe getrieben. Ein junger Maschinen offizier wurde vom Wasserstrahl erfaßt, gegen das Schott geschleudert, und er verlor das Bewußtsein. Eine Alarmhupe schnarrte. Spontan formierte sich eine Lecksicherungsmann schaft und mühte sich, der Flut Einhalt zu gebieten, aber immer wieder wurden die Männer zurückgedrückt. Wasser überflutete das Deck und spülte um die Raketensilos. Mit nur zehn Knoten Fahrt schleppte sich die »Taifun« unter die Eisdecke. Die Bugsonare waren vollkommen abgestorben, und jetzt zeigte auch das Steuerbordsonarnetz keine Reaktio nen mehr. Die Backbord- und Hecksonarnetze konnten die »Lenin« nicht aufspüren. Zenko erwartete eine zweite Salve von den Hubschraubern. Diesmal kamen die Torpedos direkt von vorn. Vier Fische sprangen ins Wasser. Bei einem war die Motorzündung defekt, und er sank. Zenko feuerte noch mal vier Attrappen ab. Zwei 350
funktionierten, aber einer versagte, und die »Taifun« bekam einen zweiten Treffer in derselben Raketenkammer ab. Die zweite Explosion riß ein drei Meter weites Loch in die Druckhülle, tötete auf der Stelle drei Männer und entfachte ein Feuer. Das Licht flackerte auf und erstarb, jedoch beleuchteten blaue Elektroflammen die gegen die steigenden Wasserfluten ankämpfenden Seeleute. Das Meerwasser spritzte ungehindert in die Abteilung, überflutete die Luken und ergoß sich in die Kommandozentrale. Beißender, schwarzer Rauch verpestete die Luft. Zenko behielt Ruhe, obwohl ihm klar war, dass das Schicksal der »Taifun« besiegelt war. Umgeben von Wasser und Qualm taumelten Verletzte in die Kommandozentrale. Ein durch Brandwunden grausam entstellter Maschinist stürzte sterbend vor Zenko zu Boden. »Schnapp dir Verbandszeug und hilf den Männern!« schrie Kugarin Petja Bulgakow an, der starr vor Angst dastand. »Wie viele sind noch in der Steuerbordraketenkammer?« fragte Zenko Sorokin. »Ich weiß nicht, Kapitän.“ »Luken verschließen«, befahl Zenko. »Aye, aye.« Sorokin betätigte die entsprechenden Knöpfe auf dem Tauchsteuerpult, und der hydraulische Mechanismus funktio nierte perfekt. Die Luken zwischen der Kommandozentrale und der Steuerbord-Raketenkammer schlossen sich, wurden versiegelt und gesichert. Drei Männer, die noch in der Rake tenkammer eingeschlossen waren, mussten in panischer Angst erleben, wie das Wasser ihnen bis zur Brust stieg. Dann füllte Rauch den Raum zwischen Wasser und Decke, und die Männer starben an Rauchvergiftung, bevor sie ertrinken konnten. Zenko hätte nie gedacht, jemals sein eigenes Schiff unter solchen Bedingungen testen zu müssen. Er hatte es so konstruiert, dass es auch mit einer überfluteten Abteilung 351
seetüchtig blieb. Trotzdem wurde das Boot schwerer und manövrierunfähig. Er hatte versagt. Tapfere Männer, die an ihn geglaubt hatten, waren zu Tode gekommen. Die »Lenin« hatte er nicht aufgehalten, Zenko vermutete Deminow in Höhe des Steuerruders, und er hatte keine Zweifel, dass er Raketen gegen sein Vaterland abfeuern würde. »Sascha«, sagte er leise zu Kugarin. »Eine Nachricht an den Verteidigungsrat. Melde ihm ganz genau, was vorgefallen ist. Wenn wir unter Eis sind, weg von diesen verfluchten Hub schraubern, schicken wir sie ab.« »Ja.« Auf dem Tauchsteuerstand leuchteten noch mehr rote Lich ter auf. »Kapitän«, sagte Sorokin. »Das Feuer breitet sich durch die elektrischen Leitungskästen in die Backbordraketenkammer aus.« »Um Himmels willen«, rief Zenko. »Der Treibstoff!«
352
35. Kapitel Eis Zenkos Höhle lag in Schutt und Asche. Die Aufzugsschächte standen in Flammen, und chemische Reaktionen lösten etliche Schwelbrände aus. Mindestens achthundert Menschen waren bei dem Angriff ums Leben gekommen. Sirenen heulten von jedem Gebäude. Krankenwagen und Feuerwehrautos drängten sich vor den Aufzügen. Oberirdisch war der Marinestützpunkt unbeschädigt. Die GRU-Fluglotsen im Kontrolltower, die in Funkverbindung mit den Hubschraubern standen, hörten die Explosionen und stellten fest, dass sie von der Nachrichtenzentrale abgeschnitten waren. Die Telefonleitungen waren zusammengebrochen. Kurz darauf berichtete ein Hubschrauberpilot aufgeregt, wie Raketen aus dem Meer emporschossen und Zenkos Höhle in Brand setzten. »Es war die >Taifun<«, sagte er. »Wir haben alle Torpedos gegen sie eingesetzt.« »Ist sie gesunken?« wollte derTowerkommandant wissen. »Sie hat mindestens zwei Treffer abbekommen, aber ich glaube nicht, dass sie auf Grund gegangen ist«, kam die Ant wort. »Sie nimmt Kurs auf die Eisdecke, und wir müssen neu laden.« »Kehren Sie zur Basis zurück«, befahl der kommandierende Leutnant. Wenig später klingelte auf der Sicherheitsleitung das Telefon der Admiralität. »Gremicha«, meldete sich der Leutnant. »Wir können die Nachrichtenzentrale nicht erreichen«, war die Stimme des diensthabenden Offiziers in Sankt Petersburg zu hören. »Was zum Teufel geht da vor? Wo ist Oberst Ludi now?« »Oberst Ludinow ist wahrscheinlich tot«, rief der Leutnant ins Telefon. »Wahrscheinlich sind alle in Zenkos Höhle umge 353
kommen. Wir stehen unter Beschuß!« Auf den Sonarschirmen der »Reno« tobte eine heftige Unterwasserschlacht - wie ein phantastisches Videospiel. Benommen, abgestoßen, erschreckt und gleichzeitig fasziniert hörten Gunner und seine Mannschaft den wilden Lärm und sahen die computererzeugten Leuchtpunkte explodieren, die Raketen, Torpedos und 170 Meter lange U-Boote darstellten. Bis jetzt war noch kein Atomsprengkopf gezündet worden, aber Gunner hatte das Gefühl, dass über kurz oder lang eine Seite die Grenze überschreiten würde. Noch immer in Sonarreichweite, rumpelte die »Lenin« mit lärmenden dreißig Knoten Richtung Norden, vergrößerte aber ihren Abstand zur »Reno«. Gunner war drauf und dran, die Jagd aufzunehmen, jedoch fuhr in viel geringerem Abstand die »Taifun« vorbei, ostwärts, auf einem Kurs, der sie auf achttau send Meter an das amerikanische U-Boot heranbringen würde. »Sonar an Kontrollraum«, sagte Morrison. »Ich glaube, die >Taifun< hat einen Treffer abgekriegt. Sie beschleunigt nicht mehr. Geschwindigkeit zehn Knoten. Tiefe neun Meter. Sie nähert sich der Randeiszone.« Gunner versuchte, dieser Information mit Vernunft zu begegnen, wie ein gejagter Wal suchte Zenko Schutz unter der Eisdecke. Aktionsunfähig, aber noch immer stark, kam die »Taifun« direkt auf ihn zu. »Sonar an Kontrollraum. Der Antrieb der >Taifun< ist stehengeblieben. Sie verlangsamt. Entfernung elftausend Meter.« »Alle Antriebe langsame Fahrt«, befahl Gunner. »Mr. Trout, Feuerlösung klar machen. Mr. Sharpe, 48er Mark in Rohre Eins und Zwei laden.« Die »Taifun« hatte jetzt die schützende Eisdecke erreicht, aber die Brände gerieten außer Kontrolle und breiteten sich aus. »Notaufstieg«, befahl Zenko. »Wir können nicht mehr wei 354
ter.« »Steuerbord-Ballasttanks anwerfen«, sagte Sorokin. »Vor dere Tanks reagieren nicht.« Langsam stieg das Heck der »Taifun« auf, und das Deck geriet in Schräglage. Das Ruder krachte in die Eisdecke und wurde verbogen. Die Turmspitze stieß gegen die Unterseite, prallte ab, stieg wieder auf, aber es gelang ihr nicht, das Packeis zu durchstoßen. »Sorokin, alle Tanks anwerfen. Wir müssen mehr Auftrieb kriegen.« »Aye, aye.« »Sascha, Eiskanone klar machen. Wir ballern ein Loch in die Decke.« Vergeblich hämmerte Kugarin mit der Faust auf ein paar Knöpfe des Steuerpults. »Eiskanone zeigt keine Reaktion.« »Dann steigt in den Turm, und durchbrecht das Eis mit der Handbedienung!« Kugarin schnappte sich Petja Bulgakow und zog ihn die Leiter in den Turm hoch. Gemeinsam mühten sie sich mit der schwerfälligen Handbedienung ab. Das Feuer in der Backbord-Raketenkammer wütete unge hemmt. Ein Dutzend Männer eilten aus dem Maschinenraum herbei, um den Brand zu löschen. In weißen Asbestanzügen und mit Sauerstoffmasken versuchten sie, gegen die Flammen zu kämpfen, aber der Raum war ein einziges Inferno. »Abteilung räumen«, befahl Zenko. »Luft abziehen und Stickstoff reinpumpen.« Sorokin meldete sich, wie wild Schalter am Tiefensteuer stand betätigend. »Systemausfall, Kapitän. Keine Reaktion.« »Verdammte Scheiße«, brüllte Zenko. »Ich muss die Männer da rausholen. Bring mir einen Asbestanzug.« »Sie nicht, Kapitän«, brüllte Sorokin zurück. »Ich gehe.« In Zenkos Augen krochen die Minuten im Zeitlupentempo dahin. Eine fünfzehn Zentimeter hohe Wasserschicht spülte 355
über den mit Teppich ausgelegten Boden der Kommandozen trale. Sorokin stapfte durchs Wasser, riß eine Spindtür auf und griff nach einem Asbestoverall. Ehe er sich eine Atemmaske überziehen konnte, wurde das Schiff von mehreren Explosio nen erschüttert. Die Flammen züngelten am Raketentreibstofflager. Mit ungeheurer Gewalt detonierte der erste Antrieb im Silo. Die Zündungen der nicht scharfen Gefechtsköpfe versagten, aber die ausströmenden Gase der Explosion zerstörten die vordere Hälfte der »Taifun« und sprengten ein dreißig Meter breites Loch ins Eis. Ein Flammenmeer brach über die Kommandozentrale her ein und tötete auf der Stelle fünf Mann. Durch den Asbest anzug geschützt, sprang Sorokin vor Zenko und schirmte den Kapitän gegen die glühende Hitze ab. Aufgefangen vom Steu ermannsmaat stürzte Zenko schwer, stieß mit dem Schienbein gegen ein Spind und spürte sofort einen stechenden Schmerz im Bein. Um sie herum zischten elektronische Bauteile und flogen dann auseinander. Das Deck neigte sich noch mehr. Die Turm spitze tauchte jetzt durch das von der Treibstoffexplosion geris sene Loch im Eis auf. Sorokin schleppte Zenko die Leiter hoch. »Luke öffnen!« schrie er die Männer über sich an. »Wir haben nur noch wenige Sekunden.« Bulgakow drückte die Luke auf, in Erwartung einer eiskal ten Dusche. Statt dessen strömte frische Luft herein. Bulgakow stemmte sich hoch und sprang aufs Eis. Als das Schiff anfing zu sinken, folgte Kugarin. Sorokin konnte hören, wie die Männer hinter ihm um Hilfe schrien. Er schubste Zenko, bei Bewußtsein, aber laut stöhnend, durch die Luke und kroch hinter ihm her. Als sie auf dem Eis landeten, glitt die »Taifun« unter ihnen weg und verschwand. »Weg vom Loch!« rief Sorokin, aber Zenko rutschte aus und fiel in das Eiswasser. Sorokin, auf dem Bauch liegend, 356
tauchte seinen starken Arm ins Wasser und zog seinen Kapitän wieder aus dem Eis. Sie hoben Zenko auf und trugen ihn einige Meter weit von der Bruchstelle weg. Immer mehr Explosionen sprengten die Eisdecke auf. Sorokin hielt Ausschau nach Hubschraubern. Die Temperatur lag kaum über dem Gefrierpunkt. Zenkos Körpertemperatur sank. Er würde eine Stunde durchhalten, länger nicht. Kugarin beugte sich über Zenko. »Stefan«, fragte er, »kannst du mich hören?« Zenko nickte kaum wahrnehmbar und versuchte zu spre chen. Kugarin legte sein Ohr an den Mund des Freundes. »Sag Margarita ...«, flüsterte Zenko. Zitternd vor Kälte, halbtot vor Angst, stapfte Bulgakow von einem Fuß auf den anderen und wedelte mit den Armen. »Ich friere«, sagte er bibbernd. »Halt die Klappe, Kleiner«, schnauzte Sorokin ihn an. »Wenigstens bist du noch am Leben.« »Heiliger Bimbam, sie ist weg«, sagte Morrison. Noch immer leuchteten Unterwasserexplosionen als kleine Punkte auf den Sonarschirmen der »Reno« auf. »Hauptwelle anwerfen«, befahl Gunner. »Alle Maschinen langsame Fahrt.« Die »Lenin« blieb auf dem Bildschirm, in vierzig Kilometer Entfernung und bei langsamer Geschwindigkeit. »Sollen wir jetzt hinter dem anderen Scharfmacher her?« »Noch nicht«, sagte Gunner. »Zuerst halten wir nach Über lebenden Ausschau.« »Im Ernst, Jack. Woher sollen wir wissen, was da oben los ist?« »Wenn jemand aus dem Schiff entkommen ist, können wir vielleicht herausfinden, was sich da eigentlich abspielt. Kon trollraum an Sonar, Eisscanner aktivieren.« 357
»Eisscanner, aye.« Morrison stellte die Suchsonare an und sagte: »Oben gibt es ein großes Loch im Eis, Skipper. Direkt über der Stelle, an der sie gesunken ist.« »Wir umgehen es«, sagte Gunner. »Ich fahre nicht über ein unbeständiges Wrack. Alle Mann bereitmachen zum Auftau chen. Gus, stellen Sie ein Eiskommando auf. Teilen Sie Schneebrillen aus.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er hinzu: »Und Schußwaffen.« Die Russen hörten das Donnerrollen einer zersplitternden Eisdecke. Dreihundert Meter vor ihnen tat sich entlang eines Eishügels eine Spalte auf, und ein schwarzer Monolith erhob sich wie ein Botschafter aus der Tiefe empor. Sorokin erkannte ihn als erster. »Es ist ein Amerikaner!« »Gütiger Gott«, sagte Kugarin. »Das muss der sein, auf den wir geschossen haben.« Während sie entsetzt zuschauten, zusammengekauert auf dem Eis, sahen sie, wie sich aus dem Turm der »Reno« Masten in den Himmel schoben. »Radar an Kontrollraum. Wir kriegen Ausstrahlungen aus Gremicha rein, aber kein Flugzeug.« Trout stand mit vier Matrosen in Schneeausrüstung unter der Luke im Turm. »Luke öffnen«, befahl Gunner. Trout drehte den Verschluß, drückte die Luke nach oben und kletterte aus der Turmspitze. Geblendet vom Licht der Sonne, blinzelte er und kramte seine Schneebrille hervor. Als sich die übrigen Mitglieder des Kommandos um ihn versammelt hatten, setzte Trout die Schneebrille auf und entdeckte in unmittelbarer Nähe die vier Gestalten. »Brücke an Kontrollraum«, sagte er. »Wir haben Überle bende auf dem Eis.« »Bringt sie ins Boot«, antwortete Gunner. »Ich tauche in zehn Minuten.« 358
Unter Trouts Führung sprangen die Amerikaner aufs Eis und liefen auf die Russen zu. Sorokin und Kugarin erhoben sich, unsicher, ob sie die Männer, die auf sie zukamen, umarmen oder mit ihren Waffen bedrohen sollten. Außer Atem blieben die Amerikaner drei Meter vor der Gruppe stehen. »Spricht jemand von Ihnen Englisch?« rief Trout. »Ich ein bißchen Englisch sprechen«, entgegnete Kugarin. »Bitte Sie sich ausweisen zuerst.« Trout salutierte militärisch. »Korvettenkapitän Augustus Trout, USS >Reno<. Und wer sind Sie?« »Erster Kapitän Kugarin, russisches Schiff >Taifun<, und das hier ist Admiral Stefan Zenko.« »Zenko!« »Ja. Verletzt. Bein gebrochen. Glaube ich. Zu lange der Kälte ausgesetzt.« Trout sprach in das Mikrofon seines Kopfhörers. »Skipper, wir brauchen eine Bahre. Zenko ist hier, mit einem gebroche nen Bein, und drei weitere Männer, anscheinend unverletzt.« »Zenko? Sind Sie sicher?« »Ich glaube schon. Jedenfalls sieht er wie Zenko aus.« »Können Sie sich verständigen?« fragte Gunner. »Einer von ihnen spricht Englisch.« »Bringen Sie sie ins Boot. Ich sage dem Sanitäter, er soll sich bereithalten.« Zwei Männer mit einer Bahre liefen vom U-Boot aus über das Eis. »Radar meldet Hubschrauber im Anflug. Entfernung drei ßig Kilometer«, gab Gunner eindringlich über Funk durch. »Bringt die Männner her, schnell.« »Aye, aye, Skipper.« Trout wandte sich an die Russen. »Wir bringen Sie an Bord«, sagte er zu Kugarin und zeigte dabei auf die >Reno<. Kugarin wechselte schnell ein paar Sätze auf russisch mit 359
Sorokin und meinte dann zu Trout: »Wir erst mit Admiralität Verbindung aufnehmen. Wir haben dringende Meldung.« »Das muss der Kapitän entscheiden«, entgegnete Trout. »Sie nicht Kapitän?« »Nein.« Petja Bulgakow meldete sich zu Wort. »Ich auch sprechen Englisch. Die Männer Angst mit amerikanisches U-Boot fah ren. Aber ich nicht, Petja Bulgakow.« »Ihr Kapitän wird sterben, wenn Sie noch länger auf dem Eis bleiben«, sagte Trout. »Wir können ihm helfen, aber wir haben jetzt keine Zeit mehr für lange Diskussionen.« Die Russen berieten sich untereinander. Nach kurzer Zeit sagte Kugarin: »Wir kommen mit.« Sorokin und zwei Amerikaner banden Zenko auf der Bahre fest, und die Gruppe lief zurück zum U-Boot. Im Kontroll raum halfen Gunner und der Sanitäter, Zenko durch die Luke zu hieven. Drei halb erfrorene Russen mit weit aufgerissenen Augen folgten, zwei in schwarzer Uniform und einer in einem weißen Asbestoverall. Trout, als letzter, verschloß die Luke. »Runter mit ihr!« rief Gunner. »Dreißig Meter. Wo ist der Hubschrauber?« »Fünf Kilometer.« Kommandos pfiffen durch den Kontrollraum, und umge hend tauchte die »Reno« unter die Oberfläche. »Haben Sie den Flieger gesehen?« fragte Gunner. »Nein«, sagte Trout. »Gut. Alle Maschinen volle Kraft voraus.« Zenkos Bahre war kaum abgestellt, als der Sanitäter dem Kranken eine Ampulle Morphium in den Arm spritzte. »Wir müssen ihn aufwärmen«, sagte er. »Er wird einen Schock erleiden.« »Bringt ihn in die Krankenstube«, ordnete Gunner an. »Und für die anderen heißen Kaffee.« Zwei Matrosen hoben Zenkos Bahre an und trugen sie nach 360
hinten. Gunner stellte sich vor die drei anderen Männer, grüßte militärisch und sagte auf russisch: »Ich bin Commander Jack Gunner, Kommandant der USS >Reno<. Willkommen an Bord, meine Herren.« Die Russen erwiderten den Gruß. Kugarin trat vor und stellte sich und seine Kameraden vor. »Sie sprechen Russisch?« fragte er. »Ich werd's versuchen«, antwortete Gunner. »Ich habe eine dringende Meldung an die Admiralität. Ich muss ihren Funkapparat benutzen.« »Wie lautet Ihre Meldung, Kapitän Kugarin?« »Tut mir leid, die ist geheim.« »Das kann ich mir vorstellen, aber bevor ich erwäge, Ihrer Admiralität von meinem Schiff aus einen Funkspruch zu schik ken, müßte ich wissen, wie der Spruch lautet.« Kugrain sah, dass der amerikanische Kapitän nicht mit sich verhandeln ließ. »Ich muss erst mit Kapitän Zenko darüber reden«, sagte er. »Sicher, wenn er dazu in der Lage ist«, meinte Gunner. »Gus, haben wir das andere U-Boot auf dem Sonarschirm?« »Nein, Sir. Das verhält sich ruhig.« »Nehmen Sie Kurs auf seine letzte Position, aber machen Sie keinen Lärm.« »Aye, aye.« Die »Reno« entfernte sich von dem Loch im Eis. Die Russen und die Besatzung des Kontrollraums musterten sich gegenseitig erstaunt. Leutnant Sharpe holte eine Schachtel Marlboro hervor und bot ihnen Zigaretten an. Petja Bulgakow streckte gierig die Hand aus, nahm sich eine Zigarette und drehte sie zwischen den Fingern. »Marlboro«, sagte er, den Aufdruck lesend. »Marlboromann. Amerika. Wunderbar.« Sorokins Augen waren überall, saugten den Anblick der phantastisch übermächtigen Technik auf. Im Kontrollraum stapelten sich die Geräte, mehr, als er sich vorgestellt hatte. Er 361
vermochte die Skalen und Meßgeräte zwar nicht zu lesen, aber ein U-Boot war ein U-Boot, vollgestopft mit Rohren, Kabeln, Persikopen, Steuerpulten und Videoschirmen. »Mr. Sharpe«, sagte Gunner. »Begleiten Sie die Männer in die Offiziersmesse. Machen Sie es ihnen dort gemütlich, und sorgen Sie dafür, dass sie trockene Klamotten kriegen.« »Aye, aye, Skipper.« »Kapitän Kugarin, folgen Sie mir.« Sie gingen in die Krankenstube, wo Zenko auf einem saube ren weißen Laken lag, mit schweren Wolldecken zugedeckt. Der Sanitäter hatte die angesengte Uniform aufgeschnitten und das Bein in Schienen gelegt. »Ein einfacher Bruch«, meinte der Sanitäter zu Gunner. »Schmerzhaft, aber sonst nicht weiter schlimm. Das Morphium wird schon helfen.« »Wird er einen Schock erleiden?« »Ja, aber nicht ernsthaft gefährlich. Wir sind noch gerade rechtzeitig gekommen. Seine Temperatur stellt sich langsam wieder ein.« Zenko schaute zu Gunner hinauf und gab sich alle Mühe zu salutieren, aber er konnte kaum seinen Arm heben. Gunner nahm sofort zackig Haltung an und grüßte den russischen Admiral mit dem gebührenden Respekt. »Willkommen an Bord, Admiral Zenko«, sagte er auf russisch. »Danke«, entgegnete Zenko mit schwacher Stimme. »Danke, dass Sie meine Männer gerettet haben.« »Ihr politischer Offizier will der Admiralität in Sankt Peters burg eine Nachricht schicken«, sagte Gunner. »Nicht nötig, Sascha«, sagte Zenko. Er sprach mit großer Mühe. »Bis diese Wahnsinnigen sich entschieden haben, ist es zu spät. Unsere einzige Hoffnung sind die Amerikaner. Kapi tän«, wandte er sich wieder an Gunner, wobei seine Stimme dringend klang, »Sie müssen die >Lenin< versenken. Fahren Sie nah ran und benutzen Sie herkömmliche Torpedos.« Gunner schaute von Zenko zu Kugarin, dann zurück zu 362
Zenko. Er war ein kleiner, pummliger Mann, und er war ver letzt und stand kurz vor einem Schock, aber aus seinen Augen sprachen Kraft und Überzeugung. Trotzdem, seine Bitte war unerfüllbar. Ein russisches Schiff versenken? Um Himmels willen. Nicht mal in seinen schlimmsten Alpträumen hätte er sich vorstellen können, in diese Situation zu kommen. »Ich muss wissen, warum«, sagte er. »Ich kann nicht einfach ein russisches Kriegsschiff angreifen, ohne zwingenden Grund.« Zenko wollte antworten, versank aber in Bewußtlosigkeit. Der Sanitäter legte sein Stethoskop auf die Brust des Kranken. »Er ist jetzt für eine Weile nicht ansprechbar, Skipper.«
363
36. Kapitel Gefechtsregeln Aus Sankt Petersburg flog ein Regiment: regulärer Marinein fanterie nach Gremicha ein. Ohne jegliche Orientierung und ihrer Führungsriege entzogen, ergaben sich Ludinows Spets naztruppen widerstandslos. Als der Marinestützpunkt einge nommen war, traf Flottenadmiral V.J. Walotin von der Admi ralität ein. Beim Anblick der Ruinen von Zenkos Höhle gab er sich alle Mühe, sein Entsetzen durch ein brüskes und geschäfts mäßiges Auftreten zu verbergen, aber die Verwüstung der ark tischen Bastion der Marine bedeutete das Ende seiner Karriere, vielleicht seines Lebens. Der korpulente Geschwaderchef verdankte seine Ernennung den politischen Verhältnissen, nicht seinen militärischen Kenntnissen. Seine Laufbahn hatte er der Erhaltung des Status quo gewidmet, hatte sich Mätressen zugelegt und seinen Vor gesetzten im Kreml die Stiefel geleckt. Er hatte keine Vorliebe für Kampfhandlungen und war nicht erpicht auf einen lang anhaltenden Bürgerkrieg. Für ihn bedeutete die Wiedereinset zung der Union die Sicherung seines Postens mit all den damit verbundenen Rechten und Privilegien. Operation Weißer Stern war ein stürmisches Spiel gewesen, das fehlgeschlagen war. Jetzt würden Köpfe rollen, und er würde ebenfalls dran glauben müssen, wenn es ihm nicht gelang, sich von dem Fiasko zu distanzieren. Walotin sprach mit den Hubschrauberpiloten, telefonierte mit Pulonga und unterhielt sich ausführlich mit Leutnant Tarinski. Dann nahm er Verbindung mit dem Eisbrecher »Ark tika« und mit dem Geleitzug auf, der im Weißen Meer gestran det war. Langsam fügten sich die Einzelstücke eines verwirren den Puzzles zusammen. Vier U-Boote waren gesunken, die »Minsk«, die »Gorki«, die »Sowjetski Sojus« und die 364
»Taifun«, drei weitere in Gremicha zerstört. Über 1300 Menschen waren dabei umgekommen. Von der ursprünglichen Flotte aus sechs Taifunbooten hatte nur die »Lenin« überlebt. Allmählich ließen sich die Ereignisse rekonstruieren. Zenko hatte sich zum Piraten aufgeschwungen, war ins Weiße Meer eingedrungen, hatte die »Gorki« und die »Sowjetski Sojus« versenkt, war durch die Gorlostraße zurückgefahren und hatte Gremicha angegriffen. Das ratsamste war, Stefan Zenko die Schuld an allem zu geben, der war zweckmäßigerweise tot und konnte sich nicht wehren. Walotin beschloß, Deminow zum Helden zu stilisieren; ihm war es durch seinen mutigen Einsatz gelungen, mit der »Lenin« zu entkommen und sie als einziges Schiff der Flotte zu retten. Die erste Handlung des Flottenchefs bestand darin, den in Poljarny und Murmansk wartenden Schiffsverband aufzulö sen. Die Operation Weißer Stern war abgeblasen. Neunzig Kilometer vor Gremicha, 1400 Kilometer nördlich von Moskau lag die »Lenin« ruhig unter einer Eisdecke. Jetzt, da die »Taifun« von Hubschraubern versenkt worden war, stellte Zenko keine Gefahr mehr dar, trotzdem fühlte sich Deminow allein, wie ein Mensch, der im All treibt. Mittlerweile hätte die Flotte in voller Einsatzstärke auslaufen müssen, aber die Sonare der »Lenin« registrierten kein einziges U-Boot oder Überwasserfahrzeug aus Gremicha oder Poljarny. Die VFL- und ELF-Funkfrequenzen schwiegen. Wo war die Flotte geblieben? Wo steckte Walotin? Dann eben nicht, dachte Deminow. Ich bin auf Walotin nicht angewiesen. Ich brauche die Flotte nicht. Die »Lenin« kann eine ganze Flotte ersetzen. Alle Taifunboote waren für direkte Kommunikation mit Dringlichkeitsfunkleitungen ausgestattet. Ein Taifunkom mandant konnte den Präsidenten, egal, wo er sich gerade auf hielt, innerhalb von drei Minuten erreichen. Das System war 365
dazu vorgesehen, im Fall eines atomaren Konflikts den Start befehl zu bestätigen, aber es funktionierte genausogut in die umgekehrte Richtung. Deminow beschloß, einen Funkmast auszufahren und dem Präsidenten eine kurze Nachricht zu übermitteln; er wollte ihm eine Stunde Zeit zum Rücktritt geben, andernfalls müsse er die Konsequenzen verantworten. Sollte er nicht reagieren, würde die »Lenin« eine SS-N-20 mit acht Sprengköpfen auf Moskau abschießen. Der ausgewählten Besatzung der »Lenin« standen zwei poli tische Offiziere vor. Sie versicherten den Männern, ihr Auftrag sei von der politischen Führung der Streitkrätte, dem Verteidi gungsministerium und der Nordflotte abgesegnet. Die Offi ziere und Obermatrosen, durchweg entschiedene Befürworter der alten Union, nahmen die Lügenmärchen widerspruchslos an. Als rechtmäßige Erben des revolutionären Vermächtnisses würden sie ihre Pflicht tun. »Männer der >Lenin<«, befahl Deminow, »Startvorlaufma növer einleiten.« Allmählich wurde die Besatzung aktiv, testete Schaltkreise und untersuchte hydraulische Systeme. Mit Hilfe der mühsam rekonstruierten Algorithmen stimmten die Startcomputer ihre Programme mit denen an Bord der Raketen ab, überprüften Lenksysteme, Treibstoffzufuhr, Antriebe und Wiedereintritts vehikel. Alle Systeme funktionierten einwandfrei. Deminow nahm das Bordmikrofon. »Kommandozentrale an Funk. Bereitmachen zum Einrichten der Notsatellitenfrequenz zum Büro des Präsidenten im Kreml.« Die »Lenin« war von den Sonarschirmen der »Reno« ver schwunden. Mit maximaler Antriebsgeschwindigkeit bewegte sich das amerikanische U-Boot auf die letzte Position des russischen U-Boots zu. Die ungewohnte Situation, russische Seeleute an Bord zu 366
haben, lenkte die Besatzung ab. Plötzlich, mit Namen und Gesichtern, wurden aus den Feinden Menschen. Während Zenko schlief, wurden Bulgakow und Sorokin in die Dusch räume geführt; anschießend gab man ihnen warme Kleidung und in der Mannschaftsmesse eine kalte Mahlzeit. Matrosen versammelten sich um die beiden Russen und schauten ihnen zu, wie sie Sandwiches und Krautsalat aßen. Morrison konnte sich nicht satt sehen an Sorokin. »Guck dir die Tätowierungen von dem an«, sagte er. »Mann, der ist ein wandelndes Kunstwerk.« »Und erst mal die Muskeln darunter«, meinte der erste Tor pedoschütze Garrett ehrfürchtig. »Wetten, dass er dich lang legt?« »O Mann, fang nicht wieder mit dem Scheiß an«, prote stierte Morrison. »Fünf Dollar auf den Russkie«, sagte Garrett. »Der sieht doch echt gemein aus.« Sorokin hörte dem unverständlichen Gebrabbel aufmerk sam zu und wandte sich dann an Bulgakow. »Worüber reden die, Kleiner?« »Ich weiß nicht. Sie reden nur Umgangssprache, aber sie zeigen immer auf deinen Arm.« »Das seh' ich auch.« Morrison holte seine schwarze Panzerkommandantenmütze hervor und setzte sie auf. Sorokin lachte laut los. Garrett strich sich sein Schiffchen vom Kopf und bot es Sorokin an. Auf Bul gakows Haupt hatte eine weiße Matrosenmütze ihren Platz gefunden. Morrison legte seine Brille ab, krempelte die Ärmel auf und stützte in der typischen Pose des Armringers den Ellbogen auf dem Tisch auf. Da Ruhe im Boot angesagt war, klatschte die Mannschaft lautlos Beifall. Geldscheine tauchten auf, Wetten wurden abgeschlossen. Sorokin grinste, langte in die Hosentasche seiner frischen U.S.-Navy-Latzhose, zog ein Bündel Rubelscheine hervor und knallte es auf den Tisch. »Sag 367
den Matrosen, ich nehme jede Wette an«, meinte er zu Bulga kow. Er massierte das Handgelenk, pumpte Luft in den Brustkorb und legte die Finger um die Hand von Morrison. »Fertig?« »Da!« In der Offiziersmesse hörten sich Gunner und Trout gebannt Kugarins Bericht von Deminows Verschwörung an. Während Gunner übersetzte, wuchs Trouts Mißtrauen mit jeder neuen Enthüllung. Als der Russe geendet hatte, schüttelte er ungläu big den Kopf. Ohne mit seiner Geringschätzung für Kugarins Posten als Politoffizier hinterm Berg zu halten, sagte er: »Die ser ... politische Offizier verlangt von uns, dass wir das letzte Taifunboot versenken, Jack. Woher sollen wir wissen, dass nicht Zenko derjenige ist, der übergeschnappt ist und sein Schiff selbst versenkt hat.« »Welchen Grund sollte er haben?« fragte Gunner. »Irgend jemand in der ganzen Angelegenheit verhält sich absolut irrational«, sagte Trout. »Vielleicht ist Zenko ein aufer standener Peacenik, wer weiß. Vielleicht meint er, er könne den Kalten Krieg ganz allein zu Ende bringen. Vielleicht will er uns die ganze Sache in die Schuhe schieben. Sie haben uns bis ins Weiße Meer verfolgt und wußten, dass wir da sind. Ist doch eine perfekte Falle.« »Wir sind hier nicht im Kalten Krieg. Hier handelt es sich um einen russischen Bürgerkrieg.« »Wenn die Guten gewinnen, dann ist ein russischer Bürger krieg der letzte Akt im Kalten Krieg«, entgegnete Trout hitzig. »Warum sollen wir einem politischen Offizier Glauben schen ken, wenn er die politische Führung der russischen Marine und den ganzen alten kommunistischen Apparat repräsentiert?« Kugarin hatte im wesentlichen begriffen, worum es bei die sem Austausch ging. »Kapitän«, unterbrach er jetzt auf eng lisch, »dieser Deminow wird ballistische Raketen abfeuern. 368
Jede Rakete hat acht Atombomben. Was soll ich Ihnen noch sagen, damit Sie mir glauben?« Gunner stellte sich dicht vor Kugarin. »Und wenn Sie noch so sehr die Wahrheit sagen, warum sollten wir uns in Ihren Bürgerkrieg einmischen?« fragte er. Kugarin lächelte. »Ame rika war zuerst da«, entgegnete er. »Amerika hat schon 1921 seine Soldaten in Murmansk stationiert.« »Ich brauche keinen Nachhilfeunterricht in Geschichte«, schnauzte Gunner. »Ich bin nicht befugt, bei einer Sache von dieser Tragweite im Namen der Vereinigten Staaten zu han deln. Ich habe auch meine Regeln und Verpflichtungen, an die ich mich halten muss. Ich bin sicher, das werden Sie verstehen. Wenn ich ein russisches Schiff versenke, Kapitän Kugarin, ist das ein kriegerischer Akt.« »Sie schon einmal kriegerischer Akt vollzogen, Kapitän Gunner. Sie in Weißes Meer eingedrungen.« »Erzählen Sie mir nicht so 'n Scheiß. Ich bin mit Torpedos angegriffen worden, mit Minen und von Granatwerfern, ohne auch nur einen einzigen Schuß zu erwidern. Ich habe spioniert, aber ich habe niemanden getötet. Das war bloß das übliche Kalte-Kriegs-Spiel, und die Geheimnisse, die ich gestohlen habe, sind sinnlos, solange die Vereinigten Staaten und Ruß land keinen Krieg anfangen. Das will keiner.« »Ist keine Frage von Recht, Kapitän«, sagte Kugarin. »Ist eine Frage von Moral, glaube ich. Wenn Deminow Raketen feuert, er Millionen Menschen töten. Menschen sterben durch atomare Strahlung im Feuersturm.« In seinem erregten Zustand vergaß Kugarin, englisch zu sprechen, und fiel zuletzt in ein murrendes Russisch zurück. Gunner sah blaue Lichter, noch mehr blaue Lichter, endlos viele blaue Lichter. Während der ganzen Fahrt war es eine Qual für ihn gewesen, nicht zu wissen, was die Russen vorhatten. Jetzt wußte er eine ganze Menge mehr, hatte aber ein schlechteres Gefühl als vorher. »Ist eine Frage von Moral«, 369
hatte der schmächtige russische Offizier gesagt. Na und. »Stellen Sie sich Situation mal umgekehrt vor«, forderte Kugarin ihn auf, nun wieder nach englischen Ausdrücken suchend. »Stellen Sie sich amerikanisches Kapitän verrückt geworden mit Trident-U-Boot vor, und Sie in einem russi schen U-Boot. Was würden Sie dem russischen Kommandan ten sagen?« »Wir haben es hier nicht mit einer hypothetischen Situation zu tun«, sagte Gunner mit einem Anflug von Erschöpfung in der Stimme. »Es ist hier und heute. Ich kann kein Schiff ver senken, nur weil sein Kapitän vielleicht etwas tun wird, was uns nicht gefällt. Wenn Ihre Geschichte stimmt, und wenn Ihre Operation Weißer Stern planmäßig läuft, dann befinden sich im Augenblick über achtzig Schiffe im Einsatz im Weißen Meer. Eins davon zu versenken hätte nur geringe Wirkung, wenn die Nordflotte hinter Admiral Deminow steht.« Kugarin wechselte wieder ins Russische. »Die Schiffskom mandanten in Poljarny und Murmansk kennen Deminows wahre Absicht nicht«, sagte er. »Man hat ihnen gesagt, sie würden einen Aufstand bekämpfen, nicht, dass sie selbst die Aufständischen sind. Deminow ist außergewöhnlich ge schickt, er manipuliert die Leute und wirkt sehr überzeugend. Sein Plan, die >Sowjetski Sojus< bei einem Putsch als Waffenlager zu verwenden, wäre aufgegangen, wenn Zenko das Schiff nicht angegriffen hätte. Wir glauben, ihr Kapitän hätte eine Rakete abgefeuert, wenn es drauf angekommen wäre, aber durch die Gnade Gottes hat sich die Rakete selbst vernichtet, und mit ihr die >Sowjetski Sojus<. Deminow wird auf jeden Fall eine Rakete abfeuern. Wenn Sie Verbindung mit dem Verteidigungsrat aufnehmen, rufen sie die Flotte vielleicht zurück und greifen die >Lenin< an.« »Oder die >Reno<«, sagte Gunner. »Ja. Das ist möglich, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Rußland hat nicht mehr Interesse an einem Krieg als Sie, Kapi 370
tän.« Gunner nahm Trout beiseite. »Was halten Sie davon, Gus?« »Ich traue dem Typen nicht«, sagte Trout. »Nehmen wir das Schlimmste an. Nehmen wir an, der russische Ballermann schießt ein paar Atomraketen ab. Na und? Was geht uns das an?« »Ich finde Atomraketen immer schlecht, egal, wen es trifft«, meinte Gunner. »Es bedeutet nur, dass die andere Seite dann auch welche abschießt. Sie verfügen über dreißigtausend ato mare Sprengköpfe, das müssen Sie sich mal vorstellen.« »Das würde sowieso passieren, ob wir das Boot nun versen ken oder nicht«, sagte Trout. »Daher wissen wir immer noch nicht, was sonst noch passiert.« Gunner verspürte einen stechenden Schmerz in der Magen gegend. Eine moralische Frage. Würde er einen Krieg verhin dern oder einen Krieg auslösen - wenn er die »Lenin« ver senkte? Würden Millionen Russen den Tod finden, wenn er der Konfrontation auswich, wie der Russe behauptete? Die Schuld für dieses Dilemma konnte er vielen Dingen zuschreiben, dem Kalten Krieg, dem atomaren Wahnsinn, der Kriegsmaschine rie, dem militärisch-industriellen Komplex, seinem lebenslan gen Wunsch, ein Atom-U-Boot zu kommandieren - demnach lag die Entscheidung und die Verantwortung letztlich bei ihm. »Ich würde dazu tendieren, mich an die Standardgefechtsre geln zu halten«, sagte er schließlich zu Trout. »Wenn ich einem Raketenschiff auf die Spur komme und die Raketen an Bord startklar sind, schieße ich.« »Dagegen ist nichts einzuwenden«, stellte Trout fest. »Kapi tän Kugarin«, sagte Gunner, »ich werde mir alles, was Sie gesagt haben, durch den Kopf gehen lassen. Gus, begleiten Sie den Kapitän in meine Kajüte, und bringen Sie die beiden Matrosen her.« Als Trout die Mannschaftsmesse betrat, stand Sorokin mit nacktem Oberkörper da und trat gegen seinen sechsten Her 371
ausforderer an, Billie Stewart. »Tut mir leid, Ihre Party zu stö ren«, sagte der Offizier, »aber der Skipper will sich mit den beiden mal unterhalten. Die übrige Mannschaft wieder auf ihre Posten. Wir befinden uns immer noch im Gefechtszustand.« Ein paar Minuten später betraten Bulgakow und Sorokin die große Kajüte und nahmen Gunner gegenüber Platz. »Wie hei ßen Sie, mein Junge?« fragte der Kapitän Petja Bulgakow. Petja nannte seinen Namen, sagte, woher er stammte, sein Alter und wie lange er schon in der Marine sei. Gunner merkte schnell, dass Bulgakow ihm nicht viel weiterhelfen konnte, und wandte seine Aufmerksamkeit Sorokin zu. Der Steuermanns maat hatte etwas von einem alten Seebären an sich, die Lippen verschlossen, die Augen überall. Gunner hielt ihm die Packung Lucky hin, und beide zünde ten sich eine Zigarette an. »Wie lange sind sie schon bei der Marine?« fragte er in seinem hölzernen Russisch. »Zehn Jahre.« »Die ganze Zeit auf Taifunbooten?« Sorokin nickte und stieß den süßlichen amerikanischen Zigarettenrauch aus. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich im Augenblick ziem lich fremd vorkommen«, meinte Gunner und versuchte damit, den Russen etwas aus seiner Reserve zu locken. Sorokin schaute Gunner fest in die Augen. »Hören Sie, ame rikanischer Kapitän«, sagte er, »mir ist heute mein Schiff unterm Arsch weggesackt, etwas, womit ich nie gerechnet hätte, dass es passieren könnte, aber jetzt hab ich's warm, und ich bin am Leben. Dafür danke ich Ihnen.« »Ja«, meinte Gunner, »aber hundertfünfzig Kameraden von Ihnen sind tot, und ich will herauskriegen, warum.« »Politik, Kapitän, Politik und Scheißkram.« »Das erzählt uns der politische Offizier auch.« Sorokin deutet mit einem Kopfnicken zu Trout und fragte: »Ist der Schwarze da Ihr politischer Offizier?« 372
»Wir haben keine politischen Offiziere in der U.S.Navy. Mr. Trout ist mein zweiter Kommandant.« »Was wollen Sie von mir?« »Warum zerstört Zenko sein eigenes Geschwader?« »Fragen Sie ihn.« »Das kann ich nicht. Er ist nicht bei Bewußtsein. Ich will Ihre Meinung hören.« »Ich habe keine Meinung, Kapitän. Ich weiß nur das, was man mir sagt. Es heißt, Deminow will die Union wiederher stellen und ist bereit, einen Krieg anzuzetteln, um das Land zusammenzuhalten. Ist mir egal. Ich folge nur meinen Befeh len. Wenn Zenko mir befehlen würde, mit dem Schiff nach Moskau zu fahren, würde ich alles dafür tun. Wenn er der Mannschaft befehlen würde, zwanzig Raketen auf New York abzuschießen, würde ich jedem persönlich den Hals umdre hen, der sich dem Befehl widersetzt.« Gunner wandte sich zu Trout. »Da sind wir ja auf einen Hundertprozentigen gestoßen«, meinte er, »ein Tiefwassersegler. Aus dem kriegen wir nichts raus, wenn Zenko ihm nicht ausdrücklich Befehl gibt.« »Wollen Sie ihn trotzdem fragen?« Gunner nickte. »Steuermannsmaat, ich möchte, dass Sie uns helfen, die >Lenin< zu finden.« Sorokin drückte seine Zigarette aus und verschränkte die Arme. »Sie können mich mal«, sagte er trocken. Das Telefon klingelte. Trout hob ab und hörte einen Moment zu. »Zenko ist aufgewacht. Er will Sie sprechen, Skipper«, sagte er. Zenko hatte es geschafft, sich aufzurichten, und hielt einen mit Tee gefüllten Styroporbecher in der Hand. »Dieser Tee ist viel zu schwach«, sagte er, als Gunner den winzigen Raum betrat. »Ihr Amerikaner seid alles andere als vollkommen.« Ein Grinsen ging über Gunners Gesicht. »Wir trinken nicht viel Tee. Wir trinken Kaffee, der ist noch schlimmer.« 373
Gunner ließ den Sanitäter kommen. »Wie steht's mit seinem Bein?« »Ich habe schon schlimmere gesehen. Er wird wieder gesund.« »Okay. Sie können gehen.« Als sie allein waren, musterten sich die beiden minutenlang schweigend. Schließlich fragte Zenko: »Sind Sie derjenige, der mich verfolgt hat?« »Ja.« »Dann sind Sie ein verdammt guter U-Boot-Kapitän. Wir hätten nie gedacht, dass es einem NATO-U-Boot gelingen würde, ins Weiße Meer einzudringen, geschweige denn, wie der zu entkommen. Meinen Glückwunsch.« »In den vergangenen vierundzwanzig Stunden habe ich eine ganze Menge Dinge gesehen, die ich nie für möglich gehalten hätte«, sagte Gunner. »Ihr politischer Offizier hat mir berich tet, Admiral Iwan Deminow habe das Kommando über die >Lenin<, und er habe die Absicht, Rußland anzugreifen.« »Das stimmt«, sagte Zenko. »Ich fürchte, wir sind da in eine häßliche kleine Auseinandersetzung geraten, aber es stimmt.« »Und was ist das Ziel?« »Tiflis, nehme ich an.« »Die Hauptstadt von Georgien? Wieso?« »Ein Warnschuß, um zu zeigen, dass er es ernst meint.« »Ist das eine reine Marineangelegenheit«, fragte Gunner, »oder Teil eines allgemeinen Bürgerkriegs?« »Wissen Sie das nicht?« »Ich frage bloß.« »Deminow versucht einen Putsch«, erklärte Zenko. »Viel leicht sind noch andere daran beteiligt, möglicherweise Flot tenadmiral Walotin, aber über die Lage an Land weiß ich nicht Bescheid. Ich wäre erstaunt, wenn es noch woanders zu Kämpfen gekommen ist. Trotzdem, wenn es Deminow gelingt, den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen, wird eine 374
Militärdiktatur eingesetzt und die allgemeine Mobilmachung angeordnet werden. Dann kommt es zum offenen Straßen krieg.« »Und Sie sind sein Gegner?« »Ich weiß nicht, was Sascha Kugarin Ihnen erzählt hat, aber meine persönliche Meinung ist ganz einfach«, sagte Zenko. »Was den Bürgerkrieg betrifft, oder sonst etwas, worauf ich keinen Einfluß habe, darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich möchte bloß Deminow davon abhalten, die Atomwaffen meiner Flotte gegen unser Land einzusetzen. Eigentlich stimme ich ihm sogar in manchen seiner Ziele zu, aber nicht in den Mitteln. Deswegen habe ich die >Sowjetski Sojus< verfolgt. Malakow hätte die Rakete abgeschossen, aber ich glaube, die Besatzung hat ihn davon abgehalten, obwohl, genau weiß ich das auch nicht. Deminow wird auf jeden Fall schießen, es sei denn, sein Schiff geht unter.« »Ich kann ihn nur versenken, wenn sein Schiff klar macht zum Abschuß«, sagte Gunner. »Jedenfalls war ich bereit, die >Sowjetski Sojus< zu versenken.« Zenko nickte und trank einen Schluck von seinem Tee. »Ich verstehe Ihre Schwierigkeit«, sagte er. »Haben Ihre Sonarope ratoren die >Lenin< aufgespürt?« »Noch nicht.« »Ich bin sicher, Deminow hat Sie bislang auch noch nicht entdeckt. Ihr Schiff ist außergewöhnlich leise.« »Sie haben mich entdeckt.« »Nur weil Sie entschieden hatten, mich zu verfolgen. Wenn Sie in seichtem Wasser schnelle Fahrt machen, dann verursa chen Sie viel Lärm.« Zenko verzog das Gesicht vor Schmerz. »Wollen Sie etwas mehr Morphium?« fragte Gunner. Zenko schüttelte den Kopf. »Es macht mich wie betäubt.« Mit großer Anstrengung richtete er sich auf und zog sich an die Bettkante. »Kapitän«, sagte er, »sagen Sie Ihren Sonarleuten, 375
sie sollen auf die höheren Frequenzen achten. Wenn die >Lenin< unter der Eisdecke schwebt, dann kann man den Mechanismus hören, das es dem Schiff ermöglicht, auf Position zu bleiben. Haben Sie verstanden? Winzige Positionsschrauben drehen sich, und das Geräussch hallt von der Eisdecke wider.« Gunner nahm den Telefonhörer auf und gab Zenkos Beschreibung an Morrison weiter. »Hohe Frequenzen, Skipper?« »Versuchen Sie's, Chief.« »Ich lasse gerade die höheren Frequenzbereiche durchlaufen. Nichts. Nada, Skipper.« »Suchen Sie weiter«, sagte Gunner und legte auf. »Wie ist mein Status?« fragte Zenko. »Bin ich Gefangener?« »Sagen wir, Sie sind unser Gast. Sie und Ihre Männer sind Schiffbrüchige. Ich habe nur nach den allgemein gültigen Richtlinien gehandelt und sie gerettet.« »Ich könnte Ihnen am besten von der Kommandozentrale aus behilflich sein«, bot Zenko an, »aber da würde ich wohl Ihre Sicherheitsbestimmungen gefährden.« »Wie groß ist die maximale Sonarreichweite der >Lenin« Zenkos Antwort kam umgehend. Gunner bombadierte ihn mit technischen Fragen, nutzte seine Russischkenntnisse dabei bis aufs äußerste. Nach wenigen Minuten war ihm klar: Um die »Lenin« mit Torpedos zu versenken, ohne nukleare Gefechtsköpfe, musste er auf 1500 Meter rangehen, nahe genug, um ihr Verteidigungssystem an der Erkennung und Vernichtung der Torpedos mit Attrappen zu hindern. »Unter uns, wir können ihn vernichten«, meinte Zenko. »aber wie sollen wir ihn aufspüren?«
376
37. Kapitel Lenin An Bord der »Lenin« feilte Deminow an dem Text für sein Ultimatum an den russischen Präsidenten und ging anschlie ßend in den Funkraum, um die Schaltkreise für die Dringlich keitsfunkverbindung zu überprüfen. In dem Moment verkün dete ein Funker: »Wir erhalten gerade eine VLF-Nachricht, Kapitän.« »Woher?« »Poljarny.« Deminow dechiffrierte die Buchstabenfolge und las: AN HELD DER MARINE ADMIRAL I.I.DEMINOW, KOMMANDANT DER LENIN STRATEGISCHES RAKE TEN-U-BOOT DES SECHSTEN U-BOOT-GESCHWA DERS VON FLOTTENADMIRAL V.J. WALOTIN. AUFSTÄNDISCFIER STEFAN ZENKO VERNICHTET: TAI FUN GESUNKEN: SOFORT NACH POLJARNY FAHREN. EIN SILBERSTERN WARTET AUF SIE. In der engen schalldichten Dechiffrierkammer brach Demi now in ein langes herzliches Lachen aus. Orden interessierten ihn nicht. Eine Rückkehr als Held nach Poljarny bedeutete Ein willigung in ein System, das zu stürzen er angetreten war. Sein Lebenszweck war die Wiederherstellung der Sowjetunion, nicht das Einheimsen von Orden, die ja doch nichts mehr galten. Auf der »Reno« unterhielten sich Sorokin und Trout in der Sprache der nautischen Karten, nebeneinander standen sie über den Navigationstisch gebeugt. Zenko hielt Gunners Chefsessel besetzt, das gebrochene Bein in Schienen seltsam verkrümmt von sich gestreckt. Kugarin an seiner Seite gab sich redlich Mühe, die unaufhörliche Folge von Befehlen und Bestätigun 377
gen und die anschließende Ausführung durch die Mannschaft für ihn zu übersetzen. Die »Reno« hatte die letzte Position der »Lenin« erreicht und setzte, leise und weiter horchend, mit nur einem Triebwerk und vier Knoten Richtung Norden ihre Fahrt fort. Im Sonar raum suchte Morrison ein breites Frequenzband nach verräte rischen Anzeichen eines U-Boots ab, eine Schraube, ein Loch in den Hintergrundgeräuschen, das hochfrequente Surren des Positionssystems der »Lenin«. Die Sonare konnten nichts ent decken außer den üblichen Eisgeräuschen im oberen und einem unbestimmbaren Knistern im unteren Bereich. »Wie habt ihr das geschafft, dass man eure U-Boote kaum aufspürt?« hänselte Gunner Zenko. Zenko grinste, wobei seine Goldzähne aufblitzten. »Wir haben bei euch abgeguckt«, sagte er. »Ich habe Entwurfspläne von allen U-Booten der U.S.Navy gesehen, seit >Skipjack<. Fragen Sie mich nicht, wie der GRU drangekommen ist, aber ich habe sie gesehen.« Gunner schüttelte ungläubig den Kopf wegen der vielen lee ren Sonarschirme. Weder die »Lenin« noch das bevorstehende Auslaufen der Nordflotte war auf den Schirmen zu erkennen. Zenko fragte sich, ob er Margarita jemals Wiedersehen würde. Er fühlte sich niedergeschlagen. Deminow war in die Weiten des Weißen Meeres geflüchtet. Seine Schiffe waren verschwunden, mit seiner Karriere war es vorbei, sein Leben war ruiniert. Wenn die »Reno« hier heile rauskam, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als mit seiner Frau nach Amerika zu gehen. Rußland schrie um Hilfe in seinem Kopf - im Kernland warteten noch mehr Deminows, Wahnsinnige mit Panzern und Regimentern und Tausenden von taktischen Atomwaffen. Überwältigt von den Schuld- und Reuegefühlen eines Über lebenden, fing er leise an zu weinen. »Wir sind gescheitert, Sascha«, murmelte er. »Wir schaffen es nicht, rechtzeitig zig tausend Quadratkilometer nach ihm abzusuchen. Bei Malakow 378
war das Glück auf unserer Seite, aber jetzt ist unsere Glückssträhne vorbei.« »Wir sind nicht ganz und gar gescheitert, alter Freund«, sagte Kugarin. »Wir sind am Leben und können der Welt berichten, was geschehen ist.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Zenko. »Die Amerikaner glauben uns. Aber wird uns auch das russische Volk glauben?« Im Funkraum setzte eine übermittelte Nachricht den Fern schreiber ratternd in Bewegung. »Funk an Kontrollraum. Erhalten russische VLF-Mel dung.« Eine Minute später präsentierte ein Funker Gunner und Zenko eine in verschlüsseltes Russisch übertragene Meldung. »Wahrscheinlich ein Funkspruch an die >Lenin<«, meinte Zenko, »aber ich kann sie nicht entschlüsseln. Ich tippe mal, dass es ein Befehl zum Auftauchen ist, um Funkkontakt herzu stellen. Oder ein Startbefehl für eine Rakete.« »Von wem?« fragte Gunner. »Der Admiralität, oder wer immer zuerst in Gremicha gelandet ist«, antwortete Zenko. »Wenn die >Lenin< auftaucht und einen Funkspruch abschickt«, meinte Gunner, »wissen wir, wo sie steckt« »Ja«, stimmte Zenko zu. »Alle Maschinen stop«, befahl Gunner umgehend. »Lang same Fahrt zurück. Kontrollraum an Sonar. Eisscanner akti vieren.« »Eisscanner, aye. Er zeigt dünnes Eis an, Kapitän.« »Alle Mann bereitmachen zum Notaufstieg. Leutnant Sharpe, Tomahawk Sieben scharfmachen, Schiffsabwehrkon figuration, nuklearer Sprengsatz.« Sharpe zögerte einen Moment und sagte dann: »Aye, aye. Tomahawk Sieben.« Zenko und Kugarin starrten Gunner ungläubig an. »Atom raketen?« fragte Kurarin auf englisch. 379
»Sie wollen ihn doch vernichtet sehen, oder nicht?« sagte Gunner mit einem strengen Seitenblick. »Ja«, entgegnete Zenko, »aber wenn Sie die Raketenkam mer mit einem konventionellen Gefechtskopf treffen, zünden Sie den Raketentreibstoff und versenken das Schiff.« »Am liebsten würde ich überhaupt nicht schießen«, sagte Gunner, »aber wenn schon, will ich nicht danebenschießen.« »Wenn Sie ein Ziel haben, treffen Sie garantiert, Kapitän.« »Unsere Waffen sind nicht unfehlbar, Admiral. Mit einem konventionellen Sprengkopf könnten wir leicht danebenschie ßen. Sie müssen verstehen; es ist nicht so, als würde ich gerne eine Atomrakete zünden, ich habe nur keine andere Wahl.« »Er hat recht, Stefan«, sagte Kugarin. »Du musst es akzeptieren.« »Leutnant Sharpe«, wiederholte Gunner, »Tomahawk Sie ben scharfmachen.« Die Schraube drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und brachte die »Reno« nach ein paar hundert Metern zum Ste hen. »Sonar an Kontrollraum. Scanner zeigt noch immer dünnes Eis. Einen halben Meter.« »Auftauchen. Alle Ballasttanks aktivieren.« Mit einem scharfen Krachen spaltete die Turmspitze der »Reno« die Eisdecke, und die obere Hälfte des Rumpfes ragte über die Oberfläche. »Kontrollraum an Funk. ECM-Mast ausfahren«, befahl Gunner. »Funkraum hier. Mast fährt aus. Können keine Übermitt lungen erkennen, Skipper.« »Versuchen Sie alle russischen VHF- und UHF-Frequen zen.« »Alle Frequenzen frei, Skipper.« »Radarmast ausfahren.« »Radarmast fährt aus.« 380
»Mit kleiner Leistung absuchen.« Siebenundsechzig Kilometer nordwestlich, an Bord der »Lenin«, gab Deminow ebenfalls Befehl zum Auftauchen. Der Turm kratzte an der Unterseite der Eisdecke und brach durch. »Brückenkommando. Luke öffnen und melden.« Drei Matrosen kletterten auf die Turmspitze und sahen weit und breit nur Eis. Das Deck oberhalb der Raketenkammer war frei von Eisklumpen. »ECM-Mast ausrichten«, befahl Deminow. Das Brückenkommando sah, wie der rotierende Mast über ihre Köpfe hinwegragte. »Radar an Kommandozentrale«, verkündete die Stimme eines überraschten Radaroperators plötzlich, »Ich erkenne amerikanisches Radar, Kapitän. Ich wiederhole, erkenne U.S. Marinefrequenz, Entfernung siebzig Kilometer. Schiffseigen. Von der Oberfläche.« Das geheimnisvolle U-Boot aus Pulonga. Deminow zuckte mit den Achseln. Ein amerikanisches U-Boot würde aus gerin ger Entfernung beobachten, was die amerikanischen Satelliten aus der Luft verfolgten: den Start einer einzigen Rakete mit südlich verlaufender Flugbahn. »An Marinekommunikationssatellit Siebzehn einloggen, Sicherheitssprechfrequenz neun.« »Eingeloggt.« »Schaltkreise öffnen.« »Öffne Schaltkreise.« Ein rotes Blinklicht leuchtete auf dem Funkleitstand auf. Von der Kommandozentrale aus, in Hörweite seiner Offi ziere, sagte Deminow: »Hier sowjetisches Schiff >Lenin<. Rufe Muttergestein Code Eins.« »Hier Muttergestein. Was gibt's, >Lenin<«, ertönte tief aus dem Kreml die Stimme des diensthabenden Offiziers. Die Funkbesatzung des Gefechtsraums der strategischen 381
Raketenstreitkraft in Moskau war auf einen Funkspruch von einem U-Boot nicht vorbereitet. Die Befehlskette von Walotin in Gremicha über Poljarny und die Admiralität in Sankt Peters burg und weiter bis nach Moskau war nicht auf schnelle Reak tion eingerichtet. »Wir haben einen Feuersturm, wiederhole, Feuersturm«, sagte Deminow. »Stellen Sie mich zur Zentrale durch.« Der Dienstoffizier rasselte die Codewörter im Kopf runter: Muttergestein, Feuersturm. Zentrale. Ein atomarer Notfall auf einem Atom-U-Boot, und der Kapitän verlangte den russi schen Präsidenten zu sprechen. Du lieber Himmel. »>Lenin<, Muttergestein hier, einen Moment. Ich stelle Sie durch.« Auf der »Reno« meldete sich der Funkoffizier: »Funk an Kontrollraum. Verschlüsselter russischer Sprechverkehr auf russischem U-Boot, Vogel Siebzehn Kanal neun.« Als Zenko die Zahlen übersetzt wurden, rief er: »Das ist der Direktkanal der strategischen U-Boote zum Präsidenten.« »Kontrollraum an Funk. Frequenz stören«, befahl Gunner. »Okay, Skipper. Mit Vergnügen.« »Versuchen Sie, ihn auf einen normalen Sprechkanal zu zwingen«, sagte Zenko. »Lassen Sie mich mit ihm reden.« »Geben Sie die Frequenz dem Nachrichtenoffizier.« Auf der »Lenin« wartete Deminow endlose Sekunden darauf, dass sein Anruf an den russischen Präsidenten durchgestellt wurde. Der Mann lag entweder schon im Bett, war betrunken oder sonstwie unpäßlich. Plötzlich war nur noch ein Rauschen in der Leitung zu hören. »Funk an Kommandozentrale. Die Frequenz ist gestört.« »Öffnen Sie einen zweiten Kanal. Machen Sie schnell.« »Wir empfangen deutlichen Sprechverkehr auf einer offenen VHF-Leitung, Kapitän«, meldete der Offizier. 382
»Was? Von wem?« »Von dem amerikanischen U-Boot.« »Einfach ignorieren.« »Er gibt sich als Admiral Zenko aus.« Deminow zögerte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dann gab er Befehl: »Stellen Sie durch.« Kurze Zeit später ver nahm er Zenkos Stimme. »Iwan?« »Du bist noch am Leben, Stefan?« »Damit kommst du nicht durch, Iwan. Dein Putsch ist gescheitert.« »Das ist absurd«, sagte Deminow. »Er hat gerade erst ange fangen.« »Deine Funkkanäle sind gestört. Ergib dich. Verlaß das Schiff und steig aus.« »Sprechfrequenz schließen«, befahl Deminow. »Luke zu. Silo Drei öffnen.« An Bord der »Reno« hörte Gunner durch den Lautsprecher: »Funk an Kontrollraum. Russisches Schiff hat Fernwirksy steme aktiviert. Macht Rakete startklar.« Die Grauen Geister auf der »Lenin« leisteten professionelle und effiziente Arbeit. Ein politischer Offizier in der Kommandoabteilung drehte seinen Startschalter, und den Auslöseschalter in der Raketenkammer betätigte Deminow selbst. Er tippte den Startcode in den Feuerleitstand, die Abdeckplatte glitt nach hinten und gab den Blick auf den blauen Startknopf frei. In Gunners Kopf leuchtete ein einziges, grelles blaues Licht auf. Ein U-Boot, siebzig Kilometer entfernt, würde in fünf Minuten eine ballistische Rakete abfeuern, und es gab nur eine Möglichkeit, es davon abzuhalten. »Tomahawk Sieben abfeuern.« Trout drückte den Daumen in den Knopf und verkündete: »Rakete abgeschossen!« 383
Die schlanke Tomahawk Cruise Missile sprang aus der Luke hervor, klappte Flügel und Ruderblatt auf und donnerte mit einer Geschwindigkeit von fast eintausend Stundenkilometern über die Eisdecke auf die »Lenin« zu. Die Kamera des Lenksy stems suchte den Horizont nach den Umrissen eines aus dem Eis aufgetauchten Taifunbootes ab. »Achtung, Rakete im Anflug!« schrie der Radaroffizicr der »Lenin«. »Funkmeßstörsender einschalten.« »Es ist eine Cruise Missile! Kein Radar.« Deminow drückte den blauen Startknopf. Komprimierte Luft begann, die schwere SS-N-20 aus ihrem Silo zu heben. Das Raketenende hob vom Deck ab, und sofort zündete das Triebwerk. »Er hat die Rakete abgeschossen«, verkündete der Radaroffizier der »Reno«. »Tomahawkeinschlag ... jetzt!« Die Cruise Missile schlug mittschiffs in die »Lenin« ein, durchbrach die Kommandozentrale. Deminow hörte den Aufprall und sah, wie sich die Druckhülle nach innen wölbte. Zu spät, Zenko, dachte er. Die Rakete ist abgeschossen. Leistungsstarke Auslösevorrichtungen drückten zwei Kilo Plutonium zu einer kritischen Masse zusammen, und der Atomsprengkopf detonierte. Die »Lenin« explodierte wie ein Stern. Die Sprengladung schoß in die Luft, erwischte die beschleunigende SS-N-20 und löste das Vierzig-Tonnen-Ge schoß in Dampf auf. In der Eisdecke klaffte ein dreihundert Meter breites Loch. Heißer Dampf brodelte an der Oberfläche der verstrahlten Barentssee und stieg als radioaktiv verseuchte Wolke in die Erdatmosphäre. Mit Schallgeschwindigkeit fegte die Druck welle über das Eis, erfaßte vierzig Sekunden nach der Explo sion die »Reno« und rüttelte wie eine geisterhafte Sturmbö an dem Boot. 384
»Kontrollraum an Radar, Melden«, sagte Gunner leise. »Missile zerstört, Kapitän. Das U-Boot ist vom Schirm ver schwunden.« Gunner zündete sich eine Zigarette an. »Mr. Trout«, sagte er, »schicken Sie eine Nachricht nach Norfolk: Russisches Schiff >Lenin< bei Startvorbereitungen für ballistische Rakete zerstört. Und dann bringen Sie uns runter.« »Sie hatten recht«, sagte Zenko. »Vielen Dank.« Die »Reno« sank unter die Eisdecke. Der Schweiß rann Gunner von der Stirn. Er schaute den Russen an, der mit Mühe aufstand - das gebrochene Bein schmerzte und hinderte ihn und vor Gunner salutierte. »Dem Himmel ein Abschiedskuß«, sagte er.
385
38. Kapitel Blitz In einem einzigen kurzen Funkspruch übermittelte die »Reno« eine Meldung an den Kommandanten der Atlantischen U-BootFlotte in Norfolk, Virginia. Als dieser die Meldung mit einem detaillierten Bericht über die Fahrt der »Reno« ins Weiße Meer und die Zerstörung der »Lenin« in Händen hielt, war die Nachricht von einer atomaren Explosion im Weißen Meer über Satellit wie ein Lauffeuer um die ganze Welt gegangen. Die Analyse der Satellitenaufnahmen hatte eindeutig ergeben, dass es sich um eine SS-N-20 handelte. Nach zehn Minuten stand eine Leitung zwischen dem Präsi denten der Vereinigten Staaten und dem russischen Präsiden ten. Beide wußten nicht genau, was passiert war, aber beide begriffen, dass eine weit größere Katastrophe abgewendet wor den war. Die vorherrschenden Winde trugen den radioaktiven Nieder schlag übers Eis direkt nach Gremicha. Radar und Funk in der Marinestation hatten den gesamten Ablauf registriert. Admiral Walotin hatte die Unterhaltung zwischen Zenko und Deminow mitgehört, die Rakete auf dem Radarschirm starten sehen und weit jenseits des Horizonts im Norden den Pilz einer Ato mexplosion beobachtet. Walotin befahl, sein Flugzeug startklar zu machen. Schwei gend fuhr er durch die Marinestation zum Rollfeld und gab dem Piloten Anweisung, nach Moskau zu fliegen. Irgendwo über dem Kandalakschagolf, ausgestreckt auf dem Bett in sei ner luxuriös ausgestatteten Privatkabine, schoß sich Flottenad miral V.J. Walotin in die rechte Schläfe. Die »Reno« fuhr 160 Kilometer Richtung Norden, drehte ab nach Westen und betrat die Norwegische See. Achthundert 386
Kilometer vor der norwegischen Küste fuhr Gunner einen Funkmast aus, machte Routinemeldung und gab seine unge fähre Ankunft in Norfolk durch. Die Messe fiel nur kurz aus. Zenko hielt eine kleine Lobesrede auf die Männer der »Taifun«, die ihr Leben verloren hatten. Gunner übersetzte. »Nimm sie zu Dir, o Herr, unsere Schiffskameraden und Freunde. Amen.« »Amen.« »Chief Morrison hat uns etwas zu sagen«, verkündete Gun ner. Der Chief stellte sich vor die Mannschaft und wandte seinen Blick den Russen zu. »Der Edle Orden der Blaunasen ist aufge rufen, sich an die Verfahrensordnung zu halten.« »Hört, hört«, rief die Mannschaft rauh und kräftig. Morrison holte eine Tube Farbe aus seiner Tasche, drückte einen Streifen auf die Fingerspitzen und malte mit ernstem Gesichtsausdruck einen Strich auf die Nasen der Russen. »Wir alle sind Söhne Neptuns«, stimmte er an. »Kinder der eisigen Tiefe.« »Hört, hört«, fielen die Ordensmitglieder in den Sprechge sang ein und machten den Oberkörper frei. »Holt den Eiskübel«, brüllte Morrison. »Die Leute sollen uns nicht so einfach davonkommen, nur weil sie Russkies sind!« Er baute sich dicht vor Zenko auf, das Gesicht wenige Zentimeter vor der blauen Nase des Russen. »Was bist du, Kir sche?« Zenko schielte auf die Nasenspitze. Er konnte zwar die Worte nicht verstehen, aber er verstand das Ritual. Der Ameri kaner wollte von ihm erfahren, ob er würdig war, ein tüchtiger Seemann der Arktis. Zenko hatte sein ganzes Leben oberhalb des Polarkreises verbracht. Wenn er sich noch einmal beweisen sollte, dann würde er es tun. Er schaute Morrison an und sagte: »Ich kann durch das Eis hindurchsehen.«
387