LEN DEIGHTON
SAHARA Bitland
2001.11.1 0 08:49:10 +01'00'
Roman
Marion von Schröder Verlag in der Econ-Gruppe
Der T...
167 downloads
833 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
LEN DEIGHTON
SAHARA Bitland
2001.11.1 0 08:49:10 +01'00'
Roman
Marion von Schröder Verlag in der Econ-Gruppe
Der Titel, der bei Jonathan Cape, London, erschienenen
Originalausgabe lautet: TWINKLE, TWINKLE, LITTLE SPY Copyright © 1976 by Len Deighton Deutsch von Gudrun Khatschi bearbeitet von Matthias Büttner
1. Auflage 1979 Copyright © 1979 by Marion von Schröder Verlag GmbH, Düsseldorf Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Gesetzt aus der Times der Linotype GmbH Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim Druck und Bindearbeiten: May + Co, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 547 72025 7
Allzusehr liebt' ich die Sterne, darum furcht' ich nicht die Nacht Grabinschrift eines unbekannten Astronomen
KAPITEL l
»Die Luft hier..., riechen Sie mal«, sagte Major Mann. Ich schnupperte. »Wieso — ich rieche überhaupt nichts«, erwiderte ich. »Eben das mein' ich ja«, sagte Mann befriedigt, kratzte sich und grinste. »Einmalig, was?« Tausend Meilen weit mitten in der algerischen Wüste sind Gerüche selten. Da gibt es wenig zu riechen, wenig zu tun - und wenig zu essen. Für Reisende, die nur die staatlichen Hotels am Nordrand der Sahara mit ihren Schwimmbecken und Klimaanlagen kennen, ist Adrar natürlich ein Schock. Hier hat das einzige Hotel den Touristen als Schutz vor der Hitze nichts weiter als unten dicht geschlossene Vorhänge zu bieten; und das Hotelpersonal streitet sich jeden Nachmittag lauthals um ein Plätzchen auf dem kühlen Steinboden der Eingangshalle. Den ganzen Tag über wach blieben sowieso nur Europäer, wie die vier bärtigen Österreicher, die Tag und Nacht im abgedunkelten Speisesaal Karten spielten. Sie warteten auf ein Ersatzteil für ihren Lastwagen: Die Benzinpumpe tat es nicht mehr. Zwischendurch kippten sie flaschenweise lauwarme, zuckrige Cola hinunter. Denn Alkohol gab es hier nicht zu kaufen, und wer es wagte zu rauchen, der bekam gleich einen mißbilligenden Blick zugeworfen. Gestein und Sand strahlten selbst an einem Winterabend wie diesem noch immer die Gluthitze des Wüstentages zurück. Der Himmel war mondlos, doch die Sterne hatten schon eine solche Leuchtkraft, daß wir unsere Fahrzeuge mit der hoch aufgetürmten Ausrüstung, dem Sextanten und dem Schild DEMPSEY DESERT TOURS klar erkennen konnten. Wir hatten auf dem weitläufigen Marktplatz von Adrar geparkt, und Mann machte noch einmal die Runde um die Wagen, weil er sich vergewissern wollte, daß von unseren Vorräten inzwischen nichts abhanden gekommen war. Aber an sich war das so gut wie ausgeschlossen, schließlich standen die Wagen direkt vor der Polizeistation. Mann blieb stehen und lehnte sich gegen den Landrover. Er kramte eine Zigarrenschachtel hervor; nur vier Stumpen waren noch übrig. »Sehen Sie sich bloß mal diese Sterne an!« sagte er. »Ja, die Milchstraße - so deutlich habe ich sie noch nie gesehen. 7
Stellen Sie sich vor: Ein Raumschiff mit einer Geschwindigkeit von hunderttausend Meilen pro Stunde würde etwa sechshundertsiebzig Millionen Jahre benötigen, um die Milchstraße zu durchqueren. Man schätzt sie auf hunderttausend Millionen Sterne.« »So? Wo haben Sie denn das schon wieder her?« fragte Mann gereizt. Er klemmte sich einen Stumpen zwischen die Zähne und fing an, auf ihm herumzukauen. »Aus dem Reader's Digest Atlas.« Mann nickte herablassend. »Und jetzt will ich Ihnen mal was sagen.. ., wenn das so weiter geht, werden wir in ein paar Jahren noch eine Million mehr von diesen Dingern da oben haben- nämlich Spionagesatelliten, die uns beide aus dem Geschäft bringen.« »Weißt du, wieviel Sternlein schnüffeln?« summte ich. Mann versuchte mit einem kurzen Seitenblick auf mich herauszufinden, wie das von mir gemeint war - doch nicht etwa aufsässig? »Gehen wir rein«, sagte er schließlich. Offenbar hatte er sich zu dem Entschluß aufgerafft, den Stumpen noch aufzusparen. Er legte ihn zurück in die Schachtel. »Kommen Sie -ich spendiere Ihnen 'ne Flasche Limonade - von der köstlichen einheimischen Marke.« Er lachte ordinär. Mann kam mir wie ein zu klein geratener, aufgeputzter Gorilla vor - er hatte die gleichen wulstigen Brauen und die tiefliegenden Augen, ähnlich lange Arme und vor allem auch den gleichen Humor. Der Speisesaal war geräumig, und obwohl sich die großen Ventilatoren längst nicht mehr drehten, war er bei weitem der kühlste Raum im Umkreis von einigen hundert Kilometern. Seine Wände waren hellblau getüncht und mit grobgewebten Läufern behängt. Auch der Fußboden war mit diesen gestreiften Teppichen ausgelegt. Doch jeder Schritt auf den Holzdielen über uns dröhnte wie Dschungeltrommeln in den Ohren, und plötzlich setzte dann noch das Prasseln einer Dusche und das laute, unvermeidliche Röhren der altersschwachen Wasserleitung ein. Wir legten das Geld für unsere alkoholfreien Drinks auf die Kasse und bedienten uns selbst. »Dieser verdammte Engländer geht aber auch alle fünf Minuten unter die Dusche!« »Ja, beinahe«, mußte ich zugeben. Mickey Mann, Major a.D. der US-Fernmeldetruppe, CIA-Experte für sowjetische Elektronik und gegenwärtig mein Boß, hatte trotz seiner korrekt gebundenen Krawatte und der langen Hose den ganzen heißen Tag über nicht das geringste Anzeichen von Unbehagen gezeigt. Jetzt musterte er mich 8
heimlich, wie jedesmal, wenn er eine gehässige Bemerkung über einen meiner Landsleute und Kollegen fallengelassen hatte. »Der verdammte Engländer hat eine Metallplatte im Schädel, und ein Bein von ihm ist vollgespickt mit deutschen Granatsplittern«, gab ich ruhig zurück. »Außerdem ist er ein alter Mann - einundsechzig Jahre.« »O.K. - O.K. - lassen Sie bloß die Schnulzen im Plattenschrank ich breche sonst in Tränen aus!« »Würde ich ja, aber Sie tun immer so, als ob der alte Dempsey nicht bis drei zählen könnte. Sie haben wohl vergessen, daß dieser Mann vier Jahre lang bei einer speziellen Sahara-Einheit war und ganze dreißig Jahre, oder wenigstens den größten Teil davon, in Algerien zugebracht hat. Er spricht nicht nur fließend arabisch, sondern auch sämtliche Wüstendialekte. Und falls es in der Sahara zu echten Schwierigkeiten kommen sollte, sind wir völlig auf ihn angewiesen, denn nur er kann mit dem Sextanten richtig umgehen.« Mann gab so etwas wie ein Grunzen von sich. Er saß am Tisch und spielte mit einem Schweizer Militärtaschenmesser herum, das er sich im Souvenirladen des Genfer Flughafens gekauft hatte. »Wenn Wind aufkommt, heute nacht...«, er versuchte vorsichtig das Messer mit der Klingenspitze auf einer Fingerkuppe zu balancieren, »wird der Sand die Straße nach Süden unpassierbar machen. Also, zu der Erkenntnis bin ich auch ohne Ihren Freund Percy gekommen.« »Sogar für den Landrover?« »Erinnern Sie sich an den Dreitonner? Bis zu den Achsen drin.« Er ließ das Messer los, es stand; er hatte es perfekt ausbalanciert. »Der Sand würde einen Landrover glatt unter sich begraben, wenn er schon einen Lastwagen mit drei Achsen zum Einsinken bringt.« »Die haben einfach zuviel Gas gegeben«, meinte ich. »Auf die Tour gräbt man sich natürlich selbst sein Grab.« »Das haben Sie wohl aus dem Handbuch für Pfadfinder - aus dem Kapitel: Wie kampiert man in der Wüste?« bemerkte der Major spöttisch. Er knallte das Taschenmesser auf die Tischplatte - es blieb zu meinem Erstaunen wie eine Eins auf der Spitze stehen. »Wie dem auch sei«, setzte er hinzu: »Woher nehmen wir eigentlich die Gewißheit, daß sich der Iwan ein Fahrzeug mit Vierradantrieb organisieren kann? Womöglich versucht er, in einem Moskwitsch bei uns aufzukreuzen.« »Halten Sie den Russen wirklich für so beschränkt?« »Na, wissen Sie, so weltweit, wie Sie meinen, wird die Intelligenz 9
von Professor Bekuv gar nicht anerkannt«, sagte Mann. »Als er mit der Delegation der russischen Wissenschaftler bei der UNO war, hatte er gerade zwei Artikel über kleine Männchen in fliegenden Untertassen veröffentlicht. Das hat ihn eher in den Ruf eines Spinners gebracht.« »Um einen schrulligen Überläufer würde sich die CIA doch wohl kaum kümmern«, gab ich zu bedenken. »Da ist was dran«, meinte Mann nachdenklich. »Tja, wer weiß vielleicht hat ihn seine Suche nach den kleinen grünen Männchen überhaupt erst zu seiner Arbeit über den Maser angeregt? Denn daran ist nicht zu rütteln: Bekuv gehört zu den bedeutendsten Maserexperten der Welt.« »Mir ist immer noch nicht klar, was so ein Maser ist«, sagte ich. »Haben Sie denn nicht das technische Merkblatt gelesen?« »Doch, zweimal sogar. Trotzdem hab ich nicht viel davon kapiert.« »Was ist denn daran so schwer zu verstehen? >Maser< ist doch einfach nur die Abkürzung für eine Mikrowellen-Implikation durch Stimulierte Emission der Radiation«, belehrte mich Mann. »Darf ich mir das notieren?« »Also gut, Sie Pflaume, noch simpler ausgedrückt: Es handelt sich um die Umwandlung elektromagnetischer Strahlen der verschiedensten Frequenzen auf dem gesamten Meßbereich in eine um das Vielfache verstärkte, kohärente Mikrowellenstrahlung.« »Und hat das nun irgendwas mit dem Laser zu tun?« »Ja, sicher. Ein Maser ist natürlich gleichzeitig auch ein Laser, während ein Laser nicht unbedingt ein Maser sein muß.« »Demnach ist also der Maser so 'ne Art Schneewittchen - die Schönste im ganzen Land -, während der Laser immer um 'ne Nasenlänge zurückliegt, wie die böse Stiefmutter?« »Wenn Ihnen das so leichter eingeht - genauso ist es!« »Aha, und nun bekundet also plötzlich jemand großes Interesse für diesen Maser — sonst wären wir ja nicht hergeschickt worden, um für Bekuv den roten Teppich auszurollen.« »Oder für fliegende Untertassen«, spöttelte Mann. »Wenn aber dieser Rußki doch so ein Spinner ist, wie können Sie ihn dann für fähig halten, unbemerkt aus der sowjetischen wissenschaftlichen Station zu entkommen, ein wüstentüchtiges Transportmittel zu entwenden und uns obendrein mitten in der Sahara ausfindig zu machen — an unserem Treffpunkt morgen?« »Verstehen Sie mich da ja nicht falsch, Kleiner - Bekuv ist ein ganz 10
schön gerissener Bursche. Er mag vielleicht ein Sonderling mit einem Tick für fliegende Untertassen sein - andererseits hat er aber auch Berichte an den KGB geliefert - damals, als er in New York an diesem Affenzirkus von einer UN-Tagung teilgenommen hat. Und er gehört dem >Bund 1924< an - und das will was heißen. Okay, ich weiß, die Öffentlichkeit hält den >Bund< für einen Klub der Ausgeflippten— daß aber ein paar der ganz Großen der wissenschaftlichen Welt zu seinen Mitgliedern zählen, das vergißt man meistens. Bekuv hat sich einen Spaß daraus gemacht, endlose Vorträge über die Debatten sowjetischer Wissenschaftler rund um das galaktische Plasma vom Stapel zu lassen. Rein gar nichts davon hatte Hand und Fuß. Aber dann hörte er wie ein Luchs zu, wenn die anderen Koryphäen ihm mitteilten, was sie ihrerseits mit ihren Radioteleskopen und elektromagnetischen Wellenübermittlungsversuchen an Forschungen geleistet hatten.« Major Mann fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar, das von Tag zu Tag grauer wurde, seitdem er den letzten Tropfen der dunklen Abdecktönung verbraucht hatte. Unbewußt schob er einen Haarstrang über die kahlwerdende Stelle an seinem Hinterkopf. »Professor Bekuv war ein Spitzel—vergessen Sie das nicht. Wie gut er das auch hinter der Fassade eines freien Meinungsaustauschs wissenschaftlicher Erkenntnisse versteckt haben mag - jedenfalls hat er geschickt eine ganze Menge mehr als nur müßiges Gerede über fliegende Untertassen aus seinen Kollegen herausgeholt.« Ich betrachtete Mann interessiert. Ich hatte bei meinen Einsätzen rund um die Erde schon eine Anzahl ähnlicher Typen kennengelernt - von den Shetlandinseln bis nach Alaska und auch auf meinen Reisen durch das kommunistische Algerien: entwurzelte Amerikaner mit sauberen Hemden, einer kranken Leber und einer Aussprache, die durch zu viele Reisen noch undeutlicher geworden war. Im übrigen fand ich es durchaus passend, aus diesem etwa fünfzigjährigen, zähen Burschen einen »Rohölexperten« zu machen - so stand es nämlich in seinem hübschen nagelneuen Paß. »Und wo ist Bekuv der Fehler unterlaufen, durch den er uns aufgefallen ist?« fragte ich. »Dadurch, daß er als Entwicklungshelfer - als Angehöriger des sowjetischen Hilfsprogramms für die afrikanischen Länder - runter nach Mali geschickt wurde - er, der vorher Leiter einer sechsköpfigen wissenschaftlichen Delegation der Russen in New York gewesen war.« Mann griff nach seinem Flachmann. Bevor er seiner zuckrigen Cola einen Schuß Whisky beimengte, schaute er sich prüfend um, ob 11
ihm auch niemand dabei zusah. »Trotzdem — niemand weiß etwas Genaues. Neuerdings vermutet man, daß Bekuv und seine fliegenden Untertassen zu einem ständigen Ärgernis für die Sowjetische Akademie wurden und man ihn einfach für eine Weile strafversetzt hat, damit er sich wieder etwas mehr mit der politischen Realität beschäftigt.« »Ich dachte, die Sowjetische Akademie wäre völlig aus dem Häuschen wegen der fliegenden Untertassen«, sagte ich. »Was hat es denn sonst mit dem großen Radioteleskop auf sich, das sie im Nordkaukasus aufgestellt haben - dem Ratan-600?« »Besser konnten Sie mir den erschreckenden Tiefstand Ihrer Kenntnisse gar nicht beweisen«, gab der Major ätzend zurück. »Es gibt doch wohl einen immens großen Unterschied zwischen der soliden wissenschaftlichen Durchforschung der Weltraumtiefe auf Signale außerterrestrischer Intelligenz und dem unseriösen Zeitvertreib, nach >unbekannten Flugobjekten< Ausschau zu halten - dem Blödsinn, den die Science-fiction-Spinner >Ufologie< nennen.« »Ich bin froh und dankbar, daß Sie mir das alles so genau erklärt haben«, sagte ich und wimmelte Manns Angebot, seine Reiseflasche mitzubenutzen, höflich ab. »So ist das also. Deshalb wurde Bekuv degradiert - ein Stockwerk tiefer ins Auslandhilfsprogramm, was ihn natürlich sehr verbittert haben muß und ihn veranlaßte, zu uns überzulaufen. Ist ja logisch - paßt haargenau zusammen.« Mann goß seinen Drink runter und deutete mir mit einem schiefen Lächeln an, daß simple Feststellungen wie diese in den Kreisen, in denen wir uns bewegten, nur selten ehrliche Komplimente waren. »Stimmt«, sagte er schließlich. »Also dann - ab unter die Dusche mit uns beiden«, sagte ich. Als ich vom Tisch aufstand, bemerkte ich, daß sein Taschenmesser nicht von selbst das Gleichgewicht wahrte - er hatte gar nicht die Klingenspitze auf der Tischplatte balanciert, sondern den winzigen ausklappbaren Schraubenzieher fest ins Holz gerammt.
12
KAPITEL 2
Die Route du Hoggar ist an sich der Hauptverkehrsweg nach Süden; sie führt quer durch die Sahara über InSalah und Tamaurasset bis hinunter zum Atlantik. Aber wir nahmen eine andere Route, die fast parallel verläuft und weit weniger bekannt ist. Sie führt viele Meilen weiter westlich in ziemlich unerschlossene Gebiete Afrikas - in Richtung Gao und Bamako, der Hauptstadt des rings von anderen Ländern eingeschlossenen Mali. Das war übrigens auch die Straße nach Timbuktu. Am nächsten Morgen, vier Uhr fünfzehn, brachen wir vom Hotel auf. Mann und Percy fuhren im Landrover, und ich kam mit Johnny, einem zusätzlichen Fahrer von DEMPSEY DESERT TOURS, in einem VW-Bus hinterher. Im Dämmerlicht der Wüstennacht überquerten wir den Marktplatz von Adrar. Auch die großen Lastzüge mit ihrer Fracht aus Stockfisch und Orangen, die im Konvoi die Wüste passieren, waren fast startklar. Es war verdammt kalt, und die Fahrer hatten sich in Schals eingemummt und Wollmützen übergezogen. Einer der Lastwagenfahrer hob grüßend die Hand, als wir an ihm vorbeifuhren. Wüstenfahrer haben seit eh und je eins gemeinsam - die Frage, ob man heil durchkommt. Man weiß eben nie so ganz genau, ob man nicht plötzlich dringend Hilfe braucht. Wir wandten uns südwärts. Ich folgte einfach den Schlußlichtern des Landrovers. Der Weg bestand nur aus einer festgefahrenen Sandschicht. Nachdem wir einige primitive Schilder zu irgendwelchen entlegenen Oasen hinter uns gelassen hatten, brachten wir es auf eine ganz beachtliche Geschwindigkeit. Stellenweise war Treibsand auf die Piste geraten, und jedesmal, wenn die Schlußlichter des Landrovers auf- und niederhopsten, trat ich rasch auf die Bremse. Zum Glück waren die Verwehungen noch nicht so hoch, daß sie einem die Achse in zwei Teile zerhacken konnten. Langsam hellte sich der metallgraue Himmel auf, und der Horizont brannte glutrot, bis mit einem Mal die Sonne wie ein glühender Spieß eine weißglimmende Scharte in ihn hineintrieb. Westwärts türmten sich die Dünen am Horizont hoch wie ein sturmgepeitschter Ozean, während das Land nach Osten zu flach und strukturlos war - grau und fest wie Zement. Ab und zu fuhren wir an einer Herde mottenzerfressener Kamele vorbei; sie scharrten nach einem kargen Maulvoll 13
Dornbuschzweigen, oder was es sonst noch an spärlichem Gestrüpp gab. Der Verlauf der Piste war hin und wieder durch kleine Steinhaufen markiert. Manchmal sahen wir auch einen einsamen Araber auf seinem dürren Eselchen hocken. Die Viecher waren so krumm und ausgemergelt, daß die Fußsohlen des Reiters fast am Boden schleiften. Einmal fuhren wir an einer arabischen Familie vorbei, die gerade die Lastballen auf den Tragsätteln ihrer drei armseligen Kamele umpackte. Außer uns war kein weiteres Auto unterwegs. Wir waren etwa drei Stunden Fahrt von Adrar entfernt, als die Piste plötzlich aufhörte. Das heißt, sechs verbeulte Öltonnen blockierten auf einmal die Strecke, und ein sonnengebleichtes Holzschild verhieß, ab hier gäbe es eine Umleitung, und es sei von nun an den Reifenspuren zu folgen. Der Landrover holperte also als erster von der Piste und verursachte ein wahres Sandgestöber, als er über trügerische Lagen von Treibsand schlingerte. Meine ziemlich abgenutzten Reifen schafften es noch so eben, und ich fuhr vorsichtig auf dem abwechslungsreichen Muster der Reifenspuren hinterher. Ich folgte nach Möglichkeit dicht auf, damit uns später das Abschleppen wenigstens nicht allzuviel Zeit kostete, denn ich machte mir nichts vor - wenn, dann war ich derjenige, der irgendwann steckenblieb. Die da vorne mit ihrem Vierradantrieb kamen inzwischen spielend zurecht. Die Umleitung war so ungefähr alle hundert Meter durch eine alte öltonne gekennzeichnet. Ein paar von ihnen waren umgeweht und weit von ihrer ursprünglichen Position weggerollt, zwei hatte der Treibsand fast unter sich begraben. Es war daher tatsächlich leichter, wenn man sich einfach an die Wagenspuren hielt. Nach etwa acht Kilometern hielt der Landrover an, Mann stieg aus und kam zu mir nach hinten. Inzwischen war es taghell geworden, und ich konnte trotz Sonnenbrille nur noch mit zusammengekniffenen Augen in das vom Sand reflektierte, grelle Licht blinzeln. Obwohl es noch früh am Morgen war, bekam man, wenn man hielt, die Gluthitze der Sonne auf der Stelle zu spüren. Und dazu stieg mir noch der Geruch von erhitztem Gummi, von verdunstetem Benzin und der Duft von Major Manns Gesichtswasser in die Nase. »Wie weit schätzen Sie's seit der letzten Tonne?« fragte der Major. »Es werden ein paar hundert Meter sein.« »Glaub' ich auch. Und vor uns kann ich keine mehr entdecken. Am besten, Sie bleiben hier, und ich grase inzwischen die Gegend ab.« »Warum folgen wir nicht den Reifenspuren?« 14
»Letzte Worte am Rande des Grabes!« sagte Mann mit bühnenreifem Pathos. »Fährten wie die können einen irgendwohin ins Sandmeer führen, und dann steht man plötzlich da, an der Nase herumgeführt - wenn sie nämlich auf einmal abdrehen und wieder zurückgehen.« »Wieso aber dann die vielen Reifenspuren?« »Vielleicht ein altes, aufgegebenes Ölsuchercamp oder ein Depot des Straßenbautrupps.« Er trat mit dem Fuß auf einen der Reifenabdrücke. »Die Spuren sehen aber noch ganz frisch aus«, meinte ich. »Ja«, sagte Mann gedehnt und versetzte der zusammengepappten Furche einen kräftigen Tritt. Sie war zementhart. »... Wie die Spuren von den Panzerketten, die Sie im Süden von Libyen finden. Die stammen noch von Rommel.« Ich sah auf die Uhr. Mann schien sich Sorgen zu machen. »Hoffentlich ist diese verdammte Umleitung vom Süden aus auch gut markiert, sonst fährt der Iwan noch glatt an uns vorbei, während wir in dieser lausigen Sanduhrfabrik wie bestellt und nicht abgeholt herumstehen.« Nun stieg auch Percy Dempsey aus dem Landrover und kam zu uns nach hinten gehumpelt. Er gab mit seinem Schlapphut, der wollenen Strickweste, den knielangen Shorts und den Gamaschen eine urkomische Figur ab. »Du meine Güte!« brummte Mann, »jetzt kommt auch noch Miss Marple.« »Ich frage mich, mein Bester...«, fing der Alte an und stockte. Offenbar fiel es ihm schwer, unsere Namen zu behalten. Sicher deshalb, weil wir sie ständig wechselten. »Mr... Anthony, mein' ich. Machen Sie sich vielleicht Gedanken wegen der Piste vor uns?« »Ja«, sagte ich. Mein Name war im Augenblick tatsächlich Anthony - Frederick L. Anthony, Tourist. »Soll ich uns einen Tee aufgießen?« erkundigte sich Dempsey. Er mußte blinzeln. Seine Gesichtszüge waren weich und babyhaft verschwommen, wie das bei alten Männergesichtern häufig vorkommt. Jetzt, wo er die Sonnenbrille abgenommen hatte, fingen seine blauen Augen gleich an zu tränen. Mann sagte grob: »Nur nicht nervös werden, Tantchen. Wir kriegen das schon hin.« »Wenn Sie's hinkriegen wollen -«, sagte der Alte, »die Öltonnenmarkierung geht weiter.« 15
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Mann blasiert. »Ich kann sie sehen«, erwiderte Dempsey. »Ach ja?« sagte Mann ironisch. »Sie können sie also sehen. Wie kommt's, daß ich sie nicht sehen kann und mein Kollege auch nicht?« »Ja nun, ich hab' ja auch das Fernglas dazu benutzt«, murmelte der Alte wie zur Entschuldigung. »Verdammt noch mal! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, daß Sie eins haben?« brüllte Mann den Alten an. »Aber ich habe es Ihnen doch direkt hinter Oran angeboten. Da haben Sie gesagt, Sie hätten nicht vor, in die Oper zu gehen.« »Los — weiter«, kommandierte Mann. »Ich möchte das Lager aufgeschlagen haben, bevor die Sonne im Zenit steht. Außerdem müssen wir einen erhöhten Platz suchen, an dem uns der Iwan von der Piste her sofort entdecken kann.« Der DEMPSEY DESERT TOURS-VW-Bus war mit zwei seitlichen Zeltplanen ausgestattet, die ausgespannt für eine ansehnlich große, schattige Fläche sorgten. Ferner ließ sich über das Busdach ein Nylontuch zurren, wodurch verhindert wurde, daß die Sonne direkt auf die Busoberfläche prallte. Andernfalls wäre der Wagen für uns zu der Art Backofen geworden, wie jeder hohle Metallkörper in der Wüstensonne. Die grellorange Zeltplane war meilenweit sichtbar. So war es denn auch für den Russen kein Problem, uns auszumachen. Er war Nonstop von einem südlich von Timbuktu am Niger gelegenen Schürfgelände hergefahren, fraglos eine furchtbar anstrengende Fahrt über weite Strecken schlecht markierter Pisten. Er hatte es schließlich in der brennenden Hitze des Frühnachmittages bis zu uns geschafft. Der Russe hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht und war etwa vierzig Jahre alt. Er war ziemlich groß und hager, sein kurzgeschnittenes Haar zeigte noch keine Spur von Grau. Der dunkle Anzug war ausgebeult und verstaubt - das Jackett achtlos über die breiten Schultern geworfen. Auch das rotkarierte Hemd war staubbedeckt, und der in die Brusttasche geklemmte goldene Kugelschreiber sah deshalb regelrecht verdächtig aus. Seine blaßblauen Augen waren verklebt von puderfeinem Wüstenstaub. Das ganze Gesicht war tief zerfurcht und wies merkwürdige bläuliche Male auf, wie sie bei akuten Erschöpfungszuständen des öfteren auftreten. Seine Arme waren muskulös und dunkelbraun gebrannt. Major Mann öffnete die Nylonklappe und deutete auf die hinteren Fahrgastsitze, vor die eine Tischplatte montiert war. Trotz der getön16
ten Fensterscheiben fühlten sich die Plastikbezüge der Sitze verdammt heiß an. Ich setzte mich dem Russen gegenüber und ließ ihn nicht aus den Augen. Er nahm seine Sonnenbrille ab, gähnte herzhaft und kratzte sich mit dem Autoschlüssel an der Nase. Es war ganz typisch für Manns gerissene Denkweise und für seine taktische Schulung, daß er dem Russen von vornherein keine Gelegenheit gab, sich auszuruhen. Er schob ihm sofort ein Glas und eine mit Eiswürfeln gefüllte Thermosflasche zu. Dann folgte ein vernehmliches Knacken, denn Mann hatte das Verschlußsiegel einer Halbliter-Whiskyflasche aufgebrochen und goß unserm Gast ein großzügiges Quantum ein. Der Russe blickte den Major mit einem dünnen Lächeln an, rückte den Whisky beiseite und klaubte sich statt dessen eine Handvoll Eis aus der Thermosflasche. Damit rieb er sich langsam das Gesicht ab. »Zeigen Sie mir erst mal Ihre I.D.«, sagte Mann. Um sein Gesicht zu wahren, schenkte er nachträglich sich selbst und mir etwas Whisky ein. »Was ist das-I.D.?« »Ihre IDentifikation, Ihr Paß - oder eine Bürgschaft - oder sonst was.« Der Russe zog seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und entnahm ihr einen an den Rändern arg mitgenommenen braunen Pappdeckel, auf den sein Photo geheftet war. Er überreichte ihn dem Major, der ihn an mich weitergab. Es war ein Passierschein für die Militärzone entlang der Grenze zwischen Mali und Niger. Eine detaillierte Beschreibung aller charakteristischen Merkmale wiesen den Russen als Professor Andrej Mikhail Bekuv aus. Bezeichnend war, daß dieser Paß in russisch, chinesisch und auch in arabisch abgefaßt war. Ich gab ihn an Bekuv zurück. »Haben Sie das vereinbarte Photo meiner Frau?« »Das war ein zu großes Sicherheitsrisiko«, behauptete Mann. Er nahm einen Schluck von seinem Drink, doch als er ihn wieder absetzte, schien der Whisky nicht weniger geworden zu sein. Professor Bekuv schloß die Augen. »Fünfzehn Monate sind es nun, seit ich sie zuletzt gesehen habe.« Mann rutschte peinlich berührt auf seinem Sitz herum. »Bis wir in London angekommen sind, ist sie längst da.« Bekuv erwiderte mit betonter Gelassenheit, als müsse er jetzt gewaltsam einen Wutanfall unterdrücken: »Eure Leute haben mir ein Photo von ihr versprochen - ein Photo von ihr auf dem Trafalgar Square.« 17
»Das war...« »Das war unsere Abmachung!« sagte Bekuv scharf, »und Sie - Sie haben sie nicht eingehalten!« »Weil sie nicht in Kopenhagen angekommen ist«, rechtfertigte sich Mann. Bekuv blieb eine ganze Zeit lang stumm. »War sie auf dem Schiff von Leningrad?« fragte er schließlich. »Mein Gott, Sie werden doch wohl die Passagierliste überprüft haben!« »Wir wissen nur, daß sie mit dem vereinbarten Flugzeug nicht in London eingetroffen ist.« »Sie lügen!« stieß Bekuv hervor. »Ich kenne Leute wie Sie. Meine Heimat ist voll von solchen Leuten. Sie hatten doch bestimmt Ihre Männer dort, die sie in Empfang nehmen sollten!« »Sie wird noch kommen«, sagte Major Mann. »Ich komme nicht mit - ohne sie!« »Sie wird noch kommen«, wiederholte Mann. »Wahrscheinlich ist sie längst da.« »Nein!« widersprach Bekuv zornig. »Damit laß ich mich nicht abspeisen! « Er drehte sich auf seinem Sitz um, in Richtung auf die Straße, die tausend Meilen zurück nach Timbuktu und zu den Russen führte. Trotz der getönten Scheiben war der Sand nur eine einzige, gleißende Grelle. Bekuv nahm seine ramponierte Brille, die er neben seine Wagenschlüssel auf den Tisch gelegt hatte. Er fingerte nervös an ihr herum und steckte sie schließlich in seine Brusttasche. »Ohne meine Frau bin ich ein Nichts«, murmelte er gedankenverloren. »Ohne sie ist das Leben nicht lebenswert für mich!« Mann machte einen neuen Versuch: »Ihre Forschungen müssen weitergeführt werden, Herr Professor. Der Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation an der Universität New York ermöglicht Ihnen jederzeit den Zugang zum Joddrell-Bank-Radioteleskop, dem schwenkbaren 250-Fuß-Parabolspiegelteleskop - aber das kennen Sie ja längst. Doch außerdem will die Universität für Sie einen Termin für das 1000 Fuß hohe, feststehende Radioteleskop in den Bergen von Puerto Rico nahe Arecibo vereinbaren.« Bekuv gab keine Antwort, machte dagegen auch keine Anstalten aufzubrechen. Ich sah zu Mann hinüber, der mir seinerseits in die Pupillen starrte, mit einem eiskalten Blick, der augenscheinlich darauf angelegt war, mich zu einem leblosen Etwas einzufrieren. Jetzt ging mir überhaupt erst ein Licht auf, daß Manns abgeschmackte Witze über die kleinen Männchen in den fliegenden Untertassen gar keine Witze waren. 18
»Es gibt weit und breit niemanden, der diese Art Kosmologie so beherrscht wie Sie«, fuhr der Major fast beschwörend fort. »Selbst wenn es Ihnen nicht gelänge, mit Lebewesen aus anderen Sonnensystemen Kontakt aufzunehmen, hätten Sie immerhin dadurch auch einen definitiven Nachweis erbracht, und wir könnten das Ganze ad acta legen.« Bekuv blickte herablassend auf den Major nieder. »Es gibt bereits jetzt genügend Beweise, um selbst den größten Einfaltspinsel zu überzeugen.« »Professor. Sie wissen, daß dieser Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation erst vor ganz kurzer Zeit eingerichtet wurde. Falls Sie ihn nicht annehmen, wird von neuem ein erbitterter Kampf um ihn ausbrechen... und das nächste Mal werden wahrscheinlich die Skeptiker ihren Kandidaten durchbringen. Professor Chataway und der alte Delahousse zum Beispiel würden ja nur zu gern die Gelegenheit beim Schöpf packen und nachweisen, daß nirgendwo sonst im Weltraum Leben existiert.« »Hornochsen«, sagte Bekuv geringschätzig. Mann verzog das Gesicht und zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Bekuv griff sein altes Thema wieder auf: »Ich habe eine wunderschöne Frau ... durch all die Jahre hat sie treu zu mir gestanden ... die anbetungswürdige Mutter meines vielversprechenden Sohnes, der bald auf die Universität kommt. Nichts in der Welt bedeutet mir mehr als diese beiden!« Mann nippte wieder an seinem Drink, doch diesmal trank er wirklich. »Angenommen, Sie kehren jetzt nach Timbuktu zurück, und Ihre Frau wartet inzwischen in London auf Sie - was dann, ha?« »Das Risiko muß ich auf mich nehmen«, sagte Bekuv verbissen. Er glitt von seinem Platz und stieg aus dem VW. Doch dann blieb er stehen. Das Licht der Nylonzeltbahnen gab ihm ein grelloranges Aussehen. Mann zuckte mit keinem Muskel. »Machen Sie mir doch nichts vor, Bekuv!« rief er. »Sie haben ja gar nicht vor zurückzufahren. Sie haben Ihre Entscheidung schon vor Jahren getroffen - und jetzt haben Sie überhaupt keine Wahl mehr! Los - gehen Sie doch zurück zu Ihren werten Genossen - man wird Sie wie ein Tier behandeln und mitten in der Wüste anpflocken, und man wird Sie bestimmt nicht nur mit angeschimmelten Piroschki beschießen! « Bekuv schwieg. 19
»He - Sie haben Ihre Autoschlüssel bei uns liegenlassen, Professor!« Mann versuchte es nun ganz drastisch — mit Hohn. Bekuv fing die Schlüssel, die ihm Mann zuwarf, schweigend auf, und doch tat er immer noch nicht den entscheidenden Schritt aus dem Schatten. Das plötzliche Summen einer Fliege hörte sich in der absoluten Stille unnatürlich laut an. »Herr Professor, es liegt doch auch in unserem Interesse, daß Sie und Ihre Familie zusammen sind«, schaltete ich mich ein. Bekuv zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Sand aus den Augenwinkeln. Er gab mit keinem Zeichen zu erkennen, daß er mich gehört hatte. »Wenn ich Sie beide recht verstanden habe, dann gibt es doch für Sie als Wissenschaftler noch verdammt viel zu tun. Ich würde jede Wette eingehen, daß die amerikanische Regierung alles in ihrer Macht Stehende beitragen wird, um Sie in jeder Hinsicht zufriedenzustellen.« »Eben, nur das in ihrer Macht Stehende...«, erwiderte Bekuv trübe. »Es gibt immer Mittel und Wege«, fuhr ich fort. »Es gibt sowohl den offiziellen Austausch wie auch Ausreisen unter der Hand. Und denken Sie an die Geheimabkommen zwischen den Regierungen, über die wir kaum je etwas erfahren. Die Handelsabkommen, die Anleihen, die Getreidelieferungen ... all diese Vereinbarungen enthalten eine Menge von Geheimklauseln, die eigens den Austausch von Menschen zum Inhalt haben.« Bekuv bohrte die Spitze seines Schnürstiefels in den Sand und begann, ein kompliziertes Muster sich kreuzender Linien zu zeichnen. Mann beugte sich im Sitz vor und legte begütigend die Hand auf des Russen Schulter. Der aber zuckte gereizt zurück. »Sehen Sie es doch mal von unserer Warte, Professor«, sagte Mann mit einer Stimme, die er selber wahrscheinlich für äußerst sympathisch und einschmeichelnd hielt. »Wenn Ihre Frau freikommt, dann werden wir sie Ihnen postwendend zuführen - ist doch klar, oder nicht? So besehen können Sie also getrost mit uns fahren. Falls sie jedoch gefangengehalten wird ...«, er machte eine vielsagende Pause, »... da wäre es ja purer Wahnsinn von Ihnen umzukehren.« Er klopfte nochmals aufmunternd auf Bekuvs Schulter. »So ist nun mal die Lage, Professor.« »Merkwürdig - diese Woche war kein Brief von ihr dabei«, sagte Bekuv sichtlich beunruhigt. 20
Der Major blickte ihn erwartungsvoll an, äußerte sich aber nicht dazu. Ich kannte das alles schon. Menschen wie Bekuv sind denkbar ungeeignet für die Praktiken des Frontenwechsels — ganz zu schweigen von dem Streß eines jahrelangen konspirativen Verhaltens, das ständig die Sicherheit seiner Familie gefährdet hatte. Die zermürbende Fahrt durch die Sahara hatte ihm den Rest gegeben; die Grenze seiner Belastbarkeit war erreicht. Sein größter Fehler war freilich, daß er inbrünstig auf den Augenblick zu warten schien, wo alles vorbei war - wo alles hinter ihm lag; ein Mann vom Fach würde sich diese Illusion nie erlauben. »Oh Katrinka!« flüsterte Bekuv verzweifelt vor sich hin, »und du, mein geliebter Sohn! Was habe ich euch beiden angetan? Was hab' ich nur getan?« Ich regte mich nicht, auch Mann nicht. Bekuv stieß die Nylonkappe auf und trat hinaus in die brütende Hitze. Dort blieb er lange Zeit unbeweglich stehen.
21
KAPITEL 3
Als nächstes Problem stellte sich uns nun die Frage, wie wir Bekuvs fahrbaren Untersatz am besten loswerden konnten. Es handelte sich um einen russischen Geländewagen mit Vierradantrieb, Typ GAZ 59 A, ein mehr als nur leicht aus dem Rahmen fallendes Vehikel - Planenverdeck, kantig-plumpe Karosserie, deutlich durch die Sitzbezüge hindurchscheinende Sprungfedern. Verbuddeln ließ er sich beim besten Willen nicht, und wenn wir ihn in Brand gesteckt hätten, würden wir wahrscheinlich erst recht die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt haben. Und das wollten wir ja unter allen Umständen vermeiden. Mit einem Monstrum von Schraubenschlüssel ging Mann zuerst den Nummernschildern zu Leibe und zerkratzte sodann auch das ovale Kennzeichen »R.M.M.« bis zur Unleserlichkeit, denn das hatte jeder Beschatter - sogar einer, der nicht lesen konnte - als Emblem von Mali erkannt. Major Mann traute Percy Dempsey nicht über den Weg und schon gar nicht Johnny, dem arabischen Fahrer, der das Grinsen nicht sein lassen konnte. Aber weil er selber auf keine bessere Idee kam, mußte er schließlich Johnnys Vorschlag, ihn den GAZ bei der Rückfahrt chauffieren zu lassen, wohl oder übel akzeptieren. Johnny fuhr also als erster los, und wir, das heißt Mann und ich mit Bekuv im Fond, folgten als nächste im VW-Bus. Percy bildete mit seinem alten Landrover die Nachhut. Während der Fahrt konnte es Mann nicht lassen, sich ständig prüfend nach Bekuv umzudrehen und im Rückspiegel nach Percy Ausschau zu halten. Die ganze Zeit über nörgelte er an Percy herum - der sei sein Geld nicht wert gewesen, behauptete er -, ich hätte ihn viel zu sehr in den Himmel gehoben. »Verdammte Hitze!« war alles, was ich darauf antwortete. Mann hatte für mich nur ein verächtliches Knurren übrig. Ihm erschien es wichtiger, Bekuv im Auge zu behalten - der übrigens ganz friedlich auf dem Rücksitz eingeschlafen war. »Wenn wir den GAZ doch nur hier irgendwo stehenlassen könnten«, brummte er vor sich hin. »Aber da würde die Polizei garantiert sofort Nachforschungen anstellen, ob da nicht jemand vor Durst eingegangen ist. Andererseits - je weiter wir nach Norden kommen, desto häufiger werden wir mit dieser blöden Kiste Aufsehen erregen.« 22
»Was soll's? Ignorieren wir es einfach.« »Und was ist mit der Polizei? Mir ist in ganz Algerien noch kein Auto von diesem komischen Typ unter die Augen gekommen.« »Keine Sorge«, sagte ich. »Percy hat hier draußen in der Wüste schon solche Dinge geschaukelt, als Rommel noch in den Strampelhöschen steckte.« »Müßt ihr verdammten Engländer immer wie Pech und Schwefel zusammenhalten? « »Warum übernehmen Sie nicht mal zur Abwechslung das Steuer, Major Mann?« Durch das Anhalten und Platzwechseln gerieten wir etwas in Verzug, und Johnny bekam ein paar Kilometer Vorsprung. An sich war der GAZ alles andere als ein Rennwagen. Überhaupt - er unterschied sich nur wenig von dem guten alten Ford-Modell A, das ganz offenbar als Vorlage gedient hatte. Selbst für unseren VW war es kein Problem, ihn einzuholen. Und tatsächlich kam der GAZ nach fünfundzwanzig Minuten Fahrzeit wieder in Sichtweite: Er war gerade dabei, im Schrittempo eine sanft ansteigende Düne hochzukriechen. Mann ließ, sozusagen als Lebenszeichen, die Scheinwerfer einmal kurz aufleuchten. »In dem Abstand bleiben wir von jetzt an«, sagte er und lehnte sich zufrieden zurück. Hinter uns kam nun auch Percy und sein Landrover in unser Blickfeld. »Ist Percy eigentlich so was wie 'ne Tunte?« fragte Mann aus heiterem Himmel. »Ein Homo? Sie meinen: Percy und Johnny? ... Kann ich mir nicht mal in den wildesten Träumen vorstellen.« »Doch -Percy und Johnny«, beharrte Mann. »Klingt das nicht sowieso irgendwie nach einer schmuddeligen, kleinen Bar in Tanger?« »So? Macht's das einfacher, sie sich als Homosexuelle vorzustellen?« »Solange sie ihre Arbeit ordentlich verrichten«, erwiderte Mann, »können sie von mir aus machen, was sie wollen.« Abermals schaute er prüfend in den Rückspiegel, zog gleichzeitig eine Schachtel Camel aus seiner Brusttasche, angelte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an - und das alles mit einer Hand. Er sog mit einem tiefen Atemzug den Rauch ein, und nachdem er ihn wieder ausgestoßen hatte, sprach er mürrisch: »Wenn wir bloß schon auf dieser gottverdammten Landepiste wären, da könnten sie von mir aus machen, was sie wollen.« Und mit seinen großen, knochigen Fäusten umklammerte er das Lenkrad. »Sollen sie doch - von mir aus!« 23
Ich mußte lächeln. Der erste Hinweis über einen möglichen Seitenwechsel Bekuvs war nämlich von einem britischen Wissenschaftler gekommen, und das bedeutete, daß der britische Nachrichtendienst sich nun mit der Klebrigkeit einer Napfschnecke an den Überläufer anheften würde. Und eben mich hatte man zur Napfschnecke gemacht - und Mann schien wohl was gegen Napfschnecken zu haben. »Vielleicht hätten wir doch lieber die Nacht abwarten sollen«, meinte ich, mehr um ein anderes Gespräch in Gang zu bringen als aus einer ernsthaften Überlegung heraus. »Und wie hätten wir das der Polizei erklärt? Etwa, daß wir auf Nachtfalter Jagd gemacht hätten?« »Ach was, kein Mensch würde von der DEMPSEY DESERT TOURS eine Erklärung verlangen. Wahrscheinlich ist gerade nachts, wenn sich's abgekühlt hat, auf diesen Strecken mehr Verkehr als sonst. Wir wären höchstens laufend mit Fußgängern und Kamelen zusammengestoßen.« »Mensch - sehn Sie sich das an - Herrgottnochmal!« Ich folgte Manns starr geradeaus gerichtetem Blick, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches vor uns entdecken. Ehe ich gewahr wurde, daß er in Wirklichkeit in den Rückspiegel sah, war es bereits zu spät. Mann riß das Lenkrad herum, und wir steuerten bedrohlich schwankend in einer dichten Staubwolke aus der Spur. Der Aufschrei hinter uns besagte, daß Bekuv etwas unsanft geweckt worden war: Er war vom Rücksitz mit aller Wucht auf den Boden geschleudert worden. Ich hatte das Düsentriebwerk des Hubschraubers schon im Ohr, ehe ich ihn sichtete. Vor meinen Augen sah ich den GAZ plötzlich in einem Sandgestöber und in einem grellen Aufblitzen verschwinden unmittelbar darauf entstand an der gleichen Stelle ein seltsames Gebilde, das wie ein gigantischer, schmelzender Tropfen ausschaute, der langsam stärker und stärker anschwoll, bis er auf einmal zu einem glutroten Ballon wurde - in dem Moment, als sich der Treibstoff in einer gewaltigen Detonation entzündete. Der aufsteigende Qualm wurde von den rotierenden Klingen des Hubschraubers erfaßt und in einzelne Wölkchen zerhackt, die nun wie ein indianisches Rauchsignal eins über dem anderen in der Luft hingen. Und dann ging das winselnde Geknatter des Hubschraubers in ein tuckerndes Dröhnen über - er war im Abstand von ein paar knappen Metern über uns hinweggefegt. Die Plexiglasblase blitzte kurz in der Sonne auf, um Haaresbreite 24
verfehlten die säbelnden Rotorspitzen eine Düne: Der Helikopter war in Schräglage in die Kurve gegangen. Sekunden später war er außer Sicht. Als mir das Motorengedröhn von neuem in den Ohren donnerte, lag ich bereits vierzig Meter von der Piste entfernt flach auf dem Bauch und versuchte, meinen Kopf in den Sand zu graben. Direkt über der Straße machte der Pilot eine rechtwinklige Schwenkung auf den brennenden GAZ zu. Er umkreiste ihn mehrmals, drehte ab, kam wieder zurück, bis er von der ordnungsgemäßen Ausführung seines Auftrags restlos überzeugt war. In einer eleganten Kehrtwendung nach Osten entzog er sich bei seiner geringen Höhe in Sekundenschnelle unseren Blicken. »Wie haben Sie das so schnell gemerkt?« fragte ich Mann beeindruckt. »Die Art, wie er über der Piste hing. Ich kenne Kampfhubschrauber von Vietnam her. Ich wußte sofort, was er vorhatte.« Er schüttelte den Staub von seiner Hose. »Alles O.K., Professor?« Bekuv nickte - allerdings irgendwie ein wenig irritiert, fand ich. Offenbar hatte dieses Ereignis ihm die letzte Hoffnung genommen, durch seine reumütige Rückkehr nach Mali und mit einer kleinen, freundlichen Geste alles rückgängig machen zu können. »Wir sollten schleunigst machen, daß wir hier wegkommen, sonst haben wir die Polizei am Hals. Die wird hier nämlich bestimmt bald aufkreuzen und in dem Schutthaufen da vorn das Unterste zuoberst kehren.« Mann schaltete in den ersten Gang zurück, als wir durch den dichten Qualm und den penetranten Gestank von Gummi und verkohltem Fleisch hindurchfuhren. Bekuv und ich sahen zurück, um uns zu vergewissern, daß es für den Jungen nicht die geringste Überlebenschance gegeben hatte. Mann gab sofort wieder Gas, doch ich bemerkte, daß der Landrover hinter uns zum Stehen kam. Der Major blickte kurz in den Rückspiegel: er hatte es also auch gesehen. »Wozu hält der alte Trottel?« Ich gab keine Antwort. »Haben Sie Watte in den Ohren, oder was ist?« »Er will den Jungen beerdigen.« »Du liebe Zeit! Hat Dempsey den Verstand verloren?« »Das ist in der Wüste von alters her so üblich.« »Und wenn die Polente ihn bei seiner feierlichen Grabrede erwischt, was dann? Meinen Sie, das wäre alles, was Dempsey ihnen erzählen wird - daß er das Brauchtum aufrechterhält?« 25
»Davon bin ich überzeugt.« »Ach, Quatsch! Sie werden ihn tüchtig in die Zange nehmen. Sie werden den Alten auf den Kopf stellen, bis ihm zum Schluß ein paar Sachen aus dem Mund fallen - ich wette, nicht nur die Zahnprothese, sondern was noch?« »Nichts!« »Doch - wir!« sagte Mann und starrte weiter in den Rückspiegel. »Dieser blöde, sentimentale Homo!« »Schätzungsweise haben wir noch zwanzig Kilometer bis zur Abzweigung in Richtung Landepiste.« »Na -wer weiß? Vielleicht hat der Kampfhubschrauber unserm Pilotenfritzen einen solchen Schreck eingejagt, daß er jetzt die Hose bis oben hin voll hat und zurück nach Marokko abgeschwirrt ist.« »Wahrscheinlich ist unser Mann im Moment überhaupt erst dabei, sein Logbuch zu fälschen. Schließlich ist er bloß knapp fünfzehn Minuten Flugzeit von uns entfernt.« »O.K., O.K., O.K.«, sagte der Major gereizt. »Kommen Sie mir jetzt bloß nicht noch mit den dämlichen Dünkirchen-Durchhalteparolen!« »Denken Sie bitte rechtzeitig an die Markierung für die Abzweigung, es waren ja nur ein paar aufeinandergepackte Steine, und der Treibsand ist weitergewandert, seit wir hier heruntergefahren sind.« »Übrigens war kein Spaten im Landrover«, sagte Mann. »Glauben Sie, er begräbt ihn mit bloßen Händen?« »Bitte etwas langsamer - der Steinhaufen ist hier vorn auf meiner Seite.« Vom Nordwesten her hüpfte über die Dünen ein Flugzeug heran. Es war eine der Dornier-Skyservant-Kurzstreckenmaschinen, die als Charterflugzeug marokkanische Verwaltungsbeamte, Politiker und Techniker hinunter zu den nahe der algerischen Grenze gelegenen Phosphatgruben flogen. Denn der international ansteigende Bedarf an Phosphaten hatte den Abbau zum wichtigsten Industriezweig Marokkos werden lassen. Der Pilot setzte gleich beim ersten Landeversuch gut auf. Immerhin war es ja sein Job, auf jedem Fleckchen Erde - genauer, auf jedem Stück freien und festen Gelände - sicher niedergehen zu können. Die Maschine rollte erst direkt auf uns zu, dann ließ der Pilot den Backbordmotor aufheulen, so daß sich das Flugzeug um seine eigne Achse drehte und auf diese Weise gleich in der richtigen Position für 26
den Abflug zum Stehen kam. »Vorsicht, der Propellersog!« brüllte Mann gegen den Wind, als wäre er um mich besorgt. Manns Vater war Flugkapitän gewesen, und er selbst besaß ein Zehnjahresabonnement für die Aviation Week. Flugzeuge zeigten ihn denn auch immer sogleich von seiner allerschlimmsten Seite. Zunächst einmal klopfte er liebevoll auf die Metallaußenhaut, ehe er durch die Luke ins Innere kletterte. »Klassedinger, diese Dorniers!« rief er. »Haben Sie überhaupt schon mal früher eine zu Gesicht bekommen?« »Doch«, sagte ich. »1940 hat mein Onkel George eine runtergeholt.« »Schon gut«, sagte Major Mann indigniert. »Machen Sie wenigstens die Luke dicht.« (Nichts ging dem Major über seine Kenntnisse im Flugzeugbau.) »Los, los, machen Sie schon!« rief der Pilot, ein junger Schwede mit einem für meine Begriffe zu lang herabhängendem Schnauzbart. Auf seinem Bizeps war »Elsa« tätowiert. Ich stieß Bekuv unsanft vor mir her. Es waren etwa ein Dutzend Sitze da, und Mann hatte sich natürlich direkt neben der Tür niedergelassen. »Beeilung!« drängte der Schwede. »Ich muß auf meine Route zurück und Zeit aufholen!« »Casablanca?« fragte Mann. »Ja - Bauchtanz und Hammel-Couscous inbegriffen!« schrie der Schwede und riß die Gashebel auf volle Leistung, noch ehe ich dazu gekommen war, die Luke zu schließen. Die Startbahn, von der jetzt die Dornier steil aufwärts stieg, befand sich auf einem Gelände, das die Leute vom Straßenbau irgendwann mal aufgegeben hatten. Nun standen nur noch leere Öltonnen haufenweise aufeinandergestapelt herum, dazu ein paar Markiersteine und die nackten Fahrgestelle zweier Traktoren - alles andere hatten die Beduinen weggeschleppt. Aber - da sah ich noch etwas - einen nagelneuen, roten VW-Bus mit der Aufschrift DEMPSEY DESERT TOURS. Er stand in der flachen Senke eines Wadis. »Mist! Jetzt ist uns dieser Landeplatz auch flötengegangen«, sagte Mann erbittert. »Sobald die Polizei den VW entdeckt hat, wird sie das Gelände auf ewig überwachen.« »Dempsey wird den Bus vorher weggeschafft haben«, sagte ich. »Für Sie, ist Ihr Freund Percy wohl so ein richtiger kleiner Lawrence von Arabien, was?« 27
»Jedenfalls wäre er auch allein mit diesem Auftrag fertig geworden«, erwiderte ich. »Es war reiner Blödsinn, uns auch noch herunterzuschicken.« »Also wirklich! Manchmal sind Sie dümmer, als die Polizei erlaubt!« schnaubte Mann und blickte hastig nach hinten, um sicherzugehen, daß Bekuv nicht zuhörte. »Wieso denn?« »Mensch, überlegen Sie doch mal—falls der Professor wegen seiner besseren Hälfte sich die Seele aus dem Leib schreit - da wird sich einer von uns beiden wohl oder übel auf den Weg machen müssen und sie ihm besorgen.« »Dafür haben sie doch ihre Spezialisten«, meinte ich. »Ach Quatsch! Dafür brauchen sie jemanden, der den Professor kennt — das wissen Sie Naivling genauso gut wie ich — einen, der hier mit von der Partie gewesen ist, der mit der Frau darüber sprechen kann, damit ihr das Ganze auch überzeugend vorkommt!« »Na, dann gute Nacht - ganz schön lebensgefährlich«, sagte ich. »Allerdings!« bestätigte Mann und nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Denn wenn die Russen solche Dinger drehen und mit einem Kampfhubschrauber am hellichten Tag in dieser gottverlassenen Gegend herumkutschieren und ein Auto so mir nichts, dir nichts in die Luft sprengen, dann werden sie natürlich auch die gute Madame Bekuv nicht ganz ohne Widerstand aus ihren Klauen lassen.« »Aber wahrscheinlich haben sie jetzt Bekuv als tot abgeschrieben«, gab ich ihm zu bedenken. Der Major drehte sich um und warf einen prüfenden Blick auf den Professor, der sich total erschöpft auf einen Sitz geworfen hatte - sein Kopf hing kraftlos über die Lehne nach hinten, seine Augen waren geschlossen, der Mund offen. »Sieht fast so aus«, bemerkte er trokken. Inzwischen war der Hohe Atlas sichtbar. Die Berge waren fast ganz in den Glutflimmer getaucht, der von der ausgebleichten Wüste unter uns aufstieg. Doch darüber konnte man die schneebedeckten Spitzen der einzelnen Gipfel deutlich unterscheiden. Demnach mußten wir also auch bald den Atlantik sehen.
28
KAPITEL 4
Ich habe nie herausbekommen, ob die Universität New York je gemerkt hat, daß sie um den Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation bereichert worden war. Eines ließ sich jedoch in dieser Hinsicht mit Bestimmtheit feststellen - Presseberichte und Analysen darüber gab es nicht. Das Gebäude, in dem wir uns häuslich niedergelassen hatten, befand sich auf dem Washington Square, den Universitätsgebäuden genau gegenüber, wenn auch Baumgruppen den direkten Blick dorthin ziemlich versperrten. Es war bereits seit vielen Jahren unter dem Decknamen einer Grundstücksagentur im Besitz der CIA und hatte schon für die verschiedensten Geheimvorhaben hergehalten, einschließlich außerehelicher Sonderaktionen gewisser Abteilungsleiter des Amtes. Rein technisch gesehen trug Major Mann die Verantwortung für Bekuvs Sicherheit, was natürlich eine höfliche Umschreibung für Schutzhaft war, worauf übrigens Bekuv selber mindestens dreimal täglich anspielte. Aber gerade Manns offenkundige Rolle als offizieller Aufpasser machte es andererseits erst möglich, Bekuv ganz davon zu überzeugen, daß es sich bei dem Team, dem er hier Rede und Antwort stand, um Akademiker der NYU handelte - als solche nämlich hatten sich seine Befrager vor ihm ausgegeben. Die erste Hürde war für sie, Bekuv, so weit es ging, von der Diskussion über die administrative Seite seines zukünftigen Amtes abzulenken. Natürlich liegt es einfach in der Natur der Sache, daß sich ein Akademiker aus der Sowjetunion eben für alles interessiert - angefangen von der Frage, wieviel Quadratmeter sein Institut umfassen würde, welche Gelder zur Verfügung stünden, wieviel Büropersonal ihm zustehe, wie weit sein Stimmeinfluß innerhalb der Universität reiche, bis hin zu der Frage, wieviel Studenten und Jungakademiker sich bei ihm immatrikulieren dürften. Das Frageteam allerdings wurde von Tag zu Tag mißmutiger. Der Verdacht, daß wissenschaftliche Forschungsergebnisse ständig weiter in den Osten durchsickerten, drückte sich in immer zahlreicheren, krittelnden Memoranden aus, die sich in meiner Akte »Geheimsachen-Eingang« stapelten. Als Assistenten des Professors getarnt, hatten sich die Ermittler eigentlich erhofft, durch die Eigenart irgendeiner Einzelinformation, 29
die Bekuv erwähnen würde, auf die amerikanische Quelle zu stoßen, die von den Russen angezapft worden war. Mit diesem Ziel vor Augen hatte man vor langem eigens für diesen Zweck beauftragte Angestellte in den verschiedensten Forschungszentren der Regierung mit Daten versorgt, die sich alle nur in einem geringfügigen Punkt voneinander unterschieden. Aber bis jetzt war nicht eine einzige dieser in Umlauf gesetzten Informationen über des Professors Lippen gekommen. Und nun hatte Professor Bekuv zudem noch - trotz heftigen Protests seitens seiner »Mitarbeiter« - ganz plötzlich von heute auf morgen den Beginn der Weihnachtsferien anberaumt! Mit schroffer Unnachgiebigkeit hatte er sie zu Weib und Kind nach Hause geschickt! Und kaum war er allein, machte er sich sofort mit Feuereifer daran, einen Berg aus elektronischem Gerumpel zu entwerfen, das Millionen Dollar kosten und mit absoluter Sicherheit endlich den Kontakt mit einer der Super-Zivilisationen herstellen würde, die alle rund um uns im All saßen und nur darauf warteten, angesprochen zu werden. Gegen Donnerstag abend fiel auf die Bäume des Washington Square der erste Schnee, und die Werbefachleute der Radio- und Fernsehstationen fingen an, die verbliebene Zeit für den Weihnachtseinkauf nur noch nach Stunden zu berechnen. Mann sah mir ungeduldig beim Rasieren zu. Ich war dabei, mich für eine dieser berühmt-berüchtigten Park-Avenue-Partys in der Wohnung eines höheren Sicherheitsbeamten der Vereinten Nationen fertig zu machen. Eine hastig hingekritzelte Fußnote am unteren Rand der gravierten Einladungskarte hatte mir nahegelegt, auch den »gezähmten Iwan« mitzubringen. Das hatte natürlich den Major in fieberhafte Unruhe versetzt. »Sagen Sie - hat dieser Tony Nowak Ihnen auch wirklich die Einladung über die Britische Botschaft in Washington geschickt?« fragte er mich jetzt bereits zum vierten oder fünften Male. »Mein Gott, Sie kennen doch Tony«, seufzte ich. »Man kann ihm nachsagen, was man will - aber taktlos ist er ganz bestimmt nicht. Schließlich hat er langjährige UN-Erfahrung.« »Dieser verdammte Verein von schwatzhaften Wichtigtuern!« »Glauben Sie etwa, daß Nowak über das Haus auf dem Washington Square Bescheid weiß?« »Auf jeden Fall müssen wir Bekuv morgen woanders unterbringen.« »Tony hält den Mund, wenn's drauf ankommt.« 30
»Tony interessiert mich einen Scheißdreck«, sagte der Major grob. »Aber wenn er in Erfahrung gebracht hat, daß wir beide hier sind, da können Sie Gift drauf nehmen, daß es mindestens ein Dutzend von UN-Vertretern ebenfalls weiß.« »Na gut, wie war's also mit Kalifornien - U.C.L.A. - University College of Los Angeles?« Ich wühlte durch meine letzten weißen Leinenhemden. Im übrigen trug ich neuerdings der Einfachheit halber bügelfreie Hemden - jetzt schwammen sie schon seit Tagen zu Dutzenden in der Badewanne. »Und wie war's mit Sing-Sing?« schlug der Major vor. »Ich glaube nämlich, daß Bekuv uns hinhält - vorsätzlich hinhält und vorhat, so lange mit uns Katz und Maus zu spielen, bis wir ihm seine Katrinka nachgeliefert haben.« »Dann glauben wir ja mal beide dasselbe, zur Abwechslung«, sagte ich und knöpfte das Hemd zu, zu dem ich eine vornehme Klubkrawatte ausgewählt hatte. Denn wahrscheinlich würde es die Sorte Party sein, bei der man am besten »auf englisch« ankam. »Ich werde diesem Scheißkerl von Russen noch eigenhändig die Zehennägel ausreißen!« drohte der Major grollend. »Übertreiben Sie doch nicht immer so schrecklich«, sagte ich. »Mit solchen Scherzen verdirbt man sich nur seinen guten Ruf.« Ich hatte mittlerweile eine fast krankhafte Freude daran, den Major zu provozieren. Er reagierte auch diesmal so, wie ich's mir vorgestellt hatte: Er drückte seine Zigarre aus und steckte sie anschließend in seinen Jim-Beam-Bourbon - wenn man ihn kannte, wußte man, wie nah das an Selbstzerfleischung grenzte. Ich fuhr mit dem Kamm durchs Haar - Mann sah auf seine Uhr. »Vielleicht lassen Sie heute mal ausnahmsweise die falschen Wimpern weg«, sagte er. »Um acht Uhr müssen wir Bessie abholen.« Bessie, Major Manns Frau, sah aus wie zwanzig, obwohl sie sicher auf die vierzig zuging. Sie war groß und schlank und hatte einen frischen Teint, der wohl noch aus ihrer Kindheit auf einer Farm in Wisconsin stammte. Wenn auch das Wort »Schönheit« etwas zu hoch gegriffen war, so sah sie doch immerhin so zauberhaft aus, daß sich alle Männer nach ihr umdrehten, als sie das Appartement in der Park Avenue betrat, wo die Party stattfand. Tony begrüßte uns herzlich und nahm geschickt drei gefüllte Champagnergläser vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners. »Also, jetzt kann die Party steigen«, sagte Tony Nowak - oder Nowak der Polack, wie ihn ein gewisser Bekanntenkreis boshaft titulier31
te, der für seinen resoluten, manchmal sogar gewissermaßen mit Nagelstiefeln gewaltsam erzwungenen Aufstieg von der Gosse bis in die sogenannte bessere Gesellschaft kein rechtes Verständnis aufbrachte. Denn Antony Nowaks Stellung beim UNO-Sicherheitsdienst bestand nicht etwa darin, daß er mit einer Schirmmütze im Foyer stand und mit einem kleinen Metallspürgerät die Handkoffer kontrollierte - nein, Tony hatte ein sechsstelliges Jahreseinkommen, ein Büro mit drei Fenstern und Blick auf den Hast River und obendrein einen ganzen Stall von Bürokräften, die in seinem Namen laufend Briefe in dreifacher Ausführung tippten - kurz, er war, im UN-Jargon ausgedrückt, ein Senkrechtstarter. »Also, jetzt kann die Party ja steigen«, wiederholte Tony noch einmal. Er küßte Bessie, nahm Mann den Hut ab und versetzte mir einen Boxhieb auf den Arm. »Schön, daß ihr kommen konntet Gott, seid ihr Kerle braun geworden in Miami!« Ich nickte höflich, und Major Mann versuchte ein Lächeln, das ihm jedoch mißlang. Es blieb ihm im Moment nichts weiter übrig, als seine Nase ins Champagnerglas zu stecken. »Man munkelt, du willst dich pensionieren lassen, Tony«, sagte Bessie. »Na, du müßtest es doch wohl besser wissen - daß ich noch längst nicht zum alten Eisen gehöre!« Er blinzelte ihr zu. »Vorsicht, Tony!« lachte Bessie. »Oder legst du's etwa darauf an, daß mein Alter Wind davon bekommt?« »Und wenn schon, du warst schließlich mutterseelenallein, während er sich in Miami herumgetrieben hat, wie man sieht«, konterte Tony. »Nur Höhensonne«, sagte der Major steif. »Von Bloomingdales, vierundfünfzig Dollar neunundneunzig, zusammen mit drei Sonnenbrillen.« »Dann haben Sie mich ganz schön reingelegt. Ich hätte eher gedacht, die Farbe wäre aufgespritzt.« Hinter uns ertönte ein melodisches Klingeln, und ein Dienstmädchen öffnete die Tür. Tony hielt noch immer Bessie liebevoll am Arm, doch als er die neuen Gäste zu Gesicht bekam, ließ er von ihr ab und strahlte: »Ah - meine Freunde vom Sekretariat!« »Los, gehen Sie schon, sonst verpassen Sie noch die High-Snobiety da hinten«, sagte der Major spöttisch. »Ich habe den Eindruck, daß Liz Taylor dringend Ihre Hilfe braucht.« »Sie wären da freilich nicht ganz der Richtige«, grinste Tony. Ahn32
lich flotte Komplimente pflegte er immer ins Gespräch einzuflechten, wenn er nicht gerade mit dem Aufzählen prominenter Gäste beschäftigt war, die tatsächlich seine Partiex frequentierten. »Mir ist schleierhaft, wieso er uns eingeladen hat«, sagte ich kopfschüttelnd zu Mann. Mann knurrte nur. »Oder sind wir >geschäftlich< hier?« »Warum - wollen Sie Überstunden bezahlt kriegen?« »Ich will nur wissen, was los ist.« Aus einer dunklen Ecke des Vestibüls drang die Art von schleppender Klaviermusik zu uns herüber, die dem Pianisten zwischen den Takten Zeit für einen Schluck Martini läßt. Mann war inzwischen bis zu dem chinesischen Wandschirm geschlendert, der das Foyer vom Speisezimmer trennte. Dort blieb er stehen, um sich einen Stumpen anzuzünden. Er ließ sich Zeit, so daß wir in aller Ruhe Umschau halten konnten. »Verhandlungen«, sagte der Major leise. »Verhandlungen - wer mit wem?« »Eben«, erwiderte Mann und sog an seinem Stumpen. Dann packte er mit eisenhartem Griff meinen Arm und erzählte mir übergangslos von irgendwelchen Leuten, die er schon von früheren Parties her kannte. Das Speisezimmer war vollständig ausgeräumt worden, und man hatte sechs Backgammon-Tische aufgestellt, an denen stumme Spieler im Gedränge der Zuschauer konzentriert um hohe Einsätze würfelten. Ein dichter Menschenhaufen umstand einen Spieltisch ganz hinten im Raum, an dem ein ältlicher Fabrikant von Ultraschall-Einbruchsalarmanlagen und eine atemberaubende, rothaarige Schönheit sich schweigend gegenübersaßen. »Das ist der Typ von Frau, der mich reizen könnte«, seufzte Mann. Bessie gab ihm einen sanften Rippenstoß. »Und so was wagt er vor mir zu sagen!« wandte sie sich an mich. »Stoß mich nicht, wenn ich französischen Champagner schlürfe«, protestierte der Major. »Na warte - wenn du einheimischen trinkst...«, drohte Bessie. Inzwischen war uns Tony mit einer Zweiliter-Champagnerflasche gefolgt und begann, uns allen die Gläser randvoll nachzugießen. Dabei summte er gut gelaunt die Melodie von »Alligator Crawl« vor sich hin - übrigens weit schwungvoller, als der Pianist es je zustande gebracht hätte - und verstieg sich plötzlich sogar zu einer komischen, kleinen Stepeinlage, bevor er daranging, weiter Gläser nachzufüllen. 33
»Tonys Aufmerksamkeit heute ist ja kaum zu überbieten«, meinte ich. »Er wird einfach Angst haben, euch zwei aus den Augen zu verlieren«, erwiderte Bessie. »Wahrscheinlich liegt ihm die Erinnerung noch im Magen, wie ihr damals mit den betrunkenen Musikern aus dem Village in seine vornehme Party hineingeplatzt seid und sie Knall auf Fall in eine Orgie verwandelt habt.« »Trotzdem - ich bleibe dabei, daß es Tonys Vetter Stephan war, dieser dreckige kleine Doppelagent, der die Spaghetti ins Klavier gekippt hat — und nicht wir«, verteidigte sich Mann. Bessie lächelte maliziös und deutete mit dem Finger auf mich: »Das letzte Mal, als wir dieses Thema anschnitten, bist du der Sündenbock gewesen.« Mann setzte ein Vampirgesicht auf und tat, als wolle er nach Bessies Kehle schnappen. »Ach, immer diese leeren Versprechungen!« sagte Bessie und drehte sich nach Tony um. Sie schaute ihm zu, wie er sich gewandt von einem Gast zum anderen schlängelte. Mann betrat das Speisezimmer, und ich folgte ihm. Der Raum war chinesisch ausgestattet - Laternen, vergoldete Buddhas und kostbare Miniaturen, auf denen sich orientalische Pärchen in akrobatischen Stellungen umschlangen - aber natürlich war das Ganze von hohem Niveau. »Die da hinten ist Red Bancroft«, flüsterte Mann und hielt seinen Blick starr auf die rothaarige Schöne gerichtet. »Sie ist internationale Klasse - geben Sie gut acht!« Er drängte sich, mit mir im Schlepptau, rücksichtslos durch die Menge der Zuschauer, bis er einen Platz ergattert hatte, von wo wir das Spiel genau beobachten konnten. Wir blieben stehen und schwiegen. Wenn die junge Dame ihr Spiel extra verzögerte, dann ging das hier weit, sehr weit über das hinaus, was ich unter Backgammon verstand, wo man möglichst jeden ungedeckten Stein des Gegners abschießt und im übrigen macht, daß man sein Zielfeld erreicht. Die Rothaarige dagegen ließ ihre Steine einzeln stehen und bot sich damit ihrem Gegner praktisch an. Vielleicht war das ihre Methode, den ändern aus ihrem Zielfeld zu locken. Andererseits schien sie nicht daran zu denken, es durch Häuser oder Bänder dichtzumachen. Ich fand ihr Spiel eigentlich planlos, denn ihre Steine waren über das ganze Spielfeld verteilt — alle ungedeckt. Zwei waren bereits abgeschossen worden, sie mußte sie also erst wieder ins Spiel bringen, bevor sie weiterspielen konnte. Was Manns Bemerkung betraf - nun, ich hielt ihre Taktik eher für ziemlich dilettantisch. Die Rothaarige lächelte, als ihr bejahrter Gegner nach dem Ein34
satzwürfel griff und ihn zwischen seinen Fingern drehte und wendete, als könne er dadurch seine Gewinnchancen abtasten. Endlich setzte er ihn. Hinter mir hörte ich Geraune - die Menge war überrascht, wie hoch er gesetzt hatte. Wenn die Rothaarige jetzt vielleicht auch bestürzt war, sie ließ es sich jedenfalls nicht anmerken. Ihr Lächeln war jedoch um eine Spur zu sorglos und hielt sich um eine Spur zu lange auf ihrem hübschen Gesicht. Freilich gehört neben Geschick genausoviel Glück wie Bluff zum Backgammon, und die Rothaarige tat nun wie gelangweilt und gähnte und hob die Hand, um es zu verbergen. Diese kleine Geste brachte übrigens ihre Figur recht vorteilhaft zur Geltung. Dann nickte sie zustimmend. Der ältere Herr schüttelte die Würfel noch länger und heftiger als vorher, und ich bemerkte, daß sich seine Lippen bewegten - wie zu einem Gebet. Er hielt den Atem an, als die Würfel über das Brett rollten. Wenn es ein Gebet gewesen war, dann wurde es prompt erhört - Doppel-Sechs! Er schaute die Rothaarige von unten her an. Sie lächelte so, als gehöre das zu ihrem Plan. Der Mann starrte lange überlegend aufs Spielfeld, ehe er seine Steine bewegte. Sie nahm die Würfel und warf sie achtlos hin, und doch veränderte sich ihre Spielweise von diesem Augenblick an ganz drastisch. Das Zielfeld ihres Gegners war noch völlig frei, sie konnte also ohne weiteres ihre beiden geschlagenen Steine plazieren. Mit dem nächsten Wurf begann sie ihr eignes Zierfeld, in das sie scheinbar planlos einzelne Steine hineingebracht hatte, korrekt auszubauen. Eine Vier und eine Drei - das war alles, was sie brauchte, um alle sechs Plätze zu besetzen. Und damit hatte sie ihren Gegner blockiert. Nun hätte er dringend einen hohen Wurf benötigt, aber zu diesem Zeitpunkt schienen auch Gebete nichts mehr zu nützen, denn sie hatte jetzt das Spiel, Wurf für Wurf, für sich allein. Ihr Gegner zündete sich mit gekünstelter Umständlichkeit eine Zigarre an und mußte eine Zeitlang hilflos zusehen, wie das Spiel zu ihren Gunsten weiterlief. Erst als sie mit dem Abnehmen der Steine begann, konnte er sich wieder einschalten. Jetzt nahm sie ihrerseits den Einsatzwürfel in die Hand, und sie erhöhte - auch das gehörte zu ihrer Taktik. Der Mann sah auf die Würfel herunter und dann zu den Gesichtern seiner Freunde, die inzwischen Wetten auf ihn abgeschlossen hatten. Er grinste und gab durch ein zögerndes Nicken zu verstehen, daß er mit der Erhöhung des Einsatzes einverstanden war, obwohl ihm sicher klar war, daß nur ein paar hohe Augen im Doppel ihn jetzt noch retten konnten. Er packte 35
die Würfel und schüttelte sie frenetisch. Als sie zum Stillstand gekommen waren, zeigten sie eine Fünf und eine Eins. Er seufzte. Er hatte nicht einmal alle Steine im Zielfeld. Die Rothaarige warf eine Doppel-Fünf. Mit diesem Wurf und fünf vorher abgehobenen Steinen hatte sie das Spiel praktisch beendet. Er gab sich geschlagen. Sie lächelte, als sie die tausend Dollar in Hundertdollarscheinen in ihre krokodillederne Brieftasche mit echter Goldfassung steckte. Die Zuschauer verzogen sich. Die Rothaarige blickte zu Bessie hoch und lächelte, und dann strahlte sie auch Major Mann an. Sie hätte durchaus als Orientalin gelten können, wenn nicht ihr zarter, irischer Teint gewesen wäre. Sie hatte hohe, breite Backenknochen und einen etwas zu großen Mund. Ihre um eine Nuance zu weit auseinanderliegenden Augen waren mandelförmig, und wenn sie lächelte, wurden sie zu schmalen Schlitzen. Dieses Lächeln war es, das mir immer gegenwärtig blieb, auch als alles andere von ihr in meiner Erinnerung schon verblaßt war. Es war seltsam und irgendwie unergründlich - oft belustigt, manchmal auch geringschätzig, aber deshalb nicht weniger verführerisch, wie ich später zu meinem Leidwesen erfahren mußte. Sie hatte ein teures, in herbstlichen Farben gestreiftes Strickkleid an, und an ihren Ohrläppchen hingen winzige Ohrringe aus Jade, die genau zu ihrer Augenfarbe paßten. Bessie kam mit ihr zu mir herüber - ich hatte mich inzwischen zum Champagner und zum Büfett durchgezwängt. Kurz darauf ließ uns Bessie allein, und die junge Dame deutete auf meine Pizza und meinte: »Davon setzt man sofort Speck an.« »Tja, alles, was ich mag, scheint dick zu machen.« »Alles?« »Nun ja, so ungefähr das meiste«, sagte ich. »Übrigens, meinen Glückwunsch - Sie haben großartig gespielt.« Sie holte ein Päckchen mit Mentholzigaretten heraus und steckte sich eine zwischen die Lippen. Ich gab ihr Feuer. »Danke für das Kompliment. Aber einen Moment lang hat mich mein Gegner ganz schön aus der Fassung gebracht, kann ich Ihnen sagen.« »Das hab' ich gemerkt«, erwiderte ich. »Als Sie gegähnt haben.« »Ja, das machen die Nerven. Was hab' ich nicht schon alles versucht, mir das abzugewöhnen!« »Ach seien Sie doch froh«, sagte ich. »Es gibt nämlich auch Leute, die fangen an zu lachen, wenn die Nerven mit ihnen durchgehen.« 36
»Sagen Sie bloß - Sie lachen, wenn Sie die Nerven verlieren.« »Mein Anwalt hat mir geraten, im Augenblick keine Aussage zu machen«, sagte ich geschraubt. »Gott, wie schrecklich britisch! Meinen schwachen Punkt durchschauen Sie auf Anhieb, aber aus dem Ihren müssen Sie gleich ein Geheimnis machen!« »Bin ich nun in Ihren Augen ein männlicher Chauvinist?« »Es verringert Ihre Chancen«, sagte sie. Bald darauf ertappte sie sich schon wieder dabei, wie sie ein Gähnen unterdrückte. Allmählich amüsierte ich mich. »Kennen Sie die Manns schon lange?« lenkte ich ab. »Bessie habe ich vor vier Jahren in einem Yogakurs kennengelernt - sie wollte abnehmen, und ich versuchte, mir das Gähnen abzugewöhnen.« »Jetzt machen Sie Witze.« »Stimmt. Ich habe mit Yoga angefangen, weil...« Sie stockte und schien von der Erinnerung schmerzlich berührt zu sein. »Einmal kam ich etwas früher als sonst nach Hause, und da bin ich einer Bande von jugendlichen Einbrechern in die Arme gelaufen. Sie haben mich zusammengeschlagen - ich verlor zum Schluß das Bewußtsein. Als ich dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bin ich eben auf diese Yogafarm gefahren, um mich noch etwas zu erholen. Und Bessie war zur selben Zeit da.« »Und wie sind Sie zum Backgammon gekommen?« »Durch meinen Vater. Er war ein echter Könner. Einmal ist er in Illinois ins Meisterschafts-Semifinale gekommen - tatsächlich große Klasse. Und ich habe mit Backgammon fast mein ganzes Studium finanziert. Vor drei Jahren bin ich dann ins Profilager übergewechselt. Auf diese Weise kann ich, von Turnier zu Turnier, fast die ganze Welt bereisen - es ist ja nicht saisonbedingt. Und Geld steckt darin - Geld wie Heu, denn es ist nun mal das Spiel der oberen Zehntausend.« Sie seufzte leicht. »Nun, das war vor drei Jahren - aber inzwischen habe ich lausige Zeiten hinter mir. Und ein lausiges Jahr in Seattle ist, weiß Gott, wirklich lausig, das können Sie mir glauben. Und was treiben Sie so?« »Nichts von Bedeutung.« »Na, Bessie hat mir da was ganz anderes erzählt.« »Und ich hab' gedacht, sie war' ein guter Kumpel!« »Natürlich nur Ihre guten Seiten - zum Beispiel, daß Sie Engländer sind.« 37
»Ach wirklich? Seit wann wird das denn bei den Backgammonspielern aus Illinois zu den Vorzügen gerechnet?« »Sie und Bessies Mann arbeiten zusammen in der Abteilung für Wirtschaftsanalyse bei einer Bank im Zentrum, von der ich allerdings nie gehört habe. Außerdem -« Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ach, hören Sie auf«, sagte ich. »Das ist ja nicht auszuhalten!« »Ihre Familie ist auch hier?« Sie begann jetzt mit mir ganz ungeniert zu flirten; ich hatte ganz vergessen, wie gern ich so etwas manchmal hatte. »Nein«, sagte ich. »Aber Weihnachten werden Sie doch wenigstens mit Ihrer Familie verbringen?« »Nein.« »Aber das ist ja schrecklich!« Impulsiv legte sie ihre Hand auf meinen Arm. »Ich habe keine nahen Verwandten mehr«, bekannte ich. Sie lächelte. »Ich wollte Bessie nicht danach fragen. Sie ist nämlich darauf aus, Ehen zu stiften.« »Was ist daran so schlimm?« »Einfach, daß ich kein Glück in der Liebe habe - nur Glück im Spiel.« »Und wo sind Sie zu Hause?« »Mein Zuhause - das besteht aus einem mittelgroßen SamsoniteKoffer.« »Ach ja... diese Adresse kenne ich auch recht gut. Wieso ausgerechnet New York?« Sie lächelte ein wenig. Ihre blendendweißen Zähne waren eine Spur unregelmäßig. Sie nippte an ihrem Drink. »Ich hatte von Seattle ganz einfach genug«, sagte sie. »Und da fiel mir eben New York ein. Sie drückte ihre halbgerauchte Zigarette so heftig im Aschenbecher aus, als wolle sie damit ganz Seattle dem Erdboden gleich machen. Aus dem Zimmer nebenan hörten wir den Pianisten in eine träumerische Version von »How langs has this been going on?« übergleiten. Unbewußt rückte mir Red etwas näher, hielt aber ihre Augen konstant auf ihr Glas gerichtet — wie jemand, der versucht, in einem Kristall seine Zukunft zu lesen. Der Fabrikant für Einbruchsalarmanlagen kam an uns vorbeigeschlendert und grinste. Red griff nach meinem Arm und legte den Kopf auf meine Schulter. Als er außer Hörweite war, hob sie ihr Ge38
sieht und blickte mich von unten herauf an. »Das hat Ihnen doch hoffentlich nichts ausgemacht?« fragte sie. »Ich habe ihm nämlich gesagt, daß mein Freund auch hier wäre, und das wollte ich ihm noch mal in Erinnerung bringen.« »Von mir aus jederzeit«, erwiderte ich und legte zur Bestätigung den Arm um sie - sie fühlte sich mollig und warm an, und ihr rotschimmerndes Haar duftete angenehm, als ich sie näher an mich zog. »Immerzu trifft man am Spieltisch auf diese schlechten Verlierer, die meinen, sie könnten sich auf andere Weise schadlos halten«, murmelte sie. »Jetzt bringen Sie mich dazu, über Sie nachzudenken«, sagte ich. Sie fing an zu lachen. »Was gibt es da zu lachen?« fragte ich. »Ich mag Sie einfach«, sagte sie und lachte wieder. Doch diesmal war es nicht das gekünstelte Zähnezeigen, das ich während des Backgammomspiels bei ihr gesehen hatte - diesmal war es ein unbeschwertes, rauchig-kehliges Gelächter. Sie wurde ernst. »Sie haben richtig getippt. Ich versuche gerade eine dumme Liebesaffäre zu vergessen.« Während sie sprach, hatte sie sich von mir losgemacht. »Und jetzt fragen Sie sich vermutlich, ob es richtig war, daß Sie Schluß gemacht haben.« »Er war ein Gauner«, sagte sie. »Eine Weibergeschichte nach der anderen... ich mußte für seine Schulden aufkommen ... und dann noch seine Zechtouren. Nein, ich frage mich nicht, ob es richtig war. Ich frage mich eher, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin.« »Und nun ruft er Sie täglich an und beschwört Sie, zu ihm zurückzukehren.« »Sie wissen aber auch alles«, flüsterte sie, an meine Schulter gelehnt. »Es läuft immer auf das gleiche hinaus«, sagte ich. Spontan packte sie meinen Arm. Wir standen eine ganze Weile beieinander und schwiegen. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, als kannte ich sie schon ein Leben lang. Dann stolzierte dieser Kerl mit den Alarmanlagen von neuem an uns vorbei. Und grinste uns beide an. »Verschwinden wir doch von hier«, schlug sie vor. Mir wäre nichts lieber gewesen als das, aber Major Mann war nun schon längere Zeit von der Bildfläche verschwunden, und wenn er — 39
wie er mir vorhin angedeutet hatte - an irgendeiner Verhandlung teilnahm, dann würde er sich natürlich auf mich verlassen und erwarten, daß ich hierblieb und die Augen offenhielt. »Ich kann die Manns nicht einfach hier sitzenlassen«, meinte ich diplomatisch. Sie verzog schmollend den Mund, lächelte mich jedoch im nächsten Augenblick bereits wieder an: Unter Minderwertigkeitskomplexen schien sie wirklich nicht zu leiden. »Natürlich«, sagte sie, »das verstehe ich.« Und doch schien sie nicht genug zu verstehen, denn kurz darauf sah sie ein paar Bekannte und winkte ihnen, sich zu uns zu gesellen. »Spielen Sie auch Backgammon?« fragte mich einer von ihnen. »Nicht so gut, um damit aufzufallen«, sagte ich. Red schenkte mir ein Lächeln, aber als sie erfuhr, daß sich soeben zwei ehemalige Champions nebenan zu einem Match zusammengesetzt hätten, nahm sie mich bei der Hand und zog mich fast ungeduldig mit hinüber ins Spielzimmer. Backgammon ist mehr nach meinem Geschmack als Schach. Denn durch die Würfel empfängt dieses Spiel ja die Würze des Zufalls, und ein blutiger Anfänger kann ohne weiteres auch einmal einen erfahrenen Spieler schlagen - genau wie manchmal im Leben. Aber wenn sich das Glück beider Spieler in etwa die Waage hält, wird das Spiel ziemlich langweilig. Und eben das war bei diesem Match der Fall. Oder fühlte ich mich nicht schlicht und einfach nur deswegen plötzlich so mißgestimmt, weil Red die meisten Umstehenden mit Kopfnicken und Lächeln begrüßte? Die beiden Exchampions waren gerade in die Eröffnungsphase getreten, als Bessie mich am Ärmel zupfte und mir flüsternd mitteilte, daß ihr Mann mich sprechen wolle. Ich ging in die Eingangshalle und weiter, bis ich bei Tony Nowaks Chauffeur anlangte, der vor dem Schlafzimmer Wache hielt. Aus Zeitvertreib starrte er, eine finstere Grimasse nach der anderen schneidend, in den Spiegel gegenüber und versuchte, wie ein Polizist auszusehen. Auf seinen finsteren Blick war ich also gefaßt gewesen, nicht aber auf das blitzschnelle Abtasten nach einer Waffe. Ich machte die Tür auf. Trotz der schwachen Beleuchtung sah ich Tony Nowak auf dem Toilettentisch hocken: die Krawatte gelockert, das Gesicht verschwitzt. Es roch nach teuren Zigarren und kostspieliger After-shave-Lotion. Und im Klubsessel - die bequemen Wildlederschuhe auf einem bestickten Fußschemelpolster gelagert, ruhte Harvey Kane Green40
wood persönlich. Es war nun schon ewige Zeit her, seit man ihn zum letzten Mal den »jungen, vielversprechenden Senator« genannt hatte - Greenwood hatte es inzwischen »geschafft«. Das lange, mit der Brennschere in leichte Wellen gelegte, gefärbte Haar, die saloppe Baumwollhose, das Batikhemd - gerade so weit aufgeknöpft, daß noch das Medaillon an dem goldenen Halskettchen sichtbar wurde -, dies alles gehörte zu seinem sorgsam gepflegten Image. Und das traf auch auf Gerry Hart zu, seinen jungen Assistenten, den er kürzlich eingestellt hatte, um sich bei seiner aufreibenden Tätigkeit im Unterausschuß für Wissenschaftliche Entwicklung des Senatsausschusses für Internationale Zusammenarbeit ein wenig helfen zu lassen. Als sich meine Augen so einigermaßen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, konnte ich nun auch das Hepplewhite-Sofa deutlich erkennen, auf dem zwei kahlköpfige Schwergewichtler saßen und nur knapp Platz hatten. Sie verglichen gerade ihre Armbanduhren und begannen dann im Flüsterton auf russisch heftig aufeinander einzureden. Weder sie noch Gerry Hart schenkten mir Beachtung. Hart war damit beschäftigt, auf einer Serviette ein paar Diagramme für seinen Chef aufzuzeichnen, der ihm dafür väterlich zunickte. Ich stand noch an der Tür, da gab mir Major Mann den eindeutigen Wink, wieder kehrtzumachen. Wortlos schob er mich vor sich her an Nowaks Wachposten vorbei und quer durch die ganze Eingangshalle, bis wir schließlich am anderen Ende des Korridors in der Küche angelangt waren. Auf der Anrichte türmten sich stapelweise die Teller mit den Speiseresten von der Party, daneben standen schmutzige Aschenbecher und einige Plastikbehälter, vollgepackt mit benutzten Bestecken. Was noch von den beiden Truthähnen übriggeblieben war, lag übereinandergeschichtet auf dem Blech eines offenen, in die Wand eingelassenen Backofens. Eine Katze sauste blitzschnell davon, als wir die Tür aufmachten. Sonst war die Küche leer und taghell erleuchtet. Mann riß die Kühlschranktür auf und holte sich eine Tüte Buttermilch raus. Dann nahm er zwei Gläser vom Regal und goß sie voll. »Keine Lust auf Buttermilch?« »Ziemlich wenig«, sagte ich ehrlich. Er trank hastig einen Schluck, riß ein Papiertuch von der Küchenrolle ab und wischte sich den Mund. Während der ganzen Zeit hatte er die Kühlschranktür offengelassen, und es dauerte auch nicht lange, da setzte das Surren des Kompressors ein. Dieses Geräusch zusammen mit dem Summton, der von der Neonbeleuchtung oben an der 41
Decke ausging, schützte uns in etwa vor eventuellen Abhörwanzen auch wenn sie vielleicht supersensibel waren. »Einen ganz schönen Koffer haben wir hier am Bein«, sagte Mann. »Dann sollte ich wohl doch etwas Buttermilch trinken«, meinte ich. »Ob wir Madame B. geliefert haben möchten, fragt man mich doch tatsächlich!« Er konnte seiner Empörung kaum noch Herr werden. »Wo soll denn das vor sich gehen?« fragte ich. »Hier!« schnaubte Mann aufgebracht. »Direkt hier in Dummsdorf!« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Und natürlich stammt der Vorschlag von diesem Gentleman-Jim-Typ Greenwood und seinem speziellen Freund Hart, wie?« »Ganz recht, von ihnen und von diesen miesen Wodkavertretern aus dem Bezirk Omsk-Stadtmitte.« »Leute vom KGB?« »Also - fettes Sitzfleisch, Stiefel mit stahlverstärkten Zehenkappen, Fünfzigdollarmaniküre und dicke Havannas - in der Tat, darauf läuft mein Verdacht hinaus.« »Hart hat sie vielleicht auch nur von einer Komparsen-Agentur für Spionagefilme gemietet.« Der Major schüttelte den Kopf. »Schwere Jungs sind das«, stellte er grimmig fest. »Ich habe sie mir mal von nahem betrachtet: ganz schwere Jungs.« Mann hatte die Angewohnheit, die Hand aufs Herz zu legen und mit Daumen und Zeigefinger am Hemd herumzufummeln. Das machte er auch jetzt. Er sah aus, als wolle er die beiden Russen auf seinen Eid nehmen. »Aber weshalb?« »Eine durchaus berechtigte Frage«, konstatierte Mann. »Wo doch Greenwoods gottverdammter Ausschuß schon seinen Stolz dareinsetzt, jedem hergelaufenen Ausländer Amerikas geheimste wissenschaftliche Erkenntnisse weiterzugeben - wozu ist dann das KGB noch nötig?« »Und Sie haben also über B. gesprochen?« »Tja, ich glaube, ich werde allmählich senil oder so«, meinte der Major trocken. »Warum hab' ich nicht sofort geschaltet und an diese trüben Tassen im Ausschuß für Wissenschaftliche Kooperation gedacht - alles Rote, die ganze Bande, wenn Sie mich fragen.« »Aber was steckt hinter dem Ganzen?« Mann hob mit auseinandergespreizten Fingern eine Hand und ver42
harrte einen Moment in dieser Gebärde. »Diese Kerle - Greenwood und sein Genösse -, die kommen mir mit feierlichen Vorträgen über die Freiheit. Und sie behaupten, ich würde so etwas wie eine Hexenjagd auf Wissenschaftler planen.« »Und — planen wir so etwas?« »Jedenfalls werde ich mir jeden Freund und Bekannten von Bekuv einzeln vorknöpfen ... und auch Greenwood und sein rosa angehauchtes Komitee werden mich nicht daran hindern.« »Man hat aber doch wohl dieses Treffen nicht nur arrangiert, um Ihnen die Hexenjagd auszureden?« »Ehrlich, diese Leute kennen sich in unserem Handwerk aus -viel besser als wir«, knurrte der Major erbittert. »Sie sagen, sie könnten Bekuvs Frau spielend leicht aus der UdSSR rausholen - einfach, indem sie mit dem Kreml ein bißchen flirten.« »Heißt das vielleicht, sie wollen ihr eine legale Ausreisegenehmigung besorgen—vorausgesetzt, daß wir alles Material, was das Komitee kompromittieren könnte, unter den Tisch fallen lassen?« »Was denn sonst? Darum geht es natürlich. Los - trinken Sie noch ein bißchen Buttermilch!« Er goß mir nach, ohne sich darum zu kümmern, ob ich noch etwas haben wollte. »Nun, schließlich ist es ja genau das, was wir auch wollten«, erwiderte ich, in der Hoffnung, seine Wut zu beschwichtigen, » ... Ich meine, Mrs. Bekuv hierher zu bekommen ... ich will sagen, wir hätten es doch dadurch mit ihm wesentlich leichter.« »Na klar - genau die große Chance, auf die wir so lange gewartet haben, wie?« ereiferte sich der Major. »Und wissen Sie was? Diese Sippschaft hat wirklich damit gerechnet, daß wir Bekuv heute abend mit herschleppen! Und jetzt drohen sie, darauf zu bestehen, daß er vor dem Ausschuß erscheint.« »Wieso denn?« »Sie wollen von ihm persönlich hören, daß er aus eigenem Antrieb in den Westen übergewechselt ist. Wie finden Sie das?« »Das finde ich überhaupt nicht gut«, sagte ich. »Stellen Sie sich vor: sein Photo in den Daily News, Reporter, die ihm Dutzende von Mikrophone unter die Nase stecken. Die Russen werden sich gezwungen sehen, darauf zu reagieren. Und das könnte ganz schön ins Auge gehen.« Mann verzog das Gesicht und griff nach dem Wandtelephon. Er legte die Hand auf die Muschel und lauschte erst eine Weile, ob die 43
Leitung frei war. Zwischendurch wandte er sich an mich. »Ich werde wieder reingehen und ihnen noch mal zehn Minuten lang die Daumenschrauben ansetzen.« Er wählte die Nummer der CIA-Garage in der zweiundachtzigsten Straße. »Hallo? Mann am Apparat. Schicken Sie mir meinen Wagen Nummer zwo zur Verstärkung. Ich bin noch an der gleichen Stelle.« Er hängte auf. »Und Sie gehen runter«, sagte er. »Sie gehen vors Haus und warten auf den Wagen. Sagen Sie Charlie, er soll die beiden russischen Gorillas verfolgen. Und geben Sie ihm ihre genaue Beschreibung.« »Das wird nicht ganz einfach sein«, gab ich zu bedenken. »Die sind doch sicher auf so was vorbereitet.« »Und wenn schon. In jedem Fall ist es interessant, wie sie darauf reagieren.« Mann warf mit einem Knall die Kühlschranktür zu: Das Gespräch war zu Ende. Ich salutierte mit gebührendem Ernst und begab mich sodann in die Halle, um meinen Mantel zu holen. Zufällig befand sich dort auch Red Bancroft und schlüpfte gerade in ihren teuren, im Military-Stil geschnittenen Wildledermantel mit Lederbesätzen, Messingknöpfen und Schnallen. Sie blinzelte mir zu, während sie ihr langes, kastanienbraunes Haar unter eine verrückte kleine Strickmütze zwängte. »Da kommt er ja endlich«, sagte sie zu dem Alarmanlagenfritzen, der sein Spiegelbild betrachtete, während sich ein Dienstmädchen am Kragen seines Kamelhaarmantels zu schaffen machte. Der Fabrikant zupfte an seinem Schnurrbart und nickte jovial. Er war von hoher, sehniger Statur, und sein Haar begann auf eine edle Art zu ergrauen, wie man es eben nur bei Industriemagnaten und Filmstars erlebt. »Die junge Dame hat schon überall nach Ihnen gesucht«, sagte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme. »Darum habe ich schon versucht, sie zu überreden, mit mir bis zur sechzigsten Straße mitzufahren.« »Ich werde mich schon um sie kümmern«, sagte ich. »Gut. Dann bleibt mir also nichts anderes übrig, als Ihnen beiden noch einen recht schönen Abend zu wünschen«, erwiderte er. »Es war mir ein Vergnügen, das Match gegen Sie verloren zu haben, Miss Bancroft. Hoffentlich geben Sie mir irgendwann einmal die Gelegenheit zur Revanche.« Red Bancroft lächelte zustimmend, und dann strahlte sie mich an. »Jetzt aber nichts wie weg!« flüsterte ich ihr zu. Sie hakte sich bei mir unter und küßte mich lachend auf die Wange 44
- im gleichen Moment, in dem sich der Alarmanlagenmensch nochmals nach uns umdrehte. Ob das nun nur gutes Timing war oder rein impulsiv - um das zu wissen, war es noch zu früh. Aber jedenfalls ergriff ich jetzt natürlich die Gelegenheit, zog sie an mich und gab ihr den Kuß zurück. Tony Nowaks Dienstmädchen taten mit einem Male alle so, als hätten sie dringend etwas woanders in der Halle zu tun. »Hast du etwa Buttermilch getrunken?« fragte Red. So dauerte es immerhin eine ganze Weile, ehe wir endlich im Treppenhaus waren. Der Alarmanlagenfabrikant war ebenfalls noch da; er regte sich darüber auf, daß der Lift noch immer nicht gekommen war. Doch kaum standen wir vor der Lifttür, kam er auch schon. »Bei Verliebten klappt halt immer alles«, seufzte der Alarmanlagenmann schmunzelnd. Ich fand ihn plötzlich gar nicht mehr so unsympathisch. »Sie haben doch wohl einen Wagen - oder nicht?« Mit einer Verbeugung ließ er uns den Vortritt. »Natürlich«, beruhigte ich ihn. Er drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoß, und gleich darauf setzte auch schon das Aufflackern der Zahlen ein. »Denn das ist eben leider keine Stadt für Spaziergänge im Mondschein«, erklärte er. »Nicht mal hier in der Park Avenue.« Er sollte recht behalten. Wir hielten an, und die Lifttüren öffneten sich langsam. Wie in allen Situationen tödlicher Gefahr schien sich der folgende Zwischenfall schrittweise, ja fast geruhsam vor meinen Augen abzuwickeln. Zwar sah ich alles, doch brauchte mein Gehirn eine gewisse Zeit, um die einzelnen Bestandteile des Geschehens in logische Beziehung zueinander zu bringen. Das Foyer des Gebäudekomplexes war durch in die Decke eingelassene Lichtblenden indirekt, aber strahlend hell erleuchtet. Ein ansehnlicher Blumenkübel mit Plastikpflanzen zitterte vor sich hin - die Vibrationen rührten wahrscheinlich von der unterirdischen Zentralheizung her -, und ein kalter Windstoß von der verglasten Eingangstür trug ein paar vereinzelte Schneeflocken mit sich. Der dunkelbraune Teppichboden, der wohl in dieser Farbe ausgewählt worden war, um schutzige Fußspuren von der Straße her zu verdecken, ließ um so deutlicher die zusammengepappten Schneeklumpen sichtbar werden, die von den Schuhen der ins Haus gekommenen Passanten abgefallen waren. Die Eingangshalle war nicht ganz menschenleer. Drei Männer lun45
gerten herum — jeder für sich —, und alle drei trugen sie dieselbe Art von dunklem Regenmantel und Schirmmütze, wie sie von Chauffeuren gern als Uniform getragen werden. Der eine von ihnen hatte den Fuß zwischen die gläserne Eingangstür geklemmt. Er kehrte uns den Rücken zu und beobachtete die Straße. Und direkt vor uns -vor der Lifttür - stand der zweite. Er hielt einen schweren .38 S&W-Revolver in der Faust, und der war genau auf uns gerichtet. »Keine Bewegung!« sagte er. »Keine Bewegung, dann passiert euch auch nix, Leute. Und jetzt langsam her mit den Brieftaschen!« Wir blieben erstarrt stehen, so fassungslos, daß sich die Lifttür bereits wieder zu schließen begann. Der Kerl mit dem Revolver stieß seinen derben Stiefel in den Türschlitz und bedeutete uns, herauszukommen. Ich machte einen Schritt vorwärts und achtete dabei sorgfältig darauf, daß meine erhobenen Hände gut sichtbar waren. »Wenn Sie Geld haben wollen«, sagte der Fabrikant für Alarmanlagen, »hier - bedienen Sie sich«, und er griff hastig in die Brusttasche seines Kamelhaarmantels. Der winselige Ton seiner Stimme hatte etwas so Schreckerfülltes an sich, daß den Kerl mit dem Revolver ein Grinsen überkam. Er wandte den Kopf, um dem dritten Gangster zu zeigen, wie bombig er sich jetzt vorkam, und sein Freund grinste ebenfalls. Drei Schüsse ballerten hintereinander los - ein ohrenbetäubendes Gedonner, das im langen Vestibül widerhallte und einen Geruch verbrannten Pulvers hinterließ. Der Kerl mit dem Revolver schrie gellend auf. Mit vorquellenden Augen rang er nach Luft, spuckte Blut. Dann fiel seine Waffe mit dumpfem Aufprall zu Boden. Er brach zusammen und hinterließ eine lange Blutspur an der Wand. Red packte mich heftig am Arm, sie tat mir richtig weh. Der zweite Schuß hatte den Mann getroffen, der das Treppenhaus bewachte. Die Kugel drang ihm in die Schulter und zerschmetterte sein Schlüsselbein. Er ließ den Revolver fallen und umklammerte seinen Ellbogen, man sagt, das sei das einzige Mittel, die höllischen Schmerzen einer solchen Fraktur einigermaßen auszuhalten. Mit seiner Verwundung konnte er natürlich nicht weit kommen: Der Fabrikant hatte Zeit, in aller Ruhe seine Waffe in Augenhöhe zu bringen und zu zielen. Der dritte Schuß traf den Gangster genau in die Wirbelsäule. Das genügte, um ihn in voller Länge hinschlagen zu lassen - auf die zerstreut herumliegenden Schneeklumpen und auf die Plastikplane, die man an der Frontseite des Foyers zum Schutz über den Teppich gelegt hatte. Er starb, den Kopf auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Willkommen«. Er hatte sehr wenig Blut verloren. 46
Sein Körper versperrte mir den Weg, als ich die Glastür aufmachen wollte. Ich mußte dem elektronischen Türöffner mit der Hand nachhelfen. Und nun stieß auch noch der Alarmanlagenmensch im Eingang mit mir zusammen - wir stolperten also beide mehr oder weniger auf die Straße hinaus und sahen noch den dritten Mann weglaufen. Er hatte die Schirmmütze verloren und war schon auf der anderen Seite der Allee. Ich hörte, wie ein Auto angelassen wurde. Der Alarmmann hob zielend die Waffe, rutschte jedoch aus und fiel krachend und mit einem Fluch gegen ein geparktes Auto. Ich rannte über die verlassene Straße. Weiter vorn öffnete sich die Tür eines schwarzen Mercedes, um den Killer aufzunehmen. Der Mercedes schoß bereits vorwärts, als die Tür noch offen war. Ich sah nur noch ein Gewühl von Armen, ein nachschleifendes Bein, das Spuren im Schnee hinterließ, ehe der Mann ganz im Wageninnern verschwunden war. Die Tür schloß sich. Erst als der Wagen die nächste Straßenkreuzung erreicht hatte, schaltete der Fahrer die Scheinwerfer ein. »Ein Fulton-County-Kennzeichen«, sagte jemand hinter mir. Es war der Alarmfritze. »Das müssen Sie doch auch gesehen haben, daß es ein Auto aus dem Bezirk Fulton war. Haben Sie vielleicht auch die Nummer erkannt?« Er war von seinem Sturz noch ganz außer Atem, ich keuchte nicht minder. »Drei Zahlen und dann ein großes F und ein großes C. Mehr war nicht zu sehen, das Schild war zu verdreckt«, stieß ich hervor. »Verdammtes Mistwetter!« schimpfte er. »Wenn das Glatteis nicht gewesen wäre, hätte ich ihn bestimmt zur Strecke gebracht.« Er drehte sich mißmutig um, und wir machten uns gemeinsam auf den Weg zurück. »Davon bin ich überzeugt«, sagte ich. Er klopfte mir jovial auf die Schulter: »Übrigens besten Dank, daß Sie ihn von mir abgelenkt haben, junger Freund!« »Was soll ich getan haben?« »Nun, wie Sie so brav die Hände hoben und sich dabei so erschrokken gestellt haben - das hat natürlich seine Aufmerksamkeit ganz auf Sie gelenkt. Ich muß schon sagen, alle Achtung vor dieser Geistesgegenwart!« Er kletterte über den leblosen Körper im Eingang des Foyers. Ich stieg hinterher. »Erzählen Sie es meinetwegen überall rum«, erwiderte ich. »Aber unter uns gesagt: Ich habe mich nicht erst erschrocken stellen müssen — ich war erschrocken.« 47
Der Alarmanlagenmann lachte kurz auf. Doch seine Lache klang gepreßt, sie enthielt eine Menge unterdrückter Spannung. Immer noch spielte er mit seinem Revolver herum. Es war ein stahlblau polierter Colt »Agent« mit Hahnschutzvorrichtung, die verhindert, daß der Colt beim Ziehen im Jackett hängenbleibt. Er mußte ihn vorher bereits gespannt haben, denn zwischen der blitzschnellen Bewegung seiner Hand und dem Ballern der Schüsse hatte es nicht den geringsten zeitlichen Spielraum gegeben, »An Ihrer Stelle würde ich das Ding da verschwinden lassen, bevor die Polizei hier aufkreuzt«, meinte ich. »Wieso? Schließlich habe ich ja einen Waffenschein«, sagte er. »Ich bin, nebenbei bemerkt, Präsident unseres Bezirksschützenvereins.« »Mensch, nehmen Sie doch Vernunft an. Wenn die Bullen hier hereinstürzen und Sie mit Ihrem heißen Schießeisen über zwei Leichen stehen sehen, wird man Sie wahrscheinlich auf der Stelle umlegen und sich erst anschließend um Ihre Papiere kümmern.« Mürrisch steckte er den Colt weg, zuvor aber drehte er die Trommel um eine geladene Kammer weiter. Dann knöpfte er umständlich seinen Mantel und das Jackett auf und ließ ihn in ein äußerst elegantes Berns-Martin-Schulterhalfter mit eingebautem Sprungfedergriff gleiten. Wir hatten das Foyer kaum betreten, da erschienen auch schon Mann und Tony Nowak auf der Bildfläche. »Sie Mistkerl!« sagte Mann zu dem Fabrikanten für Einbruchsalarmanalgen, wobei ich das Gefühl hatte, daß er eigentlich mich meinte. »Was sollte ich machen?« entschuldigte sich der Alarmmensch, während er prüfend in den Spiegel schaute und sein Haar glattstrich, »mich von diesen Halunken durchlöchern lassen? Das hätte mich ja in der gesamten Branche für Alarmanlagen für immer zu einer Witzfigur gemacht.« »Beide sind tot. Sie haben offensichtlich von vornherein mit Tötungsabsicht geschossen«, konstatierte Mann eisig. Der Alarmmensch wandte sich um und blickte den Major verständnislos an. Dann schaute er auf die Leichen runter und wieder zurück zu Mann. Ich hatte einen Augenblick lang das Empfinden, als wolle er, Mann zum Trotz, laut seiner Zufriedenheit Ausdruck verleihen, wie glänzend er eben auf seine Kosten gekommen war. Aber dafür kannte er die Gesetze wohl doch zu gut. »Über diesen Punkt 48
sollten Sie sich vielleicht lieber mit meinem Anwalt unterhalten«, sagte er schließlich vorsichtig. Etwas von der freudigen Hochstimmung, die man wohl verspürt, wenn man einem Terroranschlag erfolgreich mit dem Faustrecht entgegengetreten ist, flaute langsam bei ihm ab. Seine Laune ließ sichtbar nach -ja, er bekam es nun sogar etwas mit der Angst zu tun. Ich fing einen vielsagenden Blick von Mann auf. »Das ist nicht mein Bier«, erklärte er. »Ich mache, daß ich hier wegkomme.« »Schließlich bin ich nicht Wyatt Earp«, versuchte sich der Industrielle zu rechtfertigen. »So gut bin ich eben doch nicht, daß ich einem Gangster die Waffe aus der Hand schießen kann.« Ich faßte Red Bancroft behutsam am Ellbogen. »Wäre es nicht besser, wenn ich dich jetzt nach Hause brächte?« fragte ich sie leise. »Die Polizei will mich doch aber bestimmt als Zeugen vernehmen«, wandte sie ein. »Nicht nötig«, meinte ich. »Tony kann das für dich in Ordnung bringen.« Tony Nowak ging sofort darauf ein. »Sie gehen schön brav nach Hause, Red, ich werde meinem Chauffeur Bescheid geben. Und glauben Sie mir, es ist reine Zeitverschwendung, diesen Gangstern eine Träne nachzuweinen. Im vergangenen Monat hat sich hier ein Raubüberfall nach dem anderen ereignet, eine richtige Serie war das schon. Daher kenne ich auch den dafür zuständigen Polizeibeamten. Ich werde dafür sorgen, daß er Sie aus allem raushält.« Bisher war ich im Glauben gewesen, Red hätte den Überfall mit einer fast übermenschlichen Gelassenheit über sich ergehen lassen. Nun wurde mir mit einem Mal klar, daß sie vor Angst wie erstarrt war. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, und als ich schützend den Arm um sie legte, spürte ich, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Jetzt beruhige dich doch, Red«, sagte ich. »Ich werde leider dableiben müssen.« »Beide tot«, murmelte sie tonlos und tat einen großen Schritt über den Körper des in der Tür liegenden Gangsters, ohne dabei auf ihn herabzublicken. Erst draußen, im Schneegestöber, machte sie halt und schlang sich noch einen gestrickten Schal um den Kopf. Dann zog sie mich zu sich herunter und drückte mir einen schwesterlichen Kuß auf die Lippen. Sie sah mich fragend an. »Ob das vielleicht doch etwas Besonderes ist ... zwischen dir und mir?« »Ja«, sagte ich. Wir standen noch am gleichen Fleck, als der erste Polizeiwagen eintraf und gleich dahinter ein Auto mit einer Notarztaufschrift. 49
Tony Nowaks Chauffeur öffnete beflissen die Tür des Lincoln, und ich stand und winkte Red noch lange nach, bis der Wagen meinen Blicken entschwunden war. Als ich das Foyer betrat, war die Polizei bereits emsig am Werk: Die Leichen der Verbrecher waren beide total entkleidet, und ihre Sachen wurden gerade als Beweismaterial in die dafür vorgesehenen Plastikbeutel gepackt.
50
KAPITEL 5
Tony Nowaks Appartment gehört zwar zum siebzehnten Polizeirevier, doch die Toten dieses Nobelviertels werden ins Leichenschauhaus in der einundzwanzigsten Straße gebracht und dort gemeinsam mit den Pushern vom Times Square und den Chinesen von den zahllosen, kleinen Wäschereianstalten im Vergnügungs- und Verbrecherviertel Tenderloin in den gekühlten Schubfächern aufbewahrt. »Darf man rauchen?« fragte ich den ältlichen Aufseher. Der eiskalte Raum gab jedes Geräusch mit einem geradezu schauerlichen Echo zurück. Er nickte, zog eine Schublade auf und studierte schweigend eine Liste. Offenbar befriedigt trat er dann einen Schritt zurück, damit wir einen Blick auf den Verbrecher werfen konnten. Er lag mit den Füßen nach vorn im Schubfach - wir sahen daher zuerst das beschriftete Etikett, das an seinem großen Zeh befestigt war. Zwar hatte man sein Gesicht vom Blut gesäubert und sein Haar gebürstet, aber man hatte nichts gegen seinen weit aufgerissenen Mund machen können, der ihm einen Gesichtsausdruck verlieh, als ob er an einem akuten Anfall von Verblüffung gestorben sei. »Die Kugel hat die Luftröhre durchbohrt«, sagte der Aufseher. »Tod durch Ersticken.« Er klappte den Bericht zu. »Das war hier wieder mal eine recht anstrengende Nacht«, erklärte er dann. »Wenn's Ihnen nichts ausmacht, geh' ich zurück ins Büro. Schieben Sie ihn einfach wieder rein, wenn Sie mit ihm fertig sind.« Er klemmte seinen Aktendeckel unter den Arm und schaute auf seine Taschenuhr. Es war genau 2 Uhr 15. Er gähnte und stemmte ächzend den Sack mit den Effekten auf die Tischplatte aus rostfreiem Stahl. »Der Arzt hat die Kerle gleich an Ort und Stelle ausziehen lassen, damit die Gerichtsmedizin diesmal nicht wieder behaupten kann, daß bei uns Beweismaterial verschüttgeht.« Er puffte gegen den durchsichtigen Plastikbeutel, der die Schirmmütze, den dunklen Regenmantel, einen billigen Drillichanzug und schmutzige Unterwäsche enthielt. »Der Papierkram für Sie ist auch drin.« Er drehte die Plakette mit dem Identitätsnachweis am Zeh des Toten um und machte sich daran, sie umständlich zu entziffern: »... starb in der Park Avenue -na, sieh mal an, ein wählerischer Spitzbube.« Er sah prüfend auf die Leiche nieder. »Nicht anfassen oder umdrehen, der Photograph hat noch mit ihm zu tun.« 51
»O. K.«, versicherte ich. »Der zweite ist in Schubfach siebenundzwanzig. Wir halten nämlich alle tödlichen Schußverletzungen schön ordentlich hier in dieser Reihe beisammen. Wenn Sie noch was brauchen - ich bin im Büro, gleich hinter der Autopsiekammer ...« Mann schnürte den Beutel auf und fand auch bald, was er suchte: das Hemd. Das Einschußloch befand sich im Kragen. »Ein Kunstschütze«, meinte ich. »Ein Scharfschütze«, korrigierte mich Mann. »Ein Kunstschütze hätte sich mit seinem rechten Arm begnügt.« »Glauben Sie, daß der Überfall irgendwie mit der Bekuv-Angelegenheit in Zusammenhang steht?« »Kleben Sie Bekuv ein gepflegtes Menjoubärtchen unter die Nase, schleppen Sie ihn zu Saks in der Fifth Avenue, stecken Sie ihn in einen Anzug für vierhundert Dollar, färben Sie ihm die Schläfen grau, und lassen Sie ihn ein paar Chocolate-Sodas zuviel trinken, damit er etwas fülliger um die Gürtellinie wird — na, wen hätten Sie da vor sich?« »Den großen Unbekannten oder so. Ich weiß nicht, was Sie meinen. Worauf wollen Sie hinaus?« »Den um sich schießenden verdammten Mister Einbruchalarm den haben Sie dann vor sich, Sie Trottel!« Ich zog diese Möglichkeit einen Moment lang in Betracht. Es gab tatsächlich eine flüchtige Ähnlichkeit zwischen Bekuv und dem Fabrikanten. »Das ist aber ziemlich weit hergeholt«, sagte ich schließlich. »Aber wenn Sie ein nervöser Gorilla mit 'ner Knarre in der Hand wären, und Sie stehen wartend im Vestibül und sind schon ganz kribbelig und drehen langsam durch, und Sie haben als einzigen Anhaltspunkt einen winzigen, alten Schnappschuß von dem Professor würde es nicht vielleicht doch ausreichen?« »Aber wer hätte denn damit gerechnet, daß Bekuv auf der Party sein könnte?« »Na, wer wohl? Greenwood und Hart natürlich - die haben ihn nämlich eingeladen.« Ich schüttelte verblüfft den Kopf, darauf war ich nicht gefaßt gewesen. »Und wenn ich Ihnen jetzt noch verrate, daß der Professor gestern abend, eine halbe Stunde nachdem wir weg waren, im Smoking steckte und dem Pförtner einzureden versuchte, ich hätte ihm erlaubt, auf eigne Faust loszuziehen - was sagen Sie dann?« 52
»Sie glauben doch nicht, daß Greenwood & Co. mit ihm Verbindung aufnehmen konnten und ihm persönlich eine Einladung zukommen ließen?« »Jedenfalls hat sich Bekuv nicht in Schale geworfen, weil er die Junggesellentreffs in der Third Avenue durchprobieren wollte.« »Dann müssen Sie es Greenwood, Hart und Nowak versprochen haben - ich meine, Bekuv mit auf die Party zu bringen!« »Ja, ja, hinterher kann jeder den Schlaumeier spielen«, versuchte Mann den Spieß umzudrehen. Er bediente sich seiner Zungenspitze, um einen Tabakkrümel zwischen seinen Zähnen zu lokalisieren. »Also gut -ich hab's versprochen, ich hab's aber nicht gehalten.« Mit einer geschickten Bewegung seines kleinen Fingers entledigte er sich der Tabakfaser. »Diese Kerle im Vestibül - haben die etwa Geld oder seine Armbanduhr oder die goldene Krawattennadel von ihm gefordert? Nein - sie haben ausdrücklich seine Brieftasche verlangt, einfach, weil sie sichergehen wollten - immerhin waren sie reichlich unsicher, und sie brauchten eben einen Beweis, daß der Mann da vor ihnen tatsächlich Bekuv war.« Ich zuckte die Achseln. »Brieftasche... Geldbörse... ist doch an sich normal, daß ein Gangster nach der Brieftasche fragt, wenn er Geld sehen will! Was hat es übrigens mit dem Fulton-County-Kennzeichen auf sich?« »Haben Sie eine Ahnung, wie groß Fulton County ist?« »Selbst, wenn es sich um einen schwarzen Mercedes handelt?« »Aber ja doch - dem sind wir auch schon längst nachgegangen. Wenn's Sie erleichtert: Wir haben sogar den Kerl von der Zulassungsstelle aus dem Bett geholt.« »Na, da bin ich beruhigt. Aber noch wohler wäre mir, wir hätten wirklich den >winzigen, alten Schnappschuß< zwischen diesen Sachen hier gefunden. Bis wir nichts Handfestes haben, bleibt es eben doch nur ein ganz alltäglicher New Yorker Raubüberfall.« »Möglich. Trotzdem - wenn ich es Bekuv erzähle, werde ich es so hinstellen, als wären sie hinter ihm hergewesen.« »Weshalb?« »Vielleicht bekommen wir eher etwas aus ihm heraus, wenn er zu der Auffassung kommt, daß er besser abgeschirmt werden müßte. Ich werde ihn sowieso irgendwo anders einquartieren, wo ihn niemand so leicht findet.« »Wo denn?« »Über Weihnachten muß er ohnedies anderswo untergebracht werden - hier wird es mir für ihn zu mulmig.« 53
»Ja schon - aber wohin mit ihm? Nach Miami oder in die Tarnwohnung in Boston?« »Nu kommen Sie mir bloß nicht komisch! In eine CIA-Tarnwohnung! Da könnten wir ja gleich eine Kleinanzeige mit seiner Adresse in die Prawda setzen!« Mann schob die Lade mit dem Körper wieder zurück ins Kühlfach. Das quietschende Geräusch, das dabei entstand, ging mir durch Mark und Bein. »Sie fahren mit dem Ersatzwagen zurück«, ordnete Major Mann an. »Ich nehme den anderen.« »Und wo wollen Sie Bekuv nun hinbringen?« »Schlafen Sie sich morgen ruhig aus.« »Worauf Sie Gift nehmen können«, sagte ich leicht verärgert. Ich blickte ihm nach, als er an den vielen Reihen übereinanderliegender, viereckiger Schubfächer vorbeischritt. Jeder seiner Schritte klickte vernehmlich auf dem gefliesten Fußboden, begleitet von einem schrillen Ton, den ich erst nach einer ganzen Weile als das erkannte, was er war: Mann hatte vor sich hin gepfiffen. Wahrscheinlich war Manns unbekümmerter Abgang auch einem anderen Aufseher des Leichenschauhauses peinlich aufgefallen — wie auch immer - er kam zu mir geschlurft und fragte: »Was sind das heute nacht bloß für Umtriebe, Harry?« Dann sah er mich fragend an, brauchte jedoch ein paar Sekunden, ehe er merkte, daß ich gar nicht Harry war. »Sind Sie der Photograph?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Zum Teufel, wer sind Sie dann?« »Das siebzehnte Revier ist über mich informiert.« »Wenn schon - geht mich nichts an. Wie Sie hier hereingekommen sind, will ich wissen, Bürschchen?« »Nun beruhigen Sie sich schon - durch Ihren Kollegen. Ich kenne Ihren Kollegen.« »So - Sie kennen meinen Kollegen?« kreischte er erbost im höchsten Falsett. »Aber jetzt werden Sie mich mal kennenlernen!« Ich sah, daß er seine Hände zu Fäusten ballte und wieder lockerte mehrmals hintereinander. Man merkte ihm deutlich an, er wollte mich provozieren, wollte einfach einen Grund haben, auf mich loszugehen. Ich gab mir alle Mühe, seine Absicht zu durchkreuzen. »Ich bin wirklich offiziell hier«, sagte ich freundlich. »Na, dann rücken Sie mal mit Ihrem Ausweis raus«, fauchte er und stieß mir seinen knochigen Zeigefinger in die Rippen. »Der ist okay, Sammy.« Wir wandten uns um. Der andere Aufseher war durch den Haupteingang hereingekommen. »Ich hab' mich bei Charlie Kelly über ihn erkundigt. Charlie sagt, er ist okay.« 54
»Du weißt doch, ich mag es nicht, wenn sich hier Leute ohne meine Genehmigung herumtreiben«, knurrte der kleine, zänkische Kerl. Er vertiefte sich in seinen Aktendeckel und verzog sich, immer noch vor sich hinschimpfend, über die Treppe nach oben - in dieser merkwürdig verkrampften Gangart, wie man sie oft bei alten Preisboxern sieht, die eins zu viel auf den Kopf bekommen haben. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der andere Aufseher. »Ich hab' vergessen, Sammy zu sagen, daß Sie hier sind.« »Ich hatte schon Angst, er würde mich im nächsten Kühlfach verstauen«, sagte ich. »Sammy ist ganz in Ordnung«, nahm der Wärter seinen Kollegen in Schutz. Er musterte mich längere Zeit und beschloß dann, mir doch eine nähere Erklärung für Sammys aggressives Verhalten zu geben. »Wissen Sie, Sammy und ich, wir waren nämlich früher Cops ... sind sogar zusammen in die Polizei eingetreten. Und dann - ist schon lange her, so Anfang der sechziger Jahre - sind wir gleichzeitig bei einer Schießerei in der Nähe von Delancey verwundet worden. Danach waren wir beide für den Polizeidienst untauglich. Er ist sonst ein netter Kerl, der Sammy.« »Na, da habe ich mich wohl geirrt«, sagte ich. »Er hat mit ansehen müssen, wie sein Junge hier eines Tages reingetragen wurde... war von einem Laster überfahren worden, als er von der Schule kam, fünfzehn Jahre war der Junge erst. Wenn Ihnen so was passiert, das können Sie nie wieder vergessen. Jedesmal, wenn er jetzt den Reißverschluß von so'm Leichensack aufzieht, wird ihm gleich wieder schwindelig.« Er wandte sich zum Gehen. »Für Sie wenigstens ist alles gut ausgegangen, was? Ich hab' mir sagen lassen, Sie waren mittendrin, als die Ballerei losging.« »Ja, ich habe Glück gehabt.« »Und der dritte Gangster, der soll also in einem schwarzen Mercedes getürmt sein, hab' ich im Polizeibericht gelesen. Haben Sie das Nummernschild erkannt?« »Ich konnte nur ein >F C< entziffern. Man hat mir gesagt, das sei das Kennzeichen für den Fulton-Bezirk.« »Na großartig - haben Sie sich nicht mal vom Fulton-CountyKennzeichen reinlegen lassen?« »Wie meinen Sie das?« »Na - jeder Cop, der schon ein paar Dienstjahre auf dem Buckel hat, kann Ihnen erzählen, wie in den sechziger Jahren die Leute aus dem 'Fulton-Bezirk nach New York kommen sind und ihre Wagen 55
überall auf den Straßen von Manhattan abgestellt haben - im Parkverbot und oft in zweiter Reihe. Und kein Verkehrspolizist hat ihnen jemals einen Strafzettel verpaßt. Du liebe Zeit, wie oft hab' ich selbst diese Autos im Halteverbot stehen sehen! Können Sie sich das vorstellen - die haben doch tatsächlich manchmal sogar in dritter Reihe in der Madison Avenue geparkt - haben den ganzen Verkehr blokkiert, und ich bin einfach vorbeigegangen!« »Ich verstehe kein Wort.« »Können Sie auch gar nicht, Sie sind ja nicht von hier. Also passen Sie auf: Ein Fulton-Kennzeichen hat das >F C< vorn, dann erst kommen die Zahlen. Und die wenigsten Cops haben den Unterschied gemerkt - ich mein', zu dem Schild, wo die Zahlen zuerst stehen und das >F C< dahinter ... ein Polizist hat so'ne Menge Sachen im Kopf zu behalten, daß ihm eine Spitzfindigkeit wie die glattweg entgeht.« »Aber was ist denn so Außergewöhnliches dran - an einem Nummernschild, bei dem das >F C< hinten steht? Wieso darf man damit in zweiter oder dritter Reihe mitten auf der Madison Avenue parken?« Der Leichenschauhausaufseher blickte mich betrübt und nachsichtig an. »Ja, natürlich, so einer wie Sie ist ja auch nie einfacher Cop auf der Straße gewesen. Drei Nummern und danach ein >F C<, das bedeutet, daß der Wagen einem ausländischen Konsul gehört - kapiern Sie's endlich? Das ist genau das gleiche wie ein CD-Schild, alles Dienstwagen, die diplomatische Immunität besitzen und die nicht behelligt werden dürfen und deshalb auch nie ein Strafmandat für falsches Parken kriegen. Und genau damit haben diese bauernschlauen Brüder aus dem Fulton County gerechnet.« »Jetzt hat's bei mir geklingelt«, sagte ich. Aber er hatte mir gar nicht zugehört — er war schon wieder mit seinen Gedanken in den goldenen Sechzigern, als wir noch alle jung und hübsch waren. »Ja - die Schicht von Mitternacht bis acht Uhr morgens, die mochte ich am liebsten. Niemand wartete zu Hause auf mich - also, was macht's dann schon aus ... man verdiente auch mehr, Überstunden und dazu die bezahlte Zeit, wenn man zum Ermittlungsrichter mußte. Trotzdem, es war natürlich auch die gefährlichste Schicht für einen Cop — damals.« »Heute nicht mehr?« »Damals in den frühen Sechzigern ging es in der Stadt die ganze Nacht durch - alle Bars offen bis morgens um vier, genauso immer ein paar Lebensmittelläden, dazu die Tanzlokale und was weiß ich, was sonst noch. Allerdings ging es auch ganz schön hart her, und es wurde 56
von Nacht zu Nacht schlimmer, und schließlich blieben die Leute lieber zu Hause vorm Fernseher.« Er nahm einen Lappen und wischte sich damit die Hände ab. Sie waren peinlich sauber, aber er wischte trotzdem eifrig an ihnen herum. »Wenn man heutzutage nachts ausgeht, ist die Stadt düster und leer - keine Menschenseele auf der Straße. Ein Verbrecher kann sich heutzutage jede Menge Zeit nehmen: keine Zeugen - kein Schwein, das die Polizei verständigt. Aber damals, da war die Nachtschicht von Mitternacht bis morgens um acht für einen Cop ziemlich hart.« Er stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Dafür ist jetzt hier im Leichenschauhaus jede Nacht Hochbetrieb.« Er warf den Lappen fort. »Sie sollten mal erleben, wie manche von denen aussehen, wenn sie hier eingeliefert werden -Jugendliche, fast noch Kinder, und sogar alte Damen - pfui Teufel! Und Sie sind also nicht von hier?« »Nein. Ich wohne ein wenig außerhalb - viertausendachthundert Kilometer östlich.« »Na, da sind Sie in jedem Fall fein raus.« Es war eine eisige Nacht draußen. Der Himmel war tiefviolett, und die Welt schien aus den Fugen geraten und unwirklich. Um die Einstiegschächte der städtischen Kanalisation war die Schneekruste geschmolzen, so daß stellenweise der Asphalt im Mondlicht schimmerte. Aus den Gullys stieg Dampf auf und wehte in Schwaden dahin, bis er an der nächsten Querstraße vom Wind weggefegt wurde. Irgendwo in einem anderen Stadtteil schrillte eine Polizeisirene. Es klang wie das Wimmern eines gequälten Tieres, das sich verkriecht, um zu verenden.
57
KAPITEL 6
Das Gebäude am Washington Square ist ein »Zwilling« nach bewährter CIA-Manier: nämlich senkrecht in zwei Hälften geteilt, so daß der hintere Teil, durch Doppelverglasung und Jalousien gegen Teleskope und Richtmikrophone abgeschirmt, aus Büros besteht, während die Frontseite in gewöhnliche Appartements aufgegliedert ist und daher den Eindruck eines ganz normalen Wohnhauses erweckt. Ich hatte eine Wohnung im ersten Stock bezogen, und Bekuv wohnte ein Stockwerk über mir. Sein Aussehen hatte sich in den wenigen Tagen seines Aufenthalts in New York erstaunlich verändert. Als erstes hatte er sein Haar von irgendeinem Modefriseur schneiden lassen, und nachdem er sich inzwischen richtig ausgeschlafen hatte, war auch wieder etwas Farbe in sein Gesicht gekommen. Und dann trug er natürlich auch eine ganz andere Kleidung - maßgeschneiderte enge Hosen, einen blauen Lammwollpullover und farbenfrohe, bequeme Segeltuchschuhe. Ich fand ihn auf dem Boden sitzend vor - umgeben von Lautsprechern, Schallplatten, Verstärkerelementen, zusätzlichen Hochtonlautsprechern, einem Plattenspieler, einem Lötkolben und einem Stoß von Radiokatalogen. Doch er sah niedergeschlagen aus. »Andrej ist reingelegt worden«, teilte mir Mann bei meinem Eintreten mit. Mir schien es unwahrscheinlich, daß er mit Bekuv tatsächlich Mitleid empfand. »Und wie?« fragte ich. »Kaffee steht auf der Kochplatte«, sagte Bekuv. Ich goß mir ein und nahm mir auch ein Blini - eine Art Hefepfannkuchen, ohne den die russische Küche um eine Köstlichkeit ärmer wäre. »Dieser ganze blöde HiFi-Krempel!« knurrte Mann. Bekuv legte eine Platte auf, und der Raum war jählings von dröhnender Musik erfüllt. »Verdammt!« fluchte Mann. Mit vorsichtigem Finger hob Bekuv den Tonabnehmer hoch, und das Getöse hörte auf. »Der große Schostakowitsch!« belehrte er alle diejenigen, die das im Augenblick vielleicht interessierte. Mann wandte sich an mich: »Andrej hat fast zweitausend Dollar für diesen ganzen Kram ausgegeben, und danach sind ihm die Kataloge der Versandhäuser in die Hände gefallen.« 58
»Ich hätte das alles um fünfhundert Dollar billiger haben können«, beschwerte sich Bekuv bei mir. Ich sah, daß er in den Katalogen viele Stellen rot angekreuzt und auf der Rückseite eines Briefumschlages eine Reihe winziger Zahlen zusammengezählt hatte. »Na, vielleicht können wir da doch noch was unternehmen«, meinte ich vage, während ich meinen Kaffee schlürfte und mit meinen Gedanken ganz woanders war. »Eins steht jedenfalls fest - Andrej geht nicht mehr in die Stadt«, erklärte der Major kategorisch. Mir wurde klar, daß die beiden wieder einmal über diesen Punkt in Streit geraten waren. »Aber dieser Lautsprecher hier hat einen sehr ärgerlichen Brummton«, sagte Bekuv. »Verstehen Sie nicht, Sie Trottel - da unten auf der Straße warten ein paar Killer auf Sie!« Mann verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, näher an Bekuvs Ohr heranzukommen. »Haben Sie nicht kapiert, was ich Ihnen über die Schießerei gestern abend erzählt habe? Den Rest der Nacht haben wir dann im Leichenschauhaus zugebracht, einem Ort, den ich niemandem empfehlen würde, nicht mal einer Leiche!« »Ich habe keine Angst«, erklärte Bekuv. Er legte den Tonabnehmer wieder auf die Schallplatte. Ein lautes Zischen ertönte, und Bekuv bequemte sich, die Tonstärke ein wenig zu reduzieren. Doch für meinen Geschmack war das noch immer viel zu geräuschvoll. Mann lehnte sich vor und stellte das Gerät einfach ab. »Es ist mir scheißegal, ob Sie Angst haben oder nicht«, sagte er. »Ehrlich gesagt, es ist mir auch egal, ob Sie umgebracht werden oder nicht. Mir kommt es nur darauf an, daß das erst passiert, wenn Sie hier ausgezogen sind und mir jemand anders eine Quittung für Sie unterschrieben hat.« »Wird das bald sein?« erkundigte sich Bekuv und begann in einem Stapel Notizen herumzublättern. »Vielleicht«, sagte Mann. »Ich kann aber hier im Moment auf gar keinen Fall weg!« erklärte Bekuv. »Schließlich muß ich mich vorbereiten.« »Worauf denn?« fragte ich. Bekuv blickte mich erstaunt an, als sei ihm meine Gegenwart erst in diesem Augenblick bewußt geworden. »Auf meine Arbeit natürlich«, sprach er mit einem deutlich ironischen Unterton. »Oder haben Sie vergessen, daß ich den Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation an der Universität New York innehabe?« »Aber nein!« versicherte ich ihm. 59
»Ich habe inzwischen über ein vorläufiges Übertragungsprogramm nachgedacht. Es würde uns nicht sehr teuer kommen, und nebenbei würde es die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit auf unsere Forschung lenken.« »Übertragungsprogramm?« fragte Mann. »Im Weltall gibt es wolkenartige Zusammenballungen aus Wasserstoff. Sie strahlen Schwingungen aus, die man mit jedem Radio als eine Art summendes Störgeräusch empfangen kann. Und zwar bei 1420 Megahertz. Meine Theorie läuft nun darauf hinaus, daß diese Frequenz optimal dafür ist, unsere ersten Signale ins All zu senden. Denn andere Zivilisationen werden mit Sicherheit die geringste Abweichung des Brummtons dieser Wasserstoffschwingungen registrieren.« »Bestimmt«, sagte Mann. »Aber wir dürfen unser Signal natürlich nicht genau auf dieser Wellenlänge senden, weil es ja sonst völlig verschluckt würde. Wir müssen daher minimal von ihr abweichen, das heißt, wir müssen dicht neben ihr senden.« »Dicht neben ihr - aber nicht auf ihr«, wiederholte Mann. Und er nickte. »Das würde wenig kosten, und vor allem - ich könnte das Ganze innerhalb von sechs Monaten auf die Beine stellen«, sagte der Professor. »Sehr gut!« sagte Mann. »Also noch bevor die kleinen grünen Untertassenmännchen in die Sommerferien fahren.« Bekuv blickte Mann von unten her an. Seine Stimme klang plötzlich hart, und es war, als wolle er mit seiner Antwort auf den langen Katalog von Fragen, die unausgesprochen zwischen uns in der Luft hingen, ein für allemal eine umfassende Auskunft geben: » Zweimal lediglich zweimal habe ich an einer Tagung des >Bundes 1924< teilgenommen. Und das letzte Mal ist jetzt schon zirka fünf Jahre her. Ein wissenschaftliches Gremium ist kein Gesangsverein, wie Sie offenbar glauben. Also hören Sie doch endlich auf, zu bohren: Ich kenne kein einziges Mitglied persönlich! Aus erklärlichen Gründen haben wir es uns zur Regel gemacht, keine Namen und Adressen auszutauschen ...« »Aus erklärlichen Gründen«, gab Major Mann zurück. »Weil nämlich dadurch diese Schweinehunde in der Lage waren, sämtliche elektronischen Forschungsergebnisse Amerikas auf militärischem Gebiet an euch zu verraten!« 60
»Und bekommen Sie etwa Ihre Geheimnisse zurück, indem Sie mich hier als Gefangenen halten?« schrie Bekuv. »Ich darf nicht aus dem Haus ... ich darf nicht einmal telefonieren!« Mann machte einen hastigen Schritt zur Tür, als fürchte er, im nächsten Augenblick die Beherrschung zu verlieren. Doch dann drehte er sich zu Bekuv um. »Sie bleiben so lange hier, wie ich es für nötig halte«, sagte er. »Und wenn Sie brav sind, schicke ich Ihnen auch ein Päckchen Grammophonnadeln und ein Abonnement für das Monatsmagazin für kleine grüne Männer.« Bekuv antwortete, wieder ganz gelassen: »Sie mögen die Kosmologie nicht, Sie mögen weder HiFi-Anlagen noch Schostakowitsch, Sie mögen nicht einmal Blinis ...« Er lächelte. Und ich war mir im Moment wirklich nicht schlüssig, ob er nicht Mann einfach nur ärgern wollte. Doch Major Mann erklärte ebenso gelassen: »... Und ich mag auch keine Russen, ob Weißrussen, Rote oder Ukrainer, ob nun moskowitische Liberale oder Ballettänzer oder schwule Dichterspinner. Ich mag sie allesamt nicht - habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?« »Das haben Sie!« erwiderte Bekuv gekränkt. »Sonst noch was?« »Ja, noch eins: Ich bin kein internationaler Fachmann für die Konzipierung von Masern. Ich habe mir nur sagen lassen, daß ein Maser so eine Art von Quarzdings ist, das mit elektronischer Energie aufgepumpt wird. Wodurch es imstande ist, auch sehr schwach einfallende Funksignale ganz enorm zu verstärken. Und trotz der Hintergrundstörgeräusche und Überlagerungen bekommt man dann ein schönes, fettes, klares Signal.« »Ganz recht«, sagte der Professor. Es war das erste Mal, daß er sich wirklich interessiert zeigte. »Und ich hab' gelesen, daß Sie mit ihrem flüssigen Heliumbadverfahren, bei dem Sie den Maser in einer Temperatur von fast minus 268 Grad Celsius halten, Funksignale zweimillionenfach verstärken können.« Bekuv nickte. »Na, da seh ich den Tag kommen, wo man jeden beliebigen Zweigroschentransistor mit einem solchen Ding ausstatten kann und wo es möglich wird, damit jeden Radiosender von überall auf der Welt hereinzubekommen. Das bedeutet natürlich zunächst nur, daß man den Discjockey in Peking statt in Pasadena einschalten kann und hört, was der so von sich gibt, bevor er die nächste Platte drauflegt. Aber 61
der Mann, der für das Kristallding Prozente bekommt, der macht ein paar Millionen damit, stimmt's?« »Ich bin nicht des Geldes wegen in den Westen gekommen«, sagte Bekuv. Major Mann lächelte. »Ich bin nicht übergelaufen, um Geld zu machen!« schrie Bekuv. Wenn Mann vielleicht ein Mittel gesucht hatte, mit dem man Bekuv vor Wut außer sich bringen konnte - jetzt hatte er es gefunden. Mann nahm mich am Arm und führte mich aus dem Zimmer. Er machte die Tür behutsam und mit übertriebener Sorgfalt zu. Während wir die Treppe hinunter in meine Wohnung gingen, sprach ich kein Wort. Mann zog seinen dunklen Regenmantel aus, ballte ihn zu einem Knäuel zusammen und warf ihn gezielt in eine Ecke. Von oben brach erneut dröhnende Musik über uns herein - der große Schostakowitsch. Mann schloß die Tür, um ihn zu dämpfen. Ich ging zum Fenster, um einen Blick auf den Washington Square zu werfen. Es war sonnig - ein typischer New Yorker Wintertag, an dem man, von der Sonne verführt, die lange Unterwäsche auszieht, damit der quer über Manhattan fegende, scharfe Seitenwind einen hinterher um so besser in einzelne, trockengefrorene Salamischeiben aufschneiden kann. Auch das Gesangsquartett unter dem Washingtontor hatte sich die Kapuzen der Parkas übergestülpt. Durch die doppelte Verglasung drang kein Ton des sicherlich im Torbogen laut widerhallenden Weihnachtsliedes zu uns, aber wir hatten ja den angenehm säuselnden Schostakowitsch vom oberen Stockwerk. Mann hatte sich bereits in meinem bequemsten Sessel niedergelassen. Er griff nach dem Durchschlag meines Berichtes. Ich stellte fest, daß er schon in seinem Büro gewesen war und alle Eingänge studiert hatte, denn er widmete dem Bericht nur ein paar Sekunden, dann schlug er den schweinsledernen Einband meiner Dokumentenmappe auf und deutete mit dem Finger auf die Akten Greenwood und Hart, welche in den frühen Morgenstunden durch den Kurierdienst bei mir eingetroffen waren - übrigens waren es zwei äußerst magere Berichte. »Der Wagen hatte also ein Diplomatenkennzeichen?« »Das steht eindeutig fest«, sagte ich. »Und das Telex — haben Sie es gelesen?« »Demzufolge wohnen die beiden Russen in einem Gebäude, das der zweite Sekretär der sowjetischen Handelsdelegation gemietet hat ... Gut, das hab' ich gelesen, aber das macht sie noch lange nicht zu KGB-Männern oder zu Diplomaten. Sie können genausogut auf 62
Verwandtenbesuch sein. Vielleicht sind sie auch nur Untermieter oder illegale Einwanderer oder was weiß ich.« Mann knurrte vor sich hin: »Am liebsten würde ich mir die Inhaber dieses Wagens schnappen und sie richtig in die Zange nehmen!« »Und womit wollen Sie das begründen? Etwa damit, daß sie Fahrerflucht begangen hätten?« »Sehr witzig!« sagte Mann. »Aber das Diplomentenkennzeichen des Wagens schafft ohne Zweifel eine Verbindung zwischen der Handelsdelegation und den drei Revolverhelden - oder?« »Sie meinen, der KGB verleiht einen Dienstwagen an ein paar Gangster?« Mann schürzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf, als täte es ihm leid, einem verzogenen Kinde ein Stück Sahnetorte verweigern zu müssen. »Wenn Sie das so direkt ausdrücken wollen - bitte«, sagte er. »Aber schließlich hatten die ja andererseits keinen Grund zu der Annahme, daß irgend etwas schiefgehen würde. Sie haben die Sache für ein Kinderspiel gehalten, zumal der Dienstwagen als Fluchtfahrzeug geradezu ideal war. Kein Polizist hätte ihn je gestoppt. An sich eine gute Idee.« »Die aber geplatzt ist.« »Die aber geplatzt ist - stimmt.« Er blätterte flüchtig durch meine Aktenmappe für wichtige Eingänge. »Sollten wir uns heute nicht mal ein bißchen mit diesem Papierkrieg befassen?« »Darf ich aus dem >wir< entnehmen, daß auch Sie bereit sind, den Kugelschreiber zu zücken und eine neue Packung Büroklammern anzubrechen?« Mann lächelte erhaben. Ich legte die Mappe neben mich aufs Sofa und begann, sie nach »dringlich«, »vordringlich« und »telefonisch« zu sortieren. Mann beugte sich von hinten über die Sofalehne und hob den säuberlich gestapelten Aktenstoß an einer Ecke an. Jedes Bündel hatte einen andersfarbenen Laufzettel angeheftet, damit ich sofort erkennen konnte, was ich da unterschreiben sollte. Mann atmete hörbar durch die Zähne. »Diese Schreibmaschinen-Geheimagenten im Parterre können zwar nicht mal 'nen Mikropunkt von der Posterbeilage im Playboy unterscheiden, aber man braucht ihnen nur die Gelegenheit zu geben - und schon wird man unter Papier begraben! Verdammt, ganze Lawinen rollen da gleich an!« Er ließ die Akten wieder aus der Hand fallen, und das dabei entstehende Geräusch unterstrich laut und deutlich seine Worte. 63
Ich schob die Unterlage mit den Schriftstücken aus Manns Reichweite, ehe er vielleicht beschloß, mir seinen Standpunkt ein weiteres Mal zu demonstrieren; ein paar Laufzettel und Büroklammern waren bereits abgegangen. »Also, ich werde Sie jetzt ganz Ihrem Eifer überlassen«, sagte Mann. »Ich muß machen, daß ich mein Flugzeug noch erwische. Falls mich jemand sprechen will, sagen Sie, er soll es im Hotel Diplomat in Miami, Florida, versuchen.« »Wie? Sie wollen doch nicht etwa Ihren richtigen Namen verwenden?« »Ich werde nicht einmal dort sein, Sie Spatzenhirn! Es soll nur so aussehen.« Ich griff nach dem nächsten Aktenbündel. »Übrigens, bevor ich gehe«, Mann stand noch immer in der Tür und sah mir bei der Arbeit zu, »Bessie läßt fragen, ob Sie Weihnachten mit uns verbringen wollen.« »Großartig«, sagte ich, ohne vom Schreibtisch aufzublicken. »Aber ich muß Sie vorher warnen. Bessie hat vor, auch diese Miss Bancroft einzuladen ... und Bessie bringt nun mal gern Leute unter die Haube...« »Und Sie wollen wohl inzwischen ein neues Versteck für Bekuv ausfindig machen, wie?« Mann entblößte als Antwort seine Zähne - zu jener Art von häßlicher Grimasse, die er selbst für sein wärmstes, entgegenkommendstes Lächeln hält. Ich arbeitete durch bis Mittag. Dann schaute einer von der Abteilung »Geheime Auswertung«, abgekürzt G.A., bei mir herein. »Ist Major Mann hier?« »Nein.« Ich ließ mich nicht gern bei der Durchsicht meiner Akten stören. »Wo kann ich ihn erreichen?« »Keine Ahnung«, sagte ich, ohne ihm Beachtung zu schenken. »Sie müssen doch wissen, wo er steckt!« »O.K. - unter uns: Zwei kräftige Kerle in weißen Kitteln haben ihn fortgeschleppt, obwohl er wie wild um sich schlug.« »Ach, hätt' ich beinah vergessen - Sie werden am Telefon verlangt«, sagte der Mann aus dem unteren Stockwerk, Abteilung G.A., und sah sich heimlich im Zimmer um. Offensichtlich wollte er sich vergewissern, daß ich den Major nicht irgendwo verborgen hielt. »Also, dann geh' ich wieder und sag' der Vermittlung Bescheid, das Gespräch an Sie durchzustellen.« 64
»Da ist einer auf der Wall-Street-Leitung - nennt sich Gerry Hart«, sagte mir der Mann von der Fernsprechzentrale. »Soll ich Sie verbinden?« »Ja, bitte.« Wenn es Hart nur einen Tag gekostet hatte, die Nummer der Handelsbank in der Wall Street auszumachen, die ich bislang für meine beste Deckadresse gehalten hatte, konnte man sich ja ausrechnen, wie lange es dauern würde, bis er den Rest auch noch geknackt hatte. Ich schob einen Stapel von Polizeiberichten beiseite. »Was halten Sie von einem gemeinsamen Lunch?« kam Hart gleich zur Sache. Seine Stimme hatte den warmen, vibrierenden Ton der Leute, die den ganzen Tag am Telefon hängen. »Warum?« »Es hat sich einiges ergeben.« »Sprechen Sie mit dem Chef.« »Hab' ich versucht, aber er soll ja in Miami sein.« Harts Tonfall gab mir unmißverständlich zu verstehen, daß er nicht daran dachte, das zu glauben. »Vielleicht erreichen Sie noch rechtzeitig die Nachmittagsmaschine, da wird sogar in der Touristenklasse Champagner serviert.« »Sagen Sie mal, sitzen Sie tatsächlich in der Wall Street, oder bin ich um drei Ecken mit einer gewissen Nummer in Langley, Virginia, verbunden?« Und er brach in ein amüsiertes Gackern aus. »Nun sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben, Gerry!« »Hören Sie, in Wahrheit möchte ich den Major gar nicht sprechen, sondern Sie. Schenken Sie mir eine halbe Stunde Zeit - sagen wir, bei einem Käse-Sandwich. Sie kennen doch Cockery auf der University-Plaza? Wie war's dort — um ein Uhr? Aber sagen Sie Mann nichts davon,ja?« Er hatte ausgerechnet das Restaurant vorgeschlagen, das unserem konspirativen Haus am allernächsten lag. Das konnte allerdings auch Zufall sein — Cockery war schließlich eines meiner Lieblingsrestaurants, und Gerry hätte das leicht in Erfahrung bringen können. Aber ich hatte nun mal das bestimmte Gefühl, daß er mich mit seinen Anspielungen einfach unsicher machen wollte, ehe er mit seinen Vorschlägen über mich herfiel. »Also schön«, sagte ich. »Ich habe mir inzwischen ein Schnurrbärtchen zugelegt - werden Sie mich da auch erkennen?« meinte er. »Am besten lese ich also noch zusätzlich die New York Times von heute.« »Dann bitte auch gleich mit zwei Löchern in der Titelseite zum Durchblinzeln.« 65
»Passen Sie lieber auf, daß Ihnen Captain America nicht hinterherschleicht«, erwiderte Hart und hängte auf. Gerry Hart zog beim Platznehmen sorgfältig die Hose oberhalb der Knie hoch, um seinen eleganten Mohairanzug zu schonen. Nachdem er das erledigt hatte, ließ er die Manschetten seines Hemdes aus den Jackenärmeln rutschen - gerade so weit, daß man die Manschettenknöpfe zu sehen bekam, andererseits aber reichte es auch noch, daß seine wertvolle Pulsar-Armbanduhr sichtbar blieb. Seiner Akte nach war er ein anerkannter Sachverständiger für den New-Orleans-Jazz. Mann hatte dazu nur bemerkt: »Immerhin etwas.« »Wissen Sie eigentlich, daß ich aktiv in der Politik stecke?« fragte mich Hart. »Ach - und ich habe gedacht, Sie spielen im Pferdelotto.« Er lächelte knapp. »Ihr Sinn für Humor war schon immer umwerfend. Doch falls Sie glauben, daß ich noch so allergisch gegen Witzeleien bin wie früher - da haben Sie sich aber gründlich getäuscht.« Er fingerte selbstbewußt an seinem Bärtchen herum. Mir fielen sofort die manikürten Fingernägel auf. Es lag auf der Hand, daß sich der unsichere, beschränkte kleine Angestellte des State Department, der er war, als ich ihm vor Jahren zum erstenmal begegnete, inzwischen gemausert hatte. Die Getränke kamen. Ich versetzte meine Bloody Mary mit einem Schuß Tabasco und bot Gerry auch davon an. Doch er schüttelte den Kopf. »Reinen Tomatensaft sollte man nicht nachwürzen«, meinte er blasiert. »Und daß Sie das bei der Menge Wodka noch für nötig halten, nimmt mich ehrlich wunder.« »Nach Ansicht meines Psychoanalytikers folge ich nur dem latenten Trieb, meinen Mund keimfrei sauberzuhalten.« Hart nickte: »Mit Ihrem Mundwerk hätten Sie einen guten Politiker abgegeben.« »Ach, Sie denken wohl, ich würde vor einem Problem auch immer mit offenem Mund dastehen?« Ich trank einen ausgiebigen Schluck Bloody Mary. »Scherz beiseite, falls ich vorhabe, in die Politik einzusteigen, werde ich mich natürlich zuerst an Sie wenden.« Ich war mir nur zu bewußt, daß es reine Dummheit wäre, wenn ich Hart jetzt vergrämen würde, bevor ich wußte, was er von mir wollte. Aus seiner Akte hatte ich lediglich entnommen, daß er einunddreißig Jahre alt und früher in Connecticut als Anwalt tätig war. Dennoch zählte ich ihn zu den Besten der wachsenden Schar junger Männer, 66
die ein paar Jahre Dienst im CIA als Sprungbrett für ihre Karriere benutzt hatten - ähnlich übrigens, wie der britische Mittelstand sich seinerzeit der Brigade of Guards bedient hatte, um zu avancieren. Hart war klein und von etwas plumper Gestalt, aber in seiner Art sah er ausgesprochen gut aus - mit dem Lockenkopf und den dunklen Ringen unter den tiefliegenden Augen, die einen zur Annahme verführten, daß er manchmal ein wenig vor sich hin träumte. Der Schein trog - er war vielmehr äußerst selbstdiszipliniert, weder trank er noch rauchte er, und wenn er ein wenig schläfrig aus der Wäsche guckte, dann vermutlich nur deshalb, weil er nächtelang aufblieb und bereits jetzt schon an seiner Antrittsrede herumfeilte, die er vor dem Kongreß verlesen würde - an dem Tag, an dem er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt würde. Hart nippte an seinem Tomatensaft und wischte sich dann sorgfältig den Mund, bevor er mich fragte: »Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß ich gegenwärtig mit weit mehr Fakten höchster Geheimstufe zu tun habe als früher, wo ich noch für die Behörde arbeitete?« »Natürlich«, sagte ich. Hart schien es als Genugtuung zu empfinden, auf den CIA mit dem Wörtchen »Behörde« anzuspielen, um durchblicken zu lassen, daß auch er mal »mit dabei« gewesen war. Zwar war in seiner Akte nichts darüber vermerkt, doch das besagte im Grunde gar nichts. »Haben Sie jemals was vom >Bund 1924< gehört?« fragte mich Hart unvermittelt. »Gerade darüber hätte ich gern etwas Näheres von Ihnen erfahren«, erwiderte ich. »Mit Vergnügen«, antwortete Hart. Die Bedienung kam mit der Speisekarte an unseren Tisch. »Sie können gleich dableiben«, sagte er zu ihr. Mit flüchtigem Blick ging er die Menüvorschläge durch. »Club-Sandwich, gemischter Salat, auf französisch mariniert, und einen Kaffee - O.K.?« »Ja, Sir«, sagte die Kellnerin. »Für mich genau dasselbe«, sagte ich. Mir lag momentan sehr daran, daß Hart sich überlegen vorkam. Die Bedienung klappte den Notizblock zu, nahm uns die Speisekarte ab und kam überraschend schnell mit unserer Bestellung zurück. Gerry Hart beglückte sie dafür mit einem anerkennenden Lächeln. »Kurz gesagt - wir haben den >Bund 1924> unterwandert. Deshalb 67
können wir es überhaupt machen«, teilte mir Hart mit, als die Kellnerin weggegangen war. »Was ist eigentlich in so einem Club-Sandwich alles drin?« fragte ich Hart. »... Was machen?« »Mrs. Bekuv in den Westen bringen.« »Ist es nicht dasselbe wie ein >Dreidecker« »Wir sind in der Lage, Mrs. Bekuv aus den UdSSR rauszuholen, offiziell oder inoffiziell — wie Sie wollen.« »Wie denn?« »Das >wie< geht Sie nichts an.« Ich nahm die oberste Scheibe von meinem Sandwich ab und untersuchte die Füllung. »In England kennen wir nämlich keine ClubSandwiches«, erklärte ich Hart. »Nicht einmal Greenwood ist informiert worden, daß es sich hierbei um eine CIA-Unternehmung handelt«, fuhr Hart fort. »Aber natürlich werden wir zunächst versuchen, Mrs. Bekuv durch die Vermittlung des Subkomitees des Senats für wissenschaftliche Entwicklung von den Russen loszueisen, aber wenn die nicht mitmachen, müssen wir's eben auf andere Weise bewerkstelligen.« »Augenblick mal«, warf ich ein, »welche CIA-Unternehmung meinen Sie?« »Na, welche schon? Die den >Bund 1924< infiltriert hat, natürlich.« »Ehrlich gesagt, ich habe keinen blassen Schimmer, was es mit diesem Verein auf sich hat«, bemerkte ich. Hart lächelte überlegen. »Also, das ist eine einfache Geschichte: 1924 war der Mars ungewöhnlich nah an die Erde herangekommen. Einige Wissenschaftler hielten es für den gegebenen Zeitpunkt, daß nun der Mars möglicherweise mit der Erde Kontakt aufnehmen wollte. Spekulationen darüber lösten einen endlosen Streit der Wissenschaftler in den Fachzeitschriften aus, und daraufhin griff natürlich auch die Tagespresse das Thema auf. So kam eins zum anderen. Die Armee und die Marine der Vereinigten Staaten forderten zum Beispiel ihre Sendestationen auf, den Funkverkehr einzuschränken und nach außerirdischen Signalen zu fahnden. Damals hat sich auch der >Bund 1924< konstituiert. Zwölf der bedeutendsten Fachexperten taten sich zusammen und beschlossen, alle Informationen über Signale aus dem Weltall zu koordinieren und gemeinsam eine Methode zu entwickeln, wie man Botschaften von der Erde ins All schicken könnte.« »Dieser Verein scheint mir noch immer sehr aktiv zu sein.« 68
»Durchaus richtig. Inzwischen ist er auf siebenundzwanzig Mitglieder angewachsen - allerdings gehören nur noch drei von ihnen zu den Mitbegründern. Und eine Menge Leute nehmen ihn nach wie vor ernst. Als drei sowjetische Astrophysiker in einem Hunderttagezyklus Funkwellen vom Sonnensystem Quasar CTA-102 empfangen hatten, hat sich der >Bund 1924< intensiv mit dieser Sensation beschäftigt - noch bevor die Sowjetische Akademie Wind von der ganzen Sache bekommen hatte und der Kreml Order gab, die Meldung zu widerrufen.« »Und der CIA hat also den >Bund 1924< unterwandert?« »Woher, glauben Sie, haben wir die ersten Hinweise bekommen, daß Bekuv bereit war, zu uns überzulaufen?« Ich fing an, meine Brillengläser zu polieren - man sagt mir nach, das täte ich immer, sobald ich außer Fassung bin -, und widmete mich mit übertriebener Sorgfalt meinen Linsen, denn ich brauchte ein wenig Zeit, mir Hart noch einmal genauer daraufhin anzusehen, ob er tatsächlich den Kopf dazu hatte, die Orchestrierung dieses Stückes zu schreiben, statt die Tuba zu blasen, wie ich es bis jetzt angenommen hatte. Gerry Hart fuhr fort: »Es handelt sich um eine gewaltige Unternehmung, machen Sie bloß nicht den Fehler, uns zu unterschätzen. Bekuv ist im Grunde nur ein winziges Detail davon. Trotzdem - wir kriegen Mrs. Bekuv her, wenn es das ist, was Sie wollen.« »Aber?« Er stach die Gabel in das Sandwich und schnitt ein mundgerechtes kleines Dreieck davon ab. »Aber dafür müssen Sie erreichen, daß Major Mann seine ungeschickten, plumpen Finger vom >Bund 1924< läßt. Seine nervtötende Art würde die Herrschaften glatt dazu bringen, ums liebe Leben zu laufen - ausgerechnet jetzt, wo wir's erreicht haben, daß alles schön geruhsam weitertickt.« Er nahm die Gabel in die andere Hand und aß das aufgespießte Stück Sandwich. Ich nahm das Sandwich in die Hand und erwiderte ihm erst, nachdem ich mir meine Antwort gründlich überlegt hatte. »Sie waren sehr offen zu mir, Gerry«, sagte ich, »und deshalb werde ich auch ganz offen zu Ihnen sein. Sie glauben, wir würden uns ernstlich den Kopfzerbrechen, wie wir Mrs. Bekuv herholen können? Unter uns - wir kümmern uns einen Dreck darum! Sicher - wir haben deswegen eine große Show abgezogen, aber doch nur, um Bekuv im Glauben zu bestärken, daß wir uns seinetwegen die Hacken ablaufen. In Wirklichkeit ziehen wir es jedoch vor, die Dinge so zu lassen, wie sie sind.« 69
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« meinte Hart. »Und ob es das ist, mein Lieber!« »Mein Gott, warum hat man uns das nicht früh genug mitgeteilt!« sagte er irritiert, »wo wir da schon so viel Geld investiert haben!« »Für was?« »Nun wir haben bereits das russische Flugpersonal geschmiert ... wir haben die Ausreisepapiere für Mrs. Bekuv beschafft. Es hieß, daß sie vielleicht schon Samstag, nächste Woche, eintreffen würde.« »Wirklich, ein schmackhaftes Sandwich, Gerry. Wie nannte es sich nochmal - Club-Sandwich?... Muß ich mir unbedingt merken.« »Hat Ihr Freund, der Major Mickey Mouse, tatsächlich vor, den >Bund 1924< auseinanderzunehmen?« »Nun, Sie wissen ja, wie er ist.« Gerry Hart stocherte mit seiner Gabel im Salat herum, bis er die letzte Gurkenscheibe herausgepickt und sie, ins Salz getaucht, verzehrt hatte; dann schob er den restlichen Salat beiseite. Er wischte sich mit der Papierserviette den Mund. »Kein Mensch wird mir das abkaufen, daß ich euch Blödmännern unter die Arme greifen wollte! Niemand wird mir das abnehmen, daß ich euch ersparen wollte, euch wegen Mrs. Bekuv noch länger Kopfzerbrechen zu machen — bloß damit ihr mir keine Scherereien macht!« »Glauben Sie im Ernst, daß Sie Mrs. Bekuv herkriegen können kommende Woche, meine ich?« Hart wurde deutlich zuversichtlicher. Er griff in seine Westentasche und entnahm ihr einen Sämischlederbeutel. Vorsichtig knüpfte er ihn auf und ließ seinen Inhalt in meine Hand gleiten, die ich ihm hingehalten hatte. Es waren zwei Goldringe. Der eine war alt und bis zu dem Grad abgewetzt, daß die reiche Gravur nur noch undeutlich zu erkennen war. Der andere Ring dagegen war schlicht, und an der russischen Inschrift, die auf seiner Innenseite eingraviert war, konnte ich sehen, daß er nur hauchdünn vergoldet war. »Diese Ringe gehören Mrs. Bekuv«, sagte Hart. »Der vergoldete ist ihr Trauring, mit 'nem passenden euphorischen Spruch versehen, und der andere hat Bekuvs Mutter gehört - er hat ihn nach ihrem Tode geerbt. Genügt Ihnen das als Beweis?« »Ich muß schon sagen - Sie haben großartig Vorsorge getroffen, lieber Gerry.« »Ich weiß schon, Sie wollen mich nur unsicher machen. Aber diese Masche verfängt bei mir nicht!« sagte Hart. »Freut mich zu hören«, erwiderte ich. 70
»Schließlich ist da noch der Zeitfaktor«, sagte Hart. »Denn wenn Sie mir jetzt keine vorläufige Zusage machen und später nicht ein entsprechendes Stück Papier unterzeichnen, dann werde ich auf der Stelle aufstehen und mich empfehlen.« »Bitte -wie Sie wünschen, nur vergessen Sie nicht, noch vorher die Rechnung zu zahlen.« »Hören Sie, für mich persönlich springt gar nichts dabei heraus«, lenkte Hart ein. »Ich versuche doch bloß zu verhindern, daß zwei Einzelaktionen sich gegenseitig die Tour vermasseln.« »Warum machen Sie keinen offiziellen Bericht darüber?« »Machen Sie Witze? Es würde mich Wochen kosten, das Material zusammenzukriegen, und am Ende...« Er zuckte die Achseln. »Und am Ende kommt Ihr Chef womöglich zu dem Ergebnis, daß Major Mann recht hat!« »Also für mich springt jedenfalls nicht das Geringste dabei heraus«, sagte Hart noch einmal. »Ihre Bescheidenheit in Ehren, lieber Gerry! Ich finde im Gegenteil - da springt eine ganze Menge für Sie heraus. Sie behaupten, Greenwood hätte keine Ahnung, daß Sie bis über die Ohren in den CIA-Recherchen über den >Bund 1924< drinstecken. Sie sind doch viel zu clever, sich diese einmalige Chance entgehen zu lassen, dadurch noch ein paar extra Lorbeeren für Ihre Karriere herauszuschlagen. Nein, mein Bester, ich bin sicher, daß Sie Ihren Chef auf dem laufenden halten. Sie haben vielmehr vor, aus der ganzen Sache kräftig Kapital zu schlagen, um jedem bewiesen zu haben, wie weit Ihr Arm reicht, wie eng Ihr Kontakt zum CIA ist - daß Sie sogar seine Machenschaften vereiteln können, wenn sie Ihnen nicht in den Kram passen. Und damit machen Sie natürlich bei Greenwood mächtig Eindruck - Sie wissen ja so gut wie ich, wie groß das bei ihm ankommt. Vermutlich sitzen Sie schon bald im Kongreß oder gar im Weißen Haus. Nun tun Sie bloß nicht so, als hätten Sie nicht selbst schon an diese Möglichkeit gedacht!« »Deprimiert Sie das nicht manchmal?« fragte Hart. »Sie reden immer so, als ob jeder nur nach Profit aus ist - deprimiert Sie das nicht manchmal?« »Oh doch, Gerry - jedesmal, wenn ich recht behalte. Und das ist praktisch immer der Fall.« »Sagen Sie mal -wieso bin ich Ihnen dermaßen zuwider? Würden Sie einfach nur deshalb, weil ich ein paar politische Zugeständnisse dabei herausschlage, Mrs. Bekuv daran hindern, daß sie mit ihrem Mann zusammenkommt?« 71
»Sie reden nicht mit einem kleinen Angestellten der Dechiffrierabteilung, Gerry - merken Sie sich das gefälligst. Ich bin schon zu lange dabei, um nicht zu wissen, wie das Räderwerk anläuft, wenn Typen wie Sie am Schalthebel sitzen.« »Ich habe aber gehört...« »Ich habe Ihnen reichlich lange zugehört - vom Aperitif bis zum Kaffee; jetzt bin ich dran. Ich kann diese Mrs. Bekuv gar nicht mehr davon abhalten, ihre Reise anzutreten — ich setze meine Altersversorgung gegen einen alten Unterwäscheknopf, daß sie ihr Reiseziel bereits erreicht hat und längst hier ist - hier, in Manhattan - geben Sie's doch zu, Gerry!« »Da muß bei uns eine undichte Stelle sein, denn woher...« »Nix da - undichte Stelle! Agenten in der Sowjetunion - wenn sie es tatsächlich fertiggebracht haben, bislang zu überleben -, würden die etwa Leuten wie Ihnen vorher eine Nachricht zukommen lassen, welche Vorkehrungen für die Ausreise getroffen werden müßten, um sie möglich zu machen? Nein, sie warten geduldig ab, bis sich eine günstige Gelegenheit bietet, treffen eine Blitzentscheidung, handeln und tauchen wieder unter.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Hart. »Und ich stelle mir Mrs. Bekuv als Parteifunktionärin vor, die beide Ellbogen gebraucht - ausgepicht wie Stalin, doch nur halb so attraktiv. Ich kann mir richtig vorstellen, wie sie ihren zerstreuten Ehemann in die hochbezahlte, streng geheime Stellung hineinlavierte - trotz seiner versponnenen Theorien über fliegende Untertassen. Auf keinen Fall ist sie der Typ von Frau, der einem zwielichtigen Fremden die Trauringe aushändigt, welcher womöglich ein KGB-Mann ist und nach einem hieb- und stichfesten Beweis hinterher ist. Nein - ausgeschlossen! Wohl aber könnte sie die Ringe für ein bis zwei Stunden ausgeliehen haben.« Gerry Hart gab keine Antwort. Er goß Sahne in den Rest seines Kaffees und trank ihn langsam aus. »Na gut, wir nehmen sie euch ab, Gerry«, sagte ich. »Aber etwas Schriftliches bekommen Sie nicht. Natürlich werde ich Major Mann beackern, was den >Bund 1924< betrifft, trotzdem kann ich Ihnen nichts versprechen.« »Tun Sie wenigstens Ihr Bestes.« Für einen Moment hatte er den Boden unter den Füßen verloren, doch während ich ihn musterte, beobachtete ich, wie er ihn allmählich zurückgewann. Und nur wie sich weiche Gummibälle und Politiker darauf verstehen, immer wieder 72
hochzukommen, machte er im nächsten Augenblick erneut einen Anlauf gegen mich. »In puncto Mrs. Bekuv haben Sie sich übrigens gänzlich vertan. Sie werden ziemlich überrascht sein, wenn Sie die Dame zu Gesicht bekommen.« »Wer von den Herren möchte zahlen?« fragte die Kellnerin. »Mein Freund ist an der Reihe«, erwiderte ich.
73
KAPITEL 7
Gerry Hart und ich sollten beide recht behalten: Er stellte uns Mrs. Bekuv tatsächlich innerhalb von fünf Tagen zu, mußte sich jedoch mit Manns nichtssagender Versicherung zufriedengeben, daß man von nun an die Recherchen über den »Bund 1924« mit Samthandschuhen betreiben würde. Was dagegen Mrs. Bekuv anlangte, hatte ich völlig danebengehauen. Sie war zwar schon Mitte dreißig, bot aber einen äußerst erfreulichen Anblick mit ihrem goldblonden Haar und ihren üppigen Kurven. Es wurde einem ein schier übermenschliches Vertrauen abverlangt, ihrem geheimdienstlichen Dossier Glauben zu schenken, daß sie schon mit vierzehn Jahren eine glühende Jungkommunistin war und acht Jahre lang die Sowjetunion mit Vorträgen über den Obst- und Getreidebefall von Schädlingen bereist hatte. Gerry Hart hatte recht — Mrs. Bekuv war eine ziemliche Überraschung. Elena Katrinka hatte, ebenso wie ihr Mann Andrej Mikhail, längst vor ihrer Ankunft in New York ihre Einkaufsliste zusammengestellt: Sie hatte sich auf der Stelle einen Kosmetikkoffer mit sämtlichen Cremes und Lotions von Elizabeth Arden und ein vollständiges Set aufeinander abgestimmter Koffer von Gucci zugelegt, gefüllt mit einer Garderobe neuester Mode, die auf jedes Wetter abgestimmt war und sie auch längere Zeit ohne Reinigungsanstalt auskommen ließ. Wie sie da so selbstbewußt vorn in Major Manns Plymouth-Straßenkreuzer saß, in einem aus Samt gefertigten Hosenanzug und einem reinseidenen Rollkragenpulli, und wie ihr helles Haar im Scheinwerferlicht des aufkommenden Verkehrs ständig aufblitzte, erschien sie mir amerikanischer als Bessie Mann oder Red Bancroft, die zu beiden Seiten neben mir im Fond des Wagens Platz genommen hatten. Mrs. Bekuv war hellwach, während der Kopf ihres Mannes sich immer tiefer seitwärts neigte, bis er endlich auf der Schulter seiner Frau lag. Major Mann war viel zu spät dran, um noch dem Chaos des vorweihnachtlichen Verkehrs zu entgehen. Wir mußten also damit rechnen, daß wir - wo auch immer - ziemlich spät eintreffen würden. »Sollten wir nicht lieber telephonieren, Liebling... sie bitten, uns das Dinner aufzuheben?« fragte Bessie. »Wieso? Sie wissen doch, daß wir auf dem Anmarsch sind.« Er 74
scherte plötzlich aus und preschte geschickt auf der Überholspur vor. Bekuv hatte unterdessen einen Sender in Baltimore gefunden, der lateinamerikanische Musik ausstrahlte, doch Mann griff ein und verminderte die Lautstärke. »Ich hab' gehört, Virginia sieht so ähnlich aus wie England«, sagte Red Bancroft und versuchte, mit ihren Augen durch die Dunkelheit zu dringen. »Keine Angst - ich weck' dich, wenn's hell wird«, sagte ich. »Falls einer von euch das Steuer übernehmen will - bitte, jederzeit«, sagte Mann irritiert. »Du liebe Zeit - wohin würde das führen?« rief Bessie, lehnte sich vor und tätschelte seinen Kopf. »Nein, Liebling, wir alle verlassen uns da ganz auf dich!« »Du, während ich Auto fahre, solltest du das lieber seinlassen!« »Wann hätte ich sonst die Gelegenheit dazu? Das ist doch das einzige Mal, wo du mir den Rücken zukehrst!« Red Bancroft meinte versonnen: »Jedesmal, wenn mein Vater meine Mutter fragte, was sie sich zu Weihnachten wünschte, hat sie gesagt, am liebsten würde sie wegfahren - in irgendein Hotel, bis der Rummel vorbei war. Aber das hat sie natürlich nie gedurft.« Sie zündete sich eine ihrer geliebten Mentholzigaretten an und blies mir den Rauch ins Gesicht. Ich schnitt eine Grimasse. »Na klar, einfach wegen der vielen Arbeit«, erklärte der Major über die Schulter hinweg. »Ist auch verständlich - sie wollte mal fort von den Kochpötten und dem ewigen Abwasch.« »Daß ihr Männer uns so klar durchschaut!« gab ihm Bessie mit geheuchelter Bewunderung zur Antwort. »Jedenfalls muß das ihr Beweggrund gewesen sein« - der Major bestand darauf. »Aber ja doch, Liebling, du hast vollkommen recht!« Bessie lehnte sich vor, um seine Wange zu streicheln - er nahm ihre Finger und küßte ihre Hand. »Unter dem rauhen Umgangston scheinen Sie mir beide eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu verbergen«, sagte ich. »Siehst du, Bessie, wir sollten es vor anderen bleibenlassen«, mahnte der Major seine Frau. »Nehmen wir uns besser vor diesen romantisch angehauchten jungen Leuten ein bißchen zusammen.« »Warum heißt dieser Staat eigentlich Virginia?« fuhr Mrs. Bekuv etwas übergangslos dazwischen. Sie sprach ausgezeichnet englisch, auch wenn ihre Stimme merkwürdig affektiert dabei klang und ihre 75
Aussprache erbärmlich war, als hätte sie es sich ganz allein aus Lehrbüchern angeeignet. »Er ist nach Englands jungfräulicher Königin genannt worden«, sagte Mann. »Oh...«, sagte Mrs. Bekuv und war sich nicht sicher, ob sich Mann jetzt nicht über sie lustig machte. Mann lachte gut gelaunt und schaltete wegen des steilen Hügels vor uns in den zweiten Gang herunter. Das war nun freilich ein wirklich ausgefallenes Versteck: ein altes, alleinstehendes Haus, inmitten einer riesigen Grünfläche. Als wir die von Schlaglöchern zerklüftete Auffahrt hochfuhren, schreckten unsere Scheinwerfer Hasen und Rehe auf, und dann erblickten wir durch die Bäume das Hotel - die Fenster strahlend erleuchtet in gelb-warmem Licht, die Fassade mit Girlanden und bunten Glühbirnen wie ein Kinderweihnachtsbaum geschmückt. Auf dem Kiesplatz vor der Scheune stand ein Bus - ein schimmerndes Monstrum aus Metall, das noch aus der Zeit stammte, wo ein solches Fahrzeug noch nicht mit Klimaanlage und getönten Scheiben ausgestattet war. Daneben stand ein Pkw. Als wir hielten, fingen unsere Scheinwerfer die auf Hochglanz polierte Karosserie eines betagten Packard-Kabrioletts ein: ein Oldtimerfan mußte ihn wieder instand gesetzt haben. »So, da wären wir«, sagte Mann, während er das Licht und das Radio ausschaltete. »Und jede Menge Zeit fürs Abendessen.« »Immerhin - schon acht Uhr zwanzig«, meinte Bessie. Bekuv gähnte, und seine Frau schlüpfte ungeniert in ihre Schuhe und machte die Wagentür auf. »Na, dann - ein frohes Fest!« sagte ich, und Red küßte mich dafür spontan aufs Ohr. »Wetten, daß es euch hier mächtig gefallen wird!« sagte der Major. »Hoffentlich!« sagte Bessie. »Sonst bist du nämlich für mich erledigt.« Als ich aus dem warmen Auto stieg, durchdrang mich die Kälte des offenen Geländes mit beißender Schärfe. »Ist es hier nicht einfach umwerfend schön?« rief Red Bancroft. »Es hat sogar geschneit!« »Erinnert Sie das hier nicht ein wenig an Ihr Zuhause, Professor Bekuv?« erkundigte sich Bessie. »Kaum!« erwiderte Andrej Bekuv. »Ich bin in der Wüste aufgewachsen — in einem Gebiet, das noch weit verlassener ist als die Sahara. Die UdSSR ist unvorstellbar groß, müssen Sie wissen.« 76
»War Ihr Daheim auch in der Wüste, Katrinka?« fragte Bessie etwas verlegen. Mrs. Bekuv legte sich gerade ein langes, rotes Cape um und zog die Kapuze über den Kopf, um sich vor dem feuchtkalten Wind zu schützen. »Jetzt ist Amerika mein Zuhause, Bessie!« erklärte sie. »Besonders New York hat es mir angetan - nein, ich würde Amerika um keinen Preis wieder verlassen!« Mann schloß die Wagentüren ab, und ich fing seinen Blick auf. Unsere heimliche Sorge, wie wir Mrs. Bekuv zum Kapitalismus bekehren könnten, schien ganz unbegründet zu sein. »Nehmt nur die Handtaschen und die Kameras mit«, sagte Mann vorsorglich jedem, der ihm vielleicht noch zuhörte, »man wird hier sicher jemanden haben, der den Rest besorgt.« »Daß du immer den Wagen abschließen mußt!« sagte Bessie Mann. »Ist er nicht schrecklich mißtrauisch?« wandte sie sich an die Allgemeinheit, die das schon längst erkannt hatte. Wir begaben uns ins Foyer des Hotels, und einen Augenblick lang bildete ich mir ein, Mann habe im Grunde dieses Hotel doch nur ausgewählt, damit sich die Bekuvs wenigstens über Weihnachten ein wenig heimisch fühlten. Die plumpen Möbel waren noch aus massivem Holz, die Vorhänge hatten ein altmodisches Blumenmuster, und auf der Treppe lag der unvermeidliche, schon etwas rissige Linoleumläufer. Über dem Anmeldeschalter hing eine gerahmte Photographie von Franklin Roosevelt und außerdem ein Steindruck des berühmten Photos, auf dem amerikanische Marinesoldaten auf Iwo die Flagge hissen. Selbst bei der Empfangsdame hatte man irgendwie das Empfinden, als sei sie auch nur des nostalgischen Effekts halber anwesend: Klein und forsch war sie, mit ihrem sorgfältig ondulierten, grauen Haar und dem Kleid aus geblümtem Kattun. »Da sind Sie ja für den zweiten Teil des Films gerade rechtzeitig gekommen«, sagte sie. Doch Mann nahm gleich die Speisekarte von der Theke. »Ich finde es gescheiter, zu Abend zu essen«, meinte er. »Aber Sie würden wirklich niemanden stören, denn der Junge muß jede halbe Stunde die Spule wechseln, und da wird Licht gemacht.« »Können Sie uns das Essen ins Zimmer hochschicken?« »Wie Sie wünschen«, sagte die alte Dame. »Für mich diese Suppe nach guter Hausfrauenart, dann ein Steak — halbroh - und Salat«, sagte Mann. »Und schicken Sie uns vorher noch eine Flasche Scotch und eine Flasche Wodka mit Eis und etwas zum Knabbern rauf.« 77
»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, sagte die alte Dame. »Und wie ist es mit den übrigen Herrschaften - alles dasselbe?« Sie lächelte uns zuvorkommend an. »Sie haben übrigens alle einen Kühlschrank im Zimmer.« Es sei uns recht, murmelten wir im Chor, bis auf Mrs. Bekuv, die das Steak ganz durchgebraten haben wollte. »Sie bekommen bei mir garantiert die besten Steaks nördlich von Texas«, sagte die alte Dame. »Jedenfalls hat das mir bisher jeder versichert.« Die Einzelzimmer, welche für Red und mich vorbestellt waren, befanden sich am äußersten Ende des Flurs. Das eine hatte nur eine Dusche, das andere dagegen war mit einem kompletten Badezimmer ausgestattet. »Dusche oder Badewanne?« fragte ich Red, als wir die Zimmer besichtigten. »Duschen sind mir ein Greuel!« sagte sie, während sie das Zimmer mit Dusche betrat, »besonders diese dünnwandigen Blechkästen die machen so furchtbar viel Lärm.« Sie ging zu dem Einzelbett hinüber und drückte es ein, um zu prüfen, ob es auch weich genug war. Dann zog sie die Decke zurück und puffte gegen die Kissen. »Nein«, sagte sie und kam auf mich zu - ich stand abwartend in der Tür -, schob ihren Arm in meinen und zog mich in das andere Zimmer. »Ich finde, wir sollten das Zimmer mit der Badewanne nehmen.« Sie setzte sich aufs Bett und zog sich die verrückte kleine Strickmütze vom Kopf, die ihr so gut zu gefallen schien. Sie knöpfte sich das Kleid auf. Ihre langen, roten Haare fielen ihr auf die weißen Schultern. Sie lächelte mich an. Sie war das schönste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen hatte. Ihre unbefangene Heiterkeit wärmte mir das Herz. Sie schleuderte ihre Schuhe weg. Ich griff zum Telephon. »Bringen Sie mir eine Flasche Champagner aufs Zimmer«, sagte ich. »Ganz recht, französischen... Hm - wenn ich's mir genau überlege schicken Sie gleich zwei Flaschen hoch.« Als wir etwas verspätet den Salon betraten, den sich die Bekuvs gemeinsam mit den Manns teilten, war ein junger Zimmerkellner in weißgestärkter Schürze und schwarzer Frackschleife bereits damit beschäftigt, die Tischdecke glattzustreichen und das Besteck aufzulegen. »Und ich hab' mir eingebildet, ihr zwei hättet momentan auf was ganz anderes Appetit und würdet das Dinner ausfallen lassen«, meinte der Major anzüglich. 78
»Ach Mickey!« sagte Bessie. »Du hast ja noch gar nicht den Wein bestellt!« »Haben Sie einen anständigen Rotwein?« fragte der Major den jungen Kellner. »Nur kalifornischen«, sagte der junge Mann. »Genau der schmeckt mir«, erwiderte Mann und legte dabei die Hand aufs Herz, als wolle er für den Wein geradestehen. Diese Geste war mir inzwischen wohlbekannt. Die Frau des Hoteliers hatte das Essen persönlich angerichtet. Die Suppe nach Hausfrauenart bestand aus einem Gemüseallerlei und Muscheln, und auch die Steaks waren ganz vorzüglich. Major Mann war vor allem von dem in Butter angemachten Mais angetan. »Von mir aus könnt ihr euch die ganze französische Küche an den Hut stekken - ich bleibe bei der amerikanischen«, teilte er uns mit. Darauf sagte Mrs. Mann: »Also, die kriegst du zu Hause ja sowieso immer, ob's dir paßt oder nicht.« Die Bekuvs lächelten darob verhalten, hüllten sich jedoch in Schweigen. Von unten her drangen die geräuschvollsten Stellen der musikalischen und akustischen Filmuntermalung bruchstückhaft bis zu uns herauf - so wurden uns die Einschläge von Granaten und ein paar Fetzen Musik aus dem Zweiten Weltkrieg gratis zum Essen mitgeliefert. Wahrscheinlich hatte Bekuv schon geahnt, daß es dem Major jetzt an der Zeit schien, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Denn als Mann nach dem Essen mit einer Kiste Zigarren aufwartete und vorschlug, sich nach unten in den Rauchsalon zu begeben, um nicht am nächsten Morgen vom abgestandenen Rauch mit schwerem Kopf aufzuwachen, ging Bekuv bereitwillig darauf ein. Ich schloß mich ihnen an. Der Salon war auf die gleiche deprimierende Weise eingerichtet wie das Foyer, nur hingen hier noch eine Reihe pompöser, auf Sepiapapier entwickelter Photographien an den Wänden, auf denen Männer mit Schutzbrillen um vorsintflutliche Rennautos herumstanden und sich gegenseitig angrinsten. Jetzt kam ich erst darauf, daß Pierce, der Hotelbesitzer, der Oldtimerfan sein mußte, dem der prächtig erhaltene Packard und womöglich auch der altertümliche Bus draußen gehörten. Bekuv suchte sich das heruntergekommene Sofa als Sitzgelegenheit aus. Mann beugte sich über ihn, um ihm die Zigarre anzuzünden. »Seit Sie in den Staaten sind, haben sich eine ganze Menge neuer Entwicklungen angebahnt«, sagte er. 79
»Welcher Art?« fragte Bekuv vorsichtig. »Nun, zunächst ging es uns nur um sämtliche wissenschaftlichen Daten, mit denen Sie vertraut waren, bevor Sie übergelaufen sind.« »Darüber habe ich Ihnen präzise Angaben gemacht«, sagte der Professor. »Tja - aber nur bis zu einem gewissen Punkt«, sagte Major Mann. »Inzwischen werden Sie wohl gemerkt haben, daß es noch einen anderen Grund gibt.« »Nein«, sagte der Professor, zog an seiner Zigarre und sah dem Major gelassen in die Augen. »Himmelherrgott - Bekuv! Sie müssen doch mittlerweile erkannt haben, daß unsere Maserforschung der sowjetischen weit voraus ist! Wir haben es überhaupt nicht nötig, uns von Ihnen was erzählen zu lassen!« Professor Bekuv schien nicht die Absicht zu haben, etwas Derartiges zuzugeben. »Dann erklären Sie mir doch bitte, warum Sie mich dauernd ausfragen?« »So dämlich, wie Sie sich manchmal stellen - so dämlich kann man gar nicht sein!« sagte Mann. Ich entschloß mich, einzuschreiten, bevor der Major seine Manieren ganz verlor. »Wir wissen mit absoluter Sicherheit, daß amerikanische Forschungsergebnisse laufend an die Sowjetunion verraten werden«, sagte ich. Bekuv wandte sich nach mir um und blickte mich mit gerunzelter Stirn an. Dann zuckte er resigniert die Achseln. »Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat«, sagte er. »Sie werden mir das etwas näher erklären müssen.« »Wir hoffen, an Hand von bestimmten Formulierungen, die Sie bei Ihren Erläuterungen benutzen, auf die Quelle zu stoßen, von der die Informationen kommen.« »Vieles stammt aus Veröffentlichungen«, sagte Bekuv. »Jetzt spielen Sie ja nicht den Schlaumeier!« knurrte Mann und stand abrupt auf. Einen Augenblick lang sah es danach aus, als müsse ich mich zwischen die beiden werfen. »Es geht nicht um das Zeug, das Greenwood und Co. unter die Leute bringen - es geht um militärische Geheimnisse!« »Sehen Sie, was sich zunächst wie eine kleine undichte Stelle in einem unserer Forschungslabors ausnahm, hat sich in jüngster Zeit zu einem wahren Informationsstrom ausgeweitet«, fiel ich ein. »Einiges davon fällt unter Geheimhaltung, unter anderem auch britisches Material - daher übrigens auch meine Anwesenheit.« 80
»Darüber hatte ich mich auch schon ein wenig gewundert«, meinte der Professor. »Doch wer wird von allen Seiten unter Druck gesetzt - ich natürlich! Aber eins versprech' ich Ihnen, Professor - solange ich Ihretwegen unter Druck gesetzt werde -, solange mache ich Ihnen die Hölle heiß!« »Ich händige Ihnen ja weiß Gott schon alles aus - so schnell ich es aus dem Gedächtnis sagen kann!« beteuerte Bekuv. »Nicht schnell genug!« erwiderte Mann mit einem drohenden Unterton. »Schneller geht es aber nicht«, sagte Bekuv. Ich hatte sein Gesicht beobachtet. Vermutlich war jetzt der Augenblick gekommen, wo ihm langsam aufging, daß seine »Assistenten« von der N.Y.U. auch nur dazu dagewesen waren, um ihn nach Strich und Faden auszuholen. Mann richtete sich mit zurückgeworfenem Kopf kerzengrade auf. Mit der einen Hand hielt er den Zigarrenstummel an den Mund, die andere hatte er in seine hintere Hosentasche gesteckt. Die ganze Gebärde hatte etwas Nachdenkliches und zugleich Napoleonisches an sich - allerdings nur bis zu dem Moment, wo er sich am Hintern kratzte. So schritt er gemessen den Teppich vor dem Kaminfeuer auf und ab, Zigarrenqualm vor sich hinpaffend, den Blick die ganze Zeit über nach oben zur Decke gerichtet. »Es war im Juli einundsiebzig. Berlin stank vor Hitze... Sie wissen ja, wie diese Stadt manchmal ausarten kann, Professor... Wir hatten einen unserer Jungs in eine Gruppe von Gewerkschaftsfunktionären eingeschleust, denen die da drüben mal so richtig ihre großartigen Errungenschaften präsentieren wollten einen Wohnblock auf dieser Allee da, von der sie immer behaupten, daß sie nur von Familien der Arbeiterklasse bewohnt wird, dann ein Musterbeispiel von Kinderkrippe in der Nähe vom Wannsee, und zum Schluß das übliche Bankett, auf dem sie die >Schlappschwänze< aus dem Westen mit ihren endlosen Toasts auf die Einigkeit des Proletariats jedesmal unter den Tisch trinken. Zugegeben - es war idiotisch von uns, den Jungen in diesen Bonzenverein einzuschmuggeln. Um es kurz zu machen: Ein amerikanischer Gewerkschaftsanwalt aus Pittsburg hat den Jungen an die Russen verpfiffen. Als wir ihn zurückbekamen, war sein Arsch nur noch rohes Fleisch - das kam von den ausgedrückten Zigarettenstummeln. Sein Blutkreislauf war vollgepumpt mit Pentathol. Wir haben ihn zwar sofort zurückgeflogen und ihm den besten Chirurgen der Staaten verschafft, aber der Junge hat nie wieder seine rechte Hand richtig gebrauchen können...« Mann bedachte den Professor mit einem eiskalten Lächeln. 81
Bekuv hatte keinen Augenblick lang den auf- und abgehenden Ma. jor aus den Augen gelassen. Er sagte beherrscht: »Major, es ist unmöglich, sich auf Anhieb an jedes Detail zu erinnern.« »Darum bemühe ich mich ja, Ihnen auf die Sprünge zu helfen«, sagte Mann. »Ich brauche aber mehr Zeit«, sagte Bekuv beharrlich. Der Major lächelte erneut. »Ach je, wie die Zeit vergeht! Wir sollten zu Ende kommen und uns wieder den Damen widmen.« Er warf seinen Zigarrenstummel weg und schob uns aus dem Rauchsalon. »Mein Gott, ist das schön hier!« rief Red Bancroft gerade aus. Sie blickte zum Fenster hinaus und hielt die Hände zum Schutz gegen die reflektierende Scheibe vor die Augen. »Eben ist der Mond aufgegangen. Wie war's mit einem kleinen Spaziergang in dieser herrlichen Nacht?« »Aber es friert doch Stein und Bein draußen«, wandte ich ein. »Da mußt du dich halt richtig einmummeln, Alterchen!« meinte sie übermütig. »Wozu hast du denn den hübschen neuen Ledermantel?« Ich nickte ergeben und sah, wie Red und Mrs. Mann jene Art von wissendem Blick austauschten, mit denen Frauen untereinander die Unterwerfung eines Mannes mit Genugtuung quittieren. Die Filmvorstellung sollte um zehn Minuten nach zehn zu Ende sein. Red und ich schlenderten über das Kopfsteinpflaster des Hinterhofs, um uns den Busveteranen und den Packard noch mal aus der Nähe zu besehen. Schlager wie »Smoke Gets in Your Eyes« und »Change Partners« drangen gedämpft durch die schweren Vorhänge des Saals, in dem der Film gezeigt wurde, an unser Ohr. Während die Musik zum Finale anschwoll, wurde die Hintertür aufgestoßen, und ein paar Männer traten hinaus in die kalte Winterluft. Einer fing an zu husten, ein anderer klopfte ihm fürsorglich den Rücken. Zwei weitere zündeten sich Zigaretten an. »In London war's«, sagte einer, »ja, in London hab ich diesen Film schon mal gesehen. Ich war Bordschütze - erst neunzehn Jahre, der jüngste Sergeant in meiner Kampfgruppe. Und da lernte ich zufällig so ein schüchternes englisches Mädchen kennen. Einmal bin ich mit der Kleinen und ihrer Mutter im Kino gewesen - stellen Sie sich vor-, ohne ihre Mutti wollte sie nicht mitkommen! Was sollte ich machen...^ war einfach verrückt nach der Kleinen.« »Und wie war die Mutter?« fragte jemand. Der andere antwortete mit einem kurzen, ausweichenden Lachen. »Ich hab' den Film damals auch gesehen - mit meinem Daddy und 82
meiner Ma«, sagte ein anderer. »Ich war gerade zum Leutnant befördert worden, die Pilotenausbildung lag hinter mir, und ich hatte noch ein paar Tage Urlaub, bevor ich zu meinem Bombengeschwader nach England abkommandiert wurde. Mensch, wenn ich daran denke, wie fröhlich meine Eltern immer taten und mir geduldig zuhörten, wenn ich ihnen in den Ohren lag, daß ich's kaum abwarten könnte, in den Einsatz zu kommen... Und dabei haben sie sich die ganze Zeit über Gedanken gemacht, ob ich eine Chance hätte, mit dem Leben davonzukommen ... Jetzt, wo ich selber Kinder habe, ist mir überhaupt erst klar geworden, was das meine Leute an Überwindung gekostet haben muß.« »Ja, wir sind heil aus dem Krieg zurückgekommen«, meinte einer. »Manchmal frage ich mich, warum.« »Wir ja - aber längst nicht alle«, warf derjenige ein, der Pilot gewesen war. »Gott noch mal - wie viele meiner besten Kumpel sind mir durch den Krieg verlorengegangen!« »Sie haben unsere Einheit von England nach Frankreich verlegt, ohne daß wir es vorher wußten«, sagte der erste. »Ich kannte das Haus in Manchester, in dem die Kleine wohnte, hatte mir aber ihre Adresse nicht notiert. Zweimal bin ich rausgefahren...hab' jede Straße nach ihr abgesucht - umsonst.« »Ja, so kann's einem mit einer Romanze in Kriegszeiten ergehen«, sagte ein anderer. »Es war wohl mehr als das«, sagte der erste. »Denn ich denke noch immer an die Kleine. Beinah jede Woche fällt sie mir plötzlich wieder ein. Das beweist doch irgendwas, oder?« Die Tür tat sich erneut auf, und eine Gruppe von Frauen trat hinaus ins Freie. »Was treibt ihr eigentlich hier draußen?« fragte eine von ihnen schrill. »Gott, ist das kalt!« Eine andere sagte: »Ich kann mir schon denken, was die hier draußen gemacht haben - sie haben sich gegenseitig dreckige Witze erzählt! Gib zu, Norman, ihr habt euch dreckige Witze erzählt!« »Aber sicher«, sagte der ehemalige Pilot. »Genau das haben wir hier in der Kälte getan.« Der Sohn des Hotelbesitzers zog die Jalousien im Saal hoch, in dem die Filmvorstellung stattgefunden hatte. Jetzt fiel genügend Licht in den Hof, und wir bekamen die auf ihm herumstehenden Männer und Frauen endlich zu Gesicht. Sie waren alle Ende vierzig, Anfang fünfzig. Die Damen trugen aus der Mode gekommene Abendkleider, und die Herren waren sämtlich in Uniform. Doch sie stammten nicht aus 83
der heutigen Zeit - es waren vielmehr die lachsfarbenen Uniformhosen, die olivgrünen Jacketts und die zerknautschten Fliegermützen der U.S. Army Air Force etwa aus dem Jahre 1943.
84
KAPITEL 8
Es war Frühstückszeit am Heiligen Abend. Die schräg einfallende Wintermorgensonne malte ein lattenartiges Muster auf die Tapete. »Die Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie mal war«, stellte Mann fest. Er hatte uns aus der Broschüre vorgelesen, die man auf unseren Frühstückstisch im Salon gelegt hatte. »Gasthaus zur Nostalgie« lautete die Überschrift des Prospekts, mit einem Photo des Hotels darunter, das man im Sommer zuvor während eines Treffens eines Oldtimer-Fanclubs aufgenommen hatte. Das ganze Mobilar, die Schallplatten und Filme, ja, sogar die Speisekarte waren sorgfältig auf die Zeit der Oldtimer abgestimmt worden, damit die Gäste nach Herzenslust in ihren Erinnerungen und Träumen schwelgen konnten. »In diesem und im nächsten Monat ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs dran«, informierte uns Mann. »Letztes Weihnachten gab es mal eine Woche lang anno 1914 - das soll ein umwerfender Erfolg gewesen sein, hab ich mir sagen lassen.« Major Mann trug an diesem Morgen eine Tweedjacke, darunter einen dicken, weißen Rollkragenpulli und khakifarbene Hosen. Ich fand, er paßte ganz gut in den Zweiten Weltkrieg. »Alles, was wir sagen wollen, ist nur, daß du uns das ruhig schon früher mitteilen konntest«, wiederholte Bessie Mann geduldig. »Damit ihr euch eigens dafür Kleider anschafft und euch diese albernen Frisuren von Anno dazumal machen laßt, wie?« »Natürlich, warum auch nicht?« sagte Bessie. »Weil das unsere ganzen Sicherheitsvorkehrungen über den Haufen geworfen hätte«, sagte der Major. »Schließlich ist dieses läppische Hotel nur dazu da, unsere russischen Freunde inkognito über die Feiertage zu bringen... Wo du so naiv bist, Bessie! Jeder Verkäufer bei Bloomingdales hätte aus dir herausgeholt, was wir vorhaben, und damit wäre die Sache schon geplatzt gewesen.« »Daß du mir nie vertraust!« sagte sie. »Richtig, verdammt richtig!« stimmte ihr der Major aufgekratzt zu. »Gib mir sofort die Wagenschlüssel!« sagte sie. »Wo willst du denn hin?« fragte er. »Ich will mich nach der Mode von 1940 frisieren lassen und mir ein passendes Kleid dazu kaufen!« »Fahr aber mit den neuen Stahlgürtelreifen nicht zu dicht an die 85
Bordsteinkante«, sagte Mann. Bessie tat, als ziele sie mit einer Pistole auf Manns Kopf. Der duckte sich und grinste. Red faßte über den Tisch und ergriff meine Hand. »Kann ich mitfahren? Ich muß mir Zigaretten besorgen.« »Komm - kauf dir auf meine Rechnung auch ein Kleid«, sagte ich. »...Zu Weihnachten.« Red beugte sich strahlend vor und küßte mich. »He - ihr beiden, nicht so stürmisch«, sagte Mrs. Mann. »Weißt du, Liebling«, sagte Mann, »nehmt lieber ein Taxi, für den Fall, daß ich den Wagen plötzlich brauche.« Kurz nachdem Mrs. Mann und Red in die Stadt aufgebrochen waren, kam Mrs. Bekuv durch die Verbindungstür herein. Sie trug diesmal einen blauseidenen Hosenanzug, der für meinen Geschmack allerdings um eine Spur zu auffällig war, aber er brachte andererseits ihre blonden Haare und ihre vollschlanke Figur erst richtig zur Geltung. Major Mann goß ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte ihr die Butter. Wir hatten ihr nur zwei warme Hörnchen unter dem gestärkten Tuch im Brotkorb übriggelassen. Mrs. Bekuv brach eins davon durch und knabberte die Kruste. Sie blickte auf ihren Teller hinunter, während sie sagte: »Mit Drohungen werden Sie bei meinem Mann nicht weit kommen, Major Mann.« Mann stellte die Kaffeetasse ab und zeigte sich auf einmal von einer unwiderstehlich charmanten Seite. »Drohungen?« sagte er gedehnt, als sei ihm dieses Wort zum erstenmal in seinem Leben begegnet. »Hat er das wirklich behauptet, Mrs. Bekuv? Vielleicht hat er mich mißverstanden? Freilich, die lange Fahrt... die Hektik der letzten Tage... er wirkt tatsächlich ein bißchen angeschlagen.« »Auch ich schätze Drohungen nicht, Major Mann!« Sie strich Butter auf das andere Hörnchen. Mann nickte verständnisvoll. »Wer würde das schon, Mrs. Bekuv? Niemand, den ich kenne, jedenfalls!« »Schließlich verließen wir deshalb die Sowjetunion.« Mann hob die eine Hand vor seine Augen, als blende ihn ein grelles Licht. »Nein, Mrs. Bekuv - Sie halten sich da nicht ganz an die Wahrheit - Sie wissen selbst, daß Sie sich da nicht an die Wahrheit halten. Ihr Gatte ist auf unsere Seite gekommen, weil er nicht mehr befördert wurde, weil er viermal einfach übergangen worden ist und dann obendrein noch auf diesen elenden, kleinen Posten nach Mali abgeschoben wurde und sich dort mit seinem Chef ständig streiten mußte.« 86
»Ja, weil dieser Mensch vor fünf Jahren noch als kleiner Hilfsassistent unter meinem Mann gearbeitet hat!« rief Mrs. Bekuv grollend aus. »Richtig«, sagte Major Mann. »Deshalb ist Ihr Mann in den Westen abgewandert - das hat gar nichts damit zu tun, daß er nicht länger in einem Polizeistaat leben wollte oder daß er sich bedroht fühlte oder weil er vielleicht Solschenizyn in der Schweizer Originalausgabe lesen wollte.« »Sie haben offenbar die Gründe, welche mein Mann dazu bewogen haben, seine Heimat zu verlassen, gründlich unter die Lupe genommen«, meinte Mrs. Bekuv. »Aber wie steht es mit mir? Warum, glauben Sie, habe ich diesen Schritt getan?« »Darüber bin ich mir eben nicht im klaren«, erwiderte Mann vorsichtig. »Doch wie ich Sie so vor mir sehe in diesem Hosenanzug von Saks aus der Fifth Avenue - mit dem Armband und der goldenen Armbanduhr von Tiffany -, da könnte man glatt auf den Gedanken kommen, daß Sie dem Luxus nicht ganz abgeneigt sind.« »Ach - Sie haben mich beschatten lassen?« Das schien sie zu überraschen. Sie wandte ihren Kopf, um ihn besser sehen zu können. Im Sonnenlicht mußte sie die Augen zusammenkneifen, doch tat selbst das ihrer Schönheit keinen Abbruch. »Nur um sicherzugehen, daß Sie nicht von fremden Männern belästigt werden, Mrs. Bekuv.« Mann lehnte sich vor und ließ die Jalousette etwas tiefer herunter, um die Sonnenstrahlen aus dem Zimmer zu bannen. »Meinen Sie - sowjetische Regierungsbeamte?« »Männer im allgemeinen, Mrs. Bekuv.« »Mich brauchen Sie nicht im Auge zu behalten«, sagte sie. Sie trank ihren Kaffee und bestrich den Rest des Hörnchens mit Butter. Damit schien sie anzudeuten, daß sie die Unterhaltung für beendet ansah. »Wollen Sie damit sagen, ich sollte eher auf Ihren Mann aufpassen?« »Unter Druck wird er nie auf Sie eingehen, Major Mann. Andrej ist von Natur aus zurückhaltend. Wenn Sie ihn drangsalieren, wird er sich Ihnen immer mehr entziehen.« »Soll ich das als Angebot auffassen, lieber mit Ihnen zu verhandeln, Mrs. Bekuv?« Mann hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Sie verlor einen Augenblick lang die Fassung. 87
»Es käme auf einen Versuch an«, sagte sie schließlich. »Vor allem müssen Sie Ihren Mann dazu bringen, ernsthafter mit uns zusammenzuarbeiten.« »Aber er tut doch sein Bestes!« »Sicher, er hat uns eine Masse wissenschaftliches Material geliefert - so wortgetreu, wie er es sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Trotzdem - das ist nicht, was ich unter wirklicher Zusammenarbeit verstehe.« »Was wollen Sie denn noch wissen?« »Ein Experte wie Ihr Mann kann bereits eine Menge an Informationen aus der Abfassung eines Berichts entnehmen, ebenso wie aus der Abfolge der Experimente und deren Analyse. Er weiß, welche Labors aus der Welt sich speziell mit der Weiterentwicklung der Maser beschäftigen - vermutlich kennt er sogar die Namen der Forscher, die an ihr beteiligt sind. Ich wette, er weiß schon lange, wo unsere undichten Stellen zu finden sind!« Mrs. Bekuv trank einen Schluck Kaffee. Major Mann sinnierte weiter laut vor sich hin: »Keinem sowjetischen Wissenschaftler ist in den vergangenen Jahren so viel an Freiheiten eingeräumt worden wie Ihrem Mann. Er war der einzige, der an fast dreißig Tagungen, Seminaren, Symposien und Vorträgen teilnehmen durfte - und alle fanden, wohlgemerkt, außerhalb der Sowjetunion statt. Wirklich etwas ungewöhnlich, Mrs. Bekuv, das müssen Sie doch zugeben. Da kommt man fast automatisch zu der Schlußfolgerung, daß sich Ihr Mann eine Menge Informationen durch seine persönlichen Kontakte und seine Gespräche mit seinen ausländischen Kollegen auf diesen Kongressen verschaffen konnte.« »Ich werde mit Andrej reden«, versprach sie. »Ich und mein Freund hier -«, Major Mann zeigte mit dem Teelöffel auf mich, gerade als ich damit beschäftigt war, mir eine zweite Tasse Kaffee einzugießen, » - wir sind beide im Grunde gar nicht so wild hinter unserem Job her. Das werden Sie vielleicht auch schon gemerkt haben. Doch wir können nicht anders - wir müssen allmählich ein paar nette Ansichtskarten an die Kerle im Hauptbüro schreiben. Sonst könnten die nämlich auf die Idee verfallen, wir wollten uns auf diesem komischen Festival hier einfach ein paar schöne Tage machen. Und wir würden in kurz oder lang der Ehrenwache vor dem Lincoln Memorial zugeteilt - als Nachtschicht, und das für immer. Verstehn Sie mich, Mrs. Bekuv?« Im Stockwerk unter uns hörte jemand eine Weihnachtsfeier mit 88
lauten Chorälen im Radio. »When shepherds watched thelr flocks...«, tönte es bis zu uns an den Frühstückstisch. »Ich habe Sie verstanden, Major Mann«, sagte sie. Ich beobachtete sie gespannt, doch fand ich ihr leichtes Lächeln, das sie jetzt ihrem Gesprächspartner schenkte, zwar ein wenig amüsiert, aber durchaus gutmütig. Mann griff nach seinem Glas Orangensaft und trank einen Schluck. »Wissen Sie übrigens, Mrs. Bekuv - leider ist es schon so weit gekommen, daß man frisch gepreßten Orangensaft heutzutage weder für Geld noch für gute Worte erhält. Sie wären überrascht, wie viele Fünf Sternehotels ihn neuerdings auch aus der Dose servieren.« »So? Also, bei uns in der Sowjetunion gibt es noch in jedem Hotel oder Restaurant frischen Orangensaft«, erwiderte Mrs. Bekuv. Für einen Moment glaubte ich, daß Major Mann diese dreiste Behauptung nicht auf sich beruhen lassen würde. Doch er brachte das sonnigste Lächeln zustande und erwiderte: »Ist das wahr, Baby? Ach, ich wußte ja immer, daß an eurem armseligen Ödland irgendwas Gutes dran sein muß.« Mrs. Bekuv stieß ihre Tasse beiseite und stand auf. »Also dann bis später!« sagte der Major wohlwollend. Mrs. Bekuv verließ ohne Antwort das Zimmer. Wir saßen noch immer am Kaffeetisch, als Bessie und Red von Waterbridge aus anriefen und uns mitteilten, daß sie beim Friseur fast fertig wären. Auch die neuen Kleider wären schon in Geschenkpapier gepackt und brauchten nur noch abgeholt zu werden. Wir hätten nichts weiter zu tun, als unsere Scheckbücher zu zücken und sie irgendwohin nett zum Essen auszuführen. Zu meiner Überraschung war der Major gern dazu bereit. Er lud sogar die Bekuvs ein, sich uns anzuschließen. Doch Andrej hatte sich vorgenommen, ein Weihnachtskonzert auf seinem Sony-Radiorecorder aufzunehmen, und Mrs. Bekuv schüttelte bloß verneinend den Kopf, ohne von Doktor Schiwago aufzublicken. Unten im Speisesaal war das Hotelpersonal damit beschäftigt, den Weihnachtsbaum mit alten Zinnfiguren und Zelluloidpüppchen zu behängen. Auf dem Podium stritt sich Mr. Pierce mit einem ZehnMann-Orchester aus Chicago herum: Jeder wollte die farbigen Spotlights woandershin gerichtet haben. Mann fuhr durch den ausgedehnten Besitz und den halben Hügel hinauf, bevor er zu sprechen begann. »Ihnen scheint meine Unterhaltung mit Mrs. Bekuv nicht so recht gefallen zu haben, wie?« »Ich würde sie jedenfalls kaum als Beitrag für ein Sammelwerk über psychologische Siege empfehlen.« 89
»Na, dann sagen Sie mir gefälligst auch, was ich falsch gemacht habe!« »Nichts«, sagte ich. »Sie wollten eben nur unbedingt, daß die Bekuv mit dem Finger auf den >Bund 1924< zeigt, damit Sie endlich einen Grund haben, ihn auffliegen zu lassen. Wetten, daß sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hat und Ihnen jetzt den Gefallen tut?« »Und was macht Sie so wütend dabei?« »Wenn Sie so sicher sind, daß diese Spinner von 1924 die Hauptinformationsquelle für die Sowjets sind - warum machen Sie dann nicht gleich den Laden dicht? Aber falls Sie noch Zweifel haben, dann verwirren Sie nur die Situation, indem Sie die Bekuv zu einer Kasperpuppe machen, die Ihnen bloß immer das sagt, was Sie hören möchten!« »Ach ja?« sagte Mann. »Warum nicht gleich diesen Verein ausräuchern - sagen Sie. Ich wußte, es war nur eine Frage der Zeit, bis Sie eine Antwort darauf von mir verlangen - aber die kann ich Ihnen ohne weiteres verpassen.« Er wandte seinen Blick von der Straße, um mich durchdringend anzustarren. »Der >Bund 1924< ist ein Geheimbund, Sie Kindskopf. Niemand weiß genau, wer eigentlich zu seinen Mitgliedern zählt.« »Außer den Mitgliedern selbst.« »Genau. Wie zum Beispiel die Bekuvs. Also, jetzt haben Sie's hoffentlich kapiert, Kollege.« »Und was ist, wenn sich die Bekuvs nun ein Taxi bestellen und verduften?« Mann lächelte nur. Er stellte den Wagen auf einem freigewordenen Parkplatz vor einer Pfandleihe ab, die wie üblich mit Saxophonen und Schrotflinten vollgestopft war. Ein paar Türen weiter bemerkte ich den Frisiersalon. »Haben Sie ein paar Fünfundzwanzigcentstücke?« fragte Mann. Ich gab ihm für die Parkuhr etwas Wechselgeld, aber er stieg nicht sofort aus. Er sagte: »Um Sie zu beruhigen - ich habe zwei von meinen Leuten vor die Hintertür postiert.« »Sie wollen also im Grunde, daß sie abhauen!« beschuldigte ich ihn. »Es würde die Dinge vereinfachen«, erwiderte Mann. »Außer, wenn es ihnen tatsächlich gelingen würde«, sagte ich. Mann machte ein saures Gesicht und stieg aus.
90
Aber die Bekuvs waren noch da, als wir ins Hotel zurückkehrten. Aus den Stereolautsprechern tönte Mozarts Jupiter-Symphonie. Andrej saß brütend über neuen Kalkulationen, die vielleicht geeignet waren, Botschaften ins Weltall auszustrahlen, und seine Frau war über Doktor Schiwago eingeschlafen. Mann ließ sich aufs Sofa fallen und stieß einen Seufzer aus. Eins von vielen Dingen, die mir bei Frauen unerklärlich sind, ist ihre Marotte, daß sie sich, sobald sie mit frischgekraustem Haar von einem teuren Friseur nach Hause kommen, sofort vor den Spiegel stellen, um sich die ganze Lockenpracht wieder auszukämmen. Red und Bessi bildeten keine Ausnahme, und Mrs. Bekuv, die offensichtlich zu der Erkenntnis gelangt war, daß sie etwas Aufregendes versäumt hatte, schloß sich dem allgemeinen Trubel vor dem Spiegel an. Mit scheinbarem Widerstreben ließ auch sie sich schließlich zu einer anderen Frisur überreden. Red faßte mit geübtem Griff den ganzen Haarschopf der Bekuv im Stil der vierziger Jahre oben zusammen und hielt ihn fest, während sie ihn beide von allen Seiten bewunderten. Geschickt steckte Red darauf den Dutt mit Haarklammern fest, zupfte zuletzt liebevoll noch ein paar Löckchen heraus und kämmte den Pony zurecht. Mann verfolgte alles mit Interesse, seine Frau dagegen schien seltsam beunruhigt. Diese Szene vor dem Spiegel vermittelte unversehens einen enthüllenden Einblick in die Psyche der Bekuv, zeigte jedoch auch gewisse Tendenzen von Red, über die ich mir allerdings damals noch nicht klar war. Ich bestellte für uns alle Tee, doch noch ehe ich den Hörer auflegte, hatte Manns autoritäres Gebaren seiner Frau zu verstehen gegeben, daß er jetzt ein Wörtchen allein mit den Bekuvs zu reden habe. Bessie meinte, sie zöge es vor, den Tee in ihrem Zimmer zu nehmen, und sogar Red, der Major Manns patriarchalische Anwandlungen nicht im geringsten imponierten, erklärte gefügig, daß sie das gleiche zu tun gedenke und ging zudem so weit, Mrs. Bekuvs Frisur unvollendet zu lassen. Das nun gefiel der russischen Dame ganz und gar nicht, und als die beiden anderen das Zimmer verlassen hatten, fixierte sie den Major mit einem stahlharten Blick, herrschte ihren Gatten an, das Radio abzuschalten, und kam sofort zur Sache: »Vorerst werde ich Ihnen einen Namen sagen - Dr. Henry Dean, wohnhaft in einem Haus namens La Grange im Dorf St. Paul Chauvrac, Bretenoux, 46 Lot, Frankreich. Wollen Sie es sich nicht aufschreiben?« Mann rekapitulierte bereits: »Dr. Henry Dean, La Grange, 91
St. Paul Chauvrac, Bretenoux, 46 Lot, Frankreich. Nein, ich brauche es mir nicht zu notieren.« »An sich ist er gar kein Wissenschaftler«, fuhr Mrs. Bekuv fort. »Zumindest keiner von Bedeutung. Aber er ist der Kontaktmann zwischen dem >Bund 1924< und Moskau.« Sie lächelte und drehte dabei mit ihren Fingern an einer Strähne ihrer blonden Haare - mit jener berühmten Geste der Ingenue, die allerdings in ihrer Ungekünsteltheit an die Gebärde der Frau auf dem Gemälde von Rubens kaum herankam; doch die Bekuv hatte genug Charme, dennoch mit ihr Eindruck zu machen. »Schön«, sagte Mann tonlos. Er wandte sich an mich: »Gehen Sie dem bitte sofort nach.« Ich musterte ihn aufmerksam. In seiner Stimme hatte etwas mitgeklungen, das mich irgendwie befremdete. »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, sagte ich. Denn ich war mir bewußt, daß mein Ersuchen, um fünf Uhr nachmittags am Heiligen Abend im Archiv herumzustöbern, in Langley keine Stürme der Begeisterung hervorrufen würden. »Legen Sie sich aber nicht allzusehr ins Zeug«, sagte Mann. »Mir ist nicht besonders daran gelegen, morgen früh schon von hier abzureisen.« Mrs. Bekuv blickte fragend von einem zum anderen. »Werden Sie nach Frankreich fahren?« »Dr. Dean - sagen Sie. Interessant!« Major Manns Stimme war lauter geworden. Offensichtlich hatte er vor, den Professor mit ins Gespräch zu ziehen. Andrej nickte zwar, drehte sich jedoch nicht um. Es war augenscheinlich, daß er Manns Blick meiden wollte. Er beschäftigte sich mit seinem neuen Radiorecorder und tat so, als ginge ihn das Gespräch überhaupt nichts an. Mrs. Bekuv fuhr nach einem etwas peinlichen Schweigen energisch fort: »Andrej und ich haben uns außerdem über Ihre Aufgabe unterhalten.« »Das kann ich Ihnen nicht hoch genug anrechnen«, erwiderte der Major. Sie überging seinen Sarkasmus und erwiderte gewandt: »Unsere uneingeschränkte Mitarbeit wäre nicht nur für Amerika von großem Nutzen, sondern auch für Sie persönlich.« »Ich fürchte, daß ich der eigentlichen Bedeutung Ihrer letzten Bemerkung nicht ganz folgen konnte«, erwiderte Mann, der sie nicht 92
nur ganz genau verstanden, sondern daraus bereits allerhand gefolgert hatte. Er preßte die gespreizten Finger auf sein Herz. Jetzt erst erkannte ich, daß er diese Geste, die ich bislang immer für eine seelische Regung gehalten hatte, einfach nur anwandte, wenn er sich vergewissern wollte, ob sein Kragen noch am Hemd festgeknöpft war. »Nun, wir denken da zunächst an eine sofortige Beförderung, eine höhere Gehaltsklasse, wesentlich mehr Prestige und an die Aussicht auf eine gehobene Laufbahn - Sie wissen schon, was ich meine. Wir haben Ihnen den ersten Namen unentgeltlich genannt, doch wenn Sie mehr wissen wollen, müssen wir neue Vereinbarungen treffen.« Major Mann grinste. »Na klar, Sie wollen eben auch am allgemeinen Wohlstand teilnehmen - regelmäßige Beförderung und Gehaltserhöhung, stimmt's?« »Andernfalls machen wir keine weiteren Aussagen mehr, bis Sie gefeuert werden und ein anderes Team sich unser annimmt.« »Sagen Sie, woher wollen Sie so genau wissen, daß ich nicht lieber mit dem Gummiknüppel auf Sie losgehe, als mich feuern zu lassen?« Andrej Bakuv hantierte sichtlich beunruhigt an seinem Gerät herum und drehte so linkisch am Lautstärkeregler, daß sich ein paar Mozart-Akkorde selbständig machten und über den Teppich perlten. »Das Risiko müssen wir eben auf uns nehmen«, sprach Mrs. Bekuv mit zusammengekniffenem Mund. »Scherz beiseite — wieviel?« »Ach, wissen Sie, wir haben einfach nicht damit gerechnet, wie schrecklich teuer das Leben in New York ist«, sagte Mrs. Bekuv hastig. »Ich muß doch schließlich vor all den gut angezogenen Leuten der Universität das Beste aus mir machen, finden Sie nicht auch?« Sie lächelte ein wenig hintergründig, als wären wir allesamt in ein abgekartetes Spiel verwickelt. »Nun, mal sehen, was sich machen läßt«, sagte Mann nachsichtig. »Sehen Sie, nach den Jahren in der Sowjetunion -da war ich direkt geblendet von den Schaufensterauslagen. Und ich konnte all den schönen Kleidern einfach nicht widerstehen... Wo Andrej ja auch darauf bestand, daß ich mir eine ganz neue Garderobe zulegte - von den Schuhen bis zur Unterwäsche. Andrej hat gesagt, das gehöre nun einmal dazu, wenn man ein neues Leben beginnt.« »In etwa verständlich«, gab Mann nachdenklich zu. »Ach was... vergessen Sie, was ich gerade im Zorn gesagt habe. Mit oder ohne finanzielle Aufbesserung - wir werden Ihnen beiden trotzdem weiterhelfen, so gut wir können!« Damit schob Mrs. Bekuv 93
eine Speisekarte als Lesezeichen in den Doktor Schiwago und klappte das Buch zu. Sie stand auf, strich sich ihren kornblumenblauen Hosenanzug zurecht und ließ die Finger mit jener Art von forschender Gebärde über ihre Hüften und Oberschenkel gleiten, wie man sie häufig bei leicht verunsicherten Teilnehmerinnen an AmateurSchönheitswettbewerben beobachten kann. Dann lächelte sie uns beiden zu und behielt das Lächeln auf ihren hübschen Lippen, während sie sich über ihren Mann beugte und ihn auf den Scheitel küßte. Mrs. Bekuv hatte das Zimmer kaum verlassen, da erschien der Zimmerkellner und brachte ein Tablett mit Gebäck und Tee. Mann nahm es ihm ab, goß uns beiden Milch ein und bot dem Professor von dem hausgemachten Kirschkuchen an. Bekuv tat sich eine Scheibe Zitrone in den Tee, lehnte jedoch den Kuchen dankend ab. »Meine Frau ist etwas mit den Nerven runter, Major«, sagte er. »Sie sehnt sich nach dem Jungen.« »Aber Sie wußten doch von Anfang an, daß er nicht mitkommen würde. Sagten Sie nicht, daß er nächstes Jahr sein Abschlußexamen macht? Würden Sie es ernstlich für richtig finden, wenn wir ihn gegen seinen Willen in den Westen verschleppten?« »Nein, nein, nein«, erwiderte Bekuv hastig. »Das, was Sie gerade gesagt haben, hat schon seine Richtigkeit... Doch es ändert nun mal nichts an der Tatsache. Meine Frau kommt einfach nicht darüber hinweg, daß sie ihren Jungen wahrscheinlich nie mehr wiedersieht.« Er sah weg. »Um die Wahrheit zu sagen - ich ebensowenig.« »Aber nicht doch, nicht doch«, brummte Mann und tätschelte Bekuvs Arm, so ungefähr, wie man einen durchgedrehten Pudel beruhigt. Diese freundschaftliche Geste ermutigte den Professor, die Mappe mit seinen Notizen aufzuschlagen. »Ich habe inzwischen meine Methode für die interstellare Kommunikation radikal geändert.« »Ach ja?« sagte Mann. »Das ist aber schön. Sind Sie also von der Wasserstoffwolke mit dem Brummton ganz abgekommen?« Bekuv murmelte vor sich hin und deutete dann auf einige Seiten, die eng mit Zahlen vollgeschrieben waren. »Zuerst hatten wir ja nach Mitteln gesucht, ohne breite Streuung von Strahlen durch das galaktische Plasma zu dringen. Es lag daher auf der Hand, daß wir elektromagnetische Wellen verwenden müßten - daß Röntgenstrahlen ungeeignet waren, war ja von vornherein klar.« »Warum?« fragte ich, nur um mich am Gespräch zu beteiligen. »Sie lassen sich nicht bündeln«, sagte Bekuv. »Und Gammastrahlen haben nur eine begrenzte Reichweite.« 94
»Was nennen Sie begrenzt?« »Ungefähr einhundertsechzigtausend Kilometer«, sagte der Professor. Mann schnitt ein Gesicht. Bekuv lächelte und fuhr fort: »Ich bin aber allmählich zu der Auffassung gelangt, daß wir den Gedanken an jedwede Art von elektromagnetischen Strahlen aufgeben sollten. Denn es ist doch barer Unsinn, mit anderen Zivilisationen Botschaften auszutauschen, wenn jede Botschaft zwanzig Jahre bis zu ihrem Bestimmungsort braucht und wir zwanzig weitere Jahre auf Antwort warten müssen.« »Das erinnert mich sehr an das britische Telephonnetz«, meinte der Major. »Ich bin jetzt eher der Meinung, daß wir versuchen sollten, eine Markierung ins Universum zu setzen... eine Markierung, die von anderen Zivilisationen entdeckt und nur so ausgelegt werden kann, daß auf dem Planet Erde eine Art intellektuellen Lebens vorhanden ist.« »Und wie soll die Markierung aussehen?« fragte Mann. »Nun, ganz bestimmt nicht ein Raster aus Furchen, die man einfach in die Landschaft pflügt. Darüber hat es zwar eine Menge Gerede gegeben, doch in meinen Augen ist das absurd. Die Sache mit den Kanälen auf dem Mars, die 1877 von Schiaparelli entdeckt und 1965 durch die Raumsonde Mariner 4 als totale Mißdeutung erkannt wurden, schließt den Gedanken sowieso aus.« Er schlug die nächste Seite seiner Kladde auf, die mit weiteren Diagrammen und Berechnungen vollgekritzelt war. »Ich denke vielmehr an eine künstlich erzeugte Wolke, welche die auf sie gerichtete, für den Zweck vorbestimmte Wellenlänge völlig absorbiert - das heißt, es ergibt sich ein von der Erde ausgehender Lichtstrahl, der plötzlich im All aufhört. Es handelt sich dabei um einen Strahl, der vielleicht im Spektrogramm der Erde nur eine dünne, abweichende Linie erzeugt, doch das genügt, um jeder anderen Zivilisation eindeutig klar zu machen, daß hier eine technische Leistung des Planeten Erde angezeigt wird.« Ich blickte den Major an - er zog die Augenbrauen hoch. »Und was wäre der erste Schritt dazu?« fragte er wie beklommen. »Daß ich dieses Projekt Ihrer Regierung vorlege«, erwiderte Bekuv. »Denn das Ganze wird sicher eine hübsche Stange Geld kosten.« Mann war außerstande, seinen Seufzer ganz zu unterdrücken. »Nun, am besten, Sie übergeben mir Ihren Plan in Form eines Berichts. Dann werde ich sehen, was ich für Sie tun kann.« »Nein, ich möchte nicht, daß er zu den Akten gelegt wird und in der Versenkung verschwindet!« protestierte Bekuv. »Vor allem möchte 95
ich ihn mit anderen Fachleuten diskutieren! Sie haben doch da dieses Senatskomitee für internationale Zusammenarbeit - kann ich nicht dort meine These vortragen?« »Vielleicht«, sagte Mann. »Aber zuerst müssen Sie alles schön schriftlich ausgearbeitet haben.« »Ach-noch etwas«, sagte Bekuv. »Es ist Heiliger Abend: Darf ich mit meiner Frau in die Mitternachtsmette gehen?« »Im Dossier steht nichts darüber, daß Sie überzeugte Christen sind.« Mann war leicht außer Fassung geraten und ärgerlich. Vielleicht täuschte er aber auch seinen Ärger nur vor. »Wir sind zwar vom regelmäßigen Kirchgang abgekommen, doch niemals von unserem Glauben«, sagte Bekuv. »Der Heilige Abend hat bei uns immer seine Gültigkeit behalten.« »Ohne Begleitung kann ich Sie nicht gehen lassen.« »Das kann ich doch übernehmen«, schlug ich vor. Bekuv sah den Major fragend an, und der nickte schließlich. »Oh - danke!« rief Bekuv. »Das muß ich gleich Katrinka sagen! Nochmals Dank - Ihnen beiden!« Beschwingt machte er sich davon. »Du meine Güte! Manchmal weiß ich nicht, wie lange ich das noch mit diesem Spinner aushalte, ohne daß mir die Hand ausrutscht!« stöhnte Mann. »Das merkt inzwischen jeder«, sagte ich. Mann ließ sich in einen Sessel nieder und schloß die Augen. »Was ist los - geht es Ihnen nicht gut?« fragte ich. »Lassen Sie nur - es geht schon wieder«, sagte Mann, doch sein Gesicht war grau, und er sah um Jahre gealtert aus. Ich wartete darauf, daß er etwas sagte. Ich wartete eine ganze Weile. »Henry Dean«, sagte ich schließlich, um ihn an den Namen, den uns Mrs. Bekuv genannt hatte, zu erinnern. »Dr. Henry Dean.« »Ja, Hank Dean«, sagte Mann. Er legte die Hand auf seine Krawatte und griff mit Daumen und Zeigefinger nach seinen Kragenknöpfen. Um seine Nerven schien es nicht besonders gut zu stehen. »Kennen Sie ihn?« fragte ich. »Hank Dean - Sohn eines Abteilungsleiters einer Luftverkehrslinie, geboren in Cottonwood, Süddakota, die High-School-Sportskanone, das As im Langstreckenlauf und ein sagenhaft begabter Baseballpitcher - vorbestimmt für die Profilaufbahn... bis er eines Tages verletzt wurde.« »Woher wissen Sie so viel über ihn?« fragte ich. »Wir sind zusammen aufgewachsen - in einem Dorf, in der Nähe 96
von Cleveland. Mein Vater war Pilot und sein Verkaufsleiter bei einer winzigen Fluglinie, die vertraglich die Post zwischen New York und Chicago zu befördern hatte. Die Familien der Angestellten hatten sich fast alle am Flughafen angesiedelt... regelmäßig kamen die Kinder aus dem nächsten Dorf und haben uns verprügelt. Ja, und dann kam der Krieg; wir gingen beide zur Armee. Dean hatte Köpfchen - brachte es bis zum Hauptmann bei den Fallschirmjägern, war auch ein paarmal in Zivil hinter den feindlichen Linien abgesprungen. Als der Krieg zu Ende war, hat die Armee ihn behalten und ihn an das Massachusetts Institute of Technology geschickt, damit er dort seinen Magister machte - mit dem Ergebnis, daß er eines Tages als frischgebackener Dr. phil. wieder aufkreuzte, ehe er die Uniform erneut anzog. Das nächste, was ich von ihm hörte, war, daß er bei einer kleinen Firma in Westberlin angestellt war, die elektrophoresische Hochspannungsgeräte für medizinische Labors herstellte... Ich nehme an, Sie wissen Bescheid.« »Ich denke schon. Diese kleine Maschinenbaufirma hatte vermutlich eine ziemlich laxe Haltung ihren Angestellten gegenüber - sie konnten sich ohne weiteres mal ein verlängertes Wochenende freinehmen und verschwinden und dann am Montag drauf mit zerzaustem Haar und mit 'nem Loch im Hut ihre Arbeit wieder aufnehmen.« »Stimmt. Es war eine Deckadresse des CIA - nebenbei ein sehr aktiver Betrieb. Henry Dean hat sich im Nu einen Namen gemacht. Er wurde erneut zur Armee abkommandiert und zum Chef der Polizeileitstelle gemacht. Gleichzeitig kam das Gerücht auf, daß Hank ein Genie wäre und den Laden in Langley übernehmen würde, bevor er fünfunddreißig wäre - Sie wissen schon: das übliche Gerede.« »Ich weiß«, sagte ich. »Nur - Hank ist dann versackt. Schon sein Vater war Trinker, erinnere ich mich. Deswegen mußte er auch das Fliegen an den Nagel hängen und auf den Verkauf umsteigen. Hank hatte ziemlich viel übrig für seinen Vater - er hat ihm die Flaschen versteckt, hat auf ihn eingeredet, ihn regelrecht angefleht, mit dem Saufen aufzuhören. Doch da war nichts mehr zu machen. Und der arme Hank - gerade Berlin kann einem in dieser Hinsicht zum Verhängnis werden - ich meine, wenn man von Haus aus den Hang dazu hat.« »Ja, das ist schlimm«, sagte ich. Mann fuhr sich mit der Hand über die Augen, als versuche er, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Und als er wieder anfing zu re97
den, klang seine Stimme wie die eines Menschen, der im Halbschlaf spricht. »Hank war also versackt... und versoffen. Es gab Stunk wegen irgendwelcher Dokumente, die seinetwegen den Ostdeutschen zurückgegeben worden sein sollen... Wegen dieser Sache fand dann eine Untersuchung statt. Ich kenne keine Einzelheiten - doch von da ab war Dean nie mehr der alte. Sie haben ihm noch eine Chance gegeben: Er sollte eine harmlose Routine-Grenzüberquerung absichern ... Es war ziemlich unwahrscheinlich, daß er dabei überhaupt gebraucht wurde - doch das war eben dann doch der Fall, und man mußte ihn erst in einer Bar auf dem Kudamm aufgreifen - stockbesoffen. Daraufhin gab es in Langley jede Menge Krach, und von Hank hörte man einen Reueschwur nach dem anderen, daß er das Trinken aufgeben würde. Na, und ein dritter Ausrutscher hat ihm dann seine Karriere endgültig vermasselt. Berlin in den fünfziger Jahren - das war ein hartes Pflaster. Und zwei erstklassige Jungs von uns sind eines Nachts tot aufgefunden worden. Die hatten 'ne Menge Freunde, und diese Freunde haben Hank dafür verantwortlich gemacht. Damit war er für den Außendienst vorerst erledigt. Er wurde nach Washington versetzt. Doch er war den Gepflogenheiten dort nicht gewachsen — man braucht eine leichte Hand in Washington: Man muß mit den Hostessen der A-Liste, den Muskelprotzen von den Botschaften der Satellitenstaaten und dem Rudel ehrgeiziger, junger Sprinter, die ständig hinter einem her sind, diplomatisch umgehen können - nein, das war nichts für Hank Dean.« Ich wollte mir noch etwas Tee nachgießen, doch es waren nur noch ein paar Tropfen übrig, und der Tee war kalt. Wir hatten das Licht im Wohnzimmer noch nicht angemacht, und Mann war jetzt nur mehr eine Silhouette vor dem dunkelnden Himmel. Das Schweigen zwischen uns hielt lange an. Ich fuhr zusammen, als er von neuem zu sprechen anhob. »Jahrelang hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Schließlich fand Special Services etwas Passendes für ihn in Vietnam. Sie wollten von mir, daß ich mich für ihn verbürge...« Mann seufzte. »Ich habe Tag und Nacht hin und her überlegt. Ich glaubte, er würde zum Schluß doch wieder versagen und mich mit in den Dreck ziehen... und hab den Wisch also nicht unterschrieben.« Irgendwie tat er mir leid. Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen, damit er sich mit seinen Schuldgefühlen etwas leichter tat. »Nach allem zeigt sich aber doch jetzt, daß Sie richtig gehandelt haben«, meinte ich. 98
Doch meine Worte richteten wenig aus. Gegen das milchige Licht vom Fenster hob sich seine Nase scharf ab, ich sah, wie er sich ins Nasenbein kniff. Er war ganz in sich zusammengesunken, sein Kinn ruhte fast auf seiner Brust. »Darf man sich denn seiner immer so sicher sein?« fragte er. »Ich meine, wenn ich damals unterschrieben hätte, dann müßten wir jetzt vielleicht gar nicht alle unsere SalonKommunisten durch die Mühle drehen.« »Möglich«, gab ich zu. »Einmal im Leben kommt die Zeit, wo man menschlich handeln, eine Entscheidung treffen muß, ohne den Computer zu fragen, seinen letzten Groschen einem Freund in die Hand drücken, der ihn braucht - einem Kumpel, der eine Chance verdient, zu einem Job verhelfen, sogar Dienstvorschriften umgehen, von denen man sowieso nicht viel hält.« »Selbst in unserem Beruf?« »Ja, ganz besonders in unserem Beruf. Sonst wird man über kurz oder lang zu einem seelenlosen Roboter - und leistet dadurch dem Kommunismus nur Vorschub.« »Was wollen Sie jetzt - Dean in die USA zurückholen oder ihn umdrehen?« »Ich habe Sie wohl ein bißchen aus dem Gleichgewicht gebracht, wie?« sagte Mann bitter. »Nein. Wenn Sie ersteres vorhaben, dann steht uns noch ein Haufen Papierkram bevor. Ich würde damit so bald wie möglich anfangen.« »Haben Sie was für Baseball übrig? Er stand damals auf der zweiten Base, und ich hab die ganze Sache miterlebt... bei einem Doppelaus verpaßt doch dieser miese Drecksack Hank mit seinen schartigen Spikes einen Tritt - direkt ins Knie! Ohne das wäre er Profi geworden, da bin ich sicher. Und er hätte nie etwas mit diesem Scheißberuf zu tun gehabt!« »Wenn man ihn umdrehen kann«, sagte ich, »brauchen wir die Bekuvs vielleicht gar nicht mehr.« »Hank - dieser riesige, tolpatschige Klotz mit seinen ewig lustigen, unanständigen Geschichten... seinem ungepflegten Bart und dem schmutzigen Geschirr in der Spüle... mit seinen Flaschen, immer voll mit billigem Fusel... und ein Schlafsack im Badezimmer - für jeden, der zu voll war, um noch nach Haus zu finden. Keine Spur mehr von dem aufgeweckten Jungen, dem ein gezielter Tritt mit schartigen Spikes ins Knie das ganze Leben verkorkst hat. Komisch, wie eine solche Bagatelle einen Mann ruinieren kann.« 99
»Und jetzt benutzt man ihn als Köder, um an Sie heranzukommen!« »Ja, sieht so aus«, sagte Mann. »Ich möchte nur wissen, wie lange die schon an dem Plan arbeiten.« »Was also nun?« »Der arme, alte Hank! Das Ganze ist natürlich eine KGB-Kampagne - das riech' ich schon von weitem, Sie nicht auch? So mit plötzlichen Einzahlungen auf sein Bankkonto, Augenzeugen, die ihn auf Anhieb erkennen, sein Exemplar von Thunderball vollgeklebt mit Mikrodots, wie bei James Bond - Sie wissen ja, was die sich da alles einfallen lassen. Verdammter Mist - und ich darf mich jetzt entscheiden, ob ich die Sache einem Kollegen übergeben soll, wie mir das die Vorschrift erlaubt, oder ob ich letztlich versuche, Hank die Sache so leicht wie möglich zu machen.« »Wenn das KGB dahintersteckt, dann werden wir wahrscheinlich auf jedem I einen Mikrodot als Punkt finden und feststellen, daß sie bei ihrer Stänkerei keine Masche vergessen haben. Denn sie würden sich auf so ein riskantes Spiel nicht eingelassen haben, ohne sich hundertprozentig dagegen abzusichern, daß ihnen die Sache nicht plötzlich um die Ohren fliegt.« »Es ist andererseits natürlich gar nicht gesagt, daß sie ihn erst zum Sündenbock umfunktionieren mußten. Es kann genausogut sein, daß sie ihn mit Geld dazu gebracht haben, für sie zu arbeiten.« Mann war ganz kühl. »Aber Sie selbst glauben das nicht.« »Nein - ich möchte es natürlich nicht glauben«, sagte Mann. »Und ich muß Ihnen was gestehen: Ein paar Sekunden lang wollte ich nicht mal Ihnen sagen, daß ich Dean kenne. Ich wollte einfach weitermachen und den Mund halten.« Wenn die Russen hier einen Weg gesucht hatten, Mann zu kompromittieren oder in Mißkredit zu bringen, dann hatten sie ihn jetzt allerdings in ein schwieriges Dilemma gebracht. Aber sie hatten ihn unterschätzt: Viele andere wären unter diesem massiven Druck wahrscheinlich in die Knie gegangen und hätten den Fall abgegeben. Aber nicht Major Mann. Er hatte zwar geschwankt, aber nicht lange. »Es fängt schon an, sich auszuwirken«, sagte er jetzt düster. »Der Graben wird bereits tiefer zwischen uns.« Die Neonreklame und die Lichter der nahegelegenen Stadt färbten den Winterhimmel glühend rot. »Ich merke noch nichts«, erwiderte ich. 100
»Ach nein?« sagte der Major spöttisch. »Sind Sie nicht schon ganz nervös geworden? Machen sich bereits Sorgen um Ihre Pension und wägen im stillen ab, bis zu welchem Punkt Sie es sich erlauben können, mit mir gemeinsame Sache zu machen?« »Nein!« »Warum - nein?« fragte er. »Warum nicht, Frederick Anthony, alter Kumpel?« Weiß Gott, er hätte eine wärmere Beteuerung meiner Loyalität ihm gegenüber verdient. Etwas, das ihn an die Zeiten erinnerte, die wir miteinander verbracht hatten, und ihm klarmachte, daß ich mich auf Tod oder Leben mit ihm verbunden fühlte - oder jedenfalls so etwas ähnliches. Aber ich war einfach zu britisch für solche Sprüche. Was ich schließlich herausbrachte, klang dementsprechend: »Weil ich Ihnen mehr traue als dieser Mrs. Bekuv. Nach allem, was wir von ihr wissen, könnte sie auch vom KGB auf uns angesetzt sein... um uns mit genau dem Spielmaterial zu versorgen, das uns auf eine falsche Fährte lockt.« Das Telephon klingelte, doch Mann machte keine Anstalten, den Hörer abzunehmen. »Das sind sicher die Damen, die uns an den Tanzabend erinnern wollen, für den sie sich stundenlang schön gemacht haben.« Mann rührte sich nicht vom Fleck, und bald darauf hörte das Läuten auf. »... Die Kniescheibe an seinem linken Bein«, sagte er, »- er humpelt noch immer.«
101
KAPITEL 9
Ein seltsamer Winternachmittag war das gewesen. Die verhaltene Stimme des Majors im dunklen Hotelzimmer, meine Erschöpfung durch den Mangel an Schlaf, mein Verlangen nach Red, das sich immer mehr verstärkte, die künstliche Nostalgie der Weihnachtsvorbereitungen oder auch die drei letzten Whiskys mit Zitrone - vielleicht sind das die Gründe, aus denen ich mich an alles nur wie an einen wirren Traum erinnern kann - an einen Traum, der zu einem Alptraum wurde. Die Hotelleitung hatte dem Major und mir zwei altmodische Smokings ausgeliehen. Zu meiner Ausstattung gehörte ein weißes Hemd mit einer steif wie ein Brett gestärkten Hemdbrust aus Pikee. Und Manns Hemd hatte sogar noch einen altfränkischen Eckenkragen. Die Band spielte lauter Glenn-Miller-Arrangements mit gut dosiertem Swing und Schmalz; und die Blechbläser erhoben sich genauso wie zu Millers Zeiten, wenn sie in den Chorus einfielen. Das Ehepaar Mann tanzte gerade zu den Klängen von »Sun Valley Serenade«, als Red und ich mit den Bekuvs zur Mitternachtsmette aufbrachen. Die katholische Kirche in Waterbridge war gedrängt voll. Eine aufwendig arrangierte Weihnachtskrippe stand im Eingang hinter dem Hauptportal. Das Mittelschiff der Kirche war mit unzähligen flackernden Kerzen beleuchtet — sie gaben dem Inneren einen warmen, goldenen Schein. Nur die Gewölbe hoch oben blieben im geheimnisvollen Dunkel. Die Bekuvs hatten sich dicht nebeneinander gesetzt, und ich suchte mir einen Platz in der Reihe hinter ihnen, um sie im Auge zu behalten, ohne ihre Zweisamkeit zu stören. Lange nachdem der Chorgesang verklungen war, saß ich noch ganz erfüllt vom Kerzenlicht und den nachhallenden Akkorden der großen Orgel. Und auf unerklärliche Weise vermischten sie sich in meiner Erinnerung mit den Posaunenklängen der Miller-Arrangements und Reds zärtlich geflüsterten Liebeserklärungen. Draußen wurde die erste Stunde des Weihnachtstages von eisigem Wind und Graupelschauern begrüßt. Die Menschen blieben am Ausgang stehen, um sich fest in ihre Schals zu wickeln und ihre dicken Wintermäntel zuzuknöpfen. Durch das Gedränge konnten wir uns nur Schritt für Schritt vorwärtsschieben. 102
Der Ort war also geradezu perfekt geeignet. Ich hörte den unterdrückten Aufschrei von Mrs. Bekuv und gleich darauf die entsetzten Schreie mehrerer Frauen. Vor mir Hände, die wild um sich schlugen, Hüte, die rücksichtslos weggestoßen wurden. Ein Mann begann laut zu schimpfen. Die Bekuvs waren weniger als fünf Meter vor mir, aber sie hätten ebensogut fünf Kilometer von mir entfernt sein können - so aussichtslos war es, eingekeilt von allen Seiten, ihnen zu Hilfe zu kommen. Ich fluchte und rannte gegen die Menge an, um mir einen Weg zu bahnen - ich muß in den Augen der frommen Kirchgänger wie ein vom Teufel Besessener gewirkt haben. Als ich endlich zu den Bekuvs vorgedrungen war, hatte die Menschenmenge inzwischen ein wenig Platz gemacht, so daß sich Mrs. Bekuv auf die steinernen Treppenstufen setzen konnte. Sie war noch bei Bewußtsein, brachte jedoch keinen Ton hervor. Sie wirkte schwerfällig und teilnahmslos, wie ein Soldat, der aus einem schweren Gefecht kommt. Andre] Bekuv stand über sie gebeugt - beide waren vorn an der Kleidung blutverschmiert. Der Professor zerrte den Mantelärmel seiner Frau herunter, und jetzt sah man das Blut ihren Arm herablaufen. Auf der Treppenstufe bildete sich eine Lache. »Man hat Katrinka getötet«, sagte Andrej Bekuv. Ich faßte nach ihrem Puls und beschmierte mir dabei die Hände mit Blut. »Bestell sofort einen Krankenwagen, Red. Sag in der Kirche, sie sollen anrufen.« »Man hat meine Katrinka getötet«, wiederholte Bekuv monoton. »Und alles - meine Schuld!« Ich wickelte mein Taschentuch fest um ihren Arm, doch die Blutung kam nicht zum Stillstand. Das Blut lief über den Ärmel meines geborgten Smokings, und dann tröpfelte es auch auf meinen neuen Ledermantel. Der Raum und seine Gegenstände waren weiß. Neonröhren tauchten ihn in ein kaltes, erbarmungsloses Licht - es gab keinen Schatten. Mein blutverkrustetes Taschentuch, zu nichts mehr zu gebrauchen, lag auf dem Instrumentenwagen - zusammengerollt wie die abgelegte, schuppige Haut eines scheußlichen, roten Reptils - daneben, säuberlich in einer Reihe angeordnet, die kostbare goldene Armbanduhr und das Armband von Tiffany: Geschenke, die der Professor seiner Frau gemacht hatte. 103
Der Kaffee war kalt. Ich riß einen Plastikbeutel cremigen Puders auf, mischte das Zeug in meine Tasse, rührte noch mal gründlich um und schluckte das widerlich schmeckende Gebräu hinunter. Eine beschissene Art, den ersten Weihnachtstag zu begehen! Ein ungeduldiges Klopfen an der Tür, und Mann trat ohne Aufforderung ein. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Scheitel schief gezogen. »Haben Sie mit dem Arzt gesprochen?« Er knöpfte seinen Trenchcoat auf, und ich sah, daß sein Hemd halb offenstand und seine Strickjacke unordentlich über die Smokinghose gezogen war. »Keine Verletzung der Schlagadern. An den Händen wird sie allerdings immer Narben behalten - sie hat mit beiden Händen in das Klappmesser gegriffen - vielleicht auch am Unterleib. Doch es sind bloß oberflächliche Schnittwunden. Der dicke Mantel hat sie davor bewahrt, daß das Messer tiefer in ihren Körper eindringen konnte sie wäre sonst auf der Stelle tot gewesen.« Mann zog hörbar die Luft ein, ging zum Instrumentenwagen hinüber und verschob mit der Spitze seines Zeigefingers den Schmuck der Bekuv, als würde er Schachfiguren bewegen. »Beschreibung des Täters?« »Davon haben wir mindestens ein Dutzend«, erwiderte ich. »Aber alle verschieden.« »Und unser Freund Andre] ?« »Sie hat sich zwischen ihn und den Täter geworfen. Bekuv hat nicht mal einen Kratzer abbekommen, obwohl der Anschlag sicher ihm gegolten hat. Das nimmt er natürlich schrecklich schwer.« »So auf die Art: >Katrinka, mein Liebling, was habe ich dir angetan« »Stimmt wortwörtlich.« »Niemand kann gewußt haben, daß die Bekuvs anfingen, auszupacken«, sagte Mann, um diesen Punkt sich selbst und mir ins Bewußtsein zu rufen. »Es muß in Washington ein paar Leute geben, die schlaflose Nächte haben.« »Und im Kreml gibt es ein paar Leute, die mit viel Schlimmerem als mit schlaflosen Nächten zu tun kriegen, wenn wir Licht in die Sache gebracht haben. Sie hätten ja wohl nicht die Henry-Dean-Legende in die Welt gesetzt, wenn es nicht um etwas wirklich Großes ginge.« »Wir hätten eigentlich auf diesen Mordanschlag gefaßt sein müssen.« 104
»Ich war darauf gefaßt, aber nicht so früh. Wer, zum Teufel, kann denn bloß gewußt haben, daß wir die Bekuvs in diesem gottverlassenen Loch versteckt hatten?« »Gerry Hart?« Mann kratzte sich an der Backe. Er war nicht rasiert und rieb nachdenklich seine Bartstoppeln. »Ja, dieser Scheißkerl hält sich ganz bestimmt auf dem Laufenden. Doch wer hat es ihm gesteckt? Fällt Ihnen da jemand ein?« Ich schüttelte den Kopf. »Jedenfalls - so wird's von jetzt ab weitergehen«, sagte Mann. »Wir können uns auf allerhand gefaßt machen. Am besten, wenn wir die Bekuvs sofort von hier wegbringen.« Ich sah auf die Uhr. »Übrigens - frohe Weihnachten!« sagte ich. »Je heiliger der Tag, desto heiliger die Tat - sagt man das nicht bei den Pfadfindern?« »Den Jungs von der Lokalpresse wird das verdammt sonderbar vorkommen!« »Der kleine Überfall? So 'ne Bagatelle wird sie schon nicht von ihren Weihnachtsgeschichten abbringen.« »Messerstecherei in der Mitternachtsmette«, sagte ich. »Na, so was macht doch Schlagzeile in Waterbridge! Die werden wie wild hinter der Story her sein und sich kaum abwimmeln lassen.« »Natürlich - und wenn ich dann noch einen Sicherheitsbeamten an ihr Bett stelle, wird das Ganze noch mehr aufgebauscht!« Mann griff sich ins Gesicht und rieb heftig, als wolle er sich damit wach bekommen. »Andererseits - würden wir sie nicht bewachen lassen, könnte es der Kerl noch mal versuchen!« Ich versuchte ihn zu beruhigen. »Das war doch im Grunde Pfuscharbeit«, sagte ich. »Ich hab auch noch nie gehört, daß das KGB einen Messerstecher anheuert, und noch dazu einen, der erstens den Falschen trifft und sich dann noch das Messer wegnehmen läßt.« »Trotzdem - um ein Haar, und es hätte geklappt«, sagte der Major ernst. »Das wissen Sie selbst, verdammich. Und der Kerl, der herausfand, wo sich die Bekuvs seit gestern abend aufhalten - der ist ganz bestimmt kein Amateur!« »Könnte man uns nicht die ganze Strecke von New York bis hierher gefolgt sein und das Hotel beschattet haben, bis sich eine Gelegenheit bot?« »Quatsch! Daß niemand hinter uns hergefahren ist, wissen wir mit hundertprozentiger Sicherheit. Auch wenn Sie durch Red reichlich abgelenkt waren, wäre Ihnen das auf die Dauer doch aufgefallen.« 105
Eine Antwort erübrigte sich. Er hatte völlig recht: Niemand war uns auf der Autobahn gefolgt. Überdies hatte auch ein Hubschrauber die Strecke für uns abgesichert. »Nun aber marsch - zurück zu Ihrer Freundin!« brummte der Major. »Rufen Sie mich morgen früh hier an. Vielleicht bin ich der Sache bis dahin auf die Spur gekommen.« Red schlief schon halb, als ich zu ihr ins Bett kam. Wollüstig-schläfrig zog sie mich an sich. Vielleicht war es zum Teil einfach der Wunsch, das Geschehen des vergangenen Abends zu vergessen, daß wir uns in dieser Nacht ganz rückhaltlos hingaben. Mir war, als wären Stunden vergangen, ehe einer von uns etwas sagte. »Ob's wohl gut ausgeht?« fragte mich Red flüsternd. »So schwer verletzt, wie es zuerst schien, ist die Bekuv gar nicht und Andrej hat überhaupt nichts abbekommen.« »Das hab' ich gar nicht gemeint«, sagte sie. »Sicher, ich bin froh, daß sie nur leicht verletzt ist - aber das hab' ich nicht gemeint.« »Also, was dann?« »Dieser Vorfall - hat er etwas mit deiner Tätigkeit zu tun?« »Ja«, sagte ich. »Und im Moment - da läuft alles schief?« »Sieht so aus«, gab ich zu. »Natürlich müssen wir jetzt auf Mrs. Bekuv noch mehr aufpassen. Und daß sie nun auch noch medizinisch betreut werden muß, erschwert die Sache.« »Du, hör mal - dein Haus in London«, sagte Red plötzlich. »Wie sieht das Haus aus, in dem du wohnst?« »Ich hab' das Haus nicht ganz für mich allein«, sagte ich. »Den oberen Stock hab' ich an Freunde vermietet — einen Reporter und seine Frau. Es ist nur ein kleines victorianisches Terrassenhaus, das mit seinen georgianischen Verzierungen Eindruck schindet. Die Zentralheizung bekommt ihm nicht - überall entstehen Risse. Das erste, was ich machen muß, wenn ich heimkomme: Ich muß mir ein paar Luftbefeuchter besorgen.« »Wo steht dein Haus?« »In einem Stadtteil von Fulham, wo manche Leute bereits >Chelsea< auf ihren Briefkopf drucken lassen.« »Du hast mir erzählt, du hättest einen Garten?« »Eigentlich ist es nur ein größenwahnsinniger Blumenkasten... Doch nach vorne raus liegt ein Platz mit Beeten und Bäumen - schaut im Sommer ganz hübsch aus.« »Und nach hinten heraus - was für einen Blick hast du da?« 106
»Ich sehe nie aus den Hinterfenstern.« »Was sieht man denn da so Schreckliches?« »Den Hof eines Gebrauchtwagenhändlers!« Sie schnitt eine Grimasse. »Ach, trotzdem - für mich wäre er der schönste Gebrauchtwagenhof der Welt!« Ich küßte sie. »Das kannst du erst beurteilen, wenn wir da sind«, meinte ich. »Du meinst, ich darf sogar die Vorhänge ändern und die Küche neu einrichten?« »Du, Red, ich nehm' das ganz ernst!« sagte ich. »Ja, ich weiß«, lachte sie und küßte mich. »Aber wir brauchen doch nicht alles gleich wortwörtlich zu nehmen - alles zu seiner Zeit!« »Ich liebe dich, Red!« »Ich dich auch - das merkst du doch! Möchtest du eine Zigarette?« Ich schüttelte den Kopf. Sie lehnte sich über mich - zum Nachttisch, auf dem ihr Feuerzeug und ihre Zigaretten lagen. Ich konnte nicht widerstehen und zog sie eng an mich. Sie schob die Zigaretten fort und meinte: »Na ja, wenn ich die Wahl habe...« Das Feuerzeug rutschte hinter die Matratze und schlug klirrend auf dem Fußboden auf. Red lachte leise. »Wirst du mich denn auch immer bei dir haben wollen?« »Immer, Red!« »So hab ich's im Moment überhaupt nicht gemeint, du Dummkopf«, erwiderte sie und küßte mich mit offenen Lippen. Ich blieb eine Weile gekränkt stumm. Schließlich fragte ich sie: »Wie meinst du's dann?« »Nun - wird Major Mann denn zulassen, daß ich bei dir bleibe? Ich könnte für euch Kaffee kochen, den Fußboden wischen und mich um Mrs. Bekov kümmern.« »Gut«, sagte ich. »Gleich morgen werde ich ihn fragen - natürlich nur, wenn er gute Laune hat.« »Danke«, murmelte sie. Ich griff nach ihr: »Du redest zu viel«, sagte ich.
107
KAPITEL 10
Himmel, Sonne und Land waren von Wolkenmassen verschluckt, bis mit einem Mal einige hundert Quadratkilometer Frankreich wie ein Schmutzfleck durch die unterste Dunstschicht hindurchschimmerten und ebenso plötzlich wieder verschwunden waren. »Ich möchte nicht gleich vom Flugplatz aus anrufen«, sagte ich zu Major Mann. »Aber ich werde nachsehen, ob ein Telex für uns angekommen ist.« »Nun machen Sie sich doch um Gottes Willen endlich frei von dem Gedanken an diese Red Bancroft, und sorgen Sie sich mal um andere Dinge«, sagte Mann gereizt, als die Stewardeß uns die Tabletts mit den ledernen Brathähnchen, den verschrumpelten Erbsen und dem künstlich gefärbten, schillernden Obstsalat aus der Dose wieder weggenommen hatte. ».. .zum Beispiel über die Einkommensteuer oder über aufblasbare Rettungsflöße. Und da wäre auch noch die Ptomainvergiftung, die Umweltverschmutzung und die Jugend von heute - also, sich wegen Red Bancroft Sorgen zu machen ist wirklich überflüssig.« »Ich habe längst aufgehört, mir ihretwegen Sorgen zu machen«, erwiderte ich frostig. »Zu Ihrer Beruhigung - sie ist vom FBI, vom CIA und von ihrem zuständigen Polizeirevier gründlich überprüft worden - das Mädchen ist völlig O.K.! Und unser Abschirmdienst ist auch O.K. - sie ist also überhaupt nicht in Gefahr. Es wird schon nichts schiefgehen.« »Ich sag' Ihnen doch, darum geht es mir gar nicht.« Mann drehte sich auf seinem engen Sitz mühsam nach mir um, damit er mir besser ins Gesicht sehen konnte. »Bessie behauptet, daß ihr beiden haushoch ineinander verliebt seid - ich wollt's ihr erst nicht glauben.« Er lehnte sich vor und versetzte mir einen kräftigen Hieb auf den Arm; mein Kaffee schwappte dabei über. »Sie Glückspilz!« »Ja, schon, nur wissen Sie - da stimmt irgendetwas nicht mit ihr«, gestand ich ihm zögernd. »Sie ist wirklich hinreißend, und ich liebe sie - ehrlich! Aber irgendwas ist mit ihr los - irgendwas, an das sie ständig denkt... irgendwas ist an ihr, an das ich nicht herankomme.« Mann wich ostentativ meinem Blick aus, während er auf die Ruftaste drückte und bei der Stewardeß eine Flasche Champagner bestellte. 108
»Aber Monsieur, wir sind doch schon dicht vor Paris«, sagte die Hostess. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht Ihr hübsches Köpfchen, Kleine^, antwortete der Major. »Wir werden ihn im Nu runterkippen.« Ich sah ihn prüfend nach seinem Diplomatenkoffer neben sich tasten, welcher alle Papiere enthielt, die wir brauchten, falls sich Mann entschließen sollte, Hank Dean nach Amerika zurückzuschleppen selbst wenn dieser noch so heftig dagegen protestieren und fluchen würde, was mit Sicherheit zu erwarten war. Mann bemerkte meinen skeptischen Blick. »Tatsache, Junge, Spaß macht's mir auch nicht gerade«, gab er zu. »Vielleicht packt er aus«, meinte ich. »Vielleicht ist er auch völlig ahnungslos«, sagte der Major. Die Stewardeß erschien mit dem Champagner. Ihre Uniform war ungefähr um eine Nummer zu klein, dafür war ihre Frisur um zwei Nummern zu groß. »In ein bis zwei Minuten setzen wir aber zur Landung an«, sagte sie. »Und wie war's danach mit einer kurzen Zwischenlandung bei Ihnen?« fragte der Major. Die Stewardeß verschwand, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. Er schenkte uns ein und bemerkte: »Wie das Sprichwort schon sagt — jedes Ding hat zwei Seiten. Wenn ich zum Beispiel ein Kollege von Bekuv wäre, würde ich vielleicht ein bißchen Mitleid für diesen Spinner aufbringen.« »Richtig — jedes Ding hat zwei Seiten«, erwiderte ich. »Aber mir tut der Professor auch so schon leid.« Mann stieß prustend seinen Atem aus, als wolle er einen Tabakkrümel von seiner Lippe entfernen - unverkennbar ein Zeichen, daß er meine Einstellung verurteilte. »Doch, er tut mir leid«, fuhr ich unbeirrt fort. ».. .einfach deshalb, weil er so maßlos in eine Frau vernarrt ist, die so gar nicht zu ihm paßt.« »Niemand würde zu diesem Heini passen - weder ein Mensch noch sonst was!« Er hob sein Glas. »Na, los - trinken Sie!« befahl er. »Mir ist nicht besonders nach Feiern zumute«, sagte ich. »Mir auch nicht, guter alter britischer Kollege. Aber schließlich sind wir doch jetzt Freunde und können unsern Kummer gemeinsam begießen!« »Das ist allerdings ein Grund«, sagte ich, und wir prosteten uns zu. »Finden Sie nicht auch, daß diese Bekuv ungefähr das Beste ist, was dieser miesen Type je zugestoßen ist?« fragte Mann danach. 109
»Junge, Junge - selten habe ich eine so schöne Frau gesehen! Ich muß Ihnen gestehen, wäre Bessie nicht ständig dagewesen, die Bekuv hätte mich verdammt in Versuchung geführt! Der Professor ist wirklich der letzte, der ein solches Rasseweib verdient hat. Und dazu trägt sie ihn auch noch auf Händen, putzt ihm gewissermaßen sogar den Arsch, kümmert sich buchstäblich um alles, angefangen von seinem Haarschnitt bis zu den Finanzen - Sie haben es ja miterlebt - und geht dann auch noch so weit, die Waffe an sich zu reißen, die gegen ihn gerichtet ist! Kein Wunder, daß der verhätschelte Kerl vor Angst in einem fort schwitzt, sie könnte ihm eines Tages davonlaufen.« »Jedes Ding hat zwei Seiten - Sie sind doch hoffentlich inzwischen nicht davon abgekommen?« »Jetzt behaupten Sie bloß noch, Sie hätten beim Anblick der Bekuv kein prickelndes Gefühl verspürt - wären nicht auf lüsterne Gedanken gekommen!« sagte der Major. »Nein - wieso auch?« sagte ich ein wenig von oben herab, »ich habe ja Red.« Mann wiederholte das Tabakpusten von eben. »Also wissen Sie manchmal können Sie wirklich fürchterlich britisch sein!« Ich lächelte und gab vor, seine Kritik als eine Art Kompliment aufzufassen. Ich gab ihm den biographischen Abriß über Henry Dean zurück, den ich während des Fluges gründlich studiert hatte. Er verschloß ihn in seinem Aktenkoffer. »Nun trinken Sie schon aus, wir müßten jetzt jeden Augenblick landen«, bemerkte er dann ungeduldig. Aber tatsächlich landeten wir lediglich in einer Schlange wartender Flugzeuge - irgendwo hoch über der dicht bewaldeten Landschaft um Compiegne, und wir mußten die üblichen Runden drehen, um die Landeerlaubnis zu erhalten. Die uns erst nach vierzig Minuten erteilt wurde. Ich hatte daher Zeit, mich nochmals mit der Personalakte Henry Deans zu befassen. Der vor mir liegende Report war bereits in der neuen BIO-EB-Form aufgebaut und auf Durchschlagpapier getippt. Er sah aus wie der Einstellungsbericht eines besonders arbeitsfreudigen Personalchefs. Der Briefkopf war der einer kleinen Möbelfabrik in Tennessee - eine Deckadresse des CIA. Als Anlage waren eine Lochkarte für die Personalabteilung und ein Paßbild beigefügt. Der Bericht war darauf zugeschnitten, Hanks Leben in Ursache und Wirkung aufzugliedern, statt sich mit einer Liste der Lebensdaten und einer knappen Zusammenfassung der wichtigsten Fakten zu begnügen, wie das früher der Fall gewesen war. 110
Aber auch diese Machart war kaum dazu geeignet, alles das zu erfassen, was die Persönlichkeit Hank Deans ausmachte. Was nützt es einem denn schon, zu erfahren, daß Deans zweiter Vorname Zacharias war und daß ein paar seiner Schulfreunde ihn »Zach« nannten? Überhaupt - wie viele Schulfreunde bleiben denn eigentlich noch übrig, wenn man wie Dean nahezu fünfzig Jahre alt ist? Dean hatte dem Dossier zufolge ein »Trink-Problem«. Mir ist es schon immer als überflüssige Heuchelei erschienen, so von Leuten zu sprechen, die gerade beim Trinken nicht das geringste Problem haben - Dean hatte viel eher offensichtlich ein »Nüchternheits-Problem«. Ich überlegte, ob das vielleicht mit dem Scheitern seiner Ehe zu tun hatte. Seine Frau stammte aus New York, war deutscher Abstammung und ein paar Jahre jünger als er. Die beiden hatten einen Sohn namens Henry Hope, der zur Zeit in Paris studierte und in den Semesterferien mit seinem Vater auf dem Lande fischen ging. Ich klappte den Bericht zu: Du, Henry Zacharias Dean, Doktor der Philosophie, bei der letzten Überarbeitung deiner Akte fast hundert Kilo schwer, Soldat, Geschäftsführer, entlassener CIA-Agent, als Ehemann ebensowenig tauglich, doch als Vater offenbar glücklich wir sind dir auf den Fersen! Und falls du dich jetzt zurückwünschst, in das Dorf bei Cleveland, wo du nur von ein paar Dorf jungs deine Prügel bezogen hast - zu spät! »Sagten Sie was?« fragte Major Mann. »Das Schild >no Lächeln<-pardon, >no smoking< ist eingeschaltet.« Mann goß den Rest des Champagners in unsere Gläser. Irgendwann einmal zu Weihnachten - es ist schon zu lange her, als daß ich mich genau erinnern kann, in welchem Jahr - hat mir eine Tante ein Buch geschenkt, das von Kindern handelte, die von der Mannschaft eines Piratenschiffes gekidnappt worden waren. Der Piratenkapitän war ein Riese und hatte eine Hakennase und einen wilden Bart. Er trank Rum in rauhen Mengen, war aber nie richtig betrunken. Seine Kommandos konnte man vom Vordeck bis hin zum Ausguck klar verstehen. Sein Schritt jedoch war leise - er ging wie auf Katzenpfoten. Und diese Mischung aus bulliger Gestalt und Behendigkeit, Grausamkeit und Güte, zornigem Gebrüll und sanftem Trost, dionysischer Trunkenheit und apollinischer Gedankenfülle war auch Hank Dean zu eigen. Er hätte lediglich einen Savile Row- Anzug gebraucht, einen Friseur für seinen Bart und ein Glas Sherry in der Hand, und schon hätte 111
man ihn für einen wohlhabenden Frauenarzt oder für einen erfolgreichen Börsenmakler halten können. Aber in seinem verfilzten Pullover, der ihm fast bis zu den Knien reichte, und den verwaschenen Bluejeans hätte er es sicher schwer gehabt, per Anhalter auch nur bis nach Souillac zu kommen. Und ohne den in der Gegend angebauten Wein, den Cahors, kam er nicht eine Minute lang aus - ein ehemaliges Dijon-Senfglas voll nach dem ändern kippte er in sich hinein. »Ach, ich hätt' schon Vorjahren aussteigen sollen, vielleicht schon, als ich noch achtzehn war - ja, wir beide hätten das zusammen machen sollen, Mickey!« Hank Dean trank seinen Becher leer und füllte ihn von neuem. Dann faltete er den Schreibmaschinentext seines Comic-Detektivromans Superdick zusammen, steckte ihn in eine Mappe und schloß ihn in ein Schubfach. »Diese Schreiberei ist eigentlich nur ein Vorwand - damit ich ab und zu herumsitzen und in die Luft starren kann«, erklärte er. Die Hitze des großen, gußeisernen Ofens verflüchtigte sich durch den riesigen Schornstein und die breiten Risse und Spalten, die rund um die windschiefen Türen und Fenster klafften. Erst als Dean ein paar Wachskartons und Packpapier in den Ofen gesteckt hatte, brachte er eine Weile lang ein prasselndes Feuer zustande. Dean hob die Pfanne hoch, die zum Anwärmen auf dem Ofen gestanden hatte. »Zwei Eier oder drei?« fragte er. »Also, ich hab' kaum Hunger«, meinte der Major. »Gib mir nur eine Scheibe von der Salami da.« Er steckte seine Gabel in eine Wurstscheibe und kaute an ihr herum. Dean erwiderte barsch: »Zum Teufel, natürlich bist du hungrig! Seid ihr nicht die ganze Strecke von Paris bis hierher nonstop durchgefahren? Übrigens, ich biete euch das beste Gericht der Welt an: Omelette mit Trüffeln! Das würde euch in einem New Yorker Speiselokal glatt ein Vermögen kosten! Nebenbei - das ist keine Salami, verdammich, das ist echte Schweinswurst - die hat auf dem Hof da oben auf dem Hügel im Rauchfang gehangen.« Mann hörte sofort auf, in seine Wurstscheibe zu beißen und legte die Gabel hin. »Baseball ist das einzige, was ich hier echt vermisse«, sagte Dean. »Ich würde euch beschwindeln, wenn ich behaupten wollte, daß mir Baseball nicht sehr abginge. Aber manchmal kann ich wenigstens eine Sportreportage im Radio empfangen.« »Auf Kurzwelle?« fragte Mann. »Manchmal auch die >Voice of America< - in klaren Nächten sogar AFN-Germany. Aber ihr seht ja: ich bin rings von Hügeln umgeben.« 112
»Allerdings«, sagte Mann. Ich fragte mich inzwischen, wieviel es bei dem Gerede um Baseball ging, wieviel um Kurzwellenempfang - und wieviel womöglich sogar ums Senden. Ich nahm mir ein paar Scheiben Wurst und riß mir die Kruste am Ende des Brotlaibs ab. Ich konnte mir schon denken, daß dieses Palaver eine ganze Weile so weitergehen würde. Mann und Dean würden so tun, als sprächen sie über die alten Zeiten, während sie in Wirklichkeit die Gegenwart meinten. Und Mann würde schließlich auf und ab gehen, in die offenen Geschirrkredenzen blicken und heimlich die Tiefe der Schubladen und die Dicke der Wände abschätzen, um zu erwägen, ob man dazwischen nicht etwas verbergen konnte. Er würde zunächst einmal alles mit der Unfehlbarkeit seines Instinkts in sich aufnehmen und ansonsten mit einer winzigen Unbedachtsamkeit seines Gegenüber rechnen. »Wir haben die Kinder über Weihnachten in ein Zeltlager gesteckt«, erzählte er Dean. »Das wird mich eine hübsche Stange Geld kosten. Wie ich für sie aufkommen soll, wenn sie ins College kommen, wie dein Sohn - davor hab ich jetzt schon einen Heidenbammel.« Dean schnitt eine große Trüffel in rasierklingendünne Scheiben. Er gebrauchte dazu ein Klappmesser mit Holzgriff — es war der gleiche Messertyp, mit dem Spezialeinheiten der deutschen Wehrmacht ehemals versehen waren, um gegnerischen Wachposten die Kehle durchzuschneiden. »Das Leben hier kostet mich praktisch keinen Pfennig«, erklärte er. »Die Firma zahlt mir monatlich fünfhundert Mäuse, und dann bekomme ich noch immer zehn Dollar die Woche für den Baseballunfall, den ich damals als junger Kerl hatte - du erinnerst dich doch sicher noch daran. Die Mannschaft war versichert, das war natürlich mein Glück.« Er hob das Holzbrett auf einer Seite leicht an und schob vorsichtig die Trüffelscheiben in das geschlagene Ei. Dann stand er auf und ging zum Herd. Er hinkte auf dem linken Bein. Ob er es unsretwegen tat, weil eben die Rede davon gewesen war oder weil er zu lange gesessen hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. »Aber hast du mir nicht mal erzählt, dein Junge ginge auf 'ne Art von Privatcollege in Paris? Kostet das nicht einen Haufen Geld?« Dean rührte die Eier und prüfte nach, ob die Bratpfanne heiß genug war, indem er ein Stückchen Brot ins Fett warf. Es wurde rasch goldbraun. Er angelte es mit einer Gabel heraus, pustete, bis es ein wenig abgekühlt war, und aß es auf. Er gab der Eimasse noch etwas 113
Salz und Pfeffer bei und beugte sich mit der Schüssel über den Herd. »Da mußt du mich falsch verstanden haben, Mickey«, sagte er. »Der Junge geht in eine normale, technische Fachschule. Dafür braucht man kein Schulgeld zu zahlen.« Er klappte blitzschnell mit einer Hand das Messer zu und verstaute es in seinen Jeans. Dann fuhr er fort: »Mein alter Renault schafft noch immer mehr Kilometer pro Liter als jeder andere Wagen, den ich gefahren habe. Die laufenden Reparaturen erledige ich selber, vergangenen Monat habe ich zum Beispiel die Kolbenringe ausgewechselt. Selbst bei den heutigen Benzinpreisen verbrauche ich wöchentlich nie mehr als die zehn Dollar, die ich für meine Verletzung bekomme - und ich finde, ich bin meinem Bein dieses Auto wirklich schuldig.« Er wandte sich um und lächelte uns beide an. »Und was den Rest betrifft - das kleine Restaurant gleich nebenan bietet mir einen Lunch für denselben Preis, den ich allein schon für die Zutaten ausgeben müßte - keine Ahnung, wie die das fertigkriegen. Am Abend genügt mir ein bißchen Wurstaufschnitt, Eier und Brot - also nichts Besonderes. Und bei seltenen Anlässen eben eine Trüffel für zwanzig Franc...« Er grinste. »Natürlich, wenn mein Buch ein Bestseller wird...« »Und wie oft kannst du's dir leisten, die Großstadt unsicher zu machen?« erkundigte sich Mann. Dean goß die Eimasse in die Pfanne. Wegen dem plötzlich aufspritzenden heißen Fett mußte der Major den Kopf wegwenden. »Du meinst Paris, was?« fragte Dean. »Ja, oder New York«, sagte Mann, »oder London, Brüssel - oder auch Berlin...«, er ließ diesen Namen lange im Raum stehen, ehe er weitersprach, »eben irgendeine Stadt, in der man Besorgungen macht und anschließend in eine Show geht.« »Seit ich eine Show gesehen hab' oder auch nur ins Kino gegangen bin, sind 'ne Menge Jahre vergangen, Mickey«, erwiderte Dean. Er riß mit einem Holzlöffel die Eimasse rasch an ein paar Stellen auf und drehte und kippte die Pfanne, damit das ungebratene Ei auf den freiliegenden heißen Pfannenboden lief. »Ich hab' weder Zeit noch Geld für derlei spießiges Amüsement.« An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit hätte ich diese Bemerkung nicht weiter beachtet. Doch Dean hatte sich mit einem Mal tief über die Pfanne gebeugt und gab sich dermaßen konzentriert mit seiner Brutzelei ab - was völlig unbegründet war -, daß ich genau 114
wußte, er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als uns einzugestehen, wie sehr er die Großstadt vermißte. Nun war es so weit: Dean hielt die Pfanne schräg, und das Riesenomelette rollte auf die Servierplatte. Er teilte es feierlich in drei gleichgroße Stücke und servierte jedem seines. Die Lampe über dem Tisch war eine Rarität aus Messing mit Gewichten und grünen Schirmen, und Dean zog sie an ihrer Kette tief über den Eßtisch. Wir nahmen die Mahlzeit in völligem Schweigen zu uns. Jetzt, wo das Licht nur noch auf die Tischplatte fiel, gab es allem darauf Befindlichen eine unwirkliche Bedeutung. Die drei Paare geschäftiger Hände verwandelten sich unter dem harten Licht zu Händen von Chirurgen, die sich beim Sezieren gegenseitig assistierten. Entgegen seiner Behauptung, keinen Hunger zu haben, verschlang der Major sein Omelette mit wahrer Gier. Als nichts mehr auf seinem Teller war als ein Klecks rohes Ei, nahm er ein Stück Brot und wischte auch noch dies mit andächtiger Sorgfalt auf, um es in den Mund zu schieben. »Der Grund, warum wir hergekommen sind... weshalb wir dich hier unten besuchen...« Mann ergriff ein weiteres Stück Brot, brach es in kleine Brocken und aß sie langsam Stück für Stück, als suche er verzweifelt nach einem Anlaß, nicht weiterzusprechen. »Wozu denn Gründe, alter Knabe«, sagte Dean. »Mein Haus steht dir und deinen Freunden immer offen. Das mußt du doch von früher her wissen, oder? Erinnerst du dich noch an die Partys, die ich in den guten alten Zeiten gegeben habe - wo zum Schluß immer ein paar Leute unter den Tischen schliefen, oder im Badezimmer - weißt du noch?« »Ja, ich weiß es noch«, sagte Mann. »Und wer weiß, was sie sonst noch unter dem Tisch oder im Badezimmer getrieben haben«, fuhr Dean fort und brach in dröhnendes Gelächter aus. Er füllte unsere Gläser. »Cahors - schwarzer Wein, so nennt man ihn hier. Los - austrinken!« »Wir haben ein paar Rußkis ausgequetscht«, sagte Mann. Wieder ließ der Ton seiner Stimme den Eindruck aufkommen, als hätte er einen Satz in der Mitte abgebrochen. »Überläufer?« fragte Dean und führte sich eine Scheibe Ziegenkäse zu Gemüte. Er schob die Käseplatte in meine Reichweite. »Versuchen Sie mal den kleinen, runden - der wird hier gemacht.« »Überläufer«, bestätigte der Major. »Wahrscheinlich hatte ich immer ein bißchen zuviel Mitleid mit diesen Kindsköpfen, die über die Mauer kamen - damals, zu meiner 115
Zeit«, sagte Dean. »Ach, die waren ja schon glücklich, wenn sie ein billiges Transistorradio von uns in die Hand gedrückt bekamen und fanden sich vor dem Anprobespiegel in ihrer neuen, westlichen Mode einfach umwerfend. Jeden Tag kamen sie zu mir hereingeschneit, und ich mußte die Details der Wachablösung auf der anderen Seite der Mauer aufnotieren oder auch die Produktionsleistung einer Firma, oder welchen Quatsch sie sonst noch für wichtig hielten, uns zu berichten. Und dann kam irgendwann mal der Tag, wo sie plötzlich Sehnsucht kriegten, nochmal bei Mutters Sonntagsessen mit dabei zu sein. Und da ging es ihnen schlagartig auf, daß es nie mehr solche Sonntage für sie geben würde. Ja, sie waren freiwillig über die Mauer zu uns übergelaufen - aber dafür hatten sie all ihre Verwandten, Kumpel und Freundinnen verloren. Und das war dann der Augenblick, wo sie für gewöhnlich das heulende Elend kriegten.« »Ach ja?« sagte Mann. »Und mit der Zeit fragte ich mich, ob es das überhaupt wert war. Sie hatten höchstens Aussichten auf einen mistigen Job - in einer Plastikfabrik oder so -, nicht viel besser als die Arbeit, die sie drüben bei den Roten hatten. Möglich, daß es ihnen hier gelang, ein bißchen auf die hohe Kante zu legen - na ja, und schließlich konnten sie ja auch jetzt, wann sie wollten, ihre Popmusik hören -, aber sei mal ehrlich: Durften wir diese Jungs überhaupt ermutigen, in den Westen zu flüchten? Also ich — ich weiß nicht recht...« »So siehst du das also?« sagte Mann. »Ja, so sehe ich das«, erwiderte Dean. »Kein Wunder, daß du im Außendienst versagt hast!« »Nun mach mal 'nen Punkt - du weißt genau, daß ich ziemlich gut war. Du müßtest das eigentlich am besten wissen!« Mann gab keine Antwort. Doch ich hatte irgendwann einmal erfahren, daß der Major einige Berichte unterzeichnet hatte, welche die hervorragenden Leistungen Hank Deans bescheinigten: Einer davon hatte sogar dazu geführt, daß Dean mit einer Medaille ausgezeichnet wurde. »Unsere Überläufer hatten so was wie die Wachablösung der Grenzposten oder die Jahresproduktion von Toilettendeckeln aus Plastik allerdings nicht in petto, dafür können sie aber gewisse Leute in Washington, D.C., komplett in die Pfanne hauen«, sagte Mann und wies mit einer Handbewegung auf mich. »Mein junger Kollege hier soll sogar die Auffassung vertreten, daß unser Material wie eine Bombe in der Hierarchie von Langley in Virginia einschlagen wird.« 116
»Willst du damit andeuten, daß ein hohes Tier von den ClA-Special-Projects in die Sache verwickelt ist?« »Heutzutage nennt man es nicht mehr Special Projects«, bemerkte der Major herablassend. »Aber abgesehen davon, verstehst du die Auffassung meines Kollegen in ihrer Nuancierung genau richtig?« »Großer Gott!« entfuhr es Dean. Das Wasser im Kessel begann zu kochen, und Dean machte sich daran, den Kaffee aufzugießen. Dann goß er noch etwas Milch in einen kleinen Topf und setzte ihn aufs Feuer. Ohne sich umzudrehen sagte er: »Ich freu' mich riesig für dich, Mickey - wirklich!« »Was soll der Quatsch? Wovon redest du?« sagte Mann. »Nun, das kann dir eine Spitzen-Auslandsposition einbringen, Mickey. Vielleicht Paris? Wenn du das fest in den Griff bekommst, hast du ein für alle Mal ausgesorgt. Mensch, vielleicht wird dir sogar eine ganze Abteilung unterstellt!« Dean ließ sich nieder und sah zu, wie der Kaffee langsam durch das Filterpapier tropfte. Er blickte auf und lächelte den Major nachdenklich an. Es war schwer zu ergründen, was zwischen den beiden Männern jetzt vor sich ging. Ich fragte mich, ob Dean die Absicht unseres plötzlichen Besuchs nicht längst durchschaut hatte, und ob er dachte, daß Mann seine Untersuchung zu einer Hexenjagd auf den gesamten CIA machen wolle - letztlich mit dem Ziel, sich eine der höchsten Stellungen zu erkämpfen. »Die beiden Rußkis halten uns allerdings hin«, sagte Mann. »Das ist anfangs immer so - sie wollen ihre Charakterstärke unter Beweis stellen, jedenfalls die ehrlichen Typen haben das so an sich. Nur die Profitjäger, die daraus Kapital schlagen wollen, die kann man sofort zum Reden bringen.« »Dein Name ist dabei gefallen«, sagte Mann. Dean hatte die Milch im Auge behalten, bis sie anfing, Blasen zu werfen. Er goß sie in einen Krug. »Ich selbst trinke den Kaffee lieber schwarz - wie die Franzosen«, erklärte er. »Aber ihr seid ja >Ausländer< - ihr mögt ihn sicher lieber mit Milch. Mein Name - in welchem Zusammenhang?« Er goß den Kaffee in dickwandige, braune Tassen von der Art, die man in Restaurants benutzt, weil sie nicht so leicht zerbrechen. »Im Zusammenhang mit dem >Bund 1924<. Einer der russischen Überläufer hat deinen Namen preisgegeben - als erstes Zugeständnis nebenbei. Beide behaupten, daß du für Moskau arbeitest.« »Ein ganz alltäglicher Trick«, sagte Dean. Er trank einen Schluck 117
von seinem starken Kaffee. »Mich kennen wer weiß wie viele Leute als ehemaligen CIA-Mann. Außerdem nehme ich an, daß die Geschichte, wie ich damals nachts in Berlin reingelegt wurde, in den KGB-Akten steht.« »Wahrscheinlich gehört sie sogar zum Standardprogramm ihrer Ausbildungskurse«, sagte Mann bitter. »War' durchaus möglich«, erwiderte Dean. Er lachte und strich sich den Bart. »Na, und nun stehst du also da.« »Nein, du stehst da«, sagte Mann. »Du glaubst doch nicht etwa, daß es stimmt, Mickey?« »Du hast es erfaßt, Hank.« »Ich - für Moskau arbeiten? Ihr Kerle müßt total den Verstand verloren haben!« »Du hast mich nicht einmal gefragt, was es mit diesem >Bund 1924< auf sich hat.« »Ich hab dich einfach deshalb nicht gefragt, weil ich ihn längst kenne! In den frühen fünfziger Jahren habe ich einen hundertfünfzig Seiten langen Bericht über ihn geschrieben... jetzt sag bloß, du hättest meine Akte nicht durchgelesen, bevor du hier bei mir aufgekreuzt bist - dafür kenn' ich dich doch viel zu gut!« Nun war der Major dran, konsterniert dreinzuschauen. »Das wird in deiner Akte nicht erwähnt«, sagte er. »Ach nein? Welch ein Zufall!« sagte Dean sarkastisch. »Kaum hängen mir eure Rußkis was an, da verschwindet genau dieser Bericht in der Versenkung! Na, hoffentlich läuft dein Verstand jetzt wieder auf vollen Touren, mein Bester!« »Glaubst du wirklich, weil jemand deine Akte durcheinandergebracht hat, wirst du ohne weiteres als Unschuldiger von der Liste der Verdächtigen gestrichen?« fragte Mann fassungslos. »Natürlich!« erwiderte Dean. Mann fuhr mit seinem Finger durch den dicken Tabakqualm. »Hank - du heiliger Franziskus! Du hast offenbar zu lange bei den Vögeln und Bienen zugebracht! Wenn wir herausfinden, daß in der Personalakte eines Agenten ein Abschnitt fehlt, dann ist doch gerade die dokumentierte Person am tatverdächtigsten! Fällt's dir langsam wieder ein?« Hank Dean goß sich ein großes Glas Cahors ein, doch dann entschloß er sich jäh, nichts mehr zu trinken. Mit energischer Gebärde, an der Sigmund Freud seine Freude gehabt hätte, schob er das Glas über den Tisch aus seiner Reichweite. 118
»Du liegst total falsch, Mickey«, sagte er. »Ihr macht beide einen riesigen Fehler. Es wäre doch reiner Irrsinn, wenn ich mich in meiner Lage auf solche Kapriolen einließe! Ich stehe hier in Frankreich auf der politischen Liste... Vermutlich werde ich sogar von der Landpolizei ständig überwacht! Ich müßte doch wahnsinnig sein...« Seine Stimme verebbte. »Nein, ihr könnt mir keine Angst machen! Zieht ab! Sammelt erst mal Beweise! Bis dahin bleib' ich hier, lasse mich vollaufen und esse meine Trüffeln!« »Geht leider nicht, Hank«, sagte Mann. »Verbau' dir mit deiner Sturheit doch nicht deine Chancen. Laß uns zu einer Einigung kommen, Hank - solange wir darauf angewiesen sind. Wenn du aber den starken Mann markieren willst - bitte! Dann mach' ich dich so fertig, daß du Rotz und Wasser heulst!« »Wie zum Beispiel?« fragte Dean. »Los - sagen Sie's ihm«, sagte der Major zu mir. »Ihre Pension ist bereits gesperrt worden«, sagte ich. »Sie werden also von jetzt ab keinen Scheck mehr erhalten, es sei denn, Major Mann unterschreibt einen Wisch für den Finanzdirektor. Das Geld von der Versicherung wird zwar noch ein paar Wochen an Sie zugestellt, doch in nächster Zeit wird der Versicherungsgesellschaft ein medizinisches Gutachten von einem unserer Ärzte zugeschickt, mit der Bescheinigung, daß Ihre Verletzung nicht mehr den Bedingungen entspricht, das heißt, daß Ihr Bein die fünfundzwanzigprozentige Untauglichkeit unterschreitet. Wie Sie vermutlich wissen, besteht kein Anspruch auf Schadenersatz, wenn die Verletzung unter der Grenze einer fünfundzwanzigprozentigen Untauglichkeit liegt.« »Was ist denn mit dem da - ist der so 'ne Art Wiegeautomat, der von einem verlangt, daß man sein Gewicht selber angibt?« brauste Dean gereizt auf. »Genügt Ihnen das - oder wollen Sie noch mehr hören? « fragte ich. »Nur zu - nur zu!« sagte Dean. »Wir haben die Befugnis des State Departments, Ihren Paß für ungültig zu erklären und den französischen Behörden - in welcher Form auch immer - Mitteilung davon zu machen. Das heißt, wir können entweder Ihren Paß für ungültig erklären oder sogar die französischen Behörden auf Grund Ihrer falschen oder gefälschten Papiere um Ihre Festnahme ersuchen.« »Ist doch alles Quatsch, was Sie da behaupten. Mein Paß ist echt erst vor zwei Jahren vom State Department neu ausgestellt!« »Wenn aber das State Department erklärt, daß Ihr Reisepaß ge119
fälscht ist, Mr. Dean, glaube ich kaum, daß die Franzosen Einwände machen würden.« »So - auf die Art wollt ihr mich also in die Staaten zurückholen?« »Was hast du dir denn eingebildet, was nun passiert?« fragte Mann. Dean wandte sich unvermittelt dem Major zu, die Augen weit aufgerissen, die Zähne entblößt - wie ein wildes Tier, das in seiner Höhle sitzt, während zwei Jäger mit langen Stöcken versuchen, es herauszutreiben - in meiner Erinnerung tauchte eine Abbildung aus einem Bilderbuch meiner Kindheit auf. »Ich bin unschuldig - Herrgottnochmal!« schrie Dean und schlug mit seiner gewaltigen Faust auf die Tischplatte, daß das Steingut hochsprang und polternd wieder aufkrachte. »Dann mach's uns gefälligst etwas leichter!« brüllte Mann. »Was soll ich denn tun?« schrie Dean. »Soll ich mir ein Märchen für euch aus den Fingern saugen?« »Vielleicht wäre das besser als gar nichts!« sagte Mann brummig. Ich hob die Hände, um Frieden zu stiften. »Also, Jungs, ihr kennt ja die Spielregeln - keine Rempeleien, keinen Tritt ins Schienbein, keine faulen Tricks und keine Tätlichkeiten gegenüber dem Schiedsrichter. Wir haben alle etwas von dem wundervollen Wein getrunken, und Hank weiß, daß er mit oder ohne Paß nicht sehr weit kommen würde. Telephon ist nicht vorhanden, und inzwischen wird er ja auch erraten haben, daß wir seinen Wagen ebenso wie auch unseren vorübergehend außer Betrieb gesetzt haben...« »Bilde dir ja nicht ein, wir hätten nur den Verteilerfinger abmontiert,« sagte Mann. »Also, - am besten, wir legen uns jetzt aufs Ohr,« schlug ich vor. Ich blickte auf die drei Weinflaschen am Tischende, die wir an diesem Abend geleert hatten. »Morgen reden wir weiter - vielleicht kommt dann mehr dabei heraus.« Hank Deans Landhaus war dreistöckig - die typische Bauart in diesem Landstrich Frankreichs. Das Parterre lag etwas tiefer als sonst, war also mehr ein Souterrain, in dem Hank eine Vorratskammer und eine Art von primitivem Badezimmer mit Dusche eingerichtet hatte. Eine Steintreppe führte von dort zur Haustür hoch und in einen Raum, der Wohnzimmer, Küche und Eßzimmer in einem war. Eine alte knarrende Holztreppe führte dann weiter in den obersten Stock, der in vier winzige, mit Dachluken versehene Schlafkammern aufgeteilt war. Wenn man durch die welligen, blasendurchsetzten Bleiglasfenster dieser Luken schaute, hatte man das Gefühl, die Landschaft um einen heraum sei gerade dabei, sich aufzulösen. 120
Die Wissenschaftler können sagen, was sie wollen - wenn der Vollmond noch ganz dicht am Horizont steht, ist er einfach viel größer als sonst. In dieser Nacht sah es fast so aus, als ob die große goldene Kugel, leicht verfärbt von Staub in der irdischen Atmosphäre, direkt mit unserem Planeten zusammenstoßen wollte. Von meinem Dachfensterchen aus konnte ich den Schnee auf den Hügeln jenseits des Talkessels sehen. In St. Paul Chauvrac wohnten nicht mehr als ein paar Dutzend Familien. Zwei mittelgroße Bauernhöfe mit ihren Wohnhäusern und Nebengebäuden beherrschten das Bild der kleinen Ortschaft - im übrigen zerfiel sie allmählich. Zwei von den kleineren Katen waren bereits Ruinen. An der einen konnte man noch das rosa Reklameschild einer Boulangerie erkennen, vor Jahren verblaßt und nicht mehr erneuert, seit der Bäcker dreimal in der Woche mit einem Wellblechlieferwagen angefahren kommt. Inmitten des langsamen Zerfalls stand noch ein größeres Gebäude - es war in den dreißiger Jahren von ein paar Optimisten renoviert und in ein Hotel mit Restaurant umgebaut worden. Doch kann die »Hostellerie du Chäteau« gegenwärtig einem Gast auch nicht mehr bieten als ein sauber bezogenes Bett und gewöhnliche Hausmannskost. Die Hotelleitung hatte sich nie um einen Stern in den Reiseführern bemüht, die man in Paris zu kaufen bekommt, und auch nicht um die glänzenden Emailleschilder, die gleich dreisprachig eine elegante Atmosphäre versprechen. Bei den reisenden Handelsvertretern war das Haus jedoch sehr beliebt. Übrigens war noch Licht im Hotel, als wir uns alle in unsere Schlafkammern zurückgezogen hatten - das einzige Licht im ganzen Dorf. In der tiefen Stille der Nacht hörte ich, wie nebenan der rostige Fenstergriff umgedreht und die Dachluke knarrend geöffnet wurde. Daß sich ein Mann von Hanks Umfang nicht durch die Luke zwängen konnte, stand für mich allerdings fest. Ich konnte einfach nicht schlafen. Es war kalt, und ich nahm die Decke vom Bett und hing sie mir über die Schultern. Nebenan knarrte es vernehmlich: das Bett von Hank Dean. Auch er konnte keinen Schlaf finden - ließ sich wahrscheinlich nochmal alles durch den Kopf gehen. Und wenn Major Manns Plan stimmte, würde er morgen beim Frühstück wie ein Kanarienvogel singen. Doch was hieß hier überhaupt Plan - vielleicht machte sich der Major ja auch nur einfach etwas vor, um die Brutalität aufbringen zu können, seinem alten Freund so heftig zu Leibe zu rücken. Meine Augen mußten für ein paar Minuten zugefallen sein. Denn als mich ein Geräusch aufschrecken ließ, sah ich auf die Uhr - und da 121
war es schon kurz nach drei. Auch in der Hostellerie brannte kein Licht mehr. Der Weiler lag im Dunkel und auch das Land ringsum: Der Mond war untergegangen. Wieder hörte ich ein Geräusch. Aber diesmal war es nicht das Knacken alter Holzbalken - diesmal klang es, als ob jemand einen Gegenstand aus Metall berührt hätte - ein kaum hörbarer, aber dumpf hallender Laut, wie ihn etwa eine Granate verursacht, wenn sie in das Rohr eines Geschützes geschoben wird. Ich ließ eine Minute verstreichen und überlegte, ob es nicht vielleicht das Schlagen einer alten Uhr gewesen sein könne, die ich übersehen hatte. Ich dachte sogar daran, daß das Geräusch von Major Mann - irgendwo im Dunkeln auf der Lauer - herstammen könnte, und wie er wohl reagieren würde, wenn ich jetzt etwas Falsches tat wobei es andererseits natürlich ebenso falsch sein konnte, überhaupt nicht zu tun. Schließlich wurde ich jedoch ebenso von meiner Neugier wie von meinem gesunden Menschenverstand gedrängt, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich hatte, statt die Türklinke einschnappen zu lassen, die Tür mit einem Stück Papier festgeklemmt. Daher gelang es mir, mich lautlos bis zum oberen Treppenabsatz vorzuschleichen. Die Treppe jedoch mußte mich verraten. Nur Dean kannte jede knarrende Stufe und konnte sie umgehen, aber für einen Fremden stellte sie ein unüberwindliches Hindernis dar. Ich beugte mich also so tief wie möglich über das Geländer und versuchte, in den unteren Raum hineinzusehen. Es war stockdunkel, doch konnte ich gerade noch die Gestalt eines Mannes ausmachen, der sich mit dem Rücken gegen die Tischkante lehnte. Ein kurzes Aufflackern im Herd beleuchtete sekundenlang sein Gesicht: Es war Hank Dean. Seine Züge wirkten scharf und wie ausgezehrt. Er stand tief über den Herd gebeugt - wie am Abend, als er uns das Omelette zubereitet hatte. Ein erneutes Aufflackern der Glut: Dean hatte den Eisendeckel wieder auf die Öffnung in der Herdplatte gelegt, damit die Flammen durch den Luftzug im Schornstein stärker angefacht wurden. Nun wußte ich auch, welches Geräusch mich geweckt hatte. Ich übersprang so gut wie alle Stufen der kurzen Treppe und durchquerte den kleinen Raum. Dean hatte sich mit erhobener Faust umgedreht. Er war an sich schon ein Riese — doch jetzt stand er über mir wie die Freiheitsstatue im Hafen von New York. Sein Faustschlag traf meinen Arm. Es tat weh, aber es hielt mich nicht davon ab, die Eisenplatte vom Herd zu stoßen: Ich griff mit der rechten Hand in die Flammen und stellte fest, daß der ganze Herd mit Papier vollgestopft 122
war. Mit gebündeltem Papier - zum Teil so fest zusammengepreßt, daß es nicht einmal Feuer fing. Der Geruch von Petroleum stieg mir in die Nase, und als ich anfing, ganze Hände voll Papier aus dem Ofen zu reißen, ging es sofort in Flammen auf. Brausend schlug plötzlich eine Stichflamme aus dem Herd und züngelte um die Töpfe und Küchengeräte, die als Zierde über dem Kamin hingen. Ich ließ die lodernden Bündel auf den Boden fallen und schlug nach den Flammen, die an meinem Ärmel emporleckten. »Hank, du Hornochse! Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Das war Major Mann. Er hatte bei seinem Eintreten das Licht angeschaltet, um uns ganz deutlich zu machen, daß er eine Pistole in der Hand hielt. Inzwischen war es mir gelungen, das Feuer an meinem Jackenärmel zu löschen, und ich machte mich daran, auf den am Boden liegenden, glimmenden Papierbündel herumzutreten. »Sparen Sie sich die Mühe, das Zeug da zu löschen,« sagte Mann. »Das ganze gottverdammte Haus ist voll davon.« Jetzt erst sah ich, auf was ich da herumgetrampelt war: auf französischen Francs, auf DM, US-Dollars, englischen Pfundnoten - ja sogar auf libanesischer und australischer Währung. Manche Geldscheine waren nur an den Rändern verkohlt, andere fast ganz verbrannt. Da gab es brandneue Scheine und andere, die abgegriffen und zerknittert waren. Doch alle hatten sie einen hohen Nennwert: Es werden auf dem Küchenfußboden wohl mehr als hunderttausend Dollar bares Geld herumgelegen haben, und wir fanden mindestens noch mal so viel, als wir den Holzfußboden aufrissen. »Wenn man aus jemandem in den ersten drei Stunden nichts herausgeholt hat, bekommt man auch in den nächsten drei Wochen nichts aus ihm heraus.« »Falls es überhaupt etwas zum Herausbekommen gibt,« erinnerte f ch ihn. Es war früh am Morgen. Ein paar Stare pickten die Brotkrümel vom gestrigen Abend auf, und die Kühe auf der Weide neben uns bewegten sich schwerfällig auf das Gatter zu - es war Zeit, daß sie in den Stall kamen und gemolken wurden. »Würden Sie es Hank abnehmen, daß er das Geld vorgestern mit der Paketpost erhalten hat?« fragte Mann. »Hank war arm - genaugenommen, er war total pleite. Mir erscheint es ganz natürlich, daß er versucht hat, das Geld zu behalten. Und gehofft hat, daß wir bald wieder verschwinden würden.« »Ich jedenfalls hätte den CIA in Langley innerhalb einer Stunde 123
davon in Kenntnis gesetzt,« bemerkte der Major mit schlichter Aufrichtigkeit. »Sie reagieren ja auch nicht natürlich — und ich genausowenig. Deshalb verhören wir ja auch Hank - und nicht umgekehrt.« »Ja, über dasselbe hab' ich eben auch nachgedacht,« sagte Mann und war für einen Augenblick imstande, über die Absurdität von Prinzipien zu lächeln, die möglicherweise ungemein teuer kommen konnten. »Keine Sorge,« sagte ich. »Aus Moskau kommt die Idee ganz bestimmt nicht, uns eine Viertelmillion Dollar in gebrauchten Scheinen zu schenken.« »Ich mache mir im Moment eher Sorge, daß Hank die Chance wahrnimmt...« »...und versucht, mit den Franzosen einen Handel zu machen,« führte ich seinen Satz zu Ende. »Er möchte schließlich hierbleiben - um jeden Preis,« sagte der Major. »Für die Franzosen ist da nicht viel zu holen,« meinte ich. »Gut, sie werden ein bißchen darüber herausfinden, wie wir arbeiten, und sie werden dann behaupten, >das haben wir ja gleich gesagt< - aber am Ende werden sie's uns zurückgeben müssen.« »Am Ende - ja «, sagte Mann, »am Ende aller Zeiten! Denn was würde es sie schon kosten - nur einen französischen Paß!« »Vielleicht auch das Wohlwollen der USA.« Mann hustete wieder imaginäre Tabakkrümel von seinen Lippen. »Es würde mir gar nicht passen, Hank der französischen Polizei zu überlassen. Wer weiß, was die ihm einreden!« »Also dann schauen wir uns den Laden doch noch ein wenig weiter an«, sagte ich. Und schob das Eckschränkchen beiseite, in dem Hank Dean seine klassische Schallplattensammlung untergebracht hatte. »Der CIA-Typ von der Botschaft müßte ja auch bald hier erscheinen. Dann könnten wir verschwinden und Hank Dean mitnehmen - falls Sie das wollen.« Mann ging unentschlossen auf und ab. »Der Bruder ist immer zu Hause geblieben. Das läßt sich an dem Tachometer in seinem Wagen ablesen. Jedenfalls ist er nicht wie ein Kurier quer durch Europa gerast.« »Zumindest nicht in diesem Wagen«, korrigierte ich ihn freundlich. »Auch nicht in einem anderen«, erwiderte der Major bissig. »Se124
hen Sie sieh ihn doch mal näher an - der Bart wuchert ihm im Gesicht wie Moos, dazu dieses ungepflegte Haar - wo er sich blicken läßt, fällt er doch auf wie ein bunter Hund!« »Das ist wahr«, gab ich zu. Mann hatte inzwischen seine Gedanken auf eine höhere Ebene angehoben. »Also kommen sie zu ihm. Immer derselbe - oder jedesmal ein anderer?« »Immer derselbe, würde ich sagen - viel zu auffällig, wenn hier bei Nacht immer ein anderer Kerl mit fremdem Dialekt an die Tür klopft und nach Dr. Dean fragt.« »Gut - diese Frage wäre geklärt«, sagte Mann. Er sah sich in dem kleinen Raum um. »Wissen Sie - das ist ungefähr das verkommenste, stinkigste Loch, das mir je untergekommen ist!« Er sah mich an und wartete, was ich darauf antworten würde. »Nun ja, Sie beklagen sich ja immer über die dreckigen Nester, in die ausgerechnet Sie immer hineingeraten«, meinte ich. »Wenn dieses Loch wirklich nicht zu unterbieten ist, dann muß es natürlich eine Art von Rekord sein.« Mann schenkte mir ein ziemlich kurzes, humorloses Lächeln. »Allein schon die Bratpfanne! Wetten, daß die eine Ewigkeit schon kein Wasser mehr gesehen hat?« »Es ist eine Omelettepfanne«, versuchte ich ihm zu erklären. »Omelettepfannen darf man nicht abwaschen - es würde die Oberfläche völlig ruinieren!« »Half ich mir gleich denken können, daß Sie auch für Dreck immer eine Entschuldigung finden! Jetzt werden Sie mir wahrscheinlich auch noch erzählen, daß das Klo da unten nie geputzt wird, damit die Emaille keinen Kratzer abbekommt!« »Ich verbringe weniger Zeit in der Toilette als Sie«, entgegnete ich. »Ich gehe rein und raus, und damit hat sich's. Ich nehme mir nicht die Zeit, mich da noch lang umzuschauen.« »Puh«, sagte Mann angeekelt. »Aber Sie haben mich da auf eine Idee gebracht«, sagte ich. »Ach, wollen Sie etwa von jetzt ab manchmal duschen und die Unterwäsche wechseln und ab und zu sogar zum Friseur gehen?« »Nehmen wir an, daß Hank Deans Kontaktmann das Haus ebensowenig zusagt wie Ihnen.« »Dann würde er nach dem Mittagessen ankommen und zur Teezeit wieder verduften«, sagte der Major. »Aber wenn es sich um kompliziertes Material handelt«, wandte ich ein, » - sagten Sie nicht, daß man dann möglicherweise sechs bis sieben Stunden für Erläuterungen braucht?« 125
»Doch, damit muß man schon rechnen«, sagte der Major. »Könnten wir dann nicht davon ausgehen, daß der Kontaktmann im Hotel abgestiegen ist?« »In der Hostellerie du Chäteau - in dem Wanzenloch am Ende der Allee?« fragte Mann. »Es gibt keine andere Wahl«, sagte ich. »Sie bilden sich doch nicht ein, daß er dort vielleicht seine Adresse hinterlassen hat, damit man ihm die Post nachschicken kann?« »Ich kann mich immerhin mal erkundigen, wenn Sie nichts dagegen haben, Major«, sagte ich. »O.K. - ich komme mit -, zu verlieren haben wir ja nichts.« Die Straße war nur ein Schotterweg - so unbedeutend, daß sie auf den französischen Landkarten nicht mal mit einer Nummer versehen war. Nur selten kamen hier Autos vorbei. Vor der Hostellerie stand auch nur ein alter, verbeulter Lieferwagen. Ein räudiger Hund riß an seiner Kette, und als das zu nichts führte, knurrte er uns bösartig an. An der Bar standen zwei Männer in speckigen Anzügen. Der zierliche, grauhaarige Mann hinter der Theke trug ein zerschlissenes Hemd und billige Jeans. Er schaute uns durch eine dicke, randlose Brille kurzsichtig entgegen. »Zwei Helle«, sagte ich. Der Mann hinter der Theke langte nach hinten, öffnete einen holzverkleideten Kühlschrank, holte zwei Flaschen Elsässer Bier heraus und stellte sie vor uns hin. Dann spülte er zwei Gläser unter dem Wasserhahn und schob sie uns gleichfalls zu. Die beiden Männer in den schwarzen Anzügen hörten abrupt mit ihrem Gespräch auf. »Sie sind beim Doktor zu Besuch«, konstatierte der Mann hinter der Bar - das war keine Frage, sondern eine lakonische Feststellung. »Ganz recht«, erwiderte ich. Ich hatte schon festgestellt, daß die Dorfbevölkerung Henry Dean nur den »Doktor« nannte - wahrscheinlich, weil sein Titel auf seiner monatlichen Pensionsüberweisung stand. »Wenig Gäste um diese Jahreszeit«, meinte der Barmann. Auch wenn er den Polizeiwagen gesehen hatte, mit dem Dean abgeholt worden war - er verlor darüber kein Wort. »Ja, deswegen hätte ich gern mit Ihnen geredet«, sagte ich. »Der Doktor hat einen guten Freund, mit dem wir uns unbedingt in Verbindung setzen müssen.« »So«, sagte der Barkeeper. »Er ist alle paar Wochen hier aufgekreuzt.« 126
»Möglich«, sagte der Barkeeper. »Ist er bei Ihnen abgestiegen?« Mann hatte die Frage viel zu hastig gestellt. »Sind Sie von der Polizei?« fragte der Mann hinter der Bar. »Ja«, sagte ich, doch der Major hatte im gleichen Augenblick »nein« gesagt. Darauf ließ der Barmann seinen Blick von Mann zu mir wandern, und auf seinem Gesicht erschien das typische nichtssagende Lächeln, mit dem Leute vom Lande Regierungsvertreter abzuspeisen pflegen. »Also, wir sind so etwas Ähnliches wie die Polizei«, fuhr ich fort. »Eine Art von amerikanischer Polizei.« »Das FBI vielleicht?« schlug einer der schwarzgekleideten Männer vor. »Genau«, erwiderte ich. »Was hat denn der Doktor verbrochen?« fragte der Barmann. Ich versuchte ihm vom Gesicht abzulesen, was ihm am liebsten wäre - daß der Doktor entlastet würde, daß er bei einer Fahndung der Polizei nach Verbrechern mitwirkte oder daß man ihn selbst als entlarvten Verbrecher in einem kleinen, schwarzen Polizeiwagen abtransportierte. Da ich nicht ganz schlau aus dem Mann wurde, sagte ich endlich: »Der Doktor wird eines Bankbetrugs in Amerika bezichtigt.« Gleichzeitig wandte ich mich dem Major zu und hob fragend eine Augenbraue, als suchte ich sein Einverständnis, den Alten noch weiter ins Vertrauen zu ziehen. Major Mann machte das Spiel sofort mit und und nickte tiefernst. Ich beugte mich über die Theke und sagte: »Unter uns gesagt -wir sind inzwischen fast davon überzeugt, daß er unschuldig in diese Sache hineingezogen wurde. Deshalb müssen wir den Mann finden, der bei ihm aus und ein ging.« »Aber warum will der Doktor Ihnen das nicht selber sagen?« fragte der Barmann. Das war natürlich völlig richtig. »Wirklich eine gute Frage«, sagte ich also. »Aber Sie kennen doch das Gesetz der Unterwelt, daß man der Polizei nicht hilft, auch wenn man sich selbst dadurch aus der Afläre ziehen könnte.« »Natürlich, natürlich«, sagte der Major hastig. »Doch das gilt selbstverständlich nicht für gute Staatsbürger, die sich an das Gesetz halten und unter den Gaunern selbst leiden müssen. Und ganz besonders nicht für Gastwirte«, fügte er betont hinzu, »die eine Lizenz zu verlieren haben.« »Der Mann, den Sie suchen, ist noch ein ziemlich junger Kerl - mager ist er ... ja, und er hat langes Haar, es reicht ihm bis über die Oh127
ren. Angezogen ist er wie einer von der Riviera - modische Seidenhalstücher, enggeschnittene Hosen, unter denen man alles sieht, und dazu trägt er diese billigen, imitierten Lederjacken, in allen Größen und Farben.« »Halt die Klappe, alter Trottel!« Ein junger Mann war durch eine Tür mit der Aufschrift »privat« in die Bar gekommen. Er war ungefähr zwanzig, hatte einen langen, schwarzen, traurig herabhängenden Schnauzbart, trug eines dieser nachgeahmten amerikanischen T-Shirts mit dem Wappen der Universität von Kalifornien auf der Brust und dazu ausgeblichene Jeans. Um sein Handgelenk war eine mit Zierknöpfen beschlagene Ledermanschette geschnallt, wie sie alte Preisboxer manchmal als Gelenkstütze anlegen. »Laß dich doch nicht von diesen Kerlen aushorchen«, sagte er. »Das sind Amis - kapitalistische Polizeispitzel ...« »Nicht so stürmisch, junger Mann«, sagte der Major mit milder Freundlichkeit. Doch wahrscheinlich war es gerade Manns friedfertiger Ton, der den Jungen noch mehr in Rage brachte. Er fühlte, daß er nicht ernst genommen wurde, und nannte uns Schweine, reaktionäre Unterdrücker und Gestapo-Verbrecher. Einer der alten Männer am Ende der Theke lächelte verächtlich -wahrscheinlich erinnerte er sich noch gut an die Gestapo. Der Junge sah dieses Lächeln, packte meinen Ärmel und versuchte, mich von der Bar wegzuzerren. Er war stärker als er aussah, und ich spürte, daß in meiner Jacke irgendwo eine Naht riß. »Schweine, Schweine, Schweine!« schrie der Junge immer wieder, als hätte die körperliche Anstrengung ihm allen Verstand und seinen gesamten restlichen Wortschatz genommen. Dabei zog er hartnäckig immer weiter an meinem Ärmel, so daß ich mich entweder abschleppen lassen oder mit ansehen mußte, wie meine Jacke in Fetzen ging. Ich schlug zweimal zu. Der erste Hieb sollte ihn lediglich in eine günstige Position bringen - das heißt aus dem Gleichgewicht und mit dem Kinn nach vorn für einen Haken, der ihn quer durchs Zimmer schleuderte. Der Schlag nahm ihm den Atem, und er brachte nur noch so eine Art von pfeifendem Heulen heraus, etwa wie ein D-Zug, der durch eine kleine Station saust. Zwei Stühle und ein Tisch gingen mit ihm zu Boden, ehe er schließlich in einem Stapel von Gemüseholzkisten landete. »Hat jedesmal bar bezahlt«, fuhr der Alte hinter der Theke fort, als wäre nichts geschehen. »Nie per Scheck oder mit diesen komischen 128
TraveHer-Scheinen, oder wie man das Zeug nennt; nein - immer mit richtigem Geld.« »Hat er übernachtet?« fragte ich. Ich brachte meine Kleidung in Ordnung und lutschte das Blut von den Abschürfungen an meiner Faust, die mir höllisch wehtaten. Der Junge war hinten in der Ecke liegengeblieben. Er öffnete mühsam die Augen, beobachtete uns, murmelte alle möglichen Beschimpfungen — aber er stand nicht auf. »Das war ganz verschieden«, erwiderte der Barkeeper. »Aber er hatte selten Gepäck bei sich. Höchstens Rasierzeug.« »Geben Sie mir sein Autokennzeichen«, sagte ich. »Hab' ich nicht«, behauptete der Alte. »Nun hören Sie aber auf!« sagte ich. »Ein Hotelier, der Gäste ohne Gepäck aufnimmt und sich nicht mal die Wagennummer notiert - das gibt's nicht. Ich bin ganz sicher, daß Sie sich das Kennzeichen irgendwo aufgeschrieben haben. Sie kriegen zwanzig Francs, wenn Sie es für mich herausfinden.« Der Alte griff unter die Bar und zog ein abgegriffenes Hotelregister hervor. Es war in einem chaotischen Zustand — die meisten Unterschriften unleserlich, die Absender wahrscheinlich allesamt fingiert, die Seiten zerknittert und befleckt mit den Ringen abgestellter Weinoder Biergläser und Gott weiß was noch sonst. Hank Deans Gast hatte sich jedenfalls dort nicht eingetragen, doch der Barkeeper fand schließlich eine von ihm selbst notierte Autonummer. Er las sie uns laut vor, und ich trug sie in mein Notizbuch ein. Dann gab ich ihm die zwanzig Francs. Er strich die Banknote säuberlich glatt und inspizierte sie auf beiden Seiten, bevor er sie umständlich in seine bereits pralle Brieftasche steckte. »Danke!« sagte ich. »Von denen hab' ich noch mehr«, sagte er. »Noch mehr Nummernschilder?« fragte ich. »Aber sicher«, bestätigte er. »Und alle verschieden?« fragte ich. Er nickte. »Verdammte Scheiße - Mietwagen!« brummte Mann. »Zehn Francs für jede Nummer«, versuchte ich zu handeln. »Zwanzig Francs — den Preis haben Sie ja selbst festgesetzt.« Ich blickte den Major an. »Aber nicht für solche, die zweimal vorkommen«, bestimmte Mann. »Ich finde, gerade die sind wichtig«, widersprach ich. »Dafür müssen wir aber bei jedem Nummernschild das Datum haben.« 129
Der Barkeeper begann, das Buch Seite um Seite durchzublättern, und bald hatte er eine Liste von Daten und Nummern zusammengestellt, die fast zwei Jahre zurückreichte. Wir hatten inzwischen unser Bier ausgetrunken und bestellten noch eins. »Da - wieder das gleiche Kennzeichen!« sagte der Major aufgeregt. »Das macht im ganzen viermal dasselbe Nummernschild!« Er leerte sein Glas, wischte sich den Mund und verzog das Gesicht. »Wer weiß, es könnte natürlich eine ganz kleine Leihwagenfirma sein, aber vielleicht hat er auch ausdrücklich wieder denselben Wagen verlangt.« »Ziemlich unwahrscheinlich«, meinte ich. »Wagenverleiher stoßen gewöhnlich ihre Autos nach einem oder höchstens zwei Jahren wieder ab. Die Daten für dieses Kennzeichen liegen aber sehr weit auseinander. Es taucht gleich zu Anfang auf, kurz nachdem Dean herzog, und das letztemal im vorigen August.« »Hm - immer in den Ferien«, meinte der Major. »Eben«, erwiderte ich. »Immer, wenn Autovermieter knapp an Autos sind. Es muß sein eigner Wagen sein.« »Das wäre der erste Glückstreffer, den wir bei dieser ganzen Geschichte gelandet hätten«, sagte Mann. »Ich glaube, unser Wirt hat ein ähnliches Gefühl«, meinte ich, während wir zuschauten, wie er ein kleines Vermögen in der Brieftasche verstaute. Dann blickte er auf und lächelte. »Wiedersehen und schönen Dank auch«, sagte ich. »Tut mir leid wegen des Jungen.« »Ist meinem Sohn ganz recht geschehen«, sagte der Barkeeper. »Übrigens - Sie haben die acht Francs für das Bier noch nicht gezahlt.«
130
KAPITEL 11
Wir brauchten achtundvierzig Stunden, um in Erfahrung zu bringen, auf wen der Wagen, ein uralter viertüriger Fiat, zugelassen war. Er gehörte seit mehr als acht Jahren einer Madame Lucie Simone Valentin, geboren in Le Puy an der Häute-Loire, Beruf unbekannt, zur Zeit wohnhaft in Paris, Porte de la Vilette - jenseits des Kanals, an dem sich eins der größten Schlachthäuser Europas befindet. Dieser im Nordosten von Paris gelegene Stadtteil glänzt weder mit historischen Bauten, wie etwa Kathedralen, noch mit erstklassigen Restaurants. Madame Valentines Wohnung lag in einem Slumviertel des neunzehnten Jahrhunderts mit hallenden Treppenhäusern, brüchigen elektrischen Leitungen und einem alles durchdringenden Geruch nach abgestandenem Essen. Es fing gerade an zu schneien, als wir vor ihrem Haus eintrafen. Auf der anderen Straßenseite waren zwei gelbe Riesenmaschinen damit beschäftigt, ganze Häuserwände zu verschlucken und anschließend als roten Ziegelstaub wieder auszuschnauben. Die Wohnung, nach der wir suchten, hatte die Nummer 94 und war eine Mansarde. Hätte sie einen direkten Blick auf Notre Dame gehabt, wäre frisch gestrichen und dazu noch apart möbliert gewesen - jeder Bühnenbildner in Hollywood hätte sie als Vorbild für das genommen, was er sich unter Paris vorstellte. Aber die Wohnung der Madame Valentin hatte überhaupt keine schöne Aussicht direkt gegenüber befand sich ein Häuserblock, der doppelt so hoch und dreimal so düster war wie der, in dem sie selbst lag. Es war also kaum damit zu rechnen, daß etwa Gene Kelly die Tür öffnen würde. »Ja?« Früher einmal war sie eine Schönheit gewesen. Jetzt trug sie einen selbstgestrickten Pullover, der nicht gerade wie angegossen saß. Ihr Haar war modisch gewellt - aber man sah sofort, daß die Dauerwelle im eigenen Badezimmer entstanden war. »Wir hätten gern wegen Ihres Wagens mit Ihnen gesprochen, Madame Valentin«, sagte ich. »Oh - das kann ich bestimmt erklären«, antwortete sie. »Ich hatte mir eingebildet, daß er nur neue Zündkerzen braucht. Aber bis zum Monatsende habe ich bestimmt alles bezahlt.« Sie hielt einen Augenblick inne. Vom unteren Stockwerk her drangen die Klänge eines Tangos herauf. »Wir sind nicht von der Werkstatt, Madame«, sagte Mann. »Wir möchten mit Ihnen über Mr. Henry Dean sprechen.« 131
»Ach, Sie sind Amerikaner?« fragte sie in fließendem Englisch. »Cheri!« rief sie dann nach hinten in die Wohnung, »Cheri, es ist für dich!« Und zu uns gewandt fuhr sie fort: »Henry muß um Punkt sechs bei seiner Arbeit sein.« Sie sprach seinen Namen französisch aus. Die Concierge hatte zwar erwähnt, daß sie mit einem Mann zusammenlebte, doch den hatte ich mir weiß Gott anders vorgestellt zumindest nicht als einen Jungen, der mit seinen frischen Wangen wie ein Teenager aussah. Er lächelte uns entgegen und schüttelte uns die Hand. Sein Arbeitsanzug mit dem TOTAL-Abzeichen auf der linken Seite war frisch gewaschen und gebügelt. »Ich bin Major Mann, US-Offizier außer Dienst, gegenwärtig für das Auswärtige Amt in Washington tätig. Ich hätte gerne etwas mit Ihnen besprochen.« »Ich weiß schon über Sie Bescheid«, sagte der Junge. »Dad hat mich benachrichtigt, als er in Polizeigewahrsam kam. Er schrieb mir, das Ganze wäre ein Mißverständnis, doch Sie und Ihr Freund wären in Ordnung und die einzigen, die ihn aus dem Schlamassel herausholen könnten.« »Sie sind Hank Deans Sohn?« fragte Mann. »Ja, Sir - in der Tat«, sagte der Junge und lachte. »Henry Hope Dean - wollen Sie meinen Paß sehen?« »Das wird kaum nötig sein«, erklärte Mann. »Kommen Sie - treten Sie ein!« sagte der Junge. »Lucie-Darling, sei so nett und bring uns die Whiskyflasche, die wir uns für meinen Geburtstag aufheben wollten.« Das Zimmer war unglaublich sauber und aufgeräumt - wie ein Ferienhaus, das man gerade für den nächsten Gast hergerichtet hat. Wie in den meisten möblierten Mietwohnungen war es bescheiden eingerichtet: mit Bambusstühlen und ungeheizten Schränken. An persönlichen Dingen waren nur ein paar billige Reproduktionen von impressionistischen Malern auf die verblichene Tapete geklebt, und auf dem Boden türmten sich aufeinandergestapelte Bücher. Der junge Dean wies auf die Stühle, die noch am besten erhalten waren, und stellte seine kostbare Flasche Whisky vor uns hin. Ich ließ mich in meinen Stuhl fallen und fragte mich, ob ich die Kraft aufbringen würde, je wieder aufzustehen. Vier Nächte lang hatten wir kaum richtig geschlafen. Ich sah, wie der Major vorsichtig an seinem Drink nippte und goß mir selbst eine Menge Wasser ins Glas. »Wer hat also ein Interesse daran, Ihren Vater in Schwierigkeiten zu bringen?« fragte der Major. 132
»Hm - ich weiß sehr wenig von dem, was er früher für die Regierung getan hat.« »Darüber reden wir schon mit anderen Leuten«, sagte Mann. »Ich meine, unter den Leuten, die Sie kennen - gibt es da jemanden, der Ihrem Vater eins auswischen möchte, der ihn gern im Gefängnis sähe, oder sogar - tot?« »Niemand!« sagte der Junge. »Sie kennen ja meinen Vater... er kann einen manchmal ziemlich zur Verzweiflung bringen, und er sagt rücksichtslos seine Meinung und bleibt dabei. Ich könnte mir vorstellen, daß er mit jemandem in Streit gerät - aber doch nie so weit, daß der ihn dann in so eine Klemme bringt. Mit ihm konnte - mit ihm kann man letzlich immer gut auskommen. Niemand würde so weit gehen und ihm eine Viertelmillion Dollar unterschieben! Was soll das überhaupt? Die Sache ist doch irgendwie unwahrscheinlich!« »Sie soll auch unwahrscheinlich aussehen«, erklärte der Major. »Man schickt einem Menschen Geld ins Haus - und zwar so viel, daß er's einfach nicht fertigbringt, es den Behörden abzuliefern. Und anschließend geht man hin und schickt ihm die Polizei.« Ich hatte Manns Gesicht scharf beobachtet, um herauszubekommen, ob er wirklich Hank Dean inzwischen für unschuldig hielt. Doch sobald er meinen Blick bemerkte, kehrte er mir den Rücken zu. »Mensch, eine Viertelmillion Mäuse!« sagte der Junge. »Da muß einer wirklich eine Stinkwut haben, wenn er jemandem so viel Kies in den Briefkasten wirft!« Lucie Valentin kam und brachte Kaffee. Das billige Geschirr war säuberlich poliert, und auf dem Tablett lag sogar ein frisch gestärktes Leinentuch. Sie stellte die Tassen auf den Bambustisch, setzte sich dann zu dem Jungen auf die Armlehne seines Sessels und legte mütterlich den Arm um ihn. »Vielleicht solltest du deinen Vater einmal besuchen, Cheri«, sagte sie. »Du kannst den Wagen jederzeit haben.« »Wenn ich einmal persönlich werden darf«, fragte ich sie, »wie sind Sie eigentlich mit Hank Dean ausgekommen?« »Ich bin ihm nur zweimal begegnet«, antwortete Lucie Valentin. »Lucie hatte das ewige Versteckspielen satt«, erklärte der Junge. »Wir möchten nämlich heiraten - so bald wie möglich. Aber ich brauche Dads Zustimmung.« »Und — er hat was gegen Lucie?« »Er mochte sie gleich - doch, doch!« sagte der Junge. »Ich weiß, daß er sie mochte und noch immer mag!« Er tätschelte Lucies Arm 133
und sah lächelnd zu ihr hoch. »Nur will Dad im Grunde natürlich, daß ich ein amerikanisches Mädchen zur Frau nehme.« »Tatsächlich?« »Ja - das ist doch klar. Dad streicht zwar auf der einen Seite gewaltig heraus, wie kosmopolitisch er denkt und so — aber eigentlich ist er immer Amerikaner geblieben. Schon sein Französisch stempelt ihn sofort als Amerikaner ab, und darauf bildet er sich sogar etwas ein.« »Sie selbst sprechen akzentfrei französisch?« »Sicher, ich bin ja auch hier aufgewachsen. Die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe, glauben, ich stamme aus Paris. Ich denke ja auch schon fast wie ein Franzose—es trifft Dad sehr, wenn ich das vor ihm erwähne, aber das ist nun mal die Wahrheit. Jedenfalls könnte ich in den Staaten nie wirklich glücklich werden — und mit einem amerikanischen Mädchen erst recht nicht.« Er lächelte. Aus dem Ton, in dem er »Mädchen« ausgesprochen hatte, konnte man heraushören, daß er für eine reife Frau wie Lucie wesentlich mehr übrig hatte. Sie war beträchtlich älter als er — daß seinem Vater dieser Umstand auch nicht paßte, brauchte er nicht erst zu erwähnen. »Ja, und dann haben wir noch Lucies Scheidung vor uns«, sagte der junge Dean. »Sie wissen ja, die Kirche erkennt sie nicht an« - er zuckte die Achseln -, »Dad übrigens auch nicht.« »Aber Ihr Vater hat sich doch auch scheiden lassen«, meinte ich. Einen Augenblick glaubte ich, ich hätte den Jungen verletzt, weil ich dieses Thema angeschnitten hatte, doch er lächelte Lucie nur liebevoll an und sagte dann zu mir: »Dad hat mir zwar geschrieben, daß er formell geschieden sei -Tatsache ist jedoch, daß er sich immer gegen die Scheidung gesträubt hat - daher kommt ja der ganze Ärger!« »Aus religiösen Gründen?« »Mom hat mir mal gesagt, es sei leicht für Dad, ihr mit religiösen Skrupeln zu kommen, da er ja sowieso nicht vorhätte, ein zweites Mal zu heiraten.« »Aber Ihre Mutter hat es getan?« »Meine Eltern sind nie miteinander ausgekommen. Und sie haben sich schon vor so langer Zeit getrennt, daß ich mich gar nicht mehr daran erinnern und mir sowieso nicht vorstellen kann, daß sie je etwas Gemeinsames verbunden hat. Mom liebt ein Leben in Luxus, und ihr Typ, dieser Reid-Kennedy, schwimmt geradezu in Geld. Er wollte immer, daß ich einen monatlichen Zuschuß von ihm annehme, doch das ging mir irgendwie gegen den Strich - schließlich ist er ja nicht mal ein richtiger Stiefvater.« 134
»Was ist er eigentlich von Beruf?« »Er hat mit Elektronik zu tun.« Ich sagte: »Nun j a, das ist ein ziemlich weiter Begriff: von der Fernsehreparatur bis zur Mondlandung.« »Also, soviel ich weiß, stellen seine Werke irgendwelchen komplizierten Unsinn für Nachrichtensatelliten her. Sie haben zum Beispiel eine Menge Arbeit in den Satelliten gesteckt, den das französische Fernsehen jetzt für Live-Übertragungen aus den Vereinigten Staaten einsetzt. Dann noch die Wettersatelliten ... ich glaube kaum, daß es dabei militärische Geheimnisse gibt, falls es das ist, woran Sie denken.« »Nun ist es inzwischen für das Krankenhaus zu spät, Cheri«, sagte Madame Valentin vorwurfsvoll. »Na, dann laß' ich's heute eben ausfallen«, erwiderte der Junge. »Ich war nämlich heute eigentlich dran, im Hospital am Boulevard Blut zu spenden. Aber das kann ich auch morgen noch machen.« Der Major nickte. »Stehen Sie eigentlich mit Ihrer Mutter noch in Verbindung?« »Wir schreiben uns hin und wieder.« »Und wann haben Sie sie das letztemal gesehen?« »Vor einem - nein, was sag ich denn da -, vor zwei Jahren.« Lucie stand auf und ging zum Fenster. Sie schien sich auf einmal für den fallenden Schnee zu interessieren. »Und zwischendurch - schreibt sie Ihnen da oder ruft mal an?« fragte Mann hartnäckig weiter. »Doch, letztes Jahr ein paarmal«, erwiderte der Junge. »Ich glaube, sie akzeptiert jetzt allmählich die Situation.« Lucie Valentin ging zu dem jungen Dean zurück und ließ ihre Hand in seinen Overall gleiten, holte seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an. So intim diese Geste war, es fehlte ihr die Ungezwungenheit, die man an sich in einem solchen Fall voraussetzt. Der Junge fühlte das. »Was hast du, Darling?« Sie wandte sich ab und zuckte die Achseln, zog nervös an ihrer Zigarette und sagte dann tonlos: »Deine Mutter ist gestern hiergewesen.« »Bist du sicher?« fragte er. Sie wandte sich immer noch nicht um. »Natürlich bin ich sicher. Sie hat nach dir gesucht.« »Nimm das doch nicht gleich tragisch, Baby!« »Tut mir leid, Darling«, erwiderte sie in einem Ton, der kaum nach 135
echter Reue klang. »Aber sie hat gar nichts akzeptiert! Im Gegenteil - sie ist entschlossen, uns auseinanderzubringen. Gestern nacht hab ich von ihr geträumt.« »Komm, sei doch nicht kindisch!« »Ich bin nicht kindisch, und nenn mich nicht immer Baby!« fuhr Lüde Valentin plötzlich auf ihn los. Sie öffnete ihre Handtasche, die auf dem Fensterbrett gelegen hatte, und holte ein Stück Papier heraus. »Hier - ruf sie an! Das möchtest du doch, oder?« Er nahm den Zettel nicht. Er sagte nur: »Lucie, ich liebe dich.« Sie zuckte wieder die Achseln und wandte sich ab. Major Mann nahm ihr schließlich den Zettel aus der Hand, gab ihn jedoch nicht dem jungen Dean. Sorgfältig las er ihn selber durch. Die beiden Verlobten hatten uns inzwischen total vergessen. »Warum hast du mir das nicht sofort gesagt, Lucie?« Lucie tupfte mit einem winzigen Taschentuch an ihren Augen. »Sie war ja nur drei Stunden in Frankreich und schon wieder auf dem Weg zum Flugplatz. Es schien mir so... dumm, alles aufs Spiel zu setzen wo sie doch sowieso nur für ein paar Minuten hergekommen wäre.« »Sie ist bestimmt nicht über den Atlantik geflogen, nur um bei uns eine Stippvisite zu machen«, meinte der Junge. Trotzdem - der Gedanke war für ihn schmeichelhaft, und seine Stimme verriet ihn. »Nein — sie sind beide in Europa«, sagte sie. »Das Papier stammt aus einem Hotel«, sagte Mann und hielt den Zettel hoch. »Es steht weiter nichts drauf als >bitte ruf mich an< - und der Briefkopf: The Gresham Hotel, Dublin. Was könnte sie in Irland zu tun haben — wissen Sie es?« »Nein«, sagte der Junge. »Nun, dann denken Sie mal gefälligst darüber nach!« stieß Major Mann ärgerlich hervor. Die gespannte Atmosphäre im Raum hatte uns inzwischen alle erfaßt, und Mann verlor jetzt plötzlich und völlig grundlos die Geduld mit dem jungen Dean. »Strengen Sie endlich mal Ihren Gehirnkasten an! Ist sie an einem Gestüt interessiert oder hat sie was für Haifischjagd übrig? Was, zum Teufel, hat sie mitten im Winter in Irland verloren? Wissen Sie es nun oder nicht?« Der Junge schüttelte den Kopf, und Lucie antwortete an seiner Stelle: »Seine Mutter ist mit dem Direktflug der Irish Airlines von Dublin nach Paris hergekommen. Sie hat mir gesagt, ihr Mann dürfe auf keinen Fall von dieser Reise wissen. Er wäre der Meinung, daß sie nach Dublin zum Einkaufen gefahren wäre und abends immer ins Theater ginge.« 136
»Und was , zum Teufel, tut er in der Zwischenzeit? Komische Art, gemeinsam Urlaub zu machen und die Frau allein nach Dublin ins Theater zu schicken!« »Darüber hat sie sich nicht weiter ausgelassen«, sagte Lucie Valentin. Major Mann griff nach seinem Hut und knöpfte seinen Mantel zu. »Sie haben doch wohl nicht vor, Paris in nächster Zeit zu verlassen, oder?« Keiner von beiden gab eine Antwort. Als wir durch die Tür gingen, die Madame Valentin für uns aufhielt, hörten wir noch, wie der Junge sagte: »Sie will uns nicht auseinanderbringen, Baby. Mach dir doch nicht immer solche unnützen Sorgen. Daß wir Geheimnisse voreinander haben - das ist viel schlimmer.« Nachdem die Tür ins Schloß gefallen war, stritten sie sich auf französisch weiter. Von unten drang uns der gleiche Tango ans Ohr, den wir bereits bei unserer Ankunft gehört hatten. Entweder war der Plattenwechsler steckengeblieben, oder jemand war verbissen damit beschäftigt, tanzen zu lernen. Mann schwieg, während wir die enge Steintreppe hinunterstiegen. Ein paar der elektrischen Birnen fehlten, und die wenigen, die noch vorhanden waren, gaben nur einen düsteren Schimmer von sich. Tangomusik vermittelt meiner Meinung nach eine falsche Fröhlichkeit: In Wirklichkeit hat er eigentlich einen melancholischen Rhythmus. Es war erst Spätnachmittag, doch die niedrige Wolkendecke ließ die Straßen schon so dunkel erscheinen, daß manche Autos schon mit Licht fuhren. Wir wanderten zu unserem gemieteten Mercedes zurück. Die dünne Schneeschicht, die ihn inzwischen eingehüllt hatte, war durch den Ziegelstaub gelblich verfärbt. Irgend jemand hatte ein Hammer-und-Sichel-Emblem in den Schnee gemalt, und Mann wischte es weg, bevor er in den Wagen stieg. Er stellte den Scheibenwischer an, um wenigstens ein kleines Guckloch freizuschaben, aber da brach gegenüber mit donnerndem Getöse wieder eine Wand zusammen, und wir saßen mitten in einer gewaltigen Staubwolke. Zudem waren wir so eng zwischen parkenden Autos eingepfercht, daß Mann Mühe hatte, aus unserer Lücke herauszukommen und sich in den Verkehrsstrom einzufädeln, der uns auf der Rue de Flandres in die Stadtmitte schleuste. Auf der Place de Stalingrad machte er endlich seinen Mund auf. »Angenommen, der Junge ist der Kurier...«, sagte er. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß die beiden uns nur Theater vorgespielt haben«, meinte ich. 137
»Und die Mutter?« »Das wäre schon eher möglich. Denn wenn'ein professionelles Agentennetz einen schwachen Punkt hat - dann ist es doch eigentlich immer wieder die alte Geschichte: entweder ein eifersüchtiger Liebhaber oder eine mißtrauische Ehefrau.« »Oder eine verlassene Ehefrau, die wieder heiraten will«, sagte Mann. »Sie meinen also, die eigne Frau hätte Hank reingelegt?« »Ich weiß nur eins - hinter dem Ganzen steckt die Absicht, Druck auf Sie auszuüben und Sie fertigzumachen.« »Aber sollten wir dadurch nun von den Bekuvs abgelenkt werden? Könnte diese dämliche Sache - Dublin und so weiter - vielleicht nichts als ein Köder sein?« »Das ist eben die Frage«, sagte ich. Er nickte. Wie auch immer, wir waren uns beide darüber im klaren: Wir mußten jetzt nach Dublin. Wer eine Untersuchung führt, folgt jedem Anhaltspunkt, und es spielt dabei keine Rolle, ob eine Spur ihn dabei möglicherweise auf eine falsche Fährte führt, die nur Zeit kostet und am Ende nichts einbringt. Als wir vor unserem Hotel in der Nähe des Innenministeriums angelangt waren, hatte der Schnee allmählich begonnen, die Stadt lahmzulegen. Major Mann betrat energisch die Hotelhalle und schüttelte die Wassertropfen von seinem Tweedhut ab. Über die französische Polizei war inzwischen eine Nachricht für ihn eingegangen - jemand wollte uns dringend etwas mitteilen und hatte eine Telephonnummer hinterlassen. Ich erkannte sie gleich als eine der Nummern, die dem CIA bei der Pariser US-Botschaft zur Verfügung stehen. Mann rief an, und nach knapp zehn Minuten erschien der Kurier. Die Nachricht war bereits durch die Dechiffriermaschine gelaufen, und doch war sie - wenigstens für mich - noch ziemlich rätselhaft; Mann mußte mir noch ein paar Erläuterungen dazu geben. JONATHAN AN SCHUHPUTZER-DREIGESTIRN DRINGEND: FABIAN BEDAUERT DEAN ALS KANDIDATEN IRRTÜMLICH GENANNT ZU HABEN STOP ER BEHAUPTET JETZT BETTERCAR RENTALS SEI IN BOSTON MASSACHUSETTS STOP LIEBESGRÜSSE VON RED STOP BRINGT COGNAC MIT STOP UNTERZEICHNER JONATHAN ENDET Ich wußte immerhin, daß Fabian der Codename für Andrej Bekuv war und Jonathan der CIA-Mann, der für unsere beiden Russen ver138
antwortlich war, während wir unterwegs waren. »Bringt Cognac mit« war der Kontrollcode, den der Major mit Jonathan persönlich vereinbart hatte. (Für jede Nachricht gab es ein anderes Codewort, das wir drei miteinander ausgemacht und uns gemerkt hatten.) Wie Red es fertiggebracht hatte, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und mir eine persönliche Mitteilung zu machen, war mir schleierhaft. »Haben Sie Boston, Mass., für mich dechiffriert?« fragte Mann. »Ja, Sir«, erwiderte der Kurier, ein mir unbekannter junger Mann. »Ich habe nachgeschlagen: Es ist eine kleine Stadt in Irland - Drogheda, oder wie man es ausspricht.« »Natürlich, Drogheda«, sagte Mann und nickte. »Und ich nehme an, daß umgekehrt das gleiche gilt - der Code für Boston, Massachusetts, ist also Drogheda, Irland.« Der Kurier lächelte höflich. Mann nahm die Meldung und holte eine Schachtel Streichhölzer hervor. Er benutzte immer gern jede Gelegenheit, zu beweisen, wie gut er ausgebildet war - also verbrannte er jetzt den Zettel mit übertriebener Sorgfalt. »Brauchen Sie sonst noch etwas?« fragte der Kurier. »Ja. Henry Hope Dean - ich brauche seine Blutgruppe. Da er Blutspender ist, dürfte es nicht schwer sein, sie herauszubekommen.« »Drogheda in Irland«, wiederholte er nachdenklich, nachdem der Kurier sich empfohlen hatte. »Das heißt also, daß die Bekuvs jetzt wirklich singen.« »Würden Sie mir endlich verraten, was >Bettercar< ist - oder spielen wir den ganzen Abend Geheimagenten?« »Sachte, Baby, sachte«, imitierte Major Mann Henry Hope Deans liebevoll-besorgte Stimme. »Also, dann gehe ich jetzt essen«, erwiderte ich. »Bis später.« »Bettercar Rentals ist das vereinbarte Codewort für den >Bund 1924<«, sagte Mann. »Und deshalb spendiere ich heute mal die Drinks.«
139
KAPITEL12
Nach dem Verlassen des Flughafens von Dublin biegt man nach links ab und folgt der Straße in Richtung Belfast. Major Mann hatte im voraus dafür gesorgt, daß uns ein Beamter derlrish Special Brauch in Drogheda erwartete. Es war nur eine Strecke von etwa dreißig Kilometern, und Mann hatte versichert, das könne er spielend in einer halben Stunde schaffen. Doch er hatte nicht mit der engen, gewundenen Straße gerechnet und ebensowenig mit den tiefen Schlaglöchern und den riesigen Lastwagen, die vor uns im Schneckentempo durch die engen Gassen der Dörfer krochen. Mann fluchte und ärgerte sich ununterbrochen. Schließlich überließ er mir das Steuer. Drogheda, eine farblose Stadt aus Stein und Schiefer, glänzte im ständig fallenden Regen eines Tages, den man in Irland als »mild« zu bezeichnen pflegt. Ein Soldat mit automatischem Gewehr und ein Polizist in einer Panzerweste hatten sich vor dem Regen in die Eingangshalle der Bank gerettet. Neben ihnen waren mit weißer Farbe die Worte KEINE AUSLIEFERUNG an die Mauer gesprüht. Der Special Branch-Polizeiinspektor hatte auf uns mit jener Höflichkeit und Geduld gewartet, die nur ein Ire angesichts verspäteter Besucher aufbringt. Er war ein großer, dünner Mann mit blondem Haar in schwarzer, unauffälliger Kleidung von der Art, die Polizisten tragen, wenn sie wollen, daß man sie ganz bestimmt erkennt. Er stieg in unseren Wagen, saß für ein paar Augenblicke lang nur schweigend da und wischte sich mit dem Taschentuch den Regen aus dem Gesicht. Dann nahm er seinen Hut ab, damit das Wasser nicht in die Dokumententasche tröpfelte, die er inzwischen auf seine Knie gelegt und geöffnet hatte. Ein Donnerschlag hallte draußen wie ein Kanonenschuß durch die Straßen des Städtchens. »Mr. und Mrs. Reid-Kennedy sind vor vier Tagen im Gresham Hotel in Dublin abgestiegen. Die Frau blieb in der Stadt, um Einkäufe zu machen. Gestern hat sie sich im Hotel abgemeldet. Es ist schwer zu sagen, welche Nächte der Mann auch dort verbracht hat - das Doppelzimmer ist für die ganze Zeit bezahlt worden.« Er sah in seinen Papieren nach. »Mr. Reid-Kennedy hat sich von einer Mietwagenfirma in der O'Connell Street einen kleinen Lieferwagen gemietet. Danach ist er in ein Geschäft für Angelgeräte und Sportartikel gegangen. Der Verkäufer hat bestritten, daß er eine Schrotflinte oder 140
Munition gekauft hätte - aber da kann man nie so ganz sicher sein jedenfalls nicht bei uns in Irland! Er hat sich aber jedenfalls schenkelhohe Wasserstiefel gekauft, wie man sie beim Flußfischen braucht, und eine wasserdichte Jacke.« »Keine Angelrute, Angelschnur, Fliegen?« fragte Mann. »Nein. Nur die Stiefel und die Jacke. Anschließend ist er mit dem Lieferwagen hierher gefahren. Er hat zwar in keinem der Hotels in Drogheda übernachtet, aber zwei Leute haben den gemieteten Lieferwagen hier in der Gegend gesehen. Zum Beispiel hat ihn ein Landarbeiter gestern früh, so gegen sieben Uhr, in Richtung Drogheda zurückfahren sehen. Er wollte nämlich per Anhalter mitgenommen werden, doch der Lieferwagen ist einfach an ihm vorbeigefahren.« »Hat er Reid-Kennedy identifiziert?« »Einwandfrei. Sie müssen wissen, er war schließlich enttäuscht. Denn in diesem Teil der Welt wird man als Anhalter immer mitgenommen, besonders, wenn man's einem schon von weitem ansieht, daß man von hier ist. Außerdem hat es geregnet - ja, er hat ihn ganz einwandfrei wiedererkannt.« »Und der andere?« » ... ist ein Bäckerjunge. Der hat den leeren Lieferwagen auf einem Feldweg stehen sehen, der zu einem Bauernhof führt - dem O'Connor-Gehöft. Er sei kaum an dem Wagen vorbeigekommen, weil der Weg dort sehr eng ist, hat er ausgesagt.« »Was ist das für ein Bauernhof?« fragte Mann. Ein plötzlicher Blitzstrahl erhellte die ganze Straße - jede Bewegung schien in seinem harten, blauen Licht wie eingefroren. »Es gehört einem deutschen Syndikat«, sagte der Polizeibeamte. »Der Hof, die Rinderzucht und etwa zwei Hektar Land.« Ein erneutes Donnergrollen. Traktoren, streunende Hunde, Schulkinder und uralte, verbeulte Vehikel bevölkerten die Straße nun drängte sich auch noch eine katholische Prozession dazwischen. Und alle ließen den Regen so gelassen über sich ergehen, als bemerkten sie ihn gar nicht. Der Polizist steckte seine Aufzeichnungen weg und schloß den Aktenkoffer. »Das einzige, was mir bei dem Fall Gedanken macht, ist sein Benzinverbrauch. Die Mietwagenfirma sagt, Reid-Kennedy habe so viel Benzin verfahren, wie man bis rauf nach Dundalk oder sogar bis über die Grenze brauchen würde.« Mann knurrte vor sich hin und betrachtete einen Jungen, der, mit der Schulter an eine Ziegelmauer gelehnt, auf seinem Fahrrad saß 141
und die Pedale mit den großen Zehen um sich selbst wirbeln ließ. »Wo liegt dieser Hof?« fragte er dann. »Ich finde, wir sollten ihn uns mal näher ansehen.« Der Polizeiinspektor sah prüfend hinaus in den Regen. »Also, so einfach mit Gewalt und auf der Stelle geht das nicht bei uns. Da muß ich erst in Dublin anfragen, wenn Sie eine Haussuchung machen wollen.« »Kommt nicht in Frage!« sagte Mann. »Diese Leute, hinter denen wir her sind, würden glatt jedem tausend Dollar zahlen, der ihnen das mit dem Anruf nach Dublin hinterbringt.« »Wirklich, ich bin überrascht, daß Sie mir wenigstens trauen«, sagte der Polizist pikiert. »Wie denn? Da irren Sie sich sowieso«, sagte der Major. »Also, bringen wir die Sache hinter uns! Behaupten Sie doch einfach, wir wären auf der Suche nach obszönen Filmen oder kämen zur Kontrolle der Maul- und Klauenseuche - sagen Sie von mir aus, was Sie wollen.« Kondenswasser beschlug die Scheiben, und der Inspektor machte sich mit seinem Taschentuch daran, sie trocken zu wischen. »Nur immer geradeaus, die Straße lang«, sagte er schließlich. Ich ließ den Wagen an, und nach ein paar Versuchen startete er endlich. »Und jetzt biegen Sie links in die nächste Seitenstraße ab«, wies mich der Inspektor an. Wir verließen die Hauptstraße und fuhren von da ab ständig bergauf - durch stille Dörfer und einsame Landstriche. Die nassen Bergkuppen glitzerten, vom Regen zerzaust, im Licht des Nachmittags. Die Ruinen eines aufgegebenen Klosters im düster-zerklüfteten Talgrund waren dagegen fast nicht mehr zu erkennen. »Was wissen Sie noch über diese Farm?« fragte Mann den Iren. »Also, ich persönlich halte die Leute, die den Hof bewirtschaften, ganz und gar nicht für die Typen, nach denen Sie fahnden. Dieses deutsche Syndikat aus Frankfurt hat vor ungefähr zwei Jahren den O'Connor-Besitz erworben. Erst hieß es, ein Gestüt sollte aufgebaut werden - später wollten sie eine Zucht anlegen, um den Bedarf an Hummern in Paris zu decken. Doch aus allem wurde nichts. Jetzt wohnen da drei Deutsche, Gerding heißen sie, glaub' ich - Mann, Frau und erwachsener Sohn. Sie kriegen regelmäßig Besuch — alles Leute von dem Konsortium ... gut angezogen ... nicht nur Deutsche, auch Amerikaner, Schweden und einmal ein Holländer - sogar ein Argentinier soll mal dagewesen sein - hat jedenfalls der Taxifahrer gesagt.« 142
Mann stieß einen Schnaufer aus. »Klingt, als hätten wir das Nest gefunden«, sagte er. »Im übrigen gibt es meilenweit keine Nachbarn«, fuhr der Inspektor fort. »Und die Gerdings - Protestanten übrigens - leben sehr zurückgezogen. Die Nachbarn sagen, daß sie hart arbeiten. Ins Dorf kommen sie nur, wenn sie Brot und Milch brauchen oder tanken müssen. Einmal in der Woche fahren sie nach Drogheda, um dort die übrigen Lebensmittel einzukaufen.« Er klopfte mir auf die Schulter: »Den Wagen lassen wir lieber hier am Gatter stehen — wir würden doch bloß im Schlamm steckenbleiben, wenn wir bei diesem Wetter weiter hochfahren. Sie haben hoffentlich Regenzeug dabei.« Das Bauernhaus stand auf der Kuppe eines Hügels und bildete mit den Nebengebäuden, die an einem flachen Hang nach Osten zu lagen, ein Viereck. Der Feldweg, der für ein Auto tatsächlich unbefahrbar war, verlief entlang des Hügelkamms. Es war ein ganz herrlicher Blick von hier oben - jedenfalls für jemanden, dem es nichts ausmacht, durch fast undurchlässige Regenvorhänge zu spähen. Trotz des heulenden Windes hatten uns die Hunde gehört. Ihr Gebell ging in wildes Heulen über, als Mann sich an dem verrosteten Riegel abzumühen begann. »Nun, das ist aber nicht gerade das, was einem die Lufthansa verspricht«, meinte er und zerrte an dem Riegel, bis eine scharfe Kante ihm ein Stück Haut vom Daumen riß. Er fluchte. Auch der Hofplatz ließ die Gepflegtheit vermissen, die man von einer in Frankfurt eingetragenen Firma erwarten durfte. Das unebene Kopfsteinpflaster war übersät mit verschüttetem Futter und schimmelndem Heu. Wasserpfützen sammelten sich um die verstopften Abflüsse. Die Tür des Bauernhauses war abgeschlossen. »Die Vögel sind ausgeflogen«, meinte der Polizeiinspektor, aber er knöpfte sich gleichzeitig den Mantel auf und lockerte sein Jackett wie man das so tut, wenn man sicher sein will, daß man an seine Waffe jederzeit herankommt. Ich probierte das nächstbeste Fenster, und es ließ sich auch ohne Schwierigkeiten hochschieben. »Hallo? Ist da wer?« rief der Inspektor in das Haus, und der Wind blies ihm die Tüllgardine ins Gesicht. Es kam keine Antwort, nur die Hunde begannen wieder zu bellen. Ich zog den Regenmantel hoch, um ein Bein über das Fenstersims zu schwingen. Der Inspektor schob mich jedoch behutsam beiseite. »Das ist meine Sache«, sagte er. »Ich bin's eher gewöhnt, was da jetzt vielleicht passiert.« Und er lächelte. 143
Wahrscheinlich hatten wir wohl alle drei so etwas vorher schon mal gemacht. Ich deckte den Polizisten, während Mann uns draußen absicherte. Wir gingen die Zimmer einzeln durch. Unversehens stellte sich bei mir das Gefühl der eigenen Lächerlichkeit ein, das man bekommt, wenn man heimlich unter fremder Leute Betten schaut. »Keine Menschenseele«, meinte der Inspektor unzufrieden, öffnete den letzten Schrank und pochte gegen die hölzerne Innenwand, um festzustellen, ob dahinter vielleicht ein Hohlraum war. Ich ging zum Fenster, machte es auf und rief nach dem Major, um ihm mitzuteilen, daß niemand im Hause war. Mann hatte in der Zwischenzeit die Nebengebäude durchsucht. Auch er hatte nichts gefunden. Der Regen ließ nach, und von dem Fenster im ersten Stock konnte ich kilometerweit über die flache Landschaft von Keils blicken - bis hin zu den Seen von Meath, denen die sterbende Sonne einen zartrosa Schimmer verliehen hatte. Auch die Hunde sah ich wieder. Sie waren pitschnaß, in einem jämmerlichen Zustand und hockten auf dem Misthaufen hinter den Ställen. »Kommen Sie doch mal runter und schauen Sie sich das hier an!« rief der Inspektor unten. Ich ging hinab und fand auch Major Mann vor. Die beiden untersuchten die Asche, die den Kamin fast vollständig ausfüllte. Sie hatten bereits ein paar Stücke hartes Plastik entdeckt, ungefähr postkartengroß. Ein Dutzend oder mehr waren zu einem Klumpen zusammengebacken. Dadurch waren sie vor den Flammen bewahrt worden. Mann fischte einen kleinen, weißen Klotz aus der Asche. »Was ist das?« »Das ist ein Feueranzünder - eine Masse aus paraffiniertem Wachs«, erklärte uns der Inspektor. »Man benutzt das heutzutage bei uns im Haushalt zum Feuermachen. Es bringt im Nu Kohlen oder Torf zum Brennen, Papier oder Kleinholz sind nicht mehr nötig.« »So, so«, sagte Mann und roch an dem Klötzchen. »Was für ein Glück, daß sich dieser kleine Schatz hier doch nicht entzündet hat wir hätten sonst nämlich überhaupt nichts mehr vorgefunden.« »Gut und schön - aber jetzt sagen Sie mir doch mal, für was diese Plastikplättchen gut sind«, frage der Inspektor. »Das sind Mikroplanfilme, in der Fachsprache gewöhnlich >Microfiches< genannt - die nächsten Verwandten der Mikrofilme. Die sind auf Spulen und ganz wundervoll dafür geeignet, einen dicken Wälzer wie Krieg und Frieden in der Bibliothek in einem durchzuackern. Doch wenn man Material karteimäßig erfassen will, sind diese Platten besser.« Er brach eine von ihnen von dem zusammengebackenen Klumpen ab und hielt sie gegen das Licht, damit der Inspektor die 144
fingernagelgroßen Seiten abphotographierter Daten sehen konnte. »Ich möchte ein paar davon mitnehmen«, sagte Mann, »- nur als Muster, O.K.?« »Meinetwegen - solange Sie mir genug von dem Zeug für unser Labor übriglassen, damit unsere Leute feststellen können, um was es sich da eigentlich handelt.« »Das ist alles Geheimmaterial aus amerikanischen Regierungsquellen«, sagte Major Mann. »Und - wieso hier bei uns?« fragte der Inspektor schlicht. »Paßkontrollen sind bei Ihnen nur eine Formalität - die Irische Republik ist praktisch jedem zugänglich. Seitdem die Russen hier eine Botschaft haben, wimmelt es geradezu von Agenten. Und als Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat Irland kaum noch Einreisebeschränkungen für Europäer - für Einreisende aus England gibt es ja sowieso keine Kontrollen mehr. Na, mein Junge noch eine Frage?« »Nein, ich nehme an, Sie haben völlig recht«, erwiderte der Inspektor. »Allerdings«, sagte Mann und steckte ein paar von den Microfiches in seine Brieftasche. »Was haben denn die Hunde nur?« wandte sich der Inspektor an mich. »Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Hofhunde, die sich vor Fremden verkriechen und im Himbeergestrüpp hinter der Scheune ihre Seele aus dem Leib heulen - die hätte mein Vater längst verkauft.« Ich stand auf, ohne zu antworten, und ging nach vorn in den Flur des Bauernhauses. Dort hob ich den Hörer ab, um zu prüfen, ob das Telephon noch angeschlossen war. Es funktionierte, und ich legte wieder auf. Dann riegelte ich die massive Haustür auf. Sie mußte über hundert Jahre alt sein und war offenbar dafür gebaut, selbst feindlichen Anstürmen standzuhalten. Ich trat auf die Stufen vor dem Eingang und blickte hinaus auf die Felder. Erst vor kurzem waren sie mit Kuhmist gedüngt worden, und jetzt stelzten ein paar Krähen auf ihnen herum und pickten sich ihre Nahrung heraus. Es waren kräftige, große Tiere, fast so groß wie Geier, mit einem bläulichen Schimmer auf ihrem pechschwarzen Gefieder. Doch noch viel mehr Vögel kreisten über ihnen in der Luft - sicher Hunderte, und alles Stare. Sie kurvten über den Feldern hin und her und stürzten hin und wieder jählings herab - ein riesiger Wirbel von Vögeln, der den sich rötlich färbenden Himmel verdunkelte. Kreischend und schreiend durch 145
schnitten sie mit scharfkantigen Schwingen die Luft, die von ihrem lauten Schwirren erfüllt war. »Rufen Sie Ihre Leute an«, sagte ich endlich zu dem Inspektor. »Lassen Sie auch einen Polizeiarzt kommen und etwas zum Graben. Ich glaube, Sie werden hier drei Leichen finden, nämlich die Leute, die Gerding heißen ... und zwar dort eingescharrt, wo die Hunde jaulen.« Der Inspektor nickte langsam. »Also darum heulen sie da draußen im Regen! Ich hätte es mir eigentlich denken können - schließlich stamme ich ja vom Lande. Tut mir leid.« »Macht nichts«, erwiderte ich. »Ich hab' zwar nie auf dem Land gelebt, aber dafür kenne ich die Sorte Halunken um so besser, mit denen wir es hier zu tun haben.« »Meinen Sie diesen ... diesen Reid-Kennedy?« frage der Inspektor. »Ein Lieferwagen, um die Microfiche-Maschine wegzubringen ... die hohen Gummistiefel und die wasserdichte Jacke, um keine Blutspritzer abzukriegen. Und den Kanister mit den acht Litern extra Benzin, um alle belastenden Papiere zu verbrennen und was weiß ich sonst noch.« »Aber warum hat er das Telephon nicht außer Betrieb gesetzt?« »Weil es sich hier nicht um einen Stümper handelt«, sagte ich. »Er wollte vermeiden, daß der Störungsdienst mitten in seinen faulen Zauber hineinplatzt.« Der irische Polizeiinspektor sagte: »Dann muß er ein Ausländer sein, wahrscheinlich ein Amerikaner. Denn unsere Leute wissen es besser - die wissen, daß sie von übereifrigen Mechanikern vom Störungsdienst auch nicht das Geringste zu befürchten haben.« Mann sah ihn kurz an, denn er war sich nicht im klaren, wie die Bemerkung gemeint war. Deshalb knurrte er schließlich nur leise vor sich hin und wandte sich wieder seinen Microfiches zu. Fast ebenso plötzlich, wie sie in die Luft gestiegen waren, schössen die Stare jetzt davon, ließen sich irgendwo nieder und waren still. Man hörte nur noch das Jaulen der Hunde.
146
KAPITEL 13
Von oben aus gesehen gleicht Miami einem wirren Durcheinander von bunten Spielzeugschachteln, die zufällig an einer tropischen Küste angespült worden sind. Aber das azurblaue Meer unter dem wolkenlosen Himmel war jedenfalls verlockend. Was man auch immer für Witze über die reichen Leute aus Florida hört, die den Winter im Süden auf den Bahamas verbringen - wenn man direkt aus einem irischen Januar in Miami ankommt, gibt man gerne zu, daß Orangen auch ihr Gutes haben. Das Zentrum von Miami ist wahrscheinlich die übliche Mischung aus Büroklötzen, Einkaufszentren, Rathaus und Kriegerdenkmal vielleicht, wenn man Glück hat und es zwischen den turmhohen Hotelanlagen überhaupt finden kann. Aber die Reid-Kennedys wohnten sowieso nicht in der Stadtmitte, und sie wohnten auch nicht in einer der turmhohen Hotelanlagen. Sie erfreuten sich vielmehr eines direkt am Meer gelegenen Grundstücks von etwa zwei Hektar und eines prächtigen Hauses im spanischen Stil, das mit acht Schlafzimmern und einer entsprechenden Anzahl spanischer Dienstboten aufwarten konnte, um den ganzen Prunk zu erhalten - wobei man den herrlichen Garten mit seinen tropischen Blumen und den Bootssteg für die fünfzehn Meter lange Jacht natürlich noch dazurechnen muß. Und wenn sich die Herrschaften nach angemessener Unterhaltung sehnten, dann brauchten sie nur ihren lichtblauen Rolls Royce mit dem dazu passend uniformierten Chauffeur kommen und sich in den Jachtclub fahren zu lassen, der kaum einhundertfünfzig Meter weiter an der Küste lag. Mr. Reid-Kennedy war zwar noch auf einer Geschäftsreise in Europa, doch Major Mann hatte sich in den Kopf gesetzt, in seinem Haus ein wenig Unruhe und Verwirrung zu stiften. »Wenn Sie ein Freund von Henry-Hope sind, heißen wir Sie natürlich herzlich willkommen«, begrüßte uns seine Mutter. Es hörte sich sonderbar an, daß eine Mutter ihren Sohn mit dem vollen Namen nannte - Henry-Hope. Falls er einmal für immer zurückkehrte, würde er wohl bald überall Henry-Hope Reid-Kennedy heißen - ein triftiger Grund, in Paris zu bleiben. Von irgendwoher erklang dezente Musik, und die Dame des Hauses griff hinter sich nach einem flauschigen rosa Hündchen, worauf die Musik noch leiser wurde. Wahrscheinlich war das Hündchen ein 147
Produkt der Reid-Kennedy Radio Company. Die Frau lächelte uns an. Sie war Mitte vierzig, doch eine Menge teurer Gesichtscremes, Gesichtswasser, Massagen und Dampfbäder hatten dafür gesorgt, daß sie wie neununddreißig aussah - beinahe. Wo manchen Menschen nämlich das herannahende Alter eine gewisse Sanftheit der Gesichtszüge verleiht, lag ihre Haut straff an; dafür hatte sie allerdings zu beiden Seiten ihres Nasenbeins und unter dem Kinn weiße Linien. Trotzdem - ein Irrtum war ausgeschlossen - sie mußte früher eine große Schönheit gewesen sein. Und ihr selbstbewußtes Auftreten bewies, daß sie sich noch immer für schön hielt. Sie streichelte den Kopf eines weißen Pudels, der ihr im Schoß lag. »Ja, wenn Sie Freunde von Henry-Hope sind, freuen wir uns natürlich sehr, Sie bei uns zu begrüßen.« Sie hatte das so gesagt, daß eines völlig klar war: Sie würde uns sofort hochkant rausschmeißen lassen, falls es sich herausstellen sollte, daß wir in Wirklichkeit keine Freunde ihres Sohnes waren. Sie lächelte von neuem, während sie eingehend die dicken Wollanzüge musterte, die der Major und ich ursprünglich für ein Weihnachten in Virginia ausgewählt hatten. Und ihr Lächeln vertiefte sich noch mehr, als sie den formlosen Tweedhut erblickte, den Mann sich auf dem Flugplatz von Dublin gekauft hatte. Sie selbst trug einen blaßblauen, seidenen Hauspyjama mit einem nach außen gekehrten Dior-Etikett, damit kein Zweifel darüber aufkam, woher er stammte. Das Pudelhalsband kam übrigens von Gucci. »Sie sind ... waren ... Major der amerikanischen Armee?« Sie nahm einen zierlichen Schluck von dem hellroten Getränk in dem neben ihr stehenden Cocktailglas. »Fernmeldecorps, gnädige Frau.« »Oh, Fernmeldecorps«, nickte sie, als erkläre das alles. Nun war das spanische Dienstmädchen endlich zu der Erkenntnis gelangt, daß wir weder um Geld betteln noch für einen Buchklub werben wollten. Sie verließ leise das Zimmer. »Obwohl wir Ihren Sohn in der Tat kennengelernt und auch mit ihm gesprochen haben, würden wir doch ein falsches Bild geben, wenn ich nicht hinzufügte, daß wir eigentlich deswegen hergekommen sind, um Erkundigungen über Ihren Gatten einzuziehen«, sagte Mann in der geschnörkelten Manier, die er für taktische Zwecke parat hatte. Dabei hielt er seinen Hut wie hilfesuchend mit beiden Händen fest und drehte ihn wie ein Lenkrad. »Über meinen - Mann?« Ihre Stimme, die sonst wohl kaum jemals 148
ein Zeichen der Bewegung verriet, hatte einen fast erschreckten Unterton. Sie griff nach einem rosa Schal und warf ihn sich um die Schultern _ ich hatte das Gefühl, daß wir so etwas wie einen Temperatursturz bei ihr verursacht hatten. »Ich meine Dr. Henry Dean«, sagte Mann. »Ach so, meinen Exgatten«, sagte Mrs. Reid-Kennedy. Sie begann, ihren Pudel mit fahrigen Bewegungen heftig zu streicheln, was im Gegensatz zu ihrer nun wieder völlig ausgewogenen Stimme und dem entspannten Lächeln stand, mit dem sie uns erneut beglückte. »Legen Sie doch Ihren Hut ab und nehmen Sie Platz.« Sie hatte zwar einen reizenden Dixieland-Akzent, wie ich ihn aus Vom Winde verweht her kannte, doch ihre tiefe Stimme erinnerte eher an Clark Gable als an Vivien Leigh. Mann sah ihr einen Augenblick fest in die Augen und sagte dann: »Eben, es geht nur um Ihren Exgatten, diesen Dr. Henry Dean. Oder hatten Sie an Mr. Reid-Kennedy gedacht?« Er setzte sich nicht hin, und er ließ auch seinen Hut nicht los. »Ist er in irgendwelchen Schwierigkeiten?« fragte sie. »So ist es«, sagte Mann. »Das tut mir aber leid!« hauchte sie. Zwar runzelte sie kurz die Stirn, dachte jedoch offensichtlich nicht daran, etwa in Tränen auszubrechen. Mann fuhr fort: »Man hat bei ihm eine Menge Geld gefunden. Bis jetzt konnte er darüber keine Rechenschaft ablegen.« Mann zuckte die Achseln. »Das muß natürlich nicht unbedingt etwas besagen andererseits könnte es ihm doch Unannehmlichkeiten bereiten.« »Und Sie sind... ?« »...vom International Revenue Service — der staatlichen Finanzverwaltung. Ich dachte, ich hätte Ihnen das schon gesagt.« »Nein«, sagte sie. Sie wußte nicht recht, sollte sie jetzt entspannt oder besorgt aussehen. »Und was machen Sie?« »Treiben Sie Scherz mit mir?« fragte Mann mit einem Lächeln. »Sie wissen doch, was der IRS tut, gnädige Frau. Wir sind die Robin Hoods von heute: Wir nehmen es von den Reichen und geben es den Armen.« »Ich meine - Sie persönlich«, sagte sie. Sie griff nach einer Büchse, auf deren Deckel ein Farbphoto mit Kätzchen abgebildet war. Der Aufschrift nach waren es handgemachte Schokolade-WeinbrandKirschen. Sie biß in eine der Kirschen, um das Innere zu inspizieren. Dann las sie nochmals den Markennamen. Ohne, daß sie aufsah, wie149
derholte sie nochmal ihre Frage: »Ich meine - was machen Sie persönlich?« »Nun, auf diese Frage hin muß ich den fünften Zusatz der amerikanischen Verfassung für mich in Anspruch nehmen, gnädige Frau - es gibt mir das Recht, die Aussage zu verweigern, falls ich mich damit selbst belasten müßte.« Er warf ihr einen lauernden Blick zu, doch sie verriet mit keiner Miene, ob sie ihn verstanden hatte oder nicht. »Bei einer Untersuchung wie dieser...«, der Major hielt inne, in der Hoffnung, daß sie endlich aufschauen und ihn ansehen würde. Doch sie tat ihm den Gefallen nicht. Er ließ sich auch nicht beirren und fuhr fort: »...brauchen wir eine Menge reine Routinesachen für die Akten. Normalerweise müßten wir vermutlich unsere Recherchen auch auf die geschäftliche Tätigkeit der Leute ausdehnen, die mit Dr. Dean irgendwie in Verbindung stehen. Aber mir persönlich macht es nicht das geringste Vergnügen, mich in anderer Leute Privatsachen einzumischen, Mrs. Reid-Kennedy.« Sie musterte ihn kühl und wartete, daß er weitersprach. Doch er blieb stumm. Sie wandte sich dem riesigen Panoramafenster in spanischem Stil zu und blickte hinaus zu den Palmen, die gezackte Schatten auf das blaue Wasser der Bucht warfen. Dann konzentrierte sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Verzehr einer schokoladenüberzogenen Kirsche, und wartete ... und wartete weiter. »Was macht Ihr Gatte eigentlich geschäftlich?« frage Mann plötzlich. »Elektronik«, erwiderte sie. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß sie jetzt am liebsten zum Telephon gegangen wäre, um ihren Anwalt anzurufen und keinen Ton mehr von sich zu geben, bis er eingetroffen war - doch falls ihr das durch den Kopf gegangen war, mußte sie ihre Meinung wieder geändert haben. »Hat er immer mit Elektronik zu tun gehabt?« fragte Mann. »Woher weiß ich überhaupt, ob Sie dienstlich hier sind?« fragte sie zurück. Er gab keine Antwort. Endlich gab sie nach. »Er hat das Geschäft von seinem Vater geerbt - Reid-Kennedy-Radio-Components AG ... Douglas hat sehr früh die Möglichkeiten erkannt, die in der Elektronik liegen. Die Fabrik in Chicago stellt zwar noch immer Taschenrechner und Rechenmaschinen her, aber das Hauptgewicht hat sich inzwischen auf hochqualifizierte, elektronische Einzelteile verlagert.« Sie ließ den Hund los und nippte an ihrem Drink. »Für diese erschöpfende Auskunft kann ich Ihnen gar nicht genug 150
danken, Mrs. Reid-Kennedy«, erwiderte Mann galant. »Ich darf wohl davon ausgehen, daß weder Sie noch Ihr Gatte mit diesem Menschen _ diesem Henry Dean - geschäftlich oder privat in Kontakt stehen.« Der Ausdruck »Mensch« war die rechte Medizin. Sie wurde sichtlich liebenswürdiger. »In keiner Weise, Major«, sagte sie und klapperte ausdrucksvoll mit ihren getuschten Wimpern. Dann deutete sie mit einem Stirnrunzeln an, daß sie unseretwegen die tiefsten Tiefen ihres Gedächtnisses durchforschte. »Ich glaube allerdings, daß mein Sohn Henry-Hope noch mit Mr. Dean gelegentlich Umgang pflegt. Doch weder ich selbst noch mein Mann haben ihn seit unserer Scheidung wiedergesehen.« »Seit 1955 also?« »Ja, seit 1955«, sagte sie und legte wieder die Stirn in Falten. »Übrigens - haben Sie vielleicht ein Photo von Mr. Reid-Kennedy?« Er nahm ein kleines Bild in einem Lederrahmen von seinem Platz und schaute es sich interessiert an. Es war eine alte, vergilbte Photographie eines Mannes, der noch den steifen Eckenkragen trug, und eines Jungen in Lederhosen und Trachtenhut. »Wo haben Sie das Bild her?« fragte sie scharf. »Von dem Tischchen da«, sagte Major Mann. »Es ist ein Bild meines Gatten und seines Vaters. Es ist lange vor dem Krieg gemacht worden. Douglas nimmt es sonst eigentlich immer mit auf Reisen. Es bringe ihm Glück, behauptet er.« »Ja, und es sieht aus, als ob er diesmal Pech gehabt hätte«, bemerkte der Major. »Wie dem auch sei - ich brauche ein Bild Ihres Gatten aus jüngerer Zeit. Ein Paßfoto würde genügen.« »Wissen Sie - Douglas hat eine schreckliche Aversion gegen das Photographiertwerden!« »Ach ja?« sagte Mann erstaunt. »Vielleicht ist er dabei einmal von dem Vögelchen gepiekt worden, das immer vorne aus dem Apparat kommt.« Sie nahm dem Major das Bild aus der Hand, stellte es auf das Tischchen zurück. »Wahrscheinlich.« Mann lächelte. »Seien Sie ganz beruhigt - wir kommen wahrscheinlich auch wieder.« »Tatsächlich?« »Nur um rein routinemäßig noch ein paar Fragen zu klären«, sagte der Major. Sie lächelte unbestimmt und erhob sich, um uns hinauszubegleiten. 151
»Nochmals herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft«, sagte Mann und deutete mit dem Arm in Richtung auf den Kaffee tisch, der seit unserer Ankunft leer geblieben war - ebenso wie auch der Inhalt des Getränkekabinetts und des Zigarettenkästchens keinerlei Einbuße erlitten hatte. »Zu schade, daß wir das Dinner im Weißen Haus unmöglich absagen können«, sagte Mann und schritt zur Tür. Mrs. Reid-Kennedy schaute ihn böse an. Der Major blieb stehen und zerrte und drehte so lange an seinem Tweedhut herum, bis auch sie endlich auf ihn herunterblickte. Mann kehrte das Innere nach außen, um ihr zu zeigen, wie unordentlich das Futter angenäht war. An einer Stelle war die Naht bereits aufgegangen. »Ein faules Leben führen die da drüben«, sagte er zu ihr. »Ich hab' ihn erst gestern in Dublin gekauft - aber was haben Sie denn, Mrs. Reid-Kennedy?« Er setzte den Hut auf und lächelte. Sie hatte nervös die Lippen angefeuchtet und sagte jetzt zögernd: »Ist das nicht ein irischer Fischerhut?« Manns Lächeln breitete sich strahlend über sein ganzes Gesicht aus - so ähnlich wie die Sonne, wenn sie über der Wüste aufgeht. »Tja, das Dumme dabei war nur - ich war hingefahren, um ein bißchen zu angeln - und da war doch dieser Kerl, mit dem ich mich dort treffen wollte, tatsächlich zum Schießen gegangen!« Bevor sie noch eine Möglichkeit hatte, zu antworten, zog er feierlich den Hut, nahm meinen Arm und schritt aus dem Haus. Auf dem Fluplatz hatten wir noch Zeit. Major Mann telephonierte mit Langley und forderte umgehend das BIO-AB von Douglas Reid-Kennedy an, dazu wollte er einen ausführlichen Bericht über die Geschäftspolitik der Reid-Kennedy AG haben, basierend auf den Steuererklärungen dieser Firma in den letzten zwanzig Jahren. Dann konnten wir sogar noch einen freundlichen Roboter mit zwei Dollars füttern, der uns dafür in warmes Cellophanpapier gewickelte kalte Cheeseburgers und heißen, wäßrigen Kaffee in dunkelbraunen Plastiktassen herausgab. Mann stürzte sich über das Sandwich her und erkundigte sich zwischendurch bei mir: »Sie fanden mich wieder einmal gar nicht gut, wie?« »Sie meinen die Art, wie Sie die Reid-Kennedy behandelt haben?« »Sie glauben also, daß sie den Braten gerochen hat«, grinste er und biß in seinen Cheeseburger. »Sie hätten wenigstens noch das Hemd aufknöpfen und der Frau Ihr T-Shirt zeigen sollen, auf dem groß >CIA< steht.« 152
»Ein brutaler Yankee-Ringkampf, wie? Nicht die Art Cricket, wie man sie bei Lord's spielt, eh?« »Es könnte zur Folge haben, daß die beiden verschwinden - oder daß sie das ganze Beweismaterial vernichten, ihren Anwalt rufen und sich in Schweigen hüllen.« »Es kann aber auch sein, daß sie ihrem Mann unsern Besuch einfach verschweigt«, meinte der Major. »Haben Sie diese Möglichkeit schon mal in Betracht gezogen? Pfui Teufel - ist das ein saumäßiger Kaffee!« Er knüllte die Plastiktasse mit dem restlichen Kaffee zusammen und warf sie gezielt in Richtung auf den Abfalleimer, wo sie mitten auf dem schwenkbaren Deckel aufknallte und in mehrere Stücke zerbrach. Aus den Trümmern stieg Dampf auf. »Doch, daran habe ich natürlich auch gedacht«, sagte ich. Auf der Anzeigetafel leuchtete unsere Flugnummer auf. Mann ließ den Rest seines Cheeseburgers in den Abfalleimer fallen, wischte sich die Hände mit einem Papiertaschentuch ab und warf es hinterher. »Ein Minzbonbon gefällig?« fragte er und griff in der Westentasche nach seinen Verdauungstabletten. »Ich werde allmählich zu alt für diese üppigen Festmahlzeiten«, sagte ich. »Warum wollen Sie dann überhaupt noch zurück in den Norden? Bleiben Sie doch lieber gleich hier - Florida ist für seine Altersheime berühmt.« Im Flugzeug hatten wir die erste Klasse mit ihren Vorzügen ganz für uns allein, und ich beschäftigte mich mit den Unterlagen, die wir über die Reid-Kennedy AG besaßen. Sie lasen sich wie ein typisch amerikanisches Erfolgsmärchen: Ein Junge aus der Provinz »schafft es«, indem er die kleine ererbte Fabrik innerhalb kurzer Zeit zu einem gewaltigen Konzern ausbaut. Die von den werkseigenen Laboratorien entwickelten elektronischen Geräte fielen wirklich in keiner Weise unter die Geheimhaltung - sie waren für jeden käuflich, der sie haben wollte. Den Akten lagen noch ein paar hübsche, bunte Werbeprospekte bei, die an Kunden im In- und Ausland verschickt wurden. Ich las sie besonders sorgfältig durch. Telephongespräche - und auch alle möglichen anderen übertragbaren Informationsformen - lassen sich gewissermaßen wahllos zusammenpressen. Eine einzige Leitung kann zur gleichen Zeit mehr als hundert Gespräche übertragen - vorausgesetzt, man besitzt den von Reid-Kennedy entwickelten »Zeitzerleger-Multiplex-Schalter« 153
(oder einen anderen von irgendeiner Konkurrenzfirma - aber das stand natürlich nicht im Prospekt). Dieses Gerät verkürzt und zerstückelt nämlich die simultan geführten Gespräche in Teile von zehntausendstel Sekunden Dauer und verbindet die zusammengehörenden Stücke am anderen Ende wieder zu einem Ganzen, so daß das menschliche Ohr gar nicht merkt, daß es eigentlich immer nur in winzige Bruchstücke zerlegte Teile der Stimme am entgegengesetzten Ende zu hören bekommt. Den größten Teil ihres Profits erzielten die Reid-Kennedy-Werke also auf dem Umweg über die Fernsprechteilnehmer, und in neuester Zeit auch über die Funksatelliten, die während der vierundzwanzigstündigen Erdumdrehung bei 22 300 Meilen Erdentfernung wie stationär im All hängen. Solch ein Satellit verbindet zum Beispiel London mit Los Angeles. Aber der wirkliche Durchbruch war erst noch zu erwarten - wenn man nämlich diesen Multiplex-Schalter auch in der Fernsehtechnik würde einsetzen können, wenn er es schaffen würde, die viel breiteren Frequenzbänder, die man für die Übertragung eines Fernsehbildes benötigte, ebenfalls zu komprimieren. Ein Telephonbenutzer gibt sich im Notfall auch mit einer Stimme am anderen Ende der Leitung zufrieden, die mehr oder weniger wie Donald Duck aus der Gießkanne klingt. Doch entstellte Fernsehbilder sind auf die Dauer unzumutbar. In den Laboratorien der Reid-Kennedy-Werke arbeite man jedoch an der Lösung dieses Problems, kündigte die Broschüre an. »Also keine militärischen Dinge, die unter die Geheimhaltungsvorschriften fallen«, sagte Mann. »Nichts zu finden«, sagte ich. »Ist es wirklich möglich, daß ein Mann mit Geld wie Heu nebenher noch als Killer arbeitet?« Mann hielt den bunten Prospekt auf Armeslänge vor sich hin, als versuche er, in ihm die Lösung des Rätsels zu finden. »Oder - täuschen wir uns vielleicht?« »Meine Wahrsagekarten habe ich leider gerade in einer anderen Jackentasche vergessen.« »Der Leiter eines Multi-Millionen-Dollar-Werkes nimmt sich also extra ein Wochenende frei, um nach Irland zu fliegen und in Drogheda eine Familie umzubringen?« »Sie schwärmen ja geradezu«, sagte ich. »Ein Schwurgericht würde da wesentlich stichhaltigere Beweise verlangen als die Aussage eines Landarbeiters.« »Aber wir sind uns doch immer noch darüber einig, daß es nur 154
Reid-Kennedy gewesen sein kann, der diese Leute in Irland ermordet hat?« »Darauf können Sie ihren fetten Hintern verwetten«, sagte Mann. »Ich bewundere immer wieder Ihre feine Ausdrucksweise, Major!«
155
KAPITEL 14
Der Notwendigkeit, das Ehepaar Bekuv sicher und gleichzeitig von der Umwelt isoliert unterzubringen und außerdem noch Mrs. Bekuv ärztlich zu betreuen, war während unserer Abwesenheit dadurch nachgekommen worden, daß man die beiden im Commodore-Perry-Hospital einquartiert hatte, einer psychiatrischen Klinik der Marine. Dieses Krankenhaus lag etwa eine halbe Stunde Fahrt von Newport News in Virginia entfernt und stammte noch aus einer Zeit, in der das Wort »Psychiatrie« so gut wie unbekannt war. Es bestand aus ziemlich häßlichen, weit auseinandergezogenen Gebäudekomplexen auf einem riesigen, öden Gelände am Wasser. Der nördliche Teil wurde noch immer als Marinelazarett benutzt, aber aus dem in der Mitte liegenden Bau der »geschlossenen Abteilung« hatte man alle psychisch kranken Seeleute verlegt und das Gebäude dem CIA überlassen. Durch strengste Sicherheitsvorkehrungen abgeschirmt, diente es nun dem »Debriefing« eigener und dem Verhör feindlicher Agenten - manchmal auch der Klärung, wer im betreffenden Fall nun eigentlich was war. Eine Limousine der US-Marine, komplett mit uniformiertem Fahrer, erwartete uns am Flugplatz. Auf die Wagentür war mit großen, schablonierten Buchstaben weiß aufgemalt: NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH. Mann kochte vor Wut und weigerte sich zunächst, einzusteigen. »Haben Sie vielleicht noch gleich ein paar Blechtrompeten und Papierhüte für den Faschingsumzug mitgebracht, Sie Seemann?« fragte er bissig. »In unserem Wagenpark gibt es keine anderen Autos, Sir«, entschuldigte sich der Fahrer. Er war nicht mehr jung und hatte immerhin ein paar Orden aus dem Zweiten Weltkrieg auf der Brust. »Also, dann nehmen wir doch lieber ein Taxi«, schnaubte der Major. Mit lobenswerter Selbstbeherrschung unterließ es der Matrose, den Major darauf aufmerksam zu machen, daß es auf jeden Fall viel auffälliger wirken mußte, sich hier mit einem Seemann in Uniform herumzustreiten, als einfach mit dem Dienstwagen wegzufahren. Statt dessen nickte er nur ergeben und sagte: »Ich muß Sie nur darauf hinweisen, Sir, daß man Sie mit einem Taxi ohne den Aufkleber da auf meiner Windschutzscheibe nicht durch das Haupttor läßt. Sie 156
müßten dann durch das ganze Krankenhausgelände zu Fuß gehen schätzungsweise so anderthalb Kilometer.« »Also gut, Sie Schlaumeier«, knurrte Mann. »Aber nur unter der Bedingung, daß Sie jetzt nicht auch noch Blinklicht und Sirene anstellen.« Damit stieg er in den Wagen, der natürlich keinen Polizeiblinker und vermutlich auch keine Sirene hatte. »Sie sind ein saumäßig schlechter Verlierer«, sagte ich leise zu ihm, während ich mich neben ihn setzte. »Sicher«, gab Mann zurück. »Ich habe schließlich auch nicht so viel Übung damit wie Sie.« Eine Weile lang sahen wir schweigend auf die draußen vorüberziehende Landschaft. Mann legte seinen Dokumentenkoffer auf die Knie, als hätte er vor, irgendwelche Akten aufzuarbeiten, doch dann stellte er ihn wieder beiseite. »Warum hab' ich bloß zugelassen, daß man die Bekuvs in dieser Klapsmühle untergebracht hat!« knurrte er. »Nun entspannen Sie sich doch mal!« sagte ich. »Ihre Reaktionen sind wirklich stark übertrieben.« »Woher wollen Sie wissen, daß ich stark übertrieben reagiere - Sie wissen ja gar nicht, auf was ich reagiere.« Ich entschloß mich, ihn in Ruhe zu lassen, bis sich seine Laune gebessert hatte. Aber er wollte sich offensichtlich von der Seele reden, was ihn bedrückte. »Ich habe verdammt das Gefühl, daß wir die Kontrolle über diese Aktion verlieren«, meinte er düster. »Um mal ganz unter uns zu sprechen - ich habe die Kontrolle nie gehabt — das war Ihr Privileg.« »Sie wissen genau, was ich meine«, sagte er. »Diese ewigen Besserwisser in Washington, fallen wie Wanzen über mich her. Kennen Sie das BPD?« »Ich hab von ihm gehört«, erwiderte ich. Das Beratende Psychologische Direktorat war eine gemütliche Vereinigung von stellungslosen Irrenärzten, die im voraus wußten, wie jeder Fehler, den der CIA beging, zu vermeiden gewesen wäre - aber unglücklicherweise rückten sie immer erst hinterher damit heraus. »Rückwärts-Besserwisser mit scharfer Brille« hatte Mann sie einmal genannt, als er einen ihrer kritischen Berichte schlucken mußte. »BPD übernimmt jetzt unsere Mrs. Bekuv. Sie bringen sie auf eine Farm bei St. Petersburg, und Red Bancroft wird sie begleiten.« Er griff in seine Westentasche und schluckte zwei Kopfschmerztabletten — ohne Wasser. »Kopfschmerzen«, murmelte er. Ich wußte schon, daß es sich um die Art von Kopfschmerzen handeln mußte, die man im Verkehr mit Washington bekommt. 157
»Red Bancroft«, sagte ich. Ich blickte ihn an und wartete auf eine Erklärung. »Red Bancroft arbeitet für die Firma - haben Sie das nicht schon erraten« »Nein. Und ich erinnere mich auch nicht daran, daß es mir jemand, inoffiziell vielleicht, zugeflüstert hätte!« »Nun spielen Sie bloß nicht die beleidigte Leberwurst. Sie wissen, daß ich gegen die Vorschrift verstoße - ich hätte Ihnen das gar nicht mitteilen dürfen. Aber ich tue es jetzt, weil wir Freunde sind und ich nicht will, daß Sie durch den Fleischwolf gedreht werden.« »Warum, zum Teufel, hat sie mir das nicht selber erzählt?« »Bessie und ich kennen Red seit langem. Sie hat in ihrem Leben viel Pech gehabt, und das hat sie irgendwie anders gemacht - verstehen Sie, was ich damit sagen will?« »Nein.« Er beugte sich vor und packte meinen Arm. »Lassen Sie sich nicht zu sehr hinreißen. Sie ist ein netter Kerl, und ich wünschte, sie würde irgendwann zur Ruhe kommen - aber nicht mit Ihnen!« »Danke!« »Ich meine es doch nur gut!« sagte er hastig. »Diese Frau hat eiserne Nerven, ist eine unserer besten Agentinnen und steht mit beiden Füßen auf der Erde. Vor zwei Jahren hat sie sich in eine marxistische Gruppe in Montreal einschleusen lassen. Fast wäre sie dabei draufgegangen - anschließend lag sie drei Monate im Krankenhaus. Aber vorher hat sie noch drei zur Strecke gebracht - auch krankenhausreif, und weitere fünf sind ins Kittchen gewandert. Sie ist eine besondere Art von Mädchen, und ich mag sie verdammt gern - aber tun Sie sich selbst einen Gefallen und lassen Sie die Finger von ihr!« »Sie arbeitet also für das BPD und geht mit der Bekuv auf diese Farm?« »So ist es«, sagte Major Mann. Jetzt, wo wir uns dem Haupteingang des Marinehospitals näherten, fuhr der Wagen langsamer. Ein Wachposten kontrollierte unsere Papiere und gab uns mit einem Wink den Weg ins Innere des Geländes frei. Danach kam ein zweiter Posten und überprüfte uns noch einmal. Der Wagen hielt vor dem achtstöckigen Gebäude, das einst dafür gebaut worden war, gemeingefährliche Patienten in Verwahrung zu halten. Verblichene Schilder und die stählernen Fenstergitter in den unteren Stockwerken zeugten noch davon. Drinnen mußte man mit derselben deprimierenden Anstaltsatmosphäre rechnen: Linoleum158
böden, alles ganz sachlich, Türen, die sich automatisch öffnen und dabei ein sanft zischendes Geräusch von sich geben, wie sich verbeugende japanische Diener, viel zu viel Licht und viel zu viele grellrote Feuerlöscher. Auch die Reproduktionen berühmter Meister an den Wänden waren wahrscheinlich danach, die Stimmung noch mehr zu drücken. »Ich steige hier aus«, sagte Mann. »Ich kampiere im Aufenthaltsraum der diensthabenden Ärzte, ganz oben. Sie wohnen im VIPGastflügel.« Ich musterte ihn, ohne meinen Ärger zu verbergen. Wir hatten, weiß Gott, schon schlimme Auseinandersetzungen hinter uns, aber wir waren noch nie so dicht vor einem totalen Krach gewesen. Ich fragte: »Und wo wohnt Miss Bancroft?« »Keine Ahnung«, sagte Major Mann. »Dann rufe ich eben den Wachposten am Eingang an!« »Also gut - sie ist nicht mehr hier. Sie ist heute morgen mit Mrs. Bekuv weggefahren!« Mein Ärger schlug in Wut um. »Das haben Sie doch absichtlich so eingerichtet, damit ich nicht mehr mit ihr sprechen kann!« »Soll ich vielleicht ihr Privatleben in meiner Planung berücksichtigen?« Ich gab keine Antwort. Mann sagte: »Ich komme morgen so gegen neun bei Ihnen vorbei. Vielleicht sind Sie dann zur Vernunft gekommen.« »Ich habe auch so verstanden«, sagte ich erbittert. »Ich verstehe nur zu gut, Major. Das BPD ist Ihnen auf den Fersen. Und Sie sind entschlossen, den Professor so durch die Mühle zu drehen, daß er redet, bevor das BPD etwas aus seiner Frau herausholt. Ja, ich verstehe: Red Bancroft ist vom BPD - und es paßt Ihnen nicht, daß ich mit Ihrer Konkurrenz liiert bin. Sie trauen mir also nicht, Major! Aber Sie kennen ja das Sprichwort: Wer ändern eine Grube gräbt...« »Gute Nacht!« sagte Major Mann. Er stieg aus und schlug die Tür zu. Ich drehte ein Fenster herunter. »Bekomme ich eine Antwort?« »Natürlich. Werden Sie erst mal trocken hinter den Ohren!« Damit knöpfte er seinen Mantel zu und setzte wieder diesen albernen, vorn und hinten nach unten hängenden Tweedhut auf. »Und lassen Sie die Finger von Miss Bancroft — das ist ein Befehl!« Ich blickte ihm nach, wie er wütend in den erleuchteten Eingang stapfte. Die Glastür öffnete sich automatisch vor ihm, und weiter hin159
ten sah ich frischgestrichene Gefängnisgitter und den schwergepanzerten Unterstand des Pförtners. Mir wurde eine verhältnismäßig luxuriöse Wohnung mit vier Zimmern zugewiesen, die einem Marinekapitän gehörte, der für einige Monate zu einem Sonderauftrag an das Oberkommando der Atlantikflotte abberufen worden war. Seine Möbel und seine Bücher waren inzwischen hiergeblieben. Ich machte mir nichts vor - diese Unterkunft war eigentlich Major Mann zugedacht gewesen, der sie aber gegen ein enges, früher den Bereitschaftsärzten zugewiesenes Zimmer eingetauscht hatte, nur um in unmittelbarer Nähe von Bekuv zu sein. Ich war müde - hundemüde. Ich dankte dem Himmel für Amerika, weil in diesem Land wahrscheinlich sogar die Armenhäuser geheizte Badezimmer haben. Ich öffnete meine Reisetasche und warf meine schmutzige Wäsche in den Wäschekorb. Dann zog ich mich aus und ging unter die Dusche. Dort blieb ich erst mal für eine Weile und ließ das heiße Wasser auf meine Muskeln prasseln. Danach dann kalt, bis ich anfing, mit den Zähnen zu klappern. Ich holte mir ein vorgewärmtes Badetuch von dem geheizten Handtuchhalter und wickelte es mir um den Bauch. Mein nächster Gang war in die Küche. Dort stellte ich eine Tasse auf den Tisch, füllte den Elektrokessel und schaltete ihn an. Während ich auf das kochende Wasser wartete, besah ich mir die Bibliothek des Captains. Er besaß eine Menge Sachen über Psychiatrie - Bücher, Zeitschriften und ganze Stapel wissenschaftlicher Abhandlungen. Außerdem standen da noch die gekürzte Fassung des Oxford Dictionary, eine Dickens- und eine Balzac-Ausgabe sowie eine Sammlung alter Bücher über Chemie. Ich ging ins Schlafzimmer - es war geräumig, hatte ein Doppelbett, und eine Wand wurde vollständig von einem Kleiderschrank eingenommen, dessen Türen aus getöntem Glas bestanden. Und vor dem Spiegel stand eine große, schlanke Frau, nackt bis auf ein dreieckiges, rüschenbesetztes Höschen aus schwarzer Seide: Red Bancroft! Sie lächelte mir entgegen und freute sich, daß ihr die Überraschung gelungen war. Und ihr Lächeln begann sich zu verändern, je mehr sie spürte, wie ich ihren Körper betrachtete. Sie war bildschön. Ich machte den Mund auf, um ihr das zu sagen, doch da trat sie auf mich zu, legte einen Finger auf meinen Mund, löste mit der anderen Hand das feuchte Handtuch von meinen Hüften und ließ es zu Boden fallen. Sie zuckte ein wenig zusammen, als wir uns umarmten und sie das kalte Wasser auf meiner Haut spürte. Ich küßte sie, aus meinem nassen 160
Haar fielen große Tropfen auf ihr Gesicht, und als sie ihre Arme um mich schlang und wir uns zu lieben begannen, konnte ich nicht widerstehen: ich warf einen Blick auf unsere Silhouette im Spiegel. Kaum lagen wir beieinander, ertönte plötzlich ein schriller Schrei. Red unter mir, versuchte sich loszumachen, doch ich hielt sie fest. »Das ist nur der Wasserkessel«, sagte ich. »Der müßte sich von alleine ausschalten.« Sie sank erleichtert zurück, und nach einer Weile hörten wir das beruhigende »Plop« des Automatikschalters. Lange brachten wir nichts über die Lippen als unzusammenhängende Laute und Gemurmel. Als sie hinterher aufgestanden war, zog ich mir die Bettdecke bis zu den Schultern hoch und rückte mir das Daunenkissen unter dem Kopf zurecht. Ich war fast eingeschlafen, da stand sie wieder vor mir -völlig angezogen, wie ich erstaunt feststellte. »Was ist denn los?« fragte ich. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und blickte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Ich muß gehen.« »Wohin?« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Wir verlegen Mrs. Bekuv. Ich muß bereit sein.« »Glänzendes Timing!« »Sei nicht verbittert!« »Mußt du wirklich weg?« »Mußt du nicht auch deine Arbeit tun?« gab sie zurück. »Nun, jetzt geht es um meinen Job, und ich bin nun mal so - ich mache meine Arbeit immer gut. Also behandle mich jetzt nicht wie ein Hausmütterchen!« »Und warum erzählst du mir nicht ein bißchen was über deinen Job?« »Hast du mir etwa von deinem erzählt? Nein, hast du nicht getan weil du nämlich ein Geheimagent bist -« »Hör mal, was soll das denn alles?« fragte ich und setzte mich auf. Sie streckte die Hand aus und berührte meine Schulter. »Ich muß dir auf Wiedersehen sagen - darum geht es.« Sie schien zu frösteln. »Doch nur für jetzt - oder?« »Ich meine - auf Wiedersehen und lebe wohl!« »Sag mir - nur interessehalber -, benutze ich die falsche Zahncreme, oder was?« »Liebling, die Sache hat mit dir persönlich nichts zu tun. Für eine Weile hast du mich wirklich beinahe aus den Angeln gehoben. Bessie 161
erkundigte sich schon, wie viele Kinder wir haben wollten. Und ich fing an, mir Kochbücher und Kinderwagen anzusehen.« Ich blickte sie an und versuchte vergeblich zu ergründen, was diese rigorose Sinnesänderung hervorgerufen hatte. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, sagte sie und beugte sich vor, um mir einen schwesterlichen Kuß auf die Stirn zu drücken. »Ich hatte das alles so geplant.« »So was kann nur eine Frau planen - im Bett auf Wiedersehen zu sagen!« »Das glaubst du selbst nicht. Ich bin auch schon auf diese Tour verabschiedet worden - öfter, als mir lieb war.« Sie machte den Kleiderschrank auf, um ihren Wildledermantel herauszuholen. Einen Augenblick glaubte ich, jemand stünde im Schrank - doch es waren nur zwei Marineuniformen in den transparenten Schonbezügen einer Reinigungsanstalt. Red hatte inzwischen den Mantel angezogen und sah prüfend in den Spiegel, während sie ihn zuknöpfte. Ich stieg aus dem Bett und hing mir einen der zahlreichen Morgenröcke des Captains über. Er war mir viel zu kurz, doch das war mir im Moment völlig gleich. Red ging in die Halle, öffnete die Wohnungstür und schob einen Koffer nach draußen. Dann wandte sie sich zu mir um: »Hör zu, Liebling - vergiß, was ich eben gesagt habe. Laß uns nicht auf diese Weise auseinandergehen.« »Warum sagst du mir nicht, was das Ganze bedeuten soll?« »Dazu ist die Zeit zu knapp.« »Dann werde ich dafür sorgen, daß wir Zeit haben.« »Und ich bin im Augenblick viel zu durcheinander. — Warum vertagen wir das nicht alles?« »Liebe - kann man Liebe vertagen?« »Bitte!« Bevor ich antworten konnte, hörten wir Stimmen vor der Tür, und zwei Kerle trampelten herein. Beide sahen ziemlich brutal aus. Sie trugen Jeansjacken, und ihr Haar war ziemlich lang - sah man aber näher hin, bemerkte man, daß es frisch gewaschen und ordentlich gekämmt war, und auch die Jeans waren säuberlich gebügelt. Eigentlich sahen sie wie eine bestimmte Sorte College-Dozenten aus, die »progressiv« ist und Pot raucht. »Raus!« sagte ich. Sie gönnten mir nicht einmal einen Blick. Der eine sagte zu Red Bancroft: »Ist das Ihr ganzes Gepäck?« Sie deutete schweigend auf einen zweiten großen Koffer und wandte sich dann an mich: »Ich muß gehen.« 162
»Was sind das für Typen?« Einer der Männer kehrte sich nach mir um und knurrte: »Setzen Sie sich hin, und halten Sie den Mund, dann kriegen Sie auch keinen Ärger.« »Wenn Sie meinen«, sagte ich so gleichmütig wie möglich und wartete, bis er sich bückte, um Reds Bancrofts Koffer zu nehmen. In dem Moment riß ich ihm mit der einen Hand hinten die Jacke hoch und zog mit der anderen die Pistole aus dem Halfter, das er hinten an seinem Gürtel trug. »So, und nun fangen wir gleich noch mal von vorn an«, sagte ich. Er hatte den Koffer fallen gelassen und sich blitzartig nach mir umgedreht. Ich war aber bereits einen Schritt zurückgetreten, um seinem Gegenangriff auszuweichen. Ehe er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ging ich auf ihn zu und trat ihm seitlich gegen das Knie, und zwar so fest, daß er aufschrie. Ohne mich weiter um ihn zu kümmern - er war damit beschäftigt, sein Bein zu massieren -, richtete ich die »Magnum« auf den anderen. Ich brauchte ihm gar nichts zu sagen, er hatte bereits die Hände gehoben. »Höher!« sagte ich. »Höher mit den Pfoten - noch höher! Und so bleiben Sie gefälligst!« Ich ging um ihn herum und fand auch gleich seine Waffe. »Sie müssen lernen, viel schneller zu reagieren, wenn Sie Ihre Waffen so weit hinten tragen«, sagte ich. »Und jetzt sagen Sie mir, wer Sie sind.« »Das wissen Sie genau«, erwiderte der erste. »Was glauben Sie, was wir sonst auf diesem Sicherheitsgelände verloren hätten?« »Halten Sie die Hände oben, Dicker!« sagte ich. »Oder soll ich rüberkommen und Ihnen eins aufs andere Knie verpassen?« »Wir sind vom CIA«, sagte der zweite. »Wir haben den Auftrag, Mrs. Bekuv fortzubringen.« »Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« fragte ich ironisch. »Dann hätte ich doch sofort gewußt, daß es keine bösen Feinde sind, die mir da zu Leibe rücken wollten.« Er erwiderte nichts. »Zeigen Sie doch mal Ihre Sozialversicherungskarte«, sagte ich. CIA-Leute tragen keine Ausweispapiere bei sich. Als einziges Erkennungszeichen werden ihnen bestimmte Sozialversicherungsnummern zugeteilt, damit sie sich gegenseitig identifizieren können — und auch der Sozialversicherungscomputer Bescheid weiß, falls mal einer mit so einer Nummer als Leiche im Hafen treibend aufgefischt wird. Widerwillig griffen die beiden nach ihren Brieftaschen - erst der 163
eine, dann der andere. Ganz langsam und vorsichtig. Die ganze Zeit hatte Red Bancroft daneben gestanden und das Fiasko mit angesehen, ohne ein Wort zu sagen. Auch ihr Gesichtsausdruck verriet nichts von ihren Gefühlen, bis sie schließlich meinte: »So, Kinder, jetzt habt ihr euch mal tüchtig ausgetobt. Doch nun an die Arbeit!« »O. K.«, sagte ich. Ich warf die »Magnum« ihrem Eigentümer zu, der sie so ungeschickt auffing, daß er sich dabei die Fingerknöchel aufschlug. Ich bemerkte, daß er sein Pistolenhalfter ganz nach vorne zog, ehe er die Waffe einsteckte. »Und jetzt ab mit euch -ich möchte der Dame gute Nacht sagen.« Und sie schoben ab. Sie nahmen ihre Brieftaschen vom Tisch, wo ich sie hingelegt hatte, und gingen zur Tür. Sie machten sie sogar hinter sich zu. Plötzlich hörten wir das Motorengeräusch eines Hubschraubers. Red ging zum Fenster, und ich sah über ihrer Schulter eine Menge Lichter und das unruhige Hin und Her eiliger Menschen. Der Pilot kuppelte ein, die Rotoren begannen sich zu drehen. Red Bancroft sagte: »Morgens vor dem Frühstück hat Mrs. Bekuv hier im großen Hallenbad immer ihre Schwimmrunden gedreht. Diesmal wird sie statt dessen in den Hubschrauber gepackt und noch vor dem zweiten Frühstück unten in St. Petersburg sein.« Sie wandte sich vom Fenster ab, legte einen Arm um meine Hüfte und drückte mich an sich. »Ob du mir vielleicht noch eine zweite Chance geben könntest?« fragte sie leise. Ich küßte sie. Sie nahm ihren Handkoffer und ging zur Tür. Ich hörte die Stimmen der beiden Männer und dann den Motor eines Autos. Kurz darauf begann der Hubschrauber zu dröhnen und hob sich über die Dächer. Und ich hatte Red noch immer keine Antwort gegeben.
164
KAPITEL 15
Major Mann hatte Mrs. Bekuv nicht einmal Zeit gelassen, sich von ihrem Mann zu verabschieden: Das gehörte zu seiner Taktik. Wir saßen in Manns winzigem Büro - ursprünglich war es das Zimmer der diensthabenden Schwester - und hörten Andrej Bekuv den Flur hinuntergehen und nach seiner Frau rufen. Mann saß tief gebeugt über seinem Schreibtisch in einer Ecke des Raums und beobachtete, wie die dunklen Wolkenfronten vom Atlantik aufs Festland zustürmten. Der Regen prasselte gegen die Scheiben, und der Morgen war so trübe, daß Mann die Schreibtischlampe anmachen mußte, um lesen zu können. Er sah zu mir herüber und zwinkerte mir zu, als Bekuv auf dem Flur zurückkam. »Jetzt geht es los!« flüsterte er. Andrej Bekuv hob sich scharf gegen das Licht des Korridors ab - er hatte die Tür geöffnet und blickte uns an. »Wo ist meine Frau, Major Mann? Sie war nicht beim Frühstück, sie ist auch nicht beim Schwimmen. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?« »Wir haben sie nach Baltimore verlegt«, sagte Mann, ohne von seinen Akten aufzusehen, die er geschäftig unter die Schreibtischlampe hielt. »Wann? Wann war das?« fragte Bekuv. Er schien aufgebracht, und sein Gesicht verfinsterte sich. Er sah auf seine Uhr, denn er war ein ausgesprochener Gewohnheitsmensch: Frühstück um sieben, Kaffee um zehn, ein leichtes Mittagessen um eins, Abendessen um neunzehn Uhr dreißig, um die Mahlzeit ohne Hast zu beenden, ehe er sich im Lehnstuhl niederließ und auf das Abendkonzert wartete - die Stereoanlage hatte er vorher schon genau auf den Sender abgestimmt. Auch bestand er darauf, daß der Vorrat an Vitaminpillen in seinem Medizinschränkchen ständig aufgefüllt wurde, ohne daß er extra darum bitten mußte, am Abend wünschte er coffeinfreien Kaffee mit frischer Sahne - doch bitte in einer Mokkatasse -, und vor allem wollte er immer wissen, wo seine Frau steckte. »Wann?« wiederholte er. »Ach, irgendwann heute früh.« Mann stellte die Schreibtischuhr um, damit er sie besser sehen konnte. Sie hatte ein eingebautes Barometer, und Mann klopfte prüfend darauf herum. »Jetzt müßten sie eigentlich schon da sein«, meinte er. »Möchten Sie mit ihr sprechen?« 165
»Natürlich!« sagte Bekuv. Mann nahm den Telephonhörer in die Hand und zog eine regelrechte Pantomime ab, um eine imaginäre Nummer in Baltimore an die Strippe zu bekommen. Schließlich dankte er irgend jemandem und legte auf. »Es scheint, daß wir nach Baltimore nicht durchkommen«, sagte er. »Wieso?« »Danach hab' ich ganz vergessen zu fragen - möchten Sie, daß ich die Telephonistin noch mal anrufe?« Bekuv trat ins Zimmer und setzte sich. »Was für ein Spiel treiben Sie jetzt mit mir, Major Mann?« »Dasselbe könnte ich Sie fragen, Professor!« Aus dem ungeordneten Haufen Papier auf seinem Schreibtisch zog Mann einen großen, braunen Umschlag hervor. Er enthielt einen unförmigen Gegenstand. Mann drückte ihn dem Professor in die Hand. »Sehen Sie sich das da zum Beispiel an.« Bekuv zögerte. »Na los - schauen Sie doch rein!« Bekuv befühlte den Umschlag mit einer Vorsicht, als fürchtete er, der Inhalt würde jeden Augenblick explodieren. Später kam ich zu dem Schluß, daß er vermutlich geahnt hatte, was er jetzt zu sehen bekam und daß er sich deshalb mit dem Öffnen so viel Zeit nahm. Endlich riß er die Kante ein Stück auf und ließ den Gegenstand herausrutschen. Es war eine Plastiktüte, an die ein paar mit der Schreibmaschine geschriebene Zettel angeheftet waren. In der Tüte befand sich ein Schnappmesser. »Die Polizei hat uns das da gestern nachmittag herübergeschickt, Professor Bekuv. Das Messer wurde bei der Untersuchung des Tatorts frühmorgens am ersten Weihnachtstag in der Nähe des Kirchenportals gefunden. Sie erinnern sich doch noch an Weihnachten?« »Dann muß es das Messer sein, mit dem meine Frau beinahe erstochen wurde«, sagte Bekuv tonlos. Er brachte es nicht fertig, die Plastiktüte zu öffnen. Er ließ sie wieder in den Umschlag gleiten, als enthielte sie die Erreger einer schrecklichen Seuche. Dann wollte er den Umschlag Major Mann zurückgeben, doch dieser weigerte sich, ihn anzunehmen. »Sie wissen schon, warum«, sagte er. »Was soll das denn schon wieder bedeuten?« fragte Bekuv. »Was das bedeuten soll?« sagte Mann gedehnt. »Freut mich, daß Sie es so formulieren: Was das bedeuten so//. Denn manchmal liegt ja 166
eine Welt zwischen dem, was die Dinge bedeuten und was sie bedeuten sollen. Zum Beispiel haben wir also hier das Messer, mit dem Ihrer Frau die Wunden beigebracht worden sind. Aber ob sie ursprünglich damit Sie erdolchen wollte oder ob sie sich umgekehrt dagegen wehren wollte, von Ihnen erstochen zu werden, oder ob Sie sich vielleicht beide gegenseitig umbringen wollten oder aber ob einer von Ihnen vorhatte, Selbstmord zu begehen - das ist mir wiederum völlig unklar.« »Ein Mann hat uns angegriffen«, erwiderte Bekuv. »Ja, richtig, das ist ja noch eine weitere Möglichkeit. Habe ich etwa vergessen, sie zu erwähnen? Entschuldigen Sie!« Bekuv sah wieder auf die Uhr. Ob er dabei an seine Frau in Baltimore oder nur an seinen gewohnten Zehn-Uhr-Kaffee dachte oder ob er einfach Aufschub suchte, um seine Gedanken neu zu sammeln, war nicht erkennbar. Mann blätterte in seinen Papieren und las kurz etwas durch. Dann sagte er: »Die Glacehandschuhe, die Ihre Frau anhatte ... ein Geschäft in der Fifth Avenue verkauft sie für achtundzwanzig Dollar das Paar, und in der Werbung steht, daß sie aus echtem Ziegenleder gefertigt sind. Aber in Wirklichkeit werden sie aus Schafsleder gemacht - ist das nicht schrecklich, diese Unredlichkeit? Was sagen Sie dazu, Professor?« Der Professor hatte keine Lust, sich zu äußern: Er knurrte nur irgendwas. Mann fuhr fort: »Also aus Schafsleder. Und um solche Handschuhe herzustellen, entfernt man einfach durch einen bestimmten Gerbungsprozeß die oberste Hautschicht...« Mann begann aus dem Gutachten vorzulesen: »... also, die Epidermis, um die Coxium minor genannte gemaserte Lederschicht darunter freizulegen. An den Eigenschaften dieser Schicht vermag ein Wissenschaftler das Alter, das Geschlecht und die Tiergattung festzustellen.« Professor Bekuv sagte: »Dieses Thema interessiert mich nicht.« »Warten Sie ab, Professor. Ich bin noch nicht fertig. Haben Sie schon gewußt, daß die Maserung dieser Lederschicht bei jedem Tiere genauso individuell verschieden ist wie die Fingerabdrücke bei den Menschen?« »Was soll das Ganze?« »Das werde ich Ihnen jetzt verraten«, antwortete Mann. Er legte das Gutachten zurück auf seinen Schreibtisch, wandte sich Bekuv zu und lächelte. »Das gerichtsmedizinische Labor fand Lederabdrücke 167
von den Handschuhen Ihrer Frau auf dem Schnappmesser. Die Polizei schließt daraus, daß die Waffe von Ihrem holden Weib gehandhabt wurde. Sie teilt uns mit, daß die Glacehandschuhe aus der Fifth Avenue auf dem Messer so eindeutig klare Spuren hinterlassen haben, daß Ihre Frau ebensogut ihre bloßen Hände hätte gebrauchen können.« Der Major griff nach einer weiteren Plastiktüte, in der die Glacehandschuhe waren, und ließ sie dann wieder auf den Tisch fallen. »Die Polizei erklärt, daß sich Ihre Frau die Wunden selber beigebracht hat, Professor Bekuv. Und sie sagt, daß die Beweise dafür ausreichen.« Bekuv schaute weg. »Das wäre also erledigt«, Mann stieß einen Seufzer aus. »Gleichzeitig ergibt es sich, daß unsere Untersuchung, Ihre Person betreffend, auch zu Ende ist. Meine Leute haben kein Interesse mehr an Ihnen - Sie haben den amerikanischen Steuerzahler schon viel zuviel gekostet. Es steht Ihnen frei, sich irgendwo niederzulassen -in gewissen Grenzen natürlich. Doch Sie werden selber auf Wohnungsuche gehen müssen, Professor. Dasselbe gilt auch hinsichtlich Ihrer Arbeit: Mit dem Lehrstuhl an der N. Y. U. ist es nichts. Sie müssen sich schon an die Stellungsanzeigen in den Zeitungen halten. Im Augenblick hält man es für ratsam, daß Sie und Ihre Frau getrennt leben - zu Ihrer eigenen Sicherheit. Meine Vorgesetzten fürchten, daß ein KGB-Trupp Sie wesentlich schneller aufstöbert, wenn Sie zusammenbleiben. Nächstes Jahr ist dann schon etwas Gras über die Sache gewachsen, da wird man diese Sicherheitsmaßnahme vielleicht aufheben, und Sie können wieder unter einem Dach zusammenleben.« »Aber Moment mal ...« Bekuv verstummte. »Tut mir leid, daß es so kommen mußte, Professor. Wie Ihre Frau einmal ganz richtig sagte - das Ganze hätte für uns alle eine lukrative Sache werden können.« Mann lächelte, um anzudeuten, daß er Bekuv persönlich nichts nachtrug. »Die Stereoanlage und alles, was dazugehört, dürfen Sie selbstverständlich behalten.« Er nahm wie abschließend einen Stapel Papier und ordnete ihn, indem er ihn leicht mit der unteren Kante auf die Tischplatte schlug. Erst jetzt schien Bekuv auch mich in meiner dunklen Ecke zu bemerken. Er drehte sich nach mir um. »Sagen Sie, ist Miß Bancroft bei meiner Frau?« »Ja«, erwiderte ich. »Sie wird ihr eine Weile Gesellschaft leisten.« »Wie lange? Ich möchte nicht, daß Miß Bancroft mit meiner Frau zusammen ist!« 168
»Mir sagt auch niemand etwas, Professor.« Der Major fiel ein: »Ihre Frau hat sich ausdrücklich Miß Bancroft lals Gesellschafterin ausgebeten.« Bekuv nickte. Die ganze Zeit über l hatte Mann übertrieben geschäftig zwischen seinen Papieren herumIgewühlt. Und als Bekuv jetzt aufstand, um zu gehen, förderte er mit einem Mal einen Bogen dünnes Papier zutage, schwenkte ihn durch die Luft und sagte: »Ach, da ist ja noch etwas für Sie, Professor — der Durchschlag eines Schreibens an Ihre Frau.« Er übergab Bekuv den Brief. Er war bereits mit einem Karteizettel versehen und wies ein paar eindrucksvolle Dienststempel auf. Bekuv nahm ihn ohne ein Wort, ging zum Schreibtisch und las ihn unter der Lampe in seinem gepflegten Englisch vor: »Sehr geehrte Frau Bekuv! Dieses Schreiben bezieht sich auf unsere Unterhaltung am gestrigen Tage. Wie ich Ihnen zugesagt habe, bin ich umgehend wegen der notwendigen Dokumente, Ihre Einwanderung und Einbürgerung betreffend, vorstellig geworden. Ich hoffe, daß Sie für die Notwendigkeit der folgenden Entscheidung Verständnis haben: Da Sie mit einer Sondergenehmigung in die USA eingereist sind, die nur für begrenzte Zeit von bestimmten Regierungsstellen erteilt werden kann, muß Ihr Daueraufenthalt in diesem Land wie auch Ihre Arbeitserlaubnis Gegenstand des üblichen Verfahrens bleiben. Hochachtungsvoll...« »Nichts als legalistische Ausflüchte und doppelzüngiges Gerede«, sagte Bekuv, nachdem er geendet hatte. »Ich stimme Ihnen zu«, erwiderte der Major, der den Brief schließlich gerade selbst erfunden und eigenhändig getippt hatte. Bekuv ließ den Durchschlag auf Manns Schreibtisch flattern. Er war immerhin lang genug vertraut mit geheimdienstlichen Methoden, um nach einer solchen Abfertigung die einzig richtige Frage zu stellen: »Sie würden uns also zurück nach Rußland schicken?« Er ging quer durchs Zimmer und öffnete die Tür einen Spalt breit, so daß ein schmaler Streifen hereinfallenden Lichts ihn in zwei Hälften teilte. »So ist das also — entweder, wir tun alles, was Sie von uns verlangen — oder wir werden abgeschoben... richtig?« Mann gab keine Antwort, sondern beobachtete nur schweigend jede Bewegung des Professors. »Und dieser Brief ist erst der Anfang«, sagte Bekuv. »Typisch für 169
Sie, Major - Sie schieben unsere Hinrichtung auf Ihre Behörden ab, damit Sie Ihre Hände in Unschuld waschen können!« »Verdrehen Sie da nicht ein wenig die Tatsachen, Professor? Die amerikanische Einwanderungsbehörde hat niemanden auf der Gehaltsliste, der irgend jemanden hinrichtet. Die Hinrichtungen, für die Sie mich verantwortlich machen wollen - die werden in Ihrer Heimat vollstreckt, nach Ihrer Rückkehr. Und zwar von Ihren lieben KGBGenossen. Können Sie sich noch ans KGB erinnern, Professor? An diese freundlichen Leute, denen Sie den Gulag-Archipel zu verdanken haben?« »Major, Sie haben nie in der Sowjetunion gelebt, sonst wüßten Sie, daß man dort praktisch keine Wahl hat. Ich bin vom KGB irgendwann einmal erfaßt worden, erhielt von Zeit zu Zeit einen Auftrag es blieb mir gar nichts anderes übrig, als diesen Auftrag auszuführen.« »Mir kommen die Tränen, Professor!« Bekuv stand noch immer in der halboffenen Tür - vielleicht wollte er Licht ins Zimmer lassen, um unsere Reaktion zu erkennen. »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben, Major Mann?« »Im Moment fällt mir nichts weiter ein, Professor ... außer vielleicht: Leben Sie wohl!« Doch Bekuv rührte sich nicht von der Stelle. Endlich sagte er: »Ich hätte Ihnen diesen Ort in Irland nennen ... hätte Ihnen schon früher davon erzählen sollen.« »Sie Trottel — drei Leute haben deshalb dran glauben müssen«, sagte der Major. »Ich war einmal mit einer Handelsdelegation in London«, sagte Bekuv. »... vor vielen Jahren. Und ich hatte den Auftrag, einen Mann aus Dublin zu treffen. Ich hab ihn nur dieses eine Mal gesehen ... auf dem Waterloo-Bahnhof in London. Er brachte Dokumente mit - wir haben die Münz-Kopiermaschine des Bahnhofs benutzt...« »War es das Maserprogramm?« »Wir waren damals in der Forschung zurückgefallen. Dieser Mann brachte Zeichnungen und Berechnungen.« Mann zog die Schreibtischlampe so tief herunter, daß der Lichtkegel nur noch auf ein hellblaues Löschblatt fiel, auf dem er jetzt eine Reihe von Paßfotos anordnete - darunter auch ein Bild von ReidKennedy. »Würden Sie bitte für einen Augenblick herkommen, Professor?« Manns Stimme war präzise und gezwungen gleichmütig wie die Stimme eines Vaters, der vielleicht versucht, sein Kind aus ei170
ner gefährlichen Situation an einem mit Hochspannung geladenen Zaun wegzulocken, ohne es dabei zu erschrecken. »Er war kein Wissenschaftler«, sagte Bekuv. »Trotzdem kannte er sich in den Berechnungen aus.« Er ging zum Schreibtisch und blickte auf die Fotos, die so ordentlich wie die Gewinnstiche beim Bridge nebeneinanderlagen. Mann hielt den Atem an, bis der Professor mit dem Zeigefinger auf das Gesicht von Reid-Kennedy tippte. Mann mischte die Bilder wie ein Kartenspiel, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars. »Und das KGB hat die ganze Operation geleitet?« »Selbstverständlich«, erwiderte Bekuv. »Als dem Maserprogramm eine stark verkürzte Entwicklungsfrist aufdiktiert wurde, schaltete das KGB sich ein. Da ich ihm seit langem bekannt war - seit meiner Studienzeit — und gleichzeitig zu den Experten der Moserforschung zählte, war es logisch, daß die Wahl auf mich fiel. Für meine Dienstleistungen sicherte mir das KGB die Erstauswertung der gesamten wissenschaftlichen Daten zu, die uns seitdem aus Amerika kontinuierlich zugingen. Nicht nur das - man sicherte mir auch zu, dem Forschungsministerium keine Mitteilung davon zu machen.« »Na, und damit konnten Sie sich ja als Wissenschaftler ganz schön in Szene setzen«, sagte Mann. »So handhabt das KGB diese Dinge immer. Sie lassen nur ihre eignen Leute hochkommen. Deshalb spielen sie die aus dem Ausland eintreffenden Top-Geheimsachen nur ihren eignen Leuten zu.« »Und niemand hat Verdacht geschöpft, ich meine, niemand hat den Braten gerochen, als Sie am nächsten Morgen ins Labor stürzten und >Heureka!< schrien?« »Es wäre selbstmörderische Dummheit, einen derartigen Verdacht laut werden zu lassen.« »Du lieber Gott«, meinte der Major entrüstet, »und ihr korruptes Pack habt die Frechheit, uns dauernd unsere moralische Verkommenheit vorzuwerfen!« Bekuv gab keine Antwort. Das Telefon klingelte. Mann nahm den Hörer ab und knurrte von Zeit zu Zeit in die Muschel, bis er sich nach ein oder zwei Minuten verabschiedete. »Warum machen Sie jetzt nicht eine Kaffeepause, Professor?« »Ich hoffe, Ihnen ein wenig geholfen zu haben«, sagte Bekuv. »Wie ein guter Staatsbürger«, entgegnete Mann. »Es wäre mir lieber, wenn ich über meine Pflichten als Staatsbürger nachlesen könnte - und zwar auf der Rückseite eines gültigen ameri171
kanischen Reisepasses«, sagte Bekuv. Er sagte es, ohne zu lächeln. »Ich glaube, wir werden großartig miteinander auskommen, Professor«, erwiderte der Major. Weder Mann noch ich sprachen ein Wort, bis wir hörten, daß der Professor in seinem Zimmer das Radio angeschaltet hatte. Trotzdem trafen wir die üblichen Vorsichtsmaßnahmen, um nicht abgehört zu werden. »Also Mrs. Bekuv - von Anfang an!« sagte Major Mann. »Dieses verdammte Weibstück! Und wir glauben die ganze Zeit, daß er ohne sie nicht auspackt!« »Ohne seine Frau wird er wahrscheinlich so schön zu singen anfangen, daß er bis zum Wochenende die Nummer Eins in der Hitparade ist«, meinte ich. »Hoffen wir's!« sagte Mann. Er ging zum Schalter und machte endlich das Licht an. Das Zimmer hatte Neonbeleuchtung, und die Röhren flackerten, ehe sie den Raum mit ihrem kaltblauen Licht ausfüllten. Mann suchte inzwischen in den Schubfächern seines Schreibtisches herum, bis er die Zigarren fand, die ihm seine Frau zu Weihnachten geschenkt hatte. »Ich frage mich, wo diese Frau ihre Macht über ihn hernimmt«, sagte er nachdenklich, zündete sich eine Zigarre an und schob mir das Kistchen zu. Ich sah daß es schon halb leer war und lehnte ab. »Vielleicht liebt er sie«, meinte ich. »Kann doch sein, daß wir auf eine dieser glücklichen Ehen gestoßen sind, die man sonst nur aus Romanen kennt.« »Genausogut könnte sie der Weihnachtsmann sein, der sich als Tante verkleidet hat.« »Jedenfalls - ihr Erscheinen hier, das war ungefähr das Schlimmste, was uns passieren konnte.« »Stimmt«, knurrte Mann. »Noch so eine freundliche Hilfeleistung von Gerry Hart, und ich segne das Zeitliche!« Ich blickte auf meine Uhr und sagte: »Falls es nichts mehr zu tun gibt - ich habe ein Telefongespräch nach London anzumelden.« Mann fuhr fort: »Und es sieht ganz so aus, als ob wir morgen wieder einen Trip nach Florida machen müßten.« »Auch das noch!« »Der Anruf vorhin kam vom CIA-Bereitschaftsdienst auf dem Flughafen von Miami. Unser Freund Reid-Kennedy ist gerade mit dem Direktflug aus London eingetroffen. Sein Chauffeur hat ihn im Rolls Royce abgeholt. Das bedeutet, daß seine Ehehälfte von seiner Ankunft wußte.« 172
»Wann fliegen wir?« »Wir sollten dem Ehepaar erst ein wenig Zeit zu einer Aussprache lassen. Wie wäre es also mit der Sechs-Uhr-Maschine morgen früh? Abfahrt von hier um vier Uhr dreißig - einverstanden?«
173
KAPITEL 16
Alles war anders, als wir diesmal nach Miami kamen: Aber so ist es ja immer, wenn man irgendwohin zurückkehrt. Der Gärtner hatte Ärger mit dem Rasensprenger, ein Auto hatte die Hecke gerammt und ein Stück der Bougainvillea niedergemacht, Unkraut hatte sich in den Rasen eingeschlichen, die Luftfeuchtigkeit war unerträglich hoch, und die Sonne versteckte sich hinter einem Dunstschleier. »Mr. und Mrs. Reid-Kennedy sind nicht zu sprechen«, sagte die spanische Hausdame bereits zum dritten Mal leise, aber bestimmt. »Danach haben wir ja gar nicht gefragt«, erklärte ihr der Major geduldig. »Ich will nur wissen, ob sie zu Hause sind - hier sind!« Vermutlich haben auch Hausdamen, welche die Haustüren der Reichen bewachen, einen Blick für Menschen, die durch nichts aufzuhalten sind. Sie ließ es schließlich zu, daß Mann sie beiseite schob, doch blieb dabei ihr Lächeln auf der Strecke. »Sie wissen doch schon, daß wir von der Polizei sind... »Sie sind nicht hier«, wiederholte sie störrisch. Er blickte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann drückte er mit den Zeigefingern seine Backen nach oben, als müsse er sich ein Lächeln abringen. »Übrigens - hab' ich schon erwähnt, daß ich nebenbei für die Einwanderungsbehörde herumschnüffle? Wollen Sie's drauf ankommen lassen, daß ich das Haus auf den Kopf stelle und mal anfange zu prüfen, wer von euch überhaupt eine Arbeitserlaubnis für Florida hat? Das möchten Sie doch lieber vermeiden, oder?« Die Dame wurde bleich - wie eben nur eine illegale Einwanderin ohne Arbeitserlaubnis erbleichen kann. Dann machte sie die Tür leise zu - hinter uns. »Nun, wo sind sie?« »Auf der Sara Lee«, sagte sie und deutete auf die Motorjacht, die am Ende des parkähnlichen Gartens am Steg vertäut war. »Ist's die Möglichkeit - Sara Lee!« sagte Mann respektvoll. »Und ich bilde mir die ganze Zeit ein, daß das Schiff Tante Jemima heißt!« Er lächelte die Hausdame an, und sie zwang sich zurückzulächeln. »Also, Gräfin wollen die Güte haben, aufzupassen, daß niemand das Haus verläßt, oder...« Wir gingen durchs Frühstückszimmer, das sich dem Garten und dem Meer zu öffnete. Die Überreste eines üppigen Frühstücks stan174
den noch auf dem weißen Mamortisch, und ich zählte allein sechs verschiedene Brotsorten. Auf die gekochten Eier hatte diesmal niemand Appetit gehabt. Am verlockendsten waren die knusprigen, braungebratenen Speckscheiben, die noch auf einer silbernen Platte lagen. Major Mann nahm sich eine und aß sie. »Hm«, meinte er, »noch warm - also ist unser Paar nicht weit.« Er ging auf die Veranda und blickte zur Jacht hinüber. Nichts deutete darauf hin, daß sie bald ablegen würde. In der Ferne sah ich, silbern am blauen Himmel, das Goorfyear-Reklameluftschiff über dem Wasser dahingleiten. »Was zum Teufel treiben die beiden da unten im Schiff«, knurrte Mann vor sich hin. »Ich meine, die gehören doch nicht zu den Typen, denen es Spaß macht, den Dieselmotor eigenhändig zu überholen.« »Ich könnte mir denken, daß man bei einem Rudel Dienstboten im Haus den Park und das Boot braucht, um sich manchmal in aller Ruhe zu zanken«, sagte ich. Ich öffnete gerade die Fliegengitter-Schwingtür, welche von der polierten Eichen-Veranda auf den säuberlich geharkten Kiesweg dahinterführte, als ich eine Frau rufen hörte. Dann sah ich Mrs. ReidKennedy. Sie war bereits die Laufplanke des Schiffs heruntergerannt und kam jetzt quer über den Rasen auf uns zugehastet. Und dabei schrie sie ununterbrochen: »He - Sie, was wollen Sie hier schon wieder? Was wollen Sie hier schon wieder? « Um ein Haar wäre sie hingefallen. Sie trug dasselbe Hauspyjama-Modell, das wir bei unserem letzten Besuch an ihr gesehen hatten - nur war es diesmal aus blaßgrüner Seide, ebenso wie der seidene Schal, den sie sich turbanartig um den Kopf geschlungen hatte. Nur - wie wenig war von ihrer südländischen Schönheit übriggeblieben! Ihre koketten Wimpernaufschläge, ihre einladenden Gesten, mit denen sie ihren zuckersüßen Liebreiz jedem vor Augen geführt hatte - alles dahin! Was blieb, war eine näselnde, schrille Stimme, aus der man Sauerbraten, Schweinekoteletts, saure Sahne und die gesamte zweiundachtzigste Straße in New York heraushörte. Als sie vor uns stand, bekam sie keinen Ton mehr heraus. Sie rang nach Luft und preßte die Hand auf die Brust. »Sie sollten nicht mehr wie ein junges Mädchen durch die Gegend tollen, Mrs. Reid-Kennedy«, sagte der Major. »Eine Frau in ihrem Alter kann sich dabei wer weiß was für gesundheitliche Schäden zuziehen!« »Kommen Sie ein andermal wieder«, keuchte sie. »Heut paßt es mir nicht. Sonst jederzeit. Rufen Sie mich an, und wir machen was aus.« 175
»Vielleicht aber hätten Sie sich noch einen weit schlimmeren Schaden zugefügt, wenn Sie nicht quer durchs Gelände davongelaufen wären. Dann wäre Ihr Verhalten allerdings verständlich.« »Kommen Sie - wir gehen ins Haus und unterhalten uns dort bei einer Tasse Kaffee weiter!« »Zu liebenswürdig, gnädige Frau«, sagte Mann. »Ihre Gastlichkeit in Ehren!« Er lüftete den Hut. »Doch würde ich jetzt lieber am Ufer entlangschlendern - bis zu dem hübschen Dampfer dahinten. Mal sehen - vielleicht treffe ich dort einen Bekannten, mit dem ich Karten spielen kann. Wissen Sie, ich war schon immer eine Spielernatur.« »Sie sind zu spät gekommen, Major Mann.« Ihre Stimme klang weder verängstigt noch wichtigtuerisch. Sie klang vielmehr, als hätte sie eine Tatsache konstatiert, an der nicht zu rütteln ist. Wie etwa die Kilomenge einer Tonne oder das Gewicht eines Kubikmeters Wasser. »Wäre es nicht an der Zeit, Sie würden sich alles von der Seele reden, gnädige Frau?« sagte er teilnahmsvoll und nahm ihren Arm, um sie zu stützen. »Wenn ich Ihnen alles sage, versprechen Sie mir dann, daß es vertraulich bleibt? Und Sie müssen mir Ihr Wort geben, daß Sie nichts unternehmen ... wenigstens nicht gleich.« »Aber Mrs. Reid-Kennedy, so etwas kann ich Ihnen unmöglich versprechen - wer könnte das? Angenommen, Sie berichten mir von einem Komplott, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden. Glauben Sie wirklich, wir könnten uns das von Ihnen erzählen lassen und dann nichts unternehmen, weil wir's Ihnen versprochen haben?« »Mein Mann war ein guter Mensch, Major!« Sie blickte Mann ins Gesicht. »Ich meinte Douglas ... Mr. Reid-Kennedy...« »Mir ist schon klar, wen Sie gemeint haben«, erwiderte der Major. »Bitte weiter.« »Er ist ... da unten im Boot«, sagte sie. Sie vermied es, in die Richtung des Zwölftonnen-Kabinenkreuzers zu sehen, sie deutete nur vage aufs Meer. »Etwa vor einer halben Stunde ist Douglas zur Jacht hinuntergegangen. Ich dachte -da stimmt doch etwas nicht... als der Speck fast kalt wurde ... Sie müssen wissen, er mag Speck über alles, aber nur, wenn er knusprig und heiß ist ... kalt würde er ihn nicht anrühren!« »Schon gut, schon gut, Mrs. Reid-Kennedy!« Der Major tätschelte ihren Arm. 176
»Dabei ist Frühstücksspeck heutzutage so teuer! Wenn die Dienstboten ihn nachher wenigstens essen würden - aber nein, Speck mögen sie nicht!« »Ja, ja - aber Sie wollten mir doch etwas über Douglas erzählen.« »Nun, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen«, sagte sie. »Ich habe ihn im Boot gefunden ... gerade eben. Er hat sich erschossen. Unten im Maschinenraum liegt er ... der ganze Kopf ist... Oh Gott! Ich weiß nicht, wer soll das bloß aufwischen? Überall Blut! Ob die Polizei jemanden kennt, der das für mich erledigt? Ich könnte da nicht wieder hinuntergehen!« »Das ist auch nicht nötig, Mrs. Reid-Kennedy. Kein Mensch würde das von Ihnen verlangen. Mein Freund hier wird hinuntergehen und nachschauen, ob nicht zufällig vielleicht die Flutventile offen sind und ob sonst alles in Ordnung ist. Wir zwei gehen inzwischen ins Haus und besorgen Ihnen einen Brandy.« »Finden Sie, ich sollte ... Major? Es ist ja noch nicht einmal halb zwölf!« »Egal -ich finde, Sie brauchen einen«, sagte der Major energisch. Sie zitterte plötzlich. »Mein Gott - ist das mit einemmal kalt geworden!« sagte sie. »Ja, tatsächlich!« stimmte der Major zu und versuchte, so auszuschauen, als sei ihm auch mit einemmal kalt geworden. »Das ich's dem Personal sagen muß ... das ist das Schrecklichste daran«, gestand sie. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, erwiderte der Major lebhaft. »Das wird mein Freund erledigen. Wissen Sie, er ist Brite, und Briten können schrecklich gut mit Dienstboten umgehen.« Viele Amerikaner haben nach dem Krieg ihre Waffen behalten. Daß der ehemalige Stabsfeldwebel Douglas Reid-Kennedy von der USArmee-Militär-Polizei mit der automatischen M-1911 ausgerüstet worden war, das war natürlich Pech für die Frau, die ihn fand. Auch wenn man hinterher selbst nichts mehr davon hat, kann man sich mit einer Kugel vom Kaliber 45 nicht nur ein großes Loch im Kopf, sondern auch einen eindrucksvollen Abgang leisten. Er war ein stattlicher Mann gewesen, dieser Reid-Kennedy. Man konnte ihn sich richtig gut als stöckchenschwingenden Militärpolizisten mit weißem Helm vorstellen. Nun lag er da - den Körper merkwürdig verdreht, das Gesicht nach oben, die Arme ausgebreitet, als 177
hätte er noch im letzten Moment verhindern wollen, daß er in die 01pfützen des Bilge fiel - was dennoch geschah, und wo er sich nun zwischen den zwei wundervoll gepflegten Dieselmotoren ausgebreitet hatte. Sein mit großen Blumen bedrucktes Hawaihemd war offen und legte seinen sonnengebräunten Brustkorb bloß. Er hatte elegante Segeltuchschuhe an, mit rutschfesten Sohlen, wie sich das für einen erfahrenen Jachtsportler gehört. Zu seinen maßgeschneiderten Shorts trug er einen uralten Gürtel, an dem ein Matrosen-Klappmesser befestigt war. Sein ganzer Hinterkopf war zerplatzt, und Blut, Hirnmasse und Knochensplitter waren in alle Richtungen gespritzt. Nur sein Kinn war einigermaßen erhalten, und sein Gebiß war immerhin soweit intakt, daß man mit Hilfe der zahnärztlichen Kartei mit einer positiven Identifizierung rechnen konnte. Er mußte im Augenblick des Todes im Deckshaus gestanden haben, eine Hand am Handlauf des Niedergangs, den Pistolenlauf im Mund. Die Wucht des Geschosses hatte ihn die Treppe zum Maschinenraum hinuntergeschleudert. Wahrscheinlich hatte er noch einen letzten Blick auf sein Haus und den Garten geworfen - vielleicht hatte er sogar seine Frau am Frühstückstisch sitzen sehen. Ich schaute auf den Steg und auf die Parkanlage und bemühte mich, nicht darüber nachzudenken, wie ich — oder sonstwer ihn von dort aus unbemerkt hätte töten können. Ich ging nach vorn und sah mir die Radar- und Echolotanlage an. Sie war brandneu. Man sah an Bohrlöchern und Farbrändern, wo die alten Geräte angebracht gewesen waren. Die allerneuesten elektronischen Geräte zu besitzen, verschafft einem Jachtinhaber heutzutage mehr Prestige als ein paar Fuß zusätzliche Bootslänge oder eine uniformierte Crew, vorausgesetzt, man hat dazu auch den entsprechenden protzigen, ins Auge springenden Antennenwald. Douglas Reid-Kennedys Segeljacke hing über den Schalthebeln. Sie war aus blauem Nylon, hatte einen Reißverschluß und ein aufgesticktes Ankeremblem mit dem Titel »Captain« auf der Brust. Und sie verfügte außerdem noch über zwei Spezialtaschen aus Ölhaut für den Fall, daß man zu den Jachtkapitänen gehört, die beim Überbordfallen noch den Kaviar einstecken haben. In einer dieser Taschen steckte eine Bruyere-Pfeife, Metallwindschutz und ein Tabaksbeutel mit einem aufgedrucktem Playboy-Häschen. In der anderen waren eine Brieftasche, verschiedene Kreditkarten, eine Mitgliedskarte des Jachtclubs, eine vom Jachtclub herausgegebene Wet178
l tervorhersage mit dem Datum vom heutigen Tage und ein Notizbuch, lin das unter anderem auch eine Reihe von Funkwellenlängen eingeragen war. Und schließlich fand ich noch einen Schlüsselbund in dieTasche. Schlüssel gibt es in verschiedenster Gestalt und allen Größen, angefangen von den pompösen Eisenschlüsseln, die in gewissen Snobretaurants die Weinkellner um den Hals hängen haben, bis hin zu den vinzigen gezackten Schlüsseln aus gestanztem Blech, die man beim "Kofferkauf dazu bekommt. Die Schlüssel aus Douglas Reid-Kennedys Segeljacke waren gewissermaßen ernst zu nehmen - sie waren klein, sorgfältig gefräst, offensichtlich für komplizierte Sicherheitsschlösser bestimmt und aus hartem, bronziertem Metall. Jeder Schlüssel hatte eine Nummer, sonst nichts. Der Herstellername fehlte, so daß nur der Schlüsselbesitzer einen Ersatzschlüssel anfordern konnte. Eine dieser Spezialanfertigungen paßte in das Schloß des Schreibtisches, der in dem mit Teppichboden ausgelegten großen Deckshaus stand. Ich setzte mich an den Schreibtisch und durchsuchte ihn sorgfältig. Aber Reid-Kennedy war nicht der Mann, der belastendes Material im Schreibtisch verstecken würde. Ich fand lediglich eine Reihe von Dokumenten, die man für kurze Seereisen brauchte - wie die Photokopie seiner Versicherung und verschiedene behördliche Genehmigungen, darunter eine Erlaubnis zum Fischen. Dann stieß ich auf das kleine, sepiafarbene Photo in dem abgenutzten Lederrahmen, auf das Major Mann bei unserm letzten Besuch aufmerksam geworden war. Es war ein Blick in eine längst vergangene Welt: Reid-Kennedys Vater, feierlich in dunklem Anzug, mit der obligatorischen Krawattennadel, saß steif wie ein Stock vor einer gemalten Hintergrundkulisse. Seine abgearbeitete Hand ruhte schwer auf der Schulter eines lächelnden Knaben in Lederhosen. Ich nahm das Bild aus dem Rahmen. Es war auf Karton aufgezogen und trug hinten die mit schönen Schnörkeln versehene Signatur und Geschäftsadresse eines Photostudios in New York. Das Bild hatte noch die gestochene Schärfe eines Kontakabzugs - eine Qualität, die mit dem Aufkommen von Kleinbildkameras und High-Speed-Filmen für immer dahingegangen ist. Ich sah mir das Bild lange an. Die fast sportliche Kleidung des Jungen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß offensichtlich sorgsame Vorbereitungen dem Besuch beim Photographen vorausgegangen waren. Auch konnte der harte Gesichtsausdruck des Vaters nicht 179
den immensen Stolz auf seinen hübschen Sohn verbergen. Und doch hatte der Verschluß des Photoapparats einen Moment eingefangen, der eine fast ängstliche Anspannung in dem Knabengesicht festhielt, die den Jungen bei der Berührung durch die Hand seines gebieterischen Vaters erfaßt hatte. Ein Element der Tragik lag in der großen Kluft zwischen den beiden, und ich fragte mich erneut, wieso der Sohn ausgerechnet dieses Bild die ganzen Jahre über in seinem persönlichen Gepäck überallhin mitgenommen hatte. Über dem Schreibtisch hing ein Bücherregal. Ich fand die übliche Sammlung von Schiffsliteratur - über Knoten und Flaggen, und daß Boote vor dem Wind den Booten, die hart am Wind segeln, die Vorfahrt überlassen müssen müssen und so weiter. Dann gab es noch ein prunkvoll in Leder gebundenes Gästebuch, in säuberlicher Handschrift geführt und von den Gästen auf der Jacht pflichtschuldig signiert. Ein paar Seiten waren grob herausgerissen worden, und ich notierte mir die Daten der Zeiträume, über die sie sich erstreckt haben mußten. Danach rückte ich alles, was ich verschoben hatte, wieder an seinen Platz und wischte sorgfältig alle Sachen ab, die ich angefaßt hatte. Ich ging zurück ins Haus, wo sich Mrs. Reid-Kennedy inzwischen mit einem dreifachen Brandy etwas gestärkt hatte. Der Major goß sich gerade Sodawasser auf Eis ein. »Und dabei hab ich's Douglas noch gesagt!« meinte sie. »Was gesagt?« fragte Mann. »Oh - hallo!« begrüßte sie mich. »... gesagt, daß er diesmal nicht nach Europa fahren soll.« »Und warum nicht?« »Ich möchte doch lieber meinen Anwalt anrufen — Sie haben kein Recht, mich daran zu hindern!« »Hat in Ihrem Fall aber kaum Zweck«, sagte Mann. Während sie noch auf das Telephon starrte, fing ich seinen Blick auf. Ich gab ihm ein fast unmerkliches bejahendes Zeichen zurück. »Haben Sie auch Ihre Schuhe abgetreten?« fragte sie mich unvermittelt. »Natürlich«, sagte ich. »Wissen sie, wenn die Rasensprenger in Betrieb sind, dann hinterlassen Fußtritte so leicht grüne Flecken auf meinem Teppichboden.« Sie schien dieses Problem zum hundertsten Mal zu erörtern - so mechanisch klang ihre Stimme. »Ich weiß«, sagte ich. Ich lächelte sie dabei an. Das hätte ich nicht tun sollen. 180
»Ach, bitte - können Sie bei Ihrem Freund nicht ein Wort für mich einlegen? Daß er morgen oder übermorgen wiederkommt? Ich möchte Sie wirklich nicht beleidigen, aber ein paar Tage, um mich von diesem Schock zu erholen - dafür gäbe ich fast alles!« Ich gab keine Antwort, und Major Mann schwieg ebenfalls. »Gut - dann benachrichtige ich eben meinen Anwalt«, sagte sie und öffnete ihre Handtasche, die so kostbar aussah, als hätten ein paar Meter des Teppichs von Baveux für sie herhalten müssen. Dazu hatte sie noch goldene Bügel und einen Lederriemen, um sie über die Schulter zu hängen. Mrs. Reid-Kennedy kramte lange in ihr herum suchte sie etwa nach einer Maschinenpistole? Endlich klappte sie, seufzend und leise vor sich hinjammernd, die Tasche wieder zu. »Ich werden den Jachtclub anrufen, die Leute dort wissen bestimmt einen guten Anwalt.« »Mrs. Reid-Kennedy«, sagte Major Mann, »auch der beste Anwalt würde unter Umständen nur erreichen, daß Ihre Strafe - sehr wahrscheinlich fünfzig Jahre - auf bestenfalls zehn Jahre herabgesetzt wird. Ich aber hätte genügend Befugnisse, Sie bei den weiteren Recherchen ganz aus dem Spiel zu lassen...« Sie legte das Angebot des Majors völlig falsch aus. Ich nehme an, daß reiche Leute ein feines Ohr für alles haben müssen, was mit Bestechung zu tun hat. Aber bei ihnen geht es natürlich immer nur um Geld oder Geldeswert. »Nur ein paar Tage, um mich zu erholen...«, sie hob müde die Hand, »... dafür gäbe ich fast alles! Darf ich Ihnen vielleicht ein paar kleine Geschenke für Ihre Gattinnen mitgeben? Ich besitze so viele wunderschöne Dinge - Porzellan... Gold, Kostbarkeiten - Ihre Gattinnen würden sich sicher freuen über ein kleines Schmuckstück, das vielleicht in Ihrer Sammlung noch fehlt. Was meinen Sie?« wandte sie sich an mich. »Um ehrlich zu sein, Mrs. Reid-Kennedy - meine ganze Sammlung an Porzellan und Gold steckt in meinem Gebiß. Und eine Frau habe ich derzeit auch nicht.« »Stört es Sie, wenn ich das Jackett ablege?« fragte Mann. Er zog es aus, ehe sie ihm eine Antwort geben konnte. »Mein Mann hatte eine Aversion gegen Klimaanlagen. Er sagte immer, er würde eher mit der Hitze fertig als mit dem endlosen Geräusch.« Sie ging zu dem kleinen, im Fenster eingelassenen Gerät und schaltete es an. Mann sagte: »Sie müssen sich endlich dazu bequemen, Ihre Lage 181
realistisch zu sehen, Mrs. Reid-Kennedy. Es gibt keinen JachtclubRechtsanwalt, der Ihren Kopf aus der Schlinge ziehen könnte. Und wenn Sie jetzt nicht sofort mit der Sprache herausrücken, dann ist es auch mit dem Jachtclub vorbei - endgültig vorbei! Jedenfalls für Sie. Sogar Jachtclubs werden bei Verdacht auf Spionage äußerst distanziert.« Sie zuckte bei dem Wort »Spionage« zusammen, aber Sie protestierte nicht, sondern trank statt dessen einen großen Schluck Brandy. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme wütend: »Fragen Sie den doch...«, und sie zeigte mit dem Daumen auf mich, »... fragen Sie ihn - er ist ja unten im Boot gewesen. Der weiß doch, was passiert ist.« »Ich wünschte, Sie würden endlich begreifen, daß ich Ihnen nur helfen will«, sagte Mann mit einer Stimme, die von überzeugender Hilfsbereitschaft nur so überfloß. Ich kannte diese Stimme - er hatte sie bei mir schon oft genug angewandt. »Sicher - mein Kollege könnte mir jetzt eine Menge Antworten auf offene Fragen geben, denn er war ja unten im Boot. Aber wenn Sie mir selbst alles mitteilen, kann ich es als Ihre freiwillige Aussage aufnehmen. Ich muß Ihnen doch nicht erst erklären, was für ein riesiger Pluspunkt das für Sie wäre, oder?« »Was sind Sie bloß für ein Pack von Schnorrern!« stieß sie bitter hervor. Doch dann gab sie auf und seufzte. »Waren Sie schon mal in Berlin?« fragte sie. Wahrscheinlich erlebt jeder irgendwann in seinem Leben einen Tiefpunkt - Mrs. Marjorie Dean erreichte den ihren in Berlin, im Sommer 1955. Körperlich hatte sie sich zwar von der Fehlgeburt völlig erholt, doch seelisch war sie weit davon entfernt. Dazu kam, daß sie sich in Berlin nicht wohlfühlte: Sie kam sich wie entwurzelt vor. Denn obwohl sie fließend deutsch sprach, machten die Berliner zwischen ihr und den anderen Amerikanern keinen Unterschied - sie blieb die Frau eines Besatzungssoldaten, die es soviel besser hatte. Und die Amerikaner verziehen ihr wiederum ihre deutschen Großeltern nicht und ließen sie keinen Augenblick lang vergessen, daß sie hier eigentlich hingehörte. Auch war Berlin eine Stadt, in der man wirklich Platzangst bekommen konnte -die Berliner nannten sie ihre »Insel«, eine winzige Bastion der kapitalistischen Welt, umgeben vom weiten Ozean der sowjetischen Zone Deutschlands. Für sie, die Frau eines der ranghöchsten Geheimdienstbeamten, gab es natürlich auch keine 182
Spritztour in den Ostsektor von Berlin, und sogar für die Fahrt auf der Autobahn nach Westdeutschland brauchte man jedesmal eine Sondergenehmigung des kommandierenden Generals. Und das alte Haus mit dem Garten mochte sie schon gar nicht - es war viel zu groß für sie beide allein. Steiners, ihre Hausangestellten, wohnten in dem kleinen Gästehaus am anderen Ende dieses total verwilderten Gartens mit seinen dunklen Büschen und verfallenen Gewächshäusern und der düsteren, hohen Hecke. Daß die US-Armee das Haus zunächst als VIP-Unterkunft beschlagnahmt hatte und es dann später als Schule für Agenten verwandte, um sie mit Funkund Sendetechnik vertraut zu machen, bevor sie in den Osten geschickt wurden, das war durchaus zweckvoll gewesen. Aber als Wohnhaus für Major Dean und seine Frau war es denkbar ungeeignet. Das ganze Mobilar stammte aus der Zeit, als das Haus noch einem bekannten Neurologen der Naziprominenz gehörte. Demgemäß war auch die Einrichtung: Im Foyer hingen noch immer die Gemälde von steifen Soldaten in preußischen Uniformen, und auf dem Piano stand nach wie vor das weinlaubumrankte Bild einer Frau mit einem Diadem. Die Deans hatten in einem Anflug von Humor beschlossen, sie als die Mutter des Naziarztes zu betrachten. An jenem schicksalhaften Donnerstag blieb Marjorie Dean fast bis mittags im Bett - ihr Mann war für ein paar Tage verreist, und diese Reisen schienen in letzter Zeit immer häufiger zu werden. Und das Damen-Bridgeturnier im Offizierclub am Grunewald fand erst am Nachmittag statt. Aber schließlich stand sie auf, nahm ein Bad und zog ihr Lieblingskleid an - das aus Leinen. Denn um ein Uhr würde der Kurier von der Kaserne eintreffen. Der Kaffee, den ihr Frau Steiner herauf gebracht hatte, war längst kalt, doch sie trank hin und wieder einen Schluck davon, während sie in den Spiegel starrte und das Make-up so langsam wie möglich auftrug, um die Zeit totzuschlagen. Auf ihrem Nachttisch lag ein großer Stapel Romane, die alle von Liebesromanzen im tiefen Süden Amerikas handelten. Sie verachtete sich selbst dafür, solche Bücher zu lesen, aber sie halfen ihr wenigstens, sich abzulenken; sonst hätte sie nur ständig darüber nachgegrübelt, wie es um ihre Ehe stand, wie schrecklich enttäuscht sich ihr Mann gezeigt hatte, als sie das Kind verlor, und wie es kommen konnte, daß sich eine so tödliche Langeweile in ihr Leben eingeschlichen hatte. Plötzlich hörte sie aus dem Salon Klaviermusik. Jemand spielte ein altes deutsches Volkslied über einen Bauern und einen reichen 183
Kaufmann. Ihr Vater hatte es ihr früher manchmal vorgesungen. Erst glaubte sie, sie hätte Halluzinationen, doch dann erinnerte sie sich sie hatte der Tochter von Steiners erlaubt, täglich eine Stunde am Vormittag Klavier zu üben. Sie konnte die Steiners reden hören, denn es war ein heißer Tag, und das Küchenfenster stand weit offen. Ab und zu hörte sie auch die Stimme von Steiners Schwager. Marjorie hoffte, daß er diesmal nicht zu lange blieb. Was als Wochenendbesuch angefangen hatte, war inzwischen zu einem ständigen Kommen und Gehen geworden. Er behauptete, Buchbinder zu sein und aus Coburg zu stammen. Doch Marjorie verstand sich auf deutsche Dialekte und hielt ihn für einen Sachsen. Sachsen lag in der russischen Zone. Sein Dialekt war unverkennbar und klang irgendwie lächerlich. Als seine Stimme wieder durch die offenen Fenster drang, konnte sie sich ein Lächeln kaum verkneifen. Doch als sie genauer hinhörte, was da unten gesprochen wurde, war ihr nicht mehr zum Lachen zumute. Sie waren da unten offenbar in Streit geraten, und die Stimme des Schwagers klang jetzt tückisch und drohend. Er sprach schnell und schrill und verfiel häufig in einen unverständlichen Landserjargon, so daß es Marjorie schwerfiel, der Unterhaltung zu folgen, doch plötzlich bekam sie Angst. Ihr Instinkt sagte ihr, saß der Sachse und die Steiners in Wirklichkeit gar nicht verwandt waren, und daß seine ständige Gegenwart und sein augenblicklicher Wutanfall irgendwie mit ihrem Mann und seiner geheimdienstlichen Tätigkeit zu tun hatten. Dann hörte sie, wie das Fenster geschlossen wurde, und konnte nichts mehr verstehen. Entschlossen konzentrierte sie sich auf andere Dinge. Es geschah schnell, daß einem in dieser Stadt die Phantasie durchging. Der Kurier erschien täglich um ein Uhr und brachte Geheimdokumente in einem verschlossenen Metallkoffer. Er war immer pünktlich. Sie freute sich jedesmal auf sein Kommen, und sie wußte, daß auch er gerne kam. Gewöhnlich nahm er sich die Zeit, noch mit ihr Kaffee zu trinken. Er mochte deutsches Gebäck nach alten Rezepten, und zufällig konnte Frau Steiner auf diesem Gebiet mit den verschiedensten Gewürz- und Honigkuchen aufwarten. Manchmal machte sie auch komplizierte Sachen mit Marzipanfüllung und einer dicken Schicht gerösteter Mandeln obendrauf. Zwischen Liebenden herrscht manchmal die Sitte, einander Lebkuchen zu schenken, und obwohl die Beziehung zwischen Marjorie Dean und dem jungen Unteroffizier sehr korrekt, ja geradezu ein wenig steif war, kam zwischen ihnen doch manchmal ein Anflug von wortlosem Flirt auf und drückte 184
l sich in der Wahl bestimmter Gewürzkuchen und Gebäckformen aus. f An jenem Tag hatte Frau Steiner Haselnußbiskuits gebacken. Die IGebäckschale, bedeckt mit einer gestärkten Serviette, stand schon 1 auf dem Küchentisch. Sie hatte auch den Kaffee und die Kaffeemaschine hingestellt, auf einem Tablett, das mit einer antiken, geklöppelten Spitzendecke bedeckt war, die zum Inventar der alten Villa gehörte. Gewöhnlich brachte Stabsfeldwebel Douglas Reid-Kennedy den neuesten Klatsch und Tratsch aus den Kasernen mit. Doch manchmal kamen sie auch auf ihre Kindheit in New York zu sprechen. Sie waren beide dort aufgewachsen, und Douglas bestand darauf, daß er sie schon als kleines, niedliches Mädchen gesehen hätte, wie sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder immer auf der gleichen Kirchenbank saß. Einmal hatte er auch über seine Familie gesprochen. Sein Vater stammte aus Hamburg und war 1925 in die Staaten ausgewandert, nachdem er in der Inflation alles verloren hatte. Den Namen Reid-Kennedy hatte er deshalb angenommen, weil ihm eines Tages seine Nachbarn direkt ins Gesicht gesagt hatten, daß sie Deutsche nicht leiden konnten. Dagegen war es dann in den dreißiger Jahren wieder von Vorteil, deutscher Abstammung zu sein. Der jüdische Angestellte des US-Beschaffungsamts, der 1940 mit ihm den Vertrag für die Herstellung von Radioteilen für B 17-Bomber abschloß, hatte angenommen, daß er vor Hitler geflohen wäre. Dieser Armeevertrag brachte natürlich eine große Veränderung in das Leben der Reid-Kennedys. Der Vater mietete eine größere Werkstatt und stellte mehr Arbeiter ein. Als Unterlieferant für Radiozubehör hatte er mit vier Mann angefangen, aber bis zum Ende des Krieges war aus der kleinen Firma ein Konzern geworden, den nur noch ein paar hundert Dollar von der Zweimillionendollar-Umsatzgrenze trennten. Douglas wurde auf eine renommierte Privatschule geschickt und erwarb sich dort den Akzent der feinen Leute. Doch war er leider dennoch außerstande, vor der Auslesekommission für die Offizierslaufbahn zu bestehen. Das wurmte ihn zwar eine Zeitlang, doch schließlich kam er zu der Erkenntnis, daß die Kommission wahrscheinlich recht hatte - er war einfach zu wenig verantwortungsbewußt und außerdem zu faul, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Wenn man sich zum Beispiel Major Dean an sah - der schien Tag und Nacht über seiner Arbeit zu sitzen und hatte keine Zeit, sich mal richtig volllaufen zu lassen oder Frauen nachzusteigen oder sich mit den echten Berlinern an einen Tisch zu setzen. 185
Sich unter die »echten« Berliner zu mischen - das war für Douglas das höchste der Gefühle. Es war erstaunlich, wie viele Leute er kannte: die Creme der deutschen Aristokratie, einen Nazifilmstar, einen Löwenbändiger, dazu Bildhauer, Maler, radikale Bühnenautoren und ein paar Ex-Gestapooffiziere, auf die ein Kopfpreis gesetzt war. Und wenn man nach einer Kamera suchte oder auf wertvolle Antiquitäten aus war, wußte Douglas genau, welche seit dem Krieg verarmten Leute ihre Wertgegenstände spottbillig verkauften. Douglas war jung und amüsant, er war ein »Raconteur«, eine Spielernatur, die ein paar Groschen verschmerzen konnte, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Er war viel zu jung für den Krieg gewesen, und er scherte sich einen Dreck um Politik. Für die Armee tat er gerade nur so viel, daß er keine Schwierigkeiten bekam - bis zu dem heißersehnten großen Tag, wo er endlich wieder nach Hause durfte. Mit einem Wort: Douglas war von Hank so grundverschieden, wie man es überhaupt nur sein konnte. Und Marjorie fand es sehr merkwürdig, daß sich Stabsfeldwebel Reid-Kennedy heute so ernst verhielt - ja, geradezu niedergeschlagen war. Auch mit seinem Aussehen stimmte etwas nicht. Sein Job in der Armee erlaubte ihm, Zivil zu tragen, und er verstand sich gut darauf, sich dem exzentrischen Stil der neureichen Berliner anzupassen. Er bevorzugte seidene Hemden, weiche Lederjacken und andere maßgeschneiderte, saloppe Dinge, wie sie zu einem silbernen Porsche passen. Doch heute war er in einem billigen, blauen Anzug erschienen, der an den Ellbogen schon glänzte und an den Knien ausgeheult war. Auch trug er weder seine goldene Armbanduhr noch den Ring seiner Studentenverbindung. Er sah eher aus wie einer der Flüchtlinge aus Polen, die von Tür zu Tür gingen und für eine warme Mahlzeit jede Gelegenheitsarbeit annahmen. Er setzte sich auf einen Küchenstuhl und hatte keinen Blick für die Haselnußplätzchen und den Kaffee. Statt dessen fragte er, ob sie ihm einen Scotch geben könne. Marjorie war ziemlich befremdet, doch versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie stellte die Flasche auf den Tisch. Douglas goß sich einen dreifachen Whisky ein und schluckte ihn hastig hinunter. Dann schaute er auf und fragte, ob sie wüßte, was für einen Auftrag Major Dean gegenwärtig beim Geheimdienst hätte. Marjorie wußte nur, daß ihm das »Police Desk« unterstand, aber sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sie hatte immer angenommen, daß ihr Mann ein Verbindungsoffizier zwischen der US-Armee und der Westberliner Polizei sei, mit der Aufgabe, be186
trunkene G.I.s aus dem Gefängnis zu holen oder die vielen deutschen Mädchen abzufertigen, die Amerikaner heiraten und in die Staaten wollten und die sich statt dessen schwanger und in Berlin sitzengelassen wiederfanden. Douglas sagte ihr nun, was das »Police Desk« in Wirklichkeit war: Major Dean stellte alles eingehende Material über die ostdeutsche Volkspolizei zusammen, um sich ein genaues Bild von ihr machen zu können. Das Schlimme war nur, daß er jetzt, von seiner Aufgabe erfüllt, allein in den Osten gefahren war, um sich an Ort und Stelle umzusehen. Marjorie trank einen Schluck Kaffee und kostete die Plätzchen. Douglas ließ ihr Zeit, damit sie sich über den Stand der Dinge klar wurde. Endlich sagte er: »Marjorie, es ist besser, Sie erfahren es gleich: Die halten Ihren Mann drüben in Ostberlin fest und legen ihm Spionage zur Last. Und die im Osten scherzen nicht mit einer solchen Beschuldigung — es kann sein, daß sie ihn erschießen.« Während er sprach, hatte er über den Tisch gegriffen und ihr Handgelenk erfaßt. Und in diesem Augenblick änderte sich etwas in ihrer Beziehung. Bis jetzt hatte er sie stets mit »Mrs. Dean« angesprochen und sie mit dem Respekt behandelt, der ihr als Frau seines Vorgesetzten zukam. Doch nun, wo sie vor einem gemeinsamen Problem standen, wurden sie verstärkt durch den Umstand, daß sie fast gleichaltrig waren — zu Verbündeten, und gleichzeitig entfernten sie sich beide innerlich von dem Mann, der soviel älter war und im Mittelpunkt dieses Problems stand. Marjorie fing plötzlich an zu weinen, leise zuerst, doch dann schlug ihr Weinen jäh in wildes, hysterisches Schluchzen um. Die Ereignisse danach hatte sie immer wieder zu verdrängen versucht, bis sie schließlich keine genaue Vorstellung mehr davon hatte, wie sie aufeinander folgten... Douglas hatte lange Telephongespräche geführt... Fremde kamen und verschwanden wieder... Es gäbe da eine Chance, sagte er. Die Ostberliner Polizei hätte Major Dean noch nicht in die Haftanstalt Berlin-Karlshorst überwiesen, welche den Russen unterstand. Die Ostberliner hätten angeboten, Dean gegen ein Dokument auszutauschen, das vergangene Woche aus dem Hauptquartier der Volkspolizei entwendet worden sei. Marjorie zauderte. Der Safe war in der Bibliothek in die Wand eingebaut, an einer verborgenen Stelle hinter dem Schreibtisch. Sie behauptete, sie hätte den Schlüssel nicht und wüßte auch nicht die Zahlenkombination. Douglas glaubte ihr nicht. »Es geht um Ihren Mann, Mrs. Dean!« Nach einer Weile öffnete sie den Safe dann doch und holte das Dokument heraus, das die Ostberliner zurückhaben wollten. Sie sahen 187
es sich zusammen an: Es bestand aus neunundvierzig Seiten und war auf billige, rosafarbige Saugpost hektographiert. Die Aktenzeichen waren überall mit schwarzer Tinte unleserlich gemacht, und die Ränder der Seiten waren verblaßt. Marjorie meinte, wenn es so lange offen herumgelegen hätte, daß die Ränder schon verblaßten, dann wäre es ja wohl doch nicht so streng geheim. Sie überlegte, ob sie nicht Deans Vorgesetzten verständigen sollte, doch Douglas erinnerte sie daran, was das für ein Mann war. »Können Sie sich vorstellen, daß er irgendwelche Verantwortung übernimmt? Er würde nicht mal sein O. K. dazu geben, ein gebrauchtes Papiertaschentuch an Ostberlin auszuhändigen. Nein, er würde alles dem Frankfurter Hauptquartier überlassen - und dann warten wir eine Woche lang auf Antwort. Bis dahin ist Major Dean bereits in Moskau.« Woher er so sicher sei, daß das Dokument nicht doch von entscheidender Bedeutung wäre. Douglas lachte und sagte, es sei höchstens für den ostdeutschen Polizeichef von entscheidender Bedeutung, aus dessen Safe es geklaut worden sei. Und dem ginge es jetzt nur darum, es wiederzubekommen und die ganze Sache schleunigst zu vergessen. »So was passiert doch laufend, Marjorie!« Trotzdem machte sie sich weiter darüber Gedanken. »Dann sehen Sie es sich doch mal selbst an«, hatte Douglas gesagt. Aber Marjorie verstand kein Wort von dem amtlichen Kauderwelsch, in dem der Bericht über den Aufbau der Polizeiorganisation in der Ostzone gehalten war. »Glauben Sie wirklich, daß ein so vorsichtiger Mensch wie Ihr Mann das Ding bei sich zu Hause im Safe aufbewahrt hätte, wenn es streng geheim wäre?« Marjorie erwiderte nichts, doch kam sie ebenfalls zu dem Schluß, daß das sehr unwahrscheinlich sei. Dann hatte Douglas sie dazu überredet, wieder einmal ins Kino zu gehen, erinnerte sie sich. Sie sah sich den Film Jolson Sings Again an. Der Film war deutsch synchronisiert, aber die Schlager wurden im Original gesungen. Es war schon spät, als sie nach Hause kam. Der Sonnenuntergang hinter den Bäumen des Grunewaldes an diesem Abend war ihr unvergeßlich in Erinnerung geblieben. Als sie durch den Vorgarten auf die Haustür zuging, glaubte sie, die Rosen wären schon aufgeblüht. Erst als sie näher herantrat, um sie zu betrachten, entdeckte sie, daß der Kalkanstrich der Hauswand hinter den Büschen mit rotem Blut bespritzt war, und sie wurde hysterisch vor Angst. Stolpernd lief sie durch den Hintergarten auf das Haus zu, in dem die Steiners wohn188
ten, drückte wieder und wieder auf die Türglocke, doch niemand öffnete. Dann kam Douglas in einem offenen, schwarzen Opel-Kapitän. Er überredete sie, die Nacht in der VIP-Gastunterkunft der Kaserne zu verbringen. Die erforderliche Genehmigung hatte er bereits in der Tasche. Erst als Major Dean aus dem Osten wiederkam, kehrte sie in das Haus zurück. Die Volkspolizei hatte Wort gehalten: Sobald die Echtheit des Dokuments bestätigt worden war, hatte man Dean an einen Grenzkontrollpunkt gebracht, und von dort hatte er ein Taxi genommen. Die Steiners hatte sie nie wiedergesehen. Auf ihren Wunsch hin zogen sie nach Spandau in ein kleines, modernes Haus. Bald darauf wurde sie schwanger, und es schien eine Weile, als sei in ihrer Ehe alles wieder gut. Doch in Wirklichkeit war jetzt eine abgrundtiefe Kluft zwischen Hank Dean und seiner jungen Frau. Eine eingehende Untersuchung wurde kurz nach den Vorfall hinter verschlossenen Türen abgehalten, aber was dabei herauskam, wurde nie publik gemacht. Man war sich einig, daß jenes Dokument, das der Volkspolizei zurückgegeben worden war, in der Tat aus Ostberlin stammte. Es war übrigens vorher durch die Hände von Deans Sachbearbeiter gegangen und nur als »vertraulich« eingestuft worden. Steiners Schwager wurde tot und in der Spree treibend aufgefunden. Vor seinem Tode waren ihm »von einer oder mehreren unbekannten Personen« schwere Verletzungen zugefügt worden. In den Akten wurde er als »Flüchtling« aufgeführt. Mrs. Deans Aussage über den Streit zwischen dem Toten und den Steiners wurde als »auf Hörensagen beruhende, nicht beweiskräftige Information« abgetan. Dean erhielt einen Verweis, weil er dienstliche Schriftstücke zu Hause aufbewahrt hatte, und verlor seinen Posten. Mrs. Dean wurde völlig entlastet, denn Stabsfeldwebel Douglas Reid-Kennedy nahm alles auf sich. Er konnte sich zwar ausrechnen, daß ihn nun der ganze Zorn der Untersuchungskommission treffen würde, denn er war ja nur ein Wehrdienstpflichtiger. Doch stand für ihn letztlich keine Militärkarriere auf dem Spiel - er war nicht einmal Offizier. Allerdings wurde seine gelassene Art, alles zuzugeben, auch wieder im Endeffekt belohnt: Er wurde nach New Jersey in ein Rekrutendepot versetzt und vorzeitig entlassen. Doch wurden die Vorgänge dieser Woche in Berlin für Reid-Kennedy wie auch für die Deans zu einem schrecklichen Trauma. Hank Dean wußte, daß ihm nie wieder ein Auftrag anvertraut würde, der soviel Fingerspitzengefühl verlangte und von solcher Bedeutung war. 189
Er wurde von einigen seiner Offizierskameraden geschnitten und begann zu trinken. Als sein anhaltendes Trinken für die Armee untragbar wurde, so daß man ihn zu einer Entziehungskur in ein für diesen Zweck eingerichtetes Militärhospital bei München schickte, kehrte Marjorie mit ihrem Baby Henry-Hope zu ihren Eltern nach New York zurück. Sie traf Douglas wieder- es war reiner Zufall. Doch mit der Zeit wurden ihre Beziehungen ernsthafter und dauerhaft. Es schien, als sei der Alptraum endgültig vorbei, aber im Grunde fing er erst an. Schon im College hatte Douglas als Boxer beachtliche Fähigkeiten gezeigt. Er war auf dem besten Wege, Landesmeister zu werden, da fügte er mit einem unglücklichen Schlag einem Gegner eine schwere Verletzung zu. Douglas war seitdem nicht mehr in den Ring gestiegen. Mit demselben sogenannten Bolo-Punch hatte er übrigens in seinem Zorn auch den heimtückischen Schwager der Steiners niedergeschlagen. Die Tatsache, daß dieser Mensch ein ostdeutscher Spion und Erpresser gewesen war, hatte die Untersuchungskomission veranlaßt, diesen Vorfall einfach zu ignorieren. Aber die Russen waren nicht bereit gewesen, es dabei bewenden zu lassen: Drei Jahre nach den Ereignissen in Berlin wurde Douglas von einem harmlos aussehenden jungen Mann aufgesucht, der ihm die Geschäftskarte eines polnischen Werkes überreichte, das Transistoren herstellte. Nach dem üblichen einleitenden Gerede eröffnete ihm dieser junge Mann, daß durch Aufkauf von Reid-Kennedy-Aktien über Strohmänner jenes polnische Werk inzwischen siebenunddreißig Prozent der Anteile seiner Firma besitze. Lächelnd erklärte der so harmlos aussehende Jüngling, man wisse natürlich, daß siebenunddreißig Prozent nicht einundfünfzig Prozent bedeuteten, doch immerhin habe man in der Hand, was mit dem Konzern zukünftig geschehen werde - man könne Geld hineinstecken oder ihn auf Rasierklingen umstellen, man könne ihn aber auch niederreißen und die Grundstücke auf dem Immobilienmarkt verkaufen. Der junge Mann brauchte Douglas nur noch daran zu erinnern, daß er in Berlin einen »Angestellten« des polnischen Werkes getötet hätte, und er begriff, daß seine Firma nun zum guten Teil im Besitz des KGB war. Man machte ihm das Angebot, ihn jährlich mit eigenen Aktien für seine Mitarbeit abzufinden. Man werde ihm sagen, um welche Elektronikaufträge er sich bei der US-Regierung bewerben solle, und man hätte auch Wege, ihn vorher wissen zu lassen, wie hoch die Kostenvoranschläge seiner Konkurrenz wären, damit er sie unterbieten könne. Als Gegenleistung verlange man von ihm die fortlaufende Beschaf190
fung technischer Informationen aus der gesamten elektronischen Industrie der USA. Falls er sich weigere, drohte der junge Mann, würde man seinen Konzern in den Bankrott treiben und alle »hinrichten«, die in die Ereignisse jener Nacht in Berlin - schuldig oder nicht - verwickelt waren: Marjorie, die Steiners mitsamt Tochter und Douglas ; selbst. Er bat sich eine Woche Bedenkzeit aus. Sie wurde ihm bewil' ligt. Das KGB wußte, daß die Antwort nur eine Zusage sein konnte. • Als Mrs. Reid-Kennedy mit ihrer Geschichte zu Ende war, goß sie sich noch einen doppelten Brandy ein und nahm einen Schluck aus dem Glas. Major Mann ging zur Klimaanlage, schaltete sie von mittlerer auf volle Stärke, blieb vor ihr stehen und ließ sich von der kalten Luft anblasen. Dann drehte er sich um und schenkte Mrs. Reid-Kennedy das gewinnendste Lächeln, das ihm zur Verfügung stand. »Also großartig - geradezu phantastisch«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie mir glauben, wie sehr mir das alles imponiert! Natürlich hatten Sie zwanzig Jahre Zeit, an der Geschichte herumzutüfteln und sich die vielen interessanten Nebensächlichkeiten auszudenken — ganz wie Tolstoi! Der brauchte sogar dreißig Jahre, wenn ich mich recht erinnere.« »Was?« fragte sie und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ein Roman«, sagte Mann. »Meinem Kollegen wird er auch sehr gefallen haben, er mag nämlich Spionageromane.« »Das war die Wahrheit!« sagte sie. »Es war reine Literatur«, sagte Mann. »Nicht nur ein armselig zusammengestoppeltes Lügenmärchen - echte Literatur!« »Nein.« »Die Wahrheit ist, daß Douglas Reid-Kennedy der Kommunistischen Partei beitrat, als er noch ins College ging. Ich kam darauf, als ich erfuhr, daß seine zwei besten Freunde damals KP-Mitglieder wurden und Douglas sich plötzlich fernhielt von dieser übermütigen Bande lustiger Raconteure - spreche ich das Wort auch richtig aus, Mrs. Dean? ... Ra-kon-töre. Dabei war er selber einer, wie Sie erzählen - ein richtiger Raconteur, der mit Ex-Gestapomännern und Filmstars verkehrte, wenn er seinen freien Tag hatte.. Also -wenn mir einer sagt, da ist ein Junge im College, der weigert sich, mit seinen besten Kumpeln aus Jux das Lied von der roten Fahne anzustimmen da denk' ich mir, entweder ist er gar nicht der Draufgänger, für den ihn alle Welt hält, oder die KP hat ihm eine geheime Mitgliedsnummer und die Weisung gegeben, schön die Klappe zu halten. Das 191
macht sie nämlich immer, wenn sie an einen herankommt, der einen Job im Auswärtigen Amt oder in der Gewerkschaft hat - oder wenn einer zufällig einen Papa besitzt, der an der elektronischen Ausrüstung der US-Armee beteiligt ist.« Mann schritt durchs Zimmer zu dem kleinen Bild, auf dem der kleine Douglas von seinem Vater an der Schulter gepackt wird. »Einen prima Kerl haben Sie da als Sohn, Paps - nur hüten Sie sich vor seinen Bolo-Punch!« Er stellte das Bild zurück. »Denn was Sie uns da über die Karriere von Douglas als Boxer erzählen, damals, als er noch aufs College ging, das stimmt haargenau, Mrs. Dean. Nur haben Sie sich viel zu bescheiden ausgedrückt. Denn sehen Sie, er hat immerhin drei Jungs mit seinem Bolo-Punch zu Krüppeln geschlagen! Ein Bolo-Punch ist eine bestimmte Art von Körperhaken - aber das wissen Sie ja längst -, Sie haben den Fachausdruck ja selbst benutzt. Und so einfach, wie Sie erzählen, hat er das Boxen auch nicht aufgegeben er mußte erst striktes Boxverbot bekommen - nicht nur vom College, sondern auch vom Boxverband. Und wir sollten uns da nichts vormachen - Douglas hat nie vorgehabt, seine Naturbegabung verkümmern zu lassen. Im Gegenteil: Leute zu Krüppeln zu schlagen genügte ihm nicht mehr - er entwickelte sich weiter und schlug sie gleich tot. Dem KGB ist das viel früher aufgefallen als der US-Armee - das KGB merkte, daß ihm Mordaufträge Spaß machten. Und deshalb bekam er solche Aufträge als Belohnung, nicht etwa als Aufgabe!« »Nein«, sagte sie. Mann sah ihr zu, während sie sich von neuem einen Brandy eingoß. Ich hatte sie beim Trinken beobachtet und zuerst geglaubt, daß sie ihre ganze Willenskraft anspannte, um nicht betrunken zu werden. Jetzt erkannte ich, daß sie ganz im Gegenteil um alles in der Welt versuchte, sich einen Rausch anzutrinken. Doch in ihrer augenblicklichen Verfassung schien der Alkohol überhaupt nicht zu wirken. »Doch«, sagte Mann sanft, »während Sie Ihren Abstecher nach Paris machten, blieb Ihr Douglas auf der Grünen Insel, fuhr zu einem kleinen, abgelegenen Bauernhof und hackte dort eine deutsche Familie mit dem Spaten in Stücke. Drei Menschen... wir haben sie aus dem Misthaufen ausgegraben. Wenn wir also mit unseren Schuhen verfaultes Zellgewebe auf Ihren Auslegeteppich getragen haben entschuldigen Sie, aber das ist Douglas' Schuld.« »Nein«, sagte sie wieder, doch es klang leiser und weniger überzeugt. »Und dann der Quatsch, den Sie uns über dieses Polizeidokument 192
aufgetischt haben! Mitte der fünfziger Jahre war die sogenannte kasernierte Volkspolizei der Ostdeutschen die Keimzelle ihrer neuen Wehrmacht. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Polizei, von der wir reden, hatte bereits Tanks und MIG-Jagdbomber, Mrs. Dean. Das l Police Desk war daher ungefähr der wichtigste Auftrag, den der CIA zu jener Zeit in Deutschland zu vergeben hatte. Deshalb bekam ihn auch Hank Dean - deshalb hat er auch sein ganzes Können in diese ! Aufgabe gesteckt, bis er seelisch und körperlich am Ende war.« Mann machte eine lange Pause. Wahrscheinlich hoffte er, daß sie sich jetzt rechtfertigen oder vielleicht sogar alles gestehen oder wenigstens aus der Haut fahren würde. Aber nichts dergleichen geschah. Sie drückte sich nur noch tiefer in ihr weichgepolstertes Sofa und trank. Major Mann fuhr schließlich fort: »Douglas Reid-Kennedy war auch damals schon ein sowjetischer Agent, und er erschien in diesem billigen blauen Anzug bei Ihnen, weil er direkt aus dem Ostsektor zu Ihnen kam, wo er mit seinen Genossen besprochen hatte, wie man Ihrem Mann am besten beikommen könne. Und die Schauergeschichte über den Krach zwischen Steiner und seinem Schwager hat die Untersuchungs-Kommission deswegen ignoriert, weil der Mann nicht etwa ein Ostagent war, sondern weil er zu Deans besten Männern gehörte. Er war einer der deutschen Kommunisten, die 1938 nach Rußland geflüchtet waren. Stalin hatte ihn und seine Genossen 1940 an die Gestapo ausgeliefert — als Teil des Abkommens zwischen Rußland und Deutschland, Polen in zwei Teile zu zerstückeln und es untereinander aufzuteilen. Das war der Mann, den Stabsfeldwebel Reid-Kennedy so zusammenschlug, daß Ihre Rosen mit Blut beklekkert wurden. Hank wußte, daß er drüben war, um wichtige Informationen zu sammeln - als er überfällig war, machte Hank sich solche Sorgen um ihn, daß er selbst hinüberging, um ihm beizustehen. Der Sachse entkam, aber Hank ging den Ostdeutschen ins Netz.« »Auch die Untersuchungskommission hat nicht gewußt, daß er ein westlicher Agent war«, wandte sie ein. »Glauben Sie im Ernst, daß man einen ganzen funktionierenden Spionagering freiwillig enttarnt, bloß weil ein Agent dran glauben muß? Nein, die Kommission war froh, daß sich die Sache vertuschen ließ. Und das war für unsern guten Reid-Kennedy natürlich ein enormes Glück.« »Ja«, sagte sie. »Und dann erzählen Sie uns, daß Major Dean einen Verweis bekam, Sie dagegen völlig entlastet wurden. Na, warum wohl? Weil sich 193
Hank nämlich hundertprozentig hinter Sie gestellt hat und den ganzen Dreck auf sich nahm, den Sie sonst eingesteckt hätten. Und so bekam er eine Disziplinarstrafe verpaßt, weil er dieses Dokument offen auf seinem Schreibtisch herumliegen ließ - das hat er jedenfalls ausgesagt, weil er nicht wollte, daß alle Welt erfuhr, daß Sie und Ihr verdammter Liebhaber seinen Safe geknackt hatten und ihn auch sonst auf jede erdenkliche Weise hintergingen...« »Nein, man hat...« »Widersprechen Sie mir nicht«, sagte Mann. »Ich habe gerade eine Kopie des Untersuchungsberichts gelesen. Und behaupten Sie jetzt bloß nicht wieder, Sie hätten Douglas den faulen Zauber geglaubt, er hätte das Dokument der Ostberliner Polizei zurückerstattet. Haben Sie nicht selbst erwähnt, daß die Aktenzeichen unkenntlich gemacht waren? Sie wissen ja, das ist stets das allererste, was ein Agent tut, damit man nicht zurückverfolgen kann, woher das Material stammt. Selbst der Polizeichef von Ostberlin wäre in Schwierigkeiten geraten, wenn ihm eine Erklärung abverlangt worden wäre, wieso alle Aktenzeichen dieses Dokuments unleserlich gemacht wurden. Hören Sie endlich auf, mir was vorzumachen.« Er trat vor das Sofa, doch sie dachte nicht daran aufzuschauen. Sein Gesicht war gerötet, und auf seiner Stirn stand Schweiß - man hätte ihn für denjenigen halten können, der verhört wurde, so unbekümmert und entspannt wirkte sie im Vergleich dazu. »Mit diesem Dokument hatte es sowieso gar nichts auf sich«, sagte Mann. »Das war nur eine von Moskau gestellte Falle, Hank Dean unschädlich zu machen. Ich verwette meine ganze Habe, daß man ihm jede Möglichkeit geboten hat, die Sache geheimzuhalten - nicht nur, als er in Ostberlin im Gefängnis saß, sondern auch später, als er wieder in den Westen zurückgekehrt war. Doch Hank Dean wußte, daß er dadurch in Ihre Abhängigkeit geraten wäre und zum Schluß als Doppelagent geendet hätte. Und dafür war er sich zu schade - dann schon lieber im Suff enden. Als Säufer behält man wenigstens seine Seele, stimmt's, Mrs. Dean? Wir reden hier über Ihren Mann - erinnern Sie sich noch an ihn?« Der Major trat ein paar Schritte zurück. »Aber vielleicht wollen Sie sich lieber nicht mehr an ihn erinnern nach allem, was Sie ihm angetan haben! Denn ihm nur die Karriere zu versauen, das war Ihnen ja nicht genug, nicht wahr? Sie mußten sich auch noch durch sämtliche Kasernen schlafen, hochnäsig waren Sie ja nicht, warum also dann nur mit dem Offiziersclub vorliebnehmen, nicht wahr? Und schließlich mußten Sie sich auch noch mit diesem 194
miesen, kleinen Drecksack einlassen, der täglich die Dienstpost brachte. Allerdings - Sie wußten ja nicht, daß Douglas von Moskau direkt auf Sie angesetzt war...« »Was?« »Ja, wie konnten Sie das auch ahnen - und daß Douglas dann eines Tages den Befehl erhielt, seine Beziehung mit Ihnen möglichst zu intensivieren: Eine Ehefrau kann nämlich keine Aussage gegen Ihren Mann machen, nicht wahr?« »Aber damals ist Hank ja nie auf eine Scheidung eingegangen.« »Nun, jetzt können Sie sich denken, warum. Er hat geahnt, wer hinter dem Ganzen steckte und wollte Douglas nicht noch eine Beförderung verschaffen.« »Das ist nicht wahr!« sagte sie. »Ach, haben Sie wirklich geglaubt, es wäre Ihre gute Erziehung gewesen oder diese feinen, altmodischen Dixieland-Umgangsformen, die Sie sich aus Ihrer billigen Lektüre abgeschaut hatten? Nein, Douglas machte sich nur seine Arbeit ein bißchen einfacher, er ging den bequemsten Weg — nämlich den durch Ihr Bett. Ich kann es mir schon denken - diese netten Plauderstündchen bei Kaffee und Kuchen haben nicht in der Küche, sondern in Hank Deans Bett stattgefunden! Und im Bett hat Douglas Ihnen auch gesagt, daß die Ostberliner Schweinebande Ihren Mann geschnappt hätte!« »Nein«, sagte sie, »Nein, nein, nein!« »Jetzt kommt noch etwas, was ich Ihnen sagen muß - das Hank Dean auch für sich behalten hat...« Er hielt inne. Doch sie mußte gewußt haben, was jetzt kam, denn sie zog den Kopf ein, wie jemand, der eine Ohrfeige erwartet. »Henry-Hope ist Reid-Kennedys Sohn.« »Das stimmt nicht!« sagte sie. »Ich schwöre, daß das nicht stimmt! Sagen Sie das noch mal vor Zeugen, und ich werde Sie verklagen! Für diese Unterstellung werden Sie Ihr Leben lang zu blechen haben!« »Nun, direkt beweisen kann ich's natürlich nicht. Aber ich habe in Hanks Militärpapieren nach seiner Blutgruppe gesucht. Und bei Henry-Hope war's einfach: Er ist nämlich Blutspender, müssen Sie wissen. Und diese beiden Blutgruppen...« Mann sah finster auf die Frau herab und schüttelte den Kopf. »Haben Sie etwas zu dem Jungen gesagt?« fragte sie. »Ich meine, haben Sie eine Andeutung gemacht, daß...« »Nein, Mrs. Dean, das habe ich nicht getan. Ich finde, es ist besser, wenn Henry-Hope weiterhin glaubt, einen großartigen Menschen 195
wie Hank zum Vater zu haben, als daß er in der Ungewißheit leben muß, es könnte vielleicht dieser sadistische Mörder sein. Das bleibt auf jeden Fall unter uns, Mrs. Dean - ein Punkt wenigstens, in dem wir einig sind.« »Armer Henry-Hope!« sagte sie weich. Sie konnte kaum noch sprechen: Endlich schien der Alkohol zu wirken. »Sie hatten vorige Woche Gäste auf der Jacht«, sagte ich. »Wer war denn alles am Montag eingeladen?« Sie sagte: »Ach, Ihr Freund kann ja reden! Ich dachte schon, er wäre wie eine von den aufblasbaren Puppen, für die sie auf den letzten Seiten in den Pornoheften immer Reklame machen.« Ich reichte ihr das Stück Papier, auf dem ich mir die fehlenden Daten aus dem Gästebuch notiert hatte. Sie betrachtete es stirnrunzelnd. »Man bekommt Steuerermäßigung, wenn man Geschäftsleute auf seinem Boot bewirtet. Douglas ließ immer alle unterschreiben, damit er auch ja alle Kosten absetzen konnte. In diesen Dingen war er richtig verbohrt.« »Wer war am Montag da?« fragte ich. Sie suchte nach ihrer Brille, die zwischen Armlehne und Sitzpolster gerutscht war. Nachdem sie sie umständlich aufgesetzt hatte, sah sie sich den Zettel mit konzentrierter Aufmerksamkeit an. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, meinte sie nach einer Weile. »Ich habe so ein schlechtes Erinnerungsvermögen, Douglas hat mich immer damit aufgezogen.« Ich sagte ernst: »Es täte mir sehr leid um Sie, wenn Sie jetzt den Fehler machten und die Tragweite Ihrer Aussage verkennen würden.« »Sehr richtig!« sagte Major Mann und wies mit dem Finger auf die Jacht, die hinter den unruhig im Winde sich wiegenden Palmen im Wasser vertäut lag. »Da hinten haben Sie eine Zeitbombe liegen, Mrs. Dean. Um zehn Uhr dreißig werde ich zur Hetzjagd auf Sie blasen. Von da ab wird es hier nur so wimmeln von Polizisten, Reportern und Photographen. Und alle werden sie gleichzeitig auf Sie einschreien - damit Ihnen das klar ist, Mrs. Dean.« Er sah auf die Uhr. »Sie haben also noch genau achtzehn Minuten Zeit, um zu überlegen, was Sie machen wollen. Und von dieser Entscheidung hängt Ihr ganzes weiteres Leben ab, nämlich, ob Sie es weiterhin als Millionärin verbringen oder in einem Frauengefängnis beenden wollen - oben irgendwo in den Nordstaaten, mit dem Vermerk >Bewährung ausgeschlossen auf Ihrer Akte.« 196
Sie blickte Major Mann einen Moment lang an und sah dann auf ihre Uhr, um zu prüfen, ob die seine auch richtig ging. »Noch siebzehn Minuten«, sagte Mann. »Douglas hat auch legale Geschäfte betrieben«, sagte sie ausweichend. »Wenn Sie anfangen, das mit der anderen Sache in einen Topf zu werfen, werden Sie nie etwas ans Licht bringen.« »Lassen Sie das unsere Sorge sein«, erwiderte ich. »Man bekommt keinen dicken Regierungsauftrag, wenn man auf dem Hintern sitzen bleibt und auf einen Telephonanruf wartet. Douglas hat sich tüchtig ins Zeug gelegt, wenn er auf einen Auftrag aus war - und das hat man auch von ihm erwartet.« »Wer hat das erwartet?« »Na, die Leute vom Senatskomitee, natürlich.« »Welchem Senatskomitee?« »Na, dem für internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit, oder wie es heißt. Sie müßten eigentlich schon von ihm gehört haben.« »Und ob wir von ihm gehört haben«, sagte ich. »Und wer von den Herrschaften kam gewöhnlich?« »Ach, sie kamen wirklich nur zum Fischen«, sagte sie. »Und niemand konnte mich je dazu bringen, auf eine Angelfahrt mitzugehen. Darum habe ich sie auch nie kennengelernt. Aber es waren nur Freunde meines Mannes, mit denen er zum Fischen fuhr—wie gesagt, reine Privatsache. Douglas hat sie nur deshalb ins Gästebuch eingetragen, damit er sie von der Steuer absetzen konnte.« »Namen! Verdammt noch mal - nennen Sie endlich einen Namen!« sagte Mann. Sie verschüttete vor Schreck ihren Brandy. »Mr. Hart - Mr. Gerry Hart. Er hat meinem Mann immer neue Regierungsaufträge verschafft.« »Dürfte ich wohl Ihr Telephon benutzen, Mrs. Reid-Kennedy?« fragte Major Mann.
197
KAPITEL 17
Sie sind aus Marmor, Stahl, Chrom und getöntem Glas gebaut, diese schimmernden Regierungsgebäude, die das Stadtbild von Washington, D.C., prägen. Vom Dach eines solchen Gebäudes kann man die halbe Welt überblicken - vorausgesetzt, man ist Politiker. Diese Hochhäuser haben keine Namensschilder, nur eine Hausnummer und Initialen. So heißen die ßürohäuser der ßundesstaaten zum Beispiel BuBs und die Gebäude mit den Büros der Abgeordneten ABs. Die mietfreie Luxussuite, in der Senator Greenwood sich ungeniert die Zehennägel schneiden, dabei seinen Martini schlürfen und mit einem Auge den bei Büroschluß einsetzenden Verkehr auf der Potomac-River-Autobahn beobachten und mit dem anderen ständig das Weiße Haus im Auge behalten konnte - diese Suite befindet sich im Bürogebäude des Senats - kurz, im SeB. Die schweren Seidenvorhänge waren zur Seite gezogen, so daß wir durch die großen Fenster einen Blick über die ganze Stadt hatten. Ich konnte den Potomac River und weiter entfernt den Washington-Kanal ausmachen. In ihrem Wasser spiegelte sich der Himmel, und sie sahen wie zwei stählerne, kalte Dolche aus, die tief in die Eingeweide der Stadt getrieben waren. Senator Greenwood bewunderte einen Augenblick lang mit uns das Panorama. »Um diese Zeit trinke ich gewöhnlich einen Bourbon mit Ginger Ale«, lächelte er und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Ein Senator, der noch soviel Haar sein eigen nennt, daß er es zurückstreifen muß, hat freilich allen Grund zum Lächeln - auch ohne diese palastartigen Büroräume, das importierte Mobilar und den Barschrank aus Rosenholz, gefüllt mit den erlesensten Flaschen. »Also, was darf's denn sein, Jungs?« »Tonic Water«, sagte ich. »Ein Bourbon mit Ginger Ale wäre gerade richtig, Sir«, sagte Mann. »Ich hatte schon gefürchtet, Sie würden jetzt sagen, im Dienst müßten Sie alkoholische Getränke leider ablehnen«, bemerkte Greenwood. Er warf ein paar Eiswürfel in bereits so kalte Gläser, daß sie in der Zimmertemperatur sofort beschlugen, und öffnete geschickt die Verschlußkappen dreier kleiner, in Reih und Glied aufgestellter Flaschen: jede gab einen kurzen Knall von sich. 198
»Ich würde nie zu einem Drink kommen, wenn ich mich an diese l Vorschrift halten würde«, erwiderte Mann. »Natürlich, natürlich«, antwortete Greenwood zerstreut. Offenbar Ihatte er schon vergessen, worum es gerade ging. Er stellte unsere lürinks auf die antiken Beitische neben unseren Barcelonasesseln, die nebeneinander vor seinem Schreibtisch angeordnet waren. Dieser war nun wieder hypermodern: Auf zwei Gestellen aus rostfreiem Stahl lag eine schlichte Platte aus Panzerglas. Greenwood schritt gemessen um ihn herum und setzte sich in seinen italienischen Drehstuhl. Da der Schreibtisch vorn offen war, schienen die auf der Glasplatte aufgehäuften Akten irgendwie im Raum zu schweben. Vielleicht wollte Senator Greenwood mit diesem transparenten Möbel seinen Besuchern beweisen, daß er keinen Derringer schußbereit unter der Schreibtischplatte versteckt hielt. »Also Mr. Gerry Hart«, sagte Greenwood, um uns anzudeuten, daß der Austausch von Höflichkeiten jetzt beendet sei. »Ja«, sagte Mann. »Ihren Bericht habe ich bekommen«, sagte Greenwood. »Es ist weniger ein Bericht, Senator, als ein für Sie privat bestimmtes Memorandum«, erwiderte Mann. »Ja, also wissen Sie, die Sprachregelungen des CIA sind mir nicht so geläufig«, meinte Greenwood in einem Ton, der sich jede Belehrung verbat, und lächtelte. Für sein Lächeln benutzte er sehr regelmäßige, sehr weiße Zähne. Wie sein aufmerksamer Blick, sein ernsthaft zustimmendes Kopfnicken und sein gedankenvolles Schweigen, wies auch sein Lächeln eigentlich ständig darauf hin, daß er natürlich im Grunde viel wichtigere Dinge im Kopf hatte. Er war ein gutaussehender Mann, ganz großstädtisch und ohne eine Spur von Hinterwäldlertum, obwohl manche Frauen gerade das vorzuziehen schienen. Wenn er es geschafft hätte, noch zehn Kilo abzunehmen, wären ihm auch am Swimmingpool noch jede Menge bewundernde Blicke sicher gewesen. Doch auch mit seinem raffiniert geschnittenen Maßanzug aus hellgrauem Mohair, dem handgearbeiteten durchbrochenen Schuhwerk, den manikürten Fingernägeln und dem gepuderten Gesicht, das in der Farbe an ein frischgebackenes, mehlbestäubtes Landbrot erinnerte, sah er nach meiner Ansicht wie ein richtiger Frauenheld aus. Auf dem Weg in sein Büro hatten Mann und ich den Senator mit dem Spiel »Wer ist was in einem Wort?« aufs Korn genommen. Dem Major war als erstes »Angeber« eingefallen, und ich hatte auf Anhieb »Showman« gesagt, während Greenwood sich selbst vermutlich als »jungenhaft« bezeichnet hätte. 199
Der Senator blendete uns ein zweites Mal mit seinem hinreißenden Lächeln: »Um ganz offen zu sein, Freunde, wir Politiker verlieren mit Händeschütteln so viel Zeit, daß wir kaum zum Lesen kommen.« »Tatsächlich!« sagte Mann. »Nun, zu meiner Verteidigung muß ich wohl doch hinzufügen, daß ich täglich im Durchschnitt einhunderttausend Worte lese, also immerhin mehr als einen Roman!« Das finde ich immer so sympathisch an Politikern: Sogar ihre Selbstkritik ist nie persönlich gemeint. Major Mann sagte: »Ihr enormer Einfluß und Ihre persönliche Ausstrahlung im Senat setzen Sie der Gefahr aus, daß Sie ständig einen Anhang von ehrgeizigen, skrupellosen Karrieremachern im Schlepptau haben, Senator...«Ich sah, wie sich Greenwoods Gesicht verfinsterte, und Mann fuhr bedeutend hastiger fort: »... und seit Sie in den wissenschaftlichen Unterausschuß des Senatskomitees für Internationale Zusammenarbeit gewählt wurden...«, Greenwood gab durch ein Lächeln zu verstehen, wie hoch er die fehlerlose Aufzählung der Komitee-Namen anrechnete, »... gehören Sie natürlich zu den mächtigsten Männern der Vereinigten Staaten.« Greenwood stimmte mit einem kurzen Nicken zu. »Bevor Sie weitersprechen, Major, sollte ich Sie vielleicht daran erinnern, daß der CIA im SeB über ein Büro verfügt, das normalerweise den Kontakt mit Ihnen aufrechterhält.« »Wir wollen aber den Kreis der Eingeweihten möglichst kleinhalten«, entgegnete der Major. »Den Kreis der Eingeweihten kleinhalten«, wiederholte der Senator, »das höre ich von Ihrem Amt in letzter Zeit sehr häufig.« »Falls wir das CIA-Büro im SeB mit einbeziehen, könnte Mr. Gerry Hart Wind davon bekommen.« »Und das wollen Sie nicht?« »Nein, Sir, auf keinen Fall.« »Worüber reden wir eigentlich? Über vertrauliche Informationen oder über eine Indiskretion der Presse oder über das wissenschaftliche Material, das mein Komitee zu veröffentlichen beschlossen hat was euch CIA-Leuten vielleicht gegen den Strich geht?« »Wir reden über wichtige Geheiminformationen, die vermittels eines Spionagerings der UdSSR laufend zugespielt werden.« »Gerry Hart soll für die Russen arbeiten?« fragte Greenwood. Er trank einen Schluck. »Hart ist ein Mann, der früher mal für Ihre Behörde tätig war — wissen Sie das?« »Genau, Senator, Sie haben's erfaßt - deswegen weiß er auch so 200
gut, wie man der anderen Seite Material zuschiebt!« Major Mann spielte Dankbarkeit dafür, daß der Senator ja wohl einer Meinung mit ihm war. »Und deshalb würden wir jetzt gern sein Landhaus bei Brandywine unter die Lupe nehmen.« »Und sein Appartement in Georgetown«, sagte Greenwood kühl. Mann nickte. »Und...«, er verstummte und machte - sekundenlang anscheinend unsicher geworden - eine matte Handbewegung. Selbst durch die doppelt verglasten Scheiben drang der schrille Schrei von Polizeisirenen zu uns herauf: Es war die motorisierte Eskorte einer beflaggten Lincoln-Limousine. Wir blickten ihr nach, bis sie die Brücke passiert hatte - offenbar war sie auf dem Weg zum Flughafen. »... und sein Büro«, sagte Greenwood. »Und sein Büro«, sagte Mann. »So ist es.« »Und doch, Major, müssen Sie mir gleichzeitig das Eingeständnis machen, daß Sie keinen einzigen schlagenden Beweis gegen ihn haben?« Greenwood lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und stieß sich sachte ab, um auf den Potomac blicken zu können. Der Fluß schien, von hier aus gesehen, keine Strömung zu haben. Aus der Ferne hörte man ein dumpfes Donnergrollen. »Es kommt darauf an, was Sie unter einem >schlagenden Beweise verstehen«, sagte der Major betrübt. »Wir sind bei einer Nebenermittlung auf seinen Namen gestoßen.« Ich spürte deutlich Manns Unentschlossenheit - wie er hin und her überlegte, ob er unseren Verdacht gegen Gerry Hart noch ein bißchen unterstreichen oder ob er ihn als geringfügig darstellen und vorgeben sollte, das alles sei nur ein Routinecheck, um ihn auf unserer Liste abzuhaken. Dann kam er offensichtlich von beiden Möglichkeiten ab und wollte lieber gar nichts sagen. Er nippte nur an seinem Drink und sah den Senator erwartungsvoll an. Greenwood zog ein Bein an und beschäftigte sich damit, den Schnürsenkel seines handgefertigten Schuhs zuzubinden. »Was ich unter >schlagendem Beweis< verstehe, lieber Major«, sagte er in einem sanften und doch überzeugten Ton, den ich von seinen Wahlreden her zur Genüge kannte, »ist das gleiche wie das, was jeder Bürger in unserem Lande darunter versteht, nämlich, daß er vor einem Gericht ausreichen muß, einen Menschen schuldig zu sprechen.« Er schaute von seinem Schnürsenkel auf und lächelte den Major an. Ich fand es reine Zeitverschwendung, noch weitere Worte zu verlieren - wir wußten doch alle, wie das jetzt weitergehen würde. Doch Mann probierte es noch einmal. »Wir befinden uns im Vorstadium 201
einer komplizierten und äußerst heiklen Ermittlung, Senator Greenwood, und wir haben nach Ihrer formaljuristischen Auslegung noch keine ausreichenden Beweise, doch das besagt ja nicht, daß sie nicht existieren. Ich möchte Sie hiermit um Ihre Unterstützung ersuchen, damit wir sie erbringen oder aber Mr. Hart aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen können.« Greenwood heftete seinen Blick starr auf den Major und sagte: »Zunächst dachte ich, O.K., sollen sie ruhig kommen, schadet ja nichts, wenn man sie sich mal aus der Nähe besieht. Aber jetzt, wo Sie nun hier sind, muß ich gestehen - Sie gefallen mir ganz und gar nicht.« Die beiden Männer durchbohrten sich mit Blicken. »So, und jetzt raus!« sagte Greenwood. »Und nehmen Sie den Hausierertyp da gefälligst mit!« Er wandte den Blick von Mann ab, um anzudeuten, daß er mich meinte. Mann erhob sich, ohne ein Wort zu sagen, und ich ebenso. Greenwood stand nicht auf. Er sagte: »Habt ihr wirklich geglaubt, ich würde euch Wolfsgesindel Gerry zum Fraß vorwerfen?« Mann erwiderte mit einem Anflug eiskalten Lächelns: »Sie meinen - in den Schnee, und so? Passen Sie lieber auf, daß Gerry Hart Sie nicht rücklings von der Troika stößt, falls er Ballast abwerfen muß!« »Sie haben mich gehört«, sagte Greenwood leise, »also verschwinden Sie jetzt!« Er ließ uns bis zur Tür gehen, ehe er uns noch einmal ansprach. Doch nun hatte seine Stimme und sein Verhalten wieder den alten Charme. »Ach, noch etwas, Major Mann«, sagte er und wartete, bis sich Mann nach ihm umgedreht hatte, »für den Fall, daß Sie vorhaben, einen kritischen Bericht zu verfassen, aus dem hervorgeht, daß ich Ihnen meine Mitarbeit verweigert habe, möchte ich nochmals darauf hinweisen, daß ich mit dem CIA nur auf dem legalen Weg verhandle - das heißt über das CIA-Büro im SeB. Und ich würde es bedauern, wenn ich feststellen müßte, daß Sie sich an einen meiner Mitarbeiter herangemacht haben, bevor nicht Ihre Dienststelle mich persönlich darum ersucht hat. Haben Sie mir folgen können, Major?« »Ja, Senator. Sie haben Ihren Standpunkt sehr klar zum Ausdruck gebracht.« Auf dem Weg zurück zum Wagen blieb Major Mann stumm. Dann fuhr er stundenlang - so schien es mir jedenfalls - ziellos in der City herum: durch die malerischen Straßen von Georgetown, wo Gerry Hart sein schickes Appartement hatte, an den gepflegten Rasenflä202
eben des Weißen Hauses vorbei, die jetzt im Winter freilich farblos waren, durch die Ghettos der Schwarzen und schließlich über den Inner Loop Freeway wieder zurück. Als er endlich den Mund aufmachte, von den gemurmelten Flüchen abgesehen, die sich gegen andere Autofahrer gerichtet hatten, sagte er: »Vor einer Woche war der Außenminister irgendeiner kleinen westafrikanischen Republik zu Gast bei uns - also großes Essen bei der Regierung. Am nächsten Tag machte er einen kurzen Ausflug auf der Autobahn und wurde in Virginia von ein paar weißen Fanatikern aus einem Hamburger-Lokal einfach rausgeschmissen.« »Tatsächlich«, sagte ich höflich. Das war so eine der üblichen Standardanekdoten, die man in Washington zu hören bekommt, und wie die meisten Washingtoner Klischees stimmte die Geschichte wahrscheinlich sogar. Manns Gedanken arbeiteten fieberhaft weiter: »Das ist ein Hofstaat hier in Washington, das ist keine Regierung- das ist ein mittelalterlicher Hofstaat. Verstehen Sie mich?« »Nein«, sagte ich. »Wie in einem mittelalterlichen Palast. - Der Präsident bringt seine eigenen Leute mit und wirft alle raus, die vorher da waren. Und nur ein paar seiner Leute sind wirklich vom Volk gewählt, die meisten sind Außenseiter... Höflinge: Hofnarren, Akrobaten, Jongleure und Märchenerzähler... jede Menge Märchenerzähler.« »Ritter, Knappen und Don Quichottes«, ergänzte ich, »tapfere Helden und anmutige Frauen - nun ja, von der Seite könnte man's auch sehen.« Der Verkehr war praktisch zum Stillstand gekommen, und Mann fluchte vor sich hin. Büroschluß in einem der gigantischen Regierungsbüros - eine Flutwelle von Sekretärinnen brandete durch die Autokolonnen zur anderen Straßenseite. »Und was ist Greenwood?« fragte ich ihn. »Hofnarr oder Staffagefigur?« »Er ist der Günstling des Hofes«, sagte Mann, »er hat des Kaisers Ohr und eine Armee von Gefolgsleuten hinter sich.« Der Verkehr hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, die Fußgänger retteten sich nach allen Seiten, und Mann hupte, schoß ruckartig vor und wechselte mit rücksichtsloser Geschicklichkeit die Spur, was den Lastwagenfahrer hinter uns völlig aus dem Häuschen brachte. »Greenwoods Armee besteht nicht nur aus Leuten, die ihm einen Gefallen schulden und denen, die möchten, daß er ihnen einen Gefallen tut«, fuhr Mann 203
fort, »sondern auch aus dem Haufen Trottel, für die wir vom CIA ein rotes Tuch sind. Der CIA hat eine Menge Feinde, und jetzt werden uns unsere eignen Leute zum Vorwurf machen, daß wir sie durch unseren Besuch bei Greenwood unter seiner Flagge endgültig mobilisiert haben.« »Hätten Sie denn nicht genauso wie Greenwood gehandelt?« »Was hat er denn getan?« »Er hat uns hingehalten - er will vermeiden, daß wir Hart in aller Öffentlichkeit auseinandernehmen und dabei sein eigenes Büro mit Blut und Dreck bekleckern. Meiner Theorie nach wird er Gerry Hart vorsichtig aus dem Verkehr ziehen und ihn im gegebenen Moment mit einem Stein um den Hals im Meer ertränken.« »Sie wollen mich wohl aufmuntern«, meinte der Major verbittert. »Wenn Gerry Hart wirklich so ein hohes Tier im KGB ist, wie wir beide es mehr und mehr vermuten, dann hätte er bis dahin die ganze Unternehmung längst einem anderen Kader übertragen. Und könnte wahrscheinlich jeden Verdacht von sich ablenken.« »Werden Sie jetzt gegen Hart direkt vorgehen?« »Im Augenblick nicht.« »Wollen Sie vielleicht - höherenorts...?« fragte ich. Mann lachte tonlos: »Denken Sie vielleicht an den Präsidenten? So wie im Kino, wenn ein weißhaariger Schauspieler, von dem Sie gedacht haben, daß er schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet hat, Ihnen plötzlich feierlich die Hand schüttelt und sagt — >Freund, das war meine letzte Rolle, stell dich trotzdem an und kauf dir 'ne Karte, auch wenn man mich nur unscharf ins Blickfeld bringt.< Nein, so ist das leider nicht! Aber diesem Greenwood, dem werde ich eins verpassen, daß es ihm kalt den Rücken runterläuft!« »Wie?« »Er möchte also nicht, daß wir sein Büro mit Gerry Harts Blut vollkleckern? Also gut - ich werde ihm mit eigner Hand die Nase in das Blut und den Schweiß drücken, die bei Harts Vernehmung rauskommen!« »Und wie?« »Er will also nicht mit uns zusammenarbeiten? Gut, dann werde ich ihm einmal ein paar Tricks vorführen. Er hat also Angst davor, was seine Freunde sagen könnten, wenn er etwas mit dem CIA zu tun hat? Lieber Freund, ich werde unsere Initialen auf seine Gartenmauer malen und ihm mit jeder Post ein Dankschreiben für seine Mitarbeit zuschicken. Ich werde diesen Hund zum berüchtigsten CIA-Spitzel und zum Stadtgespräch von ganz Washington machen.« 204
»Das wird ihm aber gar nicht gefallen«, meinte ich. Mann lächelte: »Wäre es nicht prächtig, wenn wir ihm auch noch eine offizielle Belobigung verschaffen könnten?« Wir schienen seit einiger Zeit im Kreis herumzufahren. Ich fragte: »Wollen wir über Nacht hier bleiben?« Mann biß sich auf die Lippen: »Bessie ist in unserem Hotel sicher schon die Wände hochgegangen... heute ist unser Hochzeitstag. Vielleicht sollte ich ihr eine Kleinigkeit mitbringen.« »Das heißt also, Sie bleiben hier?« »Wenn Sie ein Schokoladengeschäft und daneben einen Parkplatz sehen, sagen Sie mir bitte Bescheid.« Es hieß, dieser Winter sei der regenreichste seit Menschengedenken - aber das wird ja immer behauptet. Der Himmel hatte eine schmutzige Orangefarbe angenommen, und das Wasser kam jetzt in Strömen herunter. Es war ein richtiger tropischer Platzregen, und man wurde wieder einmal daran erinnert, daß Washington, D.C., fast so südlich liegt wie Tunis. Mann drehte die Scheibenwischer an, und vom Blech der Motorhaube stieg feuchter Dunst auf. Der Major wollte im Radio Nachrichten hören, doch atmosphärische Störungen und Hochspannungsleitungen machten den Empfang unmöglich. Nervös schüttelte er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an - alles mit einer Hand. Ich wollte ihm helfen, aber er lehnte brüsk ab. Wir waren auf der South Capitol Street und fuhren in Richtung Anacostia Freeway, und Mann überlegte noch immer, ob er in Washington bleiben und Greenwood die Hölle heiß machen solle, als das Autotelephon klingelte. Ich hob den Hörer ab: Der Anruf kam aus der Informationszentrale in Langley. »Hier Car Hop - bitte kommen«, sagte eine Stimme. »Hier Cheer Leader - was gibt es?« fragte ich. »Mitteilung von Jonathan«, sagte die Stimme. »Fabian hat heute um vierzehn Uhr dreißig einen Selbstmordversuch unternommen. Er ist nicht in Lebensgefahr. Ich wiederhole: Er ist nicht in Lebensgefahr. Aber er muß für sieben bis zehn Tage ins Krankenhaus. Mitteilung klar empfangen? Bitte kommen.« »Five by Five, Car Hop.« »Verdammter Mistkerl!« fluchte Mann. Langley fuhr fort: »Jonathan fragt, ob Ambrose informiert werden soll, over.« Ich schaute den Major an, und er biß sich auf die Lippen. Ich reichte ihm den Hörer. 205
Langley fragte: »Mitteilung klar empfangen, Cheer Leader?« Mann sagte: »Laut und deutlich, Car Hop. Information nicht weitergeben. Ende - Ende.« Er legte den Hörer auf. Der Major schaute mich aus den Augenwinkeln an. Ich wandte mich ihm zu. »Tut mir schrecklich leid«, sagte er, »aber das ist eine klassifizierte Bedarfsinformation.« »Ach, ja?« sagte ich wütend. »Nicht vielleicht eher ein klassifizierter Bedarf, keine Information zu geben? Wer, zum Teufel, ist also Ambrose?« Mann gab mir keine Antwort. »Die mit A-Code verschlüsselten Agenten kommen direkt von der Operationsabteilung. Wir haben also bei diesem Unternehmen noch einen weiteren Top-Agenten irgendwo herumwimmeln. Und Sie haben mir das verschwiegen!« »Es handelt sich um einen gefährlichen Sonderauftrag«, versuchte Mann sich zu rechtfertigen. »Und was unter die Rubrik klassifizierte Bedarfsinformation< fällt, erfährt nur, wer es unbedingt wissen muß.« »So soll es also von nun an zwischen uns weitergehen?« sagte ich. »Bitte, wie Sie wollen. Nur kommen Sie mir später nicht mit Beschwerden.« »Miss Bancroft«, sagte Mann. Nun war ich an der Reihe, ziemlich lange den Mund zu halten. »Red - ein A-Code-Agent!« sagte ich schließlich. »Es hat mich zehn Jahre gekostet, das zu werden.« Mann drückte die Zigarette aus, die er gerade erst angezündet hatte. »Nur auf Zeit, solange sie auf Miss Bekuv angesetzt ist. Aber sie hat keine Entscheidungsgewalt -«, er deutete aufs Telephon, »- das haben Sie ja eben mitbekommen. Sie darf keine eigenen Berichte machen, sondern muß mir das gesamte Material aushändigen. Im Grunde ist sie eine Art von höherem Kindermädchen.« Er klopfte auf dem Deckel des Aschenbechers herum, um ihn richtig zu schließen, aber der Rauch von dem schwelenden Stummel quoll immer weiter heraus. »Seit wann arbeitet sie für den CIA?« »Ist es immer noch nicht aus — zwischen Ihnen und Red Bancroft?« Der Zigarettenstummel qualmte immer heftiger, und Mann schlug den Aschenbecher noch einmal ganz energisch zu - aber das nützte gar nichts. »Also - es ist immer noch ernst?« »Ich weiß nicht.« »Mhm - wenn ein Mann sagt, daß er nicht weiß, ob eine Sache wie die noch ernst ist, dann ist sie das meistens noch.« 206
»Kann schon sein«, gab ich zu. »Jetzt müssen Sie sich das aber für ein paar Tage aus dem Kopf schlagen, denn Sie werden auf der Stelle in diese Klapsmühle nach Norfolk fliegen und unserem Freund Jonathan die Hosen stramm ziehen. Und richten Sie dem verrückten Professor aus, wenn er noch mal Selbstmord begehen will und nicht weiß wie, dann soll er sich nur an mich wenden, ich werde ihm dabei behilflich sein.« »O.K.«, sagte ich. »Zeigen Sie ihm auch ein paar Photos von Gerry Hart, und nehmen Sie ihn kräftig in die Zange, er weiß immer noch eine Menge mehr, als er zugibt.« Mann öffnete den Aschenbecher und gab dem Zigarettenstummel endlich den Gnadenstoß. »Ich könnte mit dem Wagen nach Norfolk fahren«, schlug ich vor. »Wenn ich jetzt sofort losfahre, käme ich zur gleichen Zeit an wie das Flugzeug.« Das war natürlich eine Übertreibung. Mann lächelte: »Um in St. Petersburg eine Pause einzulegen, nicht wahr? Und Miss Bancroft zu besuchen, was?« »Ja«, sagte ich. »Nein, Sie nehmen das Flugzeug, mein Junge. Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß Sie die Finger von ihr lassen sollen. Muß ich Ihnen das noch schriftlich geben?« »Aber...« Er sagte: »Wir sind doch Freunde - wirklich gute Freunde, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich. Ich sah ihn an und wartete, was diesen erstaunlichen, für Major Mann ungewöhnlich persönlichen Worten folgen würde. »Wieso?« Was immer er mir anvertrauen wollte - er hatte es sich plötzlich anders überlegt. »Ach, ich wollte Ihnen nur sagen - sehen Sie sich lieber ein bißchen vor.« Er wechselte die Fahrbahn, um die Autobahn zu verlassen. »Ich bringe Sie zum Flugplatz«, sagte er. Ich hätte seine Anweisung befolgen sollen. Ich habe es nicht getan. Und was dann später geschah, war allein meine Schuld. Ich meine damit nicht, daß ich die Ereignisse noch irgendwie beeinflußt hätte dafür war es längst zu spät. Doch ich hätte mir all den Horror ersparen können. Hätte ich mich doch bloß von Mann davor bewahren lassen er hatte es ja, weiß Gott, die ganze Zeit ehrlich versucht!
207
KAPITEL 18
Nachdem mich Mann am Flugplatz abgesetzt hatte, ging ich schnurstracks zum nächsten Autoverleih und verlangte einen möglichst schnellen Wagen. Ich bekam nach einigem Hin und Her schließlich einen Corvette Stingray. Während ich auf ihn wartete, erstand ich eine herzförmige Schachtel mit Schokoladenfondants. Die alte Frau hinter der Theke schien froh zu sein, daß sie das Zeug endlich loswurde. Mein Wagen glänzte metallic-golden. Er hatte echte Lederpolster und einen V-8-Motor mit zweihundert PS. Und kaum hatte ich die Autobahn erreicht, fuhr ich die ganze Strecke nach Süden nur noch mit Vollgas. Ich machte mir vor, daß ich diesen schnellen Wagen gemietet hätte, weil ich nach einem kurzen Abstecher bei Red pünktlich in Norfolk eintreffen wollte, um von da Mann anzurufen und ihn im Glauben zu lassen, ich sei tatsächlich geflogen. Doch wenn ich es mir recht überlege, wird mir klar, daß dieser Wagen auch etwas mit meiner wilden Entschlossenheit zu tun hatte, Reds Liebe zurückzugewinnen und sie dazu zu bringen, meine fast verzweifelte Leidenschaft mit dem gleichen Gefühl zu erwidern. Red Bancroft, Mrs. Bekuv und ein paar Revolvermänner, die in drei Schichten Wache schoben, waren in einem Haus auf dem Lande in der Nähe von St. Petersburg/Virginia versteckt. Die Nacht war stockdunkel, das Haus schwer zu finden. Nach langer, eintöniger Fahrt fing sich im Licht meiner Scheinwerfer schließlich ein Schild: Stellplätze mit elektrischem Anschluß für Wohnmobile und Campingwagen. Es waren nur zwei Wohnwagen da. Sobald ich aus dem Auto stieg, hörte ich die Tür des mir am nächsten stehenden aufklicken. Auf der anderen Straßenseite hatte ich inzwischen ein Schild entdeckt, das auf »Pedersons Gewürz- und Obstfarm« hinwies. Ich parkte meinen Wagen neben der Straße dicht vor einem Reklameschild Flieg doch mal wieder. Der Mann leuchtete erst einmal den Rücksitz meines Autos aus und öffnete sogar den Kofferraum, um sicherzugehen, daß ich allein gekommen war. Im Wohnwagen saßen noch zwei von derselben Sorte: gewaltige Kerle in dicken Wolljacken und hohen Schnürstiefeln. Doch ihre Gesichter waren blaß und schwammig, und sie sahen kaum wie Leute aus, die im tiefsten Winter begeistert zum Camping fahren. 208
Hinter den Wohnwagen sah ich drei Autos und ein paar Wachhunde, die an einem Pfosten angekettet waren. »Ich nehme an, die Sache ist in Ordnung«, sagte der eine zögernd, als er mir meinen Ausweis und die CIA-Legitimation über den Tisch zurückschob. »Folgen Sie einfach dem Weg durch das gelbe Tor dem Schild nach, das zur Farm weist. Ich werde Sie inzwischen telephonisch anmelden.« Er machte das Licht aus, bevor er die Tür öffnete: Offenbar war er ein vorsichtiger Mensch. »Lassen Sie den Anruf - es soll eine Überraschung sein.« Er sah mich interessiert an. Später habe ich mich natürlich gefragt, wieviel er wohl von dem wußte, was da oben vor sich ging. Doch er war nicht der Mann, der einem Fremden so ohne weiteres einen Rat gab. »Wie Sie wünschen«, sagte er. Ich legte die Wagenschlüssel auf den Tisch und stapfte durch den Morast davon. Der Weg zum Haus war weiter, als ich dachte. Erst als ich näher herangekommen war, half mir das Licht aus den Fenstern des oberen Stockwerks, nicht von dem Trampelpfad durch den Garten und die anschließende Obstplantage abzukommen. Die Küchenfenster hatten keine Vorhänge. Ich blickte neugierig hinein. Nach der Küchenuhr war es genau Mitternacht. Ich sah, daß bereits das Tablett mit dem Porzellangeschirr und einem Blumenstrauß für das morgige Frühstück hergerichtet war. Wie aus weiter Entfernung hörte ich plötzlich mehrere Stimmen. Die Küchentür war nicht abgesperrt - bei der Überwachung war ja wohl auch nicht mit einem Einbruch zu rechnen. Ich trat ins Haus und ging durch die Eingangshalle in den Salon, aus dem die Stimmen kamen. Mitten auf dem Teppich lag ein Backgammonspiel, und rundherum lagen Kissen. Das Zimmer war nur durch das rauchblaue Licht des Fernsehers erhellt, und die Stimmen, die ich vor dem Küchenfenster gehört hatte, kamen aus dem Apparat: Ein Fernsehquiz war im Gange. Ein paar Akkorde auf der Hammondorgel, Applaus der Studiogäste: »... Und nun zur Zehntausenddollarfrage... Finger bereit zum Knopfdrücken, meine lieben Gäste... 1929 hat Douglas Fairbanks seinen ersten Tonfilm gedreht... Jetzt die zweiteilige Frage: Erstens, wer spielte die weibliche Hauptrolle? Und zweitens, wie hieß der Film?« In der Luft hing noch der Mentholgeruch von Reds Zigaretten. Ich schaltete das Licht an - zwei große chinesische Vasenlampen mit Pergamentschirmen leuchteten gleichzeitig auf - niemand war im Raum. Ein Holzfeuer verglimmte im Kamin, daneben standen ein Krug 209
Wasser und ein Kübel mit schmelzendem Eis. Dann sah ich auch eine Whiskyflasche und zwei Gläser — beide leer. Die Fernsehwettbewerber überlegten noch. Und während dieses Schweigens hörte ich deutlich ein Stöhnen - es kam aus dem ersten Stock - »Oh mein Gott!« Es war eine Frauenstimme - Katrinka Bekuvs Stimme -, und dann folgte ein schriller, unterdrückter Schrei. Ich weiß nicht mehr, ob ich viel Lärm verursachte, als ich die Treppe - zwei Stufen auf einmal - hochrannte, ich weiß auch nicht mehr, ob ich etwas nach oben schrie oder sonst was tat. Ich weiß nur noch, daß ich im Türrahmen des Schlafzimmers stand und die beiden anblickte. Ich entsinne mich, wie braun sich der nackte Leib Katrinka Bekuvs von der blassen Haut Red Bancrofts abhob, die über ihr kniete - das Stöhnen, das mich unten alarmiert hatte, war weiß Gott kein Stöhnen der Qual gewesen. Diese Szene ist für immer in mein Gedächtnis eingebrannt: Katrinka Bekuv mit schlaffen, ausgestreckten Gliedern, den Kopf nach hinten geworfen, so daß ihr blondes Haar fast den Boden berührte... und Red, die sich mit angespannten Muskeln aufsetzte, die großen, schreckerfüllten Augen auf mich gerichtet. Von Katrinka kam ein langes, orgasmisches Wimmern. Ich stand wie versteinert da. »Zieh dir was über und komm nach unten, Ambrose«, sagte ich endlich. »Ich habe mit dir zu reden.« Als Red in den Salon trat, hatte sie weiter nichts an als einen schwarzen Kimono, und den hatte sie nicht einmal zugebunden. Ihr Haar war in dieser Beleuchtung eher kastanienbraun als rot und noch völlig zerzaust. Sie war ungeschminkt, und ihr Gesicht wirkte wie das eines jungen Mädchens, doch ihr Auftreten war das glatte Gegenteil, während sie auf den Fernsehapparat zuschlenderte. Ich hatte mir inzwischen einen großen Whisky eingegossen und starrte blind und taub in die Röhre. Erst als sie neben dem Gerät stand, hörte ich plötzlich wieder den Quizmaster sagen: »Eines der schrecklichsten Verbrechen geschah im Jahre 1929 in Chicago... Und dazu folgende Frage...« »Siehst du dir das an?« fragte sie höflich, doch mit einem deutlich spöttischen Unterton. Ich schüttelte den Kopf. »... vier Männer, zwei davon in Polizeiuniform...« Als sie abschaltete, flatterte der Quizmaster noch ein paar Sekunden wie eine angesengte Motte auf dem Bildschirm herum, bis er in sich zusammenfiel - in eine winzige, blaue, rasch erlöschende Flamme. 210
»Das Massaker am St.-Valentins-Tag«, sagte Red, » - AI Capone.« Sie riß das Zellophanpapier einer neuen Packung Mentholzigaretten auf und zündete sich eine davon an. »Stell wieder an und mach mit - verlang deine zehntausend Dollars«, sagte ich. Sie ging zum Schrank, holte eine neue Flasche Scotch und goß sich ein beachtliches Quantum ein. Das war eine ganz andere Red Bancroft - nicht das warmherzige, süße Geschöpf, in das ich mich so leidenschaftlich verliebt hatte. »Weißt du eigentlich, welche Dringlichkeitsstufe diese Unternehmung hat?« fragte sie. »Sprich mit mir nicht, als wäre ich einer von deinen Wachtposten«, sagte ich. Sie trank einen Schluck, ging auf dem Teppich hin und her und kratzte sich dabei im Gesicht, als überlege sie, was sie als nächstes sagen solle. »Ich weiß nicht, wieviel man dir gesagt hat«, sagte sie, was so ungefähr die kälteste Dusche war, die ich jemals über mich ergehen lassen mußte. »Aber hast du gewußt, daß Mrs. Bekuv ein KGB-Offizier im Stabsrang ist?« »Nein«, mußte ich zugeben. Sie nippte an ihrem Whisky. »Möchtest du was zu trinken?« fragte sie plötzlich. »Ich habe mich schon selbst bedient«, sagte ich und deutete dabei auf das Whiskyglas, das ich vor dem Fernseher abgestellt hatte. Sie nickte. »Als Moskau erfuhr, daß sich Bekuv in den Westen abgesetzt hatte und in unseren Händen war, da war im Kreml die Hölle los. Zuerst haben sie versucht, ihn umzulegen - damals nach der Party bei Nowak. Dann änderten sie ihre Taktik und schickten Mrs. Bekuv hinterher. Moskau hat sie uns geschickt, damit sie ihren Mann unter Kontrolle halten, am Reden hindern, überwachen und gegebenenfalls abschwächen konnte, was er vielleicht doch sagte.« »Und das Gemetzel vor der Kirche?« »War doch gekonnt gemacht, oder? Wie sie geschickt ins Messer gegriffen und sich nur harmlose Wunden zugefügt hat, ohne irgendwelche Sehnen zu verletzen! Und dann diese gefährlich aussehenden Schnitte in ihrem Mantel!« Reds Stimme klang, als sei sie stolz auf die Geschicklichkeit ihrer Geliebten. »Aber die böse Schnittwunde in der Magengegend — sie mußte genäht werden... vier Stiche.« »Vergiß nicht, sie ist ein Profi«, erwiderte Red Bancroft. »Man 211
wird nicht Stabsoffizier beim KGB, wenn man kein Blut sehen kann.« Sie hielt ihren Whisky unter die Nase und schnupperte an ihm, als handle es sich um ein erlesenes Parfüm. »Und Gerry Hart hat sie hereingeschleust und zu uns gebracht.« Sie sah mich geringschätzig an: »Gerry Hart arbeitet seit mehr als fünfzehn Jahren für die Russen, er hat einen hohen Offiziersrang beim KGB - du weißt ja, wie die Russen ihren Leuten militärische Ränge und Orden verleihen, damit sie sich wichtig vorkommen.« »Die ganze Sache mit Mrs. Bekuv war also eine reine KGB-Unternehmung.« »Von A bis Z, Liebling, von A bis Z.« Endlich knotete sie den Gürtel ihres Kimonos zu. »Weiß Mann darüber Bescheid?« »Ich weiß es selbst erst seit einer halben Stunde,« sagte sie. Wir hörten Mrs. Bekuv über uns auf und ab gehen. Ich fragte: »Du und... sie — war das, was — was eben manchmal vorkommt, oder gehört das zum Plan?« »Das war der Plan«, sagte sie sofort. »Das war der einzige Plan. Du und der Major, wie ihr hin und her rund um die Welt jagt und Staub aufwirbelt - das war nur ein Ablenkungsmanöver. Mrs. Bekuv an uns zu binden, sie umzudrehen und aus ihr herauszuholen, wie Gerry Harts Spionagering aufgebaut ist — das war der eigentliche Plan.« Ich wollte keinen Streit mit ihr anfangen — schließlich wird jedem Agenten dasselbe gesagt: daß sein Beitrag der wichtigste Teil des ganzen Unternehmens sei. Ich wollte nur wissen, warum sie mir das alles nicht schon früher erzählt hatte. Und ich fragte sie danach. Sie sah mich an. »Wir hatten uns verliebt, du und ich - das ließ sich nicht verheimlichen. Zuerst wollte ich alles andere abbrechen, aber dann hab' ich mich doch zusammengerissen und weitergemacht. Und dann entdeckte ich, wie heftig Mrs. Bekuv auf unsere Beziehung reagierte.« »Du meinst, Mrs. Bekuv war auf mich eifersüchtig?« »Sei nicht so ungläubig! Natürlich — genau das meine ich. Und dann hat sie mich dir weggenommen und war mächtig stolz darauf.« »Also dann - danke für alles! Es wird mir unvergeßlich bleiben.« Red kam auf mich zu und berührte meinen Arm. »Ich hab dich lieb gehabt«, sagte sie. »Ich habe dich wirklich geliebt. Behalt wenigstens das in Erinnerung.« Über unseren Köpfen hörten wir Mrs. Bekuv noch immer auf und ab gehen. »Und ich wollte immerhin eine Weile lang aus diesem ganzen verdammten Geschäft aussteigen«, sagte Red. 212
»Aus unserem-oder aus deinem speziellen?« fragte ich und ruckte mit dem Kopf zur Decke. »Und ich bin mir auch jetzt noch nicht ganz sicher«, fuhr Red fort und sah mir direkt in die Augen. »Mach wenigstens den Manns keine Vorwürfe«, sagte sie dann, und ihre Stimme war wieder ganz gelassen. »Sie haben für uns beide nur das Beste gewollt.« »Und was wäre das Beste für uns gewesen?« Sie gab keine Antwort. Vom Stockwerk über uns hörten wir das bitterliche Schluchzen von Mrs. Bekuv. Es klang trostlos - ein Weinen, das sich über Stunden hinziehen konnte. »Du hast dich mit Farbe bekleckert«, sagte Red und deutete auf meinen Ledermantel. »Was hast du denn schon wieder angestellt?« »Weihnachten«, sagte ich. »Und es ist keine Farbe, sondern das Blut von Mrs. Bekuv.« Ich hob mein Whiskyglas und trank es in einem Zug aus. Dann klemmte ich mir die herzförmige Pralinenschachtel unter den Arm und ging.
213
KAPITEL 19
Nach dieser gespenstig-barocken Nacht folgte eine Morgendämmerung in reinstem Rokoko. Durch das brodelnde Wolkengetümmel grub die Sonne tiefe, goldene Tunnel. Es fehlte nur noch Tiepolo, der in diesen Himmel eine vollbusige Aurora hineingemalt hätte - umringt von unbekleideten Nymphen und verklärten Hirtenknaben. »Was gibt es da draußen zu sehen?« fragte Bekuv. »Sie bleiben gefälligst liegen, Professor. Der Arzt hat Ihnen völlige Bettruhe verordnet«, sagte ich. »Das Essen hier im Krankenhaus ist ungenießbar«, beschwerte sich Bekuv. »Könnten Sie nicht veranlassen, daß mir die Mahlzeiten aus einem guten Restaurant gebracht werden?« »Das wird schwierig sein, Professor. Sie stehen zur Zeit unter strengstem Sicherheitsschutz. Unsere Leute mögen zwar nicht qualifiziert genug sein, Ihnen ein vorbildliches Cordon bleu aufzutischen, aber dafür haben sie alle die Drei-Stern-Sicherheitsqualifikation bestanden.« »Sie halten es also für möglich, daß man mein Essen vergiften will?« Ich zählte bis zehn. Dann sagte ich: »Nein, ich glaube nicht, daß man Ihr Essen vergiften will. Das ist nur eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme, die jedesmal in Kraft tritt, wenn wir es mit - mit Gästen zu tun haben, die unter die höchste Sicherheitsstufe fallen.« »Mit Gefangenen«, sagte Bekuv. »Geben Sie zu — Sie wollten eigentlich >mit Gefangenem sagen.« »Ich wollte >Genesenden< sagen.« »Kein Mensch sagt mir die Wahrheit!« Ich drehte mich nach ihm um und betrachtete ihn. Ich konnte im Augenblick einfach kein Mitleid für ihn aufbringen. Er hatte von dem Frühstück, über das er sich so bitterlich beklagt hatte, auch nicht einen Krümel übriggelassen. Und jetzt naschte er aus einer Fruchtschale blaue Weintrauben, die zu dieser Jahreszeit ziemlich teuer waren. Auf dem zweiten Nachttisch war seine Stereoanlage aufgestellt. Und seine gute körperliche Verfassung verdankte er entweder der modernen Medizin oder aber der Umsicht, mit der er seinen Selbstmordversuch geplant hatte. Jetzt schob er eine Kassette in den Recorder, und plötzlich setzte mit furchtbarem Getöse aus den vier 214
Lautsprechern, die um sein Bett gestellt waren, der Walzer aus dem Rosenkavalier ein. Die Wände des kleinen Krankenzimmers erzitterten. Ohne ein Wort ging ich zum Nachttisch und regulierte das Gerät auf Zimmerlautstärke. »Ich möchte jetzt Musik hören«, erklärte der Professor verdrossen. »Ich fühle mich noch zu schwach, unser Gespräch fortzusetzen.« Ich sah ihn an und überlegte mir alle möglichen Antworten, schluckte sie jedoch herunter. »Wie Sie wünschen«, sagte ich kühl und begab mich ein Stockwerk tiefer zu dem CIA-Mann, der mir unter dem Namen Jonathan bekannt war. Selbst hier konnte man noch den Straußschen Walzer hören. »Erzählen Sie mir noch einmal, wie es zu diesem Selbstmordversuch gekommen ist«, sagte ich. »Es geht ihm doch wieder gut?« fragte Jonathan. Er hatte offenbar ein schlechtes Gewissen. »Sind Sie überhaupt sicher, daß er wirklich eine Überdosis genommen hat?« »Man hat seinen Magen ausgepumpt und das Zeug analysiert«, sagte Jonathan. »Mehr weiß ich nicht.« »Dann erzählen Sie mir doch mal, was sich direkt vor dem Selbstmordversuch alles ereignet hat.« »Das hab' ich Ihnen doch schon alles gesagt. Alles lief routinemäßig ab - wie jeden Morgen. Um sechs klingelte der Wecker, und da ist er aufgestanden. Anschließend ging er unter die Dusche, dann rasierte er sich, und um acht Uhr erschien er pünktlich zum Frühstück.« »Er braucht fürs Duschen, Rasieren und Anziehen eine ganze Stunde?« »Ja, weil er zwischendurch Nachrichten hört und die Post durchgeht.« »Sie lassen ihn Post empfangen?« »Na ja - Radiozeitungen, Newsweek und Time, zwei Spezialmagazine für Radio- und Sendetechnik, in denen das Neueste angeboten wird - die hat er in dem Geschäft, wo er seine Stereoanlage gekauft hat, abonniert. Manchmal bekommt er auch Post von seiner Frau. Und dann bezieht er noch eine russische Wochenzeitschrift aus New York. Das Ganze geht natürlich über die Deckadresse.« »Sie machen Photokopien von den Briefen seiner Frau?« »Und dann kleben wir den Umschlag fein säuberlich wieder zu ich bin sicher, er hat noch nichts gemerkt.« 215
»Zeigen Sie her.« »Können Sie denn Russisch?« »Mann, beeilen Sie sich!« »Da müssen Sie sich schon nach unten bemühen, zu unserem Mikrofilmlesegerät .« Sie hatten - abgesehen von den Briefen seiner Frau - auch alle Seiten seiner sämtlichen Zeitschriften aufgenommen. »Der Übersetzer hat jeden Brief gelesen - hat auch alles andere überprüft, und er meint, der letzte Brief wäre wie alle anderen.« Das spinnwebzarte kyrillische Buchstabenlabyrinth war auf dem Bildschirm des Lesegeräts noch schwieriger zu entziffern als normal, weil man es im Negativ sah. Ich las dem Mannn, den sie Jonathan nannten, die beigefügte Rohübersetzung vor: Mein Liebster, Ich hoffe, es geht Dir gut. Nimm nicht jede Nacht Schlaftabletten, Du könntest abhängig von ihnen werden. Eine Tasse Milch war früher alles, was Du brauchtest, um gut zu schlafen. Warum versuchst Du's nicht wieder damit? Es ist hier sehr kalt, und es regnet viel, doch alle sind schrecklich nett zu mir. Ich habe mich in Miss Bancroft getäuscht - sie ist eine wundervolle Frau. Sie versucht alles Mögliche, um zu erreichen, daß wir uns beide einmal richtig aussprechen können, doch gegenwärtig ist es besser, wir bleiben getrennt. Es ist wichtig, Andrej. Stets Deine Dich liebende K. »Nichts drin, oder?« »Nichts«, sagte ich. »Sie scheinen aber trotzdem nicht ganz überzeugt davon zu sein. Glauben Sie, daß sie so etwas wie einen Code vereinbart haben?« »Jedes Ehepaar hat seine eigne Geheimsprache.« »Kommen Sie mir bitte nicht mit Philosophie - ich hab' nur Chemie studiert.« »Bekuv muß aus dem Brief etwas entnommen haben.« »Etwas, was ihn veranlaßt hat, das ganze Röhrchen Traumspender auf einmal zu schlucken?« »Möglich war's.« Jonathan seufzte. Vom Raum nebenan hörten wir das Surren des Telex-Alarms und das Rattern des Schreibgerätes. Er ging hinein, um den Fernschreiber abzulesen. 216
Ich sah Andre] Bekuv jetzt in einem ganz anderen Licht, und ich fühlte mich ein bißchen schuldig dafür, wie ich ihn vorhin behandelt hatte. Sein dauerndes Gezeter wegen des Essens und sein überbetontes Interesse an Stereogeräten und Musik sah ich auf einmal als verzweifelten Versuch, sich einfach zu beschäftigen, um nicht ständig an seine lesbische Frau denken zu müssen und daran, wie sehr sie ihm fehlte. Denn dieser Brief hatte ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie sich in Red Bancroft verliebt hatte. Jonathan unterbrach meine Gedanken mit einem Telex, das er soeben aus dem Fernschreiber gezogen hatte. Es war chiffriert und begann mit einem zwischen Mann und mir vereinbarten Geheimschlüssel. Der Klartext lautete: BEGINN DER MITTEILUNG SCHAFFEN SIE SOFORT FABIAN ZUM FLUGHAFEN LUFTTRANSPORT DURCH FINGERHUT STOP CIA BEAUFTRAGTER ERWARTET SIE AM FLUGHAFEN STOP AMBROSE BRINGT LUCIUS ZUM GLEICHEN TREFFPUNKT STOP ZU IHRER VERFÜGUNG STEHEN AMBROSE JONATHAN UND SEINE MITARBEITER STOP SIE SELBST ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG STOP WARTEN SIE AUF MICH UND BEFOLGEN SIE KEINE ANORDNUNGEN VON ANDEREN PERSONEN STOP BEHALTEN SIE TELEX ALS VOLLMACHT STOP DRINGLICHKEITSSTUFE SANDMANN UNTERNEHMEN STAATSEBENE WIEDERHOLE STAATSEBENE MITTEILUNG ENDE MANN MANN MANN BESTÄTIGEN SIE MELDUNG »Bestätigen — wem?« fragte ich Jonathan. »Ist denn niemand am anderen Ende?« »Nur der Telexmann vom Dienst.« »Dann geben Sie dem die Bestätigung durch. Danach fordern Sie in Langley eine Fernschreibleitung mit Scrambler für den Flugplatz an und ein paar Mann Verstärkung. Was steht uns hier zur Verfügung?« »Zwei Wagen und vierzehn Leute. Sechs davon sind allerdings für drei Tage auf Urlaub.« »Sind die Wagen gepanzert?« »Nur die Windschutzscheiben und die Benzintanks - die übliche Standardausrüstung der Firma.« »Wir brauchen mehr Fahrzeuge. Veranlassen Sie ein paar Ihrer Leute, ihre eignen Wagen zu benutzen. Und Bekuv gegenüber kein Wort, verstanden?« 217
»Was ist denn eigentlich los?« »Wir ziehen um - das ist los.« »Wissen Sie, was ich glaube?« meinte Jonathan. »Das ist ein Alarm. Klingt so, als ob die Russen das Krankenhaus angreifen wollen, um uns den Professor wegzuschnappen.« »Geben Sie die Bestätigung durch.« »Und Sie haben gesagt, wir sollen Bekuv erst Bescheid geben, wenn wir abfahren?« »Ich habe gesagt: kein Wort zu Bekuv. Ist das jetzt klar? Sie stellen eine ganze Wagenkolonne zusammen, und ich möchte, daß sie wirklich Eindruck macht. Bekuv wird dann mit mir im Stingray fahren, und wir werden nicht einmal in ihre Nähe kommen.« »Das möchte ich aber lieber schriftlich von Ihnen haben. Kommt mir zu gefährlich vor. Und Sie allein - Sie werden es doch allein nie schaffen, daß Bekuv seinen Arsch bewegt!« »Ich sehe nicht ein wieso«, sagte ich. »Schließlich bringe ich ihn doch seiner Frau - nicht wahr?«
218
KAPITEL 20
Alle Flugzeuge, die landen wollten, wurden umgeleitet und als verspätet angesagt. Dutzende von Maschinen kreisten zwischen der Chesapeake-Bay und den Allegheny-Bergen und warteten auf Landeerlaubnis. Auch die Abflüge waren um Stunden verschoben worden. In der Abfertigungshalle stauten sich die gereizten Passagiere und verursachten ein lautes, chaotisches Durcheinander. Doch von unserer Behelfsleitstelle, die Major Mann ungefähr achthundert Meter vom Flughafengebäude entfernt in den Wartungs- und Frachthallen improvisiert hatte, wirkte der Flughafen geradezu ungewöhnlich still. Aber bei uns ging es nicht weniger turbulent zu als in der Schalterhalle: Ununterbrochen klingelte ein halbes Dutzend Telephone, und eine ganze Gruppe von CIA-Männern war lediglich damit beschäftigt, der Presse ein Märchen nach dem ändern aufzutischen und auf Regierungsanfragen ausweichende Auskünfte zu erfinden. Vierhundert Meter seitlich auf dem Vorfeld stand eine Iljuschin der Algerian Airways, umgeben von Wartungsfahrzeugen. Mechaniker waren dabei, sie aufzutanken, die Abwässer abzupumpen, Batterien zu laden, Hunderte von Mahlzeiten in Plastikbehältern zu verstauen, Filme umzuspulen, Gepäck aus- und neues Frachtgut einzuladen. Ich vertraute den Professor einem CIA-Mann an und beeilte mich, in Major Manns Behelfsbüro zu kommen. Mann führte gerade ein Telephongespräch, bei dem er nur ab und zu ein einsilbiges Knurren von sich gab. »Was ist los?« fragte ich. Er wies auf einen Stuhl und hängte gleich darauf ein. »Na, was schon? Gerry Hart steht da draußen - in der einen Hand einen Combat-Magnum-Colt und in der anderen Greenwoods Krawatte. Die der Senator noch um den Hals hat, übrigens.« »Das soll doch wohl ein Witz sein?« »Aber natürlich, was sonst - sicher hat er nur eine Spielzeugpistole.« Wir sahen einem Jumbo-Jet zu, der an uns vorbei zur Landung einschwenkte. »Sie haben ihn also soweit gebracht, daß er türmt.« Mann lächelte säuerlich. »Er will um vier Uhr den Direktflug nach Algier nehmen. Über-nehmen ist wohl eher das richtige Wort. Und Hart ist nicht der Typ, dem man was ausreden kann. Außerdem hat er 219
von uns verlangt, daß wir ihm die Bekuvs ausliefern. Er hat gedroht, Greenwood über den Haufen zu schießen, wenn wir nicht auf seine Bedingungen eingehen.« »Und werden wir ihm die Bekuvs ausliefern?« »Was bleibt uns anderes übrig? Hart blufft bestimmt nicht. Alles deutet daraufhin, daß er schon seit langem ein roter Agent ist. Allein schon, wie er das Ganze aufgezogen hat - das ist Profi-Arbeit von A bis Z. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß er seine Drohung wahr macht - was meinen Sie?« »Ich weiß nicht«, sagte ich und zog meinen Stuhl näher an Manns Schreibtisch heran. »Wenn er sich nur verkrümeln wollte, hätte er doch ganz andere Möglichkeiten. Ein Mann wie Hart hat sicher mindestens ein Dutzend gut gefälschter Pässe im Kleiderschrank versteckt. Und als Assistent von Greenwood hätte er sich auch spielend leicht Zugang zu einem Jet der Luftwaffe verschaffen können.« »Also bitte - warum ist er dann hier und fuchtelt mit seiner Kanone herum und führt sich auf wie ein Werbespot für Potenzpillen?« fragte Mann, lehnte sich in seinem drehbaren Bürostuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch - die handgefertigten englischen Halbschuhe samt Überschuhen mitten in einen Haufen wichtiger Papiere - und ließ einen tadellosen Rauchring gegen die Zimmerdecke aufsteigen. Ich erwiderte: »Weil er die Bekuvs mitnehmen will und hier auf sie wartet — das haben Sie doch eben selbst gesagt.« »Für den Zirkus wird ihm Moskau bestimmt keine Medaille verleihen«, meinte der Major. »Das paßt gar nicht in die Tour mit der Entspannungspolitik, die der Kreml unserer Regierung gerade verkaufen möchte.« Ich zog den Ledermantel aus und bediente mich mit einer von Manns Zigaretten. »Wenn Hart die Bekuvs unbedingt haben will, dann will auch Moskau sie unbedingt haben«, sagte ich. »Kann ich mir nicht denken«, sagte Mann. »In Moskau wird man inzwischen annehmen, daß wir aus den Bekuvs alles herausgequetscht haben.« »Es sei denn, die Bekuvs hätten von einer Sache Kenntnis, die so ungeheuer wichtig ist, daß wir garantiert sofort aktiv geworden wären, wenn die Bekuvs sie uns verraten hätten.« Mann nickte nachdenklich. »Und es muß etwas sein, wo es dem Kreml auf der Stelle aufgefallen wäre, wenn wir reagiert hätten.« Er stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die Iljuschin. Dann beob220
achtete er den Jumbo-Jet, der weit entfernt auf den ersten Metern der Rollbahn aufsetzte. Im trüben Tageslicht war er vorerst nur ein winziges, blitzendes Aluminiumpünktchen. »Wie hat Hart eigentlich Fühlung mit uns aufgenommen?« fragte ich. »Auf die kalte Tour. Er hat die Einsatzzentrale in Langley per Telex wissen lassen, was er plante, und dazu mitgeteilt, wenn Langley das Spielchen mitmachen würde, könne er uns die Garantie geben, daß Moskau die Sache totschweigt.« »Das muß man ihm lassen: Politiker vom Scheitel bis zur Sohle!« »Er wußte, daß das bei den Leuten im obersten Stock gut ankommen mußte: Jetzt hätten sie die Chance, den ganzen vermurksten Fall unter den Teppich zu kehren. Und er wußte auch, daß von jedem Telex eine Kopie direkt ins Büro des Direktors geht - niemand hätte es zwischendrin irgendwo zufällig verlegen können.« Mann stand noch am Fenster und sah der Wartung der algerischen Maschine zu, bis er von dem plötzlichen Donnern des Jumbo-Jets abgelenkt wurde, der jetzt die Landebahn entlang auf uns zurollte. Er war uns schon ziemlich nahegerückt, da drehte er sich um die eigne Achse und stieß beim Abbremsen ein derartig ohrenbetäubendes Dröhnen aus, daß unsere Fensterscheiben klirrten. »Bekuvs Stereoanlage im Jetformat«, sagte der Major und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu, auf dem sich ein Problem über dem anderen stapelte. »Werden wir der Iljuschin folgen?« fragte ich. »Nach Algerien? Damit Hart und die Bekuvs sich mit den BlackPower-Emigranten, den Flugzeugentführern und den kalifornischen Drogensüchtigen dort gegen uns zusammentun und uns aus der Anschlußmaschine nach Moskau im Abendrot eine lange Nase machen nee, mein Lieber, daraus wird nichts.« »Es war ja auch nur eine Idee.« »Nun rücken Sie schon raus mit der Sprache?« Ich sagte: »Nur mal angenommen - das, was die Bekuvs so wichtig macht, ist noch gar nicht ans Licht gekommen.« »Und Sie meinen, daß es jetzt ans Licht kommen könnte?« »Stellen Sie sich mal vor, Sie wären Bekuv und hätten unser Angebot, sich in den Westen abzusetzen, angenommen - hätten Sie sich nicht dennoch irgendeine Rückversicherung geschaffen und vielleicht irgend etwas versteckt - irgendwo?« »Sie meinen - elektronische Geheimdaten? Oder Masermaterial?« 221
»Wer weiß?« »Und wo ist dann diese Rückversicherung deponiert?« »Irgendwo südlich von In Salah, mitten in der Wüste - wo es niemand finden kann, es sei denn, daß Bekuv selber den Weg zeigt.« »Heiliger Strohsack!« knurrte Mann. Er nahm den Hörer ab und wählte eine dreistellige Nummer. »Sie glauben also, daß ich recht habe?« fragte ich. »Nein«, sagte Mann. »Aber ich kann mir das Risiko nicht leisten, daß vielleicht doch was dran ist.« Dann gab er telephonisch die Anweisung: »Ich brauche nun doch eine Maschine. Und sogar eine, die wesentlich schneller in Algier ist als die Iljuschin, klar?« Ein Mann mit einem Bundesmarschallstern auf der linken Brusttasche betrat das Zimmer. Er trug ein Smith & Wessen 44 Schwerkaliber in einem auf kubanische Art geschlungenen Schulterhalfter unter dem Arm, wie das manchmal Sicherheitsbeamte tun, wenn sie nicht mit der ihnen sonst eigenen Bescheidenheit auftreten. Er grüßte militärisch und meldete, daß eine Miss Bancroft den Major zu sprechen wünsche. »In Ordnung, lasse Sie die Dame passieren.« »Wie Sie wünschen, Sir«, sagte der Bundesmarschall und trat ab. Mann bedachte mich mit der Art Lächeln, die man sonst den Zeugen Jehovas schenkt, bevor man ihnen die Tür vor der Nase zuknallt. Ich war mir darüber im klaren, daß ihm Red Bancrofts Bericht über meinen Besuch auf der Farm bereits vorlag. »Mrs. Bekuv wünscht, daß Miss Bancroft sie weiterhin begleitet«, sagte er. Dann wandte er sich um und sah durch das Milchglas der Tür draußen jemanden stehen. »Kommen Sie herein, meine Liebe«, rief er. Red Bancroft trug ein senffarbenes Strickkleid aus Jersey und ebenfalls einen Bundesmarschallstern über dem Herzen. Major Mann sagte: »Wir sind gerade dabei, die Sache zu besprechen.« »Gerry Hart wird höchstwahrscheinlich die Maschine nach Moskau weiterdirigieren«, sagte ich und sah sie an. »Weißt du, was dich in Moskau möglicherweise erwartet?« Der Major fragte: »Sind Sie sicher, daß Mrs. Bekuv nichts von Ihrer CIA-Tätigkeit gemerkt hat?« »So gut wie sicher«, sagte Red Bancroft. »Du kommst mir vor wie einer, der in ein Polizeirevier geht und nach der Uhrzeit fragt, nachdem er kurz vorher eine Million Dollar geklaut hat«, sagte ich. » >So gut wie sicher< genügt nicht. Und im üb222
— was könntest du uns nutzen, du hast von dort keine Kommunikationsmöglichkeit, hast kein Agentennetz zur Unterstützung, nicht einmal einen Kontaktmann. Und dazu hast du keine Außendiensterfahrung und sprichst auch nicht russisch - oder?« Sie schüttelte den Kopf. Ich sagte: »Auch wenn du den größten Erfolg hättest, den es je in der Geschichte der Spionage gegeben hat -wie würdest du uns davon in Kenntnis setzen?« »Ich würde schon einen Weg finden«, sagte sie. »Und außerdem ich habe schließlich genug Außendiensterfahrung.« »Sieh mal«, sagte ich so freundlich und eindringlich ich konnte, »Moskau ist nicht Montreal, und das KGB ist keine Außenseitergruppe von ausgeflippten Marxisten. Man wird dir bestimmt keinen Stadtplan in die Hand drücken und in deinen Paß >Herzlich Willkommen stempeln, nur weil Mrs. Bekuv verrückt nach dir ist! Nein, sie bringen dich irgendwohin und reißen dir erst mal deine Fingernägel aus... und das ist nur der Anfang!« »Nun mal sachte«, meinte der Major. Red Bancroft war aufgebracht. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und sie biß sich fest auf die Unterlippe, um nicht mit einer Flut von Gegenargumenten herauszuplatzen. Mann sagte: »Die Entscheidung liegt schließlich bei mir - und ich finde, die Sache ist das Risiko wert.« Red Bancrofts Gesicht strahlte auf. Major Mann fuhr fort: »Was Sie Mrs. Bekuv über Ihre Beziehung zum CIA sagen wollen, ist allein Ihre Sache. Die Situation ist äußerst heikel, und ich will Ihnen nicht hier vom grünen Tisch aus irgendwelche theoretischen Anweisungen geben. Aber - und das ist meine Bedingung - wenn ich Ihnen befehle, das Flugzeug in Algier zu verlassen oder wo immer Hart es landen läßt, verlange ich, daß Sie sich ganz schnell absetzen. Und kein Widerspruch, klar?« »Sie können sich auf mich verlassen.« »Und nun gehen Sie zurück zu Mrs. Bekuv. Noch was - falls Ihnen Bedenken kommen sollten oder wenn sich die Lage zuspitzt, dann möchte ich, daß Sie schleunigst aussteigen, verstanden?« »Verstanden«, erwiderte sie, nahm ihre Handtasche vom Schreibtisch und sagte: »Ich danke Ihnen, Sir!« Für mich hatte sie nur ein flüchtiges Nicken übrig. Als sie gegangen war, konnte ich nicht unterlassen zu fragen: »Auf wessen Mist ist bloß diese Schnapsidee gewachsen?« »Auf wessen wohl? Auf ihrem natürlich. Daß Sie vom B.P.D. ist, haben Sie inzwischen doch schon gemerkt, oder?« 223
»Sie ist mir einfach zu selbstsicher«, sagte ich. »Gut, wir setzen eine attraktive Lesbierin ein, um die Bekuv von ihrem Mann zu trennen und sie von ihren Pflichten dem KGB gegenüber abzuhalten. Alles läuft nach Plan - aber wenn sich nun unsere Agentin im Verlauf dieser Affäre in Mrs. Bekuv verliebt hätte? Und was sich nun vor unsern Augen abspielt, wäre die Flucht unseres Mädchens, das Mrs. Bekuv als fette Jagdbeute mit nach Moskau schleppt, um sich und ihren Mann zu rehabilitieren?« »Denken Sie bloß nicht, daß mir das nicht auch schon durch den Kopf gegangen wäre«, knurrte Mann und nahm ächzend seine Füße vom Schreibtisch herunter, um sich mit seinem Drehstuhl mir zuzuwenden, denn ich war aufgestanden, ans Fenster getreten und starrte in den unfreundlichen, grauen Himmel. »Hoffentlich opfern Sie das Mädchen nicht, nur um zu beweisen, daß das Psychologische Direktorat aus lauter Hohlköpfen besteht.« »So was käme mir nie in den Sinn!« sagte der Major und griff nach seiner Nase. Er schüttelte sie eingehend, und es sah fast aus, als ob er sie abreißen wolle. »Im Einsatz ist die Bancroft verdammt gut. Wenn bei uns jemals einer Frau eine Abteilung unterstellt wird - dann dieser Red Bancroft.« »Nicht, wenn sie freiwillig mit nach Moskau fliegt«, sagte ich. Mann drückte auf den Telephonknopf und sagte hastig in den Hörer: »Bestellen Sie Miss Bancroft, sie soll gefälligst den Marschallstern abmachen, bevor sie den Korridor betritt, in dem die Russen sitzen. Ich gehe jetzt zu Hart.« Er hängte auf und wandte sich an mich. »Es ist soweit. Wir werden jetzt die Bekuvs an Hart ausliefern. Dieser gerissene Fuchs ist nicht bereit, erst einmal ohne sie zum Flugzeug zu gehen — dann könnten wir ihn ja noch ein wenig leichter schnappen. Er will auch unsere Begleitung nicht - müßte dann sofort dran glauben, hat er mir bestellt.« Er seufzte. »Aber wer weiß.« Die Herren Greenwood und Hart saßen im Frachtbüro am Ende des Korridors und tranken Kaffee. Auf den ersten Blick sah das wie eine gemütliche kleine Kaffeerunde aus, bis man Greenwood näher ins Auge faßte: Sein Anzug aus grobnoppigem Cheviot mit handstich-umkanteten Kragenbelägen war zerknittert, und sein Seidenhemd - offen wie eh und je - legte diesmal nicht nur das goldene Medaillon, sondern auch eine locker um seinen Hals geschlungene Schnur frei, die an einer M.3-Maschinenpistole befestigt war, deren Mündung direkt unter Greenwoods Kinn hing, während Gerry Harts Finger lässig am Abzug lagen. 224
Greenwoods Gesicht war verkrampft, sein Teint aschfahl. Sobald wir den Raum betraten, wandte er sich hilfesuchend an uns und überschüttete uns mit Bitten und Appellen. »Holt mich hier raus«, beschwor er uns. »Ich stehe dafür ein, daß die algerische Maschine ungehindert starten kann - mein Ehrenwort als Senator! Verhalten wir uns doch wie vernünftige Leute!« Greenwoods Stimme war heiser, wahrscheinlich hatte er dieselben Beschwörungen schon unzählige Male an Hart gerichtet. »Aber Sie kommen mit!« sagte Hart. Greenwood richtete seinen Blick auf Mann. »Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden. Das alles geht auf Ihre Kappe. Warum mußten Sie mich auch aufsuchen? Dadurch ist das Ganze ins Rollen gekommen!« »Tatsächlich?« erwiderte Mann höflich - und gerade diese höfliche Indifferenz brachte den Senator zum Kochen. »Wenn ich hier lebend rauskomme, dann hetze ich Sie, bis...« »Halten Sie den Mund, Senator!« sagte Mann. »Ich denke nicht daran, ich -« Gerry Hart hatte mit einem energischen Zug an der Schnur die Worte des Senators abgewürgt. »Genau - tun Sie gefälligst, was man Ihnen sagt, Senator!« befahl er. Hart hatte eine Windjacke mit dem Abzeichen einer Fluglinie an; er sah wie ein Frachtarbeiter aus. »Sie wollen also diese Leute nach Algerien schaffen?« fragte der Major. »So genau weiß ich das noch nicht«, erwiderte Hart. Daß zwischen den beiden Männern nicht die geringste Animosität bestand, verwirrte den Senator vollends und flößte ihm offenbar noch mehr Angst ein: Von nun an verhielt er sich still. »Sie sollten da aber schnell einen Entschluß fassen, wenn Sie wirklich mit der algerischen Crew fliegen wollen«, sagte Mann. »Denn die haben bestimmt nicht genug Flugerfahrung, um überall da zu landen, wo Sie vielleicht mit dem Finger auf die Landkarte tippen.« »Wie komm' ich zu der Ehre, daß Sie sich Sorgen um mich machen?« fragte Hart. »Weil ich nicht will, daß Ihre Maschine querfeldein alle möglichen Luftstraßen kreuzt und zum Schluß sämtliche Ersatz- und Einzelteile der Iljuschin über die ganze Landschaft verteilt sind - dann geht's mir nämlich an den Kragen.« »Nun, das wäre gar kein schlechter Abgang für mich«, erwiderte Hart. Er lächelte. 225
Ich blickte aus dem Fenster. Die unterste Wolkenschicht hing tief und gleichmäßig grau herab. Sie wirkte wie ein Spiegelbild der nassen Rollbahn. Es war mittlerweile so kalt geworden, daß sich stellenweise Glatteis gebildet hatte. Major Mann hatte eine Menge Hilfspersonal aus der Gegend aufgetrieben. Sie waren auf den Dächern der beiden Wartungshallen postiert, ebenso auf dem Gebäude der Frachtgutabfertigung und sämtlichen Verbindungslaufgängen. Die Männer waren jeweils in Zweiergruppen aufgeteilt: ein Scharfschütze und einer, der das Funksprechgerät bediente. Zwischen uns und der Iljuschin lag eine schier endlos erscheinende, offene Betonfläche. Wir wußten alle, daß Hart sie zu Fuß überqueren mußte - ein Transportmittel hätte sein Risiko erhöht - und nun hofften wir, daß er auf dieser Strecke irgendeinen Fehler machen würde. Das Funksprechgerät begann zu knattern. Mann meldete sich und befahl: »Sagen Sie dem Tower Bescheid, sich ab sofort auf Stand-by zu halten. Geben Sie an alle Einheiten durch, daß die Gruppe in Kürze zur Maschine aufbricht.« Er klappte die Teleskopantenne zusammen und legte das Gerät zurück auf den Tisch. Sein anhaltendes Geknatter besagte, daß Manns Weisungen weitergegeben wurden. Greenwoods Gesicht zeigte Erleichterung, als ein CIA-Mann den Professor in den Raum führte. Gleich danach erschienen auch Miss Bancroft und Mrs. Bekuv - sie gingen Arm in Arm. So alltäglich das Unterhaken in Rußland ist - man sieht dort sogar Männer untergehakt die Straßen entlangschlendern - sowenig gab es für mich einen Zweifel, daß der Professor es hier in einem völlig anderen Licht sah. Er lächelte seiner Frau entgegen, aber es war ein trauriges Lächeln. Das kleine Büro war nun beängstigend voll. Die beiden Parteien sahen sich wortlos über die halbhohen Trennwände hinweg an, zwischen denen gewöhnlich die Frachtbüroangestellten ihre Arbeit verrichteten und an denen sie ihre Spuren hinterlassen hatten: Pin-ups, Luftaufnahmen, Ansichtskarten, dazwischen Telephonnummern, Cartoons und unzählige Stempelabdrücke der jeweiligen Fluggesellschaften. Die Luft war rauchgeschwängert, und Kondenswasser trübte die Fensterscheiben. »Nun aber los, Mister«, drängte der Major Gerry Hart zur Eile. Wir blieben an der Tür stehen, während Hart und seine Gruppe ins Freie traten. Als Greenwood an uns vorbeiging, sprach Mann ihn an: »Kopf hoch, Senator! Selbst die Russen lassen einen amerikanischen Senator ungeschoren. Vielleicht sperren sie Hart sogar ein, um uns ihren guten Willen zu zeigen.« 226
»Haben Sie eine Ahnung, was da auf mich zukommt«, sagte Greenwood. »Eine Pressekonferenz werden die veranstalten, auf der ich zur Schau gestellt werde. Sie werden mich vor aller Welt als Trottel hinstellen, der auf einen roten Agenten hereingefallen ist!« Es war typisch für einen Politiker, die Dinge so klar vorauszusehen - ebenso typisch, sich mehr Gedanken darüber zu machen, wie er vor seinen Wählern dastand, als zu erwägen, wie sehr er den Staat durch seine Dummheit gefährdet hatte. »Ich fürchte, ich kann nichts dagegen tun, wenn Sie sich jetzt lächerlich machen müssen - aber das fällt ja sowieso mehr in Ihr Gebiet.« Und der Major lächelte Greenwood an. Als wir ins Freie traten, durchdrang mich der eisige Wind wie ein rostiger Säbel. Wir hielten Abstand zu der Gruppe um Hart, die eilig auf die noch weit entfernte Maschine zustrebte. Das algerische Flugzeug stand auf der anderen Seite der Hitzedeflektoren. Diese Anlage einzelner, konkav geformter Stahlplatten, die zusammengeschoben einer stählernen Burgzinne gleichen, ist dazu da, die aus den Düsentriebwerken ausströmenden heißen Gase aufzufangen und sie zusammen mit dem sie begleitenden, durch Mark und Bein gehenden Dröhnen nach oben abzulenken. Das Auftanken der Maschine war beendet, die Wartungsfahrzeuge waren abgezogen, nur die Gangway stand noch da. Die Besatzung war bereits an Bord und führte den Startcheck durch. Ab und zu konnte man ihre Stimmen aus Major Manns Sprechgerät hören. Es begann damit, daß Greenwood losrannte. Er mußte sich vorgenommen haben, hinter den Deflektoren Schutz zu suchen. Doch nur wenige Schritte - und er machte halt und schaute verzweifelt und unentschlossen zu uns zurück. Einer der Scharfschützen auf dem Dach des Hangars feuerte einen Schuß ab. Die Kugel schlug irgendwo zwischen Greenwood und der übrigen Gruppe im Hangarvorfeld ein. Falls der Schuß als Ermutigung für Greenwood gemeint war, um sein Leben zu rennen, so erwies sich das als völlig verkehrt, j a geradezu als verhängnisvoll, denn Greenwood blieb vor Angst wie angewurzelt stehen. Hart mußte angenommen haben, daß der Schuß entweder von Mann oder mir kam. Er drehte sich um und feuerte mit seiner M.3 auf uns. Wir waren ungefähr neunzig Meter hinter ihm. Hart hatte die M.3 auf Einzelfeuer eingestellt, und die Geschosse schwirrten hoch über unsere Köpfe hinweg. Mann war inzwischen auf halbem Wege zwischen mir und den Deflektoren. Er ging in die Knie und zog 227
gleichzeitig seine Pistole. Ich sah zwar den plötzlichen Ruck, als er schoß, doch der Knall ging im Dröhnen der Triebwerke unter - der Pilot hatte gerade die Gashebel nach vorn geschoben. Mann richtete sich auf und begann zu rennen. Er war ein leichtes Ziel, und es war einfach klar, daß es ihn erwischen mußte. Hart schien zunächst Schwierigkeiten mit seiner Waffe zu haben. Doch dann hatte er die Umschaltung auf Dauerfeuer gefunden, und er gab einen Feuerstoß auf Mann ab, der wie besessen weiter über die vereiste Piste rannte. Mann wurde getroffen. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte ein Stück über das Eis, schlug in voller Länge auf dem harten Beton auf, überschlug sich mehrmals und blieb liegen. Er hatte nicht die geringste Chance, noch hinter die schutzbietende Stahlwand zu gelangen. Inzwischen hatte ich meine Pistole gezogen und feuerte auf Hart. Doch ich hatte zu hoch gezielt — ich hörte, wie die Geschosse an der Stahlwand abprallten und gellend in die Luft zischten. Im selben Augenblick hatte Mrs. Bekuv die M.3 aus Harts Händen gerissen und schnellte herum, um auf Senator Greenwood zu schießen. Auf so kurze Entfernung reißt ein 45-kalibriges Geschoß ziemlich große Löcher - doch bevor sie zum Abdrücken kam, hatte sich Hart direkt vor sie geworfen und versuchte, ihr die Waffe wegzunehmen. Ich rannte los. Überall Eis - ich hörte es unter meinen Schuhen knacken, es klang wie hauchdünnes Glas. Mehr als einmal glitt ich aus und verlor fast das Gleichgewicht. Ich warf mich neben Mann auf den Boden. »Wo sind Sie getroffen?« fragte ich. Er antwortete nicht; seine Augen waren geschlossen. Ich tastete mit der Hand seinen Hinterkopf ab und faßte in Blut. Ich legte einen Arm um seinen Körper und zog ihn in Richtung auf die Deflektoren. Das durchdringende Dröhnen der Triebwerke war zu einem dunklen Tosen geworden, aber dazwischen hörte ich kurz das Knattern einer Maschinenpistole, und gleichzeitig regneten Betonsplitter auf mein Gesicht und meine Hände nieder. Mann bewegte sich und kam zu Bewußtsein. »Laß mich liegen«, sagte er. »Laß mich liegen, sonst erwischen sie uns beide.« Ich kniete mich hin und wandte mich um: Noch immer rangen Hart und Mrs. Bekuv um die Kugelspritze. Hart hatte die Waffe mit beiden Händen umklammert, und es sah aus, als würde er sich im nächsten Augenblick ihrer bemächtigen. Ich keuchte und zitterte noch vor Anstrengung, und um zielen zu können, mußte ich meine Faust auf 228
Manns Schulter abstützen. Ich bekam Hart ins Visier und drückte zweimal ab. Beide Kugeln trafen. Gerry Hart riß die Arme hoch, wie ein Sportler, der sich nach einem zu steil geworfenen Ball hochreckt. Gleichzeitig verloren seine Füße unter der Wucht der Geschosse den Halt — er ging rücklings zu Boden. Ich packte den Major von neuem, zerrte und trug ihn halb hinter die großen stählernen Klingen des Deflektors und ließ ihn dort zu Boden fallen. Dann packte ich die Pistole mit beiden Händen und schwang mich herum in Richtung auf Mrs. Bekuv und ihrer Maschinenpistole. Doch sie hatte keine Augen für mich. Jetzt, wo Hart mit geschlossenen Augen zu ihren Füßen hingestreckt lag, richtete sie die Waffe abermals auf Greenwood. Er stand noch immer wie angenagelt auf derselben Stelle, seine Augen weiteten sich vor Angst, und ich konnte sehen, wie aus seinem Mund ein Schwall von Worten floß, der im Jetdonnern unterging. Denn inzwischen hatte der Pilot alle vier Triebwerke auf Probelauf geschaltet. Vor dem Hintergrund des Düsenlärms lief die Handlung, scheinbar lautlos, weiter ab: wie eine Parodie auf den Stummfilm. Ich sah im trüben Licht des bedeckten Himmels nur die orangeroten Flammen aus der Maschinenpistole zucken, die in Mrs. Bekuvs Händen schwankte. Greenwood duckte sich, hielt eine schmale Rechte in zivilisierter Verhandlungsbereitschaft erhoben, doch buchstäblich im nächsten Moment hatte ihn schon ein Kugelregen vom Kaliber fünfundvierzig in Fetzen gerissen. Mrs. Bekuv drückte die Waffe mit beiden Händen nach unten, damit sie auf das Ziel gerichtet blieb, und diese körperliche Anstrengung verzerrte ihr Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse der Wut und der Rachsucht, wie man sie höchstens von einer schlechten Schauspielerin erwarten würde. All das erweckte in mir die Überzeugung, daß ich mich in einem Alptraum befand, bis Greenwoods Blut so hoch aufspritzte, daß es die Unterseiten der Tragflächen benetzte. Sekunden später hatte ich die Bekuvs und Red Bancroft in einem Gewirr von blauen Uniformen aus den Augen verloren; die Crew der Maschine hatte sie umringt und drängte sie in Richtung auf die Gangway. »Lauf, Red, lauf!« brüllte ich und erwartete halb, daß sie auch die Bekuvs zurückbringen würde. Doch meine Rufe wurden vom Wind verweht — und es war sowieso alles viel zu spät. »Nicht schießen!« sagte der Major. Ich blickte fragend auf ihn her229
unter - er hatte sich umgedreht, um zu verfolgen, was vor sich ging. Sein Trenchcoat war verdreckt, und aus seinem Haar troff Schlamm und Blut und lief über sein Gesicht. »Falls Sie nämlich einen von der algerischen Crew abknallen oder diese verdammte Mühle treffen, haben wir den schönsten internationalen Skandal am Hals«, sagte er. »Ich dachte, den hätten wir schon«, sagte ich. Ich ließ die Pistole sinken und beobachtete, wie Mrs. Bekuv Red Bancroft und den Professor die Gangway hinaufschob. Dann wurde sofort die Luke dichtgemacht. Die Maschine stand bebend mit gebremsten Rädern, und die Positionslichter begannen zu blinken. Major Manns Walky-Talky fing an zu knattern. Ich nahm es auf. »Tower an Major Mann«, hörten wir. »Der Flugkapitän bittet, die Gangway zu entfernen.« Mann nickte kaum wahrnehmbar. »O.K., lassen Sie sie wegschaffen«, sagte ich. Mann bemerkte das Blut an meinem Hemd und begriff, daß es sein eigenes war. Er faßte sich an den Kopf und betastete die Wunde, die ihm der Streifschuß verpaßt hatte. Sie mußte sehr schmerzhaft sein, denn er sog mit zusammengebissenen Zähnen die Luft ein. Als er sich weiter vorbeugte, um einen Blick auf die Iljuschin zu werfen, konnte er seinen Schmerz nicht mehr verbeißen und stieß ein gepreßtes »Autsch« hervor. »Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte der Major. »Diesmal war es knapp - verdammt knapp!« »Eben«, sagte ich. »Noch so eine Ballerei, und ich beantrage eine Prämienermäßigung bei meiner Altersversicherung, weil ich sie doch nie brauchen werde.« »Einen Gefallen haben Sie jetzt gut«, knurrte Mann und boxte mir zum Zeichen seiner Anerkennung auf den Arm. »Hart hat versucht, Greenwood zu schützen — ist Ihnen das auch aufgefallen?« Mann lächelte grimmig. »Weil er seine wertvolle Geisel nicht verlieren wollte - deshalb.« »Vielleicht«, erwiderte ich. »Und unsere Miss Bancroft hat sich auch nicht gerade sehr bemüht, irgend jemandem da draußen vielleicht die Kanone wegzunehmen, wie?« sagte Mann. »Vielleicht hat sie keine Gelegenheit dazu gehabt«, meinte ich. »Oder vielleicht haben wir sie tatsächlich an Mrs. Bekuv verloren vielleicht haben wir, statt einen Überläufer zu gewinnen, einen Agenten verloren.« 230
Ich beobachtete, wie die Treppe abgeschleppt wurde und die Iljuschin auf der Backbordseite die Radbremsen löste, so daß sie sich in Richtung auf den Zubringer drehte. Die aus den Düsen aufsteigende Gluthitze ließ das Flughafengebäude zu einem grauen, gallertartigen Klumpen verschwimmen. Und uns wehte dermaßen viel unverbrannter Kohlenwasserstoff ins Gesicht, daß unsere Augen zu tränen anfingen. Die Düsentriebwerke bliesen über das Vorfeld, daß sich die Wasserpfützen kräuselten und die Kleidung der beiden Toten zu flattern begann. Ich schaltete Manns Sprechgerät auf die Frequenz des Towers und hörte den algerischen Piloten: »Tower - hier ist Alpha double Eight und bittet um Startfreigabe.« Sofort kam die Antwort: »Roger, Alpha double Eight, Startbahn Fünf Null freigegeben für Start. Wind vier fünf null, bei acht Knoten mit Böen bis fünfzehn...« Ich hatte ausgeschaltet. Wir sahen, wie die Iljuschin zum Ende der Piste rollte. »Wir sollten allmählich zum nächsten Arzt gehen«, meinte ich. »Wieso - sind Sie krank?« erkundigte sich Mann höflich. Die Triebwerke der Iljuschin liefen jetzt auf vollen Touren. Dann raste sie direkt auf uns zu - wurde größer und größer -, wir dachten, im nächsten Augenblick würde sie uns überrollen - aber da hob sie sich vom Boden. Mit ohrenbetäubendem Donnern flog sie dicht über unsere Köpfe hinweg. »Amen«, sagte ich.
231
KAPITEL 21
Schmiegsam paßt sich Algier der Beuge seiner weiten Bucht an. Algier: Stadt der engen Gassen und steilen Treppenaufgänge, der Elendsviertel und der Büroklötze, der verborgenen Gärten und der breiten Boulevards. Zu ihren Füßen liegt ein geschäftiger Hafen landeinwärts führen kurvenreiche Straßen in das üppige, grüne Vorgebirge, in die Pinienwälder und dann - in zahllosen Haarnadelkurven - hinauf in das Atlasgebirge. Klimatisch ist Algier allerdings unerträglich. Es gibt im Sommer an der ganzen afrikanischen Küste, außer am Roten Meer, keine heißere Gegend, und im Winter bekommt kaum eine andere Stadt soviel Regen ab. Als wir landeten, war es schon dunkel und goß in Strömen. Percy Dempsey erwartete uns am Flughafen. Er war in seinem Privatauto gekommen, einem Peugeot 504. Diesen Wagentyp sieht man nur selten als Wrack - vom Sand bis aufs nackte Blech abgeschmirgelt - am Rande einer Wüstenpiste stehen. Weiter im Süden der Sahara laufen überhaupt nur noch Peugeots und Landrover, abgesehen von den per Fracht zugestellten modischen Wagen einiger Leute, die mit der Mode Schritt halten wollen. Doch hatte Percys Peugeot noch eine weitere Besonderheit: Er hatte nämlich die Ölwanne abmontiert, wodurch der Wagen eine ganz flache Unterseite bekam. Das Öl wurde jetzt aus einem Tank im Kofferraum durch den Motor gepumpt, wodurch Percy zwar weniger Platz für Gepäck hatte, doch das war ein geringfügiger Preis für die optimale Wüstentauglichkeit, die er damit erreicht hatte. Percy Dempsey hatte sich in Schale geworfen. Wahrscheinlich hatten das Telegramm und der CIA-Kontaktmann in ihm die Hoffnung auf einen langfristigen Vertrag mit den Amerikanern erweckt. Er hatte tatsächlich einen Anzug an, auch eine Weste und eine Krawatte in den Farben seines Internats - Charterhouse, wenn mich nicht alles täuschte. Der schmuddelige Trenchcoat verriet ihn allerdings - aber vielleicht glaubte er, daß er ein unerläßliches Requisit jedes Agenten sei. Der nächtliche Straßenverkehr in Algier bewegte sich im Schneckentempo. Gelbe Scheinwerfer glotzten durch den Sprühregen in die Dunkelheit. »Ich habe einen meiner Männer nach Ghardaia geschickt«, sagte Percy. »Wenn Ihre Leute nach Süden in die Sahara wollen, dann müssen sie auf jeden Fall durch Ghardaia kommen.« 232
»Hat Ihr Mann ein Sprechfunkgerät im Wagen?« fragte der Major. »Nein, das wäre doch wohl etwas gefährlich, Major«, erwiderte Percy. »Nur die Polizei kann sich hier diesen Luxus erlauben. Wissen Sie wie Sie hier in den Dörfern und Städten die Polizeistation finden? Sie brauchen nur nach dem einzigen Gebäude mit einem Antennenmast Ausschau zu halten!« Percy murmelte ein paar melodisch klingende Flüche in Arabisch vor sich hin - der Lastwagen vor uns hatte plötzlich mitten auf der Straße angehalten, und der Fahrer gab uns durch Zeichen zu verstehen, daß er zu den Docks abbiegen wolle. »Und wie erfahren wir, was sich im Süden abspielt?« fragte der Major. »Wir rufen einfach von Zeit zu Zeit an, Major. Mein Angestellter ist in einem Hotel abgestiegen, wo wir ihn telephonisch erreichen können.« Der Fahrer hinter uns fing an zu hupen, und bald darauf schlössen sich auch andere Autos dem Hupkonzert an. »Wir wissen ja nicht einmal, ob sie überhaupt nach Süden wollen«, sagte Mann. »Es kann ebensogut sein, daß sie in eine Aeroflot-Maschine umsteigen und direkt nach Moskau fliegen.« »Wie war's, wenn wir in der Zwischenzeit eine Kleinigkeit zu uns nähmen?« fragte Percy. »Es dauert noch Stunden, bis sie hier landen. Sie haben mit Ihrer Maschine erstaunlich viel Zeit herausgeschlagen.« Endlich war der Lastwagen abgebogen, und wir setzten unsere Fahrt stadteinwärts fort. »In den USA hat man der Iljuschin nur Sprit bis London verkauft. Das schiebt ihre Ankunft hier noch um zwei weitere Stunden hinaus«, sagte ich. »Und machen Sie sich keine Sorgen, daß sie vielleicht in London das Flugzeug wechseln?« fragte Percy. »Das wird ihnen leider nicht möglich sein - dafür ist vorgesorgt«, sagte ich. Wir hielten an einer großen Kreuzung, auf der ein Verkehrspolizist mit seinem Stöckchen in der Luft herumwirbelte und in seine Trillerpfeife blies. »Bekuv wird in den üden fahren«, sagte Percy. »Ich hatte das schon im Gefühl, als er damals bei uns ankam. Er hat in der Wüste noch etwas zu erledigen.« Er bog vom Boulevard ab und fuhr uns durch ein Labyrinth immer enger werdender Gassen. »Und wo waren Sie, als wir Ihren Rat dringend gebraucht hätten?« sagte Mann sarkastisch. 233
»Natürlich, alles waren nachträgliche Schlußfolgerungen«, gab Percy zu. »Aber wenn man an seine Unentschlossenheit denkt, damals an jenem Tag...« Er zeigte nach vorn. »Dort - sehen Sie? Die Kasbah und der große Markt.« Mann nickte. Percy sagte: »Man fährt nur in die Wüste, wenn man einen Grund dazu hat - und bestimmt nicht, um sich da zu verstecken. Ob sie nach etwas suchen? Das könnte der Grund sein... Haben Sie eine Ahnung, was sie suchen könnten?« Er parkte sein Auto in einer Lücke, die mit einem Schild »PRIVAT« versehen war. »Nein«, sagte ich. »Was meinen Sie — ist es etwas Großes oder etwas Kleines?« »Etwas Großes«, sagte ich. »Wie zum Teufel wollen Sie das wissen?« fragte der Major. »Durch Rückschlüsse. Etwas Kleines hätte er wahrscheinlich versucht, bei sich zu behalten und mitzunehmen. Einen mittelgroßen Gegenstand hätte er wahrscheinlich ins nächste Dorfpostamt gebracht und an sich selbst postlagernd nach Amerika geschickt.« »Hören Sie mit dem Unsinn auf«, sagte der Major. »Vielleicht bleiben sie ja überhaupt auf dem Flugplatz.« »Ich wette, daß es groß ist - ziemlich groß«, sagte ich. Percy hatte inzwischen den Wagen abgeschlossen und führte uns nun durch ein Labyrinth von Gassen und Gäßchen. Jeder dritte Laden schien eine Schlächterei zu sein, denn wir sahen immer wieder Stücke von tierischen Kadavern in den Fensterauslagen, die mit Haut und Fell ausgestellt waren. »Bah!« machte der Major jedesmal und schüttelte sich. Percy hatte sein Haus irgendwann im Krieg gefunden, als er als junger Offizier bei der First Army diente. 1955 kehrte er nach Algerien zurück und war seitdem, abgesehen von kleinen Abstechern, dort geblieben. Er hatte den ganzen algerischen Krieg miterlebt und die anschließenden Jahre der Entbehrungen und Schwierigkeiten. Natürlich sprach Percy fließend arabisch, und zwar nicht nur das elegante Arabisch der Professoren, die an der Universität in Kairo arabische Poesie lehren, sondern auch den rauhen Dialekt der Dörfler im Süden und die lakonische Sprache der Nomaden. Das Gäßchen, in dem Percy wohnte, war steil und sehr eng. Die meisten Fenster waren dicht verschlossen - nur aus einem winzigen Cafe fielen hellgelbe Lichtstreifen auf das Straßenpflaster, und gleichzeitig drang der Klagegesang der Om Kalsum, einer Art arabischer Ella Fitzgerald, an unser Ohr. 234
Dieser Teil des alten arabischen Viertels war wohl an die tausend Jahre unverändert geblieben, und nur mit der Zeit hatte man sich allmählich geeinigt, welcher Teil der verschachtelten Gebäude jeweils zu einer Adresse gehörte. Die Vorderfront von Percys Haus war nicht breiter als die alte, morsche Eingangstür, doch trat man ins Innere, weitete sich das Haus unverhofft, ja, es wies im ganzen zwölf Zimmer auf und hatte zudem nach hinten einen malerischen Blick auf den Innenhof einer verfallenen Moschee. Ich hörte Percy nach hinten gehen und seinen Boy anweisen, eine Mahlzeit zu besorgen. Dann kam er mit Wein für mich und einem Jack Daniels für den Major zurück. Percy hatte für diese Dinge ein gutes Gedächtnis. Aus ursprünglich drei kleinen Kammern hatte Percy einen größeren Raum geschaffen, bei dem lediglich die Stufen, die den Höhenunterschied des Fußbodens ausglichen, an die ehemalige Aufteilung erinnerten. Daher befand sich die Eßnische am Ende des Wohnzimmers auf einer Art Podest. Antike Schwerter hingen dekorativ über dem Kamin, aus dem der beizende Rauch eines Holzkohlenfeuers aufstieg, das schwach vor sich hinglimmte. Über dem Eßtisch hing ein Messingkandelaber, der viel zu groß war, aber wegen der niedrigen Decke nirgendwo sonst hinpaßte. Wir erfuhren von Percy, daß es sich um ein Beutestück aus einem Haus in Oran handelte, das nach dem Abzug der Franzosen geplündert worden war. Einen reichverzierten Spiegel in »chinesischem Chippendale« hatte Percy so raffiniert an der Wand angebracht, daß man vom Ende des Tisches die Küche überwachen konnte. Der Fußboden aus Pinienholz war spiegelglatt, auf den Teppichen war nicht eine Spur von Staub, und die Bücher in den Regalen waren nicht thematisch geordnet, sondern nach Größe. Der Spiegel, die Schwertklingen, der Kandelaber - alles auf Hochglanz poliert. Mit einem Wort - es war ungemütlich. Hier herrschte ein fanatischer Sauberkeitsdrang, gepaart mit maskulinem Ordnungssinn, den man in diesem Maß selten antrifft - es sei denn bei einem Leuchtturmwärter. Der Major ließ sich aufs Sofa nieder und hielt sein Glas dabei vorsichtig hoch, um bloß nichts zu verschütten. »Sind Sie wirklich sicher, daß der Flughafen uns pünktlich vor dem Eintreffen der Maschine aus London informiert?« fragte er Percy. Percy sagte: »Jetzt ruhen Sie sich erst mal aus, Sie haben eine anstrengende Reise hinter sich.« »Warum kontrollieren Sie nicht erst mal, ob Ihr Telefon überhaupt funktioniert?« Das war kein Vorschlag, sondern ein Befehl. 235
»Weil ich das längst gemacht habe«, erwiderte Percy. Er goß sich ein Glas Sprudelwasser ein, drehte sich zu Mann um und musterte ihn. Ohne Hut war Mann ein sehenswerter Anblick: Ein breiter Streifen seines Haares war abrasiert, und man konnte den kahlen Schädel und die durch Antiseptika rotgefärbte Kopfhaut sehen. Dazu kam noch das lachsrosa Heftpflaster, daß ihm der Arzt über den Streifschuß geklebt hatte. Und die Prellung von der Wucht des Geschosses reichte inzwischen von einem blauen Auge bis zu einem steifen Nakken. Percy betrachtete das alles mit Interesse, enthielt sich jedoch jeder Bemerkung. Mann zog die Brauen zusammen und nippte an seinem Jack Daniels. Aber ich konnte es ihm an der Nasenspitze ansehen, wie angetan er von dem hohen Maß an Hygiene in diesem Hause war. Percy sagte: »Sie mögen die arabische Küche hoffentlich?« Er beugte sich vor, um das Besteck und die Gläser noch pedantischer anzuordnen. Mir kam der Gedanke, daß er sie womöglich schon den ganzen Nachmittag über immer wieder neu geordnet hatte. »Ich habe die weite Reise nicht deswegen gemacht, um exotisch zu speisen«, sagte der Major. »Aber was ich Ihnen da vorsetze, ist eine Köstlichkeit«, sagte Percy. »Wissen Sie - das höchste der Gefühle an lukullischen Leckerbissen ist für mich immer noch ein heißes Pastrami-Sandwich«, sagte der Major. Percy lächelte, aber sein Lächeln wirkte jetzt etwas gezwungener, und auch seine Handbewegungen beim Ordnen der Bestecke bekamen etwas Mechanisches. Ich stand auf und ging durch die Küche zum hinteren Balkon. Ich kam mir vor wie in einem Puppenhaus, denn der Balkon war ungefähr so breit wie ein Taschentuch, und bis zur Straße war es nur ein Katzensprung. Doch die Aussicht war einfach umwerfend. Der Regen hatte fast aufgehört, und die Sterne blinkten durch die aufgerissene Wolkendecke. Ich konnte bis hin zum alten Hafen sehen und dahinter den pechschwarzen Ozean ausmachen. Die Große Moschee stand als majestätische Silhouette vor dem nächtlichen Himmel, und von unten drang immer noch die melancholische arabische Musik herauf. Ich hörte Percy in der Küche und ging zu ihm hinein. Er war damit beschäftigt, einen gargekochten Hummer aus dem brodelnden Wasser zu holen. Dann zerlegte er ihn mit dem Geschick eines ProfiKochs. 236
»Ihr Freund...«, sagte er zögernd und blickte weiter auf den Hummer, »... meinen Sie nicht, daß er von dem Streifschuß was im Kopf abbekommen hat?« »Nein«, sagte ich, »er ist immer so.« »Komischer Kauz... er kann keine Sekunde stillsitzen.« Wir hörten, daß die Haustür aufgeschlossen wurde. »Das wird mein Diener mit den Vorspeisen sein«, meinte Percy. Mann brüllte von nebenan: »He, Alter - hier ist ein Kellner mit einer Riesenplatte voll Proviant!« »Du meine Güte!« murmelte Percy und seufzte. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, war der Tisch überladen mit einer Menge kleiner Schalen voller Delikatessen — dem arabischen Vorspeisentisch, genannt Mezze. Da sah man kleine Lammkebabs, geschnittene Tomaten, glänzende schwarze Oliven, gefüllte Weinblätter und mundgerecht kleine gefüllte Täschchen aus Blätterteig. Percys Diener war fast noch ein Kind. Regentropfen perlten auf seinem weißen, gestärkten Jackett. Offenbar war er zu einem der kleinen arabischen Restaurants gelaufen, um das Mezze und den starken arabischen Kaffee zu besorgen, dessen Aroma einem schon von weitem in die Nase stieg. Der Junge war ein ausgesprochen hübscher, schlanker Bursche mit dunklem Wuschelkopf und großen, braunen, melancholischen Augen. Er wandte keinen Blick von Percy. Früher hätte mich Percys Vorliebe, nur hübsche Jungen bei sich anzustellen, völlig kalt gelassen - ich hätte höchstens darüber gelächelt. Doch jetzt fand ich es plötzlich irgendwie schwierig, diese Vorliebe nur als eine von vielen Varianten des faszinierenden Spektrums menschlicher Leidenschaften abzutun. »Also - hier darf nichts schiefgehen«, sagte der Major, band sich die Serviette um den Hals und beugte sich schnuppernd über die Schalen, verrückte sie hier und dort, bis er auf die Platte mit dem Hummer stieß. Und er spießte sich mit der Gabel ein ansehnliches Stück davon auf. »Es wird nichts schiefgehen«, sagte Percy. Er reichte das leere Tablett seinem Diener und gab ihm durch einen Wink zu verstehen, daß er den Kaffee selbst servieren wolle. Der Boy zog sich beflissen zurück. »Ich werde selbst fahren - ich kenne die Straßen hier. Schließlich habe ich fast zwanzig Jahre damit zugebracht, in der Wüste herumzufahren. Die Pässe über den Atlas sind natürlich schmal, und die Haarnadelkurven können einen ganz schön ins Schwitzen bringen. Dann die dichtbesiedelten Dörfer - wahrhaftig kein Vergnügen. 237
Noch schlimmer sind die Lastwagenfahrer. Die kennen nur Hupe und Gaspedal und setzen sich gegen alles, was ihnen in die Quere kommt, rücksichtslos durch. Aber wenn jemand jung genug ist und genau so rücksichtslos...« Percy schwieg eine Weile, »... und vielleicht noch dazu Angst hat, dann kann er jeden Wagen abhängen, der ihn verfolgt.« »Oder er bringt sich dabei selbst um«, sagte Mann mit einem großen Stück Hummer im Mund. »Ganz recht — bringt sich dabei um«, bestätigte Percy, während er nach Messer und Gabel griff. »Ich habe noch algerisches Bier und Ouzo im Haus, aber Sie können natürlich auch bei Jack Daniels bleiben.« Mann winkte ab. »Und wenn wir das Gebirge hinter uns haben?« fragte er und lehnte sich in seinem leichten Stuhl zurück, bis es gefährlich zu knacken begann. Er hielt ein Stück Hummer vor sich hin, nagte an ihm herum und nickte dabei kennerhaft. »Dann kommt das Hochplateau und ein weiteres Gebirge — die Ouled Nail -, und danach geht es runter nach Laghouat, wo die Wüste anfängt - alles in allem an die vierhundert Kilometer.« »Bis dahin werden Sie dann wohl gemerkt haben, daß Ihnen jemand folgt«, sagte Mann. »Mein lieber, lieber Freund«, sagte Percy und schüttelte lächelnd den Kopf. »Das wissen Sie dann schon längst. Schon vor dem Gebirge — ach, wahrscheinlich schon in den Vororten von Algier werden sie merken, daß wir hinter ihnen sind. Falls Sie geglaubt haben, keinen Verdacht zu erregen: Um diese Jahreszeit fährt fast kein Pkw in Richtung Wüste. Und in der Wüste sehen sie den Staub, den wir aufwirbeln, schon auf hundert Kilometer Entfernung.« Mann stocherte in den gegrillten Käsewürfeln herum und steckte schließlich einen in den Mund. Er war offenbar noch glühend heiß. Der Major versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl ihm die Tränen in die Augen traten. »Ich finde auch, daß Percy fahren sollte«, meinte ich. Mann preßte seine Serviette auf den Mund und nickte. Vorsichtig sah er in die Runde, ob ihm niemand zusah, und dann schluckte er den heißen Käseklumpen unzerkaut hinunter. »Das wäre also geregelt«, sagte Percy, griff seinerseits nach den Käsewürfeln, steckte gleich drei davon in den Mund und zerkaute sie ungerührt. Mir wurde mit einem Mal klar, was die beiden von vornherein zu Gegnern machte: Es lag daran, daß sie fast auf die gleiche 238
Weise erzogen worden waren. Man brauchte nur Percys Internat mit der Mid-West-Military-Academy zu vergleichen, auf die Mann von seinen einander entfremdeten Eltern geschickt worden war - jeder hätte auf die Schule des anderen gehen können und es wäre genau das Gleiche herausgekommen. Die Iljuschin traf in den frühen Morgenstunden auf dem Flugplatz von Algier ein. Mrs. Bekuv mußte wohl gewußt haben, daß wir sie auf der anderen Seite der Sperre erwarteten. Was immer die Leute von der russischen Handelsdelegation mit den algerischen Behörden ausgehandelt hatten - jedenfalls bekam Mrs. Bekuv für sich und ihre Begleitung die Genehmigung, den Flughafen durch die Hintertür zu verlassen. Sie wären uns tatsächlich entwischt, hätte uns nicht Percys Freund von der Paßkontrolle einen Tip gegeben. Sie aufzuspüren war kein Problem. Sie saßen in einem Landroverdie beiden Bekuvs, Red Bancroft und der Fahrer, der den Landrover gebracht hatte. Es war die dunkle Stunde vor dem ersten Morgengrauen, von der man so allerhand in Büchern liest. Unsere Windschutzscheibe wurde vom niederprasselnden Regen regelrecht überspült, und der Wagen vor uns war nur ein verschwommener Fleck im gelben Scheinwerferlicht, mit ein paar roten Punkten, wenn der Fahrer auf die Bremse trat. Wir sprachen nur das Allernötigste. Percy mußte gegen das Heulen des Motors, den rauschenden Regen und das scheppernde Tacken des Scheibenwischers anbrüllen, um sich verständlich zu machen. »Der Bursche da vorn ist wirklich Klasse - und es will was heißen, wenn ich das sage.« Wir fuhren ständig bergauf. Die Dörfer hatten sich hinter geschlossenen Fensterläden verbarrikadiert und lagen noch im Schlaf. Wir durchführen sie mit voller Geschwindigkeit, und das Echo unseres Motors wurde hallend von den Häuserfronten zurückgeworfen. Es regnete ununterbrochen. Die Reifen quietschten die steile, gewundene Straße hoch, und Percy packte bei jeder Haarnadelkurve, auf die sofort die nächste folgte, das Lenkrad noch fester. Dann tauchte die Windschutzscheibe in das frostige Licht der Morgendämmerung. »In der Geschwindigkeit sind wir ihm voraus, aber dafür hat der da die bessere Beschleunigung«, brüllte Percy. »... Mensch, verdammt!« Er drückte auf die Hupe, als unverhofft ein Mann auf einem Maulesel auf uns zu schwankte. »Landrover oder Peugeot - das ist wie bei >Stein, Papier, Schere< - man kann nie voraussagen, wer sich als besser erweist.« 239
»Sie wissen bereits, daß wir hinter ihnen sind«, sagte Mann. »Ein Fahrer wie der hat sogar inzwischen unseren Reifendruck geschätzt, und wieviel ich gestern getrunken habe«, sagte Percy mit unverhohlener Bewunderung. Die Sonne stieg jetzt sehr rasch vom Horizont auf, doch ihr Licht wurde vorübergehend von schwarzen Regenwolken, die über den Himmel fegten, fast verschluckt. Dann wieder bohrten sich ihre fast horizontalen Strahlen mit flirrender Grelle in unsere Augen. Percy zog die Sonnenblende ganz herunter, doch das nutzte auch nicht viel. Sie fingen jetzt an, das Tempo zu erhöhen, obwohl der Straßenzustand immer schlechter wurde. Auf der einen Seite hohe Böschungen, einzelne Pinien und senkrecht aufsteigende Klippen nackten Gesteins - auf der anderen, ohne Markierung des Straßenrandes, ein jäher Abgrund. Auch bestand die Straßenoberfläche nicht immer aus hartem Grund — mehr als einmal gerieten wir plötzlich auf Kies, der hämmernd gegen das Chassis schlug, der Wagen kam ins Rutschen, und die Räder drehten durch. Percy starrte unentwegt geradeaus, immer mit einem Blick auf den linken Straßenrand. Sobald er erkannte, daß die nächste Kurve vielleicht nur ein schwacher Knick war, zog er mit durchgetretenem Gaspedal durch. Auch nutzte er die Straßenwölbung aus und ging sie im Winkel an, wodurch er immer wieder an Beschleunigung gewann. Eine Strecke lang sprangen wir buchstäblich von einem Buckel zum anderen durch die Luft. »Großer Gott...«, knurrte Mann, als Percy den Trick zum erstenmal anwandte, und beim dumpfen Aufprall des Wagens auf der harten Piste biß er sich in die Zunge, während er gleichzeitig seitlich auf den Rücksitz geschleudert wurde. »Festhalten!« sagte Percy nur und gab ein tuntenhaftes Kichern von sich. Mann fluchte mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin. Vor uns verschwand der Landrover plötzlich in einer aufspritzenden Fontäne: Er war mit Vollgas in eine Senke geraten, in der sich das Regenwasser gesammelt hatte, und kam anschließend mit einem Luftsprung wieder zum Vorschein. Percy trat mehrmals hintereinander auf die Bremse, nahm den Fuß jedoch sofort wieder weg, wenn der Wagen vorn durch die Stoßdämpfer schlug. Als wir das Loch erreichten, hatte er die Geschwindigkeit auf vierzig Stundenkilometer heruntergeschraubt. Der Landrover hatte so viel Wasser verspritzt, daß wir die schartigen Schlaglöcher auf dem Boden der Senke sehen konnten. Percy riß das Lenkrad ruckartig herum, um die Bodenwelle 240
in Kurven zu nehmen und nur die äußeren Wagenräder, die weniger belastet waren, durch die tiefsten Löcher rollen zu lassen. Trotz Percys Geschicklichkeit setzten wir mit einem Aufprall, der uns von Kopf bis Fuß durchschüttelte, und mit einem durch Mark und Bein gehenden, blechernen Knirschen auf der anderen Seite auf. Mann griff sich mit beiden Händen an den Kopf, um seine Wunde zu schützen. Auch dem Landrover war der Hopser wohl nicht gut bekommen. Er mußte die vier Menschen ganz schön durcheinandergeworfen haben. Jedenfalls hatte er sein Tempo verringert, so daß wir ihn fast einholten und sogar sein Spritzwasser abbekamen. »Los, machen Sie ihm Beine!« sagte Mann. Percy schloß noch dichter auf, und da sahen wir, daß Mrs. Bekuv das Steuer übernommen hatte. Ein paar Kilometer rasten wir um die Wette. »Im Treibsand können sie uns eine lange Nase machen«, meinte Percy. »Mit dem Vierradantrieb brauchen sie bloß in die Wüste auszuweichen und sind längst wieder auf der Piste, während wir uns noch mit Schaufeln die Zeit vertreiben.« »Sie haben doch Ihre Sandmatten dabei?« fragte Mann und war drauf und dran, einen Krach anzufangen. »Was sind Sandmatten?« fragte Percy unschuldig und legte den Kopf schief, um Manns Reaktion im Spiegel zu beobachten. Mann rang sich ein säuerliches Lächeln ab und hüllte sich in Schweigen. Die Sonne mußte nun schon höher am Himmel stehen, doch blieb sie hinter dunklen Regenwolken verborgen. Ein paar gelbe Lichter hoch über der Straße entpuppten sich bald als Dorf. Die Hupe des Landrovers gellte durch die enge Dorfstraße. Ohne das Tempo zu vermindern, rasten wir auf der gewundenen Gasse hinterher. Ein jähes Aufkreischen der Bremsen zeigte uns an, daß Mrs. Bekuv den riesigen Wüstenbus, der mitten auf der Dorfstraße parkte, gesehen hatte. Doch der Landrover raste mit fast unverminderter Geschwindkeit weiter und entging nur dadurch mit knapper Not einem Frontalzusammenstoß, daß er auf den steil ansteigenden Gehsteig auswich und in dem schmalen Raum zwischen dem Bus und den Häusern durchflitzte. Percy hinterher. Männer und Frauen liefen in Panik auseinander - ein Wirbel von Federn - von Hennen, die sich vom Dachaufsatz des Busses losgerissen hatten und durch die Luft taumelten, ein ekelhaftes Aufklatschen, als eine von ihnen gegen unsere Wagentür prallte, und wir waren durch und wieder auf der Bergpiste. Die Straßenoberfläche bestand jetzt aus losem Schotter. Percy fiel etwas zurück, 241
nachdem uns ein paar Steine gegen die Windschutzscheibe geknallt waren. »Versuchen Sie, den Abstand zu halten«, sagte Mann, und wir blieben ein paar Minuten lang in gleicher Entfernung. Dann, nach einer geraden Strecke, bei der Percy die Tachonadel gut über hundert vorschnellen ließ, fiel die Straße in einem unübersichtlichen Labyrinth von Kurven steil ab und führte durch ein grünbewachsenes, kleines Tal. »Herrgott!« schrie Mann mit einem Mal, und im selben Augenblick hörte ich Percy keuchend nach Luft ringen. Der Landrover vor uns hatte die Geschwindigkeit stark gedrosselt, doch das bedeutete bei der Gradlinigkeit der Straße, daß er mit mehr als fünfzig immer noch einen guten Zahn drauf hatte. Er rutschte ein wenig seitwärts, wackelte dabei bedenklich hin und her und nahm dann sein altes Tempo wieder auf, nachdem ein Bündel von ihm abgefallen und an den Straßenrand gerollt war. Percy stemmte einen Arm quer über meine Brust und trat mit Gewalt auf die Bremse. Der Wagen kam kreischend zum Stillstand. Trotzdem mußten wir noch ein Stück zurücksetzen, um das Bündel ausfindig zu machen, das aus dem Landrover herausgeworfen worden war. Mann war vor mir draußen. Das regennasse Gras war hoch, und ein junger Mann mit verrenkten Gliedern lag im Gestrüpp. Wir knieten uns neben ihn hin. Mann nahm seinen schlaffen Arm und fühlte seinen Puls. »Der Fahrer von der Handelsdelegation - sieht ganz aus wie ein Rußki, was?« »Armer Teufel«, sagte ich. Der Junge öffnete den Mund und stöhnte. Ich sah, daß seine Zähne blutverschmiert waren. »Sie haben ihn rausgeworfen, um das Gewicht zu vermindern«, sagte ich. Der Junge übergab sich - das meiste war Blut. »Sieht so aus«, erwiderte Mann. Er fragte den Jungen: »Wer hat es getan?« Doch er bekam nur ein Wimmern zur Antwort. »Was sind das für Menschen, die so was machen?« Mit einem-Taschentuch wischte ich dem Jungen das Gesicht ab. »Wir müssen weiter«, sagte Mann. Er war aufgestanden. »Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, protestierte ich. »Wir haben keine Wahl«, sagte Mann. »Herrgott, das wissen Sie doch auch. Die verlassen sich doch grade auf unser Mitleid, und daß wir ihn nicht allein lassen.« 242
Ich stand auf. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube, sie hatten angenommen, bei der geringen Geschwindigkeit könnten sie ihn rauslassen, ohne daß ihm was passierte - sie haben sich nur verschätzt.« »Ja, ja«, sagte der Major, »und den Weihnachtsmann gibt es auch in Wirklichkeit. - Los jetzt, kommen Sie schon!« Der Motor heulte auf - Percy hatte ungeduldig aufs Gaspedal getreten. Der sterbende Junge blickte mich hilfesuchend an, doch ich wandte mich ab und folgte Major Mann zurück zum Wagen. Percy fuhr los, bevor wir die Türen zugeschlagen hatten. »Holen Sie ihn ein!« befahl Mann. »Darum geht es nicht«, sagte Percy. »Das Problem ist viel eher, daß sie vielleicht von der Straße abgewichen sind und sich verstecken und daß wir an ihnen vorbeifahren.« Ich begriff, daß diese beiden Männer so ehrlich und rechtschaffen einzig auf ihre Pflicht konzentriert waren, daß sie es ohne weiteres fertigbrachten, den sterbenden Jungen allein zu lassen. Doch ich konnte mir für diese Haltung keine Bewunderung abringen. »Da! Da sind sie!« sagte Major Mann. Der dunkelgrüne Landrover war nicht größer als ein Spielzeugauto und zwischen den Pinien, dem Buschwerk und den schlammüberzogenen Felsbrocken schwer zu entdecken. Doch nachdem ihn Mann gesichtet hatte, sah ich ihn auch - wie er zwischen den Bäumen dahinglitt und mit einem kleinen Anlauf über die gewölbte Brücke setzte, welche die Talsohle überspannte. Jetzt mußten wir uns auf eine andere Fahrweise umstellen, teils, weil es manchmal steil abwärts ging, teils, weil viel mehr Menschen unterwegs waren, sogar Pferde. An einer Stelle versuchten Soldaten, uns zu stoppen. Percy hupte mit seinem gellenden Zweiklanghorn, und sie sprangen erschrocken zur Seite. »War das eine Straßensperre?« fragte der Major. »Nur Anhalter«, sagte Percy. »Hoffentlich haben Sie recht«, meinte der Major. Wir hatten den Landrover aus den Augen verloren. Er mußte so an die zwei bis drei Kilometer tiefer im Tal sein. Percy erhöhte das Tempo, doch wir gerieten in Morast und losen Schotter und begannen zu schleudern. Dann stieg die Straße erneut an, kletterte mehr als dreihundert Meter höher hinauf. Hier war sie wenigstens trocken, bis auf die Stellen, wo überfüllte Gullys das Regenwasser zurück auf die Straße spuckten. Wir überquerten die Kuppe der nächsten Anhöhe und blickten in einen bleichen Himmel, der so glasig war wie ein rosa 243
getönter Spiegel. Percy blinzelte gegen das Licht, um den Verlauf der Straße zu ermitteln, die sich um einen Gebirgsvorsprung wand. Vom Landrover noch immer keine Spur. Percy raste immer schneller und schneller. Zum erstenmal in meinem Leben wurde mir in einem Auto schlecht. Er hatte sich für Haarnadelkurven eine ganz verrückte Technik angeeignet: Er fuhr mit Vollgas auf sie zu, dann - kurz vor der Kurve riß er das Lenkrad blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung, verlor dadurch Geschwindigkeit und steuerte dann ruckartig zurück in die Kurve. Mit dieser Art von Pendeleffekt wurden wir jedesmal gewaltsam um die Biegung gerissen, und Percy rammte gleich wieder den Fuß aufs Gaspedal, noch ehe der Wagen in die nächste Gerade geschleudert war. Wir flogen wie auf der Achterbahn herum, so daß meine Nieren nach kurzer Zeit von der Rücklehne des Sitzes schmerzhaft durchgewalkt waren. Zum Fehlermachen war kein Platz mehr: Auf der linken Seite flitzten wir an zerklüfteten Felswänden vorbei, und zu unserer Rechten lag der Abgrund. Die Autofenster waren schlammbespritzt, und nur die kleine Fläche, die von den Scheibenwischern freigelegt wurde, war uns zum Durchblicken geblieben. Auch der anhaltende Nieselregen kam nicht gegen den Schlamm auf unseren Scheiben an, immerhin lieferte er aber so viel Feuchtigkeit, daß die Scheibenwischer funktionierten. In der nächsten Biegung brach eine wahre Flut von Schlamm und losem Kies über uns herein, und Percy kurbelte seine Scheibe runter, um sich Sicht zu verschaffen. Ich tat dasselbe auf meiner Seite. Der naßkalte Wind pfiff uns um die Ohren. Wir hatten um die hundert Sachen drauf und rasten über eine Hügelkuppe, als wir sie plötzlich erblickten. Der Theorie nach soll ein schnelles Auto einer ganzen Schafsherde den Gang zum Schlachthof ersparen können, indem es einfach über sie hinwegrollt - aber das stimmt nicht. »Das war's!« schrie Percy noch. Es gab keine Möglichkeit mehr zum Ausweichen. Die Schafe blockierten die Straße, stoben entweder in Panik blökend wild umher oder standen wie angewurzelt da und starrten uns furchtsam entgegen: Es mußten mehrere hundert sein. Percy steuerte mit Vollgas seitlich auf die Felswand heran. Die Wucht des ersten Anpralls schüttelte uns bis ins Mark durch, und brachte die Karosserie wie eine Stimmgabel zum Klingen. Wir verloren ein Vorderrad. Beim nächsten Anprall riß sich ein Teil der völlig 244
zerquetschten Federung los, und eine Menge Blech wurde abgesäbelt. Die Motorhaube machte sich selbständig, grub sich ins Geröll und feuerte wie ein schweres Maschinengewehr eine Salve von kleinen Steinen gegen uns ab - die Windschutzscheibe ging zu Bruch. An der Felswand entlang schleudernd verringerte sich zwar unsere Geschwindigkeit allmählich, doch dann wirbelte der Wagen um die eigene Achse - und wir blickten zurück auf die Strecke, die wir gekommen waren. Percy tat alles genau wie im Lehrbuch: Er trat hart aufs Gaspedal, und die Reifen gruben sich ins lockere Gestein, bremsten und wurden dabei zu Fetzen zerschlissen. Eine schwarze Rauchwolke verfinsterte die Welt. Doch auch das reichte nicht aus, uns zum Halten zu bringen - mit aufheulendem Motor schleuderten wir mit fünfundsiebzig Stundenkilometern rückwärts. Ich rüttelte an der Tür, aber ich konnte die Klinke nicht finden. Mein Sitz wurde aus seiner Halterung gerissen und ich schlug mit dem Kopf gegen das Wagendach, während wir plötzlich über den Rand der Welt kippten. Der Motor kreischte auf, die Erde legte sich schräg, und wir rutschten unter dem donnernden Poltern sich lösender Autoteile und mitgerissener Buschlawinen den steilen Hang hinunter. Zweimal wäre der Wagen zwischen Gesträuch und Bäumen fast zum Stehen gekommen, doch beide Male riß er sich wieder eine Schneise. Doch dann wurde das Gelände flacher, und nun kamen uns die losgerissenen Federn und das fehlende Rad zugute: Wir durchfurchten den Boden wie ein Pflug und wurden dadurch immer langsamer. Wir schlingerten noch ein paarmal, kippten zur Seite und kamen schließlich, nach vorn überhängend und eingehüllt in ein Gewirr von Dorngesträuch, Felsen und Büschen, zum Stillstand. Ich lag ausgestreckt auf meinem Sitz und vernahm das Gurgeln des auslaufenden Sprits. Die Luft war erfüllt von Benzingestank, und ich wollte mich eigentlich übergeben - wenn mein Gurt mich nicht daran gehindert hätte, der mir fast den Hals abwürgte. Percy hatte die Augen geschlossen - und auf seinem Gesicht war eine Menge Blut. Ich konnte mich nicht weit genug umdrehen, um nachzusehen, wie es um Major Mann stand. Vergeblich versuchte ich mein Bein freizubekommen, das im zerquetschten Blech zwischen Armaturenbrett und Lenkrad eingeklemmt war. Ich wollte es mit einem Ruck herausziehen, doch das tat ziemlich weh, und ich spürte, wie sich meine Socke mit Blut vollsaugte. Jemand schrie: »Feuer!« Doch die Stimme wurde leiser und leiser und verwehte in der Dunkelheit. Es wurde auf einmal kalt - entsetzlich kalt. 245
KAPITEL 22
Grelles Licht blendete sekundenlang meine Augen, und als ich allmählich zu Bewußtsein kam, sah ich es auch über die Zimmerdecke flackern und dann über die bunten, arabischen Spruchbänder gleiten, die an der Wand hingen. Das eiserne Bettgestell quietschte, als ich meine Beine unter der schweren, rauhen Decke bewegte, die man mir über die Füße gebreitet hatte. Nur allmählich sah ich den Mann etwas deutlicher — er saß regungslos in einer Ecke, ein fetter, unrasierter Mann mit schweren Augenlidern. Über ihm hing eine Uhr, die nicht ging, und eine stark retuschierte Farblithographie eines Politikers in Uniform. Der fette Mann begann zu sprechen, ohne dabei einen Muskel, ja, fast ohne dabei den Mund zu bewegen: »Der Mann mit Hut ist wach.« Sein Arabisch war nicht von hier, es klang eher östlich, ägyptisch vielleicht, wo der Mann mit Hut - charwaja — noch der Ungläubige, der Heide, der Feind ist. Eine Stimme im Nebenzimmer sagte: »Wenn Allah so will...« — ohne über den Willen Gottes allzusehr begeistert zu sein. »Hole ihn her«, sagte der fette Mann. Ich hörte Geräusche im Nebenzimmer. Mit Anstrengung konnte ich den Kopf so weit drehen, daß ich die Tür sah. Schließlich erschien Percy Dempsey - und wieder blendete mich für Sekunden das grelle Licht. Jetzt merkte ich auch, was es war: ein kleiner Wandspiegel, der durch die Zugluft von der Tür her ins Pendeln geriet. »Na, wie geht's denn so?« fragte Percy mit einer Tasse Kaffee in der Hand. »Saumäßig«, erwiderte ich. Ich nahm den Kaffee gerne an, den er mir reichte - diesen starken, schwarzen, überzuckerten arabischen Kaffee mit dem scharfen Kardamomgeschmack. »Ihr Freund hat noch eins auf die Haube bekommen«, sagte Percy. »Er ist zwar bei Bewußtsein, aber er schläft. War' nicht schlecht, wenn Sie aufständen und mal nach ihm schauten... aber ich bitte Sie, verschütten Sie doch nicht gleich den guten Kaffee!« Ich kroch aus dem Bett und fand mich bis auf die Schuhe voll angekleidet. Als ich sie anzog und mich dabei bückte, fingen eine Menge Muskeln, von deren Vorhandensein ich bislang keine Ahnung hatte, höllisch an zu schmerzen. »Sie haben Ihre Sache prima gemacht, Percy«, sagte ich. »Danke.« 246
»Wenn du schon wo anstoßen mußt, dann stoß rückwärts an - das hat mein alter Herr immer gepredigt. Und der mußte es wissen - der hat schließlich die Rallye Monte Carlo zweimal hintereinander gewonnen -spielend, sag' ich Ihnen!« »Fahrend wäre vielleicht besser gewesen.« Noch schlechter konnten meine Witze jetzt kaum noch werden. Percy lächelte dennoch höfljch und brachte mich in das kahle Kämmerchen, wo Major Mann lag. Jemand hatte ihm die Krawatte abgebunden, die Schuhe ausgezogen und das Jackett unter den Kopf gelegt. Sein Haar war wirr, sein Gesicht unrasiert, und die vom Streifschuß herrührende Prellung hatte inzwischen sein halbes Gesicht in eine von blau über rosa bis purpurrot reichende Farbpalette verwandelt. Ich beugte mich über ihn und rüttelte ihn. »Wa-wa-was?« stöhnte er. »Wollen Sie Tee oder Kaffee - oder ein Autodafe?« »Hauen Sie ab!« sagte Mann, ohne die Augen zu öffnen. »Gehen Sie - lassen Sie mich in Frieden sterben!« »Sie Spielverderber«, sagte ich, »gerade dabei wollen wir doch zusehen!« Mann stöhnte nochmals und sah auf seine Uhr. Dann schwenkte er den Arm hin und her, als wollte er prüfen, ob seine Augen noch in Ordnung waren. Schließlich sagte er lakonisch: »Wir müssen weiter.« »Weiter? Du liebe Zeit - wie denn? Das Auto ist hin«, sagte ich. »Wollen Sie vielleicht eins kaufen?« fragte Percy. »Fünfundachtzigtausend bar auf die Hand... zwar zweiter Hand, aber garantiert noch keine Rallye gefahren.« »Zu teuer«, sagte Mann. »Mieten Sie eins.« »Hab' ich schon getan«, sagte Percy. »Schon vor fünf Stunden, da haben Sie noch fest geschlafen. Es müßte an sich irgendwann mal hier sein.« »Dann sitzen Sie hier nicht rum, als ob sie auf Applaus warten«, sagte Mann. »Hängen Sie sich ans Telephon und setzen Sie ein bißchen Druck dahinter!« »Regen Sie sich nicht auf«, meinte Percy. »Ich hab' mich mit meinen Mann in Ghardaia in Verbindung gesetzt. Der Landrover hat dort getankt und ist weitergefahren. Mein Mann hat die Verfolgung aufgenommen, und er wird uns auf der Straße Zeichen hinterlassen.« »Und wie?« fragte der Major. »Wir sind hier schließlich nicht auf der Oxfordstreet«, erklärte 247
Percy, »sondern auf dem Trans-Sahara-Highway. Wenn man in den Süden will, muß man entweder die Route über In Salah oder die andere über Adrar nehmen, die weiter nach Reggane und schließlich nach Timbuktu führt.« »Diese Strecke sind wir letztesmal runtergefahren«, sagte Mann. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und betastete sein aufgedunsenes Kinn und seine Backe. Dann setzte er sich mühsam auf und faltete sorgfältig sein Jackett auseinander. Er sah mich an. »Wissen Sie, daß Sie gar nicht gut aussehen?« »Es geht mir auch nicht besonders gut«, gab ich zu. »Aber dafür läuft mein Gehirn wieder auf tollen Touren. Warum aber brauchte Mrs. Bekuv unbedingt einen Landrover - etwa, weil er zu der Farbe ihrer Ohrringe paßt oder weil Landrover diese Woche im Angebot sind? Sicher nicht. Ich nehme an, daß sie ihn im Anflug auf Algier bereits per Funk angefordert hat - ausdrücklich einen Landrover.« »Warum?« fragte Mann. »Ja, warum wohl! Warum ausgerechnet diesen schwerfälligen Wagen, den jedes Fahrzeug überholen kann - angefangen vom Einkauf sfiat der modernen Hausfrau bis zum städtischen Linienbus! Wir sind ihr bis jetzt ohne Mühe auf den Fersen geblieben - warum hat sie eigentlich keinen entsprechend ausgestatteten schnellen Wagen verlangt? Wenn man sich an Asphaltstraßen hält, könnte man nämlich genausogut mit einem Ferrari die Strecke befahren, falls er mit den entsprechenden Sandfiltern und einer verstärkten Ölwanne ausgerüstet ist.« »Doch weiter, als die Asphaltstraße reicht, würde sie doch mit so 'nem frisierten Auto nicht kommen. Und die ausgebaute Straße endet auf der einen Route in In Salah und auf der anderen südlich von Adrar. Von da ab gibt's nur noch Piste«, sagte Percy. »Ausgezeichnet, mein Lieber«, erwiderte ich sarkastisch. »Offenbar haben Sie immer noch nicht mitgekriegt, daß diese Mrs. Bekuv mit allen Wassern gewaschen ist. Sie hätte sich natürlich einen Geländewagen für die Piste an Ort und Stelle hinbestellt. Das wäre ihr Stil gewesen: ein letztes Abschiedswinken in Algier, und schon da hätte sie uns abgehängt.« »Ich bin heut nicht in Form, Rätsel zu raten«, sagte Mann. »Sprechen Sie Klartext.« »Sie werden bereits vorher die ausgebaute Straße verlassen - denn was sie vorhaben, wird sich bestimmt nicht am Swimmingpool eines der Regierungshotels abspielen. Und wenn ich mich in Mrs. Bekuv nicht täusche, wird sie nachts von der Straße abbiegen.« 248
»Deshalb kam auch der Professor damals mit dem GAZ angefahren _ hab' ich nicht immer gesagt, wie verdächtig mir dieser Wagen vorkam: der einzige GAZ in ganz Algerien! Aber er brauchte einen Geländewagen, um vorher ins Sandmeer rauszufahren... um dort was zu deponieren, was sie jetzt abholen wollen.« »Es ist zu groß, als daß man es einfach vergraben könnte«, sagte ich. »Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt.« »Falls Sie recht haben«, meinte Percy, »brauchen wir allerdings auch einen Landrover.« »Unbedingt«, sagte ich. »Oder einen Lastwagen«, meinte Percy. »Ein nicht zu schwer beladener Lastwagen ist fast genauso geländegängig.« Major Mann wandte sich an Percy: »Also machen Sie schon, und fordern Sie an, was wir brauchen«, sagte er, »ich muß hinter ihnen her«, und damit pochte er mit seinem nikotinverfärbten Zeigefinger auf Percys Brustkasten, »und wenn es auch über Stock und Stein und durch Wadis und was sonst noch geht.«
249
KAPITEL 23
Manch einer wird von der Wüste so hypnotisch angezogen wie andere vom Meer. Und doch ist es nicht der Sand oder das Wasser, was einen in den Bann zieht, es ist im Grunde der magische Zauber des immerfort wechselnden Lichts, den man hier am besten erleben kann. Ganz unscheinbare Bodenwellen - unbedeutend und flach in der Mittagssonne - werden im Abendlicht zu zerklüfteten Gebirgen, und ihr um die Mittagszeit blaßgoldener Schatten wird dann zu einem abgrundtiefen, schwarzen See. Die Sonne stand im Zenit, als wir die Wüste erreichten. Man konnte im eignen Schatten stehen, wenn man den Mut hatte, sich der Mittagsglut auszusetzen. Doch weder Ziegen noch Kamele, nicht einmal Schlangen und Skorpione lassen sich um diese Zeit draußen blicken - nur übergeschnappte Hunde und Engländer, wie es in dem alten Schlager heißt. Und natürlich Major Mann vom CIA. Durch den Ventilator drang unablässig ein feiner Staubwirbel in den Wagen. Ich schaltete ihn aus und ließ die Scheibe runter - heißer Wind blies mir ins Gesicht. Ich kurbelte sie sofort wieder hoch. Percy wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Straße vor uns flimmerte in der Mittagshitze, der Himmel über uns war nicht blau, sondern von einem dunstig-verschwommenen Weiß, ebenso wie der Sand in der Ferne: Der Horizont hatte sich einfach aufgelöst. Das grelle Licht spiegelte uns große Seen vor, die sich erst in Nichts auflösten, wenn wir in sie eintauchten. Die Straße nach Süden führt am Rande eines Sandmeers vorbei, das ungefähr die Größe Englands hat. Braune Dünen lagern dort wie schuppige, prähistorische Echsen in der Sonne und schnauben Sandwölkchen aus, die dann und wann von ihren Kämmen fortstieben. Über die Straße schlängelt sich der Sand wie eine Brut von Nattern, die gegen das Fahrgestell zischen, wenn man sie überfährt. Stellenweise hatte sich der Sand auch in Form von ansteigenden Rampen auf der Straße angesammelt, die man erst in letzter Sekunde wahrnahm. Trotz der Sicherheitsgurte wurden wir jedesmal, wenn wir plötzlich mit Wucht auf sie auffuhren, gegen das Autodach geschleudert oder gegen die Scheiben gedrückt. »Noch ein etwas größerer Sandhaufen- und wir können uns an Ort und Stelle begraben lassen«, sagte ich, nachdem wir auf einen solchen Sandwulst ganz besonders hart aufgeprallt waren. 250
»In dieser Jahreszeit wird der Sand einmal in der Woche oder so von einem Räumungskommando beseitigt«, sagte Percy. »Hier mit dem werden wir vielleicht noch fertig... aber wenn der Wind sich nicht dreht...« »Was ist, wenn er sich nicht dreht?« »Dann haben wir Pech gehabt!« Percy nahm eine Hand vom Lenkrad und deutete auf den Sandsturm am Horizont, den er offenbar schon längere Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. »Ich fürchte nämlich, das da kommt direkt auf uns zu.« »Heiliger Strohsack, das hat uns noch gefehlt«, knurrte der Major. Wir beobachteten stumm die vorläufig noch kleine Wolke, bis Mann auf einmal fragte: »Das da vorn — ist das ein Dorf oder eine Oase?« »Weder - noch«, sagte Percy. »Egal, halten Sie«, sagte Mann. »Der Platz ist zum Pinkeln wie geschaffen.« Was uns von weitem wie eine Baumgruppe vorgekommen war, entpuppte sich als ein Dutzend Dornbüsche, die alle in einer Reihe wuchsen - es war anzunehmen, daß sie einen unterirdischen Wasserlauf markierten, wenn man nur tief genug graben würde. Auch ein alter Renault stand da, völlig demontiert, so daß nur das Stahlgerippe übriggeblieben war - außen vom Sand inzwischen spiegelblank poliert und innen rußgeschwärzt: weit und breit der einzige windgeschützte Platz, um ein Feuer zu entfachen. Ich stocherte in der Asche herum und fand ein paar Stücke Reifengummi - statt Kamelmist inzwischen Hauptbrennstoff der Nomaden - und ein paar zerbrochene, vom Sand blindgeschliffene Flaschen. Dann entdeckte ich eine zerknitterte Zigarettenschachtel. Ich hob sie auf und strich sie glatt: Kool Mentholated Filter Longs - Red Bancrof ts Zigarettenmarke. Ich warf sie wieder fort, doch gleichzeitig spürte ich, daß ich von Red noch längst nicht losgekommen war. »Ich habe gesagt Pinkeln! Und das heißt nicht Scheißen und Schmieren, Rasieren und Frisieren!« Mann hatte sich wieder einmal auf seine Militärzeit besonnen. Er stand neben dem Wagen und trommelte ungeduldig gegen die Tür. »Und jetzt fahre ich«, sagte er, während ich einstieg. »Aber bitte sehr«, sagte Percy. »Wir haben es ja nicht eilig.« Ich legte mich auf den Rücksitz und döste vor mich hin. Ab und zu gab es einen fürchterlichen Ruck, der mich fast bis zum Wagendach hochschleuderte. Die Sonne begann zu sinken, wurde ockergelb und dann zu Gold. Der Himmel nahm eine violette Farbe an, und die Dü251
nen schienen ihre Rücken zu dehnen, während sie immer längere Schatten warfen. An der Windschutzscheibe klebten keine Insekten mehr - die Luft war trocken und so angenehm kühl, daß wir die Scheiben herunterließen. Nur das Zischen des Sandes hörte nicht auf. Unsere Nummernschilder waren inzwischen völlig blank geschliffen, der Sand hatte Buchstaben und Zahlen ausradiert - ein Kennzeichen für Autos, die tief in die Wüste vordringen. In den wenigen Dörfern, die wir jetzt passierten, blickten uns die Bewohnter lange nach. Ich schlief, so gut es unter den Umständen ging. Manchmal wurde ich wachgerüttelt, wenn ein Gegenfahrzeug uns zwang, von der Fahrbahn abzuweichen, dann wieder stürzte ich scheinbar endlos durch schreckliche Träume. Die Sonne ging unter, und es gab nur noch die beiden Lichttunnel unserer Scheinwerfer, die sich in die Endlosigkeit der Nacht hineinbohrten. »Mein Freund erwartet uns«, sagte Percy. Seine Stimme klang kühl und unbeteiligt wie alle Männerstimmen in der Nacht. »Und wenn wir Kamele brauchen - er wird sie bereithalten.« »Also für mich nicht - ich rauche beinahe nicht mehr, und für das Tier auf der Packung meilenweit zu laufen, lohnt sich doch nicht.« Mann lachte schallend. Percy verzog keine Miene. Bald danach muß ich wohl eingeschlafen sein. »Verlegen Sie ganz China und dazu die USA in den afrikanischen Kontinent, und es wäre immer noch ein Haufen Platz«, erklärte Percy Dempsey. »Ich kenne ein paar Leute in Vermont, die würden das gar nicht gerne hören«, sagte Mann. Dempsey reagierte mit einem pflichtschuldigen Lachen. Vor uns lag eine schnurgerade, wie von einem Lineal gezogene Straße, die sich am Horizont in Hitzeschleiern auflöste. Dempsey hielt ein konstantes Tempo ein, nur wenn uns Treibsand in die Quere kam, nahm er den Fuß vom Gaspedal. »Da vorne - ein Konvoi - geparkt, wie mir scheint.« Unter normalen Umständen kam Percy einem immer etwas kurzsichtig vor, und seine Augen fingen an zu tränen, wenn er Zeitung las oder seinen geliebten Simenon — doch hier in der Wüste konnte er erstaunlich gut sehen, er erkannte offensichtlich Dinge am Horizont sehr viel früher, als Mann und ich sie auch nur wahrnehmen konnten. »Nein, keine Lastwagen... Omnibusse«, fuhr er fort. »Wäre ja auch sonst zu früh für eine Pause, scheint mir.« Diese riesigen, südwärts nach Timbuktu rollenden Lastkraftwa252
gen, welche Percy zuerst gemeint hatte, sind jeweils mit zwei Fahrern bemannt, die in Etappen fahren und sich für die Mahlzeiten und Schlafpausen gegenseitig ablösen. Wenn sie einen Stopp machen, dann gewöhnlich nur, um Wasser abzukochen und sich ihren starken und süßen Minztee aufzugießen, der dem Araber der Wüste lebenswichtiger ist als der Schlaf. Als wir näherkamen, sah ich, daß Percy recht hatte: Es waren tatsächlich zwei luxuriös ausgestattete Fernreisebusse, die ein ebenso riesiges Fahrgestell und dieselbe mannshohe Bereifung hatten wie Lastzüge. Aber es handelte sich um chromblitzende, mit dunkelgetönten Fenstern versehene Busse einer deutschen Touristikfirma, deren großbuchstabiges Markenzeichen einem schon von weitem in die Augen stach. Neben der Piste war ein kleines orangefarbenes Zelt mit der Aufschrift »Damen« aufgeschlagen, doch für das andere Geschlecht war nichts dergleichen vorgesehen. Und die Herren waren anscheinend gerade damit beschäftigt, sich für ein Gruppenbild aufzustellen. »Nicht anhalten«, sagte der Major. »Vielleicht müssen wir es aber«, meinte Percy. »Wenn jemand in Schwierigkeiten ist und man fährt vorbei, ohne Hilfe anzubieten, dann ist das schon sehr schlimm.« Er drosselte das Tempo und fuhr langsam an den beiden Bussen vorbei, bis ein älterer Mann in einem Arbeitskittel erschien und abwinkte - demnach schien alles in Ordnung zu sein. »So ändern sich die Zeiten«, sagte Percy. »Britische Pfadfinder fahren diese Tour nach wie vor mit ausrangierten Bedford-Armeelastwagen.« Es dauerte eine gute Stunde, bis wir an der Stelle anlangten, wo Percy s Freund auf uns wartete. Eine atemberaubende Hitze schlug uns entgegen, als wir aus dem Auto stiegen, um den Ort zu inspizieren, an dem der Landrover der Bekuvs die Piste verlassen hatte und westwärts in die offene Wüste abgebogen war. Die Reifenspur war deutlich im Sand zu erkennen, doch der harte, zusammengepappte Untergrund war stellenweise aufgebrochen und bildete flache, zementharte Senken, die sich manchmal bis zu achthundert Meter hinzogen. Wir stiegen in den Landrover um und überließen den Mietwagen Percys Fahrer. Er fuhr in südlicher Richtung weiter, denn es war besser, wenn der Wagen pünktlich den nächsten Polizeiposten passierte. Percys Araber in dem verbeulten Landrover würde man weniger Aufmerksamkeit schenken. 253
»Fahren Sie langsam«, sagte Mann. »Der Landrover vor uns hat die gleiche Reifenspur wie wir - nachher gibt es noch eine Verwechslung.« »Ausgeschlossen. Seine sind längst nicht so abgefahren, außerdem ist ein Reifen von ihm noch ganz neu.« »Ich habe keine Lust, wie Sherlock Holmes im Sonnenschein herumzukriechen, um mit meinem Westentaschenmikroskop Reifenabdrücke zu untersuchen«, knurrte Mann. »Nein wirklich? Haben Sie ein Mikroskop bei sich?« fragte Percy. »Es gibt nämlich in der Wüste Blumen, bei denen es sich wirklich lohnt, sie in der Vergrößerung zu betrachten.« Es ließ sich beim besten Willen nicht sagen, ob Percy es ernst meinte oder ob er sich über den Major lustigmachte. Wir waren an den Rand des harten Bodens gekommen, welchen die Straßenbauer als Untergrund für die Anlage ihrer Schotterstraße gewählt hatten, und gerieten jetzt auf kiesigen Boden, der zuerst auch eben war, dann aber waschbrettartige Wellen entwickelte und zunächst der Federung zu schaffen machte, bis Percy die richtige Geschwindigkeit herausgefunden hatte, bei der die Bodenriffelung rhythmisch ausgeglichen wurde. Wir kamen etwa eine Stunde lang recht gut vorwärts, bis wir an die ersten weichen Stellen gerieten. Percy raste zuerst mit Vollgas über sie hinweg und kam auch immer im letzten Moment an eine Stelle, die uns wieder trug. Doch war es nur eine Frage der Zeit, bis wir im Sand steckenbleiben würden. Percy mußte schließlich den Vierradantrieb einschalten und ganz langsam weiterrollen. Der Boden wurde zunehmend weicher, und bald war es soweit, daß wir uns nur noch vorsichtig zwischen einer ganzen Kette von Dünen durchschlängelten. Die Spur lief um die wirklich hohen Sandberge herum, aber der Landrover schaukelte dennoch wie auf einer Bergund Talbahn. Der vorherrschende Ostwind ließ zwar die uns zugekehrten Dünenseiten in sanfter Böschung ansteigen, doch fielen sie auf der anderen Seite um so steiler ab. Andererseits gab es keine andere Alternative, als hügelauf zum Dünengrad jedesmal die Geschwindigkeit zu erhöhen, wodurch wir geradezu über die Dünenkämme hüpften. Niemand sprach, doch wir waren uns alle darüber im klaren, daß es nur einer geringen Veränderung der Bodenbeschaffenheit oder einer sekundenlangen Unaufmerksamkeit seitens Percy bedurfte, und wir blieben entweder auf dem Kamm oder am Fuß einer Düne stecken. Und wir waren gerade auf dem Grat einer an sich 254
harmlosen Erhebung, als ich auch schon spürte, wie der Sand gegen das Chassis drückte - im gleichen Augenblick riß Percy das Lenkrad gewaltsam herum, so daß wir seitwärts, und von einer dichten Sandwolke eingehüllt, den Abhang hinunterschlitterten. In steilem Winkel in den Sand gebohrt, kamen wir zum Stehen. Mann fluchte und rieb sich den wunden Kopf. Jetzt erkannte ich auch durch den dichten, braunen Staubwirbel, was Percy veranlaßt hatte, so plötzlich seitwärts abzudrehen: etwa vierzig Meter vor uns stand ein Landrover - leer und verlassen. Noch bevor der aufgewühlte Sand wieder herabgesunken war, hatte Mann schon einen Satz vom Wagen gemacht und folgte den noch sichtbaren Spuren der Insassen, die den Landrover zurückgelassen hatten. Eine Frau, vermutlich Red Bancroft, hatte sich ihrer Schuhe entledigt und war barfuß weitergelaufen, ein Mann - es konnte nur der Professor sein - war der Länge nach hingeschlagen und hatte den Abdruck seiner mageren Gestalt im Sand hinterlassen. Wir folgten der Fährte, bis sie etwa fünfzig Meter weiter von flachen, ebenmäßig markierten Furchen abgelöst wurde. Mann war der erste, der sich aus diesen seltsamen Spuren einen Reim machen konnte. »Nicht zu fassen - ein Beachbuggy!« Er rannte weiter und fand auch gleich die Stelle, wo der Buggy mit seinen sich weich abzeichnenden Reifenabdrücken über den Kamm der nächsten Düne hinweggehuscht war. »Unverkennbar ein Beachbuggy!« rief er uns zu. Diese merkwürdigen, kleinen Vehikel, mit denen am Sandstrand herumzufahren in Kalifornien schon lange üblich ist - diese geländegängigen Flitzer waren in der Tat die einzigen Fahrzeuge, welche in einem Land wie Afrika den Landrover noch ausstechen konnten. »Was ist das - ein Beachbuggy?« fragte mich Percy. »Das ist ein leichter, offener Wagen mit Plastikkarosserie... er hat extra weiche Spezialreifen, die enorm breit sind. Dazu ein Sonnendach und einen massiven Überrollbügel - und wie Sie da vorn sehen, kann man an dem auch sehr gut ein Maschinengewehr montieren...« »Was halten Sie da für Volksreden... ?« fragte Mann und schaute nun endlich auch in die gleiche Richtung wie wir — nämlich zum Kamm der nächsten Düne. Und sah sie nun auch: die drei Araber in ihrem Beachbuggy. Ich musterte sie gründlich - vielleicht ließ sich ein Hinweis finden, woher sie kamen oder zu welchem Stamm sie gehörten. Sie waren so dunkelhäutig, wie es nur Araber im tiefen Süden werden. Als Schutz vor der Mittagsglut trugen sie den Howli eng um den Kopf geschlun255
gen. Ihre zerlumpte, verdreckte Kleidung war nicht leicht näher zu bestimmen, doch hatte sie wohl früher den Schnitt der Boubous gehabt, was bedeutete, daß die Männer aus dem äußersten Westen Mauretaniens stammten. Unbeweglich blickten sie uns an. Dann winkte uns der Araber auf dem Rücksitz mit seiner A.K.M.S.-Maschinenpistole herrisch zu sich heran, und wir kletterten gehorsam durch den glühend heißen Sand zu ihm hoch. Sie waren offenbar auf Patrouille, und als wir etwa eine halbe Stunde gelaufen waren, sahen wir auch, wo ihr Stützpunkt war: Vor uns lag, fast genauso ausgebleicht wie der Sand, der sie umgab, eine gewaltige Festung mit Zinnen und Wachtürmen. Seit der Römerzeit waren von den jeweiligen Beherrschern der Sahara derartige befestigte Anlagen gebaut worden, um die Karawanenstraßen, Brunnen und Wüstenpfade unter Kontrolle zu halten. Als letzte hatten die Franzosen hier Forts errichtet und sie mit Fremdenlegionären bemannt. Die Festung vor uns jedoch zeigte keine Nationalflagge, aber dafür war sie mit einem wahren Labyrinth von Kurzwellenantennen, Radarschirmen, Stabantennen, Spiralen- und Netzantennen, Rahmenantennen und den notwendigen Zu- und Ableitungen ausgerüstet. Noch nie im Leben hatte ich eine derartige Menge Antennen auf einmal gesehen. Ich hatte die Größe der Festung zunächst unterschätzt. Erst als wir nach einer weiteren Stunde Marsch immer noch nicht den massiven Torbau erreicht hatten, konnte man die Dimension der ganzen Anlage wirklich ermessen: Allein die Umfassungsmauer war so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude. Dann waren wir am Ziel, und die Araber trieben uns durch das Tor. Die Festung hatte einen doppeltorigen Zugang. Während wir durch den ersten Torbogen schritten, blickte ich nach oben in Öffnungen, durch die man jetzt den Himmel sehen konnte und die früher dazu gedient hatten, kochendes Öl auf die anstürmenden Feinde zu gießen. Das zweite Tor führte in einen großen Innenhof, in dem noch weitere Beachbuggies parkten. Dahinter stand ein Hubschrauber - er sah ganz aus wie der kleine, zweisitzige Kamov-Kampfhubschrauber, der den GAZ mit dem Araber jungen von der Straße gejagt und durch Beschüß zum Explodieren gebracht hatte. Man hatte die Rotoren abmontiert, und ein paar Mechaniker arbeiteten an den Gelenkwellen des Antriebes. Doch den meisten Raum nahmen zwei riesige Radioteleskope in diesem Hof ein, deren Schüsselantennen schätzungsweise einen Durchmesser von achtzehn Metern hatten. Bekuv hielt 256
sich bei ihnen auf, umschritt prüfend die Geräte, berührte hier und da ein Kontrollsystem, eine Schalttafel oder den Datendrucker eines Computers - mit einer scheuen Zärtlichkeit, welche Männer sonst nur für Oldtimer oder für neue Geliebte empfinden. »Heiliges Kanonenrohr!« sagte Mann leise beim Anblick der Teleskope. Er wußte sofort, wozu sie verwendet wurden. »He - Sie! Professor!« rief er. »Alles in Ordnung?« Bekuv sah uns lange an, bevor er antwortete. »Kommen Sie her!« sagte er schließlich, und das war ein Befehl. Wir schlürften zu ihm hinüber. »Warum haben Sie uns keinen Ton davon erzählt!« sagte Mann. Sie haben hier eine erstklassige Abhörstation für unsere Nachrichtensatelliten eingerichtet - und sagen uns davon nicht einmal was! Mensch, war das Ihre Idee?« In Manns Stimme schwang ehrliche Bewunderung mit, und Bekuv lächelte geschmeichelt. Er griff hinter sich, nahm von der Rücklehne seines Stuhls eine Wasserflasche und reichte sie dem Major. Mann trank einen Schluck und gab die Flasche an Dempsey und mich weiter. Das Wasser war zwar lauwarm und stark gechlort, doch nach diesem mörderischen Marsch durch die Wüste empfanden wir es als köstliche Erfrischung. Bekuv ließ Mann nicht aus den Augen und betrachtete eingehend die Prellung in seinem Gesicht und das inzwischen schmutzig gewordene Heftpflaster, das unter seinem Hut zu sehen war. Zum ersten Mal fiel mir Bekuvs bohrender, durchdringender Blick auf - oder kam das daher, daß ich ihn plötzlich mit ganz anderen Augen sah? »Ich dachte, Sie wären tot«, sagte Bekuv zu Mann. »Ich war überzeugt, daß Sie auf dem Flugplatz erschossen worden wären.« »Tut mir leid, aber ich muß Sie enttäuschen«, erwiderte Mann. Er ließ sich auf einer kaputten Kiste nieder und schloß die Augen. Der Marsch durch den weichen Sand hatte ihn völlig erschöpft. Bekuv sagte: »Ich hatte recht, Ihnen nicht zu trauen. Auch meine Frau hat keinen Augenblick lang an diesen Lehrstuhl an der New York University geglaubt... sie ahnte, daß Sie mir lauter Lügen auftischen.« »Deshalb hat sie auch mit Moskau vereinbart, daß Sie hierher zurückkehren durften«, sagte Mann. »Ja, ja, ist uns alles bekannt. Nur würde ich gern wissen, warum Sie wieder herkommen wollten.« »Sie sagte, ich müßte die Geräte abbauen und meine Aufzeichnungen vernichten.« »Das haben Sie doch aber nicht wirklich vor?« - warf ich ein. 257
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Bekuv. »Ich werde meine Forschungen fortsetzen. Gestern nacht habe ich Signale von Tau Ceti empfangen.« »Das ist ja phantastisch!« rief ich aus und heuchelte Begeisterung. »Wer ist denn Tau Ceti?« fragte Mann mißtrauisch. »Ein Stern«, erklärte ich dem Major. »Professor Bekuv hat schon im vergangenen Jahr Signale von ihm aufgefangen.« »Nicht möglich!«, sagte Mann. »So — Sie haben also die Bücher, die ich Ihnen geliehen habe, tatsächlich gelesen«, wandte sich Bekuv an mich. »Ja - auch Ihre Vorlesungen und Notizen«, sagte ich. »Ich habe alles sehr genau studiert.« Bekuv winkte einen seiner Helfer herbei und sprach auf ihn ein. Er sprach zu schnell, als daß ich seinem Arabisch hätte folgen können ich verstand nur, daß der Wächter Major Mann und Dempsey irgendwohin bringen sollte. Dann nahm er meinen Arm und führte mich in das Hauptgebäude der Festung. Es hatte meterdicke Wände, die sicher schon viele Jahrhunderte standen. »Wie alt ist dieses Fort?« fragte ich — mehr, um ihn bei Laune zu halten, als aus Neugier. Er griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Pfeilspitzen aus Stein heraus — die gleichen, welche die Nomadenkinder in den Dörfern des Südens verkaufen. »Römisch - und mindestens seit damals muß hier immer eine bewohnte Festung bestanden haben. Wir haben nämlich einen Brunnen, wissen Sie - aber natürlich läßt ein solches antikes Gemäuer allerhand zu wünschen übrig, aber wir sind die einzigen, die im Umkreis von hundertfünfzig Kilometer ständig Wasser haben.« Er stieß ein hohes, eisenbeschlagenes Portal auf. Innen war die Festung düster und noch bizarrer als von außen. Die gleißenden Strahlen der Saharasonne standen wie Strebepfeiler hinter den klaffenden Spalten der geschlossenen Fensterläden. Durch das undichte Dach - sicher mehr als zwanzig Meter über uns - fielen Lichtflecken auf eine gewaltige Steintreppe. Doch der Nebenraum, in den mich Bekuv jetzt führte, war wie ein modernes Büro eingerichtet - mit einem Schreibtisch, drei Lehnstühlen und einem Leninbild. Im übrigen bedeckten Regale voller Bücher die Wände fast bis zur Decke, so daß sogar eine klappbare Trittleiter erforderlich war, um bis oben hin zu gelangen. Eine zweite Tür führte in ein Hinterzimmer, und Bekuv ging als erstes auf sie zu und schloß sie. Vorher konnte ich jedoch noch einen kurzen Blick auf die grauglänzenden Stahlschränke der Funkanlage werfen, 258
mit welcher Bekuv die Signale verstärken konnte, die von den Radioteleskopen aufgefangen wurden. Bekuv setzte sich. »So, Sie haben alles gelesen?« »Manches war technisch zu hoch für mich.« »Gestern nacht habe ich also wieder Signale von Tau Ceti empfangen.« »Wie sehen diese Signale aus?« Bekuv lächelte. »Nun, sie sind natürlich nicht in Form von Nachrichten oder Sportberichten gehalten. Es ist eher gerade ein Kontakt - ja, das wäre wohl die beste wissenschaftliche Umschreibung für diese Forschungsstufe. Meine These war von Anfang an, daß sich der interplanetarische Austausch von Nachrichten zunächst in Form von Zahlenwerten und mathematischen Reihen manifestieren würde und zwar lokalisierbar im Bereich von 1420 Megahertz.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte ich. »Das Wasserstoffatom erzeugt in seinem Kern l 420 405 752 Vibrationen pro Sekunde, und der Gedanke, daß da also riesige Wasserstoffwolken durch die Galaxis gleiten und immer auf derselben Wellenlänge im elektromagnetischen Spektrum einen Summton aussenden - dieser Gedanke hatte für mich von vornherein etwas Faszinierendes, Herr Professor. Wenn ich einen Menschen wie Sie kennengelernt hätte, als ich noch jünger war - wer weiß, vielleicht wäre ich auch Wissenschaftler geworden.« Das hörte Bekuv gerne. Er dozierte weiter: »Vergessen Sie dabei aber nicht, daß ich gesagt habe, im Bereich von 1420 Megahertz - auf der genauen Wellenlänge würden Sie wiederum nur den Summton hören.« »Haben Sie schon ein Antwort gesendet?« »Ja, und zwar Serien von binären Zahlen. Impulse und Pausen, die Einer und Nullen verkörpern und zusammengesetzt, schematische Symbole des Kohlenstoff- und des Wasserstoffatoms darstellen. Ungünstigstenf alls wird mein Signal als Zeichen betrachtet, daß sich in unserem Planetensystem Intelligenz befindet - bestenfalls kann man aus ihm die Information entnehmen, unter welchen Lebensbedingungen wir existieren.« »Einfach genial - dieser Einfall!« Bekuv sah auf die Uhr. Er war erregt, sein Gemütszustand grenzte schon fast an Besessenheit. »Wir sind gerade dabei, die Vorbereitungen für heute nacht zu treffen. Diesmal werden wir beide Teleskope benutzen. Mit dem einen peilen wir Tau Ceti direkt an, das andere wird in seine Nähe gerichtet ins offene All. Beide geben dem Compu259
ter hier im Nebenraum alle Daten ein, die sie empfangen. Die Flut der eingehenden Informationen beider Teleskope wird verglichen, das gleichartige Material wird anschließend ausgeschieden. Mit dieser Methode lassen sich auch Hintergrundknattern und andere kosmische Störungen eliminieren. Was zum Schluß dann an Daten aus dem Computer kommt, sind logischerweise die Signale von Tau Ceti.« Er griff nach einer Papierrolle mit Computer-Ausdrucken. Für mich war das ein Labyrinth unverständlicher Symbole. »Diese Daten wurden vor drei Stunden vom Computer ausgewertet - Sie können sagen, was Sie wollen, aber die Impulse von Tau Ceti ergeben stets ein regelmäßiges Muster.« »Ein schöner Traum, Herr Professor!« »Gönnen Sie ihn mir, mein Freund.« »Jeder Mensch hat das Recht auf Träume, Herr Professor, aber Sie scheinen überhaupt nicht zu begreifen, in was für einer gefährlichen Lage Sie sich befinden. Für die USA sind Sie ein peinlicher Zwischenfall, und für die Russen bilden Sie eine große potentielle Gefahr in Verbindung mit diesem dreistesten Coup der Abhörspionage, der mir je zu Ohren gekommen ist. Denn Sie haben sich ja Moskau zur Verfügung gestellt, um diese Station zu installieren und die amerikanischen Nachrichtensatelliten anzuzapfen. Sie haben nicht nur alles erdenkliche Material der kommerziellen und staatlichen Satelliten auswerten können, sondern Sie werden natürlich auch FEDSAT abgehört haben - den Satelliten, der alles zwischen Amerika und Europa überträgt, was unter Geheimdiplomatie und unter die wichtigsten Geheimsachen des CIA fällt. Sie müssen Moskau so ungefähr über alles, was man unter top secret versteht, Mitteilung gemacht haben - angefangen von Telephongesprächen zwischen Staatspräsidenten bis zu dem Geheimdienstbulletin, das Langley täglich an London, Bonn und Paris schickt!« »Es ging nicht anders«, sagte Bekuv. »Alle Wissenschaftler, die etwas erreichen wollen, müssen den Machthabern dieser Welt Zugeständnisse machen... denken Sie an Leonardo da Vinci, denken Sie an Einstein. Ich war auf die Funkstille über der Sahara angewiesen sie ist, wie man im Fach Jargon so schön sagt, der >kühlste Platz< der Erde. Die einzige Möglichkeit, meine Ideen im Wissenschaftsministerium durchzusetzen, bestand darin, die Bürokraten davon zu überzeugen, daß wir in der Sahara westlich genug stationiert wären, um auch Ihre Satelliten >sehen< zu können.« Ich ging zum Fenster. Die blutrote Sonne sank dem Horizont zu, 260
und leichter Wind kam auf, wie es bei Sonnenuntergang zumeist geschieht. Er wirbelte den Sand auf, formte ihn zu kleinen Staubwolken und trieb ihn über die weite Fläche. »Das Spiel ist aus, Herr Professor«, sagte ich. »Ein Flugzeug ist entführt und ein amerikanischer Senator ermordet worden, dessen persönlicher Assistent sich vor seinem eigenen Tod noch als Landesverräter beträchtlichen Kalibers entpuppt hat. Was glauben Sie denn wohl, zu welcher Dringlichkeitsstufe Ihr Fall damit in Washington emporgeklettert ist? Es kann nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Ihr schönes Laboratorium hier entdeckt und in aller Munde ist. Und für Moskau ist der ursprüngliche Spionagetriumph dann nur noch eine Belastung - der Kreml würde sicher am liebsten alles hier mit einem Fingerschnippen aus der Welt schaffen - und Sie dazu!« »Na na - nicht einmal Moskau könnte mit einem Fingerschnippen diese Anlage über Nacht zum Verschwinden bringen.« »An Ihrer Stelle wäre ich mir da nicht so sicher, Professor Bekuv!« »Was meinen Sie damit?« fragte er. Ich blieb ihm die Antwort lange schuldig und sah dem Sonnenuntergang zu. Der Himmel war kristallklar geworden, und die über ihn verstreuten Sterne wirkten wie verschütteter Zucker... Eigentlich konnte man Professor Bekuv seine Naivität sicherlich glauben, aber in einer Nacht wie dieser war es leicht, allem und jedem Glauben zu schenken. »Ich meine, die Funksignale könnten gefälscht sein«, sagte ich schließlich brutal. »Experten, Wissenschaftler wie Sie, könnten zum Beispiel gerade dabeisein, ihren kleinen Kompromiß zu schließen - genau wie Leonardo da Vinci, nicht wahr? - Sie könnten eine Reihe von Signalen entworfen haben von der Art, wie Sie sie gerne hören möchten. Angenommen, eins der fliegenden elektronischen Labors der sowjetischen Luftwaffe hält sich genau in der richtigen Höhe auf und kreist immer um dieselbe Stelle - nämlich auf der direkten Linie Ihres Peilwinkels zu Mars, Tau Ceti oder wie auch immer Ihre Vorstellung vom Paradies heißt!« »Unsinn!« »Und noch etwas, Herr Professor: Da draußen in der Wüste sind ein paar von diesen riesigen Wüstenbussen. Manchmal machen sie einen Stop, und dann stellen sie ein kleines Zelt auf mit der Aufschrift: Damen. Dabei sieht man weit und breit keine Dame - nur kampferprobte Männer zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Name und Anschrift finden Sie dick gedruckt auf den Bus gemalt-wie sich's gehört. Falls Sie aber Berlin kennen, beziehungsweise seine Straßen261
namen, dann wüßten Sie sofort, von welcher Seite der Berliner Mauer diese Busse stammen - nämlich von der Seite, wo es keine Wahlkabinen und keine Reklame gibt. Ich hab' so das Gefühl, daß die vielleicht da draußen sitzen und warten, bis sie hier den Schutt aufräumen können.« »Bitte - erklären Sie mir endlich, was Sie damit sagen wollen!« »Ich will damit sagen, daß Sie von hier abhauen sollen, Professor!« »Wohin? Zurück nach Amerika oder etwa mit Ihnen - nach England?« »Das ist Nebensache — bloß weg von hier!« »Sie meinen es tatsächlich gut mit mir«, meinte Bekuv. »Ich möchte Ihnen danken... für Ihre Warnung.« »Und strahlen Sie um Himmels willen keine Signale mehr aus, die ein Flugzeug anpeilen könnte!« Er wischte sich schon wieder die Nase - er hatte eine Virusinfektion, die ganz typisch für die Wüste ist, eine Schleimhautentzündung, verursacht durch Staub und Sand in der Luft. Hat man sie einmal erwischt, wird man sie so schnell nicht wieder los. »Tut mir leid, doch hier ist der mir vorbestimmte Platz und die mir vorbestimmte Aufgabe.« Seine Stimme war heiser geworden, seine Nase klang verstopft. »Mein ganzes bisheriges Leben war auf diesen einen Augenblick gerichtet - das ist mir jetzt durch unser Gespräch erst richtig klargeworden.« »Wieso denn? Vor Ihnen liegt doch noch ein ganzes Leben voller Erfolge!« versuchte ich ihn zu überreden. »Nein - nichts liegt vor mir. Meine eigne Heimat interessiert sich nur für das an meinen Fähigkeiten, was militärisch verwertbar ist. Ich selbst bin nur an der reinen Wissenschaft interessiert - was geht mich Politik an? Doch in unserem Land gilt ein unpolitischer Mensch beinahe schon als Faschist. Kein Mann, keine Frau und kein Kind darf bei uns ohne politisches Engagement sein. Für einen ernsthaften Wissenschaftler ist so etwas völlig ausgeschlossen. Aber Ihr goldener Westen ist um keinen Deut besser! Ich habe euch getraut, aber man hat mich mit gefälschten Papieren beleidigt, die mir einen nicht existierenden Lehrstuhl an einer Universität garantierten, die mich weder kennt noch kennenlernen wollte. Mein Sohn will Jazzsänger werden, und meine Frau betrügt mich«, - er mußte niesen, »betrügt mich mit einer anderen Frau! Ist das nicht ein Witz? Die wahre Tragödie meines Lebens ist die, daß meine Tragödien alle mehr oder weniger komisch sind!« 262
»Das Leben ist eine Komödie für den, der denkt - eine Tragödie für den, der liebt«, sagte ich. »Von wem stammt das?« »Das weiß ich auch nicht«, meinte ich. »Das könnte jeder gesagt haben... Bob Hope, Voltaire oder Eichmann... spielt das eine Rolle?« »Nun, ich jedenfalls - ich muß heute nacht meine Signale ins All schicken. Auch wenn ich nur eine Millionstel Chance hätte, mit anderen Welten Kontakt aufzunehmen, wäre es ein Verbrechen gegen die Wissenschaft, wenn ich jetzt aufgeben würde.« »Andere Welten haben vielleicht schon Millionen Jahre darauf gewartet - warum können Sie da nicht noch eine weitere Nacht warten?« sagte ich. »Denn es gibt Leute, die Sie umbringen wollen, und die werden heute nacht ihre Geräte auch auf 1420 Megahertz einstellen.« »Aus Ihnen spricht die Ignoranz und das Mißtrauen gegen den Fortschritt. Mit dieser Denklast wird unsere Zivilisation wieder zurück in die graue Vorzeit geworfen! Kein Wissenschaftler, der diese Bezeichnung zu Recht trägt, wird seine persönliche Sicherheit vor seine Bemühungen setzen, neue Erkenntnisse zu sammeln.« »Ich habe gar nicht Ihre persönliche Sicherheit vor Ihre Bemühungen gesetzt -ich habe an mich gedacht. Wenn Sie hierbleiben und mit Tau Ceti reden und mich eines Bessern belehren wollen - bitte. Doch warum erlauben Sie uns gewöhnlichen Menschen nicht, derweil in die Wüste zu verschwinden?« »Weil Sie dann sofort den Weg zum Trans-Sahara-Highway einschlagen und versuchen würden, nach Norden zu entkommen. Tun Sie nicht so, als ob Sie das nicht vorhätten.« »Was die anderen machen wollen, weiß ich nicht. Was mich anbelangt — selbstverständlich, genau das würde ich versuchen.« Bekuvs Gesicht verfinsterte sich, er stand auf und gab vor, seine Bücherregale zu betrachten. Das Tageslicht wurde zusehend schwächer. Mit einem Schlag leuchtete die trüblich-gelbe Beleuchtung im Innenhof hell auf- die Generatoren waren angesprungen und brachten den Fußboden mit ihrem dumpfen Brummen zum Erzittern. »Ihre Frau fährt wirklich Auto wie der Teufel, Herr Professor - so was hab' ich noch nicht erlebt«, sagte ich. Bekuv wandte sich nach mir um und nickte abwesend. Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Schreibtischschublade - eine amerikanische Marke, die hier in Algerien fast unbezahlbar war. Er bot mir eine an, ich nahm und dankte. 263
»Wir sind beide betrogen worden«, sagte Bekuv. »Ihre Frau und meine... sie haben uns erniedrigt und beleidigt.« Ich sah ihn an, gab jedoch keine Antwort. »Dafür werde ich sie beide töten.« »Beide?« »Ja, alle beide. Nur so kann ich meine Ehre wiederherstellen.« »Und wie?« »Mit diesen meinen eigenen Händen.« Er machte mit seinen Armen eine Art von Zangenbewegung. »Und es wird mir ein Vergnügen sein!« »Das ist aber nicht sehr sachlich-wissenschaftlich gedacht, Herr Professor!« »Sie meinen — ich bin kindisch.« Er drehte heftig an der Einstellschraube des Radiomikroskops, bis der Mechanismus am oberen Anschlag steckenblieb. »Noch viel schlimmer! Ein Kind, dem man sein Spielzeug wegnimmt, läuft dem Dieb hinterher und holt es sich zurück - aber macht es deshalb doch nicht einfach kaputt!« Bekuv drehte heftig an der Apparatur, so daß ein klickendes Geräusch hörbar wurde. »Ich liebe sie nun mal - das ist leider nicht zu ändern.« »Miss Bancroft ist das eigentliche Problem-wenn Sie die unschädlich machen, wird Ihre Frau zu Ihnen zurückkehren.« »Richtig - ich werde also nur dieses Weib töten.« »Das wird Ihnen aber Ihre Frau nie verzeihen!« »Dann werde ich sie eben von einem Araber töten lassen.« »Ihre Frau wird wissen, daß Sie dahinterstecken.« »Ja«, sagte er. Und drückte seine Zigarette am Rand des riesigen Parabolreflektors aus. »Es muß wie ein Unfall aussehen«, meinte er dann. Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Frau wird das schnell durchschaut haben — sie ist sehr klug, Professor Bekuv!« »Aber irgendwie muß ich diese Frau aus dem Weg räumen - erst jetzt wird mir das so richtig klar. Denn Sie haben recht: Sie ist die Inkarnation des Bösen... sie erst hat meine Frau verführt und zu diesen unglaublichen Perversitäten angestiftet!« »Richtig«, sagte ich. »Und es gib eigentlich nur einen Weg, wie sie beseitigt werden kann und wie Sie in den Augen Ihrer Frau dennoch ganz und gar unschuldig dastehen.« »Sie meinen - wenn Sie Red Bancroft töten?« 264
»Jetzt denken Sie endlich wieder rein wissenschaftlich, Herr Professor.« Bekuv sah mich durchdringend an: »Aber warum sollte ich Ihnen noch trauen - nach alldem?« Ich sagte: »Wenn ich Sie hereinlegen will, brauchen Sie doch nur dem Major ein Wörtchen darüber zu sagen, was ich begangen habe und ich stehe wegen Mordes vor Gericht, sobald ich zu Hause bin.« »Sie möchten also, daß ich Sie jetzt hier weglasse?« »Nun, Sie werden doch wohl verstehen, daß ich — danach — sofort von hier verschwinden will.« »An sich - natürlich.« Und doch ging es ihm nicht so recht in den Kopf, daß ich seinen geliebten Radioteleskopen so einfach den Rükken kehren wollte. »Wir brauchen also Wasser, Proviant und einen Beachbuggy«, sagte ich. , »Ein Beachbuggy - das geht nicht.« »Nun gut, dann gehen wir eben zu Fuß. Aber es muß noch heute nacht sein - Sie wissen, wie krank der Major ist, er würde es am Tag in der glühenden Hitze nicht schaffen. Es ist sowieso ein Risiko... die Strecke bis zum Sahara-Highway ist verdammt weit, und wer weiß, wie lange wir dann dastehen und warten, bis uns jemand mitnimmt.« Der Professor nickte zerstreut. »Noch eins, Herr Professor«, sagte ich. »Was wir hier planen, das muß unter uns bleiben - davon dürfen weder Major Mann noch Mr. Dempsey - dieser alte Engländer - je etwas erfahren.« Bekuv lächelte fast ein wenig verschmitzt. Ein Wissenschaftler wie er, der längst alle Beziehungen zur Wirklichkeit verloren hatte und der ganzen Welt mißtraute, besaß vollstes Verständnis für diese Vorsichtsmaßnahme . Es war bereits dunkel, als ich mich zu den Räumen aufmachte, in denen sich der Major, Percy Dempsey und die Damen befanden. Bevor Bekuv in den Westen übergelaufen war, hatte dieser Teil der Festung ihm als Wohnung gedient. Die beiden Männer waren im Wohnzimmer. Ich fand es sehr gemütlich - Teppiche an den Wänden, um die Risse zu verdecken, ein solider Holzfußboden, der allerdings so neu war, daß man den Anstrich gegen die Termiten noch deutlich roch, dazu bequeme Wildledersessel, ein altes russisches Kruzifix, eine ansehnliche Schallplattensammlung mit der dazugehörigen Stereoanlage - und das Ganze angenehm temperiert durch eine moderne amerikanische, leise summende Klimaanlage im holzverschalten Fenster. 265
Percy Dempsey sagte: »Wird langsam Zeit, daß wir uns verkrümeln!« Auf dem Sofa lag auch der Major, er war vor Erschöpfung eingeschlafen. Percy meinte: »Ihr Freund liegt ganz schön auf der Nase. Vielleicht hätte er sich nach dem Unfall lieber wieder nach Norden begeben sollen.« Ich ging zu Mann und fühlte seinen Puls. Er sah zwar wirklich aus, als ob er Fieber hätte, doch sein Puls und sein Atem gingen ganz regelmäßig. »Der kommt schon wieder auf die Beine - Unkraut vergeht nicht.« Percy gab keine Antwort, doch war er offensichtlich anderer Meinung. Er breitete behutsam eine hellrote Decke über den Major. Mann schlief auch jetzt ruhig weiter. Ich sagte: »Es hilft nichts, Sie müssen ihn wecken. Schleppen Sie ihn runter in den Hof und verlassen Sie die Festung einfach durch den Haupteingang. Und dann immer nach Westen - Sie haben doch einen Kompaß dabei?« »Er läßt uns laufen?« »Ich habe mit ihm eine Abmachung getroffen... Wo sind die Frauen?« »Dort durch die Küche - da ist noch ein Zimmer. Eigentlich brauchte ich natürlich Ihre Hilfe mit dem Major.« »Reden Sie ihm gut zu«, sagte ich. »Ich komme später nach.« »Ohne Kompaß? Oder haben Sie vielleicht einen?« »Es wird schon gehen. Ich habe mir gemerkt, wo die Sonne untergegangen ist — also keine Sorge. Warten Sie am Highway auf mich.« »Ziemlich schwer, dieser Amerikaner«, sagte Percy. Er zog den Major am Arm und schüttelte ihn: »Los, wir müssen hier weg«, sagte er. Ich ging durch die Küche und suchte nach den Frauen.
266
KAPITEL 24
Die Stille der Wüstennacht wurde jäh durch das schrille Geschrei von Mrs. Bekuv unterbrochen. Rücksichtslos bahnte sie sich einen Weg durch die im Türeingang und zu Füßen der großen Freitreppe herumlungernden Araber. Sie schlug so wild mit den Armen um sich, daß sie einen davon zu Fall brachte und einem ändern die Nase blutig schlug. Im Handumdrehen war sie durch die Schar hindurch und rannte hysterisch kreischend quer über den jetzt nur noch schwach erleuchteten Hof auf die großen Radioteleskope zu, deren gewaltige Teller sich im Licht des abnehmenden Mondes und der Millionen Sterne schemenhaft abhoben. Erst als sie schluchzend und keuchend vor ihrem Mann stehenblieb, konnte ich ihre abgehackten Sätze verstehen: »Red Bancroft... ermordet! Nur du-nur du kannst das getan haben! Oh Gott! ... Sie ist tot! Wem kann ich es sagen... wem kann ich es sagen? Ich hasse dich! Warum mußte sie sterben - warum nicht ich?« Unaufhörlich stieß sie in russisch dieselben herzzerreißenden Worte hervor, wie ein Mensch, dem vor Schmerz der Verstand versagt. »Ich war es nicht - und auch keiner meiner Leute!« erwiderte Bekuv ruhig, doch seine Worte konnten sie nicht beschwichtigen. Und mehr und mehr griff die Hysterie auf ihn über, der er doch eigentlich ein Ende bereiten wollte. Er schrie sie an und schlug ihr mitten ins Gesicht - irgendwie erinnerte mich das Ganze an einen alten Hollywoodfilm. Doch er erreichte genau das Gegenteil - sie schlug zurück. Sie griff ihn mit allen Mitteln an, hieb mit Fäusten auf ihn ein, stieß mit ihren Stiefeln gegen seine Schienbeine. Er mußte sie fest an sich ziehen, um ihren Ansturm abzuwehren. Es sah aus, als versuche er, eine Wildkatze zu bändigen. Ein paar Araber waren herangekommen und sahen schweigend dem Kampf zu, und die vier russischen Techniker an den Bedienungspulten der Teleskope unterbrachen ihre Arbeit und sahen sich um, was da los war. Doch niemand machte Anstalten, das Paar voneinander zu trennen. Ich trat vom Fenster zurück und blickte Red Bancroft an. »Du kannst wirklich stolz auf sie sein«, sagte ich. »Einen stärkeren Beweis ihrer Liebe hätte sie dir überhaupt nicht liefern können.« »Ja - sie liebt mich«, sagte Red Bancroft, und ihre Stimme war vollkommen sachlich. 267
»Und du?« »Ich liebe niemanden«, erwiderte sie. »Mein Psychiater behauptet, ich sei bisexuell veranlagt - aber er weiß es eben nicht besser. Ich bin in Wirklichkeit einfach ein Neutrum.« »Darum brauchst du dich doch nicht zu verachten«, meinte ich. »Du hast ihr doch im Grunde nichts weggenommen.« »Da irrst du dich aber«, sagte sie verbittert. »Ich habe sie ihrem Mann entfremdet, und ihren Sohn wird sie wohl auch nie wiedersehen. Denn wenn wir hier lebend davonkommen, steht sie natürlich auf der Abschußliste des KGB auf immer und ewig. Und was hat sie dafür von mir bekommen? Ein bißchen Spaß im Bett und leere Versprechungen.« Ich schaute in den großen Innenhof hinab. Zwei Araber hielten Mrs. Bekuv zurück. Noch immer sprach sie auf ihren Mann ein, doch ich konnte sie nicht mehr verstehen. »Sie schafft es«, sagte ich. Red kam ans Fenster und sah hinunter. »Ich denke auch«, meinte sie. »Sie kann alle Menschen fabelhaft um den Finger wickeln. Nur gegen mich war sie einfach machtlos.« »Was ist los?« fragte ich. »Du - ich kann das nicht, da an diesem Seil runterklettern! Ich habe schreckliche Angst. Mir wird schon schwindlig, wenn ich bloß in den Hof runtersehe!« »Ich werde das Seil fest um dich binden und dich langsam runterlassen. Mach die Augen zu, dann ist es leichter.« »Ob der Professor nachher hochkommt, um nach der Leiche zu sehen?« fragte sie. »Wahrscheinlich - aber bestimmt nicht, bevor er nicht seine Signale ins All geschickt hat, und das wird Stunden dauern.« Sie ging ans andere Fenster und starrte in den Sand - tief unter ihr. Dempsey und Mann waren jetzt schon eine Weile unterwegs und nirgendwo mehr zu erblicken. »Und was ist mit den Wächtern?« »Nun hör schon auf, dir Sorgen zu machen!« sagte ich, ging zu ihr und legte den Arm um ihre Taille. Es war rein freundschaftlich gemeint, und sie zuckte nicht mehr vor mir zurück, wie sie es früher unwillkürlich getan hatte. »Mich macht das alles traurig«, sagte sie. »Wir haben beide verloren, aber allmählich wird mir klar, daß ich dabei am schlechtesten abgeschnitten habe.« »Dunkler wird es nicht mehr«, sagte ich. »Also — laß mich dir das Seil umbinden.« 268
Die Nachtluft war kalt, doch der Sand unter unseren Füßen war noch warm und so weich, daß wir nur langsam und mühselig vorwärtskamen. Als der Mond untergegangen war, irrten wir trotz der Sterne von der westlichen Richtung ab. Die Sanddünen lagen im milchigen Licht der Sterne wie gewaltige, für immer erstarrte Brandungswellen vor uns. Kein Laut war durch die Stille gedrungen; es mußte also sehr hoch angeflogen sein. Wie ein Blitz war der Einschlag, dumpfes Donnergrollen folgte. Überall sonst auf der Erde hätte man sich jetzt auf einen Gewittersturm gefaßt gemacht, hätte den Regenschirm aufgespannt und auf den Regen gewartet. Aber wir waren schließlich mindestens tausend Kilometer in der Wüste. »Raketengeschoß mit Köpfchen«, sagte Mann. »Oder auch Gleitbombe - man braucht vom Flugzeug das Ziel nur mit einem Laserstrahl anzuvisieren, und da hängt sich dann das Ding dran und findet von selbst den richtigen Weg.« »Es sei denn, man kann das Ziel dazu überreden, selbst den Leitstrahl zu liefern«, sagte ich. Red Bancroft schwieg. Seitdem wir Mann und Dempsey eingeholt hatten, war sie stets ein paar Schritte hinter uns geblieben. Ich sah, wie sie sich mehrmals umdrehte, wohl in der Hoffnung, daß Mrs. Bekuv hinter uns auftauchen würde. Das Donnern der Explosion rollte über die leere Wüste und rollte wieder zurück auf der Suche nach der Endlosigkeit, in der es sich auflösen konnte. Ich wartete, bis Red Bancroft uns eingeholt hatte. Sie trug ihre Schuhe in der Hand, und ich streckte den Arm aus, um ihr behilflich zu sein. Doch sie schwieg und blieb humpelnd wieder zurück und strauchelte alle zehn Schritte im weichen Sand der steil ansteigenden Dünen. Nach der Explosion sah sie sich nicht mehr um.
269