Harry Thürk
1
Taifun
Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Erstes Buch Der Weg nach Peking Weimar 1988
Mit die...
56 downloads
904 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Harry Thürk
1
Taifun
Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Erstes Buch Der Weg nach Peking Weimar 1988
Mit diesem Buch möchte der Autor seine Verbundenheit mit China und dessen sozialistischer Entwicklung bekunden und seine auf eingehenden Studien beruhende persönliche Ansicht über einen wichtigen
Abschnitt
der
Geschichte
einbringen.
Buchclubausgabe
© Harry Thürk 1988
Alle Rechte vorbehalten
Lizenz-Nr. 444-300/86/88 • 7001
Gesamtausstattung: Gerhard Medoch
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck VI5/30
Band I—III: 03680
2
unseres
Jahrhunderts
Vorbemerkung
Dieses Buch ist ungewöhnlich. Zumindest war sein Entstehen etwas eigenartig. Es begann damit, daß ein mir befreundeter Reporter in Hongkong eine neue Tasche für seine Fotoausrüstung suchte. Er fand sie, ein preisgünstiges Stück aus modischer Elefantenhaut, groß und stabil, auf einem obskuren Flohmarkt, ich weiß nicht einmal genau, auf welchem. Als er sie öffnete, stellte er fest, daß sie mit Bündeln beschriebe nen Papiers gefüllt war, und er schickte sich an, sie auszuräumen. Doch da bedeutete ihm der chinesische Händler, die Papiere seien im Preis einbegriffen und überdies lohne es sich vielleicht, ihnen ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen, bevor man sie wegwerfe. Der Reporter begann zu blättern. Dann setzte er sich und las. Er erhob sich nach zwei Stunden und warf die Papiere nicht weg. Später brachte er sie mir und erklärte, bei den eng beschriebenen, flüchtig nummerierten Blättern handle es sich wohl um die Aufzeichnungen einer Figur, wie ich sie erdacht haben könnte, mit meiner von Asien inspirierten Phantasie. Er schenkte sie mir, zusammen mit einer Dose Tiger Balm, einer Packung Lotos-Tee und einer Schachtel Manila-Zigarren, die übrigens etwas nach Sandelholzseife schmeckten. Ich rauchte die Manilas trotzdem mit Genuß. Der Lotos-Tee 3
(Belcher's Street, Tea Set Brand) reichte für einige Wochen. Den Tiger Balm benutze ich gelegentlich, wenn mich eine Erkältung plagt (er hilft nicht, ich weiß, aber es beruhigt, wenn man ihn gläubig genug anwendet). Zum Lesen der beschriebenen Blätter habe ich viele Wochen ge braucht. Danach war mir zweierlei klar: Ich hätte die Figur, um die es sich hier handelte, nicht besser erfinden können. Und — ich kannte sie sogar persönlich, wenn auch die Bekanntschaft etwa zwanzig Jahre zurücklag. Mit jenem Mann, den ich aus Rücksicht auf seine Hinterbliebenen hier Sid Robbins nenne und um den es auf den folgenden Seiten geht, habe ich in den Jahren zwischen 1956 und 1958 in Peking gelegentlich an einem der langen Winterabende Poker gespielt. Ich traf ihn auf Partys, trank Brandy mit ihm oder Whisky (Marke Große Mauer); wenn ich mich recht entsinne, begegneten wir uns im Sommer manchmal in Tienchao, dem
Stadtteil
Pekings,
der
traditionell
die
Akrobaten,
Zauberkünstler und Schausteller beherbergt. Immer war er freundlich, auf eine Art höflich, die ganz unamerikanisch war, er konnte lustig sein, und er war klug. China, so vertraute er mir an, sei der große Traum seines Lebens, der sich erfüllt habe. Übrigens erzählte er mir damals, daß er mit einer Gruppe ameri kanischer Verbindungsoffiziere während des 2. Weltkrieges nach China gekommen sei. Hier habe er seine Frau getroffen, und — wie das Leben so spielt — er sei geblieben, für immer. Ich machte mir vor zwanzig Jahren Gedanken über den Lebens weg dieses stillen, angenehmen Mannes, auch später hin und wieder noch, irgend etwas schien mir über ihn erzählenswert, aber ich fand nie heraus, was. So verblaßte die Erinnerung an ihn mit den Jahren. Bis die Papiere auf meinem Schreibtisch lagen. Ich habe verzichtet, die Geschichte seines Lebens völlig neu zu 4
schreiben. Die Aufzeichnungen aus seiner Feder, wenngleich sie unvollständig waren, ebenso wie die Dokumente, die sich in dem Packen Papier befanden, erwiesen sich bereits als ein in seiner Art einmaliger Roman. Er enthält Zeitgeschichte in einer Klarheit, wie sie selten aufzufinden ist. Manches mutet an wie ein Protokoll anderes wieder beschreibt begeistert ein Land, das auch mich bis heute nicht ganz aus dem Zauberkreis seines Lebens freigegeben hat. Sachliche Feststellungen und geschichtliche Reminiszenzen wechseln sich ab mit brillant skizzierten Betrachtungen über Dinge und Menschen. Mit beinahe jeder Zeile porträtiert sich da ein Mann, der keine Minute lang seine Aufgabe vergaß. Und er porträtiert damit ein ungewöhnliches Stück Geheimdienstgeschichte, das keinen wachen Menschen unserer Tage unberührt lassen kann. Ich entschied mich bei der > Aufbereitung < der vorgefundenen Materialien (sie erfassen immerhin einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren!) für notwendige Kürzungen und für solche Eingriffe, die dem Leser das Buch in seiner historischen Hintergründigkeit leichter erfassbar machen sollen. Übernommen habe ich — mit leichten Modifizierungen — die Transkribierung chinesischer Namen und Bezeichnungen nach dem im englischen Sprachraum üblichen System, und zwar aus Gründen der Authentizität. Daß ich mich nicht entschließen konnte, die (neu erdings) von der Pekinger Staatsführung verordnete sogenannte Pin-yin-Latinisierung der chinesischen Schriftzeichen nachträglich in die Aufzeichnungen einzubringen, hat freilich auch damit zu tun, daß
dun
Pinyin
meiner
Beobachtung
nach
bei
allen
nichtchinesischen Benutzern der lateinischen Schrift durch seine eigenwilligen und unnötigen Abweichungen von traditionellen Aussprachegewohnheiten zu ziemlicher Verwirrung führt. Für Pinyin-Benutzer und andere Interessierte verweise ich auf den 5
Anhang mit der Pinyin-Umschrift der in dem Buch enthaltenen Namen und Bezeichnungen. Bleibt noch zu sagen, daß es mir nicht ganz gelungen ist aufzuklären, wie die inhaltsschwere Lebensbeichte des Sid Robbins auf jenen Hongkonger (in Pinyin hieße es übrigens >Xiangganger<) Flohmarkt gelangte. Bekannt wurde mir, daß Robbins kurze Zeit nach dem Besuch Präsident Nixons in China legal nach Hongkong reiste und dort >beim Schwimmen ertrank<. Seine Witwe bekam den Leichnam nicht mehr zu sehen. Freunden in Peking hatte Robbins erklärt, er fühle sich >alt genug, um jetzt in die Vereinigten Staaten heimzukehren<. So steht zu vermuten, daß seine in Hongkong deponierten Aufzeichnungen irgend jemandem zu brisant erschienen. Robbins selbst mußte diese Gefahr, woher sie auch immer kam, gespürt haben; denn als er >beim Schwimmen ertrank<, hatte er die Aufzeichnungen offenbar nicht bei sich. Der sie für ihn aufbewahrte, hat sie später möglicherweise in Unkenntnis ihres Wertes zusammen mit der Ledertasche für ein paar Hongkong-Dollar an den Trödler verhökert. Mehr wird wohl niemand herausfinden. Aber — ist das wichtig? Merkwürdig hingegen ist, daß die Robbins-Papiere das Schicksal mancher Werke der klassischen Literatur Chinas teilen: Auch sie wurden,
oft
lange
nach
dem
Tode
ihrer
Autoren,
als
Manuskriptbündel unter Bergen von Krimskrams auf Basaren entdeckt. Wie dem auch sei — mit den Robbins-Aufzeichnungen lege ich dem Leser die erstaunliche Lebensgeschichte eines Menschen vor, die den Vorzug hat, jüngere Vorgänge und Zusammenhänge in Fernost auf ungewohnte Weise zu erhellen. Sie geben Auskunft über einen Mann, der ebenso verschwiegen wie zielstrebig für eine Sache gelebt hat, von der ich nicht sagen kann, daß ich sie schätze. Möge das hier Geschriebene die Phantasie 6
beflügeln und Nachdenklichkeit erzeugen. Der Autor
Stadt überm Fluß 14.6.1943 Ich sitze in Dinjan und habe einen Tripper. Kein Zweifel ist möglich, gestern habe ich eines der Bücher durchgeblättert, in denen sich auch die Symptome venerischer Krankheiten beschrieben finden. Die Leute von der Sanitätsabtei lung des Feldflugplatzes sind offenbar so oberflächlich ausgebildet, dass sie solcher Bücher bedürfen, bei dem, was sie hier, im letzten Winkel von Assam zu tun haben: Verwundete aus Burma versorgen, Kranke, Malariapatienten unter dem fliegenden Personal der
Luftbrücke
Kalkutta-Tschungking,
die
in Dinjan eine
Zwischenstation hat, die letzte vor dem >Hump<«, der Kette des Himalaya. Sie wird von einem Dutzend Dakotas täglich überflogen, in Richtung auf die Hauptstadt Tschiang Kai-sheks am Oberlauf des Yangtse. (Verluste: durchschnittlich eine Maschine pro Tag.) Dinjan ist weiter nichts als eine winzige Siedlung im nördlichen Assam. Eigentlich wohnen hier nur die Arbeiter der von den Eng ländern bewirtschafteten Teeplantagen. Erst seit dem Desaster der britischen Armee in Burma hat dieser winzige Ort einige Bedeutung erlangt. Damals, 1942, eroberten die Japaner in einem >Blitzfeld zug< Burma und durchschnitten damit die einzige Landverbindung, über die amerikanische Hilfsgüter in das befreundete China geliefert werden konnten, die Burma-Straße. Erst die Stabilisierung 7
der Front an den Grenzen Indiens machte es möglich, über andere Methoden der Versorgung Tschiang Kai-sheks zu entscheiden. Die Wahl fiel auf eine von den Luftstreitkräften der Vereinigten Staaten organisierte Fluglinie, eine der gefährlichsten der Welt. Dinjan wurde zu einer Art Knotenpunkt, letzte Station für die in Richtung China fliegenden Maschinen, und erste Station für die Rückkehrer, die den >Hump< überwunden haben. Maschinendurch sicht, Auftanken, ein paar Stunden Schlaf für die Besatzungen. Eng länder sind kaum zu sehen. Sie haben ihre Bungalows drüben, an den Südhängen, in den Teeplantagen, jenseits des Flugplatzes. Hier, zwischen den Zelten, im Umkreis der eilig zusammengezimmerten Holzplattformen zur Motorendurchsicht, im Gestank von Schmieröl und Auspuffgasen, hört man nur die vertrauten amerikanischen Laute. Es regnet. Das lange, gewundene Tal des Bramaputra ist eine einzige Schlammwüste. Dies ist der Monsun, und er nimmt keine Rücksicht auf die Jungen, die unter freiem Himmel Dakotas zu reparieren haben. Er hat die Zeltplanen durchweicht und die Decken, mit denen die Verwundeten zugedeckt sind. Er rinnt in Stiefel und Jackettkrägen, in Essgeschirre ebenso wie in die geschlossenen Augen der Toten, die hinter dem Behelfslazarett liegen. Gurkhas meist, kleine, braunhäutige Krieger der Engländer, die von irgendeiner Aktion im Dschungel Burmas auf Trageseln bis hierher geschleppt wurden. Neben dem Zelt, in dem ich auf Holloway warten muß, und nach der Besprechung mit ihm vermutlich noch bis zu meinem Abflug in Richtung China, steht ein Stapel Benzinfässer, auf die der Regen mit monotoner Gleichmäßigkeit trommelt. Man könnte gut schlafen dabei. Wenn nicht alles naß wäre. Und wenn man nicht... Ich stehle mich wieder einmal aus dem Zelt, hinter die Fässer, um unter Schmerzen zu urinieren. Naß, wie ich ohnehin bin, lasse 8
ich mir Zeit und werfe nach der Anstrengung einen Blick zum Arztzelt. Ob ich es wage? Ein Tripper kann Degradierung bedeuten, Captain Robbins! In jedem Quartier in Kalkutta hingen Dutzende der grellen Plakate, die vor Intimverkehr mit den Einheimischen warnten. Nun gut, ich könnte geltend machen, daß es garantiert kein indischer Tripper ist, sondern ein sozusagen königlich-britischer. Weil ich ihn mir bei dem kleinen Luder vom HQ-Club geholt habe, in der Woche vor dem Abflug. Mary Latham, blond, etwas rundlich in der Uniform, aber für Kriegsverhältnisse (Asien!) akzeptabel. Sie war gerade aus Darjeeling zurückgekommen, von einer Woche Urlaub, als ich sie aufgabelte. Soldatenheim. Vermutlich also ein Tripper nicht unter Leutnantsrang. Aber wie soll ich das einem durchnäßten, mürrischen, überarbeiteten Air Force Doktor hier am Ende der Welt klarmachen? Was ist, wenn er mich verpfeift? Egal, es muß etwas geschehen, die Schmerzen sind zermürbend, man möchte am liebsten nichts mehr trinken. Das muß ein Ende ha ben, so oder so! Der Arzt im großen Zelt, dessen Planen innen ebenso naß sind wie außen, wäscht sich gerade die Hände, als ich eintrete. Er grüßt muffelig zurück, während er der indischen Nurse, die ihm das Handtuch reicht, im Slang der Leute aus Louisiana zu knurrt, sie solle sich bis zur Ankunft der nächsten Maschine zum Teufel scheren. »Na, nun geht's wohl doch nicht mehr?« fragt er mich. Ich erstarre. Aber bevor ich weitere Überlegungen anstellen kann, lacht dieser breitschultrige, drei Tage nicht rasierte Schlächtertyp laut. »Spiel nicht die keusche Jungfrau! Ich habe dich vorhin durch die Luftluke im Operationszelt gesehen, wie du hinter den Spritfässern gepißt hast. Red nicht, zieh die Hose aus und leg dich da hin!« Er besieht sich die Sache, verzieht die Mundwinkel, öffnet eine 9
>wasserdichte Blechkiste und fummelt drei Röhrchen mit SulphaTabletten heraus. »Wie lange bist du noch hier?« »Keine Ahnung. Bin nach Tschungking kommandiert. Muß aber hier warten, auf die letzten Befehle sozusagen. Kommt extra einer her ...« »Hoffentlich nicht auch mit Tripper«, knurrt er. Dann ordnet er an: »Von den sechzig Tabletten nimmst du heute noch zehn Stück. In zwei Portionen. Ab morgen früh täglich fünfzehn Stück, in drei Portionen. Das zwei Tage lang. Danach noch drei Tage lang sechs Stück. Das wird reichen. « Kr drückt mir die Röhrchen in die Hand, und ich sage etwas be klommen: »Danke, Doc. « Er winkt nur ab. »Hast wohl Angst gehabt, wegen der Meldung?« Er sieht mich an. Ich entdecke in seinem groben Gesicht einen geradezu nachdenklichen Zug. »Wer das gesehen hat, was ich hier gesehen habe, und vorher in Burma, der scheißt auf Meldungen. Die Army kann froh sein, wenn überhaupt irgendeiner von euch Kerlen den Krieg überlebt. Mit oder ohne Tripper. Woher kommst du? Ich meine, in den Staaten ...« Er bringt mich in Verlegenheit mit dieser Frage, und ich beginne etwas vorsichtig, während ich die Zigarette nehme, die er mir hinhält: »Eigentlich aus Yale. Ich meine, von der Universität, in New Haven, Connecticut.« »Da hast du studiert. Wo bist du aufgewachsen?« »Das ist schwierig, Doc«, sage ich. »Geboren bin ich in Tschengtu. Zur Schule ging ich in Tschungking. Mein Vater hat in Tschengtu als Missionslehrer gearbeitet. Später, als man dort eine Universität gründete, wurde er Professor. 1929 bin ich in die Staaten gekommen. Nach Yale eben. Meine Eltern waren mit dem Flugzeug verunglückt ...« Er sieht mich an und stößt den Rauch aus. Dann sagt er: »China. 10
Hoffentlich bleibt mir das erspart. Burma und Assam genügen mir. Was hast du studiert?« »Philosophie.« Keine Reaktion auf seinem Gesicht. Ich füge an: »1941 habe ich meinen Ph. D. gemacht. Doktor der Philosophie. Wollte mich auf die orientalische Seite spezialisieren. Da kam Pearl, und dann die Army.« »Kannst du Chinesisch?« Ich nicke. »Von Kind auf. Ich habe es weiter betrieben. Macht mir Spaß. Ist ein Land mit viel Kultur.« Er sagt ruhig: »Und mit viel Dreck. Mehr Verhungerte, als man laut sagen soll, seitdem wir mit der Erdnuß befreundet sind. Hättest den alten Essig-Joe Stilwell hören sollen, wenn er in Rage war. Habe bei ihm gedient, in der Burma-Kampagne. Wenn nur die Rede auf Tschiang Kai-shek kam, lief er blau an. Sollst wohl dolmetschen, drüben?« Er macht eine vage Handbewegung, hin zu den Bergen, die hinter den Teeplantagen ansteigen und die man jetzt nicht sehen kann, weil die Monsunwolken sie einhüllen. »Ja«, sage ich, obwohl ich es nicht weiß. »Wird so etwas Ähnli ches sein.« Er wird munter: »Hör mal, Junge, du kannst mir einen Gefallen tun. Schick mir mit dem nächsten Piloten eine Opiumpfeife >rüber<. Nicht zum Rauchen. Souvenir. Habe eine gehabt, in Burma. Auch ein Samurai-Schwert. Mußte alles dann an einem dieser hundert Flüsse mit den unaussprechlichen Namen liegenlassen, beim Rückzug. Mit dem anderen Gepäck. War zu der Zeit, als selbst General Stilwell schon barfuß lief. O.K.?« »Sicher«, sage ich. Opiumpfeifen kann man in Tschungking in jeder Gasse kaufen. Billige oder teure. Aus Messing, oder aus gutem Holz, mit Elfenbein und Perlmutt eingelegt. Konnte man, als ich zehn Jahre alt war. Jetzt bin ich fünfundzwanzig. Die Nurse 11
kommt angelaufen, triefnaß, sie haspelt aufgeregt etwas von einem Malariakranken, den drei Mann festhalten müssen, weil er einen Tobsuchtsanfall hat. Hirnmalaria. Der Doktor tritt die Zigarette aus. Klopft mir auf die Schulter und sagt, bevor er der Nurse folgt: »Geh, nimm die Tabletten. Trink literweise Wasser. Wasch dir den Pisser fünfmal am Tag, mit Seife. Und denk an die Opiumpfeife!« Dann ist er weg, und ich schätze mich glücklich. Am nächsten Abend verspüre ich zum ersten Mal Erleichterung. Ich schlafe unruhig in der mich umgebenden Nässe. Alles stinkt nach Schlamm, selbst das Wasser aus den Armeekanistern scheint nicht sauber zu sein. Ernest Holloway, der gute alte Freund, seines Zeichens Colonel, Sohn eines Missionars, der in Kunming aufgewachsen ist, ebenso chinesisch spricht wie ich, und der jetzt mein unmittelbarer Vorge setzter ist, kommt, als ich noch ganze zehn Tabletten zu schlucken habe und mich hinter den Benzinfässern nicht mehr krümme. Das Leben ist wieder schön! Wie es scheint, macht der Monsun eine Pause. Die Wolken hängen höher. Der Blick auf die Berge ist frei. Stundenweise läßt der Regen nach. Man kann das Geschnatter der Teepflückerinnen quer über das Rollfeld hören. Sie haben jetzt nichts zu tun, sitzen unter Bambusdächern und tratschen. Bändeln mit den Monteuren an. Am Morgen ist eine Maschine von Tschung king gekommen. Gehört zu Chennaults Gruppe, die seit Jahren für Tschiang Kai-shek fliegt. Böse Zungen behaupten, Chennault läßt seine Gruppe eher für Madame Tschiang fliegen, weil die ihm die Gefälligkeit erweist, mit ihm zu schlafen. Der übliche Klatsch. Die Piloten sind alle Amerikaner. Stellungslose Leute noch, aus der Flaute, nach dem ersten Weltkrieg. Alte China-Füchse, die jedes Lokal um die Flugplätze herum kennen, jeden Kurio-Laden, jede Hure. Kaum ein Wort chinesisch. Spielen Poker, während ihre Ma 12
schinen gewartet werden, rauchen, erzählen sich Witze. Holloways Maschine wirbelt eine hohe Wasserfontäne auf, als sie ausrollt, obwohl der Platz eine Landebahn aus gelochten Blechplatten hat, und >Holly<, wie er bei seinen Freunden heißt, flucht, weil er schon beim ersten Schritt von der Gangway auf den Boden bis an die Knöchel im Morast einsinkt. Er bringt Whisky mit. Wir haben den Abend und die Nacht Zeit. Bei Morgengrauen fliege ich ab. Mit der Maschine, die Holly gebracht hat. Er wird mit einer anderen nach Kalkutta zurückfliegen ...
Einweisung des Captains Sidney B. Robbins
Die Einweisung des Captains Sidney B. Robbins in seine neue Aufgabe erfolgte am 18. Juni 1943 auf dem Feldflugplatz Dinjan (Assam), von wo aus er, ohne weitere Kontakte aufzunehmen, direkt nach Tschungking flog. Captain Robbins wurde von mir wie folgt instruiert: Robbins tritt in Tschungking den Dienst als Analytiker der OSSStation an. Mit seinem Vorgesetzten ist vereinbart, daß er nur in be sonderen Fällen zu Routinearbeiten herangezogen wird. In der Hauptsache hat er sich durch intensives Studium, durch den Erwerb von Erfahrungen im Meinungsaustausch mit Chinesen sowie durch ständige
Beobachtung
der
periodischen
Presseerzeugnisse
möglichst umfassend über die gegenwärtige Situation in China zu orientieren. Er erhält den Auftrag, Kontakte zu Privatpersonen zu knüpfen und im geselligen Leben zu erscheinen, wobei er den Eindruck eines liberalen China-Freundes zu erwecken hat, der auch die Aktivitäten der kommunistischen Gruppierung im Norden überhaupt und speziell in der Jenan-Gegend mit Respekt verfolgt. 13
Um diesen Eindruck zu verstärken, wird er sich des öfteren gezielt positiv über die Qualitäten der kommunistischen Soldaten äußern und offen auf die Meinung von General Stilwell hinweisen (USOberkommandierender der China-Burma-Indien-Front), der eine stärkere Allianz mit den kommunistischen Truppen gegen die Japaner fordert. Captain Robbins wurde darüber informiert, daß das Büro ihn in der Perspektive für eine Aufgabe im Norden oder Nordwesten vor sieht, die ihn unter gewissen Umständen viele Jahre beschäftigen wird, ganz sicher aber weit über das Ende des gegenwärtigen Krie ges hinaus. Captain Robbins bekundete damit Einverständnis. Des weiteren wurde Captain Robbins aufmerksam gemacht, daß seine Herkunft (Geburt in China, Sprachkenntnisse etc.) sowie sein grundsätzliches Interesse für Land und Leute ihn für seine zukünfti gen Partner akzeptabel machen werden. Er soll diesen Vorteil nut zen. Captain Robbins erklärte sich mit der Übernahme der langfristi gen und in Einzelheiten heute noch nicht festlegbaren Aufgabe grundsätzlich einverstanden. Auch damit, daß er Angehöriger der US-Streitkräfte bleibt, mit Beförderungs- und Pensionsanspruch so wie Zahlung seiner Bezüge auf ein Konto in den Vereinigten Staaten. Keine der von ihm unter Umständen einzunehmenden Tarnhaltungen wird diese Regelung beeinflussen. Captain Robbins verpflichtet sich durch Unterschrift dieses Protokolls zu absolutem Stillschweigen und weiß, daß bei Nichteinhaltung dieser Bedingung militärgerichtliche Maßnahmen gegen ihn eingeleitet werden können. ()SS/Station Kalkutta E. Holloway 19. Juni 1943 Colonel
Kenntnis genommen und einverstanden:
14
Sidney B. Robbins Captain Codewort: Violet
20.6.1943 Es ist unglaublich, aber die Dakota hebt tatsächlich von der Piste ab! Auf den Blechen der Startbahn steht fußhoch Wasser. Die Rei fen der Maschine wirbeln es zu einer Fontäne auf, es zerstiebt im Luftstrom hinter uns. Während der Pilot bei ziemlicher Schräglage einen Halbkreis fliegt, kippt auf der einen Seite die Erde weg, auf der anderen füllt sie die Rundluke, an der ich sitze. Schmutziggrüne Teesträucher für lange Zeit, dann ein Baumgürtel, und schließlich Abhänge, immer noch von schmutzigem Grün, sonnenlos jetzt, trostlos, nach einigen hundert Metern in Geröll übergehend. Steinwände zum Schluß. Neben mir sitzt ein Major, er knurrt unwillig: »Fliegen wie die Henker, diese Typen von Chennault!« Die Maschine hat keine Sessel, wie sie bei Verkehrsflugzeugen üblich sind. An ihrer Stelle gibt es zwei Reihen becherartiger Blechsitze. Die Anschnallgurte sind zerfranst, die Schnallen schließen nicht mehr. Good bye Indien, Cheerio China! Ich möchte jubeln, so wohl fühle ich mich. (Auch deswegen, weil der Tripper offenbar besiegt ist!) Die Eröffnung Hollys, daß ich Jahre in dem Land zubringen soll, das aus der Kinderzeit wie ein zauberhafter, rätselvoller Traum in meiner Erinnerung steht, hat meine Gedanken beflügelt: Es wird 15
wieder die weiten Ebenen geben, mit den Dämmen zwischen den Reisfeldern, die kunstvoll angelegten Terrassenkulturen, spitze Bergkegel, die wie versteinerte Riesen urplötzlich aus der Erde aufragen, es wird die vertrauten Laute geben, die Gerüche, den Geschmack von süßsaurem Schweinefleisch oder rotem Pfeffer, es wird die sengende Sonne geben und den Nebel über dem Yangtse, den Tau auf Magnolienblüten am Morgen. Reiher werden da sein und Affen. Paradiesvögel und Zikaden. Ich stelle mir vor, wie ich meinen Auftrag erfülle, und dabei muß ich lächeln, denn es ist, als hätte die Anweisung des Büros mir unbefristete Ferien verschafft. Was ist das schon, sich eingehend mit den Verhältnissen vertraut machen? Ein Kinderspiel für einen, der hier aufgewachsen ist, der unverwischbar das Zirpen der Grillen auf der ersten Seite seines Gedächtnisbuches trägt, den heiseren Schrei
der
Lastesel,
das
Tom-tom
der
Wasserverkäufer?
Tschungking, ich komme! Rechts von mir sitzt ein Chinese in Zivil. Etwas älter als ich viel leicht, ein nichtssagendes Gesicht. Produkt der Bewegung >Neues Leben< wohl, mit Kenntnissen von Golf, und Cocktailrezepturen. Er preßt verstohlen sein Taschentuch an den Mund. Chinesen leiden öfter als Europäer an Luftkrankheit! Dabei sind wir gerade erst in die Wolkenschicht eingetaucht. Eine graue, zähe Masse umgibt uns. Nicht einmal mehr der Motor auf der Tragfläche ist zu erkennen. Es ist kalt in der Kabine. Irgendwoher zieht es. Überall ächzt und knarrt die Konstruktion. Chennaults Dakotas haben Jahre harten Dienstes hinter sich. Zudem ist jeder Winkel in der Kabine mit Fracht vollgepackt. Kisten und stoffumhüllte Ballen, Blechbehälter, Fässer. Güter für Tschungking. Alles vibriert, denn der Pilot fliegt offenbar mit Vollgas, läßt die Maschine vor der Wand der himmelhohen Berge steil steigen. Der 16
schmutzige Vorhang, der die Kabine vom Cockpit trennt, steht nahezu waagerecht. »Kunming?« erkundigt sich der Major neben mir. Ich sage ihm, daß ich weiterfliege, nach Tschungking, und er brummt: »Unwirtli che Gegend. Bin mal eine Zeitlang dort gewesen. Ein Sommer, der einem das Gehirn austrocknet, und danach nichts mehr als Dunst, Nebel, Regen, Kälte, Dreck. Jetzt noch japanische Bomben. Stin kende Leichen, die keiner zwischen dem Schutt findet. Aber der Fluß ...« Er lächelt und sinniert vor sich hin. Hat vergessen, daß er eigent lich zu mir sprach. Er hat den Yangtse erwähnt, und jetzt sieht er ihn vor sich, das gelbe, schlammige Band, das, von bestimmten Felsen aus der Höhe gesehen, ganz plötzlich sogar blau erscheinen kann. Am schönsten nachts, wenn die Lichter der Dschunken darauf tanzen, wenn die Sirene der Fähre ihren röhrenden Schrei ausstößt. Wie gut kennt der Major den Yangtse? Ich bin als Kind wohl tau sendmal über ihn gefahren, vom Nord- zum Südufer und umge kehrt, in allen Arten von Booten, habe ihn zu jeder Jahreszeit gese hen, auch bei Stürmen, oder im Frühjahr, wenn sich die Wassermassen aus den schmelzenden Schneefeldern des tibetischen Hochlandes donnernd dahinwälzen, Äste und ganze Bäume mit sich führend, zerschmetterte Hütten und Teile von Booten, ertrunkene Schweine und immer wieder auch die Leichen von Menschen. Graue Bündel, die aufgedunsen dahintreiben, bis sie sich schließlich irgendwo, weiter stromabwärts, im Ufergebüsch verfangen und ihre Reise zu Ende geht. Wer kennt den Yangtse? möchte ich den Major fragen, aber ich lasse es. Ich werde manches andere auch lassen müssen in den nächsten Jahren: Ich bin ein Mann mit einem geheimen Auftrag. Niemanden geht es etwas an, was ich wirklich 17
weiß oder denke, was ich tun will. Lediglich mein Tagebuch wird das festhalten. Holly hat mir Anweisung gegeben, es auf losen Blättern zu schreiben. Jede Möglichkeit, ein paar Seiten mit einem Kurier an das Büro zu schicken, muß ich wahrnehmen. Aus Gründen meiner eigenen Sicherheit. Aber auch, weil das Büro die Aufzeichnungen zu lesen wünscht. »Weißt du, alter Junge«, hat Holly gesagt, »du brauchst dir keine Gedanken zu machen, daß wir vielleicht über deine Privataffären informiert sein wollen. Nein, wir können aus so vielem, was du auf zeichnen wirst, zusätzliche Informationen entnehmen, das ist übri gens eine alte Erfahrung der Engländer, die betreiben das Geschäft, mit dem wir gerade angefangen haben, schon ewig. Deshalb — kein Blatt wird dir verloren gehen, ich bewahre alles auf, bis du es einmal abforderst...« Sei's drum! Ich bin daran gewöhnt, Tagebuch zu schreiben, von Kind auf. Ich schreibe schnell, und es macht mir Spaß, meine Gedanken festzuhalten. Werde ich immer genügend Zeit dafür finden? »Die paar Tonnen, die eine solche Maschine befördern kann, sind natürlich ein Tropfen auf einen heißen Stein«, doziert ein Amerika ner in Zivil, der nicht weit von mir sitzt. Neben sich hat er einen äl teren Chinesen. Könnte Diplomat sein. »Die Burma-Straße, ja, die Japaner wußten schon, wo sie uns treffen konnten!« Der Chinese murmelt etwas von noch bestehenden Landverbindungen zwischen Indien und China, sehr verschlungene Wege angeblich, aber der Amerikaner winkt lässig ab. »Ich weiß Bescheid, ja. Es gibt diese eine Route, von Kalkutta per Bahn bis nach Afghanistan, und von dort bis nach Zahedan, in Persien. Kenne das zufällig ganz genau, die Russen kommen uns da entgegen, stillschweigend, im Interesse der Sache, obwohl sie mit den Japanern noch keinen Krieg haben. Tja, von Zahedan gehen die Sachen mit Lastwagen quer durch Per 18
sien, bis Aschchabad. Das ist schon Sowjetrußland. Turkestan, glaube ich. Von dort verläuft die Turk-Sib-Bahn. Alma Ata, und von dort geht der Transport dann wieder per Lastwagen über Tihwa, Hami und Lanchow bis Tschungking. Tausende von Meilen. Sehr unrationell. Teuer. Umständlich. Die Russen geben sich zwar viel Mühe, erstaunlich, bei dem, was sie selbst auf dem Hals haben, aber — bedenken Sie die Entfernungen ...« Er schüttelt den Kopf, die Schwierigkeiten andeutend, die sich aus der Aufgabe ergeben, das alliierte Tschungking in dieser kritischen Situation immer weiter mit Hilfsgütern zu versorgen. »Dabei ist es notwendig, daß wir dem Generalissimo jede Unter stützung geben«, betont er eindringlich. »Sowie die Japaner seine Front überrennen, ist Indien endgültig verloren ...« »Und China«, bemerkt der Chinese bescheiden. Der Amerikaner nickt. »Sehr wahr. Auch China.« In diesem Augenblick stößt die Dakota aus der düster-grauen Wolkensuppe hinaus in kristallklare Luft. Der Himmel ist stahlblau, und wenn man aus der Rundluke nach unten blickt, erscheinen die Wolken plötzlich nicht mehr schmutzig, sondern schneeweiß. Ein Teppich aus Watte, man versteht nicht, wieso er noch Sekunden zu vor so widerlich gefärbt sein konnte, bedrückend. Es ist wie eine Explosion des Lichts. Die Sonne ist da, und sie ist nicht gelblich verschleiert, wie stets an den wenigen Tagen der Monsunperiode, wenn sie einmal für Minuten durch eine dünn gewordene Wolkenschicht blinkt, sie ist grell, sie schmerzt, und sie wärmt. Ich schätze, daß die Dakota jetzt über dreitausend Meter hoch fliegt. Und sie steigt weiter, denn da vorn lauern die schartigen Wälle des >Hump<, und es genügt nicht, sie gerade so mit ein paar hundert Metern Sicherheitsabstand zu überfliegen, weil sich dort Luftwirbel bilden, Turbulenzen, die eine Maschine in Sekunden um 19
einen Kilometer hinabschleudern können. Man merkt, daß der Druck auf die Trommelfelle zunimmt, man schluckt öfter als sonst, und nach einer Weile gewöhnt man sich daran, daß alle Geräusche, auch die Stimmen der Mitfliegenden leicht verfremdet klingen. Von dem Major erfahre ich noch, daß er in Kunming stationiert ist, dort, wo auch Claire Lee Chennault, der Chef des ehemaligen Privatgeschwaders der Familie Tschiang, heute seinen Stützpunkt hat. Inzwischen ist er zum ordentlichen General der US-Air Force ernannt worden, und seine Flugzeuge, in der Mehrzahl einmotorige P-40 >Warhawks<, wurden im Sommer 1942 in die 14.USLuftflotte eingegliedert. Im Wesentlichen geschah das wohl, um etwas mehr Klarheit in die verworrene Befehlsstruktur der Streitkräfte auf diesem Kriegsschauplatz zu bringen. Es hat sich erwiesen, daß Stilwell mit dem recht hat, was er schon seit Jahren behauptet, nämlich daß Tchiang Kai-shek sich zu oft den zentralen Erfordernissen der Kriegsführung widersetzt, meist nicht offen, sondern durch geschickte hinterhältige Winkelzüge, und er tut das, um eigene Ziele zu verfolgen. Wahrscheinlich hätte er dieses seltsame Geschwader des Abenteurers Chennault, das sich mit dem klingenden Namen Fliegende Tiger schmückte, lieber zu seiner persönlichen Verfügung behalten, um es im Bedarfsfalle gegen die kommunistischen Gebiete
im Nordwesten einzusetzen. Der
Generalissimo ist von einem geradezu krankhaften Haß auf die Kommunisten befallen, der ihn zuweilen vergessen läßt, daß es — wenigstens im Augenblick — noch wichtigere Dinge zu erledigen gibt als die Organisation von Strafexpeditionen gegen die um Jenan herum verschanzten Roten. Noch ist die japanische Gefahr nicht beseitigt. Aus heutiger Sicht, nach Pearl Harbor und dem Verlust weiter
Gebiete
in
Südostasien,
erscheint
die
jahrelange
Beschwichtigungspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Japan 20
mir zumindest fragwürdig. Liegt es daran, dass ich sozusagen ein >Kind zweier Welten< bin? Wie dem auch sei, wir haben zu lange gewartet, in der Hoffnung, daß sich der ziemlich offen zur Schau getragene Expansionsdrang Japans letztlich doch nach Norden richten würde, gegen die asiatischen Territorien der, Sowjets. Die Sache ließ sich recht vielversprechend an. 1932 besetzten die Japaner die Mandschurei ... Jahrelang hatte man wie gebannt auf die Linie der möglichen Konfrontation zwischen Japan und den Sowjets im Norden geschaut. Erst die Bomben auf Pearl Harbor machten schließlich jedem von uns klar, was hier Strategie und Taktik, was echtes militärisches Manöver und was Täuschung gewesen war: Die Südvariante hatte sich bei der japanischen militärischen Planung durchgesetzt. Der >weiche Unterleib < Asiens wurde dem steinharten Brustkorb< Sowjet-Sibiriens vorgezogen. — Unter uns liegen die faltigen, scharfkantigen Himalaya-Berge. Tiefe, schwarze Abgründe, schneegefüllte Schluchten, steile Grate. Wir sind über dem >Hump<, dem Dach der Welt, und man merkt, daß der Pilot Mühe hat, die Maschine auf Kurs zu halten. Die Gespräche ersterben, jeder klammert sich irgendwo fest, denn immer wieder, ganz urplötzlich, sackt die Dakota Hunderte von Metern ab und dann gerät man in die Gefahr, mit dem Schädel an der Kabinendecke zu landen. Eine Zeitlang fliegen wir in ziemlicher Schräglage, und jemand gibt bekannt, dies sei ein Trick des Piloten, mit dem er die Turbulenzen besser abzufangen hofft. Ich überlege zum ersten Mal, wie schnell unser aller Leben ausgelöscht werden kann. Ein Bruch im Steuermechanismus, eine Überbeanspruchung der Tragflächen, und wir stürzen wie ein Stein in die Tiefe. Den Aufschlag würden wir kaum noch spüren. Es heißt, daß Leute in solchen Situationen 21
am Schock sterben, bevor der Aufprall sie zerschmettert. Ich merke, dass ich Schweißtropfen auf der Stirn habe. Der Major blickt mich an und zieht die Augenbrauen hoch. »Wenn das vorbei ist, kann es nur noch schlimmer werden!« Seine Stimme klingt gepreßt. »Kurz vor Tschungking. Bei gutem Wetter schicken die Japaner ihre >Zeros< aus. Haben in Itschang ihre Basis. Mit Zusatztanks schaffen sie das spielend. Nun ja, ich steige in Kunming aus ...« Er spricht, als handle es sich um eine Trambahnlinie. Ich widme mich dem Zivilchinesen neben mir. Er quält sich, spuckt in sein Ta schentuch. Zwischendurch röchelt er mir zu, er habe vorsichtshalber schon zwei Tage nichts gegessen, nur um >Ungelegenheiten< beim Fliegen zu vermeiden. Ich klopfe ihm den Rücken, als er husten muß. Aus dem Cockpit kommt der Bordfunker. Er reicht eine Flasche Whisky herum, aus der jeder einen Schluck nimmt. Der Funker lacht: »Kleine Stärkung, Gentlemen! In Kunming 32 Grad im Schatten. Keine Japaner unterwegs, bis jetzt!« Dabei muß er sich, mit einer Hand an einer Schlaufe festhalten, die von der Kabinendecke herabhängt, weil die Maschine immer noch von den Turbulenzen gebeutelt wird. Ich erkundige mich, ob uns japanische Jäger in dieser Höhe überhaupt angreifen können, und er belehrt mich, daß die >Zeros< über zehntausend Meter hoch fliegen. »Manchmal kommen sie von Indochina herüber«, sagt er, »grei fen Kunming an. Geschieht aber relativ selten. Scheinen nicht mehr so viele Bomber in Indochina stationiert zu haben, und die >Zeros< tragen höchstens ein paar Splitterbomben.« Der Chinese beäugt mißtrauisch die bereits halbleere Whikyflasche. Ich ermuntere ihn, einen Schluck zur Stärkung zu nehmen. Er folgt meiner Aufforderung, aber er trinkt sehr wenig, während der Major einen tiefen Zug nimmt und dann laut und zufrieden 22
„Aaah...« macht. „Sie fliegen bis Tschungking?« Endlich bringt der Chinese einen zusammenhängenden Satz heraus, ohne sich zwischendurch mehr mals das Taschentuch an den Mund zu halten. »Ja«, sage ich. Er lächelt. »Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet ...« Chinesische Höflichkeit, ich kenne das. Nichtssagende Floskeln, hinter denen absolut konträre Gedanken stehen können. Dieser hier meint es aber offenbar ehrlich, denn er nimmt meine Hand und drückt sie. »Wenn wir es schaffen, ich meine, wenn wir den Flug überstehen, müssen Sie mich in Tschungking besuchen ...« Er muß wieder zum Taschentuch greifen. Aber wie durch einen Zauber schwebt die Maschine Sekunden später ohne die geringste Erschütterung durch die Luft. Ich blicke aus der Luke. Keine Fel sen mehr. Das Grün Chinas! Weite, durch Dämme unterbrochene Flächen, Reisfelder. Ein Wasserlauf, in dem das Sonnenlicht blin kende Reflexe verursacht. Ein Häufchen graugelber und rötlich grauer Klötzer. Zu hoch sind wir, um sie als Gehöfte zu erkennen. Eine Waldzunge schiebt sich ins Bild, dunkelgrün, saftig anmutend. »Ende des ersten Teils der Höllenfahrt!« verkündet der Bordfunker, der mit der leeren Flasche zum Cockpit zurückgeht, jetzt ohne Hilfe der Schlaufe, denn die Maschine liegt wie ein Brett in der Luft. »Kunming in zwanzig Minuten! Kalte Getränke und heiße Mäd chen. Die Bordellos an der Straße vom Flughafen zum Ort sind >off Limits<. In der Stadt selbst ist der Salon >Dragon Bar< zu empfehlen, und dortselbst die Damen Liu, Sehen Ming und Da Hua. Nichts für ungut, gute Landung!« Der Major lacht. »Frecher Bastard!« Aber er wirkt erleichtert. 23
»Ich stehe im Staatsdienst«, flüstert der Chinese mir zu. Er sagt nicht, was er tut. Ich frage ihn nicht danach, es wäre unhöflich. Durch die Luke sehe ich in diesem Augenblick Kunming: kleine Häuser, von Mauern aus rötlichem Lehm umgeben, die ganze Stadt wiederum durch eine stellenweise zusammengebrochene Mauer vom Land getrennt. Gelbe Dachziegel und grüne Rasenflächen. Außerhalb der Stadtmauer ein See, der künstlich angelegt zu sein scheint, so unnatürlich kreisförmig ist er, und so klarblau ist sein Wasser. Noch weiter draußen ein paar dunkelbraun erscheinende Hügel, runde, wie glattgeschorene Kuppen. Wüßte man nicht, daß die Berge hier so sind, würde man denken, sie seien das Produkt der eigenwilligen
Phantasie
irgendeines
begabten
Landschaftsarchitekten. Wir landen auf dem großen Flugplatz im Nordosten der Stadt. Im Niedergehen kann ich die Straße mit den >off Limits<-Hütten sehen. Shanty Town. Dahinter, in den Feldern, die winzigen Gestalten von Menschen, gebückt, arbeitend. Schmale Wege, die sich zu den Hügeln emporwinden. Kein Qualm in der Luft, nicht einmal die Rauchfahne eines Kochfeuers. Chinesische Kochfeuer geben bei 32 Grad im Schatten kaum noch Rauch ab, die heiße Luft scheint ihn zu schlucken, bevor er sich erheben kann. Ich geselle mich zu dem Chinesen. Alle, die weiterfliegen, müssen in einem niedrigen Gebäude ohne Fenster warten. Es ist drückend heiß, kein Vergleich zu dem schwülen Monsunklima in Assam, hier ist die Hitze trocken, sie verursacht Schädelschmerzen. Der Chinese heißt Wen Tsiao-tji, das habe ich inzwischen erfah ren, auch eine auf hauchdünn geschältem Birnenholz gedruckte Visitenkarte hat er mir feierlich überreicht. Er freut sich darüber, daß er sich mit mir chinesisch unterhalten kann, trotzdem sagt er mir nicht, was er tut, und ich dränge ihn nicht. Ich werde genau das 24
tun, was ich beim OSS während meiner Ausbildung immer wieder eingeschärft bekam, mich so unauffällig wie möglich benehmen, keine Neugier zu erkennen geben, freundlich sein, aufgeschlossen. Nicht schnelle Gelegenheitsinformationen zählen, sondern meine Etablierung in diesem Land. Ab jetzt bin ich ein Mann, der die vitalen Interessen der Vereinigten Staaten mit größter Umsicht vertritt, ohne daß ihm das jemand anmerkt. Ich bin Soldat im besonderen Auftrag, hinter mir steht mein Land, und, was wichtiger ist, hinter mir steht >Wild< Bill Donovans OSS, jene Dienststelle, die über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten und Machtmittel verfügt. Die weit in die Zukunft plant. Für das Office of Strategie Services, so schien es mir manchmal in Kalkutta, ist dieser Krieg bereits ausgekämpft, entschieden. Es richtet sein Augenmerk auf Dinge, die heute erst in Umrissen erkennbar sind, für Eingeweihte. Ich bin einer jener Eingeweihten! Ein Mädchen reicht heiße, feuchte Waschlappen herum, mit de nen man sich Gesicht und Finger reinigen kann. Ein anderes bringt große Prozellantöpfe mit einem eiskalten Getränk, das ich sofort wieder erkenne: klares Wasser, mit Bananenblüten aromatisiert. Getränk meiner Kindheit! Ein weißgekleideter Bediensteter schleppt schließlich Tabletts mit chinesischem Essen heran, Reis mit scharf gewürztem Hühner fleisch, Schälchen mit dunkler Soße, ebenfalls scharf, panierte Schweinefleischstreifen, Bambusgemüse Bohnen und Wasserspinat. Suppe folgt, mit Gemüseeinlage und Nudeln, und danach ein dun kelroter Tee, wie er in Yünnan getrunken wird, stark und ein biß chen nach Rauch schmeckend. Der Chinese hat staunend beobachtet, wie ich mit den Eßstäb chen umgehe. Er hat wohl erwartet, ich würde mich der höflicher 25
weise ebenfalls aufgelegten Gabel bedienen, wie das die meisten Amerikaner tun. Aber er müßte kein Chinese sein, wenn er seiner Verwunderung darüber sofort Ausdruck gäbe. Er kann warten. Ich komme ihm zuvor, lobe das Essen und lasse beiläufig die Bemer kung fallen, daß ich seit meiner Kindheit nicht mehr so gut gegessen habe, so schmackhaft, Yünnan-Küche! Da taut er auf, und als er erfährt, wo ich aufgewachsen bin, kennt seine Freude keine Grenzen mehr. Wir plaudern über Tschungking, bis der Bordfunker am späten Nachmittag erscheint und uns fröhlich zum Einsteigen auffordert. Erst als wir in der Maschine sitzen, vielleicht aus Angst vor dem, was jetzt kommt, flüstert der Chinese mir zu, was er in Tschungking tut, und ich habe Anlaß, mich über diese Bekanntschaft zu freuen: Er untersteht Tai Li, dem Chef des chinesischen Geheimdienstes und er ist >Untersuchungsrichter<, speziell beschäftigt mit der Aufklärung kommunistischer Umtriebe in Tschungking. »Meine Frau wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen«, schwärmt er, während die Maschine zum Start rollt. »Sie liebt gepflegte Geselligkeit. In meinem Haus treffen sich viele interessante Leute, Sie sollten mich besuchen, oft ...« Dann gibt der Pilot Vollgas, und die Dakota hebt ihre stumpfe Nase. Minuten später sind wir auf Höhe, in ruhigerer Luft. Es gib keine >Zeros<, die unseren Flug stören, und auch keine Turbulenzen. Wir gleiten über dem jetzt tiefgrünen Land dahin, und ich spüre, daß ich endlich und unwiderruflich in China bin. Während der vielen Jahre in den Staaten ist es mir gut gegangen. Ich habe mit einem hohen Stipendium der Rockefeller-Stiftung studiert. An meine Eltern, die auf einem Flug in den Vereinigten Staaten, während eine Urlaubs ums Leben kamen, habe ich zwar gelegent lich gedacht. Nie aber hat mich bei den Gedanken an sie der 26
Schmerz so geplagt, wie er mich packte, wenn ich mich an China erinnerte. Zuweilen war ich krank vor Heimweh, und ich schimpfte mich einen Narren, weil ich eben Amerikaner war, und die Staaten meine Heimat. China ließ mich nie los ... Es wird Abend, bis wir in Tschungking landen. Die Landebahn liegt auf einer Insel im Yangtse. Mit Mister Wen Tsiao-tji verab rede ich mich für einen der nächsten Tage. Mich empfängt ein schüchterner junger Mann in der Kleidung der amerikanischen Zivilangestellten: rohseidener Anzug, leichter Strohhut. Er stellt sich als Mitarbeiter der OSS-Station vor, dem Akzent nach muß er aus New England kommen, vielleicht in Harvard graduiert. Er hat kein Motorboot mit gebracht, auf uns wartet ein Sampan. »Wo werde ich wohnen?« »Wir haben Sie, der Weisung aus Kalkutta zufolge, in einem Bungalow untergebracht, oben in den Felsen, Captain«, gibt der junge Mann mir höflich Auskunft. Dann lächelt er. »Einige unserer Mitarbeiter bewohnen ebenfalls solche Bungalows. Wir anderen haben ein mehrstöckiges Haus im Zentrum belegt. Das Büro ist gleich nebenan ...« Ich finde drei komfortabel eingerichtete Räume vor, eine große Küche, der Garten steht voller Hibiskussträucher und Jasmin. Als ich alles besehen habe, erscheinen wie aus dem Nichts meine drei Bediensteten, ein Koch, eine Aufwartefrau, die Gattin des Kochs, und ein junger Bursche, der mir in leidlichem Englisch erklärt, er sei für die Bewachung des Hauses und für meine persönliche Sicherheit verantwortlich, während ich mich in der Stadt aufhalte. »Banditen, verstehen, Sir. Kommunisten, Räuber, es findet sich immer wieder solches Gesindel an.« Der Teufel reitet mich, und ich frage, mich an meinen Mitpassa-, gier erinnernd: »Sie unterstehen Mister Tai Li?« 27
Jawohl, Sir«, antwortet er militärisch knapp, seine Augen leuch-. ten, weil ich seinen Chef erwähnt habe. Ich lege mein Koppel ab, öffne die Pistolentasche und ziehe die Smith & Wesson 39 heraus. Eine schlanke, schöne Waffe, mit der ich vielleicht zwei- oder dreimal geschossen habe, auf Scheiben. Jetzt ist sie total verrostet, der Monsun in Dinjan hat sie doch weit aus stärker mitgenommen, als mich jene kleine Krankheit gepiesackt hat. „Verstehen Sie, damit umzugehen?« Kr klappt sein Jackett zurück. Darunter trägt er ein Holster mit einem kurzläufigen, großkalibrigen Revolver. Ohne meine Smith & Wesson auch nur anzusehen, sagt er: »Ich kann mit jeder Waffe umgehen, Sir. Übrigens heiße ich Benny Tso, Sir.« »O.K., Benny. Dann seien Sie so freundlich und reinigen meine Pistole. Ich habe das Bedürfnis, ein paar Stunden zu schlafen ...« ich mache mir keine Gedanken über Benny Tso, der wohl aus einer amerikanisch-chinesischen Mischehe stammt. Koch und Hausbesor ger haben heute nichts mehr für mich zu tun. Ich falle auf das frisch bezogene Bett und schlafe ein, ohne das Moskitonetz aufzuknüpfen, das wie eine Fischreuse von der Decke herabhängt. Ich träume von Dinjan.
Weisung an Violet
15.8.1943
(Kopie) 1. Verbindung mit Wen Tsiao-tji ausbauen. Versuch machen, über ihn an kommunistische Gefangene in dortigen Haftanstalten heranzukommen. 2. Gegenüber
kommunistischen 28
Gefangenen
Hilfsabsichten
durchblicken lassen. Vertrauen erwerben. 3. Besuche
Antiquitätenladen des
Chen
Lin,
Djaling-Lu,
in Tschungking. Chen Lin (68) ist illegaler kommunistischer Funktionär. Vorsichtig Kontaktaufnahme versuchen. Holly
20.9.1943 Tschungking hat sich seit meiner Kindheit beinahe bis zur Un kenntlichkeit verändert. Die Stadt ist hektisch geworden, ein Treib haus, in dem Geldgier und ungezügelte Lebenslust seltsame Blüten entstehen lassen. Mit Tschiang ist hier offenbar die ganze millionenschwere Hierarchie der Kuomintang-Spitze eingezogen, elegante
Autos,
streng
bewachte
Villen,
ausländischer
Warenramsch aller Art prägen einerseits das Bild, und andrerseits sind es die räudigen Bettler, Kinder oft, aber auch Kriegskrüppel und Kranke, es sind die eigenartig bedrückt aussehenden Leute aus den unteren Volksschichten, die ich immerhin als lebensfrohe, freundliche Menschen in Erinnerung habe. Was sie demoralisiert, ist nicht so sehr die Summe der Opfer, die sie im Kampf gegen Japan bringen müssen, es ist wohl eher der Umstand, daß dieser Krieg seine Lasten völlig auf die Armen ablädt, während er die ohnehin Reichen immer reicher macht. So ist der Geruch, den Tschungking ausströmt, zwar immer noch der unverwechselbar gleiche, sind die Felsen immer noch rot, der Fluß hat nichts von seiner Romantik verloren, und doch haben sich in all das »Elemente der Disharmonie« gemischt, wie ein alter Mann es ausdrückte, mit dem ich mich unterhielt, er saß und drehte in der Hand Walnüsse 29
umeinander, deren Schalen davon schon glänzend geschliffen waren. Er nickte mir freundlich zu, als ich weiterging, aber es war etwas von Trauer in dieser Freundlichkeit. Bedauern. Nur die Huren sind hier guter Dinge. Sie nehmen bis zu zweihundert China-Dollar für ein kurzes >Encounter<. Aber das sind die billigeren, die auf den Straßen lauern. Neben ihnen gibt es Dutzende anderer Schattierungen. Vom grell aufgeputzten Animiermädchen in einer der unzähligen Bars (sie halten sich trotz der immer wieder verkündeten Abneigung des Generalissimo gegen sie) bis zur eleganten, distinguiert gekleideten Lady, deren Aufmerksamkeit erst amerikanische Dienstgrade vom Colonel aufwärts wecken. Ein Spaßvogel in der OSS-Station, wo ich gelegentlich bin, meint, die Prostitution wäre das einzige Gebiet, auf dem es die >ChinesischAmerikanische Organisation für Zusammenarbeit (SACO) zu Leis tungen von erwähnenswerter Größe gebracht habe. Nun ist diese SACO, deren Präsident Geheimdienstchef Tai Li ist, allerdings im wesentlichen eine Einrichtung, in der unsere Experten chinesische Geheimdienstagenten trainieren, aber das mit der Prostitution mag wohl doch seine Richtigkeit haben, denn ich weiß, daß man verhält nismäßig viele junge Mädchen und Frauen dort ausbildet. Sie sollen maßgeblich hinter den japanischen Linien arbeiten, aber jeder Eingeweihte in Tschungking weiß, daß Tai Li sie ausbilden läßt, um mit
ihrer
Hilfe
in
die
kommunistischen
Organisationen
einzudringen. Japans Bomber haben in der Stadt im Laufe der vergangenen Jahre ganze Arbeit geleistet. Es ist kaum möglich, die Ruinen zu zählen, die einst trotz ihres Schmutzes und ihrer Armut anmutige Altstadt existiert so gut wie nicht mehr. In den Trümmern treiben sich Banden von Kindern herum, die elternlos sind, ohne Zuhause, und die von kleinen Diebereien leben, von Raub, auch vom Mord 30
an einem betuchten Bürger hin und wieder. Sie leben wie streunende Hunde, und diese wieder sind ihre einzigen Gefährten, mager, aggressiv und schmutzig wie die Kinder. Der Schmutz! Ich erinnere mich, daß mich die Silhouette Tschungkings, wie ich sie vom Fluß aus sah, beeindruckt hatte, be sonders das hohe Gebäude der Kathedrale, aber auch ein paar an dere, hohe, modern aussehende Betonburgen. Nicht zu vergleichen mit der Silhouette Shanghais etwa, wie man sie vom Hafen aus sieht, aber trotzdem imposant. Aus der Nähe besehen ist alles seltsam trist. Niemand scheint sich um die Sanierung der verwüsteten Gegenden in der Stadt zu kümmern, so wie sich niemand um die marodierenden Kinder kümmert. Das Leben, ein ärmliches oder ein künstlich luxuriöses, macht sozusagen einen Bogen um die Inseln des totalen Chaos, man richtet sich am Rande der rauchgeschwärzten Trümmer neu ein, entweder zwischen dünnen Mattenwänden oder in einem schnell erbauten feinen Bungalow. (Wenn man nicht so arm ist, daß man lieber gleich am Straßenrand schläft.) Sachliche Erklärungen dafür gibt es wohl, es fehlt an schweren Maschinen, an Bulldozern; ja selbst an Bambusstangen, diesem universalen Baumaterial, mangelt es. Abfälle liegen, zu Haufen zusammengekarrt, am Rande von Klippen, die einen bestechenden Ausblick auf das Yangtsetal bieten und auf den Kialing, der hier in den Yangtse mündet. Der Kontrast ist überwältigend, und die Stadt lebt vom Kontrast, so wie China immer zuvor am lebendigsten dort wirkte, wo seine Kontraste zum Beifall herausforderten, zu Erregung oder Abscheu. Manchmal glaube ich, die Stadt birgt wie ein Wassertropfen das zerrissene, vielgestaltige, kaum zu entwirrende Bild des ganzen Landes. Ein später Sommerabend mit seiner herben Schönheit an den LungMen-Treppen etwa, wo Bambusfackeln mit rötlichem Licht den 31
Weg erhellen, hat den zarten Duft von zahllosen Blüten, aber er trägt zugleich den schweren Odem der nach Brand stinkenden Trümmer, den Gestank der Exkremente, der Gullys, bis dann von irgendwoher wieder ganz fein der Hauch eines Räucherstäbchens heranweht, Sandelholz und Patschuli. Es ist schwer, dieses Tschungking zu beschreiben, man kann es ebensogut lieben wie ablehnen, beides wäre verständlich. Wer sich von der Anlegestelle hinauftragen läßt in einem Hua Kan, einer dieser alten Sänften, die es tatsächlich noch gibt, der wird nie den stechenden Geruch des Schweißes vergessen, der auf der Haut der Träger steht. Aber er wird auch die Freude über die unerwartet hohe Bezahlung in ihren ausgemergelten Gesichtern als bleibenden Eindruck behalten. Man kann, so man will, Schönheit in den Augen der bettelnden Kinder entdecken, oder man kann sie im blankpolierten Chrom eines Autos sehen. Tausend Farben und Formen stürmen auf einen ein, sobald man etwa in der Liang Lou Kou einen Laden betritt. Von buntem Papiergeld, als Grabbeigabe für Verstorbene angeboten, kann man seinen Blick über braune Bambussprossen und rote Radieschen schweifen lassen, über Bohnenquark und geschmiedete Haumesser, Zahnbürsten (auch ein Attribut der (Neues-Leben-Bewegung< des Generalissimo), klebrige Zuckerbäckereien und goldgelben Tabak, Reisschalen aus blau-weißem Porzellan und Kinderwagen aus Bambusrohr,
leicht
angerostete
Nägel
und
Gesichtspuder,
schmierige Ölkanister und kunstvoll geflochtene Matten — bis hin zum großen, buntgedruckten Porträt des Präsidenten selbst, mit seinem unverwechselbaren, glattgeschorenen Erdnußkopf. >Die Kuomintang wird siegreich sein!< steht darunter. Wenn man den Laden verläßt, stolpert man fast über die ausgestreckte Hand des Beinlosen, der auf seinem Rollbrettchen hockt, mit leerem Blick, ebenfalls kahlgeschoren. Er jammert nicht, er streckt lediglich die 32
Hand aus. Ich bin einige Male im Hotel >Victoria< gewesen und habe wenig Leute dort getroffen, die mich interessieren. Alliierte Offiziere und ausländische Korrespondenten, unnahbar wie Geheimnisträger die Einen, emsig und oberflächlich die anderen. Chinesen sind hier selten, höchstens ein paar Offizielle, Begleiter von Ausländern, hin und wieder eine Dame, die mit einem der Offiziere zusammenlebt. Tristesse in Khaki und dunklem Anzug, in weißem Servierrock und Goldbrokatkleid. Im >Cathay< läuft Chaplins >Diktator<, der Andrang an der Kasse hält sich in Grenzen. Hitler ist fern, Tojo ist der personifizierte Feind, oder Hirohito auf dem Schimmel. Ich finde mich nach ein paar Tagen damit ab, daß dies zwar mein geliebtes altes Tschungking ist, aber ich mich wohl verändert habe. Es macht mir Spaß, an einer Straßenküche eine Suppe zu essen, die scharf gewürzt ist wie alles hier, oder ich kaufe mir eine Handvoll Melonensamen und knacke sie
nach
Landessitte,
manchmal
sind
es
auch
geröstete
Walnußkerne oder ein in Salzwasser gekochter und dann über einem Rost gegrillter Maiskolben. Ansonsten lese ich, wie Holly mir das aufgetragen hat, das >Zentralblatt<, die >Szetschuaner Tageszeitung< oder die >Bergstadt am Abend<, ich versorge mich aus dem OSS-Büro oder aus anderen Quellen mit allem erreichbaren Material über die Situation in China, ich studiere Agentenberichte
und
Statistiken,
Gerüchtesammlungen
über
angebliche Zustände bei den Kommunisten im Nordwesten und japanische Propagandaflugblätter. Schnell habe ich Routine in der Auswahl von Nachrichten, und ich beginne heimisch zu werden, in der Stadt und im Job. Hollys Weisung erreicht mich sechs Stunden vor der bereits ge troffenen Verabredung mit Mister Wen Tsiao-tji, Untersuchungs 33
richter. Als ich bei ihm vorfahre, in einer dunklen Limousine des Büros, kommt er mir entgegen. Er bewohnt ein geräumiges Haus im altchinesischen Zwischenmauern,
Stil, die
von einen
einer
Mauer
Innenhof
umgeben,
abschirmen,
mit
runden
Durchgängen und hohen > Geisterschwellen <, rot lackiert. Der Innenhof ist sauber mit Yünnan-Marmor ausgelegt. In großen Porzellantöpfen blühen seltene Blumen, auf Steinsockeln stehen ovale Schalen mit Miniaturlandschaften. Felsen, verkrüppelte Kiefern, Wasser, ein winziges Boot aus Majolika. Eine erlesene Gesellschaft hat sich im geräumigen Wohnzimmer versammelt: verschiedene Bankiers, Offiziere aus dem Stab des Generalissimo, der Direktor des Rüstungswerkes >Hanyang<, hohe Polizeibeamte in Zivil, zwei Professoren der Shanghaier Universität, die jetzt in Peipei residiert, eine Stunde flussaufwärts mit dem Boot, Zeitungsredakteure, ein Fotograf, berühmt für seine YangtseLandschaften, wie man mir sagt, und für Porträts des Gene ralissimo, den er als einziger fotografieren darf. Etwas später als ich kommen noch der Inhaber eines Warenhauses, ein Schauspieler und der Chefarzt des größten, bereits zweimal ausgebombten Hospitals. Es sind Frauen da. Ich vermute, es handelt sich um die Freundin nen der Herren, man spürt so etwas. Allerdings sind es ausnahmslos gebildete, wie mir scheint, auch verwöhnte Damen, nichts von dem, was man in Bars aufliest oder in der Halle eines der kleineren Ho tels. Übrigens lädt mich jeder der anwesenden Gäste bei der Vorstellung bereits ein, ihn ebenfalls zu besuchen. Die übliche Höflichkeitsfloskel. Vielleicht hat Wen Tsiao-tji auch verbreitet, daß ich allein lebe und Langeweile habe. Von den Bankiers erfahre ich, daß es so gut wie unmöglich sein wird, nach dem Krieg wieder Silbermünzen in Umlauf zu setzen. Die Leute schmelzen sie ein, Silber ist wertvoller als der Nominal 34
wert der Münzen. Und die Reserven sind aufgebraucht. Die Offi ziere sind ziemliche Hohlköpfe. Stabsleute Tschiang Kai-sheks sind mir in Indien schon begegnet, ich habe mich stets darüber gewun dert, wie wenig sie die tatsächliche militärische Situation kennen, obwohl sie lange und gründlich an der Militärakademie ausgebildet sind. Es liegt wohl daran, daß sich der Stab des Generalissimo kaum mit Fragen der Kriegsführung beschäftigt. Der Erdnußkopf möchte das Oberkommando und damit die Entscheidungsgewalt über die auf dem asiatischen Festland operierenden alliierten Trup pen bekommen, ein eher politisches als militärisches Interesse. Die Arbeit hingegen läßt er lieber die Alliierten selbst machen. In sei nem Stab werden die zuverlässigsten, vertrauenswürdigsten Kader zusammengezogen, die als Staffage für den Chef gebraucht werden. Fragen der Kriegsführung, wenn sie überhaupt eine Rolle spielen, werden von den Befehlshabern der einzelnen Armeen entschieden. Das erinnert ein wenig an das China der >War Lords<, das — glaubte man den Losungen Tschiangs — bereits Geschichte ist. Es ist nicht Geschichte, weil die komplizierte Machtstruktur der Kuo mintang-Partei das Entstehen einer neuen Garnitur solcher >Kriegs herren“ geradezu heraufbeschworen hat. Jeder Armeebefehlshaber ist ein neuer Kriegsherr auf seinem Territorium, er kann dort ganz nach seinem Belieben schalten und walten, vorausgesetzt er erkennt den Generalissimo als >obersten Kriegsherren< an und läßt sich nicht mit den Kommunisten ein. Dies alles macht Tschiang, wie je der von uns weiß, obwohl wir das nicht öffentlich sagen, zu einem fragwürdigen Verbündeten. Man kann nicht absehen, wie lange sein auf Protektion, Vetternwirtschaft, Korruption und starrsinniger Eitelkeit basierendes Regime noch so stabil bleibt, daß es uns etwas nützt. Der
Direktor
des
>Hanyang-Werkes< 35
ist
ein
farbloser
Buchhaltertyp. Er versteht nichts von Metallurgie. Während er schmatzend zwei >tausendjährige Eier< verspeist, schwärmt er vom amerikanischen Rugbyspiel. Die Polizeibeamten sind schweigsam, höflich. Sie sehen in mir, weil sie natürlich wissen, daß ich im OSS arbeite, einen geheimnisumwitterten Kollegen und antworten forsch auf meine Fragen: Ja, es gibt viel Elend in der Stadt, ja, die Kriminalität nimmt zu, ja, die Kommunisten haben überall ihre Vertrauensleute, und den Diplomaten von der sowjetischen Vertretung muß man natürlich auf die Finger gucken, die Russen seien die geborenen Konspiratoren, ja, ja, Die Professoren sind ein Anthropologe, der Oxford-Erfahrung hat
und ein Historiker. Der Anthropologe möchte nach Java, um
dort irgendeinen Pithecanthropus zu besehen, und er möchte nach dem
Norden, wo es gälte, nach dem Sinanthropus zu graben.
Beides unmöglich, der Japaner wegen. Aber er plant bereits. Der Historiker
entwirft
eine
>Geschichte<
Chinas.
Er
scheint
Tuberkulose zu haben und wird vermutlich deshalb schon sein Werk kaum vollenden können. Bleibt zu sagen, daß die Zeitungsleute Befehlsempfänger des Ge neralissimo sind, der Fotograf ein Trottel, der Warenhausdirektor mir rät, seine >Spezialabteilung< zu besuchen, der Schauspieler mir eine Privatloge anbietet und der Arzt mir als einziger bei einem Glas Tschungking-Gin gesteht, ihn kotze einfach alles an. Er ist müde, mürrisch, zynisch. Seinetwegen können die Leute sich weiterhin gegenseitig umbringen, sie sollten aber nach Möglichkeit mit ihren Waffen besser zielen, um sich eben — wie gesagt — tatsächlich umzubringen, und nicht mit nur halb umgebrachten Körpern die Operationssäle füllen. Beim zweiten Tschungking-Gin verrate ich ihm versuchshalber, daß ich ein Verehrer Tu Fus bin, 36
des vielleicht bedeutendsten Poeten Chinas, der vor mehr als zwölfhundert Jahren lebte, in der Tang-Zeit, und der wie kein anderer die Misere des von Kriegen heimgesuchten Chinas besang. Er blinzelt mich ungläubig an, und ich zitiere, da ich Tu Fu tat sächlich liebe, aus dem Kopf eines meiner Lieblingsgedichte, die >Nacht im Pavillon am Fluß<. . Abenddunst kriecht hügelan. Ich liege im Pavillon, blicke auf den Fluß. Blasse Wolken umhüllen die Felsklippen, Wellen spielen mit dem Spiegelbild des Mondes. Kraniche und Störche ruhen, Tiger grollen nach Beute. Schlaf kommt nicht, da ist der Krieg, und ich bin nicht mächtig, die Welt zu ordnen. Während ich das aufsage, hat sich die ganze Gesellschaft um mich versammelt. Am Schluß applaudiert man mir, die Frauen werfen mir strahlende Blicke zu. »Kennen Sie alle vierzehnhundert Gedichte Tu Fus?« erkundigt sich der Arzt. Ich gestehe ihm, daß ich sie nicht alle auswendig kann. Da rät er mir trunken: »Benutzen Sie den Rest Ihres Lebens dazu, sie verstehen zu lernen. Sie werden der Menschheit damit einen nützlicheren Dienst erweisen als mit Kriegführen!« Die anderen lä cheln. Wenig später sagt mir Wen Tsiao-Tji: »Wir kennen den alten Narren. Er ist völlig aus der Art geschlagen. Unhöflich. Das ist auf 37
die lange Zeit zurückzuführen, die er in England verbracht hat. Sein Benehmen ist englisch geworden. Aber er ist ein hervorragender Chirurg, selbst der Generalissimo vertraut ihm ...« Wir ziehen uns, während die anderen Gäste schwatzen, in sein Arbeitszimmer zurück. Ein mit Büchern vollgestopfter kleiner Raum, der mich verwirrt. Ein Untersuchungsrichter, der liest? Er tut es mit der Bemerkung ab, daß er eigentlich lieber hätte Philosophie studieren wollen, aber die Eltern bestanden auf Jura. Auch Oxford übrigens. In der Gunst Tschiangs steht er offenbar durch die Bezie hungen seiner Eltern zum Generalissimo, und zwar zu jener Zeit, als dieser noch in Shanghai operierte. Das erklärt, weshalb Tai Li ihn mit der Aufgabe betreut hat, Untersuchungen politischer Art zu führen. Er fragt mich, ob er mir bei der Ausübung meiner Tätigkeit helfen kann, obwohl er gar keine Ahnung hat, was ich mache, er weiß lediglich, daß ich im OSS-Büro sitze. Major Miles, den Chef des Tschungkinger Büros, hat er kennengelernt. Ein freundlicher Mann, wie er unverbindlich feststellt. Ich spüre, daß sein Angebot ehrlich gemeint ist. Zu meiner Überraschung zeigt er auch noch volles Verständnis dafür, daß ich kommunistische Häftlinge kennenlernen will. Er ist mit mir allein, er bleibt Chinese bei dem, was er sagt, aber er drückt sich so aus, daß ich ihn sofort begreife: Wen Tsiao-tji belächelt im Grunde den verbohrten Haß gegen alle Roten,
denn
nach
seiner
Theorie
sind
die
chinesischen
Kommunisten alles andere als eine homogene politische Gruppe. Eine Überlegung, die ich nicht zum ernten Mal höre. Er gesteht mir, daß er seit langer Zeit versucht, Tai Li von den Vorteilen zu überzeugen, die ein vorsichtiges Zusammengehen mit bestimmten Gruppierungen unter den Kommunisten bieten würde, speziell im Hinblick auf die Verstärkung der Meinungsverschieden 38
heiten innerhalb der Partei, die man nutzen sollte. Aber Tai Li ist daran nicht interessiert. Dieser ehemalige kleine Gauner aus Hong kong (das sagt der Untersuchungsrichter nicht, das gehört zu meinen Privatkenntnissen über Tai Li) ist ein Schlächtertyp. Tauglich für den Posten eines Gefängnisbosses, nicht für den Geheimdienst. Phantasie, das ist es, was man braucht, um den Kommunisten wirklich beizukommen. Mut zum Risiko. Sie nur zu prügeln ist falsch.' »Sehen Sie, Mister Robbins«, hält er mir vor, »sehr viele dieser Leute sind durch die unerträglichen sozialen Verhältnisse in China und durch den tief in ihnen verwurzelten Nationalstolz, den die Ausländer verletzten, zunächst in eine sozusagen linke Position geraten, und sie haben sich dann der einzigen organisierten Kraft der Linker angeschlossen, die von Bedeutung ist, eben den Kommunisten. In Wirklichkeit sind sie für eine Art Demokratie, wie sie in verschiedenen westlichen Ländern herrscht, für Prosperität und Ordnung. Sie sind gegen die Regierungsmethode des Generalissimo. Gerade bei den Gebildeten trifft das zu. Wir entdecken es immer wieder, wenn wir uns die Zeit nehmen, ohne Prügel mit ihnen zu reden. Gingen wir elastischer vor, könnten wir viele für uns gewinnen. Die Masse der Roten besteht natürlich aus Bauernpack ohne Bildung, man kann ihnen alles einreden, denn sie selbst wissen nichts. Gebildeten kommt daher eine Führungsrolle zu, sie könnten diese roten Armeen überallhin lenken. Mao Tse tung hat das wohl schon begriffene obwohl er selbst ein ziemlich oberflächlich gebildeter Mann ist. Ich wage zu behaupten, daß er selbst lenkbar wäre. Wir sind nur hier in der Lage, das zu tun ...« »Moskau lenkt ihn«, werfe ich versuchshalber ein. Er lächelt fein Hintergründig. »Moskau ist in einer schwierigen Position«, meint er. »Überlegen 39
Sie, es hatte sich mit der Kuomintang verbündet, schon zu Zeiten Sun Yat-sens. Der Generalissimo hat dann 1927 nach dem Tod Sun Yat-sens das Bündnis mit den Sowjets zwar aufrechterhalten, im Lande selbst aber alle Macht auf seine Person vereinigt und die chinesischen Kommunisten schonungslos ausgerottet. Natürlich konnte sich Moskau nicht in unsere Innenpolitik einmischen. So zog sich Mao Tse-tung eben nach jahrelangen Kämpfen mit seinen überlebenden Kommunisten nach Jenan zurück, und dort murrt er noch heute darüber, daß die Russen ihm keine Waffen liefern. Moskau hingegen hält sich strikt an seine Abmachung mit den Alliierten. Es respektiert das amerikanische Bündnis mit uns, weil es ihm schließ lich um die Beseitigung der japanischen und der deutschen Gefahr gehen muß. Glauben Sie mir, jeder russische Politiker beißt ganz si cher erbittert die Zähne zusammen, wenn er die Zahlen der Kom munisten liest, die bei uns seit dem großen Auftakt von Shanghai' hingerichtet wurden. Aber gleichzeitig weiß er, daß man eine kom munistische Revolution nur zu einem Zeitpunkt machen kann, an dem alle Voraussetzungen für einen Sieg gegeben sind. Mao Tse tung hat das offenbar nicht einmal aus den fehlgeschlagenen Auf ständen in Shanghai und Kanton gelernt. Er hat nur die Schwer punkte von den Städten auf das Land verlagert. Ein ausgesproche ner Starrkopf. Er will Macht, und er will sie möglichst schnell. Schade, daß man in der Umgebung des Generalissimo solchen Ge danken viel zu wenig Aufmerksamkeit widmet. Ich habe den Ver dacht, daß Mao Tse-tung, so gefährlich er ist, den Russen viel unbe quemer werden könnte als uns, vorausgesetzt, wir hätten den Mut, ein Spiel mit hohem Einsatz zu wagen. Es wäre ein Spiel um die politische Zukunft Chinas ...« Ich bin überrascht von der Konsequenz seiner Gedanken, und ich sage es ihm. Er schüttelt betrübt den Kopf. 40
»Es ist ein Jammer, Mister Robbins, so wenige Leute bei uns be mühen ihr Gehirn dazu, vernünftige taktische Spielzüge zu entwer fen. Wir verlassen uns auf unsere Verbündeten, sie sollen alles für uns ausfechten. Es ärgert mich, daß wir die Vereinigten Staaten so zusagen vor die Alternative stellen: helft uns mit allem, was Ihr habt, gebt uns Getreide und Metall, Autos und Kanonen, Fleisch und Tuch — oder Ihr seid daran schuld, daß China dem Kommunismus verfällt. Es ist unehrenhaft. Zuweilen schäme ich mich. Aber ich bin nur ein Mann mit begrenztem Einfluß ...« Ich versichere ihm, daß mir seine Erwägungen im höchsten Maße überlegenswert erscheinen. Als ich mich erkundige, ob es möglich ist, kommunistische Häftlinge zu Studienzwecken zu befragen, si chert er mir zu, das sei, bei meinem Beruf, auf seine Anweisung ohne jede Schwierigkeit zu machen. Er rät mir allerdings, nicht in die beiden Haftlager zu gehen, die sich in der näheren Umgebung Tschungkings befinden und die im Volksmund > Weißes Haus< und > Höhle < genannt werden. Vielmehr schlägt er mir vor, Gespräche im Untersuchungsgefängnis zu führen, das ihm untersteht. Unter Umständen würde er Häftlinge aus den Lagern nach dorthin verbringen lassen, damit sie mir zur Verfügung stehen. Ich sage zu. Er macht noch ein paar Bemerkungen, aus denen ich entnehmen kann, daß er auf Stillschweigen meinerseits Wert legt, und ich versichere ihm, daß dieses Gespräch >nicht geführt< wurde. Er lächelt, als wir wieder zu den Gästen ins Wohnzimmer gehen. Seine Frau hat eine Schallplatte aufgelegt. Irgendein schmalziger Shanghai-Song. Man tanzt. Ich beschäftige mich einige Zeit mit Mister Wen Tsiao-tjis Gattin, Tochter einer Offiziersfamilie. Sie freut sich sichtlich über meine artigen Komplimente und ist verblüfft über meine Kenntnisse in der chinesischen Sprache. Nach einer Stunde gehe ich. 41
Vier Tage später sitze ich im Untersuchungsgefängnis. Man hat einen fensterlosen Raum für meine >Gesprächsstudien< vorbereitet. Nur eine elektrische Birne baumelt von der Decke herab. Darunter ein Tisch, auf dem Teegeschirr steht, Gebäck, Zigaretten. Nacheinander werden mir Leute gebracht, denen die Bedingun gen der Haft anzumerken sind. Sie sind abgemagert, hohläugig, manche haben Schmisse im Gesicht, alle sind mißtrauisch, zurückhaltend. Sie antworten, daß sie Kommunisten sind, daß sie die Kuomintang für entartet halten. Tschiang habe Verrat an den nationalen Interessen geübt, indem er die vielen Angebote für eine Einheitsfront gegen die Japaner, die von den Kommunisten gemacht wurden, immer nur mit neuen Jagdaktionen gegen sie beantwortete. Überhaupt sähe er es wohl lieber, wenn die Japaner möglichst viele Kommunisten töteten, deshalb habe er auch mit ihnen an den Fronten eine Art Gentlemen-Agreement geschlossen, das zum beiderseitigen Stillhalten verpflichtet. Aber die bewaffnete rote Macht werde China zum Kommunismus führen, ob Tschiang das wolle oder nicht. Es ist, als hätten sie sich alle zuvor abgesprochen, so ähnlich sind die Äußerungen. Sie begreifen schnell, daß sie von mir nicht geschlagen werden, daß ich eben ein Amerikaner bin, der auf sie neugierig ist, und einige machen mir Vorwürfe, daß Amerika den Verräter Tschiang unterstützt. Für mich rundet sich das Bild einigermaßen ab: Diese Leute machen einen Unterschied zwischen dem Generalissimo, den sie zur Hölle wünschen, und uns, von denen sie Einsicht erwarten. Sie klagen nicht über die Behandlung, deren Spuren sie tragen. Einige sagen mir, daß sie zum Tode verurteilt sind. Aufschub der Exekution aus taktischen Gründen, meinen sie. Aber sie zeigen keine Angst. Ich überlege erneut, daß marxistische Lehrsätze ihnen wohl kaum geläufig sein können, hier handelt es sich um Menschen, die aus 42
emotionalen
und
sozialen
Gründen
revoltieren,
und
die
Kommunisten bieten die einzige Operationsbasis für diese Rebellion. Der Gefangene, den ich am dritten Tag meiner Tätigkeit in der Haftanstalt vorgeführt bekomme, heißt Chang Wen und stammt aus Shanghai. Aus den mir von Wen Tsao-tji überlassenen Hinweisen ersehe ich, daß man wohl nicht in der Lage gewesen ist, seine ille gale Tätigkeit völlig aufzuhellen. Er wurde festgenommen, als er mit einem Posten kommunistischer Propagandaschriften nach Tschungking kam. Der Anlaufpunkt, an dem er sich meldete, war die letzte Station seiner Reise, die vermutlich in Jenan begann. Der Mann ist groß und hager, trägt eine mit Draht geflickte Brille und kann etwas englisch. Als ich ihm die erste Frage stelle, blickt er mich durch die zerschrammten Brillengläser an und möchte seinerseits wissen: »Was wollen Sie von mir? Die weiche Tour, mit Tee und Keks? Sie sind Amerikaner, und Sie konspirieren mit Tschiang. Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen mehr sage als meinen chinesischen Quälgeistern!« Es gelingt mir, ihm im Verlaufe unseres langen Gesprächs das Gefühl zu geben, daß sich mein liberaler Geist dagegen sträubt, in jedem Kommunisten sofort eine zur Ausrottung bestimmte Kreatur zu sehen. Ich spreche über die Geschichte Amerikas, über meine Kindheit in Tschengtu und Tschungking und auch darüber, daß ich im Verhalten der chinesischen Kommunisten durchaus einen achtbaren Sinn entdeckt habe, der auf ihre unverbrüchliche Vaterlandsliebe schließen läßt. Nach und nach komme ich ihm näher. Ich merke, wie er mich abtastet, wie er herausfinden will, was Zweck dieser Unterhaltung ist. »Ich will in China bleiben«, sage ich ihm schließlich. »Auch nach Ende des jetzigen Krieges. Und ich weiß, daß das System des Generalissimo arg verrottet ist. 43
Deshalb will ich Leute kennenlernen, die eine bessere Alternative dazu bieten.« »Sie sehen im Kommunismus eine Alternative für China?« Ich sage ihm, daß es außer den Kommunisten wohl keine politisch gewichtige Gruppierung mehr gibt, von der hier etwas zu erwarten wäre. Da lächelt er. »Man stellt sich auf die Zukunft ein. Nun gut. Wir Kommunisten haben nichts gegen die Amerikaner, vorausgesetzt, sie kommen zur Vernunft. Wir könnten in der Zukunft miteinander auskommen. Allerdings werde ich diese Zukunft nicht mehr erleben, Mister.« Sein Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Instinktiv spüre ich, daß dieser Chang Wen keine unbedeutende Person sein könnte. Es würde sich auszahlen, ihn freizubekommen, aber ich weiß, daß das unmöglich ist, und ich sage es ihm. »Aber«, fahre ich fort, »auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen Priestertyp halten, glaube ich, daß schon viel erreicht wäre, wenn Sie nicht hingerichtet werden. Wenn Sie das, was jetzt ist, überleben. Oder?« Er antwortet nicht. Ich verspreche ihm, mich da für einzusetzen, daß man nicht > kurzen Prozeß < mit ihm macht, und er nimmt es ohne Kommentar zur Kenntnis. Als ich ihn frage, ob er Familie hat und ich sie über sein Schicksal benachrichtigen könnte, schüttelt er den Kopf. Er ist allein. Hat niemandem etwas auszurichten. »Oder doch«, besinnt er sich dann plötzlich. »Wenn es in dieser Stadt einen Kommunisten gibt, den Sie kennen und nicht an Tai Li verraten, dann richten Sie ihm aus, Chang Wen sei von Wang Kwei-fan verraten worden. Wang Kwei-fan, merken Sie es sich, oder schreiben Sie es meinetwegen auf, sie ist eine Verräterin. Das ist alles.« Ich verspreche, ihn wieder einzuladen und mich für ihn einzuset zen. Er nimmt es gelassen hin. Er verzichtet auf Tee und Gebäck, geht grußlos zwischen den Wärtern hinaus, die ihn abführen. 44
Chang Wen. Ich spreche mit Wen Tsiao-tji über ihn, und der be stätigt mir, daß man nicht viel von ihm weiß. Man hat ihn geschunden, aber er schwieg. Jetzt will man abwarten. Ich mache dem Untersuchungsrichter klar, daß der Mann für mich interessant ist. Wen Tsiao-tji lächelt. »Ich verstehe. Ein intelligenter Mensch. Es liegt in meiner Macht, ihn zunächst am Leben zu lassen. Wenn Sie daran interessiert sind, werde ich dafür sorgen, daß sein Verfahren nicht so bald wieder aufgenommen wird. Nur freilassen kann ich ihn nicht. Aber es ist ja möglich, daß die politische Konstellation sich einmal ändert und der Generalissimo zustimmt, den Kommunisten ein kleines Geschenk zu machen, in Form einer Amnestie, einer demonstrativen Freisetzung. Ich werde daran denken ...« Am nächsten Nachmittag bin ich in der Djaling Lu, im Laden des alten Chen Lin. Ich finde die üblichen Antiquitäten vor: Rollbilder: und Buddhafiguren, Bambusgefäße und Porzellane, alte Schwerter und Kurtisanengewänder, Cloisonne-Vasen und Elfenbeinschnitze reien, mongolische Dolche und Tang-Pferde aus Majolika. Eines davon kaufe ich, der Preis ist akzeptabel, es ist selbstverständlich nicht echt, sondern geschickt nachgemacht, aber es gefällt mir. Der Alte ist allein in seinem Laden. Staub liegt auf den Schaustücken, Fliegen umsummen uns, irgendwo im Hintergrund weint ein Kind. Chen Lin ist eine Figur voller Würde, er ist höflich und lobt meine Sprachkenntnisse. Ich habe mir für ihn eine Art des Vorgehens überlegt, von der ich glaube, sie ist den Umständen angemessen. Natürlich ist ein Mann wie er mißtrauisch, er wird sich nicht offenbaren, es geht schließlich um sein Leben. Aber — so habe ich kalkuliert, er hat Ohren, um zu hören, und er wird nicht zögern zu handeln. Also kaufe ich das Tang-Pferd, bezahle es in US-Dollar, was den Alten sichtlich erfreut, weil das chinesische 45
Geld laufend im Wert sinkt, und als er mir das Stück eingepackt hat, mit einer Schnur umwunden, lege ich los. »Sind wir hier miteinander allein, Lao Chen?« Er ist verblüfft, über die Frage ebenso wie über die ehrende An rede. »Allein? Ja, Sir, wir sind allein ...« Er sieht mich an. Sagt nichts weiter. »Gut. Dann merken Sie sich folgendes, oder schreiben Sie es auf, vergessen Sie es nicht: Chang Wen, inhaftiert im >Weißen Haus<, läßt jedem, den es interessiert, sagen, daß eine Frau namens Wang Kwei-fan eine Verräterin ist. Sie arbeitet mit Tai Li zusammen und hat die Festnahme Chang Wens bewerkstelligt. Das ist alles. Haben Sie mich verstanden?« »Ich verstehe nicht, Sir«, murmelt er. Sein Blick ist so ausdrucks los wie der einer tibetischen Maske, die hinter ihm an der Wand hängt. Natürlich muß er mir gegenüber so reagieren. Aber vorsichtshalber wiederhole ich: »Ich sprach von einem Chang Wen, der durch den Verrat einer gewissen Wang Kwei-fan in die Hände Tai Lis gefallen ist. Wang Kwei-fan ist eine Verräterin, die sich gut tarnt. Vergessen Sie es nicht. Die Zeiten werden sich ändern, und ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, wenn Sie es vergessen.« Er gibt nicht zu erkennen, was er denkt, aber sein Blick gleitet über meine Uniform, die Rangabzeichen, und ich weiß, daß er sich jetzt die Frage nach den Zusammenhängen stellt. Ich verbeuge mich leicht. Dann ziehe ich einen Zettel mit meiner Telefonnummer aus der Rocktasche, gebe ihn dem Alten. »Wenn Sie das Bedürfnis ha ben, mit mir zu reden, rufen Sie mich an und sagen Sie, das von mir bestellte zweite Tang-Pferd sei da. Wenn Sie das Bedürfnis nicht haben, vergessen Sie mich.« Als ich den Laden verlasse, habe ich das Gefühl, genau das rich tige getan zu haben. Ich bin mir bewußt, daß ich hoch spiele. Wie 46
leicht kann eine illegale Organisation kurzerhand den Beschluß fas sen, eine so undurchsichtige Figur wie mich auszulöschen! Aber ich riskiere es. Abwarten und sehen, wie wir sagen. — Inzwischen habe ich Zeit, mir über die Entwicklung an den Fron ten Gedanken zu machen. Von Miles, dem Bürochef des OSSTschungking, erfahre ich, daß Tschiang Kai-shek immer wieder verlangt, General Stilwell müsse abgelöst werden. Die alte Geschichte, Essig-Joe läßt keine Gelegenheit aus, dem General issimo vorzuwerfen, daß seine Kriegsanstrengungen gemessen am Volumen unserer Hilfsleistungen null sind. In der Tat gibt es zwischen Japanern und Kuomintang-Soldaten in China so gut wie keine Gefechtstätigkeit. Tschiang weigert sich, dem Gedanken an Teiloffensiven, die das Vorgehen unserer Truppen im Pazifik entlasten könnten, auch nur nahezutreten. Mountbatten, jetzt Oberkommandierender der Alliierten in Südostasien, versucht es mit der Ankündigung, daß in Burma eine Offensive bevorstünde, die ihrerseits natürlich China entlasten würde. Aber der gute Lord hat nicht mit der Schlauheit Tschiangs gerechnet. Dieser erkundigt sich nämlich sofort, wem denn dann in den zurückeroberten Territorien in Burma die Verwaltung übergeben werden solle, und als Mountbatten ahnungslos erklärt, natürlich würden dort britische Behörden wieder ihre Befugnisse übernehmen, Burma sei schließlich britische Kolonie, zieht sich Tschiang abrupt zurück. Er läßt es nicht zu, daß chinesische Truppen unter Mountbatten Kommando operieren, lediglich die geringen Kontingente, die Stilwell sich bisher gesichert hat und die er ausbilden ließ, verbleiben unter seinem Befehl. Als Mountbatten aus dem Indi schen Ozean Flotteneinheiten abgeben muß, weil sie dringend im Mittelmeer gebraucht werden, kündigt Tschiang >ernste Schritte< an. Wenn man diese Dinge in den Tschungkinger Zeitungen 47
kommentiert liest, hört es sich für jemanden, der den Mechanismus von Tschiangs Presse einigermaßen kennt, so an, als sei der Generalissimo zutiefst verärgert darüber, daß Roosevelt und Churchill
ihm
nicht
zum
Posten
des
militärischen
Oberbefehlshabers auf diesem Kriegsschauplatz verholfen haben. Er fühlt sich zurückgesetzt und schmollt. Roosevelt wird seine Gründe haben, er kennt die Prioritäten, die Tschiang — im Besitz des Oberbefehls — setzen würde, und er muß befürchten, daß der Generalissimo sich stillschweigend mit Japan einigen könnte, vorerst zur gemeinsamen Bekämpfung der Kommunisten. Ein Dschungel
von
geheimen
Abmachungen,
Vertragsbrüchen,
Kompetenzstreitigkeiten, Durchstecherei, Vetternwirtschaft und bedenkenlosem politischem Opportunismus, das ist es, was der > Verbündete < Tschiang seinen Partnern zumutet. Jeder im Job weiß es, keiner spricht es laut aus, lediglich Stilwell vielleicht, aber die meisten von uns sind sich klar darüber, daß Tschiang nichts mehr und nichts weniger anstrebt, als bei möglichst großen Hilfslei stungen letztlich doch uns die Zerschlagung der Japaner zu überlas sen, seine eigenen Truppen aber zu schonen für die von ihm als heilige Aufgabe« bezeichnete militärische Zerschlagung der Kom munisten. Benny Tso ist aus der Organisation der >Blauen Hemden< hervorgegangen, dem Kaderreservoir der Kuomintang. Diese jungen Leute sind für meine Begriffe gläubig in einem beinahe religiösen Sinne, wenn es um Tschiang geht. Er kommt mir bei aller Forschheit gedrückt vor, und ich spüre, daß er sich eher mit mir anfreunden möchte, als mich bespitzeln. Ich behandle ihn freundlich, hin und wieder bringe ich ihm Kaffee aus dem Büro mit, weil er — für einen Chinesen absonderlich — Geschmack daran findet. Schrecklicher, beim Rösten halb verbrannter indischer 48
Kaffee übrigens! Als ich mich plötzlich an die Opiumpfeife erinnere, die ich für den Arzt in Dinjan besorgen soll, wende ich mich an ihn. Er kauft sie für einen lächerlichen Preis bei einem Trödler, und er befördert sie auch — mit einem handschriftlichen Gruß von mir — zum Flugplatz, wo er sie einem Piloten übergibt, der in Dinjan zwischenlanden wird. Ich habe das Gefühl, er ist froh, mir diesen kleinen persönlichen Dienst erweisen zu können. Wenn ich Besuch habe, beispielsweise von Wen Tsiao-tji, der ge legentlich kommt, um mit mir zu plaudern, zieht Benny Tso sich folgsam zurück. Er lauscht nicht, er steht Posten an der rückwärtigen Grund stücksgrenze, von wo aus er das Gelände gut übersehen kann. Eines Tages werde ich auf ein Plakat aufmerksam, das nicht weit vom OSS-Büro an einer Hauswand klebt. Das Foto eines Mädchens, dar über ein kurzer Text. Ich vermute einen Steckbrief und lese, aber ich habe mich geirrt, es ist eine öffentliche Suchanzeige: DIE 26JÄHRIGE WANG KWEI-FAN
IST SEIT ZWEI
WOCHEN VERSCHWUNDEN, eine Gewalttat wird vermutet. Wer hat sie zuletzt gesehen, und in wessen Begleitung? Für Hinweise, die der Aufklärung dienen und die Ordnung und Sicherheit in Tschungking stärken können, zahlt hie Polizei bis zu 2000 Dollar.< Ich gehe ins nächste Teehaus, wo das Plakat ebenfalls hängt, und denke über die Sache nach. Bewiesen ist: Wang Kwei-fan war keine einfache Bürgerin, denn es verschwinden täglich Leute in Tschungking, entweder sie wandern ab, oder sie sterben unentdeckt in den Ruinen, liegen morgens, nach dem letzten Nachtschlaf, auf einem Bürgersteig, unidentifizierbar, ohne daß sie die Polizei interessieren. Wenn Wang Kwei-fan beseitigt wurde, was der Fall zu sein scheint, dann hat der alte Chen Lin meine Nachricht 49
weitergegeben. Wird er sich melden? Ich brauche nicht lange zu warten. Einige Tage, nachdem ich das Plakat entdeckt habe, läutet am Abend mein Telefon. Es ist Chen Lin. Er sagt den vereinbarten Spruch von dem Tang-Pferd auf, und ich verspreche, am nächsten Nachmittag zu kommen. Zunächst erlebe ich eine Überraschung. Chen Lin empfängt mich würdevoll und geleitet mich in einen Raum hinter seiner Antiquitä tenhandlung. Hier ist der Tisch gedeckt, für drei Personen. Dritter Gast ist eine junge Frau, die mich schüchtern begrüßt, seine Toch ter, wie Chen Lin erklärt. Sie ist sicher nicht mehr so jung, wie sie aussieht, ich schätze sie auf dreißig, als ich sie genauer betrachte, und in der Tat habe ich mich kaum verschätzt, wie ich später er fahre. Sie ist Witwe, hat einen Sohn und führt dem Vater den Haus halt. Ich bin ohne Benny Tso gekommen, auch ohne andere Sicher heitsvorkehrungen, meine Pistole habe ich zwar umgeschnallt, aber ich weiß nicht einmal, ob sie durchgeladen ist. Allerdings merke ich bald, daß mir hier keinerlei Gefahr droht. Der Gastgeber entschul digt sich, daß die Mahlzeit nicht so üppig sein wird, wie es in Szet schuan üblich ist, wenn man liebe Gäste bewirtet, aber es sei Krieg, vieles sei nur auf dem schwarzen Markt zu bekommen, und man könne lediglich hoffen, daß die Zeiten sich bessern. Eine Weile sagen wir uns gegenseitig höfliche Sprüche auf, denn ich muß natürlich entgegnen, daß es mir eine Ehre ist, in seinem Haus auch nur Tee zu trinken, worauf er wiederum anfängt, von den Alliierten zu reden, die so vieles für das geschundene China tun. Bis dann die Gemüse auf dem Tisch erscheinen, Wasserkasta nien und Bambus, es kommen die Morcheln, die tausendjährigem Eier mit ihrem perversen Geschmack nach Salmiak, zartes Hühner fleisch mit Erdnüssen, panierte Schweinsstreifchen, Flußfisch in süßsaurer Tunke, dazu ein halbes Dutzend Soßen, eine Suppe mit 50
Reisnudeln und Haifischflossen, die seit Jahren im Binnenland kaum noch zu bekommen sind, kandierte Früchte, und immer wie der dazwischen winzige Schalen mit Shaoshing-Wein, angewärmt, den Geschmack der Speisen nicht beeinträchtigend, zu denen man ihn trinkt. Ich lasse mich nicht bitten und esse mit Appetit. Der Gastgeber bringt mir die besten Happen von den Serviertellern, und die Toch ter achtet darauf, daß ich stets Wein habe. Wir trinken uns mehr mals zu. Das ganze Zeremoniell des Essens läuft unter Trinksprü chen auf den Frieden, die Alliierten, auf Nächte ohne Bomben — es dauert lange, bis Chen Lin endlich mit dem herausrückt, was er sa gen will. »Ich habe mein nicht sehr gutes Gedächtnis lange angestrengt, bis mir eingefallen ist, woher ich Ihren Namen kenne, Mister Robbins«, sagt er. »Ein wenig hat mir Ihr Gesicht geholfen, darauf zu kommen. Jetzt weiß ich es, und ich entschuldige mich, daß ich Sie nicht bereits bei Ihrem ersten Besuch erkannt habe. Sie sind der Sohn von Mister Gerald Robbins, ich bin sicher ...« Ich bejahe es. Er hat meinen Vater gekannt. Oder er gibt es vor. Ich erkläre ihm, daß aus meiner Kinderzeit Erinnerungen an Tschungking in mir sind, daß ich mit Eifer weiter die chinesische Sprache gelernt habe, nachdem ich in den Staaten studierte. Chen Lin schüttelt bekümmert den Kopf, als er vom Schicksal meiner El tern erfährt. »Zwei sehr angenehme Kunden«, sagt er bedauernd. »Ihr Herr Vater kam oft aus Tschengtu und kaufte manches bei mir. Er war kein ausgesprochener Sammler, aber er hatte Geschmack. Er ver mied es stets, Sachen zu erwerben, die für China von kulturhistori scher Bedeutung hätten sein können, er wollte sie nicht besitzen, sie gehörten seiner Meinung nach in chinesische Museen. Einmal ver 51
kaufte ich ihm eine Deckelvase im Stil der Ming-Zeit. Wenig später wollte er sie mir zurückgeben, erst als ich ihm mehrmals ehrenwört lich versicherte, es handle sich um eine Nachahmung, behielt er sie. Ein redlicher Mann ...« Er könnte meinen Vater tatsächlich gekannt haben, ich erinnere mich an die Ming-Vase. Sie steht — zusammen mit dem übrigen Eigentum meiner Eltern — in einem Haus in Ore gon, in dem ich ganze zwei Wochen gewohnt habe. Eine weitläufige Verwandte meiner Mutter beaufsichtigt es, sie lebt nebenan. Wer weiß, wann ich es einmal wiedersehe. Alles, was der Alte über meinen Vater sagt, scheint mir zu stimmen. Mit keinem Wort erwähnt der Alte die Nachricht, die ich ihm überbracht habe, er > spricht viel und sagt wenig<, wie die Chinesen es zu nennen pflegen, wenn man im Grunde das Ziel verfolgt, den anderen auszuhorchen, ohne sich selbst festzulegen. Aber die Absicht ist erkennbar, er will herausfinden, wo ich stehe und ob ich für ihn und die kommunistische Organisation überhaupt nützlich sein kann, ob ich so verläßlich bin, wie es den Anschein erweckt hat. Ich schäle gerade eine der kleinen Mandarinen-Orangen, als ein etwa zehnjähriger Knirps in den Raum kommt und der Tochter Chen Lins etwas zuflüstert. Sie sieht ihren Vater an, und nachdem der Junge wieder hinausgehuscht ist, durch den Vorhang aus geknoteten Bambusstäbchen, der vor der Tür zum Hof hängt, sagt der Alte zu mir: »Ich denke, meine Tochter hat Ihnen etwas mitzuteilen.« Die junge Frau spricht zum ersten Mal. Ich erkenne, daß ich es nicht mit einer geduckten Hausfrau zu tun habe, sondern mit jeman dem, der genau weiß, wovon er redet. »Ich möchte Sie fragen, wie Sie zu Major Miles stehen, Mister Robbins.« Dazu gäbe es viel zu bemerken. Etwa die Tatsache, daß Miles, 52
einst vom OSS hierher gesandt, sich von Tag zu Tag enger mit Tai Li verbunden hat, heute zu einer Art ausführendem Organ des chi nesischen Geheimdienstes geworden ist, daß er Tai Lis Agenten trainiert und daß er in der Rolle des Vizepräsidenten der SACO in Tschungking eher die Politik des Generalissimo vertritt als die der Vereinigten Staaten. Man hat mich in Kalkutta über diese verworre nen Verhältnisse im OSS-Büro in Tschungking informiert, und nicht zufällig hat man mich hier Miles nur bedingt unterstellt, ich arbeite im Auftrage der Zentrale und bin Miles, dem ehemaligen Marineoffizier, den seine Vertrauten aus irgendeinem Grunde >Mary< nennen, obwohl er nicht homosexuell ist, weder rechenschaftspflichtig, noch kontrolliert er meine Post. »Nun ja«, antworte ich deshalb vorsichtig, »Mister Miles hat mir keine Befehle zu geben, wenn Sie das meinen. Und mit den Oblie genheiten von Mister Miles und der SACO habe wiederum ich nichts zu tun.« »Aber er kontrolliert Sie?« »Nein«, sage ich. »Das steht ihm nicht zu.« Die Frau sagt: »Mister Miles tut manches, das ihm nicht zusteht. Es wird für Sie von Interesse sein, daß er Sie beobachten läßt ...« Als ich ehrlich verblüfft schweige, fährt sie fort: »Hinter Ihnen kam ein junger Mann in die Djaling Lu. Er heißt Stuart, und gegenwärtig trinkt er Chrysanthemen-Tee in einem Teehaus, von dem man unser Geschäft beobachten kann.« Stuart. Es gibt ihn bei Miles. Ein Bürschchen, das er für Aufträge aller Art verwendet. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen. »Er ist mir gefolgt?« »So ist es. Sie wußten nichts davon?« »Nein.« Da sagt der Alte: »Dann wird es gut sein, wenn Sie die außeror 53
dentliche Wißbegier des Mister Miles in Zukunft berücksichtigen. Ks wäre bedauerlich, wenn Sie auf seine Intervention hin Ihren Aufenthalt bei uns beenden müßten. Sie sind ein so angenehmer Gast und dazu der Sohn eines alten Bekannten, den wir in guter Erinnerung haben ...« Nach einigem Überlegen sage ich: »Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen, aber vielleicht ist es gut, wenn ich es doch tue. Unter meinen Landsleuten gibt es nicht wenige, die das Engagement des Mister Miles sehr kritisch beurteilen. Wir Amerikaner sind offene Menschen, an Demokratie gewöhnt, an unterschiedliche Meinungen und Weltanschauungen. Es fällt uns schwer, beispielsweise politische Probleme so zu lösen, wie Mister Tai Li das tut. Wir lehnen es ab, politische Gegner zu quälen. Das ist die Praxis der Hitlerleute, und wir verabscheuen sie, deshalb erscheint uns die allzu enge Partnerschaft von Mister Miles und Mister Tai Li im höchsten Maße unangebracht ...« Der Alte lächelt. »Gleiches tut sich gern zusammen!« »Nun ja. Das mag wohl sein. Aber Tai Li ist nicht China, und Miles nicht Amerika.« »Der
Generalissimo
ist
China«,
macht
der
Alte
mich
aufmerksam, ich spüre, daß er auf eine Entgegnung wartet, und ich gebe sie ihm gezielt, indem ich leicht den Kopf schüttle. »China endet nicht dort, wo gegenwärtig die Truppen des Generalissimo stehen. Alles, was Japan an Territorium okkupiert hat, ist auch China. Und selbst die Gebiete um Jenan gehören dazu. Ich persönlich glaube, daß beispielsweise gerade über diese Gebiete hier viel Unwahres gesagt wird. Die Leute dort scheinen mir ehrlich und vaterlandstreu zu sein. Ich verstehe zwar von ihrer Weltanschauung so gut wie nichts, aber ich müßte blind sein, wenn ich nicht sähe, daß sie viele Ideen über die Zukunft Chinas haben 54
...« »Sie kennen diese Ideen?« »Beim OSS lernt man vieles«, antworte ich. »Außerdem habe ich die Gelegenheit genutzt, mit kommunistischen Gefangenen zu sprechen. Wie Sie sehen, gibt es beim OSS nicht nur Leute wie Miles.« Er nickt. »Der Nachteil einer Demokratie ist immer, daß die Kräfte sich täglich gegenüberstehen und daß die eine Kraft zuweilen die andere aufhebt. Doch auf die Dauer kann sich wohl nur das durchsetzen, was gesund und richtig ist. Allerdings muß es dabei in Kauf nehmen, daß es gelegentlich mit unlauteren Mitteln bekämpft wird.« Jetzt lächle ich. »Das sind wir gewöhnt. Auch General Stilwell wird, wenn ich recht informiert bin, von Mister Miles und Mister Tai Li bekämpft. Weil er das militärpolitische Konzept des Generalissimo kritisch sieht. Aber alle von uns wissen, daß General Stilwell nicht nur ein guter Soldat ist, sondern auch ein Freund Chinas. So wird sich auf lange Sicht das Richtige durchsetzen, Lao Chen. Bei uns, wie auch bei Ihnen hier.« »Das Richtige«, sagt er bedächtig, »sitzt im >Weißen Haus< oder in der >Höhle<.« »Es sitzt vielleicht auch in Jenan«, gebe ich ihm zu bedenken. Er sieht mich an, schenkt Wein nach. »Wie
kommen Sie als bürgerlicher Mensch zu dieser
Auffassung? Sie wird doch wohl in den Vereinigten Staaten nicht gelehrt, oder?« »Sie vergessen, daß ich in Ihrem Lande aufgewachsen bin, Lao Chen. Die ersten Eindrücke im Leben, so heißt es, vergißt man nie. Und zu meinen ersten Eindrücken gehört nun mal das kranke, ge prügelte, von fremden und eigenen Gaunern bis aufs Blut ausge preßte China. Wie sollte ich da nicht gegen die, Ungerechtigkeit 55
sein?« »Wie wahr«, sagt er. Und dann: »Hüten Sie sich vor Mister Mi les!« Das Essen ist vorüber. Nach chinesischer Sitte ist es nicht üb lich, sich nach dem Tee noch lange aufzuhalten. Während die junge Frau sich entschuldigt und in den Laden geht, hebt der Gastgeber mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln an, die das Ende eines Besu ches begleiten. Er versichert mir, daß er glücklich ist, mich bei sich gesehen zu haben, und entschuldigt sich für das > karge < Mahl, er deutet an, daß er mich gern wiedersehen würde und daß ich ihn im mer aufsuchen soll, wenn es mir genehm ist. Amerika, das große, in der Demokratie lebende, und China, für das es eine wahre Demokratie geben werde, eines nicht allzu fernen Tages, seien Partner der Zukunft ... Er hoffe, sie noch zu erleben ... Im Laden drückt mir die junge Frau ein Paket in die Hand. Schwer. Gut verschnürt. Der Alte schmunzelt. »Das zweite Tang-Pferd! Es wird von Vorteil sein, wenn Mister Stuart erfährt, weshalb Sie bei mir gewesen sind ...« Er verbeugt sich, wünscht mir >zehntausendfaches Glück< und öffnet mir die Tür. Die junge Frau ist bereits verschwunden. Ich gehe sofort ins OSS-Büro zurück, hier suche ich das Zimmer auf, das mir zur Verfügung steht, dann rufe ich die Kollegen herbei, die gerade anwesend sind, und als sie sich alle versammelt haben, packe ich freudestrahlend mein Tang-Pferd aus. Am Wochenende kommt der Kurier aus Kalkutta. Er hat von Holly die Anweisung, mir die Post persönlich zu übergeben, und genau das tut er. Es zeigt sich, daß unsere Verbindung hervorragend klappt. Ob Miles das recht ist oder nicht, wir arbeiten an ihm vorbei. Obwohl ich es vernünftiger finden würde, wenn ein solcher Mann von der Zentrale abgelöst wird. Aber dafür ist das Verhältnis USA-Generalissimo wohl zu kompliziert... 56
Weisung an Violet 30.9.1943 (Kopie) Beiliegend eine politische Rede, die der Chef der Kommunisten, Mao Tse-tung, im Mai 1942 auf einem Forum kommunistischer Künstler in Jenan gehalten hat. Gedächtnisprotokoll. Unter Umstän den lückenhaft. Ich bitte um Bewertung aus Deiner Sicht unter Her ausarbeitung der strukturbestimmenden Elemente kommunistischer Politik. Anlage/Material
Holly
An Holly 13.10.1943 Kommentar zu Jenan-Material 1. Sun Yat-sen, der bekanntlich die Kommunisten in die Kuomintang integrierte und persönlich die russische Sowjetordnung außerordentlich schätzte, hatte fast alle linksstehenden Künstler in die Bestrebungen der Kuomintang einbeziehen können. Sie stellten die Mehrheit aller chinesischen Künstler überhaupt dar, und die linke Kunst nahm damals einen ungeheuren Aufschwung. Nach dem Tod Sun Yat-sens und der putschartigen Machtergrei 57
fung
durch
Tschiang
Kai-shek
vollzog
sich
hier
eine
einschneidende Veränderung. Die Ausschaltung der Kommunisten von der Mitarbeit in der Kuomintang führte (besonders am Konzentrationsort Shanghai, aber auch anderswo) zu einer umfassenden Abkehr der Künstler von Kuomintang und TschiangKai-shek und zu ihrer stärkeren Hinwendung zu den nunmehr verfolgten Kommunisten, die sich als Vertreter von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt präsentierten. Das hatte zur Folge, daß fast alle Künstler von Rang und Namen sich nach Errichtung der kommunistischen Basis in Jenan nach und nach dorthin begaben, um sich in den Dienst der Kommunisten zu stellen, in denen sie die echten aufstrebenden Kräfte Chinas sahen. Keinesfalls handelte es sich bei ihnen dabei durchweg um Kom munisten
oder
gar
Proletarier.
Ihre
Affinität
mit
dem
Kommunismus Mao Tse-tungs war und ist meines Erachtens vorwiegend oberflächlich emotional. 2. Mao Tse-tungs radikal-kommunistische Politik in Jenan könnte deshalb unter den gegebenen Umständen bei den dortigen Künstlern durchaus Stoff zu Meinungsverschiedenheiten liefern, zumal es sich bei ihnen sozusagen um die >geistige Elite< Chinas handelt. (Als solche empfinden sie sich selbst.) Mao Tse-tung hingegen und seine nächsten Mitarbeiter sind nach meinen bisherigen Informationen eher lückenhaft oder gar nicht gebildete Bauern und Soldaten, revolutionäre
Naturtalente<,
ohne
spezifisches Wissen, das über die Kriegskunst hinausgeht. Das finde ich durch Substanz und Zielstellung der Mao-Rede bestätigt. Er spricht darin von einem >Auseinanderklaffen der Ansichten unter den Intellektuellen<, sieht sogar unter ihnen >Opportunisten, Agenten und Spitzel<. Dies sind Anzeichen dafür, daß ein politischer Pragmatiker eine 58
unvermeidliche intellektuelle Diskussion über Wege und Ziele in der Kunst von vornherein in seinem Sinne lenken möchte. Mao Tse-tung definiert mehrere >Arten von Kunst<, eine für die »herrschende Klasse<, eine für die >Imperialisten<, eine für die >Geheimpolizei der Kuomintang< (!) und schließlich eine für die sogenannten >Massen<, womit er zweifellos Bauern, Soldaten und Arbeiter meint, und zwar in genau dieser Reihenfolge. Eine solche Einteilung zeugt von naiv-mechanistischer Denk weise: Kunst (wenn es sich tatsächlich um solche handelt und nicht um Propaganda) läßt sich nicht schematisch in >Anwendungsge biete < aufteilen, und sie läßt sich nicht — je nach ihrer Verwendbarkeit im tagespolitischen Geschehen — als >brauchbar<, >begrenzt brauchbare oder >unbrauchbar< kategorisieren. Der Autor der Jenaner Rede scheint den Wesensgehalt des Phä nomens Kunst nicht begriffen zu haben, ist aber offenbar entschlos sen, sich der Kunst als Hilfsmittel für seine politischen Absichten zu bedienen. 3. Der Redner spricht an einer Stelle vom bebenden Marxismus und Leninismus< im Gegensatz zu dem der >toten Handbücher“. Ich gebe zu bedenken, daß von wesentlichen marxistischen Werken, auch von denen Lenins, bisher so gut wie nichts ins Chinesische übersetzt worden ist, soweit ich informiert bin. Mao, der unseres Wissens nicht über Fremdsprachenkenntnisse verfügt, kann also die >toten Handbücher“ gar nicht kennen. Er kann über sie auch nicht in Moskau belehrt worden sein, weil er bis heute China nie verlassen hat. Deshalb ist sein Ausspruch signifikant, er ist allerdings zu vage, um präzise Schlüsse zuzulassen. 4. Bei dem, was nach Meinung des Redners den > Massen < an Kunst geboten werden soll, findet sich die Ausklammerung feudali stischen und kapitalistischen Kunst. Befürwortet wird das, was Ar 59
beitern und Bauern hilft <. Selbst wenn man hierin ein revolutionäres Postulat sehen will, so wirft sich immerhin die Frage auf, ob die chinesischen Kommunisten beabsichtigen, auf die ganze Summe der in mehreren tausend Jahren gewachsenen, zutiefst humanistischen Kunst Chinas zu verzichten, nur weil es sich dabei nicht um plakativ-revoltierende Schöpfungen handelt. Damit täte sich ein Gegensatz zu den Richtlinien in Sowjetrußland auf. Ich verweise auf die Literatur, Malerei, Musik usw. in Sowjetrußland, die man dort als Fortsetzung einer alles in allem bewahrenswerten nationalen Kulturtradition sieht, wenn ich richtig informiert bin. > Volkstümliche Kunst< soll nach Mao Tse-tung > stilistisch und formal weniger vollkommen sein als Kunst, die zur Hebung des geistigen Niveaus dient, dann verstehen die Massen sie besser ... < — Diese Forderung reduziert, wie mir scheint, Kunst auf einen > Gebrauchswert, wie ihn Radio-Features oder Zeitungsartikel haben. Das Zitat > Nicht Blumen in einen Prunkteppich weben, sondern Kohlen spenden für Menschen, die im Winter frieren < halte ich zwar für geschickt gewählt, doch eben für demagogisch, weil sich diese Alternative überhaupt nicht stellt. 5. Der Redner erweckt den Anschein, als wolle er mit einer pro grammatischen Erklärung sozusagen eine neue Kunstepoche eröff nen. Verfolgt man seinen in diesem Zusammenhang geäußerten Ge danken von der »Einheitsfront, so dürfte es sich bei dem, was er als >Kunst< versteht, eher um verfeinerte Produkte kommunistischer Propaganda handeln. Daß er im gleichen Atemzug > Kunst im Propaganda- und Plakatstil< ablehnt, halte ich für eine Methode, seriöse Künstler, die guten Willens nach Jenan gekommen sind, nicht völlig zu verschrecken. Interessant ist folgende Erkenntnis, die sich mir aufdrängt: Wenn es in einigen Jahren neue Kunstwerke geben sollte, so kann man die etwas eigenwilligeren unter ihnen aus 60
der Interpretation von Maos Rede heraus glatt ablehnen. Man kann aber ebensogut auch die primitiven, im subjektiv guten Glauben >für die Massen ( geschaffenen, also niveaulosen, aus der gleichen Rede heraus verdammen. Insgesamt erscheint mir deshalb alles, was hier programmatisch gesagt wird, im höchsten Maße ambivalent und willkürlich interpretierbar. 6. Verworren und abwegig erscheinen mir die Gedanken, die Mao Tse-tung über die >menschliche Natur< äußert. Ich habe den Verdacht,
daß
er
hier
zusammengesuchte,
im
Grunde
unverdaute Fremdweisheiten zu einem Konglomerat vermischt, das er als kommunistisch
erklärt.
Er sieht eine
>Natur der
Proletarier“, eine der > Kapitalisten < usw. Und er läßt erkennen, daß nach seiner Meinung die Kunst >die Massen proletarisieren oder zu Kapitalisten machen < kann. Wenn er diesen Unsinn tatsächlich in praktische politische Maßnahmen umsetzt, wird er im wachsenden Maße auf den Widerspruch vieler Künstler und gebildeter Leute überhaupt stoßen. 7. Ich mache — um meine These von der mangelhaften Bildung des Redners und von seinem vermutlich grenzenlosen Mißtrauen gegenüber allem, was mit Intelligenz und Kunst zu tun hat, zu untermauern — darauf aufmerksam, daß er zwar hin und wieder Namen wie Gorki oder Lu Hsün in den Text einstreut, sie also zu respektieren vorgibt, ohne jedoch ihre Gedanken zum Thema Kunst zu akzeptieren (oder überhaupt zu kennen?). Immerhin wird in der ganzen Rede kein Wort über so große humanistische Dichter Chinas wie etwa Li Po oder Tu Fu verloren. Hingegen nennt er Tolstoi (welchen?) und Konfuzius (man bedenke die Paarung) als >große Menschheitsführer. Von der tiefen Geschichtsträchtigkeit der
chinesischen
Ausprägungen
Oper
in
ihren
beispielsweise, 61
von
verschiedenen ihrer
lokalen
ungeheuren
Anziehungskraft auf > Massen < (hier wäre der Ausdruck einmal angebracht!) und von ihrer großen künstlerischen Meisterschaft wird überhaupt nicht gesprochen, geschweige denn von der einzigartigen Malerei. Meine Vermutung, daß es sich bei dem Redner um einen Eklektiker handelt, der — im Besitz politischer Macht — durchaus entschlossen ist, die Kunst unter Berufung auf den Marxismus auf eine Abart propagandistischer Tätigkeit zu reduzieren, ist außerordentlich stark. Ich sehe mich nicht zuletzt vom Redner selbst darin bestätigt, als er gegen Ende von einem > ideologischen Kampf< unter den Künstlern
in
Jenan
spricht.
Wie
es
scheint,
hat
die
Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn seiner Thesen dort bereits begonnen. Violet
15.10.1943 Wir haben einen unfreundlichen Herbst hier. Es begann bereits im August, mit — zu dieser Zeit ungewöhnlichen — Kälte, mit Un wettern, eisigem Regen und Überschwemmungen. Augenblicklich liegt Tschungking im tiefen Nebel. Der schützt uns vor Luftangriffen, aber er erschwert das Leben auch beträchtlich. Tagelang verkehrt die Fähre nicht. Auf allen Felsvorsprüngen über dem Fluß sitzen Leute, die Trommeln schlagen, damit die Flußschiffer sich wenigstens einigermaßen orientieren können. Morgens, wenn ich zur OSS-Station fahre, sehe ich Leichen von Kindern am Straßenrand liegen. Ertrunkene, die der Fluß herangespült hat, vielleicht auch Obdachlose, kleine Bettler, die von 62
der Kälte der Nacht getötet wurden, während sie irgendwo auf dem Fußsteig schliefen. Vorerst kümmert sich niemand um sie, später werden Fahrzeuge des Hygienedienstes sie wegbringen. — Am Abend diniere ich mit Wen Tsiao-tji im >Chiadine<, dem feinsten (und teuersten) Hotel von Tschungking. Man kann hier — gegen US-Dollars — tatsächlich alles haben, wonach es einen gelüstet.
Wen
Tsiao-tji
hat
meine
Einladung
hocherfreut
angenommen. Seine Frau ist sichtlich unsicher in dieser Umgebung, hier verkehren nur allerhöchste alliierte Offiziere, chinesische Schieber und ausländische Diplomaten. Wir wählen französische Gerichte aus, auch einen trinkbaren französischen Wein, und danach gibt es Sekt, Kaffee (aus US-Lieferungen), sowie geschmuggelte Zigarren, die allerdings auf Wen Tsiao-tji kaum Eindruck machen. Eine Kapelle spielt, es wird getanzt, und ich versuche einen Foxtrott mit Mrs. Wen. Sie ist gelehrig, nach ein paar Schritten bereits hat sie den Rhythmus erfaßt und tanzt mit großer Freude. »Was ich Sie schon lange fragen wollte«, beginnt Wen Tsiao-tji, nachdem wir wieder am Tisch sitzen, »wie kommen Sie mit den Studien bei den Häftlingen weiter? Lohnt es sich für Sie?« Ich habe in der letzten Zeit wieder viele Gefangene befragt, habe ihre Namen notiert, hin und wieder hat mir einer ein Lebenszeichen für seine Angehörigen anvertraut, so daß ich den Eindruck gewinne, es hat sich in den Gefängnissen auf unerforschli che Weise herumgesprochen, daß ich keine hinterhältigen Ziele mit meinen Befragungen verfolge. Der alte Chen Lin nimmt Nachrichten dieser Art mit der ihm eigenen Gelassenheit entgegen. Er bestätigt mir nie, daß er sie weitergeleitet hat, aber ich kann es spüren. »Ja, es lohnt sich«, sage ich jetzt. »Ich lerne menschliche Schick sale kennen, in denen sich im gewissen Sinne die Tragödie Chinas 63
widerspiegelt.« Der Untersuchungsrichter nippt an seinem Sekt und lächelt zu frieden. »Man behandelt diese Leute nicht immer gut. Neulich wurde ein Mann gebracht, dem hatte man ein Auge ausgeschlagen.« Er nickt sorgenvoll. »Ich kenne den Mann. Tragischer Fall. Er hat einem kommunisti schen Kurier Unterkunft gewährt. Aber er selbst ist gar kein Kom munist! Ich habe ihn nach Karl Marx gefragt, er war hilflos. Er han delte mit Töpfen, bevor man ihn einsperrte. Und sein Auge wurde ihm von einem kantonesischen Wächter ausgeschlagen, dessen Sprache er nicht verstand. Um sich verständlich zu machen, tat er das, was man seit jeher in China in solchen Fällen tut, er zog mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf der linken geöffneten Handfläche die Schriftzeichen nach, damit der Wächter ihn verstehen sollte. Der aber gab an, der Mann habe zum Schlag gegen ihn ausgeholt ...« »Der betreffende Wächter kann nicht lesen und schreiben«, be merkt Wen Tsiao-tji gelassen. »Wurde er bestraft?« Der Untersuchungsrichter schüttelt den Kopf. »Lieber Mister Robbins, dieses Personal untersteht Tai Li persönlich, nicht mir. Es sind ausgesuchte Leute. Unwissendes Bauernpack, dem man erzählt hat, die Kommunisten seien neunschwänzige Teufel. Was sie tun, ist widerlich, aber sie tun es eben.« »Und niemand kann sie disziplinieren?« »Warum? Die Kommunisten müssen auf jede erdenkliche Weise dezimiert werden, das ist eine Existenzfrage für uns alle. Natürlich, dabei fällt schmutzige Arbeit an, und mit dem, der sie verrichtet, will man nichts zu tun haben. Trotzdem braucht man ihn. Eine Bestrafung würde ihn und seine Kollegen nur verwirren. Sehen Sie, 64
die Chinesen in ihrer Masse, die wenigen gebildeten Leute ausgenommen, sind nicht Menschen, die mit ihrem Verstand reagieren, sie reagieren mit ihren Sinnesorganen. In gewisser Hinsicht kann man sie dressieren. Das ist die schnellste und bequemste Art, sie zu nutzen. Ihnen Verstand und Bildung anzuerziehen, ist aufwendig und zeitraubend. Wir haben weder die Mittel
noch
die
Zeit,
ein allgemeines
Bildungsprogramm
durchzuführen, damit beschränken wir uns auf eine unbedingt notwendige Elite. Für den Rest genügt die Dressur ...« Er hebt beide Hände, so als bedaure er diesen Zustand, aber sein Gesicht bleibt lächelnd dabei. Ich frage ihn: »Glauben Sie, die Kommunisten verfahren nach demselben Prinzip?« Er überlegt. Dann: »Die Kommunisten haben gut geschulte Funktionäre. Sie infizieren die Massen mit einem blinden Fanatismus, der sie gegenüber sachlichen Argumenten unzugänglich macht und der es ihnen leicht fallen läßt, zu leiden, Mister Robbins. Ich will Ihnen meine wahre Meinung sagen: Die Kommunisten werden in ein paar Jahren, wenn wir sie nicht durch ein Wunder entscheidend schlagen oder wenn wir nicht die taktische Klugheit aufbringen, uns mit ihnen zu unserem Vorteil zu arrangieren, in der Lage sein, dieses Land zu regieren. Ohne uns. Den Zeitpunkt, zu dem wir noch fähig gewesen wären, sie zu absorbieren, sich totlaufen zu lassen, oder durch eine entsprechende Innenpolitik ihre Losungen zu entwerten, den haben wir verpaßt. Der Generalissimo hat sich eben für ihre physische Ausrottung entschieden. Ich halte das für einen Fehler. Mir scheint, er wäre heute noch zu einem Teil gutzumachen. In einigen Jahren wird das nicht mehr möglich sein. Dann werden die Kommunisten uns auslöschen. Das ist eine traurige Erkenntnis, aber ich fürchte, sie wird sich als richtig erweisen.« Seine Frau sitzt schweigend neben ihm, mit gesenktem Kopf. Ich beschließe, ihn 65
weiter zu testen, und sage: »Eigentlich müßten Sie bei dieser Perspektive recht unfroh sein ...« Er lächelt. »Mache ich auf Sie einen frohen Eindruck?« Als ich weiter frage, schwindet das Lächeln. Er wird nachdenklich. Ich will wissen: »Haben Sie denn niemals den Gedanken
gehabt,
ein
persönliches
Arrangement
mit
den
Kommunisten in Erwägung zu ziehen, wenn Sie schon so denken?« Er läßt sich Zeit. Trinkt einen Schluck Sekt, blickt ins Restaurant, schließlich stellt er mir die Gegenfrage: »Was für eine Antwort erwarten Sie von mir, Mister Robbins? Sie sind ein Mann des Geheimdienstes, glauben Sie, ich würde Ihnen tatsächlich offenbaren, was ich erwäge und was nicht?« Jetzt muß ich lächeln, um ihn nicht mißtrauisch zu machen. Na türlich, er wird seine geheimen Wünsche für sich behalten. Aber ich erkenne allein daraus, daß er meine Frage nicht mit lärmendem Hohn verneint hat, wie brüchig es im inneren Gefüge des Staatswe sens der Kuomintang aussieht. Man fühlt sich nicht sicher, man fürchtet sich vor der Zukunft, zögert, überlegt, nur eine Entschei dung trifft man nicht. — »Würden Sie«, frage ich ihn vorsichtig, »mit einem Kommuni sten — vorausgesetzt, er wäre ein freier Mann und Sie hätten nicht die unangenehme Pflicht, ihn zu verhören — über die politische Entwicklung Chinas sachlich sprechen können?« Er antwortet, ohne zu zögern: »Ja, das könnte ich, Mister Robbins. Aber — fragen Sie irgendeinen in Freiheit befindlichen Kommunisten, ob er überhaupt etwas mit mir zu besprechen hätte. Seine Antwort würde Ihnen das Ausmaß des Dilemmas deutlich machen, in dem wir stecken.« »Leider kenne ich keinen«, sage ich. Er überhört es. Sagt: »Neh men wir einmal das Ergebnis des Krieges vorweg, ich zweifle nicht daran, daß Japan geschlagen wird. Von den Alliierten. Danach wird 66
China an der Schwelle der gewichtigsten Entscheidung seiner langen Geschichte stehen. Es wird entweder in unseren Händen bleiben, oder es wird den Kommunisten zufallen. Entweder — oder. Jede Koalition, zu der es möglicherweise kommt, kann lediglich Übergangscharakter tragen. Hier stehen sich zwei politische Kräfte gegenüber, für die es kein endgültiges Miteinander mehr gibt. Zwischen ihnen fließt ein Strom Blut. Seit dem Tode Sun Yat-sens ist das so. Die eine Kraft wird die andere vernichten, und dann wird sie China regieren. Wir können nur hoffen, daß wir das sein werden. Es wird davon abhängen, ob die Vereinigten Staaten in einigen Jahren bereit sein werden, alles, absolut alles für uns einzusetzen.« Der Abend endet mit einer Tasse Mokka, die man für einen hor renden Preis erhält. Wen Tsiao-tji schluckt das kohlschwarze Ge bräu tapfer herunter, während seine Frau Unmengen von Zucker hineinschüttet.
Beide
keine
Kaffeeliebhaber,
wie
mein
>Leibwächter< Benny Tso einer ist. Er, Benny, sitzt draußen im Wagen, der uns nach Hause fährt. Während er sich dann auf seinen Lauschposten an der hinteren Grundstücksgrenze verfügt, sitze ich noch lange am Schreibtisch. Eine Aufstellung aller von mir interviewten kommunistischen Häft linge mit genauer Charakterisierung jedes einzelnen ist für Holly fällig. Außerdem habe ich drei Propagandabroschüren aus Jenan be kommen, d.h. ich habe sie mir aus der OSS-Station mitgenommen, wo sie ohnehin keiner liest. Sie wollen sorgfältig durchgearbeitet sein. So sitze ich beim Licht der großväterlich anmutenden Schreib tischlampe mit ihrem bronzenen Schmuckfuß und dem grünen Por zellanschirm, bis mir die Augen zufallen. Ich raffe mich auf, um zu Bett zu gehen, und merke, wie draußen der Morgen heraufzieht. In 67
der Küche höre ich den Koch rumoren, vorsichtshalber sage ich ihm, daß man mich schlafen lassen soll. Er nickt grinsend. Nimmt an, ich sei bei einer Frau gewesen, man kann es ihm ansehen. Eigentlich wäre es an der Zeit, nach der bösen Erfahrung mit der königlich-britischen Tripperdame Mary wieder einmal an etwas Sexualleben zu denken. Holly hat gesagt, ich soll vorläufig keine Dauerliaison eingehen, bestenfalls eine Dame hin und wieder mit meinem Besuch beehren, jedesmal möglichst eine andere. — Gegen Mittag glaube ich an hellseherische Fähigkeiten, die in mir schlummern. Ich werde geweckt, muß ins Büro eilen, um beim Kurier aus Kalkutta den Empfang eines Schreibens von Holly zu quittieren. Und Hollys neue Weisung schließt auf seltsame Art an die letzten Gedanken an, die ich vor dem Einschlafen hatte ...
An Violet 16.10.1943 Persönlichen Kontakt herstellen zu einer Chinesin namens Kung Yen-chi (auch bekannt
unter
der
Bezeichnung >Chi-Pao-
Lily<).Alter: 28. Beruf: Schauspielerin. Vermutlicher Aufenthalt: Nanping Lu 73. Nach Kontaktaufnahme vorsichtige Erkundung ihres ehemaligen Bekanntenkreises in Shanghai. Ziel: Identifizierung einer damaligen Freundin Kung Yen-chis, die wahlweise die Namen
>Lan
Ping<, >Li Yün-ho< oder >Lien Hua< verwendete. Ebenfalls Schauspielerin. Holly 68
6.12.1943 Der Wechsel im OSS-Büro deutete sich bereits im August an. Um diese Zeit etablierte sich in New Delhi das neue BritischAmerikanische Südostasien-Oberkommando mit Lord Mountbatten als Chef. Donovan (unser Chef) hat offenbar mit dem Lord eine Übereinkunft getroffen, was die ungehinderte Arbeit des OSS in ganz Asien betrifft. Das heißt, wir sind von nun an auch in China nicht mehr von der Zustimmung des Generalissimo abhängig, und damit verliert der Geheimdienstchef Tai Li die Möglichkeit, über seinen Vertrauten Miles, unseren hiesigen Stationschef, in unsere Angelegenheiten hineinzuregieren. Eine entscheidende Wendung, die sogleich Konsequenzen zeitigt: Am
2.
Dezember
erscheint
>Wild<
Bill
Donovan
in
Tschungking. Mit Tai Li trifft er sich noch am selben Tag. Donovan, der hemdsärmelige Anwaltstyp, der nicht viel von diplomatischen Verhandlungen hält, kommt sofort zur Sache. Er erklärt Tai Li, daß die Operationen des OSS von nun an >so laufen werden, wie wir das entscheiden, und zwar ohne jegliche Einmischung von chinesischer Seite<. Diese Einrichtung sei ein militärischer Geheimdienst und keine Sonntagsschule. Als Tai Li Einwände macht, fertigt Donovan ihn mit der knappen Bemerkung ab, dies hier sei ein Kriegsschauplatz, auf dem sich die Vereinigten Staaten so stark engagierten, daß sie das Recht haben, in, Geheimdienstangelegenheiten die oberste Kommandogewalt zu beanspruchen. Der zu dieser Unterredung hinzugezogene Dolmet scher verbreitet anschließend folgenden Satz Donovans: »Mister Tai Li, Sie werden von mir grundsätzlich darüber belehrt, daß ich meine Männer innerhalb Chinas überall dort einsetzen werde, wo 69
ich es für richtig halte, egal, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Ich weiß, daß Sie meine Leute durch Ihre Revolvermänner einfach ab knallen lassen können, aber ich warne Sie: das wird für Sie persön liche Folgen haben, denn wir beherrschen dieses Handwerk eben falls. Und es wird mich nicht von der Erfüllung meiner Aufgabe zu rückhalten!« Tai Li soll darauf fassungslos einen ganzen Tag in seinem Büro gesessen haben. Der nächste, den Donovan zitierte, war unser Chief of Station, Captain Milton Miles. Dem Vernehmen nach entschied sich Miles zur Flucht nach vorn. Er soll Donovan vorgeworfen haben, seine Entscheidung würde gegen die Vereinbarungen der SACO versto ßen,
jener
fragwürdigen
>Freundschaftsgesellschaft<.
Aber
Donovan biß nicht an, und als Miles unvorsichtigerweise andeutete, er würde lieber seinen Dienst quittieren, als >Freundschafts vereinbarungen< mit China durch eigenmächtiges Vorgehen zu verletzen, machte ihn Donovan barsch aufmerksam: »Sie brauchen Ihren Dienst nicht mehr zu quittieren, Captain, Sie sind bereits entlassen!« Das war am 5. Dezember. Miles darf weiterhin in der SACO arbeiten, ohne Einfluß auf die OSS-Station. An seine Stelle trat Colonel John Coughlin, mir noch aus Hawaii bekannt als >ArizonaJohnny<, ein baumlanger, wortkarger West-Point-Mann, der vom Team 101 in Burma kam, einer Sabotageeinheit, die hinter den japanischen Linien gearbeitet hat. Er laboriert noch an den Folgen einer Gelbsucht, was ihn allerdings nicht hindert, in der Station sozusagen mit dem harten Besen aufzuräumen: jeder, der Verbindungen zu Tai Li hat, fliegt. Ebenso die alten Vertrauten von Miles. Am 8. Dezember bin ich zu Coughlin geladen. Er winkt nur ab, 70
als ich Haltung annehme und deutet auf einen Sessel. Dann sagt er: »Honolulu war ruhiger, wie?« Ich zögere, muß lächeln. Coughlin lächelt ebenfalls. »Ich kenne Ihre Aufgabe, aber ich kenne sie auch nicht. Klar? Sie werden weiterhin von Holly persönlich geführt und halten sich an seine Weisungen. Gibt es Ärger, wenden Sie sich an mich. Auch klar? Gut.« Dann hält er mir die Hand hin, eine ungewöhnliche Geste. »Wir haben einen langen, harten Marsch vor uns, Robbins, aber wir wer den unser Bestes tun. Wünsche, die ich sofort erfüllen kann?« »Nein, Sir«, antworte ich. Da klopft er mir nur auf die Schulter und sagt, mich verabschie dend: »O.K., Sid, denken Sie immer daran: die Vereinigten Staaten mit allem, was sie zur Verfügung haben, stehen hinter Ihnen. Viel Glück!« Das Ende einer Ära? Tai Li — Miles, diese stinkende Bruder schaft gehört der Vergangenheit an, so viel ist sicher. Und es sieht so aus, als ziehe mit der Gewaltaktion Donovans eine neue Strategie bei uns ein. Wir werden in Zukunft — auch ohne den Generalissimo — entscheiden, was auf diesem Kriegsschauplatz getan wird. Im Büro verbreitet sich das Gerücht, die OSS-Station werde aus Tschungking verlegt, nach Kunming, einige hundert Meilen südwest-wärts. In der Tat: die wichtigsten Akten werden bereits in Metallcontainer verpackt.
24.12.1943 Tausend China-Dollar für eine Stunde Gesellschaft, das ist der Preis von Chi-Pao-Lily! Ich komme mir in der Nanping Lu 73 nicht vor wie in einem Hu 71
renhaus, und wahrscheinlich ist dieser profane Ausdruck auch dem nicht angemessen, was hier betrieben wird: Nanping Lu 73 ist eine Art Apartment House. Ein von den niedrigen chinesischen Bauten durch seine fünf Stockwerke abstechender Wohnblock, in dem vier undzwanzig
alleinstehende
junge
Damen
wohnen.
Etwas
amerikanisiert scheint mir dieses Verfahren, obwohl ich derlei Einrichtungen in den Staaten nie begegnet bin. Da ist im Erdgeschoß eine große Halle, in der man Limonade trinken kann. An der Tür wird man höflich von einem pockennarbigen Szetschuaner empfangen, der auch die Getränke ausgibt. Er mustert mich abschätzend, als ich eintrete, aber dann scheint er doch mit mir einverstanden zu sein, denn er fletscht grinsend die Zähne und macht mich auf eine
große Tafel aufmerksam, die alle
Bewohnerinnen des Hauses mit Foto, Namen, Altersangabe und Herkunftsprovinz ausweist. Da sind: Liu, Han, Sehen, Ming, Sao und Tse. Aus Kunming und Kanton, Sian und Harbin. Und da ist auch Chi-Pao-Lily, natürlich nicht so genannt, sondern Kung Yen chi: achtundzwanzig Jahre, aus Shanghai. Das Foto zeigt ein bemerkenswert hübsches Mädchen mit sehr langem Haar, feingeschnittenen Gesichtszügen und etwas ironisch blickenden Augen. Sie trägt eine dieser Chi Paos, die weiter südlich, in Kanton Cheongsam heißen, aus Brokat mit Päonienmuster. Sie scheint eine untadelige Figur zu besitzen, jedenfalls kann man das vermuten, denn sie hat das linke Bein so gestellt, daß der Schlitz der Chi Pao weit aufklafft und eine Ansicht freigibt, die durchaus erfreulich ist. Der Portier, in dem ich den Besitzer des Hauses vermute, tritt zu mir, mit dem Limonadenglas auf einem Lacktablett. Er fragt: »Sie finden Gefallen, Sir?« Ich finde in der Tat Gefallen an der Dame, und ich lasse es ihn wissen, während ich mich an einem Tisch niedersetze und nach der 72
Limonade greife. Er erklärt mir den Modus: Besuche auf den Zim mern der Damen sind nicht gestattet. Aber er wird sofort bei Fräu lein Kung Yen-chi anrufen und ihr mitteilen, daß ein amerikani scher Herr sich glücklich schätzen würde, ihre Bekanntschaft zu machen. Vorsichtshalber teilt er mir den Preis mit. Wenn die Dame eine Stunde mit mir >spazieren geht<, so würde das tausend ChinaDollar kosten. Als Entgelt für die in Anspruch genommene Zeit so zusagen. Allerdings — ich sei ja Amerikaner, und wenn ich in USWährung zahlen möchte, so wären das nur etwa zwanzig Dollar. Nur! Ich veranlasse ihn trotzdem, die Dame herunterzubitten, und dann mache ich einen Fehler, denn ich halte ihm zwanzig Dollar hin. Er schüttelt indigniert den Kopf: »Sir, die Damen wohnen lediglich hier. Ihre Geldgeschäfte erledigen sie selbst!« Ich entschuldige mich, und er ist versöhnt. Natürlich hat er längst begriffen, daß ich ein Neuling bin, aber er konnte mich korrigieren, und das bedeutet viel >Gesicht<. Ich erhebe mich unwillkürlich, als Kung Yen-chi die Treppe her abkommt. Sie hat einen graziösen, wenngleich etwas gekünstelten Gang, und sie muß angenehm überrascht sein, denn sie lächelt mir zu und sagt im singenden Shanghai-Englisch: »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Sir. Haben Sie ein Auto?« Ich habe natürlich eins. Wenig später fahren wir aus der Stadt heraus. Ich parke den Wagen an einem Gehöft, gebe der alten Frau, die dort sitzt, ein paar Mün zen, und dann spazieren wir in die felsige Landschaft, die hier nach und nach in sattes Grün übergeht. Kung Yen-chi ist nicht prüde, das bekomme ich bald zu spüren, sie fragt mich nämlich ganz sachlich, ob ich tatsächlich nur mit ihr das unvergleichliche Panorama bewundern möchte. Erklärend fügt sie an: »Wir werden hier oben kaum einen Platz finden, an dem wir 73
uns niederlassen können. Der Boden ist feucht, und die Temperatur niedrig. Vielleicht wohnen Sie in einem Hotel?« Ich komme mir einigermaßen lächerlich vor, denn ich muß meine Rolle als verliebter Gockel weiterspielen, möglichst etwas schüchtern dabei wirken, gehemmt. Und das bei einer >öffentlichen Dame<, für zwanzig Dollar die Stunde! Trotzdem gelingt es mir, ihr den Eindruck zu vermitteln, daß ich etwas mehr bei ihr suche als einen Wälzer im Heu. Ich spreche vom Weihnachtsfest, sie kennt es. Weiß natürlich noch aus Shanghai, wie sentimental Amerikaner und Europäer um diese Zeit sind, und stellt sich darauf ein. »Es ist eine schlimme Zeit«, sage ich, während wir auf den Fluß hinabschauen, »zu Hause schmücken die Kinder jetzt den Tannen baum, im Herd brutzelt der Truthahn, und draußen liegt eine blitz saubere Schneedecke ...« Sie lacht. »Ich habe davon gehört. Schön muß das sein!« »Bezaubernd«, gebe ich zurück. Dann ernst: »Vor allem aber ist Weihnachten eben ein Fest, das niemand allein verbringt. Man hat die Familie um sich, oder andere Menschen. Liebe Menschen. Es ist ein Fest der Gemeinsamkeit ...« Über Geld haben wir noch nicht gesprochen. Dabei ist die Stunde (20 Dollar) beinahe um. Deshalb bringe ich möglichst unbefangen meinen Wunsch vor: sie möchte doch das Fest mit mir zusammen feiern. »Warum nicht?« Es klingt kokett. Sie hat überhaupt etwas Kokettes an sich, das sich immer wieder durch ihre hervorgekehrte Zurückhaltung hindurchstiehlt und mir den Eindruck vermittelt, es handelt sich bei ihr um ein relativ unkompliziertes, wahrscheinlich nicht einmal besonders egoistisches Mädchen, das sich recht gern an einen Mann anschließt. Als ich davon zu sprechen beginne, daß eine Woche später das neue Jahr kommt, ebenfalls ein Anlaß zum 74
Feiern für Amerikaner, und daß ich an all den Tagen bis dahin keinen Dienst habe, erkundigt sie sich vorsichtig, wo ich arbeite. Es hätte keinen Zweck, es vor ihr zu verschweigen, ja, es würde sie sogar mißtrauisch machen, denn sie kann es natürlich leicht herausfinden, und so sage ich eben: »Dolmetscher beim OSS«. Sie denkt nicht weiter darüber nach, registriert es nur. »Und Sie haben keine Frau?« »Nein.« »Hotel?« »Ich bewohne einen Bungalow.« Einen Augenblick denkt sie nach. Ich spüre, wie sie zögert. Aber dann sagt sie es doch: »Ich muß für das Zimmer, das ich bewohne, im Monat fünfzigtausend China-Dollar bezahlen ...« Sie hat angebissen. Und jetzt soll sie glauben, ich beiße an. Ich rechne: »Das sind ... sechshundert Dollar, amerikanische?« Sie lacht laut. »Aber nein! Nicht einmal dreihundert, wenn ich in US-Dollar bezahlen würde!« Holly hat mir zusätzliche Mittel angeboten, ich überlege nicht lange. Mache eine geringschätzige Handbewegung. Was sind schon dreihundert Dollar! Und plötzlich fröstelt sie. Schiebt sich an mich heran, wie um sich zu wärmen. »Ein Bungalow wäre schön jetzt ...« Ich bedaure es nicht, daß ich Kung Yen-chi gewissermaßen auf Weisung zu meiner Freundin zu machen habe. Zwar halte ich nichts von der GI-Weisheit >Frau ist Frau<, egal ob sie Haare hat oder nichts aber im gewissen Sinne fühle ich mich tatsächlich etwas al leingelassen, und dieses Mädchen hat eine Menge zu bieten, außer dem läßt sie sich ertragen, sie ist hübsch, benimmt sich ordentlich und scheint mich (vielleicht wegen meiner zur Schau getragenen Unbedarftheit) sogar zu mögen. — Eine Stunde später sind wir in meinem Bungalow. Ich stecke ihr 75
fünfhundert Dollar zu und bitte sie, mich zu erinnern, wenn sie ver braucht sind. Dann stelle ich sie Benny Tso vor, der sich artig ver beugt (natürlich weiß er, wer in der Nanping Lu 73 wohnt!) und sich dann zurückzieht. Er findet es wohl völlig normal, daß ein Amerikaner roten Blutes, der Monate hier lebt, sich endlich einmal ein Mädchen fürs Bett mitbringt. Nach dem ersten Drink, an dem sie recht vorsichtig nippt, nennt sie mich Sid. Ich erbitte mir, sie Yen-chi nennen zu dürfen, doch da wehrt sie lachend ab und drückt mir einen Kuß auf den Mund. »Für meine Freunde heiße ich Lily!« Dann zieht sie das Moskitonetz ganz hoch und beklopft die Kis sen. Weihnachten beginnt. Sie zupft verspielt an meinen Haaren und flüstert: »So was hab ich nur am Kopf. Mein Körper ist so glatt wie eine Ming-Vase!« Ich habe davon gehört, Chinesinnen, besonders wenn sie oberflächlich Bekanntschaft mit westlicher Zivilisation gemacht haben, überraschen einen zuweilen mit den unglaublichsten Vorstellungen von Hygiene. »Zieh dich aus, Darling«, drängt sie. Hilft nach. Macht große Augen. Wirft ihre Kleider ab und entblößt zwei winzige, flache Brüste, die an ein Schulmädchen erinnern. Einen Körper, der tatsächlich enthaart ist, radikal. Sie macht mich nur noch aufmerksam, daß sie ein japanisches Pessar trägt, und während ich mir Mühe gebe, nicht zu grinsen, zieht sie mich auf das Bett. Danach spricht sie nicht mehr. Es ist auch nicht nötig, sie kann mir ohne ein weiteres Wort ausgezeichnet zu verstehen geben, daß sie nicht nur glücklich ist, mich kennengelernt zu haben, sondern daß sie sehr wohl weiß, wie man mit einem »Yang guei-dse«, einem »ausländischen Teufel« das Spiel von Wolken und Regen so spielt, daß er seine helle Freude daran hat. Bevor ich gegen Morgen einschlafe, erschöpft, überlege ich, was 76
Holly wohl sagen würde, wenn er mich beobachten könnte. Nach dem ersten ausgedehnten Betterlebnis stellt sich bei Lily das Bedürfnis zum Beichten ein. Chinesische Mädchen sind da wohl nicht anders als amerikani sche College-Studentinnen. Kung Yen-chi, Kind eines Gemüsehändlers aus Shanghai, im zweiten Jahr des ersten Weltkrieges geboren zwischen Melonen und Mangos, kann zur Schule gehen, verliert mit fünfzehn beide Eltern, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, wird von einem Juwe lenhändler ins Haus genommen, als Dienstmädchen und gelegentli che Nachtverschönerin, entdeckt schließlich ihren Hang zur Bühne und fällt dabei einem ziemlich reichen, etwas fetten, aber >sehr an ständigem Filmproduzenten auf, der für die >Universal Photoplay< Finanzierungen managt. Er kauft ihr eine Wohnung, besucht sie zweimal in der Woche und verschafft ihr außerdem einen Job als Gelegenheitsstatistin. »Vorbei«, sagt sie traurig, als wir am Nachmittag beim Tee sitzen. »Er mußte mit seiner Frau aus Shanghai verschwinden, man suchte ihn, weil er ein paar Filme finanziert hat, die von der Liga Linker Dramatiker gemacht wurden. Also war er plötzlich weg, und Lan Ping und ich saßen in meiner schönen Wohnung und überlegten: was nun ...?« Da ist der Name, zum ersten Mal! Ich bemerke nur, daß ich einige der linken Stücke kenne, von Tien Han und anderen, und dann frage ich sie: »Ist deine Freundin auch in der Nanping Lu 73 gelandet?« Sie schüttelt den Kopf. »Hat mehr Glück gehabt als ich. Vielleicht. Genau kann man das nicht wissen.« »Lan Ping«, überlege ich laut. »Lan Ping ... Ich muß sie schon einmal gesehen haben, jedenfalls habe ich ihren Namen gehört.« Sie meint etwas träge: »Vielleicht im >Blutigen Wolfshügel«, 77
das war ein Film, der ziemlich bekannt wurde.« Ich hake sofort da ein. Und als Lily mir die Freundin beschreibt, nicke ich fortwährend: »Ja, das muß sie sein. Ein recht hübsches Mädchen ...« »Oh ja!« Sie lacht. Erzählt dann weiter über sich. Wie sie nach Tschungking kam. Wie sie hier berühmte Schauspielerinnen aus Shanghai wiedersah, Tsu Su-wen beispielsweise, oder Bai Yang. Aber es gibt so wenig Arbeit in den Ateliers. Kein Geld. Der Krieg. Später vielleicht, hat man sie vertröstet. Der Abend vergeht. Im Bett kommt sie nochmals auf den Film zurück, in dem Lan Ping auftrat. »Wenn du ihn gesehen hast, dann hast du auch mich darin gesehen. Aber ich spielte ein schmutziges Dorfmädchen in einer schrecklichen Maske. Niemand konnte mich erkennen ...« Ich bitte sie an einem der Nachmittage zwischen Weihnachten und Neujahr, mir mehr von der Filmarbeit in Shanghai zu erzählen. Später werde ich einmal Bücher über China schreiben, deute ich an, später, wenn der Krieg vorbei ist. Schicksale wie das ihre müßten ihren Platz darin haben. Auch solche wie das von Bai Yang oder von jener Lan Ping. In solchen Lebensläufen spiegle sich die Geschichte des Landes. Und dann beginnt sie ganz von selbst über Lan Ping zu sprechen. Schließlich war es ihre beste Freundin, und man sei nicht etwa im Ärger auseinandergegangen, nein, man habe sich nur getrennt, weil Lan Ping eben unbedingt ihren politischen Ambitionen nachgehen wollte. Ein gutes Mädchen, aber sie hat sich zu den Kommunisten aufgemacht ... Was mich veranlaßt, nach näheren Einzelheiten zu fragen. Schließlich seien die Kommunisten in China eine Potenz, von der noch einiges zu erwarten sei. Sie erzählt gern. Knabbert PX-Keks dabei, raucht ununterbro chen. Trinkt Likör, legt Platten auf, spielt, lacht, zieht mich zwi 78
schendurch ins Schlafzimmer und gibt mir das Gefühl, mit einer Nymphomanin zu tun zu haben, ist eine Stunde danach wieder aus geglichen, fröhlich, mitteilsam — Holly würde seine helle Freude an mir haben! Am Tag nach Neujahr geht sie in die Nanping Lu 73 zurück. »Ich kann wirklich nicht so lange fortbleiben, sonst denkt der Hauswirt noch, ich bin ausgezogen. Außerdem, Darling, muß ich ihn bezahlen!« Es gibt dort ein Telefon. Ich verspreche, sie anzurufen, wenn ich Zeit habe. Und im übrigen schwört sie: »Ich gehe mit keinem anderen Mann, Sid! Hörst du? Ich gehöre dir. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein. Laß mich nicht zu lange warten.« Das wiederum schwöre ich. Und daß die Miete auf meine Rech nung geht. Benny Tso fährt sie nach der Nanping Lu. Sie winkt noch lange. Doc Haley macht seinen Test mit mir, schüttelt den Kopf und sagt: »Negativ.« Ich habe Zeit, an Holly zu denken.
An Holly 15.1.1944 Angaben über Lan Ping. Quelle: Kung Yen-chi, mündlich Lan Ping, alias Li Yün-ho, alias Lien Hua, Geburtsname angeblich Li Tschin, ist heute vermutlich 29 Jahre alt. Geboren in der Provinz Schantung, unweit Tsingtao. Vater Handwerker. Konnte durch Zuschüsse eines Landbesitzers, mit dem die Familie verschwägert war, die Grundschule absolvieren. Ein weitläufiger Verwandter, der Beamter war, ermöglichte ihr später, für eine 79
gewisse Zeit eine Theaterschule in Tsinan zu besuchen. Hier erregte sie wohl die Aufmerksamkeit eines älteren Literaturprofessors, der sie unterstützte und mit dem sie nach Tsingtao ging, wo sie — sozusagen als sein Protektionskind — an der Universität studierte, obwohl sie den Reifegrad für ein Studium nicht besaß. (Übrigens waren solche Manipulationen im damaligen China nicht unüblich, besonders wenn es sich um junge Mädchen handelte, die von einflußreichen älteren Herren ausgehalten wurden.) Während der Zeit tingelte sie mit einer Theater-Truppe von nationalistisch eingestellten Studenten zeitweise durch die Provinz. Das hat aber offenbar den Unwillen ihres eher konservativ eingestellten Mäzens erregt, und er ließ sie fallen. Nächste Station ihres Aufenthaltes war Shanghai. Um diese Zeit (in den frühen dreißiger Jahren) galt Shanghai, das am stärksten unter dem Einfluß ausländischer Lebensvorstellungen und Zivilisationseinwirkungen stand, als die Stadt mit dem regsten geistigen Leben in China. Die Konzentration von Intellektuellen und Künstlern war hier beträchtlich. In dieser Atmosphäre schliffen sich antiquierte chinesische Kulturtraditionen an modernen fremden Ideen stark ab, und es entstanden gerade in Shanghai Elemente eines Kunstbetriebes, der fortschrittlich avantgardistisch war. Hier entwickelte sich eine Art fortschrittlicher Elite, die sich am stärksten an die Kommunisten anlehnte, weil deren
Programm
grundlegende
Veränderungen
der
Ge
sellschaftsstruktur beinhaltete. Die Reibungen, die sich daraus mit dem konservativen Flügel der Kuomintang ergaben, der die bereits 1927 arg dezimierten kommunistischen Kräfte erbittert weiter ver folgte, führten in späterer Zeit dazu, daß selbst nationalistisch ge sinnte bürgerliche Künstler und Intellektuelle sich entschlossen, nach Jenan zu gehen, wo die Kommunisten ihre Basis errichtet hat ten. Inzwischen aber lief im Shanghaier Kunstbetrieb eine Art Ver 80
steckspiel. Immer wieder wurde versucht, die strengen Kontrollen der Kuomintang zu umgehen oder zu unterlaufen, indem verschlüs selt linke Botschaften über Kunstwerke ans Publikum gebracht wur den. Zu den organisierten Zentren dieser Bewegung gehörte die >Liga Linker Dramatiker<, an die sich Li Tschin in Shanghai an schloß. (Hauptrepräsentanten: Tien Han, Dschou Yang, Yang Han tscheng.) Kung Yen-chi behauptet, Li Tschin habe um diese Zeit ein Verhältnis mit dem Bruder des Dramatikers Tien Han (Tien Hung) gehabt, dieser habe ihr wohl auch Wege geebnet. Ihr schauspielerisches
Talent
bezeichnet
Kung
Yen-chi
als
durchschnittlich, sie sei aber sehr klug vorgegangen und habe sich mit verschiedenen Produzenten (vor allem von der Filmgesellschaft Universal Photoplay) eingelassen, was ihr durch ihr vergleichsweise gutes Aussehen nicht schwerfiel und was ihr immer wieder kleine Rollen und Verdienst einbrachte. Mit Tien Hung habe sie sich schließlich entzweit, da dieser nicht damit einverstanden war, daß sie ihren Einstieg ins Schaugeschäft chinesisch ausgedrückt >mit dem Röschen bezahlte <. Charakterlich wird sie als äußerst ehrgeizig beschrieben, von einer Strebsamkeit besessen, die in der Wahl der Mittel bis zur Be denkenlosigkeit ging. Politisch soll sie nach links tendiert haben, auch gelegentlich verhaftet gewesen sein. Nach und nach verfeindete sie sich mit den Leuten von den > linken Dramatikern < immer mehr, wohl dadurch, daß sie sich mit zu vielen von ihnen gleichzeitig einließ, so daß man sie in einschlägigen Kreisen schließlich als >Flittchen< bezeichnete, was Kung Yeng-chi allerdings für übertrieben hält. Es sei eben um ihre Existenz gegangen. Sie muß wohl dann einen Gönner gefunden haben, der in Peking lebte, denn sie zog dorthin und studierte einige Zeit an der dortigen Universität. Wie es scheint, versiegte ihre Geldquelle aber 81
auch wieder, denn sie kehrte nach Shanghai zurück, wo sie offenbar bei dem Versuch, wieder Kontakt zu linken Organisationen zu bekommen, an einen Spitzel geriet und festgenommen wurde. Nach mehreren Monaten Haft wurde sie entlassen und traf bei dem Versuch, erneut ihre Bühnenkarriere zu betreiben, auf Kung Yen chi, die durch ihr Verhältnis mit dem reichen Produzenten Ho Tjän bereits im gesicherten Status einer Mätresse lebte. Kung Yen-chi erklärt, sie habe mit dem durch die Haft mitgenommenen Mädchen Mitleid gehabt, außerdem sei sie ihr sympathisch gewesen und so habe sie sie bei sich aufgenommen (Anfang 1935). Durch die Vermittlung Ho Tjäns bekam sie nach und nach wieder kleine Rollen zugeschanzt. Zwischen den beiden Mädchen entwickelte sich eine Freundschaft, die es mit sich brachte, daß sie einander von ihren Liebesabenteuern erzählten. Andeutungsweise erfuhr ich, daß Li Tschin in der Wahl ihrer Verehrer vorsichtiger wurde, sie biß nur noch an, wenn es sich um zahlungskräftige Herren mit guten Geschäftsverbindungen handelte. Der jeweils betreffende Mann scheint ihr dabei nicht viel bedeutet zu haben. Höhepunkt ihrer Bühnenkarriere ist dann ihre Rolle als Nora in Ibsens >Puppenheim< gewesen. (Achtung: Durch vorsichtiges For schen habe ich in einem hiesigen Archiv, das von Shanghai hierher verlagert worden ist, ein Plakat dieser Aufführung mit dem Foto Li Tschins gefunden. Es ist kopiert und wird von mir verwahrt!) In den Jahren 1936 und 1937 trat Li Tschin neben anderen Rollen vor allem in zwei wesentlichen Filmen auf, >Der blutige Wolfshü gel< und >Die neue Frau<. Hier legte sie sich das Pseudonym Lan Ping zu, wörtlich übersetzt > Blauer Apfel<, aber auch andere Auslegungen sind möglich. Um diese Zeit soll sie mit zwei Männern zugleich liiert gewesen sein, einmal mit dem Regisseur 82
der beiden Streifen, Tschau Ta-ming, und zum anderen mit einem renommierten Kritiker, Tang Na. Letzterer habe sich dann an ihr durch Selbstmord für die Untreue gerächt, und da es inzwischen in Shanghai eine große Zahl Boulevardblätter gab, wurde die Affäre weidlich ausgeschlachtet — der ohnehin nicht sehr gute Ruf Li Tschins wurde noch schlechter, es kam zu offenen Anfeindungen, zumal ihr zweiter Liebhaber, Tschou Ta-ming verheiratet war und seine Frau die Stimmung durch ihr demonstratives Scheidungsbegehren weiter anheizte, während
Tschou Ta-ming
selbst durchaus keine
Heiratsabsichten in bezug auf Li Tschin hatte. Besonders die bedeutenderen Künstler und Intellektuellen der Shanghaier Szene haben Li Tschin wohl immer stärker geschnitten, so daß ihre Lage jämmerlich wurde. Man sagte ihr sogar nach, sie sei von der Kuomintang als Spitzel geworben worden, doch das wird von Kung Yen-chi als unwahrscheinlich bezeichnet. Kung Yen-chi gibt an, in dieser Zeit habe Li Tschin des öfteren mit ihr über die > Shanghaier Salonbolschewisten< gesprochen, die angeblich links stünden, in Wirklichkeit aber >die Seelen von kon servativen Kümmerlingen< hätten. Die >echten Linkem hielten sich nach ihrer Meinung fern von dem dekadenten Kunstbetrieb Shang hais auf und kämpften bewaffnet für die Revolution. Sie erwähnte in diesem Zusammenhang öfters den Namen eines kommunistischen Funktionärs, der vermutlich in illegaler Mission Shanghai besuchte und von dem sie den Rat erhielt, die Stadt zu verlassen. Der Name ist Kung Yen-chi nicht mehr geläufig, er soll aber aus derselben Provinz stammen wie Li Tschin, aus Shantung. Bis zum Juli 1937 blieb Li Tschin noch in Shanghai, dann ver schwand sie plötzlich spurlos. Wo sie jetzt ist, weiß Kung Yen-chi nicht. 83
Violet
10.3.1944 Die Russen scheinen Ernst zu machen: Bei Leningrad sind sie im Angriff, in der Ukraine haben sie deutsche Truppen eingekesselt, westlich des Dnjepr sind sie auf dem Vormarsch. Aber auch wir sind inzwischen auf den Marshall-Inseln gelandet, die > Straße nach Tokio< wird gepflastert! Radio Tschungking vermeldet solche Ereignisse ziemlich unterkühlt, und doch merkt jeder, daß es vorwärts geht, daß der Krieg in Europa vielleicht in einem Jahr ausgebrannt sein wird. In Asien geht es langsamer voran. Noch sind die Landfronten hier gleichsam eingefroren, die Japaner behaupten das, was sie erobert haben, allerdings, sie wurden bisher nirgendwo ernsthaft angegriffen. Persönlich glaube ich, daß wir uns entschlossen haben, das Schwergewicht auf Europa zu verlegen. Wenn dort Schluß ist, wird man alle verfügbaren Kräfte in Asien in Marsch setzen. Im OSS-Büro, das nach der Verlegung der Station nach Kunming nur noch ein relativ unbedeutender Stützpunkt ist, erfahre ich, daß diese Vermutung stimmt. Es sind geheime Informationen über die Konferenz der alliierten Staatschefs in Teheran (Dezember 1943) eingegangen, die besagen, daß die Sowjets sich verpflichtet haben, sechs Monate nach der Beendigung des Krieges in Europa militä risch ebenfalls gegen Japan vorzugehen. Da wird es sich um die Mandschurei handeln. Vorerst aber wollen die Sowjets immer drän gender die Errichtung einer zweiten Front in Europa. Sie würden 84
ein solches Unternehmen durch einen gleichzeitigen Großangriff an ihrer Front unterstützen. Kommentar von Coughlin: die Russen werden in Europa versu chen, eine möglichst große Einflußzone für sich zu schaffen. Und — wenn sie die Mandschurei erobern, steht zu erwarten, daß sie den in Jenan liegenden kommunistischen Truppen damit den Weg für die Eroberung ganz Nord- und Nordostchinas ebnen. Wie distanziert man auch Coughlins Unkerei beurteilt, seine Ver mutung kann natürlich annähernd zutreffen. Mir scheint, was Eu ropa angeht, werden dort auf lange Sicht die einzelnen Kleinstaaten selbst über ihr weiteres Schicksal entscheiden. Im Falle der Man dschurei allerdings geben solche Überlegungen wie die von Coughlin eher Anlaß, sich mit der Politik des Generalissimo gegenüber den Kommunisten auseinanderzusetzen. Wäre er zeitig genug auf ihr Angebot der Einstellung aller Feindseligkeiten und das gemeinsame Engagement gegen Japan eingegangen, dann würde damit zumindest der Einfluß der Kuomintang in ganz China, einschließlich der Mandschurei, wer immer sie befreit, erhalten bleiben. So aber ist das ungewiß. Interessant ist, was unser Büro an Geheiminformationen über die sogenannte Kairo-Konferenz vorliegen hat. Sie fand wenige Tage vor der von Teheran statt, Stalin nahm daran nicht teil, es trafen sich Roosevelt, Churchill und — Tschiang Kai-shek! Nun wissen wir ja zur Genüge, wie ausgeprägt Tschiangs Eitelkeit ist und wie es ihn verletzt, daß er nicht zu den >Großen Drei< als >Vier“ hinzugezogen wird. (Epstein, einer der Korrespondenten hier, ich glaube, er arbeitet für die >New York Times< und >Time< sowie für >Life<, plauderte neulich eine Stunde mit mir bei einem Whisky und sagte bissig: »Diese Erdnuß drängelt sich förmlich in die Weltgeschichte! 85
Und immer, wenn er irgendwo eine Abfuhr erleidet, benimmt er sich wie eine kleine Sekretärin, die wegen Plattfüßen nicht an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen darf!«) In Kairo nun, wo Roosevelt und Churchill wohl den Versuch un ternahmen, Tschiangs Prestigebedürfnis durch eine großzügige Ge ste zu befriedigen, bewies er wieder einmal, daß er dafür keine Ge genleistung zu bringen bereit ist. Er weigert sich, zur Offensive ge gen die im Lande sitzenden Japaner anzutreten. In Burma hingegen, so verlangt er, müßten die Engländer offensiv werden. Daß er Burma mit chinesischer Verwaltung überziehen möchte, ist bekannt, den Kampf allerdings sollen die Engländer und wir für ihn ausfechten. Churchill stellte sich da taub, weil er Burma als britische Kolonie keineswegs bei einem solchen Poker verlieren will. Und Roosevelt hörte stillschweigend zu, als Tschiang von seiner Hauptaufgabe sprach, dem Kampf gegen die Japaner und Kommunisten. Dafür will er von den USA eine runde Billion Dollar als Hilfe beziehen. Aber für diesen Wunsch hatte Roosevelt kein Ohr. Und so ging die Kairoer Zusammenkunft ziemlich ergebnislos zu Ende, wenn man davon absieht, daß Tschiang vorsichtig andeutete, er er wäge eine Art friedlichen Arrangements mit Japan, für den Fall, daß er die Japaner von den Vorteilen des verstärkten Drucks auf die Kommunisten gegenwärtig
überzeugen nicht
die
könne.
Zeit,
Eine
solche
Infamie!
Nur
ist
Unverschämtheiten zu
beantworten. Übrigens wiederholte Tschiang in Kairo erneut seine Kardinalforderung, den alten Stilwell als Oberkommandierenden der China-Burma-Indien-Front abzulösen. Roosevelt äußerte sich dazu nicht bindend, aber er wird eines Tages nachgeben müssen: ein Arrangement Tschiangs mit den Japanern würde das Ende unserer Operationsmöglichkeiten auf dem asiatischen Festland 86
bedeuten. Plötzlich kündigt sich Holly an! Ich hole ihn auf dem Flugplatz ab. Er bringt zwei junge Burschen aus New York mit, die drei Stunden lang meinen Bungalow nach Abhörmikrofonen durchstöbern, mit viel Sachkenntnis, wie ich beobachte. Aber sie finden nichts. Also bekommt Benny Tso Urlaub, ebenso das Hauspersonal, und dann sitzen wir uns in meinem Wohnzimmer gegenüber, während die beiden Burschen, die Holly mitgebracht hat, um das Haus schleichen. Wir lachen gemeinsam, als ich Holly meine Erlebnisse mit ChiPao-Lily schildere. Er schlägt sich auf die Schenkel. Dann fragt er: »Siehst du sie noch?« »Gelegentlich. An Wochenenden. So eine Sache läßt sich nicht urplötzlich abbrechen.« »Außerdem macht sie dir Spaß, alter Gauner!« Er gießt Whisky nach, wir trinken ein wenig, dann verrät er mir: »Übrigens werden wir sie ausfliegen.« »Ausfliegen? Wohin?« »Ihr ehemaliger Galan sitzt in Macao. Wir haben ihn an der Leine. Er ist im Augenblick mit seinen Verbindungen recht nützlich für uns. Und in fernerer Zukunft könnte er ebenfalls nützlich sein. Das Mädchen vielleicht auch.« Ich spare mir Fragen. Holly würde sie ohnehin nur mit einem Lächeln beantworten. Trotzdem möchte ich wissen, wie er es anstellen will, sie zu >finden<. »Das ist alles schon geregelt. Morgen gehe ich offiziell zu ihr. Stelle mich vor. Habe mit Herrn Ho Tjän geschäftlich zu tun gehabt und ihm dabei erzählt, daß ich nach Tschungking fliege. Da bat er mich, herumzuhorchen, ob das Gerücht stimmt, daß Lily sich in Tschungking aufhält. Soeben habe ich festgestellt, das Gerücht stimmt. Haha ...!« So einfach ist das. Er sieht mich an. »Du wirst 87
sie vermissen?« Ich sage ihm, daß ich es überleben werde. Wenn die Teufel mich peitschen, kann ich jederzeit in die Nanping Lu 73 gehen und mir ein neues Mädchen auf der Anschlagtafel aussuchen. Holly hat einige Bedenken, daß Lily zu stark an mir hängen könnte, aber ich beruhige ihn. Es wird genügen, ihr klarzumachen, daß Herr Ho Tjän Geld wie Heu hat und Filmrollen und daß er nach wie vor auf sie aus ist. Wie ich Lily kenne, wird sie mit Tränen von mir Ab schied nehmen. »O.K.«, sagt Holly, »du wirst es vergessen.« Dann erzählt er von Kairo und Teheran. Vor allem von dem, was der Generalissimo in unserer strategischen Planung darstellt. »Wir haben begriffen, daß wir den Realitäten ins Auge sehen müssen, soweit sie Tschiang betreffen. Es machen sich für uns völlig neue Denkkonzepte nötig. Nicht nur, um die Japaner in China zu schlagen. Vor allem für die Zeit danach, Sid. Es wird uns geben, und es wird China geben, in der Zukunft. Bisher haben wir vorausgesetzt, daß Tschiang dieses China regieren wird. Heute ist das fraglich geworden.« »Die Kommunisten?« Er steht auf, geht zum Fenster, wirft einen Blick auf den Garten, in dem die ersten Frühlingsblumen leuchten, dann dreht er sich um und fragt: »Sid, wie sehr liebst du China?« Er trifft mich unvorbereitet mit dieser Frage. Sie ist nicht auf eine oberflächliche Affinität gezielt, ich spüre es. Also antworte ich nicht gleich, und er registriert mein Zögern. Er drängt: »Sag es mir ehrlich, Junge, möchtest du nach Hause? Hast du es satt? Ekelt dich der Geruch des Landes an? Verfluchst du die Primitivität? Bist du der Gesichter überdrüssig? Möchtest du manchmal am liebsten mit einer Maschinenpistole dreinhalten, anstatt zu lächeln?« Ich schüttle den Kopf. »Nichts von alledem, Holly. Ich bin kein 88
Amerikaner, der sich an China gewöhnen muß, du weißt das, ich bin hier aufgewachsen. Die Staaten sind mir fremder als China. Aber — warum fragst du?« Er entschließt sich. »Gut. Laß uns Nägel mit Köpfen machen. Du hast dich bereit erklärt, lange Zeit hier zu verbringen. Wie lange hältst du es aus?« »Solange man mich hier braucht.« »Zehn Jahre?« »Die gehen vorbei.« »Zwanzig?« Ich hole tief Luft. In zwanzig Jahren werde ich das sein, was man einen älteren Herrn nennt. Aber ich sage wahrheitsgemäß: »Ist es nicht egal, wo man seine Jahre abhakt, Holly? In den Staaten, in China, in Timbuktu?« Er droht mir, und er meint es ernst, ich spüre es: »Wirf mir später nie vor, ich hätte dich nicht gewarnt, Sid! Es wird nicht leicht wer den.« Unwillkürlich muß ich an Chi-Pao-Lily denken, und ich lache. »Natürlich nicht, kaum hat man sich eine Dame so weit trainiert, daß man mit ihr den Gipfel der Harmonie erklimmt, wie die alten Chinesen sagen, da kommt ein Colonel und schleppt sie weg! Laß dich nie wieder in solch einer Mission bei mir sehen, und ich werde selbst dreißig Jahre glücklich hier leben!« Er lächelt nicht. Geht nicht auf den Spott ein. Sagt nur düster: »Sid, was wir jetzt zu beraten haben, kann dich für den Rest deines Lebens beschäftigen, ich bitte dich, das zu berücksichtigen ...« Da fordere ich ihn auf, endlich Klartext zu reden, und er tut es. Nippt nur noch andeutungsweise an seinem Whisky und spricht. Kurz und klar. »Wir legen zugrunde, daß Tschiang nach unseren Erkenntnissen 89
eine unsichere Größe für uns ist. Fraglich, ob er jemals China wirk lich regieren wird, Krieg oder Frieden. Für uns sind — nicht mehr so sehr unter dem Gesichtspunkt des Krieges, sondern vor allem für die Zeit nach der Niederschlagung Japans — Positionen in China unverzichtbar. Politisch, militärisch, wirtschaftlich. Dieses Land hat eine lange Grenze zu den Sowjets. Wir müssen allein deshalb schon einen Fuß auf dem asiatischen Festland behalten. Der Pazifik wird unser Meer sein. Hoheitsgebiet der USA sozusagen. Also haben wir Zukunftsplanung zu betreiben, und zwar bei den Anliegern des jen seitigen Ufers. Läßt du Tschiang einmal beiseite, gibt es in China nur noch eine andere ernstzunehmende Kraft, die Bedeutung erlangen
könnte,
nämlich
die
Kommunisten.
Wir
haben
beschlossen, offiziell Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Vielleicht als Antwort auf die Erpressung Tschiangs, vielleicht aber auch aus viel weiter in die Zukunft reichenden Überlegungen. Inoffiziell haben wir durch verschiedene Mittelsmänner seit längerer Zeit Kontakt mit ihnen. Nun — in ein paar Monaten — schicken wir eine offizielle Mission nach Jenan. Du sollst dabei sein. Fragen zur prinzipiellen Seite der Sache?« Eigentlich hatte ich keine. Kontaktaufnahme mit Jenan war klug, angesichts des abgewirtschafteten Systems, das der Generalissimo kommandierte. Aber — würde er darüber nicht endgültig von uns abschwenken? Holly schüttelte den Kopf. »Wir sorgen dafür, daß er vernünftig bleibt. Er ist immer noch von uns abhängig. Außerdem: Wir machen ihm klar, daß wir im Norden die Finger im Kuchen haben müssen, um zu verhindern, daß die Sowjets mit Mao vollendete Tatsachen schaffen, die weder uns noch Tschiang recht sind.« »Mao auf unsere Seite ziehen? Hältst du das für möglich?« Er denkt ein paar Sekunden nach, dann sagt er: »Was wir errei90
chen, wird von uns abhängen, Sid. Kluge Leute haben sich ihre Köpfe über das Problem zerbrochen, Spezialisten. Ich werde dir noch Material zu lesen geben, das aufschlußreich ist. Analysen. Später. Vorerst: Bei Mao haben wir es mit einem Mann zu tun, der uns Rätsel aufgibt. Einerseits pinselt er sein Einflußgebiet rot an. Andererseits betont er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, daß er für eine gute Zusammenarbeit mit uns ist. Wir haben verschiedene Theorien, teils sehr abenteuerliche. Fest steht lediglich, daß Mao einem unserer Mittelsmänner gegenüber vorsichtig geäußert hat, es wird in seinem Machtbereich nie einen ernsthaften Einfluß der So wjets geben. Was immer das heißen soll, wenn jemand das sagt, der sich als Kommunist präsentiert — wir haben es herauszufinden ...« »Das heißt, ich soll es herausfinden, wie?« Er bewegt die Schultern. »Einfach wird er es uns nicht machen. Und man muß bedenken, er ist nicht allein, es gibt um ihn herum Leute, die möglicherweise ganz andere Ideen haben. Was wir brau chen, ist ein ständiger Kontakt zu diesen Kräften dort. Sprechverbindungen, permanent. Mit einigem Geschick können wir gewisse Prozesse von außen steuern. Da ist beispielsweise die riesige Chance, mit Waffenlieferungen zu winken. Überlege: Die Sowjets liefern ihm so gut wie keine Waffen. Nicht nur, weil sie sie gegenwärtig selbst brauchen, sondern auch, weil sie offiziell Tschiang anerkannt haben und dieser Waffenlieferungen an Mao als Bruch geschlossener Vereinbarungen betrachten würde. Die Sowjets nehmen es bei der Einhaltung von Verträgen sehr genau, soviel wissen wir inzwischen. Eine solche Haltung aber bleibt im vorliegenden Falle nicht ohne psychologische Auswirkungen auf einen Mann wie Mao. Er ist kein erfahrener Politiker, er kennt nichts von der Welt, er ist kein Diplomat und versteht nichts von den subtilen Wegen, die es in der Diplomatie gibt. Von mehreren 91
Journalisten, die Jenan gesehen haben und über deren Lageberichte wir verfügen, liegen uns gleichlautende Einschätzungen vor, die besagen, daß Maos persönliche Sympathien für die Sowjets gering zu sein scheinen, obwohl er offiziell wiederum achtungsvoll von ihnen spricht. Hier sind die Ansatzpunkte, die wir zu nutzen haben. Was das Ergebnis sein wird, kann heute noch niemand wissen. Es gibt unterschiedliche Ansichten. Ich persönlich neige dazu, hier einen sehr langen Entwicklungsprozeß zu erwarten, bei dem wir nicht die Geduld verlieren dürfen. Vor allem — wir müssen präsent sein. OSS fädelt das ein. Der Krieg begünstigt die Sache. Nur, sie ist weit in den Frieden hinein gezielt, wie immer er aussieht ...« Ich war eigentlich nicht so sehr überrascht von dem, was Holly mir da erläuterte. Nur sah ich noch nicht meine persönliche Rolle in dem Spiel. Holly meinte: »Mein lieber Sid, ich kann sie dir im Augenblick selbst noch nicht in allen Einzelheiten beschreiben, dafür ist die Sa che zu vage. Es kommt einzig darauf an, daß du dort Verbindungen anbahnst, zu Leuten, die um Mao herum sind und um die anderen Führer. Du sollst nicht als Besucher dort leben. Du mußt Wurzeln schlagen, mußt zu erreichen versuchen, daß sie sich an dich gewöh nen. Wir werden über Einzelheiten noch viel sprechen, über takti sche Möglichkeiten. Fest steht lediglich das strategische Ziel, der Langzeitkontakt. Die Leute dort sollen von vornherein wissen, daß du von uns kommst, von Kräften, die zwar nicht die Regierung der USA darstellen, die aber ein Zusammengehen mit Mao unter be stimmten Bedingungen befürworten. Und sie sollen stets wissen, daß sie über dich sehr direkt mit diesen Kräften, mit uns nämlich, Verbindung haben können. Meinungen abklären, das ist alles. Und jetzt sag mir: möchtest du lieber nach Hause?« 92
Ich überlegte. »Halten wir uns nicht dabei auf, ich liebe es, in China zu leben. Aber — werde ich in Jenan nicht ein Paria unter den Roten sein? Wie stellst du dir das vor? Wenn ich denen nicht mehr gefalle, stecken sie mich ins Loch, oder sie stellen mich an die Wand! Keine sehr verlockende Aussicht!« Holly teilte meine Bedenken. Er verschwieg nicht, daß es ein Schritt ins Unbekannte war, mit allen möglichen Überraschungen. Aber er hatte andererseits gründlich vorgearbeitet, das merkte ich. Er nannte mir ein paar Namen von Ausländern, die sich in Jenan angesiedelt hatten. Europäer, auch Amerikaner. Angezogen vom Reiz dessen, was die Kommunisten dort machen. Verkrachte Existenzen darunter. Politische Hasardeure. Und harmlose Narren, die ein Faible für Maos Experiment entwickelten. »Warum solltest du nicht einer von ihnen sein?« fragte er. »Ein Mann, der das Land liebt und die Aussicht, daß es von den Kommunisten gerechter regiert wird als von Tschiang. Ein Fremder zwar, der aber kein Fremder bleibt. Laß Zeit vergehen, und man ge wöhnt sich an dich, Sid. Wer du wirklich bist, das würden dort oben bestenfalls zwei oder drei Leute wissen, und auf die ist Verlaß.« Einen > Schläfer< nennen die Engländer so etwas, ich weiß es aus der Ausbildung. Da gibt es die >Verrückten<, die mit einem Turban auf dem Kopf in Arabien ein Leben lang Käfer sammeln. Oder den versoffenen Maler, der die Zivilisation flieht, um an einem fernen Strand Palmen und Brandungswellen mit Ölfarben auf Sackleinwand zu pinseln. Den Kaufmann, den Jäger, den Mann, der nicht von einer bildschönen Eingeborenenfrau lassen kann, während sein
Majorsgehalt
in
London
jeden
Monat
mit
schöner
Regelmäßigkeit auf seinem Konto gutgeschrieben wird ... »Laß uns erst noch einen trinken«, schlage ich vor. Holly ist ein verstanden, er hat Zeit. Dies ist keine Sache, die Eile verträgt. Wir 93
schwenken das goldgelbe Gebräu, rauchen, machen Scherze, dann fällt mir das Plakat ein, auf dem Ibsens >Nora< angezeigt ist, mit Li Tschins Foto. Ich schließe den eingebauten Tresor auf und hole die Kopie hervor. Holly wirft nur einen kurzen Blick auf das Bild, dann sieht er mich an und fragt, jedes Wort langsam aussprechend: »Weißt du, wessen Frau das ist, alter Junge?« Ich weiß es nicht, für mich ist es Li Tschin. Ich bin auch nicht sonderlich neugierig. Holly sagt leise, obwohl er wahrlich Vorkehrungen getroffen hat, daß wir nicht belauscht werden können: »Mao Tse-tungs Frau in Jenan. Wir haben ein Foto von Snow. Es ist dasselbe Gesicht. Ich habe es ge ahnt, und ich habe mich nicht getäuscht.« Tags darauf besucht er Chi-Pao-Lily in der Nanping Lu. Was er mit ihr bespricht, erfahre ich nur bruchstückweise aus Bemerkun gen, die er später macht. Ich sehe Lily nicht wieder. Schließlich ge rate ich mit Holly beinahe noch in Streit. Er rückt zögernd damit heraus, daß seine Einwilligung, die er mir zum Abfassen von einer Art
Tagebuch
gab,
im
Lichte
künftiger
Entwicklungen
problematisch erscheint. Er macht mich eindringlich aufmerksam, daß meine Aufzeichnungen — solange sie sich hier in China befinden — mir erhebliche Gefährdungen einbringen können. Völlig unbegründet ist seine Sorge nicht: China ist ein Land, in dem man nur sehr schwer etwas vor den Mitmenschen verbergen kann. Aber er gesteht mir zu, daß diese Aufzeichnungen ganz selbstverständlich in sehr ferner Zeit einmal Dokumente von großer Bedeutung sein könnten. Nicht zuletzt sieht er ein, daß in meiner Situation die Verständigung mit mir selbst für mich oft die einzige Art sein könnte, auf die ich mich gegen wachsende Blindheit für das, was mich umgibt, immunisieren kann. Ich lasse nicht über die Einstellung meiner Aufzeichnungen mit mir reden. So kommen wir zu einem Kompromiß. Ich schreibe auf 94
und sichere das Aufgeschriebene nach allen Regeln der Kunst. Aber ich nutze jede Möglichkeit, meine niedergeschriebenen Gedanken aus dem Lande zu befördern, und zwar auf Wegen, die Holly für den ständigen Kontakt mit mir auch in ferner Zukunft schaffen wird. So wird er, wie bisher, alles lesen und aufbewahren, was ich schrieb. Er nimmt es auf seine eigene Kappe, das Büro darf davon nichts erfahren, es würde nie seine Einwilligung geben, mich notfalls sogar zurückberufen. Freunde, die wir sind, besiegeln wir den Entschluß mit einem reichlichen Quantum Whisky. Am nächsten Morgen sitzen wir wieder beisammen und spielen Möglichkeiten durch, die sich in Jenan ergeben können ...
Wo die Sonne blaß ist Order an alle Teilnehmer der Mission >Dixie< 95
20.7.1944 Die Mission trägt die offizielle Bezeichnung >Alliierte Beobach ter- und Beratermission<. Jeder Teilnehmer hat sich so zu verhalten, daß dieser Status für die Partner erkennbar ist. Wir betrachten die kommunistischen Kräfte in dem Grenzgebiet der Provinzen Schensi-Kansu-Ninghsia als potentielle Verbündete im Kampf gegen die Japaner und werden unter diesem Ge sichtspunkt Verhandlungen über Fragen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe führen. Die Beziehungen der in dem bezeichneten Gebiet konzentrierten Kräfte mit der chinesischen Zentralregierung in Tschungking sind gespannt. Für jeden Teilnehmer der Mission >Dixie< ergibt sich daraus die taktische Notwendigkeit, Parteinahme für die eine oder andere Seite nach Möglichkeit zu vermeiden. Unsere Verhandlun gen beziehen sich nicht auf innerchinesische Angelegenheiten, sie haben die Stärkung der militärischen Zusammenarbeit im Kampf gegen Japan zum Ziel. Vereinbarungen, die in die Zukunft nach der Niederwerfung Japans zielen, sind nicht Sache einzelner Mitglieder der Mission. Persönliche Bekanntschaften sind nach Möglichkeit anzuknüp fen. Die kommunistischen Partner sollen den Eindruck bekommen, sie haben es mit Besuchern zu tun, die keine politischen Vorurteile hegen. Sympathien mit der chinesischen Welt, mit Sitten und Ge bräuchen sowie für die Hingabe und die Anspruchslosigkeit der Kommunisten sollen geäußert werden. Vergleiche mit den Lebensgewohnheiten der Tschungkinger Regierung und ihrer Beamten sind zu vermeiden. Im persönlichen Verkehr sind Freundlichkeit und Aufgeschlos senheit zu zeigen. Da die Lebensbedingungen in Jenan karg sind, ist 96
es nötig, alle gewohnten Ansprüche zurückzunehmen. Intimkontakte mit Frauen sind zu unterlassen, sofern sie lediglich kurzfristigen Charakter tragen. Die Absicht, langfristige Bindungen einzugehen, ist dem Leiter der Mission zu melden, bevor persönli che Entscheidungen getroffen werden. In allen Fragen, deren Ent scheidung individuell nicht möglich ist, muß unbedingt der Leiter der Mission konsultiert werden. Aufgezeichnet nach der Verlesung: S. R.
24.7.1944 Von der Maschine aus gesehen gleicht das Land da unten einer graubraunen, verkarsteten Wüste. Es gibt nicht die >Zuckerhut berge< des Südens, die Anhöhen haben das Aussehen schmutziger, räudiger Höcker, manchmal sind sie tafelförmig, abgebröckelt ringsum, ihre Oberfläche wirkt wie bemoost. Tiefe Flußläufe unter brechen das öde Einerlei. Sie sind vielfach verzweigt, ausgeufert, gelb und lehmig, blinken nicht im Licht. Ansiedlungen sind hier kaum auszumachen, aber sie sind da. Nur sind sie ebenso schmutzig, farblos wie die gesamte Umwelt, sie verschwinden in dem Einerlei aus Erde und staubbedecktem Grün. Dies ist die Landschaft, in der Jenan liegt, die Hauptstadt des Reiches der Roten, gleichzeitig eines der ältesten Siedlungsgebiete Chinas. Selbst aus unserer Höhe von annähernd dreitausend Metern spürt man, da unten sind Armut, Hunger und Dreck, die Urplagen Chinas, lebendig, regieren sie das Leben. — Aus den Materialien Hollys weiß ich, daß sich 1926 hier eine er ste >rote Zelle< organisierte. Enthusiasten der Revolution, zweifellos inspiriert vom russischen Modell, machten den Versuch, 97
das stumpfe Bauernvolk zur Aktion zu bewegen. Später fanden hier auch die Reste der von Mao Tse-tung angeführten Bauernrebellen Zuflucht, etwa 8000 von ehemals 100000, nach ihrem legendären >Langen Marsch<. Sie kamen aus den Stützpunkten in Kiangsi, die sie verloren hatten, weil sie nicht imstande gewesen waren, der ungeheuren Überlegenheit der angreifenden Truppen Tschiangs zu widerstehen. Sie waren erschöpft, ausgehungert, krank, aber es gelang Tschiangs Truppen trotzdem nicht, sie zu überwältigen. Er gab es vorläufig auf, riegelte das Gebiet nach Süden ab und wartete. Zeitweise griff er wieder an, stets ohne Erfolg. Und in dem Gebiet, das nach Tschiangs Ansicht einen Fremdkörper im Leibe Chinas darstellte,
etablierte
Mao
Tse-tung,
der
inzwischen
das
Oberkommando übernommen hatte, sein Regime. Seine persönliche Macht unter den roten Rebellen war seit dem >Langen Marsch< stark angewachsen. Er hatte den Verlust der Kiangsi-Stützpunkte Leuten angekreidet, die angeblich innerhalb der Kommunistischen Partei eine >falsche Linie< verfolgten. Nun baute er seine Position aus. Ich verfüge über Beschreibungen dieses Mannes, die Edgar Snow,
Korrespondent
einiger
amerikanischer
Blätter
und
Vertrauensmann des State Departments (übrigens auch persönlicher Vertrauter Roosevelts), angefertigt hat, als er das Gebiet besuchte. Obwohl Snows Beschreibungen den Eindruck von Exaktheit machen, behalte ich mir ein eigenes Urteil vor. Jedenfalls ist Mao Tse-tungs Autorität in dem unter unserer Maschine liegenden Gebiet so gut wie unbestritten, er ist der Mann, mit dem wir zu verhandeln haben. Der > Flugplatz < in Jenan besteht aus einem Plateau, dessen Boden festgestampft, graslos ist. In der Länge reicht es für unsere Dakota entweder nicht ganz aus, oder der Pilot macht einen Fehler beim Anflug, jedenfalls muß er nach der Landung plötzlich so stark 98
abbremsen, daß unsere Maschine die Nase senkt und seitwärts aus bricht, wobei wir alle ziemlich unsanft aus unseren Sitzen gerissen werden. Einer der Propeller ist mit dem Boden in Berührung gekommen, größerer Schaden entsteht aber nicht, der Pilot beruhigt uns lachend, das sei ihm auf anderen Landeplätzen schon des öfteren passiert. Die erste Gruppe der Mission >Dixie< schickt sich an zum Schritt ins Ungewisse: Colonel David D. Barrett, Leiter des Unternehmens, enger Freund General Stilwells, der bekanntlich mit den Kommunisten sympathisiert, soweit es ihre Fähigkeit zu militärischen Leistungen betrifft. Er besitzt China-Kenntnisse, versteht
auch
die
Sprache
einigermaßen.
Von
seinen
siebenundzwanzig Army-Jahren hat er die meisten auf den Philippinen und in China verbracht, bei der 15. Infanteriedivision in Tientsin, aber auch einige Jahre als stellvertretender Militärattache in Peking. Jetzt kommt er von der Army-Aufklärung. Captain Charles Stelle war bis zu seiner Berufung zur Army Professor für Orientalistik in Harvard. Er wuchs in Peking auf, wo seine Eltern lebten, spricht und schreibt wie ich chinesisch und hat erhebliche Sympathien für die Leute in Jenan. Für einige Zeit hat er im OSS-Hauptquartier in Washington die China-Abteilung geleitet. Später gehörte er zur Tschungkinger OSS-Station. Captain John Colling ist ebenfalls ein erfahrener Chinakenner. Gleichzeitig der von uns, der am längsten im OSS tätig ist. Seine Familie lebte länger als zwanzig Jahre in Tientsin, wo der Vater Offizier der Army war (des amerikanischen Kontingents, das dort seit dem Boxer-Aufstand residierte). Brooke Dolan ist vielleicht die farbigste Figur unter uns. Er hat sich seit seiner Jugend in Asien sozusagen herumgetrieben, hat seine Reisen mit Aufträgen geografischer Zeitschriften oder 99
Forschungsgesellschaften
finanziert
und
wurde
vom
OSS
>entdeckt<, als es 1942 eine militärisch-diplomatische Mission nach Tibet schickte. Es lag auf der Hand, daß Tibet eine strategische Position von nicht zu unterschätzender Bedeutung darstellte, und unser State Department trug dem sehr jungen geistlichen Oberhaupt der Tibeter, dem Dalai Lama seine Unterstützung an. Es verband damit den Zweck, Aufklärungsarbeit über eine mögliche Versorgungslinie zu leisten, die von Indien über Tibet nach China führen sollte. Der Dalai Lama (er war 10 Jahre alt!) empfing die Abgesandten der USA freundlich und begann sogleich mit dem 3000-Dollar-Chronometer zu spielen, den Präsident Roosevelt ihm mitgeschickt hatte. Die Besprechungen mit sachverständigen tibetischen Würdenträgern liefen schließlich dar auf hinaus, daß zur Realisierung der ursprünglichen Idee eine Funk station in Lhasa hätte errichtet werden müssen. Hier aber erhob Tschiang Kai-shek ernste Einwände. Er betrachtete Tibet als sein Hoheitsgebiet, wenngleich er dort nicht imstande war, zu >regieren<. Und gegen eine Funkstation in diesem Gebiet war er grundsätzlich, bevor er nicht an Ort und Stelle die absolute Kontrolle ausüben konnte, auch über die Funkstation — Krieg oder nicht. So verlief die Tibet-Mission im Sande, wenn man davon absieht, daß Dolan nach seiner Rückkehr in einem Memorandum stärkstens darauf drängte, die Selbständigkeitsbestrebungen der Tibeter gegenüber Tschiang von amerikanischer Seite her zu unterstützen. Eine Sache, die der Überlegung wert ist. Trotzdem halte ich Dolan eher für den Typ des geriebenen Abenteurers, seine politischen Fähigkeiten und sein Urteilsvermögen in dieser Hinsicht scheinen begrenzt zu sein. John Service ist da schon von anderem Kaliber. Als Sohn eines Missionars ist er in Tschengtu geboren und aufgewachsen wie ich. 100
Offiziell ist er eine Zivilperson, obwohl er ebenfalls die Uniform eines Captains trägt. Seine Karriere vollzog sich im State Depart ment, zuletzt war er Botschaftsrat in Tschungking. Er ist ein harter Kritiker Tschiangs, tendiert zu der Idee Stilwells, wenigstens die militärische Potenz der Kommunisten zu nutzen, und jeder von uns sieht in ihm den Mann, der innerhalb unserer Gruppe die weitestge henden Befugnisse hat, obwohl Barrett der Chef ist. Über Melvin Casberg, der uns als Arzt zugeordnet ist, einen Air Force-Major,
ist
wenig
zu
sagen,
ebenso
über
den
militärtechnischen Mitarbeiter dieses ersten Kontingents der >Dixie<-Mission, einen Leutnant, der für praktische Fragen unseres Aufenthaltes und die Aufrechterhaltung der Funkverbindung mit Kunming verantwortlich ist. Ich selbst fungiere offiziell als Dolmetscher. Holly hat mir Nachricht zukommen lassen, er würde über
eigene
Kanäle
dafür
sorgen,
daß
>interessante
Kontaktpersonen< mich ansprechen werden. Der Empfang ist überwältigend, und er ist, was man auf den er sten Blick erkennt, sorgfältig einexerziert. Eine Militärformation mit Musikkapelle ist angetreten. Rote Fahne. Ihr gegenüber drängt sich eine Menge von Zivilisten, die im Gegensatz zu den ordentlich gekleideten Soldaten den Eindruck einer Ansammlung von Lumpenbündeln macht. Vor der Maschine die Honoratioren: ein großer, hagerer Mann in dunkler Kleidung mit Ballonmütze — Mao Tse-tung, gelassen lächelnd, die Ruhe selbst, wie es scheint, aber etwas ungelenk wirkend. Sein Händedruck ist kraftlos, wie ich zu meiner Überraschung spüre. Tschu Teh, von Fotos, die Edgar Snow uns lieferte, mir ebenfalls bekannt, grinsend, gemütlich >Hao, hao ...< murmelnd, in Uniform ohne Rangabzeichen und mit einer Kappe, die aus japanischer Beute zu stammen scheint. Und dann tritt aus dem Hintergrund 101
Tschou En-lai auf uns zu, gemessenen Schrittes, wohl darauf achtend, daß er nicht in den Verdacht gerät, sich in den Vordergrund zu spielen. Ich kenne ihn von Fotos, habe ihn auch in einer Wochenschau gesehen. Ein ernster Mann, klein, mit asketischem Gesicht, ganz Asiate, sein Lächeln flammt auf, während er eine Hand drückt, und erlischt sofort wieder, bis er den nächsten von uns begrüßt. Ihm zur Seite ein junger Mann, der sich uns in fließendem, etwas nach Oxford klingendem Englisch als Tschen Dja-kang vorstellt. »Bevollmächtigter Dolmetscher bei den Gesprächen der hohen Gäste mit den Führern der Kommunistischen Partei Chinas.« Ich kann es mir nicht verkneifen, ihm in fließendem, besonders floskelreichem Mandarin mitzuteilen, daß ich die gleiche Funktion >... für unsere hocherfreute kleine Gemeinschaft auszuüben habe und es als eine unverdiente Würdi gung meiner bescheidenen Stellung ansehen würde, wenn er mich nicht mit >Captain Robbins< anredete, ich hätte es gern, wenn er mich einfach >Sid< nennt, wie alle meine Freunde das täten. Er ver beugt sich tief, will etwas sagen, aber da gibt der Anführer, Mao, ein Zeichen. Schweigen entsteht. Dann intoniert die Kapelle etwas, das sich bei einiger Phantasie wie das >Star Spangled Banner< anhört. Wir nehmen die Hände an die Mützenschirme, behalten sie auch da, bis die zweite Melodie verklungen ist, eine Mischung aus chinesischer Opernmusik und Marschrhythmus. Anschließend bricht die Hölle los: Alles, was sich auf der Landepiste versammelt hat, klatscht, jubelt, brüllt Grußworte für uns. Wir sollen zehntausendfaches Glück haben, wir neun Amerikaner, die erste Hälfte von >Dixie<. Interessant ist eine Demonstration, die sich unmittelbar danach vollzieht. Unsere Maschine steht schief am Rande der Piste. Ich höre den halblaut gesprochenen Rat eines chinesischen Militärs aus 102
Maos Begleitung, mit dem er sich an Barrett wendet: Es wäre ratsam, das Flugzeug sofort wieder startklar zu machen, Jenan sei zwar relativ sicher, aber man müsse trotzdem immer wieder mit japanischen Luftangriffen rechnen. Barrett wendet sich etwas ratlos an den Piloten, doch da verständigt sich jener chinesische Militär knapp mit einem seiner Begleiter, und dann stehen wenige Sekunden später Dutzende von Chinesen mit Seilen an der Dakota, schlingen die Seile um das Fahrgestell und ziehen die Maschine fast mühelos, wie es scheint, zurück auf die Piste. Mao sagt etwas auf chinesisch zu Barrett, ich bin zu weit entfernt, und so kann ich es nicht verstehen, außerdem spricht Mao den etwas schwerfälligen Hunan-Dialekt, an den ich mich erst werde gewöhnen müssen. Aber sogleich, als ich näher trete, flüstert mir Dolmetscher Tschen zu: »Der Genosse Vorsitzende sagt, es gibt kein Problem, das durch die Massen nicht zu lösen wäre. Eine sehr tiefgründige Feststellung, meinen Sie nicht auch?« Es klingt seltsam ehrfürchtig. Dann beginnt Mao laut zu sprechen. Sofort wird es still. Der Chef der Jenaner Kommunisten begrüßt uns offiziell. Er sagt, daß die amerikanischen Alliierten (das sagt er tatsächlich: Alliierten!) nach Jenan gekommen sind, sei ein Zeichen der wachsenden Einheit gegen Japan. Gemeinsam müsse der Feind bezwungen werden, alle Voraussetzungen dafür seien günstig. Jenan werde sich Mühe geben, im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten unser Leben so angenehm wie möglich zu machen. Die Gespräche zwischen uns und der Kommunistischen Partei Chinas werden, so sagt Mao wörtlich, historische Bedeutung haben. Nach ein paar üblichen
Höflichkeitsformeln
kann
Barrett
dann
seinen
Begrüßungsspruch aufsagen. Er beschränkt sich auf einige Bemerkungen über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und 103
betont, daß es sich bei uns um Männer handelt, die den Krieg kennen und die Misshelligkeiten, die er mit sich bringt, nicht fürchten. Auch er hofft, so sagt er, auf positive Ergebnisse der Gespräche. Auflösung folgt. Die zur Absperrung eingesetzten Soldaten, alle samt in schmutzigbraunes Khaki gekleidet, drängen die Zivilisten vom Platz, die Militärformation marschiert ab. Wir sind, so erfahre ich vom Dolmetscher, zum Empfang ins Zentralkomitee der Kom munistischen Partei Chinas eingeladen. Wo es sich befindet, weiß ich nicht. Vielleicht in der Stadt? Aber die machte aus der Luft eher den Eindruck eines Schutthaufens, bis auf eine ziemlich intakte Pa gode. Also heißt es abwarten. Bevor ich noch weitere Überlegungen anstellen kann, tritt der Chinese aus Maos Begleitung auf mich zu, der vor Minuten noch veranlaßte, daß man die Dakota auf die Piste zurückzerrte. Ein nicht sehr großer Mann mit Nickelbrille, hinter der zwei kalte, graue Augen den Versuch machen, freundlich zu blicken. Er öffnet seine schmalen Lippen kaum, als er mich anspricht, mit einer Stimme, die Selbstbewußtsein verrät, gelassen klingt, kühl. »Mister Robbins?« Ich nicke verwirrt. Er verzichtet darauf, mich mit meinem Dienstgrad anzureden. Ist es ein Zeichen von Geringschätzung? Oder der Versuch, meine Persönlichkeit vor mein Amt zu stellen? Die chinesische Psyche läßt beides gleichermaßen wahrscheinlich sein. Er hält mir die Hand hin. »Ich bin Kang Sheng. Es ist mir ein Be dürfnis, Ihnen für einiges zu danken, was Sie für Genossen in Tschungking tun konnten.« Ich weiß nicht, wer Kang Sheng ist. Vorsichtig erwidere ich, daß ich nur getan habe, was mir mein Gewissen eingab. »Wir wissen 104
das zu schätzen«, bemerkt er. »Übrigens wurden wir aus Tschungking schon vor einiger Zeit unterrichtet, daß Sie kommen würden. Ich möchte, daß Sie sich bei uns wie unter alten Freunden fühlen. Besonders Sie. Wir werden noch Gelegenheit haben, ausführlich miteinander zu sprechen. Wenn Sie Probleme haben, wenden Sie sich bitte direkt an mich. Ich leite die Abteilung Sicherheit im Zentralkomitee. Einer meiner Mitarbeiter wird zu jeder Tages- und Nachtzeit für Sie zu sprechen sein ...« Er hebt die Hand. Aus der Reihe der respektvoll hinter ihm Ste henden tritt ein hochaufgeschossener junger Mann und verbeugt sich leicht. Er trägt keine Kopfbedeckung, hat ein Gesicht, das mir merkwürdig vertraut vorkommt, aber noch bevor ich Überlegungen anstellen kann, sagt der junge Mann: »Ich heiße Tso Wen. Ich werde Sie auch zu Ihrem Quartier begleiten, Sir.« Er tritt zurück. Kang Sheng lächelt, wobei seine Lippen noch schmaler werden. Er spürt meine Verlegenheit: Tso Wen, das ist nach menschlichem Ermessen der Bruder oder mindestens der Halbbruder jenes Benny Tso, den Tai Li in Tschungking zu meiner Bewachung abkommandierte! Langsam sagt der Sicherheitschef: »Der Genosse Tso Wen ist einer meiner fähigsten Mitarbeiter, Mister Robbins.« Dann wird seine Stimme sehr leise, ein Flüstern beinahe nur noch: »Wollen wir uns an die Regeln halten die in unserem Metier üblich sind, mein Freund? Vergessen Sie einen gewissen jungen Mann aus Tschungking. Und wenn Sie jemals wieder in Tschungking sein sollten, dann vergessen Sie den jungen Mann, der hier in Jenan alles für Sie tun wird, was einerseits Ihre Aufgabe erleichtert und andererseits unseren Interessen dient.« Ich spüre aus dem Tonfall, wie ernst die Warnung gemeint ist, 105
spüre es auch aus dem abwägenden Blick der Augen hinter den trü ben Brillengläsern. Doch sogleich ist die Stimme wieder sanft, freundlich: »Ich bin zuversichtlich, wir werden gute Freunde sein.« Ein erneuter Händedruck. Das Gespräch ist zu Ende. Ich glaube nicht, daß meine Kameraden es überhaupt bemerkt haben. Hier hat sich in wenigen Sekunden die Zukunft angedeutet. Ich bin sehr nachdenklich, als ich mit den anderen zu einem klapprigen Lastwagen mit kastenartigem Aufbau gehe, der uns zum Zentralkomitee bringen soll. Und die von irgendwoher plötzlich heranwieselnde Figur eines kleingewachsenen Nichtchinesen, Ballonmütze auf dem Kopf, Umhängetasche über der Schulter, Leica in der Hand, nehme ich nur nebenbei wahr. Diese Figur ruft uns, bevor wir in das Auto steigen in reinstem College-Englisch zu: »Hallo Boys! Eine Aufnahme! Danke!« Jemand von den Chinesen sagt: »Doktor Ma.« »Amerikaner?« fragt Barrett interessiert. Er bekommt zur Antwort: »Doktor Ma ist Internationalist. Er dient der Revolution.« Dann fährt das Auto ab.
An Holly 2.8.1944 Jenan: Übersicht Mein allgemeiner Eindruck ist, daß die Kommunisten hier ziem lich karg leben, aber in relativer Sicherheit. Sie haben keinen Ver 106
such gemacht, Jenan aufzubauen, sondern sie haben ihre Dienststel len und Unterkünfte in winzige Siedlungen rings um die Stadt ver legt.
Im
einzelnen
befinden
sich
(auf
beiliegender
Skizze gezeichnet) folgende Dienststellen hier: Rat für wirtschaftliche Fragen — in Bei Men Wai. Leiter: Li Fu-tschun. Dieser Rat faßt die landwirtschaftlichen Produktionsteams zusammen und organisiert Saat und Ernte. Außerdem
Kontrolltätigkeit
über
eine
Menge
winziger
Manufakturen, die von den Kommunisten errichtet wurden, teils auf der Basis zuvor vorhanden gewesener Handwerksbetriebe wie Schmieden, Schuhmachereien usw. Hier produziert man jetzt in Einzelanfertigung primitive technische Geräte, aber auch Waffen, Granaten und Gewehrmunition. Reparaturen werden ebenfalls vorgenommen. An Produkten wird Salz angeboten, es gibt selbstgemachte Zündhölzer, von denen etwa jedes fünfte brennt, Messer, Tongeschirr und ähnliches. Eine verhältnismäßig leistungsfähige Produktionsstätte fabriziert aus irgendwoher geschmuggelter Baumwolle Uniformstücke und andere Bekleidung. Angehörige unserer Mission haben erfahren, daß in den höher gelegenen Gebieten um Jenan systematisch Mohn angebaut wird. Das daraus gewonnene Rohopium wird angeblich aus dem roten Gebiet herausgeschmuggelt und verkauft. Es ist anzunehmen, daß die rote Regierung damit ihre Finanzen aufbessert und Gegenstände ankauft, die hier nicht vorhanden oder anzufertigen sind. Militärisches Oberkommando — in Wangdjiaping. Soweit ich sehen konnte, ist es eine relativ kleine Dienststelle. Grund: das eigentliche Fronthauptquartier liegt im Tai-HangMassiv in Schansi. Militärischer Oberkommandierender ist Mao Tse-tung selbst, Chef des Generalstabes ist Yeh Tschien-ying. 107
Dessen engster Mitarbeiter scheint Tschu Teh zu sein, ehemaliger Kuomintang-Kommandeur, der sich bereits im Süden mit seinen Soldaten zu Mao schlug und damit dessen militärische Schlagkraft eigentlich begründete. In der Nähe von Wangdjiaping gibt es eine sogenannte Militärakademie. Es scheint, daß hier Offiziere im Schnellverfahren ausgebildet werden. Als Chef dieser Einrichtung, zu der auch Übungsplätze gehören, wird Tschu Teh genannt, ihm zur Seite operieren Peng Te-huai und Lin Piao, letzterer ein ebenfalls angeblich talentierter Truppenführer, der noch relativ unbekannt ist, lungenkrank sein soll. Einen großen Raum nehmen hier wohl politische Schulungen ein. Sie werden von verschiedenen höheren Funktionären der Partei abgehalten, auch von Mao Tse-tung selbst. Der
Zweck
ist
die
Heranbildung
einer
politisch
absolut
zuverlässigen militärischen Führungsschicht. Regierung — in Nan Men Wai. Als Chef wird Lin Bo-gu genannt, Altkommunist, sehr geachtet. Aber die Regierung ist, wie ich es verstehe, nur eine Formalität. Si cher wird sie bestimmte Verwaltungsaufgaben haben, aber sie steht unter der Kontrolle des ZK und führt lediglich dessen Aufträge aus. Ein Parlament gibt es nicht, es wurde auch wohl kein Versuch ge macht, ein solches in Umgehung einer Wahl aus >Delegierten< zu sammenzusetzen. Die Funktionäre der > Regierung < machen den Eindruck von abkommandierten Militärs. Wie überhaupt der gesamte
Apparat
hier
absolut
militärisch
organisiert
ist.
(Beispielsweise dürfen die Beamten nur zu festgesetzten Zeiten eine Arbeitspause machen, es ertönt dann der Pfiff eines Postens. Beim nächsten Pfiff haben die Beamten wieder vor ihren Papieren zu sitzen.) Die Regierungsgewalt übt also ausschließlich die ebenfalls nach 108
streng militärischen Gesichtspunkten organisierte Kommunistische Partei aus, sie verteilt lediglich Verwaltungsaufgaben an zivile Fachleute. Parteischule (oder >Akademie<) in Yangdjialing. Hier werden Führungskader für die höhere Ebene ausgebildet. Der Chef soll ein Mann sein, der sich längere Zeit in Moskau auf hielt, vermutlich, um dort zu studieren. In Anbetracht der Tatsache, daß die Führungsposten im KP-Gebiet ohnehin überbesetzt erschei nen, geht meine Vermutung dahin, daß man Funktionäre für eine sehr ferne Perspektive ausbildet, nämlich wenn es der KP gelingt, größere Gebiete des Landes zu erobern. Finanzamt — in Hsinshitschang. Hier existiert eine Bank, die sich >Schen-Kan-Ning< nennt, in Zusammenfügung der Abkürzungen für die drei Provinznamen Schensi, Kansu und Ninghsia. Diese Bank gibt Geldscheine für das Gebiet aus. Es scheint aber über die Grenzen des kommunistischen Gebietes hinaus einen schwunghaften Handel zu geben, der sich auch in anderen Währungen vollzieht, vornehmlich mit den im Nor den residierenden Kriegsherren, die das KP-Gebiet als einen will kommenen Puffer gegen allzu direkte Einmischung Tschiang Kai sheks schätzen und daher tolerieren. Auf diesem Wege gelangen gewisse Mengen von Lampenöl und anderen dringend benötigten Gütern hierher. Die Kommunisten zahlen auch in Naturalien, bei spielsweise Salz und Rohopium. Dieser Schleichhandel steht unter strenger
Aufsicht
der
>Schen-Kan-Ning<-Bank
und
der
Wirtschaftsverwaltung. Sicherheitsbehörde — in Tsaoyuan. Hier hat Kang Sheng sein Hauptquartier. Mir wurde bedeutet, daß Kang Sheng der für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Mann in der Parteiführung ist und somit eine Art Doppelfunktion 109
ausübt, sowohl als einer der engsten politischen Mitarbeiter Mao Tse-tungs im Parteiapparat wie auch als Organisator dessen, was man >Abwehr< nennen könnte. Mao Tse-tung selbst hat in Tsaoyuan eine Art Ausweichquartier, wohl aus Sicherheitsgründen. Dabei handelt es sich wie bei Maos offiziellem Quartier in Yangdjialing um eine Höhle im Hang. Kang Sheng ist absolut einig mit Mao, er scheint überhaupt dessen verlässlichster Mann zu sein, obwohl er sich nicht in den Vordergrund spielt, jedenfalls ist sein Einfluß dem Tschou En-lais gleich, dem offiziell die Zusammenarbeit mit unserer Mission obliegt. Kang Sheng scheint indessen von vielen Leuten hier gefürchtet zu werden. Nach meiner vorläufigen Einschätzung ist er ein kühler Rechner, ein Mann ohne Emotionen und auch ohne Illusionen. Ich höre, daß er wenig Wert auf persönliche Freundschaften legt und daß manche der hier ansässigen Intellektuellen ihn heimlich einen >Bluthund< nennen. Das hängt vermutlich auch mit einer politischen Aktivität zusammen, die hier offenbar seit 1941 läuft, unter der Bezeichnung >Tscheng Feng<. Ich komme darauf später zurück, meine Kenntnisse darüber sind noch spärlich. Lazarett — in Beiyanshui. Hier gibt es ein großes Lazarett, neben einigen ambulanten >Ver bandsplätzen< die einzige Einrichtung dieser Art. Chefarzt ist ein Russe, den Moskau entsandt hat. Er scheint fähig zu sein und gilt als angesehener Mann. Außer diesem Russen gibt es hier auch noch eine russische Funkstation, die mit zwei Mann besetzt ist. Es soll sich dabei um Militärjournalisten handeln. (Russische Waffen sind nirgends zu sehen, die Waffen der Kommunisten sind meist japani schen Fabrikats, wohl erbeutet.) Offiziell gibt es keine russische Mission in Jenan, die Sowjets scheinen sich streng an ihren Vertrag 110
mit der Kuomintang zu halten. Aber ich bin überzeugt, daß von Mao Tse-tung über die russische Funkstation ganz sicher eine Verbindung nach Moskau gegeben ist. Die zwei russischen Journalisten sind ruhige, gelassen wirkende Männer, sicherlich ausgebildete Abwehrleute, aber sie benehmen sich uns gegenüber freundlich, wenngleich eine gewisse Zurückhaltung spürbar ist. Kunstakademie — in Bei Men Wai (>Lu Hsün Akademie<). Sie bildet offiziell Kader für kulturelle Aufgaben aus. Hauptsäch lich wird dort aber dem Vernehmen nach das gelehrt, was Mao Tsetung in seiner programmatischen Rede postulierte (siehe meine Analyse v. 13.10.1943). Es sind unter den Teilnehmern der Lehrgänge Künstler aller Art und Intellektuelle überhaupt anzutreffen. Die >Bildung< scheint sich auch auf Professoren der verschiedensten Fachdisziplinen zu erstrecken, sowie auf Lehrer. Lebensweise: In der so gut wie total zerstörten Stadt gibt es einige hundert ehe malige Einwohner. Man läßt sie in den Resten der Bauten hausen. Die
anderen
sind
evakuiert,
größtenteils
werden
sie
als
Arbeitskräfte in den um Jenan herum und im übrigen Gebiet verstreut liegenden Produktionsstätten verwendet. Es gibt eine Abart von Kindergärten, in denen im wesentlichen ganz kleine Kinder betreut werden. Für größere sind primitive Schulen vorhanden. Die meisten Bewohner des Gebietes unmittelbar um Jenan hausen in Höhlen, die in die Abhänge gegraben sind. Das gilt ebenso
für
die
kommunistischen
Funktionäre
und
das
Militärpersonal. Es finden sich sehr große Stollen, die als Versammlungsräume dienen, und relativ luxuriös ausgestattete, die für höhere und höchste Funktionäre vorgesehen sind. Keine Elektrizität. Wasser aus Brunnen, ausreichend. Auf Hygiene wird streng geachtet. Offenbar keine Seuchen oder ansteckenden Krank 111
heiten. Gelegentlich Läuse. Nahrungsmittel knapp, meist werden Fladen aus gestampfter Hirse gegessen. Fleisch ist rar. Auch Fisch. Trotz dieser Zustände gibt es keine Zeichen von Unzufriedenheit oder Aufruhr. Ich führe das einerseits darauf zurück, daß die Leute früher schon unter vergleichsweise schlimmeren Bedingungen gelebt haben und sich nun hier bei allen Entbehrungen wenigstens sicher fühlen. (Die Höhlen bieten kompletten Schutz gegen Luftangriffe.) Andrerseits tut die unermüdliche Indoktrination durch die KP das ihrige. So trifft man oft auf Leute, die eine Art messianisches Bewußtsein offenbaren: Wir sind das echte, das eigentliche China, wir werden China durch alle Schwierigkeiten in eine bessere Zukunft führen. — Das steigert sich bis zu einem ausgesprochenen Elitebewußtsein, wie man es vor allem unter höheren Funktionären findet. Diese betrachten die Kuomintang als einen Haufen korrupter, völlig demoralisierter Lumpen, weil sie mit allen ihren modernen Waffen nichts gegen die Japaner tut. Sie leiten eine moralische Überlegenheit daraus ab. Versteckt begegnet man dem Vorwurf, daß die Russen keine Waffen in das KP-Gebiet liefern. Ich habe den Eindruck, daß hier von offizieller Seite keinerlei forcierte prosowjetische Propaganda betrieben wird. Ob das Taktik uns gegenüber ist oder ob es dafür tiefere Gründe gibt, kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Jedenfalls werden wir hier als >Alliierte< regelrecht gefeiert. Es gibt nicht den Schimmer einer feindseligen Haltung. Unser Verhältnis zu Tschiang wird in Gesprächen höflich übergangen. Innenpolitik: Auffällig ist die von mir bereits erwähnte Bewegung >Tscheng Feng<, die nach meinen Informationen seit dem Frühjahr 1941 läuft. (>Tscheng Feng< wörtlich mit >Korrektur des Arbeitsstils< zu übersetzen, wäre irreführend, die Kampagne hat mit dem 112
Arbeitsstil der hiesigen Organe weit weniger zu tun als mit ihrem Inhalt.) Sie ist im Aufwand durchaus vergleichbar mit einer Wahlkampagne in den Staaten, allerdings verfolgt sie ein anderes Ziel, und es werden völlig andere Mittel verwendet. Im folgenden gebe ich wieder, was ich von Tso Wen, dem persönlichen Vertrauten Kang Shengs über diese > Bewegung < erfuhr, wobei ich zu berücksichtigen bitte, daß die Mitteilungen Tso Wens gewiß von
Kang
Sheng
gesteuert
sind.
Trotzdem
bleiben
sie
aufschlußreich, bis wir mehr erfahren. — Mao Tse-tung, so heißt es, hatte bereits in den zwanziger Jahren bemängelt, daß die Zugehörigkeit seiner Partei zur Kommunistischen Internationale auch die chinesischen Kommunisten disziplinarisch an Beschlüsse band, die er im einzelnen für fragwürdig hielt. Während die Kom munistische Internationale dazu riet, eine Art Einheitsfront von Ku omintang und Kommunisten zu schaffen, machte Mao — in Abkehr von den Beschlüssen der Internationale — seine eigene Politik auf, die der absoluten Konfrontation gegenüber Tschiang. Er begründete das
damit,
daß
er
Tschiang
Kai-sheks
offenkundigen,
pathologischen Kommunistenhaß als Hindernis für jede ernsthafte Zusammenarbeit bezeichnete, wofür ihm das tatsächliche Verhalten Tschiangs willkommene Argumente lieferte. Wie man weiß, führte diese Konfrontationspolitik dazu, daß Mitte der dreißiger Jahre die kommunistischen Kerngebiete in Kiangsi schließlich aufgegeben werden mußten und Mao mit dem Rest seiner Getreuen den sogenannten > Langen Marsch < begann, der hier in Jenan endete, eine klassische Ausweichbewegung. Während dieser Zeit hatte Mao ständig Auseinandersetzungen mit der sogenannten »Moskauer Gruppe<, deren Kern nach Tso Wens Angaben 28 Leute umfaßte und deren intelligentester Vertreter ein gewisser Wang Ming war. Dieser warf Mao Verrat am 113
Internationalismus vor, während Mao Wang Ming und dessen Parteigänger als Illusionisten bezeichnete, die eine >falsche Linie< verträten;
die
von
Tschiang
geschaffene
Realität
der
Kommunistenverfolgung untermauerte seine These. Wang Ming selbst lebt zwar heute in Jenan, aber er hat praktisch keinen Einfluß mehr. Außerdem soll er sehr krank sein. Er und seine Freunde wurden gelegentlich sogar als >Vertreter fremder Interessen in der KP Chinas< bezeichnet, was ich höchst aufschlußreich finde. Als Hitler die Sowjetunion angriff, besaß Mao Tse-tung bereits die unumschränkte
Macht
in
Chinas
kommunistischer
Partei.
Allerdings hatte sich für ihn inzwischen ein anderes Problem erge ben: Die Partei brauchte, wenn er sie schon auf einen eigenen Weg brachte, auch eine eigene Doktrin. Er ging daran, sie auszuarbeiten. Dazu hatte er in Jenan Zeit. Außerdem beschäftigte er einen schreibtüchtigen
Intellektuellen
namens
Tschen
Po-ta
als
persönlichen Sekretär. Wie man unter vorgehaltener Hand hört, äußerte Mao lediglich die Hauptgedanken und überließ es Tschen Po-ta, sie zu formulieren, worauf er dann das Endprodukt einer Redaktion unterzog. (Diese Version stammt von einem Kursanten der Kunstakademie >Lu Hsün<, er äußerte sie bei einem Zusammensein mit Barrett von Mann zu Mann. Obwohl er um diese Zeit bereits eine gewisse Menge Whisky aus Barretts Beständen getrunken hatte, ist seine Äußerung nicht völlig von der Hand zu weisen.) Mao Tse-tung machte übrigens bei der Ausarbeitung der neuen Doktrin aus der Not eine Tugend: Etwa 70% seiner Anhänger sind Bauern ohne jegliche nennenswerte Bildung. Nur 15 % sind Intellektuelle. Der Anteil der Arbeiter ist noch geringer. Daraus leitete Mao den theoretischen Schluß ab, daß die chinesische Revolution, wenn sie siegen will, sich hauptsächlich auf die Bauern 114
zu stützen hat. Das allerdings steht im Widerspruch zur klassischen kommunistischen Lehre, nach der die Arbeiter die führende Rolle in der Revolution zu spielen haben. Dies wurde offenbar auch von Maos
Gegenspielern
erkannt,
es
kam
zu
neuen
Auseinandersetzungen über die Linie der Partei. Sie scheinen noch nicht völlig beendet zu sein. Mao seinerseits warf zunächst einige theoretische Arbeiten auf den Markt, hier gedruckt, in einer primitiven Druckerei. (Ich füge Exemplare davon bei, soweit ich sie erlangen konnte. Ihre Übersetzung dürfte lohnend sein.) Es sind: >Vorwort zu Untersuchungen der Verhältnisse im Dorf<, >Gegen die Bücherverehrung<, >Über den Widerspruch^ >Unser Studium umgestalten^ >Den Arbeitsstil der Partei verändern<, >Gegen den Parteischematismus<, >Reden in Jenan übe Literatur und Kunst< (identisch übrigens mit der Substanz des mir seinerzeit übersandten Stenogramms) und > Einige Fragen der Führungsmethoden <. Diese Schriften haben einige Hauptakzente, die für Maos Politik bestimmend sein dürften: Starke Betonung des Umstandes, daß ein jedes Land bei der kommunistischen Revolution seinen eigenen Weg zu gehen habe; China habe hierfür sehr spezifische Bedingungen, die es zu beachten gelte. Orientierung auf die Bauern als entscheidende revolutionäre Kraft in China. Dabei wird die >Arbeiterklasse< zwar oft erwähnt, über die Städte mit ihrer Arbeiterbevölkerung und das dort existie rende Subproletariat gibt es jedoch lediglich knappe Hinweise. Darstellung der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Flügel in der Partei, der Politik grundsätzlich im Kontext mit Mos kau und der ehemaligen Kommunistischen Internationale machen wollte, als >Kampf gegen die falsche Linie in der Parten. (Anmer kung: Für uns ergibt sich daraus, daß Mao unbestreitbar der einzige 115
potente Partner auf kommunistischer Seite ist: er hat tatsächliche Macht. Übrigens geht er sehr vorsichtig vor. Die im vergangenen Jahr erfolgte Auflösung der Kommunistischen Internationale hat seine Bestrebungen erleichtert. Er kann jetzt eigene Politik machen. Verbal distanziert er sich in der Öffentlichkeit weder von der Inter nationale noch von Moskau, er zollt ihnen sogar gedämpften Beifall,
der
allerdings
stets
kritisch
akzentuiert
ist.
Aus
Nebenbemerkungen von anderen Funktionären geht indessen folgende Einstellung hervor: Wir haben immer als chinesische Kommunisten unsere eigene Politik betrieben, wir wußten immer, was für uns richtig war, um das zu erkennen, brauchten wir die Komintern nicht.) Maos Bestreben, die Partei >militärisch< zu organisieren, ist ab lesbar. In diesem Sinne ist die KP Chinas mit keiner der uns be kannten
politischen
Parteien
vergleichbar,
sie
ist
streng
zentralistischorganisiert und kein Organ von Meinungsbildung, sondern ein Instrument, das vom Zentrum gebildete Meinungen aufnimmt und von dort gegebene Zielstellungen >nach untern durchsetzt. Mao benutzt für die Technik der Parteiführung den Ausdruck >Massenlinie<. Offiziell soll danach die Parteiführung die >Meinung der Massen< erforschen und auf der Basis des Erforschten dann Maßnahmen festlegen, die wiederum von den Massen durchgeführt werden. Vermittels dieser Technik ist es natürlich möglich, eine Partei äußerst stark zu manipulieren, indem die Führung nämlich bei jeder von ihr erlassenen Maßnahme erklärt, es handle sich um das Ergebnis der Erforschung der Massenmeinung. Niemand an der Parteibasis hat vermutlich die Möglichkeit zu kontrollieren, ob das tatsächlich so ist. Nach der >geistigen Offensive< durch die von mir genannten Schriften, die hier dem Vernehmen nach jedermann buchstäblich 116
eingepaukt wurden, setzte Mao >Tscheng Feng< in Gang. Meiner Einschätzung nach hat diese Kampagne, die noch anhält, folgende hauptsächlichen Ziele: Einschwörung großer Mengen von Funktionären auf unbedingte Treue zu Mao Tse-tung und gleichzeitig auf die Ablehnung dessen, was >falsche Linie< genannt wird. Besonders intensive Beschäftigung mit Leuten, die nicht zum bäuerlichen Kern der hier versammelten Revolutionäre gehören oder die erst später nach Jenan kamen. Das geht so vor sich: Jeder hat über seinen gesamten bisherigen Lebensablauf ausführliche Aufzeichnungen zu schreiben (oder schreiben zu lassen), wobei der Schwerpunkt auf den politischen Ansichten und der bisherigen poli tischen Tätigkeit liegt, bis hin zu Bekanntschaft mit Ausländern und der Lektüre fremdsprachiger Bücher. In sogenannten >Kampfver sammlungen< werden diese Aufzeichnungen dann verlesen und zur Debatte gestellt. Der Betreffende wird meist scharf kritisiert und hat Selbstkritik zu üben. Das geht bis in Details seines Intimlebens hin ein. Erst wenn der Betreffende die Versammlung davon überzeugt, daß er von nun an ein treuer Kämpfer für die Ziele Mao Tse-tungs sein wird, ist er von weiteren Belästigungen befreit. Sein selbstge schriebenes (oder diktiertes) Dossier wird von Kang Shengs Dienst stelle verwahrt. Ergibt sich bei den Versammlungen kein befriedi gendes Ergebnis, kann es zu Bestrafungen kommen. Es werden kör perliche Schikanen angewendet. Meist wird in solchem Falle der >Bestrafte< nachträglich als >Kuomintang-Spion< entlarvt, und dann ist die Todesstrafe fällig. Es gibt — streng abgeschirmt — Haftlager .Über die hier beschriebene Praxis muß es in der Vergangenheit
in
der
Führungsgruppe
um
Mao
Meinungsverschiedenheiten gegeben haben. Mao hat zeitweise mildernd eingegriffen, Kang Sheng wohl auch in Einzelfällen 117
zurückgepfiffen. Man erblickt darin ein Zeichen seiner persönlichen Integrität und seines Gerechtigkeitssinns. 3) Künstler und andere Intellektuelle unterliegen besonders star ker Kontrolle. Sie dürfen nur arbeiten, wenn sie sich nachdrück lichst zu Maos Kommunismus-Konzept bekennen. Eines der Ergeb nisse solcher Arbeit nach erfolgter >Überprüfung< ist ein Lied, das inoffiziell als Vorwegnahme der Nationalhymne eines zukünftigen kommunistischen Chinas gilt. Titel: >Der Osten ist rot<. So weit zu der Atmosphäre, die ich in Jenan antraf. Obwohl die meisten sachlichen Hinweise von Kang Sheng über Tso Wen an mich gelangten, messe ich ihnen substantielle Bedeutung zu. Tso Wen betont ständig, daß sein Chef großes Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit uns hat. Er setzt bei uns voraus, daß wir die Innenpolitik im kommunistischen Gebiet so akzeptieren, wie sie ist. Das läuft auf gleichberechtigte Beziehungen zwischen zwei unabhängigen Partnern hinaus, die sich — trotz unterschiedlicher Auffassungen — auf gemeinsame langfristige Interessen einigen. Barretts und Services erste Berichte über die offiziellen Kontakte der Mission mit Tschou En-lai müßten nach dem, was ich dabei mithörte, ein ähnliches Gesamtbild ergeben. Service berichtet an das State Department. Ich spare daher die offiziellen Kontakte aus meiner Berichterstattung aus. Eine Besonderheit am Schluß, die sich in Barretts Berichten sicherlich ebenfalls findet: Mao Tse-tung bittet ganz unverblümt um Waffen und Munition, Medikamente und Nachrichtenmittel. Hier bietet sich die Chance, Gegenleistungen zu verlangen. Violet
118
10.8.1944 Am 7. August, gegen Mittag, ist wieder eine Dakota in Jenan ge landet. Sie brachte das nächste Kontingent von >Dixie<: Ray Ludden, der eng mit Service zusammenarbeiten wird, er war Sekretär unserer Tschungkinger Botschaft, außerdem Colonel Foss vom Army Air Corps, Major Peterkin, weitere Militärs sowie einige Techniker und Nachrichtenleute. Es heißt, daß noch andere Spezialisten sich in Tschungking auf den Flug hierher vorbereiten. Man hat die Landebahn verlängert und einen Abstellplatz mit ge spaltenen
Bambusstangen
befestigt,
so
daß
ein
plötzlich
einsetzender Regen den Flugverkehr nicht mehr stören könnte. Die Dakota brachte auch einen Kurier mit. Ich werde zu Barrett gerufen, er übergibt mir Post von Holly und eröffnet mir dann: »Sid, der Vogel steckt voller Geschenke. Nur — wir wollen eine kleine Gegenleistung. In zwei Stunden treffen wir uns mit Tschou En-lai.« »Was für Geschenke, Dave?« frage ich. Wir haben uns innerhalb der Gruppe auf diesem Außenposten Jenan längst abgewöhnt, uns mit >Sir< anzureden. Eine selbstverständliche Kameraderie be herrscht das Zusammenleben, sie ähnelt der Art, in der Fronttrup pen sich persönlich näher kommen, ohne daß dabei das Gefühl für Disziplin und Unterordnung leidet. Barrett wiegt den Kopf. Er setzt den Tropenhelm ab, wischt den Schweiß von der Stirn und gibt zurück: »Medikamente, Verbands zeug, ein paar chirurgische Instrumente, Muster von Automat-Ge wehren und Thompsons, Ferngläser, Handentfernungsmesser. Aber das sind die Nebensächlichkeiten. Die Maschine bringt sechs kom plette Funkstellen mit Stromerzeuger für Tretbetrieb und allem, was sonst noch dazugehört ...« Er gibt mir die von der inzwischen in Kunming residierenden 119
Station an ihn ergangene Weisung zu lesen, und ich staune, wie schnell die Dinge vorangehen. Die Funkgeräte sollen von den Kommunisten in einem von ihnen kontrollierten Partisanengebiet an der Küste des Gelben Meeres postiert werden und von dort regelmäßig Wettermeldungen funken. Außerdem sollen sie als Peilstationen für unsere Flugzeuge dienen, die Japan bombardieren. Ich erinnere mich, daß die neuen B-29 der 20.Luftflotte, die in aller Stille auf einem schnell ausgebauten Flugfeld in der Nähe von Tschengtu stationiert wurden, tief in Szetschuan, Anfang Juni ihren ersten erfolgreichen Angriff auf Kiuschu flogen, die große Südinsel Japans. General Curtis LeMay hat das Kommando über die 20. Er nennt das, was er vorhat, >strategisches Bombardements wohl an dem orientiert, was wir von England aus nach Deutschland hinübertragen, mit großem Erfolg, wie zu sehen ist. Nun gibt es Komplikationen, was Japan betrifft. Die große Entfernung von Tschengtu bis Japan läßt keine genaue Wetterbestimmung zu. Für die B-29 ist aber wichtig, sich auf die über Japan herrschende Wetterlage einzustellen, bevor sie angreifen: entweder die Sicht ist klar, es gibt geringe Bewölkung, dann können die riesigen Viermotorigen aus der vor japanischen Jägern sicheren Höhe von über 7 km bomben — oder es herrscht hochprozentige Bewölkung, dann muß der Angriff nicht im Formationsflug, sondern in auf gelöster Ordnung und unterhalb der Wolkengrenze erfolgen. Illegale Funkstationen, an der Küste Chinas postiert, könnten nach Aussage von Fachleuten durch Mitteilung ihrer Beobachtungen erheblich zu einem genauen Wetterbild über Japan beitragen. Das ist soweit verständlich, und ich frage mich, ob diese Angriffe der Auftakt zur Landung in Japan sind. Barrett verhandelt mit Tschou En-lai über die Möglichkeiten koordinierter militärischer Aktionen an der chinesischen Küste. Unser Generalstab zieht offenbar in 120
Erwägung, zuerst an der Küste Chinas, etwa zwischen Tsingtao und Shanghai ein großes Landeunternehmen durchzuführen und so den Seeweg nach Japan für den entscheidenden Angriff zu verkürzen. Die japanischen Verbände an dieser Küste sind nur dünn, das von ihnen tatsächlich beherrschte Gebiet ist begrenzt. Es gibt kommunistisch kontrollierte Gegenden mit ziemlicher Ausdehnung dort, etwa in Schantung, Schansi, Hopei, aber auch im Norden von Kiangsu. Die Besprechungen darüber, ob und unter welchen Bedingungen
rotchinesische
Partisanenverbände
bei
einer
Anlandung unserer Truppen zur Entlastung in den Rücken des japanischen Gegners stoßen könnten, dauern an. Es gibt zwei Komplikationen: Einmal steht eine solche Anlandung noch nicht fest, wir operieren sozusagen mit Unbekannten; zum anderen verlangen die Kommunisten, um einen Angriff in den Rücken der Japaner führen zu können, erhebliche Mengen an Waffen, Munition und anderem Material. Gegen dessen Lieferung würde Tschiang Kai-shek in jedem Falle Sturm laufen. Ich habe den Eindruck, daß wir uns hier festgefahren haben, und sehe keine schnellen Ergebnisse. Anders verhält es sich mit der Postierung der Funkstationen. »Die Geräte werden ihnen geschenkt«, meint Barrett. »Also ha ben wir die Chance, etwas im Gegenzug dafür zu bekommen.« Wie wahr! Ich hebe mir das Lesen der Post von Holly für später auf und gehe mit Barrett, nachdem wir zusammen gegessen haben, hinaus, wo der Jeep steht, den ebenfalls eine Dakota eingeflogen hat, samt Benzin. Der Jeep war zerlegt, unsere Techniker haben ihn hier wie der
zusammengebaut.
Jetzt
ist
er
ein
viel
bestauntes
Transportmittel, das unbewacht vor Barretts Unterkunft steht, Tag wie Nacht. Niemand nähert sich ihm auch nur auf Griffweite. (Man 121
stelle sich vor, er stünde in Tschungking: binnen einer Nacht wäre er unauffindbar verschwunden!) Barrett teilt seine Unterkunft mit John Service. Von außen macht sie den Eindruck eines Slum-Quartiers, gebaut aus ungebrannten Lehmbrocken; aber innen ist sie recht komfortabel eingerichtet, Feldbetten mit Schlafsäcken, Tisch, Hocker, die Eisenkästen, in de nen Dokumente aufbewahrt werden, Behälter mit Konserven, Bier, Zigaretten, Whisky. Ein Radio ist da, batteriebetrieben, und ein Grammophon mit einem Stapel Platten. Barrett träumt davon, daß er
hier
auch
Parties
abhalten
wird,
mit
kommunistischen Funktionären. Bisher ist das
den
höheren
noch nicht
geschehen, die hohen Herren laden zwar uns ein, aber mit Besuchen sind sie sparsam. Nun, wir haben Zeit ... Tschou En-lai ist ein schmächtiger, asketisch wirkender Typ. Seine Frau, die in irgendeiner Parteidienststelle arbeitet, ist un scheinbar; erst, wenn man mit ihr spricht, spürt man Intelligenz, zu gleich allerdings auch eine rigide kommunistische Einstellung. Tschou En-lai besitzt europäische Bildung, er gehörte zu jenen jun gen Leuten, denen die Eltern ein Studium im Ausland ermöglichen konnten. Dort hat er sich mit anderen zusammengetan und eine kommunistische Gruppe gebildet. Zu Mao Tse-tung stieß er sehr früh. Es wird erzählt, er habe in der Anfangsphase seines Parteiengagements des öfteren Meinungsverschiedenheiten über Strategie und Taktik mit Mao gehabt, letztlich aber habe er immer wieder zu Mao zurückgefunden, was dieser wiederum dadurch belohnt, daß er Tschou mit höchst verantwortungsvollen, teils delikaten Aufgaben betraut. Tschou ist in Tschungking gewesen, es erübrigt sich, ihm Fähigkeiten eines geschickten Politikers zu bescheinigen, man weiß, daß er sie hat. Er betreibt nach meiner Beobachtung kommunistische Führungspraxis mit der nüchternen 122
Gelassenheit eines Managers, er versteht die Kunst der Diplomatie, nie hört man von ihm ein erregtes oder unbeherrschtes Wort, er hört geduldig zu und äußert dann in wenigen, knappen Sätzen seine Meinung. Entscheidungen trifft er auf die gleiche Weise, sie sind stets genau durchdacht. Mao schätzt ihn, und er verbirgt das nicht. Staub steigt in einer hohen Wolke hinter unserem Jeep auf, als wir zu der Höhle fahren, in der Tschou En-lai uns empfängt. Sie ist, wie alle anderen, in einen Hang gegraben, ist aber größer als üblich, es gibt Wände aus Brettern und eine Art Eingangsverkleidung, ebenfalls aus Holz, mit Luftlöchern, die in kunstvollen Mustern angeordnet sind. Wir müssen den Jeep am Fuße des Hanges stehenlassen und einige hundert Meter bergan klettern, wir sehen, daß Tschou En-lai uns bereits vor dem Eingang erwartet. Zwei Soldaten, die hier Posten stehen, nehmen stramme Haltung an, abenteuerliche Gestalten mit japanischen Flinten und prall gefüllten Taschen, in denen sich Patronen befinden. Wir gehen an ihnen vorbei, Tschou schüttelt uns nach europäischer Sitte die Hände, lächelt und fragt, ob wir uns langsam an die schwierigen Verhältnisse in Jenan gewöhnen. »Wir sind Soldaten«, erwidert Barrett, lächelt, nimmt wieder den Tropenhelm ab und wischt Schweiß von der Stirn. Tschou En-lai nickt. Dann ruft er in gepflegtem Mandarin den Posten vor der Tür zu, daß sie Tee und feuchte Tücher bringen sollen. Es ist alles vorbereitet — in zwei Minuten wischen wir uns die Gesichter mit dampfenden Lappen ab. Vor uns stehen kleine, mit Deckeln versehene Emailletöpfe voll grünem Tee. Eine Kostbarkeit in dieser Gegend, zumal er noch dazu nach Jasmin duftet, wie es in Nordchina Sitte ist. Wir staunen darüber, daß der Gastgeber selbst nur heißes Wasser trinkt. Aber wir enthalten uns einer Bemerkung, die Lage ist ohnehin klar: Gastfreundschaft 123
einerseits und sparsame, spartanische Lebensweise zum anderen. Wie üblich, reden wir eine Weile über das Klima, über den allge meinen Kriegsverlauf, die kleinen Misshelligkeiten des Lebens in Jenan, dann ist zu spüren, wie Tschou En-lai zur Sache kommen möchte. Barrett interpretiert den Wunsch, den General LeMay über die Kunminger Station an die Kommunisten richtet. Er begründet die Notwendigkeit von möglichst exakten Wettervorhersagen, und als Tschou sich nach der B-29 erkundigt, beschreibt er diesen neuen Bombertyp,
die
>Superfortress<
im
Detail,
spricht
über
Geschwindigkeit, Bombenlast, Flughöhe und anderes. Tschou ist von den Leistungen der Maschine sichtlich beeindruckt. Es interessiert ihn, wie viele solcher Flugzeuge wir monatlich produzieren können. »Hundert«, gibt Barrett gelassen Auskunft, obwohl er das nicht genau wissen kann. »Wenn es sein muß, werden mehrere Fabriken das Modell produzieren. Dann können mehrere Hundert erwartet werden.« Tschou geht an die Landkarte, die an der Bretterwand hängt. Er steht eine Weile nachdenklich davor, dann dreht er sich um und sagt: »Nord-Kiangsu wäre das geeignete Gebiet. Wir beherrschen dort auch einen Teil der Küste. Ich erwähnte das bereits im Zusam menhang mit der Unterhaltung über eine mögliche Landeoperation amerikanischer Truppen ...« »Sie wären also in der Lage, die Geräte dort zu stationieren?« Barretts Frage klingt ungläubig, er hat nicht mit einer so schnellen Einigung gerechnet. Und noch ist kein Wort über die >Geschenke< gefallen, die in der Dakota warten. Tschou setzt sich wieder, fordert uns auf, Tee zu trinken. Er zieht ein Notizbuch aus der Brusttasche und schreibt ein paar Zeichen. 124
»Natürlich haben wir keine ausgebildeten Funker. Wer soll die Ge räte bedienen?« Er verzieht keine Miene, als ich ihm erläutere, daß die Geräte in den Besitz der kommunistischen Truppen übergehen sollen und daß die technischen Sergeanten unserer Mission ein Dutzend durch schnittlich begabter junger Soldaten aus den roten Truppen in weni gen Tagen einweisen könnten. Er nickt. Hält es für möglich. Als er sich nach den strategischen Fernzielen der geplanten Bombarde ments erkundigt, erläutert Barrett diese. Tschou En-lai begnügt sich damit. Dann überrascht er uns wieder mit einem Beispiel seiner nüchternen Entschlusskraft und der Schnelligkeit seiner Entschei dungen. »Meine Herren, ich sehe die Notwendigkeit der Maßnahme ein. Sie wird dem Sieg der Alliierten über Japan dienen. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützen wir Sie voll. Innerhalb einer Woche werden Ihnen zwölf Männer vorgestellt werden, die nach unserer. Meinung die Aufgabe der Übermittlung von Wettermeldungen erfüllen können. Ich bitte Sie, mir vom Abschluß der Ausbildung Kenntnis zu geben. Danach werden wir die Beförderung der Geräte an ihre Bestimmungsorte organisieren. Teilen Sie General LeMay mit, daß er bei seinen Absichten unsere volle Zustimmung hat.« Es klingt wie die Ansprache eines Außenministers anläßlich eines Diplomatenempfangs. Wir sehen uns etwas verdattert an, die Sache war uns zuvor viel schwieriger erschienen. Tschou trinkt einen Schluck Wasser, ermuntert uns, Tee zu trinken, ganz Gastgeber alter Tradition, dann will er wissen, ob sich hinsichtlich des Landeunternehmens an der chinesischen Küste Neues ergeben habe. »Noch nicht«, informiert ihn Barrett. »Die Bedingungen werden gegenwärtig geprüft.« 125
Tschou lächelt fein. »Wir sollten wohl auch nicht die Schwierig keiten unterschätzen, auf die das amerikanische Oberkommando stoßen wird, wenn Tschiang Kai-shek erfährt, daß die Amerikaner uns Waffen und Material liefern wollen ...« Er sagt es vor sich hin, so, als ob er keine Antwort erwartet. Wir haben auch keine. Barrett macht einen schwachen Versuch: »Nun, wir mischen uns nicht in die chinesische Innenpolitik. Uns geht es um den Kampf gegen Japan ...« Aber das hat zur Folge, daß Tschous Lächeln breit wird, demon strativ. Er sagt leise: »Colonel, Sie übersehen, daß der Sieg über Ja pan unweigerlich eine Entscheidung in China näher rücken wird. Falls Tschiang Kai-shek danach immer noch nicht bereit ist, uns als reale politische und militärische Kraft zu akzeptieren, werden wir ihn vernichten müssen. So gesehen ist die Lieferung von Waffen an uns selbstverständlich auch ein innerchinesisches Problem.« Mich fasziniert, auf welch selbstverständliche Art er davon spricht, Tschiang zu vernichten. Als ob das heute schon nur noch von der Entscheidung der Kommunisten abhinge. Um das Gespräch in Gang zu halten, erkläre ich ihm, daß wir die Kompliziertheit des Problems wohl erkennen, trotzdem aber die Entscheidung über das Schicksal Chinas nicht von außen her beeinflussen möchten. Doch damit bin ich in die Falle getappt, die Tschou klug aufgebaut hat. »Warum eigentlich möchten Sie das nicht?« fragt er. Barrett murmelt etwas von Nichteinmischung und Selbstbestim mung. Mit dem Ergebnis, daß Tschou den Kopf wiegt und uns ernst anblickt. »Warum können die Vereinigten Staaten nicht zu der Kraft in China, die einmal das Land beherrschen wird, jetzt schon gute Beziehungen pflegen?« »Sie sind sehr zuversichtlich«, bemerkt Barrett ausweichend. Aber Tschou macht ihn aufmerksam: »Tschiang Kai-shek kann ge 126
gen uns auf die Dauer nicht bestehen. Er könnte sich, nach Nieder werfung Japans, vermutlich noch eine Weile halten, vorausgesetzt die Vereinigten Staaten unterstützten ihn weiter gegen uns. Aber auch in diesem Falle wäre die Zeit begrenzt. Nur — das Verhältnis zwischen uns und den Vereinigten Staaten wäre dann unnötig ge stört. Man sollte das vermeiden. Denken Sie an das, was Ihnen unser Vorsitzender bereits bei der ersten Begegnung sagte: Es gibt keinen Grund für uns, den Vereinigten Staaten gegenüber feindselige Gefühle zu hegen. Unsere beiden Länder könnten zum gegenseitigen Nutzen sehr eng zusammenarbeiten.« Ich sehe meine Chance, ihn zu testen, und werfe den Einwand hin: »Sir, Sie vergessen offenbar Moskau!« Nachdem er einen weiteren Schluck Wasser getrunken hat, sagt er langsam: »Sie erinnern sich sicher, daß die Sowjetunion im Jahre 1937 das erste Land war, das China zu Hilfe kam, als die Japaner losschlugen. Kein anderes Land folgte übrigens diesem Beispiel. Wir haben das nicht vergessen. Damals bekam China Kriegs material aus der Sowjetunion, mit dem binnen sehr kurzer Zeit 24 Divisionen ausgerüstet werden konnten. Sowjetische Militärberater halfen bei der Ausbildung. Die Kredite, die Moskau China ge währte, beliefen sich auf hundert Millionen Dollar, das war eine ge waltige Summe, und der Zinssatz war der niedrigste, den man bisher in solchen Fällen erlebt hat. Quer durch Sinkiang rollten sowjetische Konvois und brachten dringend benötigte Güter nach China. Etwa fünfhundert sowjetische Flugzeuge schützten unseren Luftraum, sie wurden zum größten Teil von sowjetischen Piloten geflogen, viele von ihnen sind gefallen. Und die Sowjetunion massierte in der Mongolei und an der mandschurischen Grenze starke Truppenverbände, das entlastete China. Sie werden verstehen, daß nach solchen Erfahrungen das Verhältnis Chinas zur 127
Sowjetunion eine sehr spezifische Beschaffenheit hat.« Ich will ihn aus der Reserve locken, die Gelegenheit scheint gün stig, also werfe ich ein: »Ich habe mich vielleicht unpräzise ausge drückt, ich meinte vorhin die Haltung Moskaus zu den chinesischen Kommunisten, Sir!« Er sieht mich nachdenklich an, dann sagt er, ohne jeglichen be lehrenden Akzent: »Mister Robbins, mir scheint da ein Mißverständnis Ihrerseits vorzuliegen. Wenn Sie Geduld haben, mir zuzu hören, werde ich es vielleicht aus der Welt schaffen können, es liegt mir viel daran. Sehen Sie, ein China, in dem das Volk selbst die Macht ausübt, so wie das hier in Jenan geschieht, wird selbstver ständlich ein souveräner Staat sein, und zwar der einzige auf chinesischem Boden. Dieser Staat wird sich von niemandem seine Politik vorschreiben lassen, er wird sie immer nur zu seinem eigenen Nutzen betreiben. Was die Vereinigten Staaten angeht, so können sie jederzeit auf unsere Bereitschaft zu freundschaftlichem Entgegenkommen zählen. Es hängt also ganz von ihnen ab. Die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten geografisch weiter von uns entfernt liegen als die Sowjetunion, muß nicht bedeuten, daß wir nicht Wege der Verständigung im Interesse des gegenseitigen Vorteils
beschreiten
können.
Im
Gegenteil.
Unmittelbare
Nachbarschaft ist keinesfalls immer eine Garantie für gute Beziehungen, das kann man anhand vieler Kriege in der Weltgeschichte beweisen ...« Er pausiert kurz, so als wolle er das Gesagte wirken lassen. Dieser Mann ist ein Fuchs. Nach einer Weile fährt er fort: »Nun ja, wir werden noch Gelegenheit haben, unsere Auffassungen auszutauschen. Jedenfalls ist unser Vorsitzen der außerordentlich stark an einer Verbesserung unserer Beziehun gen interessiert. Er ist ein Bewunderer der amerikanischen Nation. Wissen Sie weshalb? Er betrachtet Ihr Volk als das erste, das ein 128
ausländisches Kolonialregime, nämlich das englische, abgeschüttelt hat. Er misst diesem historischen Ereignis zukunftsweisende Bedeu tung bei. Auch China muß die Ketten ausländischer Bevormundung abschütteln. Es wird von großer Bedeutung für die weitere Entwick lung in der Welt sein, ob Amerika dabei für oder gegen China Partei nimmt. Und China — das ist nicht Tschiang Kai-shek. Der wird abtreten, oder er wird zerschmettert werden. China — das sind wir! Vergessen Sie das nie!« Er tippt sich an die Brust und lächelt. Seine Offenheit ist entwaffnend. Die Alternative ist zu klar, um übersehen zu werden. Ich bin versucht, noch etwas weiter auf dem Problem Moskau herumzureiten. Schließlich wissen wir recht gut, daß es sich hier nicht nur um eine Frage der Nachbarschaft handelt. Die Sowjets ha ben ein geistesverwandtes System, wenngleich Mao durchblicken läßt, daß er es nicht in allen Einzelaspekten für verbindlich hält. Trotzdem gibt es so etwas wie einen internationalen Zusammenhalt aller Kommunisten. Existiert er nach Auflösung der Komintern nicht mehr? Wird er in anderer Gestalt wiederkehren oder nicht? Wie
weit
kann
gemeinsame
Weltanschauung
Staatspolitik
beeinflussen? Was ist bei positiver Beantwortung dieser Frage das Freund schaftsangebot Maos wert? An uns, die Verbündeten Tschiang Kai sheks! Noch sind wir das. Ich würde sehr gern testen, was unter die sen Umständen die Andeutungen Mao Tse-tungs bedeuten können, die Tschou hier zweifellos nur interpretiert, aber dann sage ich mir, daß diese Sache wohl doch mehr Zeit braucht. So bringe ich, als Barrett schweigt, das Gespräch auf die >Geschenke<, die in der Da kota stecken. Tschou deutet sitzend eine Verbeugung an. Er bedankt sich mit Würde. Und dann tut er genau das, was man von einem Chinesen in solcher Situation zu erwarten hat, er macht ein 129
Gegengeschenk. Er lädt uns für den nächsten Tag zur Besichtigung einer Einheit der 8. Armee ein. Der Truppenteil liegt nördlich von Jenan. Er soll uns einen Infanterieangriff demonstrieren. Als ich ihm vorschlage, die Muster amerikanischer Waffen mitzunehmen, damit wir sie unsrerseits den chinesischen Soldaten vorführen können, stimmt er sogleich mit Begeisterung zu. Dann ruft er erneut nach Tee. Auch das ist ein Zeichen traditioneller Höflichkeit, von dem er nicht ahnt, daß ich es sehr gut begreife: der Gastgeber hält die Besprechung für beendet.
An Violet 7.8.1944 1. Kang Sheng informieren: Wachsende Gegenmaßnahmen Tschi-angs bezüglich unserer Mission in Jenan. Offizieller Protest an Präsidenten erfolgt. Tschiang-Lobby in Washington wird gegen uns mobilisiert. Rolle der Frau Mao Tse-tungs klären, besonders auf politischem Gebiet. Persönlicher Kontakt, wenn möglich. Doktor George
Hatem (Ma Hai-te): Kontakt vertiefen, als
Quelle nutzen. 4. Moskau-Jenan-Verhältnis weiter eruieren. Flugkontakt? Liefe rungen? Personenverkehr? Holly
130
10.8.1944 Manchmal, so finde ich, hat die Landschaft von Jenan auch ihre Reize. Am frühen Morgen etwa. Blickt man in östlicher Richtung, sieht man die Riffe der Bergkämme und hinter ihnen einen förmlich in Flammen getauchten Himmel. Die Sonne geht auf. Es ist ein grandioses Schauspiel: Noch sind die Täler düster, in Dunst gehüllt; aber nach und nach treten ihre Konturen hervor, wie mit einem rotgelben Stift nachgemalt. Das Licht bricht in die verborgensten Winkel ein, hebt sie aus ihrer Anonymität, macht sie verlockend. Die Erde nimmt nach und nach ihre gelbliche Färbung an, das Grün der Büsche und der vereinzelten Bäume wird sichtbar. Hier und da liegen gepflegte Pfirsich-, Aprikosen- oder Dattelplantagen. Man ist Versucht, sie sich in der Blüte vorzustellen. Dann hängt die Sonne endgültig frei am Horizont. Da läßt der Zauber nach. Die Hitze kommt, eine drückende, trockene Mittsommerhitze, Staub wallt unter jedem Schritt auf, das spärliche Grün wird nahezu grau. Und — der Landschaft fehlt das Leben. So empfindet man es. Man blickt hinunter auf das Trümmergewirr Jenans, das seltsam tot anmutet. Es fehlt das geschäftige Treiben, das gerade chinesische Kleinstädte am frühen Morgen bieten. Jenan ist eine tote Stadt, verglichen mit allem, was ich in China seit meiner Kindheit gesehen habe. Und doch lebt sie. Das ist das Unfassbare: Unter dieser bedrückenden Mischung von Dreck und flimmernder Luft verbirgt sich ein Leben, das man nur aus unmittelbarer Nähe wahrnehmen kann. Gleichsam wie mit einer Lupe. Ringsum an den Hängen kriechen Menschen aus ihren Verstecken, verschlingen ein Stück Hirsefladen oder eine Schale Brei, trinken heißes Wasser, und dann brechen sie auf. Zu irgendeiner Arbeit, um Gewehre zu 131
reparieren oder Patronen zu füllen, um einen Vortrag zu "hören, um mit einem erbeuteten Nambu-Maschinengewehr zu üben — oder um zu regieren! Ich muß lächeln bei diesem Gedanken. Aber immerhin ist er alles andere
als
abwegig.
Die
gesamte
Führungsschicht
der
Kommunisten in Jenan lebt für zwei Hauptaufgaben: die Macht über ganz China zu erringen und die Ausübung dieser Macht in Form der Staatsgewalt vorzubereiten. Jenan ist ein Testfeld, was das betrifft. Das Militär übt den Sieg, und die Führer eignen sich in diesem begrenzten Gebiet die Eigenschaften an, die erforderlich sind, wenn man später einmal ein größeres Territorium im Griff haben will. Vielleicht ganz China. Wenn es um eiskalte Entschlossenheit geht, das unter allen Umständen zu erreichen, dann gibt es für die Kommunisten keine Hemmungen. Ich habe nicht für möglich gehalten, daß man von solch einer relativ wackeligen Basis aus, wie sie Jenan darstellt, mit derart unbeirrbarer Zielstrebigkeit die Beherrschung eines der größten Länder der Erde planen kann. — Seit
ein
Ordonnanzen.
paar Die
Tagen
haben
wir
Armeeführung
übrigens hat
junge
chinesische Soldaten
abkommandiert, die für die Sauberkeit unserer Quartiere sorgen, die Wasser heranschleppen und Küchendienst versehen. Barrett hat alle Mitglieder der Mission streng ermahnt, diese Burschen keinesfalls >Boy< zu nennen. Der Ausdruck, den Ausländer in China allgemein für männliche Bedienstete verwenden, würde sie beleidigen. Sie sind mit >Freund Hua< oder >Freund Lo< anzureden, das ist besonders wichtig, weil die Chinesen sich untereinander >Genosse< nennen, wörtlich übersetzt würde das >Comrade< heißen, sie aber so anzusprechen, ist auch unerwünscht, es könnte als Fraternisierung mit dem Kommunismus gedeutet 132
werden! Interessant ist, daß Dr. Ma Hai-te mich schon des öfteren mit >Comrade Robbins< angesprochen hat. Natürlich kann das Absicht sein. Oder auch nur eine Gedankenlosigkeit: Schwierigkei ten bei der Verständigung mit Partnern, bei denen jeder Bereich des Lebens, bis hinein in den Sprachgebrauch, politisiert ist. — Der Jeep fuhr uns aus dem Talkessel heraus, in dem Jenan liegt. Über zwei Dutzend Kilometer ging es nordwärts. Hinter uns fuhren einige erbeutete Lastwagen, in denen die übrigen Mitglieder unserer Mission saßen, bei ihnen chinesische Funktionäre und Militärs, die uns begleiteten. Kisten auf den Fahrzeugen enthielten die Waffen, die Kunming uns geschickt hatte, um sie den Kommunisten vorzu führen. Aber vor allem sollten wir etwas vorgeführt bekommen. Die Fahrt endete irgendwo zwischen Jenan und Paoan, mitten auf einer baumlosen Hochebene. Ein Tisch war gedeckt, wir schüttelten den Staub aus der Kleidung, dann aßen wir kalte Eierkuchen, Hirsefladen, geräucherte Hühnerbeine, dazu gab es Wasser und den unvermeidlichen Hirseschnaps. >Baigar< nennen die Kommunisten ihn, ein streng riechendes, hochprozentiges Gesöff, von dem sie wohl annehmen, es gehöre zum Besten, was man ausländischen Gästen anbieten kann. Tschu Teh empfing uns, grinsend, mit lärmender Kumpelhaftigkeit, wie wir das bei ihm schon kannten. Er stellte uns einen hageren, blassen Offizier vor: Lin Piao, dann ein paar andere Kommandeure, deren Namen wir schnell vergaßen. Im Hintergrund, zwischen mannshohem Gebüsch und Unkraut hockten derweil die Soldaten. Eine Kompanie, wie man uns sagte, alles erprobte Kämpfer der 8. Armee der Kommunisten. Als wir uns erfrischt hatten, rollte wieder jenes Auto undefinierbaren Typs heran, das wir bereits bei unserer Ankunft sahen, eine Art Sanitätswagen, bei dem die Scheiben fehlen und der Kühler dampft. Ihm entstiegen Tschou En-lai und Kang Sheng. Wie 133
es aussah, konnte die Demonstration beginnen, jedenfalls schauten die beiden schon während der Begrüßung auf ihre — sicher ebenfalls erbeuteten — Armbanduhren, so als hätten sie Eile. Wir wurden zu einer Stelle geführt, an der es ein Graspolster gab, hier konnten wir sitzen. Kang Sheng klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ließ sich neben mir nieder. »Jetzt bricht die Gelbe Gefahr über Sie herein!« scherzte er und freute sich, als ich die Augen rollte. Blitzschnell liefen einige Soldaten zwischen den Büschen hervor und befestigten strohgefüllte Säcke an Pfählen, dann ertönte die hei sere Stimme Tschu Tehs, er gab den Befehl zum Bajonettangriff. Was folgte, war militärischer Drill in wenig origineller Form. Die Soldaten sprangen auf und stürzten sich nacheinander auf die Stroh säcke. Sie brüllten dabei >Tod!< und immer wieder >Tod!< »Das macht Mut«, kommentierte Kang Sheng. Ich erbat mir eines der Gewehre. Es war ein japanischer Karabiner. Die ursprüngliche Befestigung für das Bajonett war abgebrochen und durch eine Klemme ersetzt worden, die ziemlich lose am Lauf befestigt war. Ich machte Kang Sheng aufmerksam, daß das so befestigte Bajonett vermutlich beim ersten Stich in einen menschlichen Körper, der mehr Widerstand bietet als der Strohsack, sich verschieben würde. Unter Umständen bräche es ab, wenn der damit Gestochene zur Seite fällt und der Angreifer das Gewehr nicht schnell genug zurückzieht. Kang Sheng war nicht überrascht. Er nickte, rückte seine bestaubte Brille zurecht und sagte dann halblaut: »Sie sind ein guter Beobachter. Ja, Waffen sind unser großes Problem ...« Während der Bajonettangriff weiterging, nahm ich die Chance wahr, Kang Sheng mitzuteilen, wie man in Kunming die Lage sieht. Er war über die störrische Haltung Tschiangs nicht erstaunt. 134
Schließlich meinte er: »Wir werden das, was wir miteinander auszumachen haben, so erledigen, daß der alte Reaktionär möglichst wenig Gelegenheit zur Einmischung bekommt. Man muß ihn nur so weit einweihen, wie es unvermeidlich ist. Teilen Sie Ihren Vorgesetzten mit, von uns aus werden wir alle Vorkehrungen treffen, daß Tschiang nichts erfährt, was hier besprochen wird. Das gleiche setzen wir bei Ihnen voraus. Weiß er von den Funkgeräten?« »Nein.« »Gut so. Das ist allein unsere Sache. Wären Sie interessiert, den Vorsitzenden näher kennenzulernen?« Seine Frage überraschte mich. Natürlich war ich an persönlichem Kontakt mit Mao interessiert, ich hatte nur nicht gedacht, daß es so schnell dazu kommen könnte. Deshalb beeilte ich mich, Ja zu sagen, worauf Kang Sheng mir versicherte, Mao werde an einem der nächsten Abende einige der >amerikanischen Freunde< zu sich einladen. »Seine Frau kocht recht anständig«, bemerkte er dabei und blin zelte mir zu. Die Soldaten hatten inzwischen Zielscheiben aufgestellt und begannen mit Schießübungen. Nach einiger Zeit wurden uns die Scheiben gebracht, handgemalt auf Papier, das im gesamten Gebiet sehr rar ist. Wir konnten sehen, daß die Schießleistung der Truppe zwar nicht überragend war, immerhin aber durchschnittlichen Anforderungen genügte. Wieder wandte ich mich an Kang Sheng und fragte: »Ist die Gattin des Vorsitzenden auch politisch tätig?« Er ließ sich lange Zeit, bis er mir antwortete. Doch dann tat er es ausführlich: »Unser Vorsitzender wurde von seinen Eltern bereits sehr früh mit einem ganz jungen Mädchen verheiratet, einem Kind noch. Er vollzog die Ehe nie, annullierte sie später, als er ein 135
selbständiges Leben als Revolutionär zu führen begann. 1920 heiratete er Yang Kai-hui, die Ehe dauerte zehn Jahre. 1930 töteten Kuomintangleute Yang Kai-hui. Danach fand der Vorsitzende eine neue Gefährtin, es war Ho Tsu-tschen. Sie war mit uns auf dem langen Marsch. Es müssen wohl die Strapazen dieser Jahre gewesen sein, die sie körperlich für immer zerrütteten. Sie war eine tapfere Frau, sie schenkte dem Vorsitzenden mehrere Kinder. Heute ist sie sterbenskrank. Der Vorsitzende hat es sehr bedauert, daß sie sich vor etwa sieben Jahren von ihm trennte. Damals war die Genossin Tschiang Tsching soeben von Shanghai nach Jenan gekommen. Sie ist heute die Frau unseres Vorsitzenden. Übrigens hat sie ihm hier in Jenan eine Tochter geschenkt, ein sehr reizendes Mädchen ...« Er sagte nichts über den Verbleib der Kinder aus den vorausge gangenen Ehen. Er erwähnte auch nicht, was ich bereits von Holly — und dieser sicher von unserem Vertrauten Edgar Snow — wußte, nämlich, daß es gegen Ende der dreißiger Jahre, also etwa um die Zeit, als Mao sich von Ho Tsu-tschen trennte (oder sie von ihm?), hier
eine
bildhübsche
Dolmetscherin
mit
amerikanischer
Hochschulbildung gegeben hat, Wu Kuang-wei, mit der Mao, sehr zum Verdruss von Ho Tsu-tschen eine Liaison begann. Sie verschwand eigenartigerweise kurz nach der Ankunft von Lang Ping (die sich hier Tschiang Tsching nennt) aus Jenan und wurde nicht mehr gesehen. Ich werde Kenntnisse dieser Art lieber für mich behalten. Als Kang Sheng lange schwieg, bemerkte ich nur vorsichtig: »Kein leichtes Leben, die Frau eines chinesischen Revolutionärs zu sein ...« Er stimmte mir zu, aber er lächelte dabei. Warum? Ich fragte nicht nach. Er sagte, jetzt ohne zu lächeln: »Der Vorsitzende hatte übrigens zwei Brüder. Sie starben für die Revolution, der eine 1935, der andere 1938. Unser Kampf hat schon viele Opfer gefordert. Sie 136
sind ledig?« »Ja.« Er zwinkerte mir zu. »In Jenan gibt es eine Menge schöner Mäd chen!« Aber ich konterte diese Anspielung: »Vergessen Sie nicht, daß ich ein Ausländer bin! Und bei den hiesigen Frauen handelt es sich doch durchweg um chinesische Revolutionärinnen, nicht wahr?« Er dachte eine Weile nach, dann entschloß er sich, offen zu sein. »Wir wissen natürlich, daß die Angehörigen der Mission >Dixie< die Weisung haben, keine intimen Beziehungen in Jenan anzuknüpfen. Es ist eine vernünftige Weisung, denn eines Tages werden Sie Jenan wieder verlassen, und das würde viele traurige Umstände verursachen. Nun — Sie sollen jedenfalls wissen, daß wir trotzdem tolerant sind. Wir haben Verständnis für das Bedürfnis eines Mannes und einer Frau, sich zusammenzutun. Es ist ein elementares
Bedürfnis,
sozusagen
hängt
die
Existenz
der
Menschheit davon ab!« Dann lachte er. Ich hielt den Zeitpunkt für günstig, ihn erneut aufmerksam zu machen, daß ich in China aufgewachsen wäre und mich nach Tschengtu und Tschungking nun auch hier in Jenan eigentlich nicht als Fremder fühlte. Er nahm das mit freundlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Dieser Mann ist nicht nur klug, er besitzt Menschenkenntnis, das bewies seine nächste Frage: »Warum bleiben Sie nicht bei uns? Wir würden es begrüßen ...« »Für immer?« »Ja.« »In Jenan?« »Wir werden nicht für immer in Jenan bleiben. Eines Tages wird es die Volksmacht im ganzen Lande geben, Sie können sicher sein. Und - ein amerikanischer Freund würde jederzeit sein Haus in un 137
serem Lande bauen können ...« »Ich danke für die Auszeichnung«, sagte ich höflich. Er sah mich durch seine trüben Brillengläser forschend an und sagte dann langsam: »Wir wissen, daß Sie ein Freund sind. Es gibt nichts zu danken. Wenn Sie jemals einen Entschluß fassen sollten, der ein weiteres Verbleiben in China betrifft, lassen Sie es mich wissen. Es wird keine Probleme geben.« Dann blickte er plötzlich interessiert dorthin, wo unsere Techni ker die Kisten mit den Waffen von den Wagen luden. Die Vorfüh rung der roten Kompanie war vorbei, die Soldaten traten an und durften sich dann hinsetzen. Jetzt war die Reihe an uns, die Show weiterzuführen. Selbstverständlich verlief unsere Vorstellung nicht ganz so ein drucksvoll wie die vorausgegangene chinesische Demonstration. Einer der Techniker erklärte den Mechanismus des neuen AutomatGewehres, dann gab er zehn Schüsse auf eine Scheibe ab. Die kom munistischen Soldaten betrachteten den Erfolg staunend. Sie wogen die im Vergleich zu ihrer Munition leichteren Patronen, erkundigten sich über die Durchschlagskraft und erhielten dann die Gelegenheit, selbst
zu
schießen.
Ähnliches
vollzog
sich
bei
den
Faustfeuerwaffen, bei deren Demonstration Kang Sheng mir zu verstehen gab, man sei sehr stark an unserem relativ flachen Colt 45 interessiert. Es ist erstaunlich, das Modell geht auf den ersten Weltkrieg zurück, es hat auch im Vergleich zu anderen Pistolen einen stärkeren Rückschlag, aber die Chinesen möchten es in größeren Mengen haben. — Beifall rief die Vorführung einer Waffe hervor, die ich selbst noch nicht gesehen hatte, die sogenannte Bazooka. Es handelt sich um eine Art Rakete, die aus einem dünnwandigen Rohr verschossen wird. Sie ist besonders zur Bekämpfung von Panzern und gepanzer 138
ten Befestigungen geeignet, unsere Techniker bewiesen, daß das Geschoß eine mehrere Zentimeter dicke Stahlplatte durchschlägt und erst hinter dieser Panzerung explodiert. Die Offiziere besahen sich diese Waffe sehr genau, und Kang Sheng verlor sich in Gedanken über die chinesische Erfindung der Feuerwerksrakete, als er den Antrieb in Augenschein nahm. Er verwies darauf, daß leider andere Völker ursprünglich chinesische Erfindungen weitaus besser zu nutzen verstanden hatten, als die Chinesen selbst. Dabei hat er nicht so völlig unrecht, aber es klingt ein wenig nach Vorwurf, und der ist nicht berechtigt, denn es waren die Chinesen selbst, die sich bereits im Altertum als das allen anderen überlegene Volk in der Welt darstellten und sich strikt gegen alle Kontakte mit den ausländischen
Barbaren
aus
den
vier
Himmelsrichtungen<
isolierten. Wobei natürlich die Chance des Austausches technischer Errungenschaften
auf
der
Basis
der
eigenen
einmaligen
Erfindungen vertan wurde. Als ich das andeutete, lächelte Kang Sheng fein. »Sie haben den Kern unseres Problems erfaßt, Mister Robbins. Können Sie verste hen, weshalb das technisch weit entwickelte Amerika der natürliche Partner für uns sein würde?« Ich verstehe das, und es befriedigt ihn. Er gibt mir Rätsel auf. Mittlerweile habe ich erfahren, daß er in der sogenannten > Bewe gung zur Korrektur des Arbeitsstils <, auf chinesisch >Tscheng Feng<, die Rolle des obersten Inquisitors gespielt hat und noch weiter
spielt.
Er
registriert
in
seiner
Dienststelle
alle
handschriftlichen Bekenntnisse der hier tätigen Funktionäre und wertet sie sorgfältig aus. Man hört, daß nicht wenige Leute wegen geringfügiger Meinungsverschiedenheiten über die einzuschlagende Politik über Nacht verschwunden sind. Teils wurden sie viel später als >gestorben< gemeldet, oder aber sie erschienen wieder, 139
deutliche Zeichen körperlichen Verfalls aufweisend, nicht bereit, irgendeine Auskunft zu geben. Lediglich in den Versammlungen, die sie von nun an besuchten, traten sie als glühende Verfechter der Vorstellungen Mao Tse-tungs auf, sie brannten förmlich darauf, sich als besonders gute Gefolgsleute ihres Führers zu erweisen. Ein Henker mit lächelndem Gesicht, dieser Kang Sheng? Es heißt, vor einigen Monaten habe Mao Tse-tung selbst korrigierend in die >Tscheng-Feng-Bewegung< eingegriffen. Es sei zu Übertreibungen gekommen, die betreffenden Kader wurden gerügt. Es käme nicht darauf an, Menschen wegen begangener Fehler zu verfolgen oder gar zu vernichten — vielmehr seien sie in geduldiger, kollektiver Überzeugungsarbeit nach und nach zu guten Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Seither gibt es einerseits die Meinung, Mao selbst habe von den körperlichen Schikanen, an denen immerhin nicht wenige > Kritiken starben, nichts gewußt, und als er davon erfuhr, habe er sie gemäß seinem großen Gerechtigkeitssinn abgeschafft. Andererseits aber heißt es, Mao persönlich habe Kang Sheng und dessen Inquisitoren nur ziemlich milde gerügt, sie aber nicht etwa aus ihren Funktionen entfernt. Kang Sheng selbst macht nicht den Eindruck eines Mannes, der auch nur das geringste ohne ausdrückliche Anweisung Mao Tse-tungs tun würde. — Als die Techniker unsere Gewehrgranaten vorführten, sprang Tschu Teh aufgeregt zwischen den Detonationsstellen herum, schritt die Entfernung ab, bis zu der sich Splitter zeigten, und schließlich erbat er sich ein Muster des Gerätes, wohl um Möglichkeiten des Nachbaus prüfen zu lassen. Die Thompsons erregten Interesse, sie beeindruckten durch ihre hohe Schußfolge. Jener schmalgesichtige Offizier erschien bei mir, den man uns als Lin Piao vorgestellt hatte, tätig an der 140
Militärakademie, sonst aber Truppengeneral, von dessen Erfolgen mit großem Respekt gesprochen wird. Ich mußte ihm die Schusszahl pro Minute ausrechnen, dann wurde das Gewicht einer einzelnen Patrone mit der für ein zehnminütiges Dauerfeuer benötigten Munitionsmenge multipliziert, am Schluß zog Lin Piao ein enttäuschtes Gesicht, lächelte, aus Verlegenheit. »Wie kann man den Munitionsnachschub für eine derart ver schwenderische Waffe an die kämpfende Truppe sichern?« Barrett mischte sich ein. Er erklärte dem roten General, daß die Maschinenpistolen von unseren Soldaten vorwiegend wegen ihres demoralisierenden Effektes beim Gegner geschätzt würden. Wäh rend einer Schußserie presse sich der Gegner gewöhnlich deckungs suchend an den Boden. Dies sei der Augenblick, in dem man ihn — immer weiter schießend — überrennen könne, und zwar bei minimaler Gegenwehr. »Ich verstehe«, gab Lin Piao sachlich zurück. »Es ist eine morali sche Wirkung, die hier auftritt. So wünschenswert die Waffe für uns wäre — wir können bei unserer Art Kriegsführung diese Munitions menge nicht mitführen ...« Er bedankte sich, ernst, ohne auch nur noch eine weitere Frage zu stellen, dann erprobte er ein Zielfernrohr und zeigte sich nach einigen Schüssen hocherfreut. Die Chance, mit jedem Schuß einen Gegner sicher treffen zu können, faszinierte ihn. Ich beobachtete, wie er das Gewehr immer wieder von allen Seiten besah, wie er es wog, beklopfte. Da machte ich Barrett aufmerksam, und der wandte sich sofort an Lin Piao, es würde uns eine Ehre sein, wenn er diese Waffe als persönliches Geschenk unserer Mission entgegennehmen würde. Etwas Sonderbares trat ein. Lin Piao blickte unschlüssig zu Kang Sheng, und erst als der fast unmerklich nickte, nahm er das Gewehr 141
an. Es schien mir, als hätten wir einen Fehler gemacht. Im Vergleich zu Tschu Teh und Kang Sheng war Lin Piao wohl doch eine unter geordnete Größe, eine Art Junioroffizier. Den anderen beiden hatten wir bisher nichts geschenkt. Während auf dem Übungsgelände ge rade Handgranaten mit Phosphorbeimischung vorgeführt wurden, wandte ich mich deshalb nach kurzer Beratung mit Barrett an Kang Sheng und erkundigte mich, welche Art persönlicher Waffe er und Tschu Teh, Mao Tse-tung und Tschou En-lai bevorzugten. Kang Sheng, der meines Erachtens genau wußte, daß ich eine peinliche Situation retten wollte, lächelte. »Der Genosse Vorsitzende trägt nur einen Revolver, ebenso der Genosse Tschou En-lai. Tschu Teh bevorzugt das Gewehr. Ich selbst ...« Er schlug sein hochgeschlossenes Jackett zurück. Darunter glänzte in einem hellen Lederholster eine Pistole, deren Fabrikat mir unbekannt war. Kang Sheng zog sie heraus und gab sie mir zur Betrachtung. Ich entdeckte einen Sowjetstern und einige kyrillische Buchstaben. Eine schlanke, schwere Waffe. »Russisch?« erkundigte ich mich. Kang Sheng nickte. Als er die Waffe wieder an sich nahm, sagte er gelassen: »Sie hat einem Offizier der Kuomintang gehört, ich nahm sie ihm ab, nach einem Kampf, den er verlor.« »Schönes Souvenir«, bemerkte ich. »Ja«, meinte Kang Sheng, »ein Souvenir. Es kam aus der Sowjet union sozusagen auf einem Umweg zu uns Kommunisten in China. Einen direkten Weg gibt es nicht.« Das war deutlich. Trotzdem entschied ich mich dafür, dieses Thema jetzt nicht zu vertiefen, ich erkundigte mich, ob er und Tschu Teh uns die Freude machen würden, eine amerikanische 142
»45« anzunehmen. Er sagte sofort zu. Und als ich ihm mitteilte, daß die vorgeführten Waffen selbstverständlich in Jenan verbleiben sollten, als eine erste Geste guten Willens von unserer Seite, zeigte er sich sehr befriedigt. Danach nahm ich Gelegenheit, ihn über die Störmanöver Tschiangs gegen unsere Mission zu informieren, über dessen formellen Protest bei Roosevelt und die sich anbahnende Mobilisierung der >Tschiang-Lobby< im Kongreß gegen unsere Zusammenarbeit. Er nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Als ich mit diesen Eröffnungen geschickt die Frage nach Kontakten zu Moskau verband, schüttelte er den Kopf und erklärte in einem beinahe offiziellen Ton: »Wir bekommen nichts von dort, es gibt keinen Flugzeugverkehr! Seit Auflösung der Komintern sind für alle Aspekte unserer Politik ganz allein wir selbst verantwortlich.« Abends saß ich mit Barrett und Service zusammen in meiner Be hausung, und wir trugen die Fakten für Barretts Bericht zusammen. Es stellte sich heraus, daß die Kommunisten mit Sicherheit auf Waffenlieferungen rechneten. Barrett äußerte Bedenken wegen der zu erwartenden Proteste Tschiangs, aber Service schob sie beiseite: »Unsinn, Dave! Der alte Strolch darf einfach keine Chance bekom men, sich in unsere Politik einzumischen! Was gibt ihm das Recht? Wir halten ihn aus, und er tut nichts. Hier aber, in Jenan, haben wir es wenigstens mit Leuten zu tun, die kämpfen wollen!« »Es besteht nur die Gefahr, daß sie alles, was sie von uns bekom men, dafür verwenden, China kommunistisch zu machen«, warf Barrett ein. Doch das war kein Argument für den enthusiastischen Service. Er lachte nur: »Sollen Sie doch! Wer mit so kümmerlichen Mitteln schafft, was in Jenan geschafft worden ist, der ist auch in der Lage, ganz China so zu regieren, daß es zu einem verläßlichen Verbündeten für uns wird! Hier in Jenan müssen wir investieren, hier liegt Amerikas Chance für die Zukunft!« 143
Barrett brummte nur: »Ich hoffe, der Kongreß ist auch deiner Meinung, mein Junge.« John Service erinnert mich in seiner voll entflammten Begeisterung für das kommunistische Experiment in Jenan immer mehr an Evans Carlson, der inzwischen wohl General im Marine Corps ist. 1937 schickte ihn Roosevelt nach China, um gewissermaßen exklu siv für den Präsidenten Informationen zu sammeln. Nach seiner Rückkehr in die Staaten sagte er öffentlich einen japanischen Angriff auf uns voraus. Und er brachte einen chinesischen Ausdruck mit, der später zum Kampfruf einer Spezialtruppe der Marine wurde: Gung Ho. — Ma Hai-te besucht mich am Abend. Ich sitze über langwierigen Zusammenstellungen des Potentials der Kommunisten, es ist mir ganz lieb, daß mich jemand unterbricht, also werfe ich den Papier kram in die Stahlkiste, hole eine Flasche Whisky hervor, und dann trinken wir ein wenig. »Herbst«, sagt Ma Hai-te, »das ist die traurigste Zeit hier. Die Sonne wird fahl, der Staub scheint schwerelos in der Luft zu schwe ben, und die Menschen beginnen zu frieren ...« Er hebt den Blech becher und prostet mir zu. Sproß aus einer syrischen Familie, die in die Vereinigten Staaten auswanderte, hat er zuerst in der Schweiz und dann bei uns Medizin studiert. Hautkrankheiten hauptsächlich, wenn ich es recht verstehe. Seine Neugier auf fremde Länder trieb ihn von New York um die Mitte der dreißiger Jahre nach Shanghai, dem Eldorado internationaler Abenteurer und Geschäftemacher. Er kennt Shanghai ausgezeichnet. Es macht ihm Spaß, darüber zu er zählen, so wie ich überhaupt den Eindruck habe, daß er gern mit Nichtchinesen Bekanntschaft schließt. Ma Hai-te hat Erdnüsse mit gebracht, eine Rarität in Jenan. Er schüttet sie auf den Kistendeckel, der uns als Tisch dient, und während wir sie knacken, gräbt er ein 144
paar alte China-Anekdoten aus, zweifellos in der Absicht, mit mir in ein Verhältnis freundschaftlicher Kumpanei zu kommen. Und er kann erzählen! »Ich verdiente Geld wie Heu!« versichert er mir. »Keine Exi stenzprobleme. Bei zehntausend Prostituierten in der Stadt war die Zahl der Leute, die mich aufsuchen mußten, Legion! Wer geht ins Bordell? Leute mit Geld! Meist Weiße, selten Chinesen. Wie der Bordellbetrieb ja überhaupt streng getrennt war, nach Rassen. Weißrussinnen, Amerikanerinnen und Französinnen trieben es in den Häusern der Kwangsi Road überhaupt nur mit Weißen. Ich glaube,
Anna
Ballard
war
die
einzige
nichtchinesische
Unternehmerin auf dem Gebiet der Prostitution, die einigen gut betuchten
chinesischen
Gentlemen
den
Zutritt
zu
den
Etablissements ihrer Kette erlaubte. Diskret allerdings, aber immerhin. Jemals was von ihr gehört?« »Nie«, gestehe ich etwas verlegen. »Eine einmalige Person! Sie baute in den zwanziger Jahren von Shanghai aus ihre Kette der Freudenhäuser in ganz Asien aus. Be rühmt wurde sie durch ihren Auftritt am 14. Juli, dem Tag der Er stürmung der Bastille, ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahr es war, da ritt sie, splitternackt, auf dem Rücken eines ebenfalls splitternackten Kunden feierlich durch einen ihrer Salons, im Hintern eine blau-weiß-rot gefärbte Pfauenfeder, und schmetterte dabei die Marseillaise. Der Kunde, auf dem sie ritt, war übrigens der französische Konsul in Shanghai. Seitdem ist sie in ganz Asien berühmt. Ich selbst habe das Schauspiel einmal miterlebt, es wird gelegentlich an jenem französischen Gedenktag noch von dieser oder
jener
gutgelaunten
Prostituierten
nachgeahmt.
Eine
Zelebration! Sie haben nie davon gehört?« Wieder muß ich den Kopf schütteln. Er amüsiert sich über meine 145
Unwissenheit, trinkt genußvoll Whisky, wird dann ernst, von einer Sekunde auf die andere, und sagt: »Vergangenheit für uns. Wir schaffen das neue China.« »Ein China ohne Prostituierte?« »Ohne Krankheiten«, sagt er. »Gesellschaftliche wie medizini sche. Jenan ist das Beispiel. Als ich hierher kam ...« »Sie kamen einfach so hierher? Ohne gerufen zu werden?« Er zieht seine buschigen Augenbrauen hoch. »China rief um Hilfe, damals. Jeder, der es hören wollte, konnte es hören. Ich hörte es. In Shanghai hätte ich Millionär werden können, in ein paar Jah ren. Es reizte mich nicht. Ich traf Edgar, eines Tages ...« »Sie meinen Edgar Snow?« Er nickt. »Er war gekommen, um herauszufinden, was es mit den Kommunisten auf sich hatte. Ein Mann, dessen Herz für die einfa chen Chinesen schlug. Die Shanghaier Gesellschaft ödete ihn an: Frühstück, Lunch, Dinner, dazwischen Bootsfahrten oder Tennis, Hunderennen oder Billard, Konzerte, Tanzparties — mir ging es ähnlich. Wir verstanden uns auf Anhieb. Kurzentschlossen brachen wir auf, hierher. Wir nutzten ein paar Verbindungen, und als wir hier ankamen, spürten wir, daß dies der Platz in China ist, an den Internationalisten gehören. Ich habe es nie bereut. Aus Jenan wird ein neues China hervorgehen!« »Aber Edgar Snow ging zurück«, bemerke ich. »Natürlich! Seine Aufgabe liegt außerhalb China«. Er ist in der Lage, der Welt ein echtes Bild von dem zu vermitteln, was wir hier tun.« Darum hat sich Snow in der Tat bemüht, ich kenne nahezu alles, was er geschrieben hat. Seiner Arbeit ist es hochgradig zu verdan ken, daß sich bereits vor Beginn des Krieges in Amerika und an derswo so etwas wie eine prokommunistische China-Lobby for 146
mierte. Eingeweihte wissen, daß er direkten Zugang zu Roosevelt hat und daß er manche Nacht mit Mao Tse-tung durchzechte. »Ja«, sage ich, um auf ein Gebiet zu kommen, das mich interes siert, »in dieser Beziehung hat er wohl mehr für die chinesischen Kommunisten tun können als Moskau. Ich finde überhaupt, daß Moskau in Jenan recht spärlich präsent ist. Wir alle, die wir Jenan zum ersten Mal sehen, sind davon überrascht. In unserer Vorstel lung war Jenan immer so etwas wie eine militante Filiale der Mos kauer Komintern ...« Er will sich ausschütten vor Lachen. Ich gieße Whisky nach, greife mir ein paar Erdnüsse und zünde dann ein Windlicht an. Es ist dunkel geworden. Die Luft ist schwer wie Blei. »Die Idee des Kommunismus«, sagt Ma Hai-te, nachdem er wie der ernst geworden ist, »hat auf China übergegriffen wie ein Step penbrand. Sie kam aus Moskau. Aber sie hat in diesem Lande ihre eigenen Bedingungen vorgefunden. Und Männer und Frauen, die sie in die Realität umsetzten, unbeirrbar. Moskau hat seine Revolution gehabt, wir haben die unsere.« »Das kann ich sehen. Nur — ich hatte gedacht, es gäbe da ein sehr enge Verbindung. Zu den Gesinnungsgenossen. Das schein nicht so zu sein.« Er denkt nach, trinkt, knabbert Nüsse. Es ist zu spüren, daß er genau abwägt, was er sagt. »Russische und chinesi sche Kommunisten sind Brüder. Jeder geht seinen Weg, und beide Wege münden in das gleiche Ziel, die klassenlose Gesellschaft.« »Und nun suchen die chinesischen Kommunisten die Freund schaft des großen kapitalistischen Amerikas. Manchmal drängen sich mir dabei Zweifel auf. Kann das gut gehen?« Er wiegt den Kopf. »Wenn beide Partner ehrlich sind, wird es keinen Streit geben. Was uns betrifft, so sind wir an ehrlicher Freundschaft interessiert. Und — Amerika muß doch von sich aus 147
ein Interesse haben, mit dem künftigen China gute Beziehungen zu
schaffen.
Sprechen wir einmal in ganz nüchternen Geschäftskategorien: Sind
einige hundert Millionen Kunden nicht beispielsweise ein Markt,
der für die Vereinigten Staaten von einiger Bedeutung sein
könnte?«
Wieder dieses >künftige China
Manche
Leute
in
Tschungking
reden
den
Amerikanern ein, wir würden hier kleine Kinder auffressen. Wir 148
hoffen, die Amerikaner in Jenan bilden sich über uns ihre eigene Meinung.« Dann lenkt er von dem heiklen Thema ab, erzählt von seiner Le bensgefährtin, einer ehemaligen Schauspielerin, die jetzt im Sanitätsdienst arbeitet. Er erwähnt seine lange Freundschaft mit Tschou En-lai und dessen Frau, erinnert wieder an Edgar Snow, dem die Gattin Tschou En-lais angeblich ihr Leben verdankt, spricht über seine eigenen Bemühungen, Seuchen und andere gefährliche Krankheiten in Jenan vorbeugend zu bekämpfen, erwähnt dies und jenes und vergißt niemals, darauf zu verweisen, wie schwer das alles hier ist. Er wird nicht müde, mir zu schildern, wie viel Leute aus anderen Ländern sich für die Sache der chinesischen Kommunisten einsetzen. Entweder dadurch, daß sie China zu Hilfe eilen, wie er selbst, oder indem sie in ihren Ländern Hilfsaktionen für China in Gang setzen. Begeistert beschreibt er, wie der Kanadier Dr. Bethune unter schwierigsten Umständen in seinem Fronthospital arbeitet oder wie der Neuseeländer Rewi Alley, ehemals Beamter in Shanghai, im ganzer Land sogenannte >Cooperationen<
organisiert,
kleine
Handwerksbetriebe
auf
genossenschaftlicher Grundlage, die einerseits dringend benötigte Produktionsaufgaben
erfüllen,
andrerseits
Arbeits-
und
Ausbildungsplätze für ungezählte junge Chinesen sichern. Er spricht lange über die verdienstvolle Tätigkeit der > China Defence League<, jener ausländischen Vereinigung zur Hilfe für China, die nicht denkbar gewesen wäre, ohne den unermüdlichen Einsatz der Witwe Sun Yat-sens. Jene Sung Tjing-ling, eine der drei Töchter aus der steinreichen Familie Sung, hat im Ausland durch geschickte Kampagnen Millionen für China gesammelt. Der Hauptteil davon ist zweifellos nach Jenan geflossen, und das wird hier mit einer sprichwörtlichen Hochachtung vor der Witwe des Begründers der 149
Republik China quittiert, die ihr Büro in Hongkong hatte und es durch kluges Ausspielen der verschiedensten Beziehungen und Verbindungen verstand, in der Welt den Gedanken der Hilfe für China populär zu machen. Eine Art internationaler Heilsarmee für das Reich der Mitte, vielmehr für dessen roten Teil. »Sie ist eine ganz außergewöhnliche Frau«, schwärmt Ma Hai-te. »Wenn man bedenkt, aus welcher Umgebung sie kam, als sie Sun Yat-sen heiratete, und wenn man verfolgt hat, wie sie nach seinem Tode für seine revolutionären Ideen weiterkämpfte, so ist sie eine Art chinesisches Wunder!« In der Tat ist die Geschichte der Sung Tjing-ling außerordentlich interessant, ebenso wie die ihrer gesamten Familie. Die Sungs wur den lange Zeit von vielen Leuten als die eigentlichen Beherrscher Chinas angesehen. Der Vater, Sung Yao-ju, war nach den Vereinig ten Staaten ausgewandert, lernte hier moderne Geschäftspraktiken, ließ sich taufen und kehrte dann unter dem Namen > Charly Sung< wieder nach Shanghai zurück. Hier betätigte er sich zunächst als so genannter >Komprador<, das heißt, er managte die Geschäfte ausländischer Firmen in China. Wie viele Kompradoren verstand er es, aus dem Management für sich selbst so viel abzuzweigen, daß er bald eigene Unternehmen gründen und in relativ kurzer Zeit beachtlich reich werden konnte. Da er sich auch im Bankwesen betätigte, fiel es ihm nicht schwer, sein Vermögen durch Spekulationen zu vervielfachen. Dann wurde er durch einen Zufall mit Sun Yat-sen bekannt, entdeckte seine patriotische Seele und unterstützte den Revolutionär. Nicht ganz selbstlos wohl, denn Sun Yat-sens Pläne
für eine weitgehende
Modernisierung und
Industrialisierung Chinas verhießen ihm ja neue Gewinnchancen. Sechs Kinder > Charly< Sungs studierten in den Vereinigten Staaten. Der älteste Sohn, Sung Tse-wen, stieg ins Bankfach ein 150
und brachte es bis zum Finanzmanager der Kuomintang. Er verfügt über umfangreiche Verbindungen zu Finanzkreisen in den Staaten, und vieles von der Unterstützung, die Tschiang Kai-shek von dort bekam und weiter bekommt, ist auf seinen Einfluß zurückzuführen. Seine amerikanischen Freunde nennen ihn liebevoll T. V. Sung. — Von den drei Schwestern heiratete die älteste, Ai-ling, den Ban kier Kung, ebenfalls steinreich und ebenfalls eng mit Tschiang Kai sheks Regierung verbunden, die ihn zum Finanzminister machte. Mei-ling heiratete den im Hause Sung in Shanghai verkehrenden, damals noch in vielerlei zwielichtige Geschäfte verwickelten, nichtsdestotrotz aber politisch karriereträchtigen Tschiang Kai shek, einen der politischen Zöglinge Sun Yat-sens, der freilich später seine eigenen Wege beschritt. Heute nennt man Mei-ling die > Madame Generalissima<, oder auch >Madamissimac. Und schließlich — Tjing-ling, sie wurde Dr. Sun Yat-sens Frau. Damit war innerhalb dieser Familiendynastie nicht nur eine kaum zu überbietende Macht konzentriert, auch der Zündstoff, der sich unter der gesamten chinesischen Gesellschaft angesammelt hatte, fand sich hier gewissermaßen in der Nussschale wieder. Sung Tjing-ling war es, die nach dem Tode ihres Mannes dessen politisches Werk fortzuführen begann und die sich dadurch der Fa milie immer stärker entfremdete. Die chinesische Revolution ging inzwischen andere Wege, als Sun Yat-sen sie vorgezeichnet hatte, sie kulminierte vorerst in der Auseinandersetzung Tschiang — Mao, und Sung Tjing-ling — ohne zur Kommunistin zu werden — schlug sich aus patriotischen Gründen zu Maos Kommunisten. Sie sah in ihnen die Kraft, die allein Chinas unermeßliche Potenzen zusammenfassen, unter einem neuen Programm vereinen und so in der Lage sein würde, das Schicksal des Landes aus den Mahlsteinen ausländischer Interessen ein für allemal herauszulenken. Konse 151
quent setzte sie von ihrer Residenz in Hongkong aus ihre Persön lichkeit und ihre Verbindungen, ihren unbestreitbaren Charme und ihre Klugheit bei Verhandlungen mit nichtkommunistischen Gön nern für Mao und die seinen ein. Wenn es jemanden gegeben hat, der nach der Ansiedlung von Maos Resttruppen in Jenan überall in der Welt Hilfe für ihn mobilisierte, und wenn diese Hilfe entschei dend zu seinem Überleben beitrug, wenn er schließlich im Ausland überhaupt von der >Nicht-Figur< zu einem ernstzunehmenden Politiker wurde, so gebührt Sung Tjing-ling, der Nichtkommunistin, und ihrer China Defence League daran der Löwenanteil. Jeder der vielen Ausländer, die sich heute für Maos revolutionäre Bewegung einsetzen, ist auf diese oder jene Weise von Sung Tjing-ling und ihrer weitverzweigten Organisation dazu veranlaßt worden. — Ma Hai-te knackt eine Erdnuß auf, läßt den Kern im Mund ver schwinden und hält mir die beiden Hälften der Schale hin. »Jenan. Die Nussschale, aus der das neue China wächst!« Er ist ein wenig angetrunken,
manchmal
geraten
seine
Bewegungen
außer
Kontrolle, aber seine Augen scheinen zu glühen. »Amerika tut gut daran, sich mit uns zu verbünden«, sagt er mit schwerer Zunge. »Es ist keine Frage, bei uns liegt die Zukunft Chi nas. Und es macht schon etwas aus in der Welt, wenn wir uns zu sammentun. Der Vorsitzende ist genau dieser Meinung. Ein kluger Mann!« Er stößt mit mir an. »Laß uns Freunde sein, Kamerad Sid!« Ich folge der Aufforderung, stoße mit ihm an. Er ist fröhlich, ge löst, ein Agitator, der mit Bestimmtheit nicht zufällig zu mir kommt, um mir dies alles zu erzählen, dessen Beweggründe mir aber trotzdem nur in Ansätzen klar geworden sind. Ein Träumer vielleicht? Eine dieser eigenartigen Persönlichkeiten, die bei aller Selbständigkeit dem unerklärlichen inneren Antrieb folgen, 152
Loyalität gegenüber jemandem zu bezeigen, den sie wie Gott oder an dessen Stelle verehren? Auf jeden Fall wird es gut sein, ihn zum Freund zu haben, in der langen Zeit, die vermutlich noch vor mir liegt, in China. Er gehört zu den wenigen Ausländern hier, die jederzeit direkten Zugang zu Mao Tse-tung haben. Ich begleite ihn bis vor meine Behausung. Der Posten tritt diskret beiseite, während wir uns verabschieden. Da schlägt Ma Hai-te sich plötzlich mit der flachen Hand an die Stirn und ruft: »Vergeßlich wie ich bin — über die wichtigste Sache haben wir nicht gesprochen! Habt ihr in eurer Apotheke ein gutes Laxativ?« »Wir haben keine komplette Apotheke mitgebracht«, gebe ich Auskunft, »aber Dr. Casberg bewahrt einen gewissen Vorrat der notwendigsten Medikamente auf. Ich werde ihn fragen, ob ein Laxativ dabei ist.« Ma Hai-te tritt ganz dicht an mich heran. Er flüstert kichernd: »Wenn ihr zum Vorsitzenden eingeladen werdet — nehmt ihm so was mit!« Ich bemühe mich, ernst zu bleiben. »Hat er Schwierigkeiten in dieser Hinsicht?« »Große! Er sitzt den ganzen Tag herum, schreibt, hält Konferen zen ab, bewegt sich zu wenig — das schlägt auf sein System. Manchmal tut sich tagelang nichts bei ihm, er ist dann ungenießbar. Die einheimischen Hausmittel, die wir haben, helfen nicht.« Ich verspreche ihm, notfalls aus Tschungking etwas einfliegen zu lassen. Nachdem er in der Dunkelheit verschwunden ist, muß ich herzlich lachen: So wird man unfreiwillig zum Mitwisser von höch sten Staatsgeheimnissen! — Überraschung: Ich erhielt am 20.8. plötzlich und ohne vorherige Ankündigung den Besuch der Dame Lan Ping (alias Lien Hua, Li Yün-ho oder Li Tschin). Sie nennt sich hier Tschiang Tsching und 153
ist nach Maos Trennung von seiner dritten Frau mit ihm verheiratet. Erstaunlich, und völlig gegen die sittenstrengen Gewohnheiten Chi nas, daß eine Dame einen Fremden ohne Begleitung in dessen Be hausung aufsucht. Wie es scheint, ist diese Tschiang Tsching eine etwas ungewöhnliche Frau. Keine absolute Neuigkeit mehr, nachdem Chi-Pao-Lily (möge es ihr wohl ergehen in Macao!) mich einigermaßen über die wechselvolle Karriere der Shanghaier Schauspielerin ins Bild gesetzt hat. Tschiang Tsching springt vor meiner Hütte von ihrem kleinen mongolischen Pony, ruft dem Posten* zu, er solle auf das Tier achten, dann kommt sie mir lächelnd entgegen, sagt > Hallo < und drückt mir die Hand. Ich weiß nicht, ob es vielleicht besser wäre, mit ihr im Freien zu bleiben, unter den Augen des Postens, aber ehe ich mich entschließen kann, tritt sie an mir vorbei und besieht sich das Innere des Lehmbaues. Eine zweifellos anziehende Frau. In der verwaschenen Kleidung aus blauem Kattun scheint ein feingliedriger Körper zu stecken. Sie hat schmale Hände, ein leidlich hübsches Gesicht, das von wachen, dunklen Augen beherrscht wird, und sie trägt ihr Haar ein wenig länger, als es hier üblich ist. Ein bißchen >Shanghai< geht von ihr aus. Da gibt es keine Unsicherheit, kein Niederschlagen des Blickes, wenn man sie ansieht, keine jener verkrampften Verlegenheitsgri massen, die unkundige Ausländer gern als >ewiges Lächeln Asiens< bezeichnen. Nein, dies ist eine selbstbewußte junge Frau, das spürt man sofort. »So leben Mönche!« sagt sie, als sie ihren Rundblick beendet. »Sind nicht alle Krieger Mönche?« Statt darauf einzugehen, stellt sie fest: »Sie haben in Szetschuan Chinesisch gelernt!« 154
Das stimmt, ich werde es kaum jemals verbergen können, habe auch keinen Grund. Ich schiebe ihr eine der Kisten hin, die uns als Sitzgelegenheit dienen, und sie läßt sich ungeniert nieder. In der Eingangsöffnung der Behausung erscheint der Ordonnanzsoldat und erkundigt sich, ob Tee gewünscht wird. Ich drücke ihm eine Büchse >Lipton's< in die Hand, die mit dem Nachschub aus Kunming ge kommen ist. Tschiang Tsching sagt etwas versonnen: »Einmal gab es in China mehr als hundert Sorten Tee ...« Wem sagt sie das? Ich erinnere mich noch an die Basare in Tschengtu oder Tschungking, an die Düfte, die Farben. Eine Weile plaudern wir über die vergangene Zeit, erinnern uns sozusagen an unsere Jugend, dann will sie Neuigkeiten aus Tschungking hören, und ich lasse wie nebenbei die Bemerkung fallen, daß Bai Yang während der Zeit, die ich in Tschungking verbrachte, am dortigen Theater in einem Taiping-Drama eine großartige Rolle spielte. Vage erinnere ich mich nämlich an den Rat eines meiner Lehrer, daß man dem Charakter eines Künstlers am besten auf die Spur kommt, wenn man ihn zur Meinungsäußerung über andere Künstler provoziert. Und
Bai
Yang
ist
immerhin
eine
der
hervorragendsten
Schauspielerinnen des modernen chinesischen Sprechtheaters. »Bürgerliche Kunst«, sagt Tschiang Tsching langsam, wobei ihre Stimme einen schneidenden Klang annimmt. »Die bürgerliche Kunst in China ist eine Hure. Selbst der verkommenste Zuhälter kann an ihr noch sein Geld verdienen!« Gilt das Bai Yang? Ich glaube nicht, wenigstens ist es nicht per sönlich auf sie gezielt, wie mir scheint. Denn sogleich beginnt Tschiang Tsching mir zu erläutern, daß es die große Aufgabe der Kunstakademie >Lu Hsün< in Jenan sei, proletarische Künstler auszubilden oder bürgerlichen Künstlern, wie auch Bai Yang eine sei,
auf
den
richtigen
Weg 155
zu
helfen,
>dem
Volke
nahezukommen<, wie sie es nennt. China brauche Künstler, die mit ihren Werken den Bauern verständlich sind, den Arbeitern, den bisher Unterprivilegierten, Ungebildeten. Sie empfiehlt mir, die grundlegenden Ausführungen ihres Mannes über diese Frage zu lesen, dabei ahnt sie nicht, daß ich sie bereits seit Tschungking kenne. Übrigens sagt sie nicht >mein Mann<, sondern >der Genosse Vorsitzende^ und sie sagt nicht >lesen<, sondern > studieren <. Zwischendurch eröffnet sie mir, gleichsam am Rande, sie sei ge kommen, um mich für den Abend zum Vorsitzenden einzuladen. Ein zwangloses Gespräch, etwas essen, trinken, über die Lage reden. Der Vorsitzende sei von Kang Sheng über mich informiert worden, und er liebe es, sich mit Ausländern zu unterhalten, denen das Schicksal Chinas am Herzen liegt. Sie nimmt meine dankende Zusage gleichmütig zur Kenntnis, schweift sogleich wieder ab, beschäftigt sich mit Kang Sheng, will wissen, wie ich mit ihm zusammenarbeite. »Blendend«, gebe ich zurück. Da beginnt sie über ihn zu spre chen. Ich spüre, daß sie ihn zu ihren engsten Vertrauten zählt. Da gibt es kein kritisches Wort über ihn, keine Bemerkung, die an seine Rolle als Verfolger liberal denkender Intellektueller kritisch erinnert, lediglich an Verehrung grenzendes Lob. Ist es echt? »Er stammt aus Shantung«, sagt sie, »ebenso wie ich. In China kommen sich Leute, die aus derselben Provinz stammen, schnell näher. Ich habe ihm viel zu verdanken.« Es hört sich ehrlich an. Als ich einwerfe, daß ich leider viel zu wenig von ihm weiß, lächelt sie. »Dafür ist der Genosse Kang Sheng umso besser über Sie informiert. Er ist ein überaus intelligenter Mann. Er bringt viel Verständnis für die persönlichen Probleme der Menschen auf. Ich, zum Beispiel, hatte es sehr 156
schwer, als ich hier ankam. Ein völlig neues Leben. Und mir fehlte so vieles an politischen Kenntnissen! Es war Kang Sheng, der lange und geduldig mit mir sprach, über meinen weiteren Lebensweg. Er nahm für mich Partei, oftmals. Schließlich konnte ich die Parteischule besuchen, wurde militärisch ausgebildet, und dann war es wieder der Genosse Kang Sheng, der sich dafür verwendete, daß ich an der Lu-Hsün-Akademie aufgenommen wurde. Hier habe ich erst begriffen, was eine revolutionäre Kunst zu erreichen vermag, wenn sie sich unter den Massen ausbreitet ...« »Um diese Zeit kannten Sie den Vorsitzenden noch nicht?« werfe ich ein. »Das heißt, Sie waren noch nicht seine Frau?« Ich erwarte, daß sie ausweicht, ihr Privatleben vor mir verschließt, daß sie viel leicht sogar unwirsch wird, aber das geschieht nicht. Im Gegenteil, sie denkt eine Weile nach und sagt dann ruhig: »Es war Zuneigung auf den ersten Blick. Der Genosse Vorsitzende hörte, daß ich in Je nan eingetroffen war. Ich, die Schauspielerin aus Shanghai, die für die Sache der Partei bereits im Gefängnis gewesen war. Er ließ mich zu einer Vorlesung einladen, die er vor hohen Kadern in der Parteischule hielt. Danach fragte er mich nach meiner Meinung über seine Ideen. Ich konnte nicht viel sagen. Aber er lachte nur und meinte, ebenso würde es ihm gehen, wenn ich ihn zu einer Bühnenaufführung einladen und danach über das Stück befragen würde. Genau das tat ich, als ich wenig später auf unserer Laienbühne auftrat. Es war der Beginn unseres gemeinsamen Lebens ...« Ehe ich weiß, was ich darauf sagen könnte, springt sie plötzlich von ihrer Kiste auf, läuft erregt in dem kleinen Raum hin und her und steigert sich in etwas, das man einen Wutanfall nennen könnte, bliebe ihre Stimme nicht gedämpft dabei. Es ist Zorn, gezügelt, aber von einer nicht zu überhörenden ätzenden Schärfe, der da aus ihr 157
bricht und mich verblüfft. »Im übrigen: Glauben Sie nicht den bösen Tratsch, den einige Leute hier über mich verbreiten! Ich habe Feinde. Ich hatte sie in Shanghai, wegen meiner Gesinnung, man belächelte mich, baute Hindernisse für mich auf, verkaufte an die Zeitungen Skandalge schichten. Einige dieser Kreaturen sind inzwischen auch hier ange kommen, sie geben sich als Kommunisten aus, aber sie sind weiter nichts als armselige bürgerliche Kriecher, die sich >vor dem Sturm beugend Sie wissen, daß ich sie längst erkannt habe. Am liebsten würden sie mich loswerden. Weil das nicht geht, setzen sie Gerüchte in die Welt, um mich zu demütigen. Selbst eine Mehrheit im Zentralkomitee konnten sie zu der Entscheidung bringen, daß ich vorläufig keine höheren Funktionen in der Partei ausüben soll! Schufte! Der Vorsitzende hat sie ebenso erkannt wie ich, wie der Genosse Kang Sheng ...« Sie bleibt stehen, streicht mit einer nervösen Bewegung ihr Haar glatt, dann ist sie, ebenso plötzlich wie der Ausbruch erfolgte, wieder ganz ruhig, eiskalt, wie mir scheint. »Ich hätte Ihnen das alles nicht erzählen sollen. Noch ist nicht die Zeit, darüber zu reden. Forget it, sagt man, nicht wahr? Eines Tages wird den Schmarotzern, die sich heute in unserer schwierigen Lage noch tarnen können, die Rechnung präsentiert werden. Heute müs sen wir noch alle Kräfte zusammenfassen, müssen den Sieg erringen. Danach erst wird alles andere drankommen ... Wird Amerika sich auf unsere Seite stellen?« Eine jähe Wendung des Gesprächs will sie damit herbeiführen. Das ist nicht ungeschickt, wenngleich auch nicht sonderlich neu. Ich gehe nicht darauf ein, ich will mehr wissen, und ich erfahre es. »Ich
werde
Ihnen
die
amerikanische
Position
ohne
Zurückhaltung schildern«, verspreche ich ihr. »Was ich Ihnen sage, 158
das werden Sie dann bitte auch vergessen. Forget it! Nur — Sie gestatten, daß ich erstaunt bin. Wer kann einer Frau, wie Sie es sind, Böses wünschen? Was sind das für Leute, Ihre Feinde? Klären Sie mich auf, ich lege Wert auf Ihre Freundschaft, ich möchte nicht unversehens in die Netze einer gegen Sie oder den Vorsitzenden oder Herrn Kang Sheng gesponnenen Intrige geraten, unwissend sozusagen ...« Damit habe ich ihren Nerv berührt, ich merke es. Sie überwindet sich, sagt leise: »Hüten Sie sich vor Dschou Yang. Auch vor Tien Han, vor Tschang Keng. Achten Sie darauf, wer mit ihnen konspi riert. Sie sind Heuchler!« Während sie weiterspricht, vornehmlich über Dschou Yang, einen aus Shanghai stammenden Literaturtheoretiker, über Tien Han, den Dramatiker, und Tschang Keng, den ebenfalls aus Shanghai stammenden Bühnenkritiker, die alle hier in Jenan an der Lu-Hsün-Akademie
hohe
Posten
haben,
während
sie
mir
verworrene Zusammenhänge zwischen ihrer eigenen, angeblich aufrecht kommunistischen Haltung im Shanghaier Kunstbetrieb und der Doppelzüngigkeit der damaligen Repräsentanten der >Liga Linker Dramatiken erläutert, aus denen ich .nur begreife, daß sie diese Leute, die von Tschiang Tschings künstlerischer Begabung offenbar ebensowenig halten wie von ihrer kommunistischen Gesinnung, wie die Pest haßt, rufe ich mir ins Gedächtnis zurück, was Barrett unlängst erzählte. Danach soll es tatsächlich einen handfesten Skandal gegeben haben, als Mao Tse-tung sich entschloß, die Trennung von seiner (damals der dritten) Frau Ho Tsü-tschen zu vollziehen und die attraktive Schauspielerin zu heiraten. Immerhin war Ho Tsü-tschen die Kampfgefährtin Maos während des legendären > Langen Marsches < gewesen und hatte zwei Kinder von Mao. Mehrere heikle Krankheiten, Folgen 159
körperlicher Anstrengungen während des Marsches wohl, hatten sie in Jenan bettlägerig werden lassen. Es wird unter vorgehaltener Hand erzählt, es seien Dauerschäden bei ihr verblieben und sie sei im Kopf nicht mehr ganz richtig. Mao habe sie schließlich nach Moskau zur Ausheilung geschickt. Man kann sich unschwer vorstellen, welches ärgerliche Aufsehen die Trennung eines Mannes von einer solchen Frau zugunsten einer Großstadtschauspielerin hervorgerufen hat, in dieser engmaschigen Kommune von Jenan. Besonders die orthodoxen Revolutionäre haben es wohl bis heute nicht verwunden, daß ihr höchster Repräsentant eine vom Kampf gezeichnete Gefährtin so einfach gegen diese junge Dame mit dem für China anrüchigen Beruf und der fragwürdigen BohemeVergangenheit eintauschte. Warum allerdings steht gerade Kang Sheng auf ihrer Seite? War er vielleicht jener KP-Mann, der sie in Shanghai vor ihrem Aufbruch besuchte und an dessen Namen sich Chi-Pao-Lily nicht mehr genau erinnerte? Was verbindet ihn mit ihr, oder was erhofft der eine vom anderen? Lose Enden, die ich zu entwirren haben werde. Von allem, was ich in dieser höchst privaten Unterhaltung höre, wird dies die Frage sein, über die ich vermutlich am intensivsten nachzudenken habe. Der Ordonnanzsoldat mit dem Tee unterbricht Tschiang Tschings Mutmaßungen über die Verschlagenheit ihrer Feinde ebenso wie meine eigenen Überlegungen. Für eine Weile sind wir beschäftigt, knabbern indische Zuckerstücke, in den Tee getaucht, nehmen kleine Schlucke der fast schwarzen Flüssigkeit, schließlich greife ich nach einer Packung Luckies, und als ich sie Tschiang Tsching hinhalte, nimmt sie mit ihren sehr schlanken Fingern eine der in meiner Tasche wie üblich fast zerquetschten Zigaretten. »Eigentlich soll ich nicht rauchen«, gesteht sie, und sie zieht den Rauch auch nur sehr vorsichtig ein. »Ich habe eine Tuberkulose ge 160
habt. Doktor Ma hat mich einigermaßen davon kurieren können. Auch ein guter Freund, keiner von diesen politischen Falschspie lern! Nur — das Rauchen hat er mir verboten ...« Ich nehme die Gelegenheit wahr, ihr mitzuteilen, daß Ma Hai-te mit mir bereits persönlich Freundschaft geschlossen hat, was sie mit Befriedigung registriert. Von irgendwoher gelingt es mir, ein paar Army-Keks auszugraben, wir knabbern das leicht nach Mottenpul ver schmeckende Gebäck, trinken, sprechen. Wie es scheint, ist mir hier unvermittelt ein Goldstück auf den Kopf gefallen: die persönli che Verbindung zu dieser Frau ist unbezahlbar. Sie hat direkten Zugang zum Chef der Jenaner Kommunisten, und sie wirbt um mich als Verbündeten. Ich setze genau da an: »Sie sollen eine Antwort auf Ihre Frage von vorhin bekommen. Unter der Bedingung, daß Sie mit nieman dem darüber sprechen. Ausgenommen Ihr Gatte, Herr Kang Sheng und vielleicht noch Herr Tschou En-lai. Vertrauen gegen Vertrauen, einverstanden?« Ihre Augen können schön sein, wenn sie so wie jetzt aufleuchten. Es mag Männer in Jenan geben, die den Vorsitzenden um diese Frau beneiden. Selbst unter normalen Lebensbedingungen würde sie Blicke auf sich ziehen. Ich muß an Chi-Pao-Lily denken, wieder einmal, eigentlich hat sie ihre Freundin treffend beschrieben. Nur — Tschiang Tsching besitzt mehr als lediglich ein entzückendes Aussehen, sie verfügt über jene Art von Intelligenz, die nicht auf Universitäten erworben wird. »Sehen Sie«, erläutere ich ihr, »diese Vereinigten Staaten sind eine Demokratie. Es wird gewählt, es gibt einen Kongreß, der jedes Gesetz zu sanktionieren hat, jede wichtige politische Entscheidung zu kontrollieren befugt ist — ich könnte Ihnen lange über die Struk tur meines Landes erzählen, die bei der Beurteilung solcher Fragen 161
wie der Ihren eine entscheidende Rolle spielt...« Ich tat genau das, erläuterte ihr die komplizierte Situation, in der Vereinigten Staaten hinsichtlich ihrer China-Politik heute stecken und morgen noch tiefer stecken würden. Einerseits die Verträge mit Tschiang Kai-shek, dem offiziellen Alliierten, andrerseits die Ein sicht weitblickender Leute, besonders im OSS, daß sich in China Entscheidungen ankündigten, die eine radikale Veränderung in der China-Politik der USA nötig machen könnten. Je früher wir uns auf die zweifellos nach Beendigung des noch andauernden Krieges zu erwartenden neuen Gegebenheiten einstellten, desto besser würde das für beide Partner sein. Leider aber, das sei nicht zu leugnen, operierten wir gegenwärtig noch als eine Minderheit hinter dem Rücken der offiziellen Meinung in den Vereinigten Staaten. Roosevelt hatte zwar sein stillschweigendes Einverständnis erklärt, aber offiziell könnte ein geschickter oppositioneller Politiker in den Staaten das, was wir täten, durchaus mit Erfolg als Verrat an einem Alliierten bezeichnen, es entstünden dann die entsprechenden Konsequenzen.
Wir
hätten
uns
zwar
Tschiang
gegenüber
abgesichert, indem wir für unsere Mission militärpolitische und strategische Gesichtspunkte in den Vordergrund geschoben hatten, aber natürlich habe Tschiang die Gefahr längst begriffen und sei dabei, uns das Geschäft schwer zu machen. Sie verstand mich. Als ich eine Pause machte, um Tee nachzugie ßen und wieder nach den Luckies zu greifen, sagte sie versonnen: »Anfangs habe ich mich gefragt, was ich in Ihnen sehen soll, es war mir nicht klar, was Ihre Ziele sind. Jetzt bestätigt sich meine Vermutung, Sie sind sozusagen Pionier eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen dem künftigen China und den Vereinigten Staaten der Zukunft.« Eine ziemlich vereinfachende Definition dessen, was wir hier 162
wollten, sicher, aber warum sollte ich ihr widersprechen? Und ich staune wieder einmal über die absolute Siegeszuversicht, die Jenans Denken bestimmt, aber auch über die glühenden Farben, mit denen man sich hier ein Bild enger, politischer, wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit unserer Staaten nach dem Krieg ausmalt. Vorsichtig erinnere ich an den politischen Aspekt der Sache und bemerke: »Wir müssen natürlich bei allem darauf bedacht sein, daß wir Ihren großen geistigen Vaterstaat, die Sowjets, nicht mit unnöti gen Bedenken auf den Plan rufen ...« Sie lacht. Ich registriere es mit der gleichen Überraschung, mit der ich hier schon so manches registriert habe. Sie lacht laut und ausgelassen. »Glauben Sie im Ernst, der Vorsitzende würde sich in seiner Politik von irgend jemandem Vorschriften machen lassen?« »Aber der kommunistische Gedanke bedingt eine enge Verbrüde rung zwischen Ihnen und den Russen ...«, werfe ich vorsichtig ein. Sie rät mir: »Sprechen Sie darüber mit dem Vorsitzenden, er hat sehr klare Vorstellungen, was das betrifft. Die Sowjetunion hat natürlich versucht, uns zu beeinflussen, sie wollte uns sogar immer wieder für die Einheitsfront mit dem Verräter Tschiang gewinnen. Wir haben getan, was sein mußte, nicht mehr. Das ist unsere Sache. Der Vorsitzende kann Ihnen schildern, welche Schwierigkeiten wir mit einigen unserer eigenen Genossen in dieser Frage hatten, bis es uns gelang, sie nach und nach als Vertreter ausländischer Meinungen zu demaskieren. Es bleibt dabei, daß Sie heute abend kommen?« Es bleibt natürlich dabei. Tschiang Tsching trinkt noch einen Be cher Tee, knabbert ein Stück Zucker, versichert mir schwärmerisch, sie scheide mit dem Gefühl, mit einem wahren Freund gesprochen zu haben, es fehlt lediglich, daß sie mir um den Hals fällt und meine 163
>Gao-bi-dse< bewundert, die lange Barbarennase. Immerhin spricht sie davon, daß wir uns öfters sehen werden. Hol mich der Teufel, ich habe bei alledem nicht das Gefühl, daß sie mit mir flirtet! Nun hat man den Shanghaier Mädchen schon immer nachgesagt, daß sie sozusagen >aus der chinesischen Art schlagen< jedenfalls der Teil von ihnen, der mit Ausländern verkehrt. Aber dies ist kein plumper Versuch, sich einen Yankee zu angeln, dessen bin ich sicher. Ich weiß nur nicht, ob es naive Freude ist oder eisiges Kalkül. Deshalb drücke ich der First Lady von Jenan artig die Hand und verbeuge mich, als sie geht. Im letzten Augenblick fällt mir das Fläschchen mit dem Laxativ ein, und ich gebe es ihr mit. Der Posten will die Zügel halten, wenn sie auf das Pferdchen steigt, aber sie nimmt sie ihm resolut aus der Hand, springt auf das Deckenpolster, das als Sattel dient, winkt mir noch einmal zu und ruft fast ohne Akzent: »See you later!« Drüben, am Quartier unserer Techniker, wo es ein paar Burschen mit beanstandbaren Umgangsformen gibt, ruft gerade einer, während der Ordonnanzsoldat ihm Wasser über den Rücken gießt: »Boy, oh boy, schlimm genug, daß ihr Kerle hier keinen lieben Gott habt — aber versuch mal, ein einziges beschlafbares Mädchen aufzutreiben! Wie kommt es eigentlich, daß ihr euch haufenweise vermehrt, obwohl ihr nie übt?« Ich zweifle daran, daß Sprachkenntnisse in jedem Falle zum bes seren Auskommen der Völker untereinander beitragen. Wie dem auch sei, hier in Jenan ist es wohl besser, daß die Chinesen mit den roten Mützensternen nicht alles verstehen, was GI Joe als Ausdruck seines Selbstgefühls von sich gibt. — Mao Tse-tung empfängt mich, vor seiner Höhle stehend, rau chend, in einen dieser einfallslos geschneiderten Anzüge gekleidet, 164
in denen die höheren Führer hier herumlaufen. Die Hosen sind ent schieden zu weit, auch das Jackett mit seinen viel zu langen Ärmeln schlottert um die hagere Gestalt. Ich bemerke zum ersten Mal, daß Mao am Kinn eine Warze hat, seine kurzgeschnittenen Haare sind wirr, ungekämmt, im Gegensatz zu Tschou En-lai etwa wirkt er bei nahe verlottert. Zeichen des Genies, das auf seine äußere Erschei nung keinen Wert legt? Er lacht und entblößt dabei große, vom Rauchen gelblich verfärbte Zähne, ergreift meine Hand, bewegt sie wie einen Pumpenschwengel auf und ab, unbewußt wohl den europäischen Händedruck nachahmend und nicht wissend, daß man bei uns zu Hause die Hände gar nicht so oft schüttelt. Im schweren Hu-nan-Slang versichert er mir, er sei sehr erfreut, mich zu sehen. Es klingt nicht unfreundlich. Dann sagt er, es sei besser, wir gehen in die Höhle, die er bewohnt, er lege wenig Wert darauf, daß ganz Jenan morgen über unsere Begegnung spreche. Im übrigen danke er für das Medikament, er habe es soeben eingenommen und sei nun auf die Wirkung gespannt. Ich spüre, daß er ein Lachen von mir er wartet, er hält das Gesagte offenbar für einen hochkarätigen Scherz, also lächle ich. Die Höhle ist komfortabel, soweit man das von einer Höhle eben sagen kann. Ihre Frontseite hat eine Tür, es gibt Pergamentfenster im traditionell chinesischen Design. Man hat kaum noch den Ein druck, in einem Erdloch zu sein. Die Wände sind mit rohem Holz verkleidet, die Ritzen mit Gespinst verstopft, der große Hauptraum ist von mehreren Öllampen angenehm erhellt. Dahinter scheint, durch einen Vorhang abgetrennt, noch ein zweiter Raum zu liegen, vermutlich "eine Art Schlafkammer. Überall liegen Bücher herum, alte chinesische, es gibt einen Tisch, auch Hocker, und in einigen Kisten scheint sich der unvermeidliche Hausrat zu befinden. Das alles erinnert an 165
Bauernbehausungen, mit der Einschränkung, daß in denen ein Tisch eine Art Luxusmöbel wäre und daß man Bücher bei Bauern nicht findet. Tschiang Tsching kramt nörgelnd in einer der Kisten, als wir ein treten. Sie begrüßt mich, schimpft aber gleich weiter, angeblich sei noch eine Gabel dagewesen, wer sie nur gestohlen habe! Ob ich zur Not auch mit Stäbchen essen würde? Sie ist erleichtert, als ich ihr gestehe, das wäre mir sogar lieber. Mao lacht dröhnend. »Wie du siehst, ist er schon ein richtiger Chinese! Essen kann er auf unsere Art, wir müssen ihm nur noch beibringen, auch auf unsere Art zu denken!« Sehr feinfühlig ist das nicht, aber das scheint wohl nur so. Als Mao mich unter angedeuteten Verbeugungen nötigt, auf einem der Hocker Platz zu nehmen, entschuldigt er sich dabei halblaut: »Wir würden Ihnen sehr gern mehr Bequemlichkeit bieten, Mister Rob bins, es gehört zu unseren unveräußerlichen Tugenden, einen Gast als das Wertvollste zu schätzen, das man in seinem Haus haben kann. Nur — Sie kennen unsere Lage. Noch müssen wir mit dem auskommen, was Jenan hergibt. Später einmal ...« Tschiang Tsching eilt hinaus. Ich höre, daß sie die Zubereitung des Essens beaufsichtigt. Ein Koch ist damit beschäftigt, irgendwo in der näheren Umgebung der Höhle, man hört seine Stimme. Wäh rend Mao Unverbindlichkeiten plaudert, erscheint Kang Sheng in der Türöffnung, an jeder Hand ein Kind. Es sind Mädchen, das eine schätze ich auf sieben oder acht Jahre, das andere auf drei oder vier. Sie mustern mich mißtrauisch, bis Kang Sheng sie ermuntert: »Da, begrüßt den ausländischen Onkel, er ist unser guter Freund!« Er schiebt sie auf mich zu; ihre Augen hängen verlegen an mir. Keine sagt etwas. Mao selbst nimmt die Kleinere auf den Arm und tätschelt sie. Dabei teilt er mir mit, dies sei Li Na, aus seiner Ehe 166
mit Tschiang Tsching. Auf die andere, ältere weisend, erklärt er, Li Min stamme aus seiner vorherigen Ehe. Kang Sheng fügt an: »Die Mutter Li Mins ist sehr schwer krank. Auf ihren Wunsch wurde die Ehe geschieden.« Ich enthalte mich jeglicher Äußerung, lächle den beiden Mädchen zu, bis der Vater sie schließlich ermahnt: »Und nun habt ihr alles gesehen, was es zu sehen gibt. Schlafenszeit!« Er bringt sie hinaus, offenbar sind sie in einer separaten Behausung untergebracht. Wir trinken einen Becher roten Wein, der ziemlich süß schmeckt und den Mao zu schätzen scheint. Kang Sheng bedeutungsvoll ansehend, eröffnet er mir, daß er über meine Mission sehr genau unterrichtet sei, auch darüber, daß das OSS sich auf verschiedene Weise für eine Liaison der Vereinigten Staaten mit den demokratischen Kräften Chinas einsetzt. Er sagt demokratische Kräfte, das sind im Sprachgebrauch der Kommunisten nur sie selbst. Die Kuomintang betrachten sie nicht als demokratisch. Was Kang Sheng mir bei unseren ersten Begegnungen nur vorsichtig angedeutet hat, spricht Mao jetzt offen aus: »Wir schätzen Ihre Bemühungen in der Tat sehr, Mister Robbins, vor allem auch das, was Sie in Tschungking für unsere Genossen tun konnten. Wußten Sie, daß kürzlich einige von jenen, mit denen Sie spra chen, aus der Haft entlassen worden sind?« Ich weiß es nicht. Kang Sheng murmelt: »Ohne Angabe von Gründen. Verfahren eingestellt, keine Beweise.« Ich erinnere mich unwillkürlich an Wen Tsiao-tji, den Verneh mungsrichter in Tschungking. Was mag ihn bewogen haben, die Leute freizulassen? Oder ist das einfach ein Zufall? Mao Tse-tung meint, es könnte eine Taktik dahinterstecken, entweder man wolle die Freigelassenen sorgfältig beobachten, um über sie auf die Spur weiterer kommunistischer Untergrundkader zu kommen, oder aber 167
man versuche wieder einmal, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, den wahren Charakter der Kuomintang-Justiz durch die demonstrative Freilassung einiger Häftlinge zu verschleiern. »Es sind Despoten!« schimpft er auf die Kuomintang. »Nicht besser als die Faschisten! Das Volk wird sich nicht täuschen lassen, es wird sie unter unserer Führung hinwegfegen.« Er greift hastig zu einer Zigarette, bietet auch mir eine an, übrigens ist es eine Marke aus Tschungking, dann fordert er uns, wie um seine Vorhersage zu bekräftigen, zum Trinken auf. Erdnüsse liegen in einer Schale auf dem Tisch, wir knabbern sie freizügig, ich muß daran denken, daß man sie im ganzen Gebiet nicht kaufen kann, sie werden sonst aus nahmslos zu Öl verarbeitet. Doch da setzt Mao Tse-tung schon zu einer längeren Erörterung der Verhältnisse im Kuomintanggebiet an. Seine Argumente sind nicht neu, allerdings spitzt er sie zielstrebig auf die Aussage zu: »Es ist unvermeidlich, daß in China über kurz oder lang ein Bürgerkrieg ausbricht. Tschiang Kai-shek wird ihn beginnen. Wir wollen ihn nicht, lieber amerikanischer Freund, aber wir werden ihn gewinnen. Sie können das als sicher annehmen!« Kang Sheng verwendet dann längere Zeit darauf, mich über neue Entwicklungen in der Kuomintangführung zu informieren. Er macht mich mit bestürzenden Einzelheiten bekannt: Korruption, Neigung zur Kollaboration mit Japan, antikommunistische Verblendung — Aufklärungsergebnisse aus Kang Shengs Apparat offenbar. Im Prin zip kennen wir das, immerhin zeigen aber seine Ausführungen, daß die Kommunisten blendend unterrichtet sind. Mao nickt zustimmend. Hin und wieder macht er verächtliche Gesten, er raucht unablässig, vielleicht auch aus Nervosität, weil er nicht weiß, wie ich reagieren werde. Wenn er etwas sagt, dann ge schieht es — im Gegensatz zu der Art, in der Kang Sheng verfährt 168
— nicht im Unterhaltungston: Alles, was Mao von sich gibt, nimmt sogleich den Charakter eines Statements an. Ist das unbewußt? Ich halte es für gezielt. Mao ist nach meinen Informationen im wesentlichen Autodidakt. Ein Lehrerseminar und ein paar Vorlesungen an der Universität vermitteln keine allseitig fundierte Bildung. Diese aber will er jenen, die mit ihm zu tun haben, offenbar vortäuschen. Es mag mangelnde Selbstsicherheit sein, die Mao dazu bringt, alles, was er sagt, bedeutungsvoll zu stilisieren, es durch die
geschickte
weitschweifiger
Verwendung alter Sinnsprüche
Anekdoten
aus
dem
bäuerlichen
oder Milieu
oberflächlich mit dem Odeur von Weisheit zu versehen. Ich habe von Kindheit an mit zu vielen gebildeten Chinesen zu tun gehabt, um mich hier zu irren. Wie dem auch sei — Mao ist keinesfalls ein schlechter Gesellschafter. Plötzlich ist seine Frau wieder da, mit ihr erscheinen zwei Ordon nanzsoldaten, und in Minutenschnelle ist der Tisch für das Gastmahl gedeckt. Mao hebt den Zeigefinger und doziert: »Der Mensch ist ein eigenartiges Wesen, er ernährt sich von toten Tieren und Pflanzen, und daraus gewinnt er die Kraft, neues Leben zu zeugen. Also produzieren wir neues Leben, indem wir uns die Kraft dazu durch Vernichtung von Lebendem verschaffen. Macht das nun den Menschen zum Raubtier? Oder erhebt es ihn in die Kategorie großen Schöpfertums?« Er wartet auf keine Antwort, lacht dröhnend über das, was er ver mutlich nicht als alten sophistischen Hut erkannt hat, sondern für eine Äußerung von bestechender Weisheit hält. Kang Sheng lacht ebenfalls, und auch ich verziehe höflich das Gesicht. Tschiang Tsching serviert gedämpftes Hühnerfleisch mit verschiedenen Wildgemüsen, bereit stehen Mantou, eine Kreuzung zwischen Dampfnudel und Hefekloß, es gibt eine heftig mit rotem 169
Pfeffer gewürzte Eierspeise, etwas grau aussehenden Reis, eine Hühnersuppe, und zum Schluß gekochte Pflaumen. Mao legt mir nach alter Sitte die besten Happen in die Eßschale, er achtet darauf, daß ich die scharfe Soße probiere, und ist erfreut, als ich sie gut finde. Kang Sheng füllt indessen die Weinbecher immer wieder, wir essen, trinken, loben die > Köchin < und sind eigentlich recht privat, bis Mao, nachdem er eine Weile mit einem Bambusspan ungeniert in seinem Gebiß herumgestochert hat, eine Verrichtung, die er mit einem vernehmlichen Schnalzen erfolgreich beendet, schließlich seinen Weinbecher hebt und fast andächtig sagt: »Es ist eine Ehre für mich, mit unserem amerikanischen Freund zu speisen. Möge der Aufenthalt in unserem Lande ihn vom tiefen Gefühl der Sympathie
unserer
Menschen
zum
amerikanischen
Volk
überzeugen!« Wir scheinen bei der Sache zu sein. Nachdem ich getrunken habe, erprobe ich Maos Standort, indem ich meiner freudigen Ver wunderung Ausdruck gebe, daß ein Kommunist von seinem Rang Sympathie zu Amerika äußert. Prompt erläutert er mir auch den Un terschied, den Marxisten zwischen Völkern und Staatssystemen ma chen, er läßt es aber nicht dabei bewenden, sondern kommt auf die Geschichte der Vereinigten Staaten zu sprechen, die er — arg vereinfacht für mein Verständnis — als Revolution eines kolonial unterdrückten Volkes gegen seine ausländischen Beherrscher (will sagen: die Engländer) ansieht. Es klingt sogar ehrlich, als er zuletzt seine Hochachtung vor der in Amerika herrschenden Demokratie ausdrückt und sie beispielhaft auch für die Zukunft Chinas findet. Ob ich seine Arbeit über die >Neue Demokratie< gelesen habe? Als ich vorsichtshalber verneine, empfiehlt er mir das Anfang der vierziger Jahre entstandene Pamphlet, es gäbe gerade dem Auslän der seiner Meinung nach hervorragend Aufschluß über die Ziele der 170
kommunistischen Bewegung in China, über die Besonderheiten des historischen Entwicklungsprozesses, über seine Gedanken zu Politik und Ökonomie in einem zukünftigen, von Kommunisten im Verein mit allen wahren Patrioten regierten Land. Er weist mehrmals auf Besonderheiten Chinas hin, wie etwa die enorme Zurückgebliebenheit, den Mangel an Industriearbeitern, die revolutionäre Grundhaltung der Masse der Bauern, das Fehlen demokratischer Gewohnheiten und nicht zuletzt die Erstarkung des Nationalgefühls durch den Existenzkampf gegen ausländische Mächte. Wieder hebt er den Zeigefinger. »Von denen die Vereinigten Staaten sich am ehrenhaftesten benommen haben! Zwischen ihnen und den übrigen Ausbeutern ist so leicht kein Vergleich möglich. Auch das bewirkt, daß wir zu den Amerikanern eben ein völlig anderes Verhältnis haben!« Unvermittelt erkundigt er sich, ob ich Edgar Snow persönlich kenne. Als ich das verneine, bedauert er es. Snow wäre geradezu das Musterexemplar eines amerikanischen Freundes, zu dem man als Chinese ohne Vorbehalte in ein enges Verhältnis kommen könne. Er will über Snow weiter erzählen, aber da vollzieht sich in seinem Gesicht plötzlich eine bemerkenswerte Wandlung. Die Hautfarbe wird rot, die Augen unruhig. Einige Male wetzt er auf seinem Hocker hin und her, dann sagt er lachend und für mich völlig überraschend: »Die amerikanische Medizin wirkt!« Er springt auf, rafft von einer Kiste ein paar Papierfetzen und verschwindet
nach
draußen.
Ich
erinnere
mich
an
die
Gebrauchsanweisung für das Medikament und wende mich an Tschiang Tsching, um zu erfahren, ob er es nach Vorschrift eingenommen hat. Sie ruft lachend: »Natürlich nicht! Der Genosse Vorsitzende ist ein starker Mann, er braucht auch starke Medizin!« Ich weiß nicht, ob ich lachen soll oder ob das eher ein Grund ist, 171
eine Entschuldigung vorzubringen. Dieses Öl wirkt katastrophal, Dr. Casberg hat mich darauf aufmerksam gemacht. Als ich es Tschiang Tsching vorsichtig andeute, winkt sie nur ab. »Beruhigen Sie sich, es wird ihm guttun, es ist fast eine Woche her, daß er auf dem Abort war!« Kang Sheng muß gespürt haben, daß die Situation sich zur Groteske hin bewegt, denn er lenkt mich ab, indem er auf Edgar Snow zurückkommt. So erfahre ich einige Geschichten über die Zusammenarbeit dieses tüchtigen Reporters mit Mao und den seinen. Obwohl Kang Sheng kein guter Erzähler ist, hört sich das an wie Detektivgeschichten. So hat Snow die Gattin Tschou En-lais einmal vor dem Zugriff der Japaner bewahrt, indem er sie als seine Hausangestellte ausgab. »Ist das nicht Mut?« fragt Kang Sheng schließlich. »Zeichnet sich nicht in der Haltung eines solchen Mannes bereits ein wenig das Bild des künftigen Verhältnisses unserer beiden Völker ab?« Ich weiche höflich aus. Natürlich ist bekannt, daß Snow nicht nur einer der profundesten Kenner der kommunistischen Seite in China ist, sondern auch einer der geschicktesten und emsigsten Propagandisten der kommunistischen Interpretation chinesischer Geschichte. Ich kenne aus einer Vorlesung, die er während meines Studiums an unserer Universität hielt, einige andere Beispiele seines Engagements in China. Eins davon beginne ich zu erzählen, als Mao freudestrahlend wieder eintritt. Er ist noch damit beschäftigt, seine Hose zuzuknöpfen, und ruft: »Wir müssen auf die Wirksamkeit der amerikanischen Medizin trinken! Nie zuvor war ich so erleichtert!« Spontan gießt er die Gläser randvoll und fordert uns auf, auszu trinken: »Gan bei!« Warum fühle ich mich in diesem Augenblick an die Anekdote aus der französischen Geschichte erinnert, die wäh rend meiner College-Zeit die Runde machte? Da soll es irgendeinen 172
französischen König Ludwig gegeben haben, der ähnlich litt wie Mao. Bei Hofe war es üblich, alle Geschäfte aufzuschieben, bis der große Herrscher sich hatte erleichtern können. Solange mußte jeder mann warten. Aber dann, wenn der sonst ungenießbare Ludwig endlich Erfolg gehabt hatte und zu regieren begann, wurde er im Thronsaal stets von einem Hofmeister angekündigt, durch Aufstoßen der Hellebarde und den freudigen Ausruf: »Der König hat geschissen!« Eine Weile überlege ich, ob ich die Anekdote hier und jetzt er zählen soll, aber das scheint wohl doch nicht angebracht, obgleich ich mir vorstellen könnte, daß Mao dröhnend darüber lacht und gar nicht die ironische Parallele sieht. Ich lasse es, erspare mir die Hälfte des Becherinhalts durch einen Trick, indem ich nach dem ersten Schluck absetze und zu Mao sage: »Da gibt es übrigens über Edgar Snow eine hochinteressante Geschichte, die sozusagen eine völlig neue Dimension in der Nutzung der Presse für die Revolution eröffnete ...« Mao hört sogleich interessiert zu, ebenso Kang Sheng und Tschi ang Tsching, so kann ich den Becher unauffällig absetzen und die Technik schildern, die Snow vermutlich als erster in dieser Konse quenz angewandt hat. Es muß Ende des Jahres 1935 gewesen sein, als Pekinger Studenten auf den Straßen demonstrierten, um jeder mann zum Widerstand gegen Japans Absicht zu mobilisieren, ganz Nordchina klammheimlich zu besetzen, nachdem es bereits in der Mandschurei und der Inneren Mongolei saß. Snow begriff damals, daß lokale Empörung, die sich auf Peking beschränkte, die Japaner nicht würde bremsen können. Er kam auf die Idee, eine neue De monstration gewissermaßen für die vorher eingeladene und vollzäh lig
versammelte
internationale
Presse
abhalten
zu
lassen.
Geheimnisvoll wurden alle ausländischen Journalisten, Fotografen 173
und Nachrichtenleute, die in Peking greifbar waren, an einem Dezembertag in Peking auf ein einmaliges Ereignis< neugierig gemacht und in genau den Straßen versammelt, durch die dann Tausende von Studenten demonstrierten, mit der Losung > Rettet China vor der japanischen Okkupation !< Was sonst vielleicht höchstens von einigen Agenturen als Rand meldung hinausgeschickt und in jeder Redaktion in den Papierkorb gewandert wäre, spielte sich nun vor einer wahren Legion aus allen Himmelsrichtungen zusammengeeilter Journalisten ab, und das Echo war dementsprechend. In der ganzen Welt erschienen tags darauf Schlagzeilen über >Chinas Widerstände<. Snow ließ das Schauspiel noch zweimal wiederholen. Er drehte die bisher übliche Gewohnheit, zu demonstrieren und es der Presse zu überlassen, ob sie es zur Kenntnis nahm, einfach um, er machte die Presse neugierig auf ein Ereignis, führte es vor und konnte mit Sicherheit darauf bauen, daß die Herbeizitierten aus dem, was sie vorgeführt bekamen, Schlagzeilen machten, schon, um nicht vergeblich in den Straßen herumgestanden zu haben. Die Methode erwies sich als schlagkräftig. Japans militärische Manipulationen um Nordchina und der Protest der Chinesen dagegen bekamen durch die vielen publicityträchtigen Zeugen schlagartig ein so immenses öffentliches Echo in der ganzen Welt, daß die Japaner — jedenfalls für längere Zeit — nicht wagen konnten, ihre Pläne durchzuführen. Tokio mußte seine Annektionsabsichten aufschieben. Mao, der die Geschichte offenbar kennt, nickt immer wieder und sagt schließlich: »Das ist es! Die Methode, sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Wir müssen sie von Snow lernen, er ist ein Meister!« Gleich darauf merke ich, daß meine Gastgeber mit der Erwäh nung Snows ein Spiel begonnen hatten, in dem ich nun wohl oder 174
übel eine Rolle übernehmen muß. Ich werde noch viel lernen müs sen, hier in Jenan. Nichts, was die kommunistischen Führer tun, ist spontan, nichts bleibt dem Zufall überlassen, hier sind kühl kalkulierende Politiker am Werke, Meister ihres Fachs, auch wenn sie nach den Begriffen, die unsere amerikanische Zivilisation prägt, vielleicht eher als >schlaue Bauern< zu bezeichnen wären. — »Mister Robbins«, sagt Mao gemessen, »Sie sind unser Verbündeter. Wir sehen auch einen Vertrauten und Freund in Ihnen. Sie sind ehrlich, das wissen wir. Deshalb möchten wir Ihre Meinung hören zu einer Sache, über die wir uns Gedanken machen. Sagen Sie uns, ob unsere Gedanken sich in Übereinstimmung mit realen Möglichkeiten befinden ...« Er brennt sich eine neue Zigarette an, steht auf, reckt sich, dann geht er auf dem rohen Holz, mit dem der Boden der Höhle ausgelegt ist, hin und her, untermalt seine Worte mit Gesten, beobachtet meine Reaktion, tritt an den Tisch, um zu trinken, und entwickelt seine Überlegungen. »Wir wissen, daß große Teile der amerikanischen Bevölkerung eine verzerrte Vorstellung von kommunistischer Politik haben. Andere Teile Ihres Volkes wiederum haben Sympathien mit uns, sie möchten, daß wir einen verläßlichen Partner der Vereinigten Staaten in Asien abgeben. Bevor wir das werden können, müßte das Problem beseitigt werden, das der Despot Tschiang Kai-shek darstellt. Um aber dieses Problem
zu
lösen,
bedürfte
es
eines
noch
stärkeren
Meinungsumschwunges in den Vereinigten Staaten. Wie Sie sehen, eine Kette von Zusammenhängen. Wir haben in den Vereinigten Staaten keine Publicity. Andrerseits halten wir es für nötig, Ihre Bürger, vor allem die Leute in administrativen Positionen, über den wahren Charakter unserer Politik aufzuklären, ihnen überhaupt einmal ganz offen zu sagen, wie wir die Lage sehen und welche 175
Möglichkeiten wir für die Zukunft erwägen.
Ist das auch Ihrer Meinung nach eine brauchbare Methode, um die
Dinge in Fluß zu bringen?«
»Ich wäre einverstanden damit«, sage ich. Und ich meine das so gar so. Publicity über die Jenaner könnte das Handwerk der Tschi ang-Lobby in den Staaten ganz sicher einschränken. »Gut«, fährt Mao Tse-tung fort, »dann sollten Sie uns einen Rat geben. Wer könnte unsere Ansichten, unsere Vorstellungen von chi nesischer Politik, die das Element der Zusammenarbeit mit den USA beinhaltet, bei Ihnen zu Hause am wirkungsvollsten ins Ge spräch bringen? Haben Sie einen Vorschlag?« Spätestens jetzt merke ich, weshalb man mich hierher eingeladen hat. Nun gut, ich kann meine Meinung sagen. Ich deute an, daß ich die größten Schwierigkeiten für unsere Zusammenarbeit nicht so sehr beim Leser der Sonntagsblätter in den Staaten vermute, son dern eher unter den Senatoren im Kongreß, im State Department, in Teilen der militärischen Führung und in der höheren Administra tion. »Wie sehr das stimmt!« pflichtet Kang Sheng mir bei. »Tschiang Kai-shek hat alle diese Körperschaften regelrecht un terwandert, er hat entscheidende Leute korrumpiert, sie gegen uns aufgehetzt!« »Deshalb«, so meine ich, »wären Zeitungsberichte, so nützlich sie sind, nicht eine Sache von durchschlagendem Erfolg. Man müßte den Hebel direkt an der Administration ansetzen. Hier ist Aufklärung
angebracht,
hier
kann
sie
Denkumschwünge
herbeiführen.« Kang Sheng blickt Mao an, der nickt zustimmend, sinniert. Da fragt mich Kang Sheng unvermittelt: »Wie gut kennen Sie John Service?« 176
»Er ist ein aufgeschlossener Mann«, gebe ich vorsichtig zurück. »In China geboren, Sohn einer Missionarsfamilie. Als Berater im State Department hat er auf die Meinungsbildung in Fragen der China-Politik zweifellos den Rang eines glaubwürdigen Speziali sten.« Die beiden tauschen wieder einen Blick. Tschiang Tsching fängt an, das Geschirr abzuräumen. »Sie glauben, sein Wort hat Gewicht?« »Das glaube ich. Und — John Service hat eine sehr hohe Mei nung von dem, was er hier sieht.« Mao sagt über die Schulter zu seiner Frau: »Mach uns Tee.« Sie holt eine verbeulte Blechbüchse aus einer Kiste und verschwindet. Kang Sheng putzt seine Brille mit einem aus der Tasche gezogenen Lappen. Dabei sagt er, mich kurzsichtig anblinzelnd: »Wir danken für den Hinweis, Mister Robbins.« Auch Mao bekräftigt das. Er fügt
an:
»Wir
bitten
Sie,
über
unser
Gespräch
keine
Verlautbarungen zu machen ...« Er lächelt, auch Kang Sheng verzieht das Gesicht. »Es versteht sich, daß wir nichts dagegen haben, wenn Sie mit Ihrem Dienstvorgesetzten darüber sprechen. Das ist eine andere Ebene, da sind wir uns einig ...« Und ob wir uns einig sind! Die Männer, die die Geschicke Jenans leiten, sehen das OSS als Verbündeten an. Den Militärs und Diplo maten gegenüber, die zu unserer Mission gehören, lassen sie eine gewisse Vorsicht walten. Wie mag dieses Spiel ausgehen? Ich werde, wenn Hollys Ankündigung stimmt, daß ich Jahre hier verbringen soll, Zeit genug haben, das zu beobachten. »Keine Freundin bis jetzt?« scherzt Mao plötzlich mit mir. Ich erkenne, daß die beiden das Ziel der Unterhaltung als erreicht anse hen und zu dem übergehen wollen, was man in der Diplomatie »small talk< nennt, unverbindliches Geschwätz. So setzt dann Kang 177
Sheng auch munter fort: »Er ist zu schüchtern, Genosse Vorsitzen der! Wahrscheinlich glaubt er, junge Kommunistinnen hielten nichts von der Liebe!« Eine seltsame Unterhaltung, wenn man bedenkt, daß es sich hier um Chinesen handelt, die in solchen Dingen ziemlich zugeknöpft sind. Aber dies ist keine normale Situation. »Eine Lüge!« ruft Mao dröhnend. »Eine der vielen gemeinen antikommunistischen Lügen!« Er lacht, daß sein Gesicht rot wird, und ich habe die Befürchtung, er werde gleich wieder auf den Abort verschwinden müssen. Aber seltsamerweise scheint unser Medikament in diesem Körper nicht die vorgesehene Wirkung gehabt zu haben. Tschiang Tsching kommt mit dem Tee herein. Mao weist, immer noch lachend, auf sie und rät mir polternd: »Sprechen Sie mit meiner Frau! Sie wird Ihnen bezeugen, daß das ganz anders ist. Und — sie wird Sie mit den zauberhaftesten Geschöpfen auf dem Gebiet der Kunst bekanntmachen, wenn Sie nur wollen ...» Als wir beim Tee sitzen, unfermentiertem grünem Souchong von bemerkenswerter Qualität, provoziere ich Mao Tse-tung, indem ich frage: »Herr Vorsitzender, was gäbe das für Komplikationen, wenn ich beispielsweise hier heiratete?« Erstaunt blickt er mich an, die Teeschale zwischen den Handflä chen, als ob er sich die Finger daran wärmen wolle. »Es gäbe gar keine Komplikationen«, sagt er dann knapp. »Wie ich orientiert bin, haben Sie ohnehin die Absicht, lange bei uns zu bleiben, oder irre ich mich da?« »Ich werde so lange bleiben, wie es mir möglich ist.« »Hao!« Er sagt es dumpf, grollend, wie ein zufrieden grunzender Eber. Zeichen dafür, daß er mit der Antwort einverstanden ist. »Und da wollen Sie leben wie ein katholischer Priester? Ein Missionar?« Ich lächle, ohne etwas zu sagen. Kang Sheng nimmt 178
die Gelegenheit wahr, mir scheinbar nebenbei noch etwas mitzuteilen: »Der Genosse Vorsitzende wird nicht immer Zeit haben, ausführliche Gespräche mit Ihnen zu führen. Aber er wird immer für Ihren freundschaftlichen Rat dankbar sein, auch wenn ich derjenige bin, der ihn von Ihnen entgegennimmt und an ihn weitervermittelt.« Mao bläst über seine Teeschale. »Das muß man ihm nicht erst sagen. Er kennt die Regeln.« Wie wahr, ich kenne sie. Wenn mir an diesem Abend etwas klar geworden ist, so das: Ich bin nicht der persönliche Kumpan des Vorsitzenden. Ich habe ihm zur Verfügung zu stehen, wenn er meinen Rat oder meine Vermittlung braucht. Ansonsten bin ich jemand,
der bei aller
Freundlichkeit,
mit der
man ihm
entgegenkommt, eher ein Inventarstück darstellt. Immerhin aber wohl eines mit einem hohen Nützlichkeitsgrad. Wir verabschieden uns, nachdem wir noch eine Weile Unverbindliches geredet haben, über Jenan und über die Fronten des Krieges. Es wird ein höflicher Abschied, keine lärmende Szene. Wieder ein Händedruck, ein wohlwollendes Schulterklopfen Kang Shengs. Dann marschiert ein aus der Dunkelheit auf ein Zeichen Kang Shengs aufgetauchter Soldat neben mir her, bis zu meinem Quartier, wo er salutiert und verschwindet. Genau drei Tage später wird John Service von Mao Tse-tung ein geladen. Zu einem langen politischen Gespräch, in dem Mao dem Vertreter des State Departments sein politisches Konzept für China erläutert und Service aufgefordert wird, Fragen zu stellen. Wie ich von John erfuhr, wurde das Gespräch protokolliert. Es soll im bei derseitigen Einverständnis als politisches Dokument verwendet werden.
179
An Holly Analyse des augenblicklichen Verhältnisses UdSSR — China
30.8.1944 Unter den führenden Kommunisten von Jenan gibt es spürbare Zurückhaltung, was das Verhältnis zu Moskau betrifft. Allerdings wird Ablehnung nie offen geäußert. Einige der führenden Kommunisten von Jenan wurden zeitweilig in der Sowjetunion politisch geschult (u. a. auch Tschou En-lai und Kang Sheng). Man spricht von insgesamt 28 >Moskauer Bol schewiken <. Der größte Teil dieser Leute, die hier in früheren Jah ren eine verstärkte Einheitsfrontpolitik gemeinsam mit der Kuomin tang vertraten, ist nach und nach kaltgestellt worden (wozu zweifel los
die
starre
antikommunistische
Haltung
Tschiang
Kai
sheks willkommene Argumente lieferte). Andere schlugen sich aus eigenem Entschluß zu Mao und nehmen heute hohe Funktionen ein. Der Rest wurde durch die politische Kampagne >Tscheng Feng< in den
Augen
der
übrigen
Parteimitglieder
zu
>Vertretern
ausländischer Konzeptionen ( gestempelt, die der chinesischen Sache schaden. Soweit sich übersehen läßt, gab es keine Tötungen. Profiliertester Gegner der Konzeption Mao Tse-tungs ist ein gewisser Wang Ming, der gelegentlich noch als >Vertreter der Moskauer Fraktion< bezeichnet .wird. Er ist für mich leider unerreichbar, soll krank sein. Maos Strategie für die Revolution in China findet offenbar nicht den Beifall Moskaus, das anstatt des von Mao als unvermeidlich angesehenen Bürgerkrieges einen Kurs 180
der nationalen Versöhnung und Stabilisierung der Verhältnisse anzusteuern scheint. Mao Tse-tung und seine Gruppe halten zu Moskau vorsichtige Distanz. Aus meiner Sicht ist der Grund nicht ein taktisches Entge genkommen an uns, sondern eine prinzipielle Differenz zwischen Moskau und Mao in Fragen der politischen Strategie und Taktik. Ursache der Differenzen: Die Moskauer Revolutionstheorie stützt sich im wesentlichen auf die Führungsrolle der Arbeiter als Klasse. Bauern rangieren als Verbündete. Ohne eine zahlenmäßigstarke und von der KP gut durchorganisierte Arbeiterklasse ist nach der klassischen Theorie Lenins keine Garantie für das Gelingen der Revolution
gegeben.
Daher
konzentrierte
Moskau
seine
Bemühungen bereits sehr früh auf die Zusammenarbeit mit der damals
noch
sowjetfreundlichen
bürgerlichen
Kuomintang-
Regierung unter Sun Yat-sen, leistete vielseitige Hilfe mit dem Zweck der Stabilisierung Chinas als Staat, wobei es Vorhaben unterstützte, die auf lange Sicht der zahlenmäßigen und politischen Stärkung des noch geringen Anteils von Arbeitern an der Gesamtbevölkerung dienten. Sowjetrußland verfolgte damit das Ziel des systematischen Aufbaus revolutionärer Potenz im Schöße der bürgerlichen Kuomintang-Gesellschaft, wobei es zugleich zu dieser gute und sogar freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Kommunisten waren angehalten, in der Kuomintang mitzuarbeiten, im nationalen Interesse und für nationale Ziele. Das bedeutete fraglos die Zurückstellung eines Machtpokers KP-Kuomintang bis zur Erreichung einer günstigen Ausgangsposition. Dieses Konzept wurde von Mao Tse-tung abgelehnt. 5) Nach der Machtergreifung Tschiang Kai-sheks (1927) distan zierte dieser die Kuomintang scharf von den Kommunisten und be gann deren Verfolgung. Damit ergaben sich für die KP im Hinblick 181
auf das von ihr verfolgte Konzept theoretische und praktische Pro bleme. Um diese Zeit begann Mao seine eigene Vorstellung von der kommunistischen Revolution in China verstärkt in die Debatte zu werfen: Die Umstände in China sind spezifisch, es gibt eine revolutionäre Situation, gibt aber nur wenige Arbeiter, demzufolge müsse die Initiative von den unübersehbaren Massen der verarmten Bauern ausgehen, sie sind das entscheidende Potential der Revolution, ihnen muß auch die führende Rolle zufallen. Das damalige Führungsgremium der KP hingegen zielte darauf ab, durch
Massenbewegungen
den
>wahren
Charakter
der
Kuomintang<, nämlich ihre für die ganze Nation fortschrittliche Seite zu beleben und somit den einseitigen Aktionen Tschiang Kai sheks Einhalt zu gebieten. Es wollte die Kuomintang als Phänomen der gesamtnationalen Einigung erhalten. Mao Tse-tung, der hier zwar formal zugestimmt hatte, wich dieser Direktive jedoch auf eigene Art aus. Er hatte für die Partei seit langem unter den Bauern gearbeitet und begann mit > revolutionärer Bauernkriegsführung< (u. a. zettelte er den sogenannten > Herbsternte-Aufstand< in Hunan an). Sein Konzept lief auf die Errichtung von >Sowjets< der Bauern hinaus. Dieses Konzept schlug insofern zunächst fehl, als die Kuomintang den Aufstand niederringen konnte. Daraufhin zog sich Mao Tse-tung mit dem Rest seiner Kräfte in das unwegsame Gebirgsgebiet von Djinggangshan zurück, an der Grenze der Provinzen Hunan und Kiangsi. Hier erhielt er Zulauf von asozialen Banditengruppen, die seit längerem in den Bergen operierten. Mit ihrer Unterstützung gründete er den ersten chinesischen > Sowjets Es folgte nun ein längeres, sehr wechselvolles > Schattenboxen < zwischen Mao Tse-tung und der Parteiführung, bei dem Mao zugute kam, daß er immer stärkeren Zuspruch erhielt und seine Kräfte ausbauen konnte. (In der Tat liefen ihm ganze Truppenteile der 182
Kuomintang-Armee
geschlossen
zu,
deren
linksorientierte
Kommandeure, die das bewerkstelligt hatten, in der Folgezeit hohe Führungsposten bei ihm einnahmen.) Maos Gruppierung stellte zweifellos damals den militärisch schlagkräftigsten Teil der gegen die Kuomintang gerichteten Kräfte dar, verfolgte hartnäckig die Linie militanter Konfrontation und störte somit jeden von der Parteiführung
noch
unternommenen
(vermutlich
ohnehin
fragwürdigen) Versuch der Einigung mit der Kuomintang. Das lief auf die letztlich von Tschiang Kai-shek eingeleitete massive militärische Bekämpfung des >Sowjets< hinaus, bei der Maos Truppen schließlich arg dezimiert wurden und er die als > Langen Marsch< bekannte Ausweichbewegung in das hiesige Gebiet an treten mußte, wo er wieder in relativer Sicherheit war. Während dieser Ausweichbewegung aber machte er sich in Abwesenheit der meisten übrigen Parteiführer bei einem Zwischenaufenthalt in einer Stadt namens Tsunji auf einer schnell organisierten Konferenz zum Chef der Partei, indem er die Schuld an den Misserfolgen der fal schen Linie< der anderen Parteiführer zuschob und der Masse seiner
Gefolgschaft
die
These
einhämmerte,
seine
Revolutionstheorie sei im Gegensatz zu der von den >Moskauern< vertretenen die einzig richtige für China. Er konnte sich an der Macht halten und seinen Apparat hier in Jenan ausbauen. Damit schob er seinen Gegenspielern stillschweigend die Offerte zu, entweder ihn als führenden Theoretiker und Praktiker der KPChinas
anzuerkennen oder sich
in Gegensatz
zu seinem
Machtpotential zu stellen. 6) Moskaus Haltung erklärt sich daraus, daß Sowjetrußland nicht nur eine theoretische Dimension als Zentrum der kommunistischen Weltrevolution hat, sondern auch eine praktische, nämlich als Staatswesen im internationalen Gefüge. Im wesentlichen deshalb 183
stellten sich die Vorgänge in China daher für die Sowjets offenbar in einem etwas anderen Lichte dar, wobei zusätzlich prinzipielle theoretischmarxistische Erwägungen eine Rolle gespielt haben mögen. Hinzu kam die inzwischen angelaufene japanische Invasion- in China, die nach Moskauer Sicht eine nationale Bedrohung bedeutete und daher den Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte Chinas über weltanschauliche Schranken hinweg hätte erforderlich machen müssen. Angesichts der japanischen Invasion war es der Sowjetunion unmöglich, dem Staat Tschiang Kai-sheks die Unterstützung zu entziehen oder etwa Mao Tse-tung gegen Tschiang Kai-shek zu unterstützen, obwohl kein Zweifel daran bestehen dürfte, daß die Moskauer Sympathien sicherlich nicht auf der Seite des Kommunistenverfolgers Tschiang Kai-shek
lagen,
sondern
natürlich
bei
den
chinesischen
Kommunisten. Die Sowjets machten, wie wir wissen, Tschiang Kai-shek über diplomatische Kanäle immer wieder aufmerksam, daß angesichts der nationalen Bedrohung Chinas durch Japan seine Angriffe auf die patriotisch gesinnten Kommunisten zu einer Schwächung von Chinas Widerstandskraft führten. Sie deuteten sogar an, daß sein Konzept sich negativ auf die militärische Hilfsbereitschaft der Sowjetunion auswirken könnte. Dieses Engagement für die chinesischen Kommunisten (bei gleichzeitiger Unterstützung des nationalen Widerstandes gegen Japan), das den Handlungsspielraum der Sowjets weitgehend ausschöpfte, wurde von
Mao
Tse-tung
entweder
nicht
begriffen
oder
aus
unterschwelliger Abneigung gegen die Sowjets einfach ignoriert. Er selbst hielt sich verbal zurück, er unterband jedoch nicht, daß man auf niederen Ebenen von > Feigheit und Verrat< sprach. Mit dem Ausbruch der Kriegshandlungen im Pazifik, als sich zwischen Tschiang Kai-shek, den Vereinigten Staaten, England und der 184
Sowjetunion eine Allianz gegen die Achsenmächte ergab, erfuhr der Handlungsspielraum der Sowjets, was die Unterstützung Maos betraf, zwangsläufig eine weitere Einschränkung. Jede militärische Unterstützung Maos von Seiten der Sowjets hätte jetzt den Charakter der Sabotage an einem Bündnis gehabt. Tschiang Kai shek nützte diesen komplizierten Zusammenhang für seine Ziele skrupellos aus und baute die Konfrontation mit Maos Reservat nicht ab. Dieser hingegen zeigte sich nach außen hin (auch durch die wie derholte Entsendung von Kontaktpersonen nach Tschungking) be reit zur Zusammenarbeit im nationalen Interesse, verteidigte aber verbissen seine Position, wobei er keine Gelegenheit ausließ, immer wieder darauf zu verweisen, daß er im Gegensatz zu Tschiang Kai shek von niemandem (auch nicht von den Sowjets) irgendwelche Hilfe bekam. Seitdem ist, wie mir in Jenan ersichtlich wurde, die Missstimmung gegen die Sowjets langsam, aber stetig gewachsen, bei offenen Fragestellungen allerdings wird stets die Verbundenheit mit den Sowjets betont. Das wird bis zum Rand der Ironie getrieben, ist aber aus keinem offiziellen Dokument einwandfrei nachweisbar. 7) Im Lichte dieser Zusammenhänge gesehen scheint mir das Be streben Mao Tse-tungs, mit den Vereinigten Staaten partnerschaftli che Beziehungen herzustellen, ernst gemeint. Wenn es manchmal so erscheint, als suche er eine regelrechte > Anlehnung < an uns, so halte ich auch das für echt. Es gibt in Maos privaten Überlegungen eine perspektivische Komponente, über die er selbst und seine Unterstellten nicht offen sprechen, die Ma Hai-te mir jedoch in einer Unterhaltung als >eigene Überlegung< präsentierte: Zwischen den Alliierten ist abgemacht, daß die Sowjets aktiv bei der Niederringung der Japaner mithelfen, sobald sie in Europa entlastet sind. Dieser Zeitpunkt rückt näher, sie stehen an den Grenzen 185
Deutschlands. Ihr Eingreifen auf dem asiatischen Schauplatz dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit auf die Mandschurei konzentrieren, die ein ungeheures industrielles Potential darstellt und von japanischen Kerntruppen besetzt ist. Im Kreis um Mao rechnet man offenbar damit, daß die Sowjets die Chance wahrnehmen werden, die Japaner aus der Mandschurei zu vertreiben. Angesichts der Streitkräfteverteilung wäre es für die chinesischen KP-Truppen leicht, in das Vakuum hineinzustoßen, das voraussichtlich in der Mandschurei entsteht. Damit wäre das Schicksal Chinas besiegelt, denn es heißt nicht zufällig hier: wer die Mandschurei besitzt, der besitzt China. Nur — diese Perspektive hat, wie Ma Hai-te (sicher nicht zufällig) mir gegenüber durchblicken ließ, für Mao Tse-tung etwas Problematisches. Er sieht für die Zukunft ein unmittelbar an die Sowjetunion grenzendes China, in dem er mit seiner KP nach seiner Ansicht zweifellos die Macht behaupten wird. Dennoch macht ihn das nicht froh. Er sieht einen erheblichen Einfluß Moskaus auf das aus den Wirren des Krieges entstehende neue China voraus, und das scheint seinen Fernzielen zu widersprechen. Wie ich Ma Hai-te verstehe, wünscht Mao ein kommunistisch beherrschtes China, das in der Lage ist, die unvermeidlich zu erwartende chinesisch-sowjetische Partnerschaft durch bereits jetzt vereinbarte Partnerschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten hochgradig zu neutralisieren. Dabei wäre er bereit, den Einfluß, den ein kommunistisches China seinerseits in der Zukunft auf den >weichen Unterleib < Südostasiens nehmen könnte, mit den Interessen der Vereinigten Staa ten in dieser Region abzustimmen. Grob gesagt (und zu dieser Defi nition meinerseits lächelte Ma Hai-te lediglich zustimmend): Mao Tse-tung wünscht unser Gewicht auf seiner Waagschale zu haben, wenn Moskau sein Gewicht in die andere Schale legt. 186
8) Aus allem, was ich darstellte, geht die Notwendigkeit einer hi storischen Entscheidung für die Vereinigten Staaten hervor: Wir können entweder das Risiko eingehen, uns mit dem kommunisti schen Mao Tse-tung für die Zukunft in Asien zu verbünden, oder wir können das aus grundsätzlichen Erwägungen gegenüber dem Kommunismus nicht tun. Im letzten Falle würde eine Kombination Moskau—Mao auf lange Sicht in der Lage sein, die Interessen der Vereinigten Staaten in dieser Region nach ihrer Wahl einzuschränken oder völlig auszuschalten. Wobei, wie ich nach meinen hiesigen Erfahrungen bestätigen kann, Mao Tse-tung in dieser Rolle nur widerwillig mitspielen würde. Es deutet sich hier ein Phänomen an, das in unseren Überlegungen über den Kommunismus bisher nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde: nämlich daß der Anführer einer kommunistischen Bewegung sich aus subjektiven Impulsen heraus
als
Erstpartner
nicht
den
geistesverwandten
Sowjetkommunismus wählen will, sondern beispielsweise uns. Diese Erscheinung mit allen möglichen Konsequenzen gründlich zu überdenken und auf Chancen für unsere eigenen Interessen abzuwägen, ist dringend erforderlich. Eine Absage unsererseits könnte Mao Tse-tung zwingen, sein deutlich geäußertes Entgegenkommen zu unserem (und seinem) Nachteil aufzugeben. Noch haben wir es in der Hand, diese Um stände nicht eintreten zu lassen und uns durch ein Bündnis mit Mao die Tür in das Asien der Zukunft offen zu halten. Ich hebe hervor: es handelt sich um eine historische Entschei dung, die ich selbst in allen möglichen Folgen heute noch nicht absehen kann. Dabei steht zu erwarten, daß uns der Kongreß, die Tschi-ang-Lobby und kurzsichtige antikommunistische Kräfte zu Hause die Entscheidung nicht leicht machen werden, aber es ist 187
letztlich die Entscheidung über die zukünftige Rolle der Vereinigten Staaten in dieser Region der Welt. (Quellen: Kang Sheng, Mao Tse-tung, Ma Hai-te, John Service, Tschiang Tsching) Violet
15.12.1944 Wieder einmal landet eine Dakota in Jenan, am 7. November, auf dem inzwischen recht sicher gewordenen Flugplatz. Kaum schwingt das Schott auf und die Stahlgangway klappt herab, erscheint auf der obersten Stufe ein US-General in maßgeschneiderter Uniform, an der eine Unmenge Ordensbänder leuchten. Er hält eine Hand seit lich vor den Mund und stößt einen gräulichen Schrei aus, ähnlich dem Jaulen eines getretenen Hundes. Daraufhin trampelt er die rest lichen Stufen herab, schwenkt seine Hände und erklärt den in stum mer Verblüffung am Fuße der Gangway stehenden chinesischen Funktionären: »Das war der Kriegsruf der Indianer in meiner Hei mat Oklahoma! Dachte, er wird euch bekannt vorkommen. Und wer von euch ist Mister Moose Dung?« Ich erschrecke zutiefst. Er meint Mao Tse-tung, und er spricht den Namen absichtlich so verquer aus, daß er im Amerikanischen >Elch-Scheiße< bedeutet, wörtlich, was die im Halbkreis um die chinesischen Funktionäre herumstehenden Kerle unserer Mission fast ausnahmslos mit schallendem Gelächter quittieren. Tschou En-lai reicht dem Ankömmling betont höflich die Hand und läßt ihn wissen, daß der Vorsitzende ebenfalls sogleich zur Stelle sein wird. »O.K.«, sagt der jovial tuende Gast, »ich bin sehr neugierig auf 188
den alten Burschen, werde sicher mit ihm einig werden, habe mich mit >Old Shek< ebenfalls geeinigt!« Er schüttelt Kang Sheng die Hand, dann anderen, schließlich wendet er sich lärmend an unsere Leute. Kang Sheng blickt mich fragend von der Seite an. Tschou En-lai tritt hinzu, der Ankömmling hat ihn einfach stehenlassen. Schnell versuche ich zu retten, was zu retten ist, und kläre Tschou En-lai auf: »Unser Sonderbotschafter spricht einen etwas ungewöhnlichen Dialekt, aber er hat offenbar eine gute Reise gehabt...« Tschou lächelt nur. Er versteht genug Englisch, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Es ist ein Meisterstück an Diplomatie, was er jetzt leistet, als er mir ganz sachlich zu verstehen gibt, daß man in einigen Gegenden Chinas das >tung< aus Maos Namen tatsächlich wie >Dung< ausspricht, was bei etwas Phantasie schön eben diese anrührige Bedeutung herstellen könne. Er hört nicht auf zu lächeln, wir haben uns verstanden. Bevor er wieder zu dem Gast geht, läßt er nur noch die Bemerkung fallen: »Außerordentlich sympathisch, diese Affinität, die der Herr General zu den Ureinwohnern seiner Heimat hat!« Pat Hurley. Er führt sich in Jenan ein wie ein soeben halbtrunken aus einem Saloon torkelnder Goldgräber bei den Insassen einer Kutsche, die er besteigt. — Doch ich will versuchen, die Dinge nüchtern zu registrieren: Pa trick Hurley ist ein steinreicher republikanischer Anwalt, der unter Präsident Hoover bereits einmal Kriegsminister war und den Roose velt schon früher gelegentlich für Sondermissionen einsetzte. Jetzt hat er ihn als Sonderbeauftragten nach China geschickt, mit einer Aufgabe betraut, die nach Meinung der meisten Kenner der hiesigen Verhältnisse seine Fähigkeiten weit überfordert. Er soll >die Situation bereinigen< Ob er das kann? Ich zweifle daran, denn 189
>die Situation< ist so verfahren, wie sie wohl nie zuvor gewesen ist. Hier in Jenan gerät man in die Gefahr, in der Isolation gleichsam einzuschlummern. Man ist abgeschnitten, die Nachrichten von außen kommen spärlich, man gewöhnt sich an die täglich gleiche oder sich ähnelnde Routine. Ich habe erst, als Hurleys Besuch ange kündigt wurde, einmal das Mosaik der Entwicklung zusammenge setzt, um klarer zu sehen. Hurley kommt, um mit Mao Tse-tung über ein mögliches Abkommen zwischen Jenan und der Kuomintang zu verhandeln, eine an sich erfreuliche Absicht, nur sind es vorausgegangene Ereignisse, die skeptisch stimmen. Während des trockenen, drückenden Sommers von Jenan, in dem wir hier alle ein wenig von dem Interesse für > außerhalb < einbüßten, hat die Erde sich weiter gedreht: Unsere Truppen haben nicht nur die Marshall-Inseln erobert, sondern auch Neu-Guinea, die Marianen und Guam, sie sind auf den Philippinen gelandet, die japanische Flotte ist weitgehend dezimiert, die »Straße von Tokio< schrumpft zusammen. In Europa gibt es die sogenannte >zweite Front<, bis Berlin ist es weder von den russischen Linien noch von der Normandie aus sehr weit, gemessen etwa an den Entfernungen in Asien. Doch in China haben sich die Dinge nicht zu unseren Gunsten bewegt. Die Japaner sind offenbar durch ihre Mißerfolge im Pazifik dazu ermuntert worden, Chancen auf dem Festland wahrzunehmen, und zwar dort, wo sie im wesentlichen mit Truppen Tschiangs zu tun haben. Ihre Offensive in Ost- und Südchina zielt vor allem auch auf die Flugplätze, von denen aus unsere Bomber bis Tokio fliegen. Die Tatsache, daß die Japaner unerwartet verbissen angriffen, teils sogar Eliteeinheiten aus der Mandschurei nach Südchina abzogen, und der Umstand, daß sie als Gegner am Boden so gut wie ausnahmslos Truppen Tschiang Kai-sheks hatten, sowie eine Reihe anderer Faktoren führten dazu, daß sie relativ 190
schnell vorwärts kamen, heute verfügen sie über eine von der Mandschurei bis Südchina fast geschlossene Frontlinie. Begünstigt wurden ihre Erfolge zweifellos durch den desolaten Zustand von Tschiangs Armee, durch deren mangelhafte Ausrüstung, ihre niedrige Kampfmoral und das Fehlen einer resoluten Führung. An manchen Stellen der Front sind ganze Truppenteile Tschiangs mit ihren Generälen an der Spitze einfach übergelaufen. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich an diesen Rückschlägen der alte, schwelende Konflikt unseres China-Burma-Indien-Befehlsha bers Joe Stilwell mit Tschiang Kai-shek neu entzündete und zu einer endgültigen Entscheidung drängte. Stilwell hatte nach anfänglichen
Schwierigkeiten
im
Frühjahr
seine
mit
den
Engländern koordinierte Offensive zur Rückeroberung Burmas äußerst erfolgreich weiterführen können. Hatte er im Mai, von Norden vorstoßend, mit mehreren, von ihm selbst vorzüglich ausgebildeten und ausgerüsteten Divisionen chinesischer Soldaten (der sogenannten Y-Kampfgruppe) bereits die Ledo-Straße erreicht, so steht er jetzt in Myitkyina, und der Weg nach der Schlüsselposition Mandalay liegt offen. Die Engländer, von Indien aus angreifend, kamen zwar langsamer vorwärts, mit ihren zumeist aus Afrikanern bestehenden Verbänden, aber es ist inzwischen abzusehen, daß sich die Zange um die Japaner in Nordburma unvermeidlich bei Mandalay schließen wird. Augenblicklich ist bereits die Versorgung Chinas mit Hilfsgütern über die Ledo-Straße wieder voll im Gange, obwohl es dort noch an Lastwagen fehlt. Und doch ist der Sinn dieser Unterstützung und Versorgung Chinas in Frage gestellt, wenn Tschiangs Truppen sie nicht endlich in Kampferfolge gegen die angreifenden Japaner ummünzen. Die Japaner haben ihren Angriff an den chinesischen Fronten meiner Meinung nach psychologisch genau berechnet. Sie fürchten 191
einerseits um Burma, andrerseits aber kennen sie die Schwäche der ihnen in China gegenüberstehenden Truppen Tschiangs. Und sie konnten sich unter Aufwendung geringfügiger Intelligenz ausrech nen, daß Tschiang genau das tun würde, was er getan hat, nämlich von Stilwell in Burma zu fordern, daß dieser Truppen aus seiner Of fensivbewegung herauszieht und sie eiligst Tschiang für Defensivzwecke zu Hilfe schickt. Das war der Funke, der das Pulverfass Stilwell-Tschiang in Brand steckte. Der alte >Essig-Joe< weigerte sich nämlich, seine Offensivkraft zu schwächen, und sagte wieder einmal ohne Umschweife die Wahrheit: Es sei militärischer Irrsinn, die Offensive in Burma lahm zu legen, nur weil Tschiang und sein Stab unfähig seien, oder unwillig, einen wirkungsvollen Widerstand gegen die in China angreifenden Japaner zu organisieren. Außerdem solle Tschiang, wenn er schon Verstärkungen brauche, gefälligst einige seiner zwei Dutzend Divisionen abziehen, die das Jenaner Gebiet - bewachen. Damit bescheinigte er Tschiang einerseits militärische Ignoranz und andrerseits politischen Starrsinn. Er beließ es nicht dabei, er be anspruchte, um endlich effektiv kämpfen zu können, daß er den mi litärischen Oberbefehl auch über die Ostchina-Front bekäme, sowie die Entscheidungsgewalt über die von uns nach China gelieferten Güter des Lend-Lease-Programms. Überraschenderweise stimmte Washington diesen Forderungen zunächst zu, vermutlich angesichts der tatsächlichen Bedrohung un serer entscheidenden Luftbasen in Südostchina (von denen nun in zwischen der größte Teil unter schweren Verlusten geräumt werden mußte!). Tschiang, der durch die Washingtoner Entscheidung wohl vorsichtig gemacht war, stimmte formell ebenfalls erst einmal zu. Aber, wie immer, zog er gleich darauf ein As aus dem Ärmel: Diplomatische
Verhandlungen 192
zur
Festlegung
von
Verantwortlichkeiten
in
Einzelfragen
seien
erforderlich.
Washington reagierte schnell. Während die Japaner auf unsere bedeutendste Luftbasis im Südosten, Kweilin, vorstießen, flogen Donald Nelson als Spezialist für Hilfsgüterlieferungen und Pat Hurley
als
politischer
Emissäre
nach
Tschungking.
Ihre
Forderungen an Tschiang: Vereinigung der politisch unterschiedlich motivierten Militärkräfte der Kuomintang und der Kommunisten auf Kommandoebene gegen die Japaner und Übertragung der vollen militärischen Verantwortung für den abgestimmten Einsatz dieser Kräfte auf Stilwell. Tschiang Kai-shek muß sich unter dieser forsch vorgetragenen Washingtoner Forderung gewunden haben wie eine in der Astgabel gefangene Schlange. Aber er war nicht ohne Einfälle. Donald Nelson wurde von ihm mit sogenannten Zukunftsprojekten beschäftigt, wie etwa dem Nachdenken über den Bau eines Yangtse-Damms in der Nachkriegszeit, natürlich unter unserer Beteiligung. Und dazu gab ihm Tschiang zu überlegen, daß es eine >Entwürdigung einer großen Nation < sei, wenn diese (China) nicht mehr souverän über die Verteilung von Hilfsgütern selbst verfügen solle, sondern ein amerikanischer General. Außerdem verfiel Tschiang auf einen neuen, sehr cleveren Trick. Vermutlich über Kanäle Tai Lis sorgte er dafür, daß die Japaner in ihrem Rundfunk und auf Flugblättern die Chinesen aufmerksam machten, in Tschungking tobe ein interner Kampf darum, ob China weiter von Chinesen regiert werden soll oder vielmehr von amerikanischen Militärs. Mit einem solchen Flugblatt meldete sich der >Bankier< H.H.Kung, Tschiangs Schwager, der sich >zufällig< gerade in Washington aufhielt, während eines offiziellen Dinners bei Roosevelts persönlichem Berater Harry Hopkins und machte ihn 193
>auf den Ernst der Lage< aufmerksam: General Stilwell wolle sich endgültig zum Herrscher Chinas aufschwingen, er habe jetzt schon mehr Macht im Lande als Tschiang, und Tschiang würde alle Forderungen der Vereinigten Staaten sofort erfüllen, wenn Roosevelt ihm nur diesen militärischen Intriganten vom Halse schaffte. Umgehend ließ Tschiang in Tschungking das Gerücht verbreiten, Roosevelt habe seiner Bitte zugestimmt und werde einen geeigneten Kommandeur nach China entsenden. Offiziell hingegen erklärte er Anfang Oktober auf einer Konferenz des Zentralkomitees der Ku omintang, er werde alle ungerechtfertigten Forderungen der USA selbstverständlich
ablehnen,
Stilwell
würde
aus
China
verschwinden müssen, und was die Kontrolle über die USHilfsgüter beträfe, so habe Nelson ihm darüber bereits die totale Verfügungsgewalt zugesichert. Offenbar hat Roosevelt, der ja mitten in der Kampagne zu seiner (hoffentlichen) Wiederwahl steckt, um endlich eine Entscheidung in diesem von Tschiang eingefädelten Intrigenspiel herbeizuführen, sich
zwei
Wochen
später
entschlossen,
General
Stilwell
gewissermaßen zu > opfern <, wobei er annahm, daß Hurley danach mit seinem Plan für die Vereinigung der chinesischen Streitkräfte und die Kooperation mit Jenan im Interesse der Stärkung der Front endlich zum Zuge komme: Am 19. Oktober ist Stilwell abgelöst und durch General Wedemeyer ersetzt worden. Tschiang hat das freudig begrüßt! Dies alles erzählte mir Teddy White, einer der Korrespondenten, die sich inzwischen hier aufhalten, nachdem die Kommunisten recht freizügig mit Einladungen geworden sind. (Epstein, Votaw, Urooks Atkinson, Harrison Forman und andere gehören schon zu den gewohnten Gästen hier!) Teddy White kam von Tschungking, und ich konnte spüren, daß Holly ihn direkt oder 194
indirekt gebeten hat, mich über die Interna ins Bild zu setzen. Er tat es, ohne Holly zu erwähnen, und jetzt stehe ich hier auf dem Landeplatz und beobachte, wie Hurley sich anschickt, mit den Führern der Jenaner Kommunisten den nächsten Schritt zu vereinbaren. Etwas Überraschendes geschieht, während der leicht ergraute Ve teran des vorausgegangenen Weltkrieges noch mit Tschou En-lai spricht: Von der Stadt her rattert das heran, was wir unter uns >Maos Staatskarosse< nennen. Jener uralte Lastwagen von Ford, mit seinem Kastenaufbau, zerbeult, rostzerfressen, eine stinkende Qualmwolke hinter sich lassend, wird von Mao gern dazu benutzt, Gäste am Flugplatz abzuholen. Das Vehikel ist auf abenteuerlichen Wegen hierher gelangt, nachdem es irgendein Chinese in New York, Besitzer einer Wäscherei, der es ein Jahrzehnt lang als Lieferfahrzeug benutzte, einem Aufruf der >China Defense League< folgend, für die >Patrioten von Jenan< gespendet hat. Mit einer donnernden Fehlzündung bleibt das Ding in der Nähe Hurleys stehen, Mao entsteigt ihm, kämmt sich mit den Fingern sein wildes Haar und wird von Hurley prompt mit »Hallo, Mr. Moose Dung!« begrüßt. »Ich komme, um diese kleine Sache zwischen Ihnen und Old Shek zu bereinigen, wie stehen die Dinge hier?« Wenn es eine Auszeichnung für instinktloses Verhalten gäbe, hätte Hurley sie verdient. Er ist eher eine amerikanische Karikatur als ein Diplomat, jedenfalls deutet sein Auftreten darauf hin, daß er keine Ahnung von den tatsächlichen Problemen hat. Irgendwie erin nert mich seine Art an die Umgangsformen von College-Studenten, die nach einem Baseballspiel zum Duschen gehen. Yeh Tschien-ying, Chef des roten Generalstabes, der etwa fünfzig Jahre alte, etwas behäbige Südchinese, hat zwei Kompanien 195
roter Soldaten antreten lassen, als Ehrenformation, die Hurley nun würdevoll abschreitet, worauf er (ich drehe mein Gesicht verschämt weg) erneut die Hand an den Mund legt und den chinesischen Soldaten nochmals seinen Indianerschrei vorführt. Ich stehe zwischen Teddy White und Epstein. White, der an einem längeren Artikel oder sogar an einem ganzen Buch über Je nan arbeitet, meint grinsend: »Wowowopajeeh. Ich könnte das als Titel nehmen.« Epstein, der kleine Mann, dessen Gesicht unter einem breitkrempigen Strohhut kaum zu sehen ist, bemerkt bissig: »Dazu die alte Erdnuß Tschiang mit dem Western-Hut auf dem Umschlag, das gibt eine Millionenauflage!« Mao Tse-tung verzieht kaum das Gesicht, er macht den Eindruck gespannter Aufmerksamkeit und quittiert den Indianerheuler in der Manier der Sekretärin eines Generaldirektors, die einen vernehmli chen Rülpser ihres Chefs höflich überhört. Nichtsdestotrotz: Es wird Ernst. Unmittelbar nach dem Empfang beginnen Gespräche zwischen Hurley, Mao, Tschu Teh und Tschou En-lai. Gelegentlich wird Yeh Tschien-ying hinzugezogen. Von unserer Mission haben sich Barrett und Service ständig für Rückfragen bereitzuhalten. Ich selbst habe bei den Besprechungen nichts zu suchen, ich ziehe mich mit meinem Päckchen Kurierpost in meine Behausung zurück, lese, notiere, lasse mir von meinem Ordonnanzsoldaten ein Becken mit glühenden Kohlen in den zugigen Raum stellen, und als die Nachtkälte zu arg wird, schlüpfe ich in meinen Army-Schlafsack. Allerdings nicht für sehr lange. — »Mister Robbins!« Der Posten rüttelt mich, tritt einen Schritt zu rück, als ich mich aufrichte, und dann erfahre ich, daß ich möglichst sofort im Versammlungsraum der Militärakademie erscheinen soll: Chinesische und amerikanische Verhandlungspartner laden zu einer 196
Feier ein. »Haben wir gesiegt?« frage ich Barrett, als ich dort eintreffe. Die chinesische Kapelle spielt Musik, über der jeder chinesische Musi ker wohl ebenso verzweifeln würde wie ein amerikanischer Kollege. Viel Blech, viel Baß, wenig Harmonien. Barrett klärt mich auf, es handle sich um russische Volksweisen, was ich ebenfalls für kaum wahrscheinlich halte. »Wir sind dabei, vorwärtszukommen«, tut Barrett geheimnisvoll. »Aber die Feier läuft nicht deshalb. Heute ist der Tag der russischen Oktoberrevolution, sie jährt sich zum 27. Mal.« Ich hadere eine Zeitlang mit mir, ob ich das für einen vertretbaren Grund halten soll, kurz vor Mitternacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, die russische Revolution interessiert mich nicht, aber dann sehe ich, daß man in der Halle Tische mit allerlei Speisen aufgebaut hat, von Hühnerbeinen in einer dunklen, scharfen Soße bis zu Äpfeln, Erdnüssen, Melonen und Lotoskernen. Auch Alkohol gibt es. Das tröstet selbst über die chinesische Interpretation russischer Volksweisen hinweg. Whisky und Gin sind da, wohl von unserer Kunminger PX zu Ehren des Hurley-Besuchs mitgeschickt, vielleicht auch wegen der russischen Revolution, der Teufel soll sich da auskennen, schließlich sind wir Alliierte! Also esse ich ein paar Hühnerbeine, die leider etwas ranzig schmecken, nasche Nüsse, trinke einen Schluck, werde Hurley vor gestellt, ohne daß er mich mit Kriegsruf begrüßt, er sagt nur beiläu fig: »Hallo, my boy!«, ich plaudere mit Ma Hai-te, der natürlich da ist,
mit
Epstein,
Tschou
En-lai,
erhalte
ein
freundliches
Schulterklopfen von Mao und lande schließlich bei seiner Frau, die in einem Stapel von zerschrammten Schallplatten wühlt. Man hat ein Grammophon in Gang gesetzt, nachdem die Kapelle pausiert, und jetzt wird getanzt. (Ja, die Jenaner Kommunisten tanzen Swing, 197
anläßlich der russischen Revolution, oder wegen Indianer-Hurley, Gott allein mag wissen, warum sie es wirklich tun!) Hurley allerdings meint, es sei die Bestätigung dessen, was er und andere lange vermutet haben. Er sagte es zu Service, während ich in der Nähe stand: »Wir haben uns wohl zu lange erzählen lassen, diese Leute hier wären Barbaren, die schon zum Frühstück Babyrippen
abnagen!
Das
sind
ja
gar
keine
wirklichen
Kommunisten, das sind bestenfalls Leute, die China auf eine etwas dubiose Art von seinen Krankheiten heilen möchten. Man wird sie in dieser Hinsicht beeinflussen können. Jedenfalls werden wir mit ihnen glänzend ins Geschäft kommen ...« Mir liegt die Frage auf der Zunge, was wohl der Generalissimus in Tschungking von dieser Wertung halten würde, aber ich werde gleich abgelenkt: Tschiang Tsching, die man hier nicht >Madamis sima< nennt, nicht einmal >Madame<, sondern einfach >Tschiang Tsching Tungdschi<, Genossin Tschiang Tsching, will mit mir einen Two-Step tanzen, der blechern und krächzend aus dem Grammophon kommt. Ich tue mein Bestes, und sie genießt es ganz offensichtlich, herumgeschwenkt zu werden. Dabei verrät sie mir, daß der Vorsitzende zwar gelegentlich auch ein paar Schritte mit ihr tanzt, die Tanzerei aber ansonsten für eine ziemlich bürgerliche Idiotie hält. Gewisse rhythmische Bewegungen des chinesischen > Schattenboxens<, einer Art Gymnastik in Zeitlupe, seien viel nützlicher für Körper und Geist. Nun ja. — Doktor Orlow ist da, ich sehe, wie Ma Hai-te um ihn herumscharwenzelt,
dann
ist
da
noch
der
sowjetische
Nachrichtenmann mit dem nachdenklichen Gesicht, das auf mich nicht nur hier und jetzt, sondern fast immer den Eindruck macht, als drücke es die Frage aus: China wohin? 198
Ein paar von den Lu-Hsün-Hochschulstudentinnen, zukünftige Schauspielerinnen — vielleicht auch Malerinnen — treten in langen Gewändern auf und singen etwas über den glühenden Osten, sie werden mit enormem Beifall bedacht und sofort als Tanzpartnerin nen mit Beschlag belegt: unsere Jungens haben Blut gerochen, viel leicht auch nur weiblichen Schweiß, tagelang immer wieder auf der Haut getrocknet, in die Kleidung gezogen, ein Geruch, der gleichsam die spezifische Duftnote von Jenaner Zusammenkünften dieser Art ist. Hurley tanzt mit der Frau Tschou En-lais, man beklatscht das Schauspiel, und am Ende weiß keiner mehr genau, was eigentlich gefeiert wird, die Zahl 27, die an der Stirnwand des Saales aufgemalt ist, oder der amerikanische Unterhändler, mit dem so einfach zu verfahren ist, weil er sich als unbefangen erweist, geradezu naiv. Kang Sheng hat mir etwas Interessantes mitzuteilen, nachdem er mich — unauffällig, wie es seine Art ist — in eine Ecke geführt hat, wo wir unbeachtet reden können. »Wir haben sichere Informationen, daß Mister Hurley den Posten des Botschafters in Tschungking übernehmen soll«, sagt er. Ich muß passen, ich weiß derartiges nicht. Aber Kang Sheng ist sehr optimistisch. »Er hat seine Meinung über uns gründlich revidiert. Und er steht für die Beteiligung der Kommunistischen Partei an der Regierung, für ein gemeinsames militärisches Oberkommando, kurz gesagt, für die Rechte, um die wir so lange gekämpft haben ...« Es scheint, daß es in der Strategie der hiesigen Führung, ganz China zu beherrschen, auch die Variante gibt, das Zug um Zug, auf dem Wege über eine Beteiligung an der Zentralmacht zu erreichen, in diesem Sinne soll Hurley nun in Tschungking wirken. Kang Sheng deutet an, daß man noch den ganzen morgigen Tag verhan deln wird, vielleicht länger. Über ein gemeinsames Programm von 199
Kuomintang und KP zur Rettung Chinas, gewissermaßen mit den Vereinigten Staaten als Notar dabei. Ich bin sehr gespannt, ob das gelingt. Wenn ja, dann müßte man Hurley tatsächlich als ein Genie bezeichnen, und es würde zu dem kommen, was Mao Tse-tung in einer seiner Publikationen als >Koalitionsregierung< ansieht. Auch die Sowjets, so verrät Kang Sheng mir flüsternd, obgleich niemand uns zuhört, sähen eine solche Regierung gern, lieber als einen Bür gerkrieg. »Natürlich aus anderen Gründen, nämlich, weil sie nicht daran glauben, daß wir schon stark genug sind, einen Bürgerkrieg zu gewinnen!« fügt er augenzwinkernd an. Es ist nicht gerade ein rauschendes Fest, das ich gegen Morgen heimlich verlasse, aber es ist ein Beisammensein, das Hoffnungen erweckt. Am Abend des 9. November tritt das Zentralkomitee der KP zu sammen und bekommt vorgelesen, was Mao Tse-tung mit Hurley ausgehandelt hat. Es gibt keinen Widerspruch. Entstanden ist ein 5 Punkte-Dokument. Nach dem, was Kang Sheng mir schnell münd lich mitteilt, enthält es substantiell folgende Vereinbarungen: Bil dung einer Koalitionsregierung aus Kuomintang und KP, unter Be teiligung kleinerer demokratischer Parteien und Gruppen, für ganz China, Bildung eines gemeinsamen militärischen Oberkommandos für den Kampf gegen Japan, Einbeziehung der kommunistischen Streitkräfte in das System der Belieferung mit amerikanischen und anderen Hilfsgütern, Gewährung von demokratischen Grundrechten und Freiheiten in ganz China, Einleitung demokratischer Reformen in ganz China und Vorbereitung des Wiederaufbaus nach dem Sieg über Japan, auf der Grundlage der von Sun Yat-sen entworfenen Prinzipien. »Und das hat Hurley unterschrieben?« frage ich ungläubig. »Er hat.« »Und das soll Tschiang Kai-shek gegenzeichnen?« 200
Da lächelt Kang Sheng. Hinter seinen wie immer etwas verstaub ten Brillengläsern funkeln seine Augen. »Er wird das niemals tun, unter uns gesagt. Aber damit wird er für alles verantwortlich sein, was in der nächsten Zukunft geschieht, und zwar nicht nur vor dem chinesischen Volk, sondern vor der ganzen Welt.« Ich verstehe den Charakter der Falle, die hier von Mao Tse-tung für seinen alten Widersacher Tschiang aufgebaut wurde. Nur er staunt es mich, daß Patrick Hurley das Dokument unterschrieben hat. Weil dies heißt, daß die USA, vertreten durch Hurley, Mao Tse-tungs Vorstellungen teilen. Auf nichts bin ich neugieriger als auf das, was Tschungking zu diesem Dokument sagen wird! Kang Sheng muß gemerkt haben, wie skeptisch ich bin. Er fühlt sich verpflichtet, mir etwas mehr mitzuteilen, als eigentlich nötig ist. Später überlege ich mir, daß er das zweifellos getan hat, um mir einen weiteren Beweis seines persönlichen Vertrauens zu geben. Er legt es auf eine Partnerschaft an, bei der der eine dem anderen ge genüber absolut offen ist, ohne hinterhältige Tricks. Plötzlich zieht er ein Papier aus der Tasche, winkt mich beiseite, und dann lese ich in chinesischer Schrift, mit einer Schreibmaschine geschrieben, folgendes: >28.Juni 1944: Von Kunming aus schickt Vizepräsident Wallace, der von Roosevelt zur Erkundung der tatsächlichen Lage nach Tschungking entsandt worden war, einen längeren Bericht per Tele gramm an den Präsidenten. Inhalt in Stichworten: Tschiang Kai shek mangelt es an Tatkraft und politischer Intelligenz, er erscheint nicht als ein lohnendes Objekt für Investitionen, die sich auf die Zu kunft Chinas richten. Die rotchinesischen Politiker hingegen wären potente Partner für Zukunftsinvestitionen, alles weist darauf hin, daß sie mit ihrer stärkeren politischen Anziehungskraft Tschiang Kai-shek entweder auf lange Sicht politisch ausmanövrieren oder 201
ihn militärisch zermürben, falls die USA ihn nicht massiv stützen. Dies aber erscheine im Lichte der realen Verhältnisse als Fehlinve stition. Wünschenswerte Politik für die USA wäre die Herbeifüh rung einer vorläufigen Einheitsfront zwischen Kuomintang und Kommunisten, aus der sich von selbst der stärkere Partner mit der Zeit durchsetzen würde. Die USA sollten kontinuierlich im Zusam menspiel mit derjenigen politischen Gruppierung bleiben, die letzt lich die Oberhand behält. Die Kommunisten seien übrigens zum Eintritt in eine solche Einheitsfront, die ja theoretisch bestehe, prak tisch aber infolge der Kommunisten-Phobie Tschiang Kai-sheks pa ralysiert sei, bereit. Voraussetzung sei, daß sie darin eine ihren Kräften entsprechende Rolle spielen können. Die Tatsache, daß Moskau seit langem eine Vereinigung der nationalen Potenzen Chi nas befürwortet, sollte nicht falsch ausgelegt werden: Nach allem, was unsere Informationen aus Jenan besagen, hält Mao Tse-tung bedachtsam Distanz zu Moskau. Die USA sollten sich nicht durch das Etikett >Kommunist< irreführen lassen. Wallace weist darauf hin, daß Tschiang Kai-sheks Verhältnis zu General Stilwell, seinem >amerikanischen Stabschef, irreparabel sei. Obwohl Stilwell mit seinen Ansichten durchaus im Recht sei, wäre es ratsam, ihn abzuberufen, und zwar im Interesse der Errei chung höherer Ziele. Tschiang Kai-shek würde durch die Geste der Abberufung Stilwells genötigt sein, auf die Forderung der USA nach Kooperation mit den Kommunisten elastisch zu reagieren. Käme es zu der vorgeschlagenen >Einheitsfront< mit allen Konsequenzen, dann würde sich damit das Einflußgebiet der USA bis
zur
Mandschurei
hin
ausdehnen,
was
ein
wichtiger
Gesichtspunkt im Zusammenhang mit den dort von der UdSSR in absehbarer Zeit zu erwartenden Aktionen sei. Durch die Präsenz amerikanischer Truppen, die mit der >Einheitsfront gemeinsam 202
operieren könnten, und zwar schon vor dem verabredeten militärischen Eingreifen der UdSSR in der Mandschurei, wäre die Gefahr einer Beherrschung dieses entscheidenden Industriegebietes durch die Sowjets elegant beseitigt. Als Ersatz für Stilwell schlägt Vizepräsident Wallace den auf Ceylon stationierten Generalmajor Albert Wedemeyer vor. Zusätz lich sollte der Präsident im Zuge dieser politischen Maßnahmen so fort einen von ihm zu bestimmenden Emissär nach Tschungking senden, dessen Tätigkeit das Ziel haben müsse, den drohenden mili tärischen und politischen Zerfall der gegenwärtigen chinesischen Zentralregierung dadurch zu verhindern, daß er die Koalition mit den Kommunisten auch gegen den Widerstand Tschiang Kai-sheks durchsetzt. Dazu wäre es nützlich, wenn dieser Emissär selbst Kon takt zu den Kommunisten aufnähme. Sie seien aufgeschlossen, was alle Informationen aus Jenan deutlich bestätigend »Erstaunlich«, kann ich nur sagen, als ich Kang Sheng das Papier zurückgebe. Während ich dabei die politische Substanz des Infor mantenberichts meine, glaubt Kang Sheng offenbar, ich sei verblüfft über sein Wissen. Er lächelt verschmitzt und sagt: »Nun ja, wie Sie sehen, sind wir ganz gut unterrichtet! Es wird für Sie von Bedeutung sein, die Ansichten Ihres Vizepräsidenten zu kennen. Damit erhöht sich die Zahl, die diese Information zu lesen bekamen, auf vier.« Er faltet das Papier zusammen und steckt es wieder ein. Ich kann mir ausrechnen, wer die übrigen drei Mitwisser sind. »Was nun?« frage ich. Kang Sheng wird nachdenklich. »Es ist eine Kraftprobe zwischen Tschiang und Roosevelt. Ihr Präsident kann sie gewinnen, allerdings nur dann, wenn er uns Kommunisten vertraut und sich für eine ehrliche Zusammenarbeit mit uns entscheidet. Halten Sie 203
das für möglich?« Es ist eine Gewissensfrage. Ich glaube, daß Roosevelt in arger Bedrängnis
ist.
Gewachsene
und
stetig
genährte
Profanvorstellungen des Phänomens >Kommunismus< sind in den Vereinigten Staaten, wie ich sehr gut weiß, weit von dem entfernt, was beispielsweise hier in Jenan kommunistische Realität ist. Ich glaube eher, eine oberflächlich orientierte öffentliche Meinung, die bis tief in den Kongreß, In die Ministerien, in den gesamten Regierungsapparat hineingeht, wird dem Präsidenten die historische Entscheidung, ein sogenanntes > kommunistisches China< für die Zukunft als Verbündeten und Partner zu präsentieren, unmöglich machen. OSS und eine nicht geringe Anzahl hoher Militärs würden zwar auf seiner Seite stehen, aber trotzdem habe ich wenig Hoffnung. Als ich das Kang Sheng offen erläutere, nickt er nur. Er versteht. Und er sagt nachdenklich: »Ebensowenig Hoffnung haben wir, daß der Despot Tschiang unsere mit Hurley ausgearbeiteten Vorschläge akzeptiert. Aber wir können nur gewinnen, so oder so. Wir werden vor der Geschichte als verhandlungsbereit bis zur letzten Minute dastehen, selbst wenn wir zutiefst pessimistisch sind.« Ich habe ein ungewohntes Schlafbedürfnis. Vielleicht liegt es an dem Tumult der letzten Tage, an der Spannung, mit der mich das erfüllte, was da geschieht. So lege ich mich schlafen, in meiner immer kühler werdenden Behausung. Verschlafe die Feier, die anläßlich der Unterzeichnung des 5-Punkte-Dokuments durch Mao Tse-tung und Hurley abgehalten wird, verschlafe den Trubel des Abflugs von Hurley (angeblich ohne Indianerschrei!), verschlafe alles. Barrett rüttelt mich einmal, er fliegt mit Hurley und Tschou En-lai nach Tschungking, um bei den Verhandlungen mit Tschiang dabei zu sein. Erst Tage später stelle ich fest, daß ich Fieber habe. 204
Der Wachsoldat ruft Ma Hai-te, und der ist sofort da, behorcht und beklopft meinen Rücken, untersucht mich von Kopf bis Fuß, ordnet an, daß laufend ein Kohlenbecken in dem Raum steht, gibt mir Chinin und Sulfonamidtabletten und beruhigt mich, es sei keine Lungenentzündung, nur eine dieser Jenaner Grippen, die allerdings nicht weniger gefährlich sind, und schickt mir schließlich eine von seinen Sanitäterinnen, die Tag und Nacht bei mir Wache hält, in Decken gewickelt auf dem Fußboden schläft und die ein einziger unregelmäßiger Atemzug von mir sofort weckt. Sie sagt, sie heißt Tjing. Ist ein robustes Bauernmädchen, irgendwo in der Nähe von Sian aufgewachsen. Sie geniert sich nicht, die Konservenbüchse mit meinem Urin entgegenzunehmen und draußen zu entleeren, sie tut das mit entwaffnender Selbstver ständlichkeit, ebenso wie sie mich jeden Tag mit einem in heißes Wasser getauchten Lappen abreibt und danach abtrocknet. Ich bin so schwach, daß ich kaum die Hühnerbrühe schlucken kann, die sie mir eingibt. Irgendwann besucht mich Kang Sheng, ich nehme erstaunt wahr, daß er vor Mund und Nase eine Lage Mull trägt, mit einem Bändchen am Hinterkopf verknotet. Ob er sich vor Anstek kung fürchtet? Er teilt mir mit, Mao Tse-tung habe ein freund schaftliches Schreiben an Roosevelt gerichtet, es sei ihm ebenso freundlich bestätigt worden. Freundschaft der beiden Völker, tief verwurzelt, große Nationen, gemeinsame Anstrengungen zur Errin gung des Sieges, friedliche Zusammenarbeit, all diese üblichen For meln. Ich registriere das alles kaum, es interessiert mich nicht, ich fühle mich wie eine Leiche, die selbst noch nicht weiß, daß sie das schon ist. — Als ich wieder zu etwas klarerem Denken in der Lage bin, erfahre ich, daß Patrick Hurley mit seinen Jenaner fünf Punkten bei Tschiang selbstverständlich abgeblitzt ist. Kalte Schulter. Die fünf 205
Punkte
würden
Staatsgewalt
einer
durch
Aufgabe
die
der
Kuomintang
Ausübung
souveräner
gleichkommen.
Dem
Vernehmen nach soll Hurley ratlos gewesen sein. Vermutlich auch wütend. Tschiang nutzte die Chance, ihm ein Gegenpapier vorzulegen.
Drei
Punkte:
Eingliederung
der
bewaffneten
kommunistischen Verbände in die chinesische Nationalarmee unter dem Oberkommando Tschungkings, Zusicherung der ungehinderten Betätigung der Kommunisten, vorausgesetzt ihre Aktivitäten richten sich nicht gegen die Tschungkinger Zentralregierung, einige Reformen im Verwaltungsapparat der Kuomintang. »Lächerlich«, krächze ich, als John Service mir das bei einem Besuch mitteilt. »Damit stehen wir wieder da, wo wir zuvor standen. Zwei unvereinbare Konzepte.« Er nickt. »Du klingst noch ziemlich krank. Ruh dich aus. Wenn es eine Chance gibt, das durchzusetzen, weswegen wir überhaupt hierher gekommen sind, dann ist es die, daß wir die Öffentlichkeit zu Hause umstimmen.« Es klingt nicht sehr zuversichtlich. Ich schlafe, schlafe, schlafe. Spüre die Hände von Tjing, die kon trolliert, ob meine Stirn noch heiß ist, trinke Tee, höre dem Ge brabbel der Posten vor meiner Behausung zu, beobachte Tjing, die Tropfen irgendeines Gebräus in einen Löffel abzählt: »I ...Erh ...San ...« Das Zeug schmeckt nach Erde. Ich versuche mit Tjing zu scher zen und sage ihr, es riecht wie ein angepißter Laternenpfahl, aber sie weiß nicht, was ein Laternenpfahl ist, daher versteht sie den Scherz nicht. Vielleicht tut sie auch aus anerzogener Pietät nur so, Gott weiß es! »Ginseng!« sagt Ma Hai-te lachend, als ich ihn später nach dem Zeug frage. Er kommt regelmäßig, freut sich, daß es mir besser zu gehen beginnt. 206
»Der Saft ist Gold wert, Sid! Eine Wurzel. Sehr selten. Sehr gut für einen geschwächten Kreislauf. Manche nehmen es auch für die Potenz, haha! Deine Ration stammt aus den Vorräten des Genossen Vorsitzenden, und in der Hölle wirst du schmoren, wenn du jemals ein Wort darüber verlierst, ich habe nämlich geklaut!« Er ist, wie fast immer, guter Dinge. Aber ich spüre, daß ihn unter der Oberfläche seiner demonstrativen Heiterkeit der politische Misserfolg drückt, der aus der Hurley-Mission entstanden ist. Wie er mir verrät, liegen die Dinge weit schwieriger, als man zunächst annahm. Nicht nur, daß Stilwell heimgeschickt und durch Wedemeyer ersetzt wurde, Botschafter Gauss in Tschungking ist inzwischen durch Hurley abgelöst worden. Vor ein paar Tagen hat Mao Tse-tung zum Zeichen seiner Mißbilligung
gegenüber
Hurleys
mangelnder
Durchsetzungsfähigkeit seine beiden Unterhändler Tschou En-lai und Tung Pi-wu aus Tschungking abberufen. Er hat sich auch geweigert, auf den neuen Gegenvorschlag Hurleys und Tschiangs überhaupt einzugehen. Er habe mit Hurley ein 5-Punkte-Dokument ausgearbeitet, es sei von ihm und Hurley unterzeichnet, stelle den Standpunkt der KP-Chinas und Amerikas dar, also solle Hurley gefälligst Tschiang zur Räson bringen. Das aber schafft Hurley nicht, und nach dem, was Ma Hai-te mir mitteilt, ist es fraglich, ob er es überhaupt noch will. »Weißt du«, meint der kleine, quirlige Internationalist^ während er auf der Kante meines Schlaflagers hockt, »Hurley hatte keine Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen, als er nach China kam. Jenan hat ihn beeindruckt, er war wohl gutwillig, aber sobald er wieder in Tschungking war, hat Tschiang ihn in die Mangel genommen: Wer will schon gern als Kommunistenfreund dastehen! Der alte Gauner hat es geschafft, Hurley buchstäblich umzudrehen. 207
Hurley ist so weit, daß auch er heute die einzige Lösung des ChinaProblems darin sieht, daß wir unsere Truppen dem Kommando Tschiangs unterstellen. Und das wäre unser eigener Selbstmord ...« Es ist eine Variante des alten Tauziehens, was da abläuft, und ich, da ich an diesem offenen politischen Geplänkel nicht beteiligt bin, beobachte es gewissermaßen aus der Distanz. Dabei allerdings verstärkt sich meine Skepsis. »Trink was«, rät mir Ma Hai-te, nachdem er Tjing für die Zube reitung eines Tees gelobt hat. Er ist überhaupt stolz auf sie, weil er sie selbst ausgebildet hat. Ich trinke Tee, überlege mir, ob ich eine Zigarette riskieren soll, Tjing hantiert mit ein paar Eiern, die Ma Hai-te mitgebracht hat, und dann höre ich plötzlich draußen Barrett mit dem Posten sprechen. Der Colonel war von Tschungking nach Kunming geflogen, jetzt erscheint er im Eingang, muß sich bücken, grinst breit, sagt: »Hallo, fröhliche Weihnachten!« Und dann zerrt er mit Hilfe des Postens eine umfängliche Kiste herein, tippt an seinen Tropenhelm und lacht. Es ist noch etwas Zeit bis Weihnachten, aber Holly hat offenbar Sorge, daß es mir nicht sehr gut geht, und er hat in seine Reserven gegriffen. Barrett bleibt nicht lange. Er trinkt nur hastig eine Tasse Tee, läßt dabei die Bemerkung fallen, die Dinge stünden lausig, alles gehe drunter und drüber, er müsse sogleich mit Tschou En-lai konferie ren, dann verabschiedet er sich, nicht ohne mir die Post von Holly kommentarlos in die Hand zu drücken. Ich bin noch zu schwach, die Kiste zu öffnen. Aber Ma Hai-te und Tjing schaffen es spielend mit Hilfe eines Seitengewehres, das sie sich vom Posten ausleihen. Die nächste Stunde verbringen wir damit, süße Keks und Früchtekonserven zu naschen, Luckies zu rauchen, Schokolade zu lutschen und Tjing beizubringen, daß man 208
saure Drops nicht zerbeißt, sondern langsam im Munde zergehen läßt: sie hat nie im Leben Bonbons gesehen! »Dafür weiß sie, was Bakterien sind und wie man einen Verband anlegt oder wieviel Tropfen Opiumtinktur man jemandem bei Dys enterie geben kann, ohne ihn umzubringen!« Ma Hai-te lacht ge mütlich. Es macht ihm Spaß, sich den PX-Segen, den Holly mir ge schickt hat, immer wieder anzusehen, er liest jedes Etikett, als handle es sich um wissenschaftliche Abhandlungen. Holly hat mir aus Gründen, die ich erst beim Lesen seiner Post begreife, ein paar kleine Geschenke für Freunde in Jenan mitge schickt: billige Uhren, Füllfederhalter, Taschenlampen und winzige Pistölchen vom Kaliber 6,35 samt Munition. Ich schenke Ma Hai-te eines dieser kleinen Schießwerkzeuge, die bequem in der Brusttasche zu tragen sind, und er ist überglücklich. Eine Uhr besitzt er, aber einen Füllfederhalter nimmt er mit Freuden. Tjing weigert sich, als ich ihr eine der Uhren in die Hand lege. Sie braucht nicht zu wissen, wie spät es ist, meint sie. Das Tageslicht ist ihr Zeitmaß, im Zweifelsfall, beispielsweise bei der Essenausgabe, gibt es ein Signal. Ma Hai-te macht mich grinsend aufmerksam, daß es ihr natürlich nicht gestattet ist, von Ausländern Geschenke anzunehmen, das könnte ihr einen sehr schlechten Ruf eintragen. So rettet er die Situation dadurch, daß er ihr erklärt, wie sie mit Hilfe des Sekundenzeigers der Uhr von nun an die Pulsfrequenz bei Kranken sicherer messen könne. Er weist sie an, die Uhr ausschließlich zu diesem Zweck zu benutzen und sie im übrigen nicht als Geschenk, sondern als von den Verbündeten übergebenes Instrument zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der roten Truppen zu betrachten. Als er sie dazu noch aufmerksam macht, jeder Schaden daran würde ihr als mangelnde Sorgfalt im Umgang mit Volksbesitz ausgelegt werden, ändert sich 209
ihre Haltung sofort, sie steckt das 3-Dollar-Stück von Sears & Roebuck, nachdem sie es in einen Lappen gewickelt hat, folgsam ein. »Du mußt noch viel lernen, bei uns!« zieht Ma Hai-te mich auf. Dann drückt er dem Mädchen auch noch einen der mitgekommenen Drehbleistifte in die Hand, und sie nimmt ihn, weil er ihr befiehlt: »Du schreibst damit jeden Tag zehn Schriftzeichen auf, oder einen zusammenhängenden Satz. Ich kontrolliere das immer am Abend. Wenn du einen Tag faul bist, bekommt den Stift eine andere Genos sin!« Er akzeptiert eine Flasche in Indien produzierten Whiskys, dann bricht er auf. Ich erhole mich langsam, aber stetig. Der Rest der Geschenke landet bei Kang Sheng, Tso Wen und einigen anderen Bekannten. Zum Schluß bleiben mir eine Menge Süßigkeiten, Kaugummi, Lebensmittelkonserven, einschließlich einer Büchse Truthahn, die Holly wohl als Weihnachtsgeschenk gedacht hat. Und da ist Hollys Mitteilung, die ich lese, nachdem ich mit meiner Ölfunzel und den beiden glühenden Kohlebecken, zwischen denen Tjing eingerollt schläft, allein bin ...
An Violet 14.12.1944 Hurley-Mission gescheitert. OSS verfolgt Kontakterhaltung unter veränderten Bedingungen. Kang Sheng informieren: OSS hat Möglichkeit, eigenen Stütz 210
punkt in Sian aufzubauen. Vorarbeiten laufen. Kontakt Sian-Jenan vorgesehen. Kurierflugzeug nimmt dich ab 15. Februar 1945 von Jenan mit. Zwischenlandung in Sian. Dort weiteres. Holly
März/April 1945 Ich sitze in der unangenehm schaukelnden Dakota, die auf dem kleinen Flugplatz von Sian landet. Hier lag Changan, die glanzvolle Hauptstadt des Tang-Reiches. Wir rollen noch auf der dürftigen Piste, und ich muß mich, zwischen Postsäcken und Kisten einge pfercht, festklammern, um nicht nach hinten zu rutschen, als der Schwanz der Maschine sich senkt, da erscheint schon der Funker aus dem Cockpit, einer dieser lässigen Jungens, denen eine Luftfahrt der gehabten Art längst zur Routine geworden ist. Er hält sich an einer Schlaufe fest und ruft uns zu: »Los, raus! Wir haben zwei Minuten!« Kaum stehen wir, da reißt er das Schott auf, die Eisentreppe klappt herab, und ich klettere hinunter. Hier werde ich unsanft bei seite geschoben, zwei Jungens in Steppjacken klettern hinauf, zerren mein Gepäck herab, schleppen es zu einem Jeep, und dann ist die Luke auch schon wieder dicht, die Motoren der Dakota heulen auf, die Maschine wendet, rollt an, beginnt nach einigen hundert Metern sich in die Luft zu erheben. Das alles ist so schnell gegangen, daß ich erst zur Besinnung komme, als plötzlich Holly neben mir steht, mir kräftig auf die Schulter schlägt und mich anruft: »Hier ist die Musik, alter Knabe! Alles O.K.?« Wir haben uns ausgiebig begrüßt, bevor wir in den Jeep kletter 211
ten. Holly hielt sich schon einige Tage hier auf, und bei ihm ist John P. Davies, der ebenfalls von Kunming kam und hier eine Weile bleiben will, bevor er nochmals zu >Dixie< nach Jenan fliegt. Davies ist ebenfalls einer von den State-Department-Leuten, die man zu Recht >Old China Hands< nennt. Er war vor dem Krieg Vizekonsul der Vereinigten Staaten in Mukden, der Hauptstadt jenes japanischen Pseudostaates von japanischen Gnaden, an dessen Spitze die Politiker des Tenno einen Prinzen gesetzt haben, einen der letzten Sprösslinge der Tjing: Aisin-Gioro Pu Yi. Ich schätze sein Alter jetzt auf nicht ganz vierzig Jahre. Vermutlich versprechen sich die Japaner dadurch, daß sie diesen Abkömmling der mandschurischen Dynastie feierlich auf den Thron setzten, ein leichteres Regieren der Mandschurei, zumal Pu Yi nicht die geringste eigene Entscheidungsmöglichkeit hat, sondern nur folgsam die japanischen Weisungen ausführt. Es ist still geworden um diesen fürstlichen Kollaborateur, aber ich kenne seine Geschichte aus Erzählungen von Davies, der sogar die Ehre hatte, von ihm in Privataudienz empfangen zu werden. Wie er uns an einem der langen Abende in Jenan einmal unter dem schallenden Gelächter Tschu Tehs und Tschou En-lais erzählte, hatte sich ihm Pu Yi als ein ziemlich eitler Fatzke präsentiert, kurzsichtig durch seine Brillengläser blinzelnd, nach Parfüm duftend, mit dem Wunsch, daß er über das aus Gründen der taktischen Präsenz eingerichtete US-Konsulat nun endlich regelmäßig die Zeitschrift >Esquire< beziehen könnte. Aber — ich schweife ab, nur weil ich mich an Davies, an einen Mann erinnere, der in >Dixie< ebenso wie Service den entscheiden den Schritt zur behutsamen Ausweitung unseres Einflusses bis an die sowjetische Grenze erblickt, was in seiner Sicht unserer AsienPolitik in der Zukunft ein Gewicht verleihen könnte, das sie nie zu 212
vor gehabt hat. Davies hatte, wenn er nicht in Jenan war, viele Ge sinnungsfreunde aufgesucht und sich mit ihnen über die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Kommunisten in Jenan unterhalten. Was dabei herausgekommen ist, weiß ich nicht genau, Davies selbst scheint nicht sehr zuversichtlich zu sein. Zunächst fuhren wir mit Holly auf einem einigermaßen glatten Weg ostwärts. »Sian«, sagte Holly schmunzelnd, »wirst du später sehen. Viel später vielleicht. Wir haben Weisung, uns in der Stadt nicht blicken zu lassen. Bleiben ein wenig unter uns ...« Der Fahrer, ein junger GI, spuckte ungeniert seinen Kaugummi aus dem Seitenfenster und schob sein Käppi noch etwas weiter in Genick. US-Army gerade an der Stelle der Kuomintang->Front<, die Jenan abriegelt? Mit mehreren kampfstarken Divisionen (Kenner schätzen sie sogar auf zwei Dutzend), mit Bunkern, Artilleriestellungen,
Schwärmen
von
Tai-Li-Agenten?
Ich
betrachtete die Gebirgszüge zur rechten Seite, ab und zu war auf der linken Seite der Wei Ho zu sehen, der legendäre Fluß, den Tu Fu besungen hat, als er in Yaowan lebte, einer Randsiedlung des alten Changan. Nach seinen Wander- und Studienjahren, die ihn durch weite Teile Chinas führten, ließ der Dichter sich hier nieder. Er war eine jener seltenen Persönlichkeiten, die dem Erleben von Schönheit und Schmerz gleichermaßen zwingend dichterischen Ausdruck zu verleihen vermochten. Konfuzianische Sittlichkeit, von ihm wohlverstanden reduziert auf die Liebe zu Land und Volk, wollte er den Herrschern in Changan mit seinen Versen nahe bringen. Aber es war zu spät, ihre Macht war bereits verrottet, das Land von Siechtum befallen. So wurde er Zeuge und lyrischer Chronist des Untergangs der Tang, beinahe zehn Jahre noch, bevor ihn die Wirren des Krieges erneut durch China trieben. In Tschengtu, meinem Geburtsort, ließ er sich für einige Jahre nieder, 213
lebte in einer selbstgebauten Hütte außerhalb der Stadt, am Huanhua-Fluß und faßte den Schmerz um sein Land in unvergessliche Worte. Als Kind hatte man mir die Stelle gezeigt, wo er gelebt hatte, und ich begann mich für sein Werk zu begeistern. Alt geworden, starb dieser Tu Fu, nachdem es ihn dazu getrieben hatte, Tschengtu zu verlassen, um »weiter zwischen Himmel und Erde zu wandern«, auf einem Boot, in dem er einen der unzähligen Flüsse des Südens befuhr. Und dies hier ist die Gegend, in der er seine vielleicht schöpferischste Zeit verlebte ...
Zwischen zwei kleinen Ansammlungen von niedrigen Lehmbau ten, den Dörfern Ling Kou und Wei Nan, in Sichtweite des Flusses, lag das, was Holly >Camp 7< nannte: ein weitläufiges, ummauertes Anwesen mit einer Unzahl von ebenerdigen Behausungen, die fast an
amerikanischen
Bungalow-Stil
erinnerten,
sauber,
mit
blinkenden Fensterscheiben und qualmenden Schornsteinen, dazu Höfe und Ställe, eine seltsam amerikanisch anmutende Kirche mit Turm und Glocke und chinesische >Boys<, in dunkle Hosen und schneeweiße Jacken gekleidet. Am Tor steht ein Posten, wahrhaftig, ein GI, rothaarig, keß salutierend, die Thompson quer vor der Brust. Er wirft einen Blick in unser Fahrzeug, winkt uns dann wortlos weiter. »Himmel, wo sind wir hier? In Klein-Amerika?« Holly dirigiert den Jeepfahrer, wir halten an einem der niedrigen Gebäude. »Steig aus, Sid. Um dein Gepäck kümmert sich Joe!« Das tut Joe, zuvor steckt er sich noch eine Zigarette an. Er wuchtet mein Eigentum auf die Schultern und verschwindet. Holly macht eine weitschweifende Handbewegung: »Du wirst das alles nach und nach kennenlernen. Hattest du heute schon ein Mittagessen?« 214
Ich war um Mittag herum in Jenan abgeflogen. »Du kennst die Küchengepflogenheiten da oben nicht«, beantworte ich Hollys Frage belustigt. Er stößt die Tür mit dem winzigen Schild >Kantine< auf, und plötzlich rieche ich all das, was man in jeder GI-Kantine zwischen San Francisco und Kalkutta riechen kann, den Duft von gebratenem Fleisch und den von pulvergemachter Soße, Essig und Vanillepudding, Virginiatabak und Desinfektionsmittel. »Wie denkst du über ein Steak?« Holly grinst. Der Küchenchef steht abwartend da, ein echter Army-Küchenbulle, etwas fett, mit weißer Mütze. »0. K. Steak«, sagt er lakonisch. Und Holly fügt hinzu: »Mit allem, was ihr habt. Pilze und Gemüse, Gänseklein suppe zuvor, Eiscreme danach, einschließlich Bier.« Es ist in Sian gebrautes Bier, aber es schmeckt trotzdem wie das feinste Schlitz. Und es ist eine Suppe, nach der ich eigentlich kapitulieren möchte, aber danach kommt erst das Steak, dessen blutiger Kern auf der Zunge zergeht, so exakt hat der Koch die Zeit eingehalten. Wie es scheint, bin ich heimgekehrt, in Uncle Sams weit ausgebreitete Arme. »Iß!« fordert mich Holly auf. »Danach kannst du schlafen, so lange du willst. Auf deinem Zimmer wird Whisky sein und ein Eis behälter. Mit einer Klingel kannst du den Boy rufen. Erst wenn du wieder ein Mensch bist, wirst du hier Aufgaben erfüllen. Inzwischen werde ich dich ein bißchen ins Bild setzen ...« Ich schlürfe, kaue, schmatze, während Holly mir in der leeren Kantine knapp und präzise mitteilt, was ich als erstes wissen muß. >Camp 7< ist ein Anwesen, das der amerikanischen 7. Day Adventist Mission gehört, einer jener von uns scherzhaft zuweilen »Intensivkirche< genannten Glaubensgemeinschaften, die hier seit vielen Jahren missionieren. OSS-Kunming hat im Einvernehmen mit dem Chefpriester der Mission gegen entsprechendes Entgelt 215
hier einen Stützpunkt eingerichtet, für Training und Leitarbeit. Ausgesuchte Leute werden in >Camp 7< für den KommandoEinsatz
in
Nord-
und
Nordostchina
vorbereitet,
also
für
Unternehmungen im Okkupationsgebiet der Japaner, vorwiegend in der Mandschurei. Spezialisten, vom todsicheren Scharfschützen über den Funker bis zum Sprengtechniker, Männer mit chinesischen und japanischen Sprachkenntnissen, vorgeschult in der Kunst des Überlebens, des Versteckens, der Improvisation. Das Ziel ist die Durchdringung des japanischen Machtbereiches vor dem Zeitpunkt des japanischen Zusammenbruchs, den Holly als unvermeidlich bevorstehend bezeichnet. Ich habe die Aufgabe, Informationen über die Jenaner Kommunisten zu vermitteln, Kenntnisse über ihre Operationsweise, über Eigenarten ihrer Reaktion auf Ausländer, über ihre spezifische Psyche. Bei den Planungen ist der Gedanke vorherrschend, daß die Sowjets vermutlich in Kürze in den Krieg in Fernost eingreifen. Theoretisch haben sie keinerlei Ansprüche auf Gebiete, die jetzt japanisch okkupiert sind, werden auch keine geltend machen. Aber unsere Operationen sollen unsere Präsenz in dem voraussichtlich von ihnen eroberten Gebiet sichern, unsere Leute sollen dort anwesend sein, um später mitwirken zu können, daß die Gebiete nach und nach von Kuomintang-Truppen in Besitz genommen werden und die Sowjets sich zurückziehen. Eine hochinteressante Konstellation: wenn die Mandschurei Tschiang zufällt, könnten wir in Aufrechterhaltung des alten Bündnisses auf diese Weise in unmittelbarer Nähe der sowjetischen Fernostgrenze Stützpunkte haben. Was aber geschieht, wenn uns die Jenaner Kommunisten zuvorkommen? Ich neige zu dieser Ansicht, aus allem, was ich in Jenan darüber erfahren konnte. Mao wird zweifellos seine Chance nutzen, er stellt jetzt bereits die Weichen, indem er angeblich sein Verhältnis zu den Sowjets bessert. Wo 216
stehen wir dann? Helfen wir Tschiang in dem Bürgerkrieg, der in diesem Falle unvermeidlich ist? Oder helfen wir Mao? Oder — bleiben wir neutral und ziehen uns zurück? Für mich gibt es nur diese drei Möglichkeiten. »Sag mir eins«, bitte ich Holly, »ist Dixie gescheitert!« Er nickt. »Es ist aus. Wir bauen das Engagement da oben nach und nach ab.« »Ich werde die Leute also nicht mehr wiedersehen?« Er wiegt den Kopf. »Du wirst. Aber anders, als wir uns das noch vor Monaten dachten.« Dann holt er aus und schildert mir die Situation. Roosevelt mußte Stilwell zurückziehen, um nicht auf dem Hö hepunkt der Wahl noch einen außenpolitischen Skandal zu riskie ren, außerdem hatte Tschiang sich dafür im Kongreß stark gemacht, und nach und nach ist sogar Hurley auf seine Position einge schwenkt. Jetzt ist er Botschafter in Tschungking, betreibt eine Politik der >unabdingbaren Zusammenarbeit mit Tschiang. Damit ist jede unmittelbare Kooperation zwischen den USA und jenan auf absehbare Zeit zur Illusion geworden. Aber nicht nur aus diesem Grunde. Inzwischen hat sich an der Gesamtlage einiges verschoben. Die Sowjets sind von uns fraglos unterschätzt worden. In einem beispiellosen Tempo haben sie Hitlers Truppen buchstäblich zusammengedroschen und stehen vor Berlin, keine Frage, daß sie es einnehmen, mit Hitler, der angeblich dort in einem Bunker sitzt. Und sie werden weiter vorstoßen, westwärts. Beobachter melden, daß ihre Operationsfähigkeit sprunghaft anwächst. Wenn es noch vor Jahren so aussah, als ob die Sowjets sich an diesem Krieg auf Jahrzehnte hinaus zermürben würden, so ist das Gegenteil eingetreten, sie haben an Kraft zugenommen. Das wird sich in der Weltsituation nach dem Krieg auswirken, man kann es jetzt bereits absehen. Wir haben damit zu rechnen, daß sich der sowjetische Einfluß bis weit nach Mitteleuropa hinein ausweitet. Und wir 217
können sicher sein, daß die Sowjets entschlossen sind, mit den Japanern in der Mandschurei kurzen Prozeß zu machen. Danach aber sähe das Bild der Kräfteverteilung für uns äußerst ungünstig aus: die Sowjets im Norden, zweifellos vereint mit den Jenaner Kommunisten, und dagegen eine morsche Kuomintang, die früher oder später zusammenfallen wird, falls wir nicht eingreifen. Ich begreife, daß es hier gar nicht mehr so sehr um die Japaner geht, die hat man bei uns so gut wie abgeschrieben: es geht darum, ob das China, das aus den Wirren des jetzigen Krieges und aus dem, was noch folgt, als kommunistischer Staat hervorgeht oder nicht. Wobei OSS zweifellos am frühesten begriffen hatte, daß man mit Hilfe der Männer in Jenan auch in diesem Falle die Hand im Teig behalten könnte. Aber die Politiker daheim haben offenbar anders entschieden, für sie ist selbst das Wort >Kommunismus< schon eine Blasphemie, sie denken nicht mehr in taktischen Kategorien, halten es für unmöglich, daß eine freiheitliche Macht wie Amerika sich aus geostrategischen Gründen selbst mit dem Teufel verbünden muß, sofern dieser Teufel eine weiche Stelle für die USA hat. Holly bestätigt meine Gedanken. Er fügt hinzu, daß General We demeyer,
der
Nachfolger
Stilwells
als
amerikanischer
Oberkommandierender in China-Burma-Indien, inzwischen im Fahrwasser Hurleys läuft, der seine Politik auf der Grundlage der neuen
Überlegungen
macht.
Allerdings
gibt
es
zwischen
Wedemeyer und unserem Chef Donovan ein stillschweigendes Einverständnis, die Kontakte zu den Kommunisten nicht abrupt abzubrechen. Sie sollen gewissermaßen >eingefroren< werden, und OSS hat nun sogenannte Kommando-Aufgaben <, bei denen es nach Möglichkeit Konflikte mit den Kommunisten vermeiden soll. Außerdem gibt es eine interne Weisung Donovans, denjenigen Kommunistenchefs in Jenan, mit denen wir persönlichen Kontakt 218
hatten, weiter zu versichern, daß wir für die ferne Zukunft, wie immer sie aussehen mag, keinesfalls das Interesse ihres höchsten Führers an einer engeren Partnerschaft mit uns vergessen werden. Es bedarf keiner Erklärung, weshalb wir dabei sehr vorsichtig sein müssen. »Ja«, bestätigt Holly. »Wir arbeiten auf zwei Ebenen. Die erste ist, den Kontakt zu den Jenanern nicht zu verlieren. Die zweite ist dieses Camp hier. Tschiang weiß, daß wir es benutzen, um etwaige Aktionen der Kommunisten im Auge zu behalten, die in Richtung Norden zielen, und um uns vor dem zu erwartenden Eintritt der Russen in den Fernost-Krieg möglichst in der Mandschurei einzunisten, mit Kommandos, sozusagen als Quartiermacher für Tschiang. Was wir sonst tun, erfährt er nicht.« »In China?« Ich lächle zweifelnd. Aber Holly beruhigt mich. »Der Kuomintang-Chef dieser Region steht seit Jahren auf unse rer Lohnliste. Außerdem hat er in Berlin studiert, und der Chef von Camp 7 ist ein ehemaliger Studienkumpan von ihm. Gut, was? Die beiden hatten in Berlin nicht nur einmal dasselbe Mädchen! Unser Kommandeur ist für dich und für jeden von uns Colonel George. Kein weiterer Name. Sein Studienkumpan sorgt dafür, daß wir hier freie Hand haben und nicht von Tai Li bespitzelt werden. Selbst die Mädchen, die wir am Wochenende ins Camp geliefert kriegen, sind dicht ...« »Mädchen«? Ich muß ein ziemlich dummes Gesicht machen, denn Holly schüttelt den Kopf- und fragt mich: »Weißt du denn überhaupt nicht mehr, was Mädchen sind? Mitmenschen besonderer Bauart, he!« Ich bin wahrlich wieder in Uncle Sams Schoß! Langsam beginne ich das als anregend zu empfinden. Holly sagt gedämpft: »So, Junge, du solltest umdenken. In deinem Kopf muß folgendes 219
verarbeitet werden: Dixie war ein Versuch, den weit blickende Leute von OSS und State Department unternommen haben, um unserem Lande zu dienen. Engstirnige Politiker zu Hause haben uns in dem Glauben, ebenfalls unserem Lande zu dienen, den Erfolg versagt. Du und einige andere von uns, wir wissen, daß sie unserem Lande damit geschadet haben. Aber wir sind wohl zu früh dran, wir haben zu viele Widersacher, so daß wir einen taktischen Rückzug antreten müssen. Stillhalten. Abwarten. Wie ein Jäger, der die Hand am Abzug hat. Der Hirsch wird kommen. Aber es kann lange dauern, Junge, sehr lange. Bis dahin haben wir auf andere Weise den Interessen der Vereinigten Staaten zu dienen. Indem wir uns die Mitsprache in der Mandschurei sichern ...« »Wir sollen das für Tschiang tun?« murre ich. Holly sagt: »Nichts zu ändern. Daheim wollen sie, daß Tschiang die ganze Macht kriegt. Dann ist er uns verpflichtet, und das genügt ihnen.« »Eine Rechnung ohne die Kommunisten«, bemerke ich. Holly nickt. »Genau. Aber das werden sie zu spät merken. Sei si cher, sie werden dann wieder Leute wie uns brauchen, selbst wenn wir bis dahin lange Barte haben oder Glatzen. Im Augenblick unter schieben sie uns allen Ernstes Sympathien für den Kommunismus und Verrat an den heiligen Prinzipien der amerikanischen Demokratie. Sinnlos, mit ihnen zu streiten, sie sind stärker. Wir können nichts weiter tun, als die kleinen Feuer am Glimmen zu halten.« »Aber ... wenn wir Mao sitzenlassen, wird er uns das nie verges sen, Holly!« sage ich. »Er wird höchstwahrscheinlich die alte russi sche Karte aus dem Ärmel ziehen ...« »Er zieht sie schon!« »Und das ist Leuten wie Hurley nicht klarzumachen?« 220
Er zuckt die Schultern. Hilflos. Ich begreife, es ist nichts zu än dern. Während ich anfange, meine Himbeer-Eiscreme zu löffeln, sagt Holly noch leiser, als er bisher gesprochen hat: »Wir werden auch ein paar Karten im Ärmel behalten, Sid. Was OSS betrifft, so lassen wir die Verbindung zu Mao und Tschou nicht abreißen, mag passieren, was will. Das wird den Jenanern von Leuten, die wir noch dort haben, deutlich gesagt werden. Allerdings mit dem Hinweis verbunden, daß wir damit gegen die offizielle Politik der USA stehen und auf ihre Diskretion angewiesen sind. Das ist eine unserer Karten. Eine andere bist du. Du wirst die Leute aus Jenan wiedersehen, irgendwann. Wo, das ist noch nicht zu bestimmen. Kann sein, daß du sogar eine ganze Weile als Verräter am eigenen Land gelten wirst. Nur — wir sind sicher, eines Tages wird sich herausstellen, wer in diesem Spiel tatsächlich die Interessen der Vereinigten Staaten vertreten hat!« Das habe ich eine Weile zu verdauen. Eigenartigerweise über rascht es mich nicht. Hollys Gedanken sind seltsam klar für mich, so bestürzend sie auch klingen. »Die Kommandos«, frage ich schließlich, »sie müssen durch rotes Gebiet. Oder fliegen wir sie hinauf?« »Beides«, sagt Holly. »Im übrigen sorgen wir dafür, daß die Jenaner über jede dieser Aktionen voll informiert werden. Ich muß dich als Dienstvorgesetzter aufmerksam machen, daß dies nach den Regeln der Army bereits Verrat ist, deshalb behalte das für dich. Tu deinen Job und warte auf den nächsten Ruf der Pflicht, wie es so schön heißt!« Er lacht unfroh. Aber er ist der alte Holly geblieben. Und er hat alles, was ihm aus Jenan auf den Tisch kam, einschließlich meiner Aufzeichnungen, offenbar mit Verstand gelesen. Die Jenaner, so denke ich, werden viel Phantasie brauchen, um unsere wahrhaft 221
komplizierte politische Situation richtig zu verstehen. Andrerseits aber haben diese Leute Phantasie, davon habe ich mich überzeugen können. Holly meint: »Wir müssen ihnen unentwegt das Gefühl geben, daß sie bei uns starke Verbündete haben, denen sie vertrauen kön nen. Sie müssen nur Geduld üben, bis diese Verbündeten sich in ihrem eigenen Land als entscheidende Fraktion im politischen Ka russell durchgesetzt haben. Ist Geduld nicht eine der hervorragend sten chinesischen Eigenschaften, Junge?« Sie ist es. Andrerseits gibt es bei Mao, das weiß ich ganz gut, eine etwas unberechenbare Seite. Er hat die Tür zu den Sowjets trotz seiner eigenwilligen Politik nie ganz zugeschlagen. Unser politischer Schwenk könnte ihn zu einem taktischen Schachzug bringen, der — einmal gemacht — nur sehr langsam oder gar nicht wieder zurückzunehmen ist. »Die Sorge teile ich«, vertraut mir Holly an. »Manchmal könnte ich meinen Hut essen vor Zorn, aber das ändert nichts: Politik ist ein Geschäft, bei dem immer auch andere mitmischen, sogar Voll trottel mit dem Horizont eines Ochsenfrosches und einem Indianer schrei auf den Lippen!« Er trinkt sein Sian-Bier aus, und da auch ich so voll bin wie ein gefüllter Weihnachtstruthahn, schlägt er mir vor: »Geh in dein Quartier, schlafe, iß, schlafe wieder, rasiere dich. Wenn du für das Wochenende eine Dame willst, sag es dem Boy. Die Sanitätsstelle ist mit dem bekannten roten Kreuz gekennzeichnet. In deinem Zimmer ist alles, was du brauchst, sogar ein Stapel Illustrierte. Und — einen von uns für dich zusammengestellten Überblick über das, was sich in der Welt getan hat, während du noch da oben in den Höhlen warst, findest du auch vor!« Wir stehen eine Weile auf dem Platz vor der Kantine. In einiger 222
Entfernung ist eine Kolonne GIs zu erkennen, die durch das Tor in das Anwesen marschiert. Junge und ältere, Brillenträger und Musterathleten, eine eigenartige Mischung. Der Sergeant, der sie kommandiert, ruft: »Halt!« Ohne besondere Exaktheit wird sein Befehl ausgeführt. Der Ser geant wirft zuerst einen Blick auf seine Uhr, dann verkündet er im Stil des Frontkommandeurs, der sich an die Dienstvorschrift nur noch in Ausnahmefällen erinnert: »O.K. Day's up. Fuck off!« Mit einem Mal begreife ich, daß ich es hier nicht mit Rekruten zu tun habe, oder mit Garnisonstruppen: hier werden Außenseiter dar auf vorbereitet, daß sie von einer nahezu unmöglichen Aufgabe we nigstens den Teil erfüllen, der ihren persönlichen Ehrgeiz herausfordert. Kommandos ... »Verlier dich«, sagt Holly und schiebt mich in Richtung meines Quartiers ab. »Sonst erscheint noch George, und dann hast du ein langes Palaver vor dir!«
Politisch-militärisches Diarium 20.12.1944-10.4.1945 (Auswahl nach Trendgesichtspunkten) 20.12.1944 Jenan-Analysen: Geschätzte
Stärke
der
rotchinesischen
militärischem Charakter: 250000 Mann, 223
Verbände
mit
Verbände mit Miliz- und Guerillacharakter: 250000 Mann Mao Tse-tung trifft sich demonstrativ mit sowjetischen Vertretern in Jenan (Arzt Orlow, Nachrichtenleute mit unbekannten Namen). Die Treffs werden vor der Dixie-Mission nicht geheimgehalten. In Jenan wird nachgedruckt ein Artikel aus der sowjetischen Regierungszeitung >Iswestija< vom 2.12.1944: »Die Lage in China«. Aspekt des Artikels: Erfolge der Japaner bei ihrer letzten Offensive in China sind zurückzuführen
auf Zersplitterung der
nationalen Kräfte Chinas. Starker Einfluß reaktionärer Kräfte< in der Kuomintang hat die Spaltung begünstigt. In kleineren demokratischen Parteien Chinas wächst der Drang nach nationalem Zusammenschluß. Artikel vermeidet Parteinahme für Person Mao Tse-tungs, deutet aber an, daß Moskaus Sympathien bei der KP Chinas liegen. (Publi zierung sowjetischer Artikel in Jenan bisher unüblich.)
25.12.1944 Nazi-Truppen immer noch in den Ardennen aktiv. Durchbrüche mit Panzern, Anfangserfolge, Abriegelung der Einbrüche geht voran.
9.1.1945 Mao Tse-tung übergibt OSS-Funkstation von >Dixie< in Jenan Telegramm an Generalmajor Wedemeyer persönlich/geheim: Inhalt: Jenan-Führungsspitze schlägt vor, daß Mao Tse-tung und/ oder Tschou En-lai von Präsident Roosevelt zu Meinungsaustausch empfangen werden, als >Führer einer großen chinesischen Partei<. 224
Ziel: Lage und Probleme Chinas erörtern, auf Wunsch auch Infor mationskonferenz mit höheren amerikanischen Staatsbeamten, Ban kiers und Geschäftsleuten möglich, auch mit Presse. Soll dem Abbau vorhandener Mißverständnisse dienen. Telegramm enthielt Zusatz:
NUR
AUSLIEFERN,
AN
GENERALMAJOR
KEINESFALLS
AN
WEDEMEYER
ANDEREN
US
VERTRETER! Wedemeyer, von dem vermutet wurde, er werde das Telegramm wohlwollend und stillschweigend nach Washington weiterleiten, hielt sich in Burma auf. Gemäß den Dienstvorschriften wurde das Telegramm Botschafter Hurley ausgehändigt. Der Zusatz wurde nicht beachtet. Botschafter Hurley informierte Präsident Roosevelt lediglich, daß »kommunistische
Seite
unangemessene
Ansprüche
auf
internationale Anerkennung< anmeldet, die er ablehne. Roosevelt billigte aufgrund dieser Information die Ablehnung. Keine Antwort nach Jenan!
15.1.1945 Parteiführung KP-Chinas in Jenan beginnt mit Vorbereitungen zu ihrem 7, Parteitag. Datum noch unbekannt. Gerücht: man wird das Auslaufen
des
sowjetisch-japanischen
Neutralitätsab
kommens im April abwarten, um die Haltung Moskaus zur Frage des Eintritts in den Fernost-Krieg einkalkulieren zu können. Mao Tse-tung deutet an, daß Sowjetunion in jedem Falle hinter KP Chinas stehen wird. Wenn sich etwa die USA vorbehaltlos hinter Tschiang Kai-shek stellen sollten, wären damit >die Fronten des nächsten Krieges< vorgezeichnet.
225
20.1.1945 Versuch Hurleys: Colonel Morris B. Depass (Militärattache der US-Botschaft in Tschungking) und Major Edward aus Wedemeyers Stab fliegen nach Jenan. Botschaft: Hurley ist bereit, Forderung der KP nach Vertretung im > Nationalen Militärrat< gegenüber Tschiang durchzusetzen. Tschou En-lai soll zu Beratungen nach Tschungking kommen.
25.1.1945 Tschou En-lai in Tschungking. Pressekonferenz. Forderungen der KP: Konferenz aller nationalen und patriotischen Parteien und Gruppen
mit
Ziel,
Koalitionsregierung
zu
schaffen
(Nationalversammlung), Abschaffung der > Einparteiendiktatur der Kuomintang
<,
Vereinigtes
Oberkommando
(paritätisch),
Legalisierung aller Parteien (auch der KP) in ganz China; Abschaffung
der
»politischen
Verfolgung!
von
Patrioten,
Auflösung von Tai Lis Geheimdienst, Freilassung aller politischen Häftlinge durch Kuomintang, Abbau der Kuomintang-Truppen südlich des Jenan-Gebietes. Tschiang
Kai-shek
spricht
von
>
Überheblichkeit
der
Kommunisten <, die sich des Schutzes der Sowjetunion sicher wähnen. Die Russen erreichen den Fluß Oder, ca. 100 km vor Berlin.
4.2.1945 Manila zurückerobert! In Jalta (Halbinsel Krim/russ.) treffen sich die alliierten Staatschefs. Treffen vorläufig geheim.
226
9.2.1945 Tschou-En-lai-Pressekonferenz in Tschungking: Forderung nach Beteiligung der kommunistischen Truppen an Waffenhilfe der USA (Pacht- und Leihvertrag).
18.2.1945 Verstärkte
Aktivitäten
eines
bisher
im
Untergrund
der
okkupierten Gebiete tätig gewesenen KP-Spitzenfunktionärs in der Nähe Mao Tse-tungs. Name: Liu Shao-tschi. Reserviert gegenüber Dixie-Mission. Ist mit Vorbereitung von Parteitagsmaterialien beschäftigt. Ab Mitte Februar fast tägliche Sitzungen der KP-Parteispitze in Jenan.
25.2.1945 Neue politische Variante der Jenan-Führung: einerseits wird öffentlich stärker als je zuvor über die Kriegserfolge der Sowjetunion gedruckt und öffentlich gesprochen, die Rolle Moskaus bei der weltbedeutenden Faschismus-Niederschlagung betont, andrerseits werden Leute, die hier bisher als >MoskauFraktion< u.a. beschimpft wurden, erneut als >Vertreter einer falschen Linie< bezeichnet. (Wang Ming, Yang Shang-kun, Wang Djia-hsiang, Lo Fu usw.) Deutung: Nichtzustandekommen von US KP-China-Agreement wird von Mao Tse-tung mit Wendung in Richtung Moskau quittiert. Mao Tse-tung will aber auch dabei seine bisherigen politischen Gegenspieler aus dem Geschäft halten, für die Wendung zu Moskau hin baut er eigene Führungsrolle aus.
227
2.3.1945 Tschiang Kai-shek fordert absolute Unterwerfung der KP unter die Kuomintang.
7.3.1945 US-Truppen setzen über den deutschen Fluß Rhein.
Jenaner KP-Zeitung druckt Stalin-Telegramm ab. (Dank für
Glückwünsche
zu
Kriegserfolgen.)
demonstrativ.
Absicht
der
KP,
sich
Große
Aufmachung,
Moskau
anzunähern,
unverkennbar.
13.3.1945 John Service fliegt — ohne Wissen von Botschafter Hurley — erneut nach Jenan. Versuch, einiges noch zu retten. Mao
Tse-tung:
USA
begehen
einen
schweren
Fehler.
Kommunistenfurcht in den USA unmotiviert, Hauptteil der chinesischen Bevölkerung sind Bauern, ohne Eignung für Kommunismus. KP plant — bei Erringung der absoluten Macht — lange Periode des Übergangs mit kapitalistischer Volkswirtschaft. KP wird sicher gegen Tschiang Kai-shek siegen. (Bürgerkrieg als selbstverständlich vorausgesetzt.) Auch
danach wird
China
Ausgleich mit den USA suchen, Freundschaft, Hilfe etc. Service
kann
keine
Zusagen
machen,
verspricht,
daß
Verbindungen jedenfalls nicht abreißen sollen, egal, was kommt. Bei seiner Rückkehr nach Tschungking wird Service von Hurley sofort und ohne Aussprache nach Washington zurückbeordert (ebenfalls Davies). Vorbereitungen zur völligen Zurücknahme von >Dixie< laufen an.
228
1.4.1945 Kampf der US-Truppen um Okinawa beginnt (> letzte Station vor Tokio <).
2.4.1945 Hurley-Erklärung in Tschungking: es wird keine Gemeinsamkeit der USA mit den chinesischen Kommunisten geben, auch keine Waffenlieferungen aus dem Pacht- und Leihprogramm. Keine erkennbaren Vorbereitungen der Sowjetunion, den Neutralitätspakt mit Japan zu erneuern. Läuft am 13. 4. ab. Sowjets halten sich offenbar an die Abmachungen mit uns und den anderen Ver bündeten.
Mai/Juni 1945 Es waren etwa vier Dutzend Männer, die sich in kleinen Gruppen zur Belehrung bei mir einfanden. Erstaunlich, daß es sich meist um Gebildete handelte, Absolventen verschiedener Universitäten in fast jedem Fall. Darunter solche, die im Bankfach tätig gewesen waren oder als Ingenieure, Pädagogen, sogar als Theologen. Manche von ihnen haben schon unter Chinesen gelebt, die meisten halten sich mit der Armee oder bei OSS schon längere Zeit in Asien auf. Einige sind Veteranen von Kampfgruppen, die in Burma oder Indochina eingesetzt waren; sie schleppen Folgen schwerer Malaria oder Dys enterien mit sich herum. Es sind feurige Antikommunisten unter ihnen, deren Haltung aus Begegnungen mit roten Streitkräften stammt, vermutlich hat man sie dabei nicht gerade wie Honoratioren behandelt. Zuweilen komme ich mir mit dem, was ich ihnen beizubringen habe, etwas abseitig vor. Ich gerate in die schizophrene Situation, daß ich meine eigene Position dem 229
Kommunismus gegenüber ganz für mich zu definieren habe, etwas, das
ich
zuvor
nie
nötig
fand,
meine
Haltung
diesem
gesellschaftlichen Phänomen gegenüber, wird im wesentlichen von meiner Erziehung geprägt, dem Grundsatz, daß der Beste die besten Chancen haben soll, daß Freiheit in jeder Beziehung ein unveräußerliches Gut ist, daß Armut meist selbstverschuldet ist, durch Faulheit, Bildungslücken, asoziales Verhalten, durch das bewußte Auslassen von Chancen, wie sie unsere traditionelle Ordnung in so reichem Maße bietet. Dabei war mir natürlich bereits auf dem College klargeworden, daß es so etwas wie > Chan cengleichheit in der Realität kaum gab, es war mehr ein Slogan für die Sonntagsblätter. Schon
als
jungem
Burschen
war
mir
eigentlich
nie
schwergefallen, so etwas zu empfinden wie Mitgefühl für Unterbemittelte. Das war in meiner Umgebung, beispielsweise auf dem College, durchaus nicht verbreitet. Bei mir mag die Kindheit in China dazu geführt haben, daß ich leichter anrührbar war, ich hatte zu einer Zeit, da meine Mitstudenten nichts weiter kannten als ein geordnetes
Elternhaus
mit
regelmäßigen
Mahlzeiten,
mit
Taschengeld, oft mit Fahrrad, sogar manchmal mit eigenem Auto, Leute am Hunger sterben gesehen, ich kannte die Gesichter Aussätziger, Amputierter, von Schmerzen gequälter Menschen auf den Gassen Tschengtus und Tschungkings. Zu helfen, das war mir früh zur Selbstverständlichkeit geworden. Vor der Idee, eine Gesellschaft der Art, wie sie China darstellte, durch eine kommunistische Revolution gerechter zu machen, war ich zwar durch Erziehung und Tradition abgeschirmt gewesen, aber ich dachte sehr wohl darüber nach, und auf dem College setzte ich diese Erwägungen fort, ohne allerdings Antworten auf immerhin recht vorsichtige Fragen zu bekommen. 230
Mein Studium war viel zu zielgerichtet, als daß es mir Zeit gelas sen hätte, mich mit kommunistischen Lehren zu beschäftigen, sie lernte ich erst im Bildungsprozeß des OSS kennen. Nachdem man mich für einen verantwortlichen Posten im pazifischen Raum vorgeschlagen hatte und schließlich Donovans Organisation* auf mich
aufmerksam
kommunistischen
wurde, Theorie
blieb nicht
mir erspart,
das es
Studium
der
gehörte
zum
Lehrprogramm, wenngleich es sich dabei um eine >condensed Version< handelte, eine arg verkürzte Variante. Trotzdem, ich las in Lenin und Marx, und ich begriff den Charakter dieser Lehre im allgemeinen als die Methode, das bestehende Ordnungssystem buchstäblich auf
den
Kopf zu
stellen.
(Wohingegen
die
kommunistische Theorie das genaue Gegenteil behauptete, sie nahm für sich in Anspruch, die > faule Ausbeuterordnung dieser Welt vom Kopf auf die Beine zu stellen<.) Niemand brauchte mich zu drängen, das abzulehnen, jedenfalls soweit es meinen eigenen Lebensbereich betraf. Mochten die Russen tun, was immer ihnen für richtig erschien — Amerika, das war etwas anderes! Die Idee, das private Eigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen und es staatlich zu verwalten, war für mich indiskutabel, und sie wird es bleiben. Ich bin gebildet genug, um mir meine Chance in der Gesellschaft auch unter Beibehaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln selbst erkämpfen zu können, was weniger Gebildete anfangen, interessiert mich, wenn ich ehrlich bin, lediglich am Rande, gewissermaßen als Studienobjekt. Außerdem bin ich sicher, daß ein Staat wie die USA soziale Ungerechtigkeiten auf andere Weise ausgleichen kann als durch Verstaatlichung der Produktionsmittel. Und mir die amerikanische Landwirtschaft etwa als ein System von Kolchosen vorzustellen, in denen der Boden > Gemeinbesitz < ist und jeder nur noch in dem Maße entlohnt wird, 231
in dem er im Team arbeitet, gelingt mir nicht. Amerikanische Farmer arbeiten, nach allem, was ich weiß, mit so moderner Technik, wie sie kein russischer Kolchos aufzuweisen hat, und sie arbeiten mit Erfolg. Mögen die Russen daher tun, was immer sie wollen, Amerika ist anders beschaffen. Auch in der Landwirtschaft — ebenso wie in der Industrie — erscheint mir ein gewisses soziales Gefälle gerade zu den unentbehrlichsten Antrieben für Leistung zu gehören. Eine Gesellschaft, in der jeder grundsätzlich gleichgestellt ist, halte ich für chancenlos. Sicher ist sie theoretisch vorstellbar. Die Russen führen sie sogar in der Praxis vor, und vielleicht stellt das russische System — gemessen an der Vergangenheit Rußlands — sogar einen Fortschritt dar. Ich selbst möchte nicht unter diesen Bedingungen leben müssen. Ich bin mir darüber klar, daß eine Gesellschaft über so etwas wie eine Elite verfügen muß, eine Art gewachsenen Adel, der in sich die Kraft und Weisheit vereint, mit der allein ein Land groß und stark zu machen ist. Kollektiv ausgeübte Macht, Entscheidungen, die nicht mehr von Wissenden gefällt werden, würden mich durch ihre zwangsläufige Unterdurchschnittlichkeit abstoßen. Wenn jemals eine solche Entwicklung für Amerika zu befürchten wäre, gehörte ich zu den ersten, die sich mit ihrem Leben dagegen einsetzen würden. Denn ich liebe Amerika, und der Gedanke, daß der Kom munismus, wenn er sich weiter ausbreitet, schließlich dieses, mein Amerika in die Gefahr des großen sozialen Umbruchs< bringen könnte, hat auch mich zum Antikommunisten gemacht. Wobei es vielleicht meinem Temperament zuzuschreiben ist, daß ich nicht ein Mann der laut geschmetterten Losungen geworden bin, sondern einer der stillen, zielbewussten Arbeit, die mich schließlich unter Kommunisten geführt hat. Ich habe auch das überstanden, ohne Sympathie für das System zu empfinden, wenngleich ich nicht 232
übersehe, daß dieses System äußerst virulent ist. Vielleicht begeistert mich meine Arbeit gerade deshalb, Ehrgeiz gehört zu meinem Charakter. Auch weiß ich um unsere Stärke. Deswegen flößt mir der Gedanke, daß eines Tages Bauernlümmel wie Mao Tse-tung in meiner Heimat befehlen könnten, was getan wird, nicht etwa Angst ein, eher belustigt er mich. Und was beispielsweise die interessante These Lenins angeht, die wir auf dem OSS-Seminar debattierten, nämlich, daß der Kommunismus nach seiner Durchsetzung auf der ganzen Welt endlich Kriege aller Art ein für allemal ausschließen werde, so zweifle ich daran. Doch selbst, wenn das so sein sollte: ich halte Kriege für unvermeidlich, mehr noch, ich glaube, daß sie nötig sind, um die Menschheit vorwärts zu bringen. Mir ist die These eines europäischen Philosophen im Ohr, über die wir sprachen: Der Krieg ist der Vater aller Dinge. In der Tat glaube ich, daß es ohne Kriege keine Fortentwicklung mehr auf der Welt geben würde, so schmerzlich das für jene sein mag, die da fallen. Auch der gegenwärtige Krieg wird Fortschritte bringen, vor allem wird er unsere Macht stärken, wenn wir unseren Job gut genug tun. Die USA sind dabei, ihren geografischen Einfluss bereich in Kürze bis an die fernöstlichen Regionen der Sowjets auszudehnen.
Das
wird
darüber
mitentscheiden,
ob
der
Kommunismus, lediglich in der Sowjetunion und in der von ihr be einflussten Mongolei als Staatssystem etabliert, weiter expandieren kann oder ob er vielmehr deterioriert, trotz der respektablen Lei stungen, zu denen er sich beispielsweise auf militärischem Gebiet nach dem Angriff Hitlers aufgeschwungen hat. Niemand — auch nicht ich — hat bei uns den geringsten Zweifel, daß die politische Idee des Kommunismus eine gefährliche Anziehungskraft auf Unterprivilegierte besitzt, auch Jenan hat mich das gelehrt. Nur — wir müssen ihn eindämmen, wenn wir die 233
Ordnung der Welt, so wie sie ist, aufrechterhalten wollen. Dafür lohnt sich persönlicher Einsatz. Und es wäre vor allem ratsam, dafür mit Leuten eine Liaison einzugehen, die zwar das rote Etikett des Kommunismus demonstrativ tragen, wie die Jenaner, die aber in ihrem Inneren bereit sind, lieber mit uns zu marschieren, als etwa mit den Moskauer Verfechtern der Lehre Lenins. Mao Tse-tung hat uns Angebote gemacht. Wir sind ihnen ausgewichen. Ich halte das für einen so schwerwiegenden außenpolitischen Fehler meines Landes, daß ich nicht bereit bin, meine Meinung darüber zu verschweigen, ich teile sie meinen Kursanten mit, mögen sie darüber nachdenken! Ich weiß, daß viele von ihnen mich für einen etwas naiven Individualisten halten, für einen klugen Mann mit skurrilen Vorstellungen über >Rote<. Wer von ihnen weiß, was >Rote< wirklich sind? Ich weiß nur, daß diese > Roten < in Jenan uns zu verstehen gaben, sie suchten bei uns, bei Amerika, Schutz vor jenen in Moskau, die das von Lenin erdachte System gern auf China übertragen sähen. Für mich bedeutet das, sie wollen ein anderes System, nämlich das unsere. Vielleicht soweit abgewandelt, daß es die allergrößten Ungerechtigkeiten des heutigen Chinas teilt, daß es die Narben von Krankheiten und Hunger verschwinden läßt. Damit müssen wir einverstanden sein, und allein deshalb stellen diese Leute da oben für mich Partner dar, ich bedaure es, daß wir ihre ausgestreckte Hand zurückgewiesen haben, nur weil unsere Politiker daheim die Tragweite einer solchen Entscheidung nicht beurteilen können. Die Zukunft aber wird Leuten wie mir recht geben, auch wenn es eine sehr ferne Zukunft ist. Ich bin jung genug! Außerdem werde ich nicht einfach abwarten: In langen Gesprächen mit Holly, der meine Meinung teilt, ist mir klargeworden, daß eine unabsehbare Periode stiller Tätigkeit in China vor mir liegt. An ihrem Ende wird Bilanz gezogen werden. 234
»Die goldene Regel«, doziere ich wieder einmal, während ein halbes Dutzend Augenpaare mich erwartungsvoll anblickt, »man bleibt für Chinesen stets ein Ausländer, so gut man auch mit ihnen auskommt. Man bemühe sich also nie, sich ihnen durch Nachahmung ihrer Sitten anzubiedern. Respektiert wird man, wenn man ihre Sitten achtet, sich nicht über sie belustigt zeigt, so eigenartig sie auch sein mögen, die eigenen aber beibehält, und zwar unverschleiert. Weil wir Amerikaner — und das begreift jeder Chinese schnell — die höhere Zivilisation haben, die stärkere Macht, das tiefere Wissen, die bessere Technik, und weil wir allein den Weg kennen, auf dem auch die Chinesen zu allen diesen Dingen kommen können ...« Ich spreche über Eßgewohnheiten und Hygiene, über das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Rolle der Familie und den Ahnenkult, die Bereitschaft der Chinesen, zuzuhören, wenn Geschichten erzählt werden, ihren Humor, den wir als primitiv empfinden, ihre Sensibilität, mit der sie spüren, wenn ein Fremder nicht ehrlich sagt, was er denkt. »Versucht nie, ihnen etwas vorzumachen«, warne ich. »Ihr geht bewaffnet nach dem Norden, um dafür zu sorgen, daß der Norden ein Vorposten Amerikas bleibt und die Kommunisten dort nicht al lein schalten können, wie es ihnen beliebt: ihr seid die Vorhut der Vereinigten Staaten, was ihr tut, das tut ihr, damit China eine Demokratie wird und nicht ein kommunistisches Pseudoparadies!« »Gut«, meldet sich Captain Birch, ein junger Mann, der einige Zeit Baptistenprediger gewesen ist, und dann als Aufklärer bei Ge neral Chennaults >Flying Tigers< diente, jener Gruppe von Abenteurern des Luftkrieges, die in der Art einer Fremdenlegion für Tschiang Kai-shek flogen, bevor die Vereinigten Staaten in den pazifischen Krieg verwickelt und sie schließlich als 14. Luftflotte in 235
die US-Streitkräfte eingegliedert wurden. »Aber was tue ich, wenn ich mit meinem Kommando bei Leuten lande, die partout dieses Pseudoparadies wünschen und nicht die Demokratie? Wie mache ich mich ihnen als Verbündeter glaubhaft? Sie sagten selbst, Sir, daß die Distanz zu Moskau zwar die Führungsspitze der Kommunisten beherrscht, es aber in den roten Truppen genügend Leute gibt, die der Führung in dieser Frage nicht folgen!« »Schießen!« wirft einer trocken ein. Ich warne davor. Die Sorge von Captain Birch ist berechtigt. Chinas Rote sind keinesfalls eine homogene Masse, trotz Maos Publikationen, trotz >Tscheng Feng< und allgemein unter der Hand verordneter Distanz zu Moskau. Darin gerade liegt unsere Chance. Deshalb rate ich: »Palaver machen, Captain. Geduldiges, langes Palaver. Hinsetzen. Waffen ablegen. Hemd öffnen. Eine Zigarette bedachtsam aus einem Päckchen auswählen, die beste sozusagen, sie dem Gesprächspartner feierlich anbieten, nicht etwa hinwerfen wie ein wertloses Röllchen Tabak! Rauchen. Sprechen. Erzählen, woher und wohin. Menschlichen Kontakt schaffen, langsam. Stets betonen, daß wir nicht da sind, um den Chinesen zu sagen, wie sie zu leben haben. Wir sind da, um China in einem Stück zu erhalten. Wir sind weder für Tschiang Kai-shek noch für Mao Tse-tung, wir sind dafür, daß China am Leben bleibt. Und wir nehmen, wo immer wir können, für nationale Versöhnung Partei, gegen Bürgerkrieg. Vor allem sagen wir nicht gleich jedem, daß wir dort, wo wir es können, den Russen zuvorkommen wollen. Das ist unser eigenes Interesse, es geht keinen anderen etwas an: die Machtpositionen, die wir den Japanern aus der Hand nehmen, übergeben wir an Chinesen, das ist unser Job ...« »Auch an Rote?« Es ist eine provokant klingende Frage, nichtsdestotrotz ist sie 236
allzu berechtigt. Ich sage versöhnlich: »Also, Jungens, den Roten werden die Russen übergeben, was immer sie können, soviel ist heute schon vorauszusehen. Deshalb achten wir darauf, daß die Ku omintang dort oben zu ihrem Recht kommt, vordringlich. Das schließt Kooperation mit den Roten nicht aus, es wird sie manchmal sogar erfordern. Aber — fühlt ihr euch denn nicht klug genug, das an Ort und Stelle den Umständen gemäß mit Fingerspitzengefühl selbst zu entscheiden? Seid ihr unsicher?« Das will natürlich keiner eingestehen. Die Diskussionen mit den einzelnen Gruppen gleichen sich. Die Art der Fragen wiederholt sich. Langsam kommt die Routine. Gerade will ich den jetzt fälligen Überblick über die Persönlich keitsstruktur in der KP-Führungsspitze geben, als die Tür des Schu lungsraumes geöffnet wird. Colonel > George < tritt ein, hochgewachsen, wie immer streng nach Vorschrift gekleidet, diesmal aber mit allen Orden am Rock und am linken Ärmel ein schwarzes Band. Die Kursanten springen auf. Das unerwartete Erscheinen des Chefs deutet ein besonderes Ereignis an. Der Colonel macht ein ernstes Gesicht. Er sagt langsam: »Ein Mann ist von uns gegangen, der gewußt hat, daß nur die Furcht selbst fürchtenswert ist. Ein Mann, der mit uns gelebt und unsere Leiden mitgefühlt hat. Ein Mann, dessen Herz so mutig war wie die Herzen der Helden, die er liebte. Ein Mann ist tot. Sein Platz wird von einem anderen ausgefüllt werden, aber er selbst wird uns für immer fehlen: unser Präsident Franklin Delano Roosevelt ist gestorben.« Er legt die Hand an den Mützenschirm. Schweigend setzen die Kursanten ihre Kopfbedeckungen ebenfalls auf, salutieren, bis der Colonel die Hand sinken läßt und sagt: »Danke. Der Dienst ist für heute beendet.« 237
Damit geht er. Es ist der 12. April 1945. In den Augen einiger meiner Kursanten sehe ich Tränen. Reichlich drei Wochen danach kapituliert Deutschland. Hitler ist tot. Camp 7 schwimmt in Whisky und Gin. Der Colonel hat für das Wochenende, drei Tage danach, einen >Abend mit Mädchen< er laubt. So tänzeln in unserer Kantine am Spätnachmittag die ersten Sianer Huren herum, erstaunlich saubere, arg geschminkte, meist in Brokat gekleidete, zierliche Wesen. Sie essen, trinken, naschen Sü ßigkeiten und rauchen Luckies, tanzen zu Platten von Glenn Miller, und nach und nach verschwinden sie mit dem einen oder anderen von uns für die notwendige Zeit in den Quartieren. Draußen ist Frühling. Die Luft ist bereits warm, es fehlt ihr die rauhe Note Jenans. Erste Blüten sind da, Insekten schwirren. Und ein Mond steht am Himmel, der die Romantiker ins Schwärmen bringen kann. Ich suche mir eine der Töchter aus Sians Freudenhäu sern aus und pilgere mit ihr bis zu einer Stelle am Wei Ho, wo man sich niederlassen kann. Silberlicht und Wassergeplätscher. Dazu das aufgeregte, halblaute Zwitschern des Mädchens. »GI will Mond bei kleines Spiel sehen ...«, lacht sie, als ich sie mir ohne viel Vorreden auf den Schoß ziehe. Sie kaut weiter an ihrem Kaugummi, während ich in der Tat eher den Mond bewun dere als ihr Gesicht. Irgendwann brumme ich noch: »Ja, ja, GI will Mond sehen, bei kleines Spiel von Wolken und Regen ...« Sie rak kert sich ab, gibt sich alle Mühe, quietscht und stöhnt, wie man es ihr beigebracht hat, läßt mich wissen, ich sei >der Größte<, und ich genieße das alles halbwegs, erfreue mich an der mondhellen Früh lingslandschaft, denke an die Höhlen in Jenan und die blasse Sonne hinter den Lößstaubwolken, denke an die Gefängnisse Tschung kings, die goldene Zeit Changans, die Landung in der Normandie und den Qualm über Berlin, was mir nach geraumer Zeit noch des 238
Mädchens Bemerkung einbringt, ich sei auch >der Ausdauerndste< und so träume ich, bis der Mond vor meinem Blick verschwimmt, und feiere auf diese Weise das Ende des Krieges in Europa. — Als Holly die Kleine am Sonntagnachmittag aus meinem Bett scheucht, wohin ich sie dann doch noch mitgenommen haben muß, wie ich selbst etwas überrascht feststelle, brauche ich einige Minu ten, um mich zurechtzufinden. Ich beantworte Hollys Frage: »Wo ist dein Geld?« mit einer vagen Handbewegung zu einer Kommode hin, höre, wie er das Mädchen fragt: »Genug?«, höre sie über schwenglich danken, spüre einen Kuß auf der bereits eingeseiften Stoppelbacke, merke, daß Holly sich einen Whisky eingießt, irgendwann fällt mir auf, daß ich mit ihm allein bin, und ich ringe mich zu der Frage durch: »Warum, zum Teufel, störst du mich in meinem Schönheitsschlaf? Und warum schickst du meine Lieblingsfrau fort, du nördlicher Barbar?« Er schluckt Whisky, sieht mir belustigt zu, wie ich mit dem Ba sierzeug hantiere, und eröffnet mir dann schlicht: »Weil die Pflicht ruft, Sohn!« Die Pflicht hieß Major James Kellis, hatte eine griechische Nase, was mit seinen Vorfahren zusammenhing, sprach die Sorte Englisch, die in Kairo gelehrt wird, besaß eine Anzahl Erinnerungen an OSS-Missionen in diversen Balkanstaaten und war im übrigen ein Mann, mit dem es einem nicht schwerfiel, Freundschaft zu schließen. Er boxte mich burschikos gegen die Brust, hielt mir die Hand hin und begrüßte mich: »Hallo, Höhlenforscher! Von jetzt an sind wir ein Team. Mit drei anderen Jungens, die noch kommen. Bis dahin mußt du fit werden ...« Was das letztere bedeutete, erfuhr ich vom Montagmorgen an. Ich genoß Einzelausbildung bei Kellis, und etwa alle halben Stunden hätte ich ihn am liebsten dafür ermordet: Bockspringen, 239
Überschlag, Herabspringen von einem Kistenstapel, wobei der Boden jeweils nicht etwa Sand war, sondern Stein. Dann lernte ich, einen Fallschirm zu legen, ihn am Körper zu be festigen, wiederholte mit diesem unbequemen Paket und einer Menge anderer Ausrüstung auf dem Rücken alle Übungen noch mals, bis Kellis mich eines Tages scharf ansah und sagte: »O.K., das reicht. Mehr haben die anderen auch nicht absolviert. Wie fühlst du dich?« »Das willst du wirklich genau wissen, Sir, Major, Sklavenschin der?« knurre ich ihn an. Er grinst. »Übermorgen ist der erste Sprung. Du machst insgesamt fünf. Der sechste ist bereits der letzte, für längere Zeit ...« Die Dakota flog langsam und nicht sehr hoch, sie kreiste über dem Tal des Wei Ho. Ich saß allein darin, neben mir Kellis. Er beobachtete mich skeptisch von der Seite. »Bist ziemlich gelb im Gesicht!« »Am Arsch auch«, sagte ich. »Nur den kannst du nicht sehen!« Der Major lachte nur. Er klopfte mir auf die Schulter und riet: »Einfach fallenlassen. Alles andere macht der Schirm selbst. Und die Beinmuskeln locker halten, in Bodennähe ...« Ich hatte das alles ein dutzendmal gehört und beachtete es kaum noch. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. Schließlich sprangen inzwischen Tausende von Soldaten mit Fallschirmen ab. Deshalb reagierte ich auch über haupt nicht mehr auf Kellis' gut gemeinten Vorschlag: »Keine falsche Scham, Sid, wenn du es beim ersten Mal nicht fertig bringst, landen wir und wiederholen alles, ohne darüber zu reden ...« Durch die Luke hinter mir konnte ich sehen, daß wir über dem Li Shan waren, einem Berg, südlich des Wei Ho. Zwischen seinen Hängen und dem Fluß lag eine gut zehn Kilometer weite Ebene. Hier sollten wir aufkommen. 240
Der Funker schob das Zwischenschott auf und brüllte: »Dreißig Sekunden!« Dann deutete er auf das Lämpchen über dem Schott. Kellis nickte und erhob sich. Er kontrollierte nochmals den Clip, mit dem seine Reißleine an dem straffen Drahtseil unter der Kabinendecke befestigt war, und prüfte auch meinen Clip auf sicheren Sitz. Ich hatte mich ebenfalls erhoben, stand neben ihm. »O.K.?« Statt einer Antwort sah ich Kellis nur ungeduldig an. Ich spürte seine Hand auf der Schulter, als er das Schott aufriß. Kalte Luft fauchte herein, zerrte an meiner Uniform. »Ich schiebe dich an, da mit du nicht im Leitwerk hängen bleibst«, hörte ich Kellis' Hinweis. Auch bekannt! Dann blinkte die grüne Lampe auf. Ich brauchte mich nicht zu überwinden, ich würde froh sein, wenn ich dies alles endlich hinter mir hätte, also schwang ich mich mit einem gewaltigen Satz ins Freie. Die Hand Kellis' spürte ich gar nicht mehr dabei. Keine Zeit nachzudenken. Der Atem stockt mir ein paar Sekun den, dann bekomme ich wieder Luft, ich trudle abwärts, spüre zu erst einen leichten Zug, als die Leine den Schirm aus dem Päckchen reißt, dann einen gewaltigen Ruck: ich hänge an der großen, seide nen Glocke und sehe die Erde auf mich zukommen. Nichts Uner wartetes geschieht. Etwas abseits sehe ich Kellis an seinem Schirm hängen. Er winkt. Ich erinnere mich an die Beintechnik, und als ich auf dem ziemlich harten, trockenen Boden ausrolle, bin ich ein biß chen traurig, daß alles so schnell vorbei ist. »Nun noch fünf!« krähte Kellis, als er nach einer Weile herankam, den Schirm in einem dicken Bündel unterm Arm. Er spähte nach allen Seiten, ließ sich neben mir nieder und meinte, wir würden wohl auf den Jeep noch eine Weile warten müssen. »Also brennen wir uns Tabak an ...« 241
Wir rauchten. Hinter uns waren die glasierten Ziegel der Mauern des Tempels Lin Tung in einiger Entfernung durch die Baumkronen hindurch zu erkennen. Ein Kloster, das hier, reichlich dreißig Kilo meter von Sian lag, alt und ehrwürdig, wie alle konfuzianischen Klöster zugleich Herberge für Pilger und Reisende und — berühmt für seine warme Schwefelquelle, in der bereits eine der berühmtesten Kurtisanen des alten Chinas badete, Yang Kuei-fei, Favoritin des letzten in Sian residierenden Tang-Kaisers: sie erhängte sich, als das Chaos ausbrach im Tempel. »Was du so alles weißt«, brummte Kellis anerkennend. »Man schmeißt dich mitten über China aus einem Flugzeug, und am Bo den fällt dir sofort eine uralte Geschichte ein!« »Du kannst auch eine modernere hören, über dieses Kloster da in den Felsen«, ziehe ich ihn auf. Sian hat nicht nur eine klassische Vergangenheit, es hat auch eine Gegenwart. »Kennst du Tschiang Kai-shek?« »Habe die sogenannte Erdnuß nie vor die Augen gekriegt. Inter essiert mich auch nicht, ich tue hier meinen Job, mit wem wir Bündnisse haben, ist Sache der Regierung ...« Ich erzählte ihm, was man allgemein den >Sian-Zwischenfall< nennt oder auch >die rote Meuterei von Sian< Vor knapp zehn Jah ren, als einige von Tschiangs Generälen ihren Chef an die Kom munisten auslieferten, ließen diese ihn wieder laufen, nachdem er allerdings versprochen hatte, künftig eine nationale Politik zu betreiben. Kellis, der sich, während ich erzählte, gelegentlich vor Lachen gekrümmt hatte, schüttelte den Kopf und meinte: »Junge, du solltest das professionell betreiben, die Leute würden deine Geschichten verschlingen: zuerst eine Kurtisane am Strick, dann ein gebißloser Generalissimus in Unterhosen als Gefangener der Kommunisten!« 242
Er lachte, bis eine Staubfahne in einiger Entfernung den Jeep an kündigte, der uns abholte. Nach weiteren fünf Übungssprüngen, drei davon bei Nacht, sagte mir Kellis, daß er nun sicher sei, ich werde alles, was vor uns liegt, mit Bravour hinter mich bringen. Eines Abends erscheint Holly in meinem Zimmer. »An der Wache ist ein Bursche aus Jenan. Mit einer persönlichen Botschaft für dich. Ohne Waffe.« »Aus Jenan?« frage ich verblüfft. »Du solltest ihn empfangen, er sagt, es dauert nur ein paar Minu ten und ist wichtig. Soll ich vorsichtshalber einen Posten vor die Tür stellen?« Ich schüttle den Kopf. »Bring ihn herein!« Es geschieht etwas Seltsames. Der Bursche ist einigermaßen adrett gekleidet, könnte sich in Sian ohne weiteres sehen lassen. Ich kenne ihn nicht, aber er scheint mich zu kennen, denn er begrüßt mich sehr erleichtert. Dann trennt er das Futter seiner Jacke ein Stück auf und zieht ein Blatt Papier hervor, das mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt ist. Als ich schon die Hand ausstrecke, lä chelt er verlegen. »Ich habe den Auftrag, es Ihnen zu verlesen, Mister Robbins. Ich habe das da selbst geschrieben, nach Diktat. Wollen Sie es hören?« Als ich verwundert nicke, beginnt er: »Meine Botschaft an Sie, Mister Robbins, lautet: Bleiben Sie persönlich mit uns in Kontakt, egal, was in den nächsten Monaten geschehen sollte. Wir sind Freunde, und unsere Zukunft hat viele Tage. Das gilt auch für Ihre Vorgesetzten, sofern sie ebenfalls unsere Freunde sind. Mag das Meer auch weit sein, immer werden sich Schiffe begegnen. In Freundschaft, Kang Sheng.« Während ich das überdenke, fragt der Bote, ob ich alles verstan 243
den habe, und als ich etwas zerstreut nicke, hält er ein Feuerzeug an die Botschaft, läßt sie in Sekundenschnelle zu Asche verbrennen. Ich erkenne in dem Feuerzeug eines jener billigen Dinger wieder, die Holly mir mit seiner >Weihnachtskiste< schickte und die ich in Jenan verschenkte. »Möchten Sie mir eine Antwort diktieren?« Wie durch Zauberei hat der Bote Papier und Füllfeder in der Hand. Ich zögere nicht. Holly brauche ich nicht zu fragen, ich weiß, daß auch er für weitere Kontakte ist. Also diktiere ich, mich unbe wußt dem Stil Kang Shengs anpassend: »Meine Botschaft an Sie, Mister Kang Sheng, lautet: Ich werde immer für Kontakte zur Verfügung stehen. Jedenfalls solange Sie und meine Vorgesetzten das wünschen. Unsere Zukunft wird viele Tage brauchen, um uns ans Ziel zu bringen. In Freundschaft, Sidney B. Robbins.« Ich bringe den Kurier selbst durch die Wache. Eine seltsame Art, miteinander Botschaften auszutauschen, aber in China ist nichts wirklich seltsam, alles ist bedingt. Als ich Holly berichte, atmet er erleichtert auf. »Wir haben auf ein solches Zeichen gewartet, Sid. Absolutes Schweigen deinerseits. Den Rest wird die Zeit erweisen, die vor uns liegt.« Eine Woche danach werde ich durch >George< zum Major befördert. Eine Feier findet nicht statt. Dafür teilt mir > George < mit, daß Holly mir in etwa einer Stunde meinen Marschbefehl erteilen werde. Er drückt mir die Hand, wünscht mir alles Gute und gesunde Heimkehr. Heimkehr — wohin? Die Zeremonie bei Holly geht leger vor sich. Er kommt in mein Zimmer, ein Blatt Papier in der Hand und sagt vorweg: »Junge, das ist alles, was ich dir offiziell mitteilen darf. Aber — sei beruhigt, es geht auf der Linie weiter, die wir eingeschlagen haben. Ich habe nur 244
eine Frage und bitte dich, ehrlich zu antworten: Würdest du es wei tere Jahre in China aushalten?« »Kannst du nicht mal was fragen, worauf ich noch nicht geantwortet habe?« »Das heißt ja?« »Ja!« »Viele Jahre?« »Meinetwegen auch viele Jahre. Es müssen ja nicht gerade immer Höhlen sein!« Er grinst. Dann beginnt er zu lesen, wobei ich, mehr aus Gewohnheit, straffe Haltung annehme: »Major Sidney B. Robbins erhält den Befehl, als Übersetzer in besonderer Mission dem Kommando K. anzugehören. Kommando K. wird von Major James Kellis geführt, seine Befehle gelten in jedem Falle. Kommando K. wird 24 Stunden nach Ausgabe dieses Marschbefehls an seinen Einsatzort verlegt. Unterschrift.« »Das ist alles?« »Das ist alles«, bestätigt Holly.
Vom Adlergipfel zur Ping Tjiao Hutung Juli 1945 Während ich an meinem Fallschirm hing, machte ich unten am Boden drei kleine Lichter aus, die abwechselnd aufblinkten und verloschen. Es war Nacht, mondlos, aber sternenklar. Hochsommer, mit einer trockenen, seltsam würzigen Luft, ohne den geringsten 245
Windhauch. Wenn ich ein geübter Springer gewesen wäre, hätte ich den Schirm jetzt mit Hilfe der Leinen manövrieren können, hin zu dem Dreieck, das die Lichter mit ihrem unsteten Blinken bildeten, aber ich war ein Amateur, und ich hatte Bedenken, an einer der Leinen zu ziehen: Der Schirm könnte unstabil werden und das wäre das Ende gewesen. So ließ ich mich treiben. Bald erkannte ich unter mir das gebirgige, scheinbar kaum besiedelte Terrain genauer. Es gab Wald, Felswände, dazwischen flache Stücke, auf denen ich Wege auszumachen glaubte. Ich schwebte auf eine dieser ebenen Flächen zu, die von einzelnen Nadelbäumen und Gebüschen bestanden war. Ein paar Sekunden vor dem Aufkommen wußte ich, daß alles nor mal verlaufen würde, es gab kein gefährliches Hindernis weit und breit, keine elektrische Leitung, keinen hohen Baum, keine scharti gen Felskanten. Ich landete wie in einem Kessel, der ringsum von Hügeln eingerahmt ist, konnte schnell den Schirm bergen und tat dann das, was mir Kellis geraten hatte, ich kroch hundert Meter weiter, setzte mich still auf den Boden und wartete. Eine mir unendlich scheinende Zeit verging. Aber dann waren sie ganz plötzlich da. Ich hörte dort, wo mein Fallschirm lag, ein Ge räusch, hob meine Thompson, doch da kam schon der halblaute Ruf: »Mister Robbins!« Er jagte mir in Sekundenbruchteilen mehrere Gedanken durch den Kopf: Kein GI, auch nicht Kellis, würde mich mit >Mister Rob bins< anrufen! Die rufende Stimme war auch nicht die eines Amerikaners, sie hatte einen unverkennbaren Akzent. Ich verhielt mich still, ließ den Mann dreimal rufen, lockte ihn dadurch schließlich aus seiner Dek kung, nicht ihn allein, sondern auch seine beiden Begleiter. Es war, wie ich im Ungewissen Sternenlicht gerade noch erkennen konnte, 246
eine große, hagere Gestalt in Zivilkleidung, mit Brille, und hinter ihm — endlich — erkannte ich zwei Burschen in derselben Uniform, wie ich sie trug. »Mister Robbins!« rief die Stimme nochmals, den Anfangsbuch staben meines Namens auf jene unverwechselbar chinesische Weise aussprechend, die eher an ein >L< erinnerte als an ein >R<. Und plötzlich fiel mir ein, daß ich diese Stimme schon einmal gehört hatte. Der Mann war voll im Visier meiner Thompson, die beiden GIs hinter ihm verhielten sich nicht so, als ob sie Gefahr erwarteten. Also rief ich halblaut zurück: »Wer sind Sie? Bleiben Sie, wo Sie sind, ich habe den Finger am Abzug!« Einer der GIs antwortete lachend: »0. K., Major, glauben Sie's oder nicht, wie es sonntags immer so schön auf der letzten Seite der > Washington Post< heißt: wir sind Kommando K. Kommen Sie, bevor Kellis den Rest des Begrüßungswhiskys allein austrinkt!« Sie hatten Waffen, aber sie trugen sie lässig über der Schulter. Ich erhob mich, die Thompson immer noch im Anschlag. Sie lachten mich an, als ich näher trat. »Wohl gedacht, wir wären ein paar Kamikaze-Wallahs, wie?« Das war reiner Gl-Slang, der einen Aufenthalt in Kalkutta verriet. Die Burschen besannen sich darauf, daß sie immerhin einer Armee mit gewissen Regulationen angehörten, einer hob die Hand ans Käppi und meldete einigermaßen vorschriftsmäßig: »Master Ser geant Osborne und Corporal Kamasuki zu Ihrer Verfügung, Sir. Dritter Mann ist der Zivilist Chang Wen, Chinese.« »Sagten Sie Chang Wen?« Ich kann im Augenblick mit dem Na men nichts anfangen, entschließe mich, zuerst den beiden GIs die Hände zu schütteln, aber dann, als ich vor dem Chinesen stehe und der Master Sergeant ihn für eine Sekunde mit seiner Taschenlampe anleuchtet, da weiß ich mit einemmal, wer das ist. Und ich weiß 247
auch, warum ich Zeit brauchte, ihn wiederzuerkennen: Nicht nur die Brille ist neu, der Mann hat sich von einem ausgemergelten, krummgeschlagenen Gefangenen wieder in einen Menschen verwandelt! Ich begrüße ihn wie einen lange verloren geglaubten Freund. Er selbst verneigt sich leicht, lächelt, schüttelt mir die Hand und sagt ohne den Versuch, die Stimme zu dämpfen: »Ich freue mich, daß Sie gut gelandet sind, Mister Robbins!« Es klingt etwas verlegen, und als ich ihn an unser letztes Treffen in Tschungking erinnere, in dem kleinen, weißgekalkten Raum, er als politischer Gefangener Tai Lis und ich als amerikanischer Captain, der Gefangene >studierte<, lächelt er nur und sagt: »Damals war mein Leben keine Kupfermünze mehr wert ...« Mir fällt das alles wieder ein, das Gespräch mit diesem Mann, den Tai Lis Leute erwischt hatten, als er kommunistische Pamphlete nach Tschungking schmuggelte. Irgendeine Frau hatte ihn verraten. » Wang Kwei-fan«, hilft er mir, mich zu erinnern. »Sie ist übrigens wenige Tage nach unserem Gespräch getötet worden, wie ich erfuhr.« »Hat Sie das gewundert?« Er sieht mich lächelnd an. »Nein. Ich hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, Sie seien ein ehrlicher Mann. Aber — erlauben Sie, wir sollten aufbrechen, der Weg ist weit, und die Sommernächte hier sind kurz!« Ohne auf mein Einverständnis zu warten, packt er meinen Fall schirm zusammen, wurstelt ihn zu einem handlichen Bündel zurecht, das er sich auf den Rücken schwingt. Master Sergeant Osborne meint: »Oben, im Stützpunkt, ist viel Zeit zum Reden. Aber es ist gut, wenn wir bei Nacht noch aus der Nähe der Straße wegkommen ...« Wir marschieren hinter Chang Wen her, zuerst der Master Ser 248
geant, dann ich, zuletzt der Corporal, über den ich schnell noch, auf einen erstaunten Blick in sein Gesicht, durch Osborne die Auskunft bekomme: »Der Corporal ist ein Nisei, Major. Seine Mutter ist Japanerin. Lebt zwar schon seit ihrer Geburt in den Staaten, ist aber trotzdem in Kalifornien interniert. Sicherheitsgründe. Corporal Ka masuki
spricht
nicht
gern
darüber.
Berufssoldat.
Absolut
zuverlässig. Fließend japanisch, in Wort und Schrift ...« Ich weiß nicht, ob Kafhasuki mitgehört hat, jedenfalls zeigt er keine Reaktion, später bietet er mir an, meine Thompson zu tragen, und ich sehe ihn zum ersten Mal lächeln, als er mich aufmerksam macht: »Ziemliche Steigungen, Sir, bis zu unserem Nest. Wir muß ten uns auch erst daran gewöhnen. Waren Sie schon mal in dieser Gegend?« Ich merke, daß er gesprächig ist, keinesfalls wortkarg, und ich gebe ironisch zurück: »Kann ich Ihnen erst beantworten, wenn mir jemand sagt, wo ich überhaupt gelandet bin!« Er ist ein gutaussehender Bursche. Seine leicht geschlitzten Augen, das Erbe seiner Mutter wohl, geben dem Gesicht einen fast lustigen Zug. Er macht eine ausholende Handbewegung: »He, Ma jor, dann wird's aber Zeit! Da vor uns, das sind die Yang Tai Berge. Hügel eigentlich nur, aber gar nicht so einfach zu erklettern. Südöstlich von hier, keine fünfundzwanzig Meilen entfernt, liegt Peking. Kennen Sie Peking?« »Nie dagewesen«, antworte ich etwas verwirrt, unter dem Ein druck seiner Mitteilung. Peking also. »Und die Japaner?« Er verzieht leicht das Gesicht. »Stecken in der Stadt. Früher hat ten sie hier, im Vorgelände, Stützpunkte. Wen Tschuan, Hsi Huang Shi, das sind kleine Dörfer, nicht mehr sicher für die Japaner, seit es diese Gruppe von roten Guerillas gibt, mit Chang Wen. Nur am 249
Nan Kou Paß sitzen sie noch. Aber die Radarstation, die sie da hatten, ist kaputt. Hat die Air Force zerbombt, bevor wir abgesetzt wurden. Und aus Nan Kou kommen sie kaum noch heraus, überall Gewehre, die auf sie lauern ...« Einige Kilometer mußten wir bergauf klettern, durch Mischwald, der intensiv duftete. Kamasuki, der offenbar von allen die Gegend am besten kannte, nahm mich am Arm, als wir eine Weile rasteten, auf einem Kahlschlag, hinter dem sich eine dunkle Bergkuppe er hob. »Das ist der Djiufeng«, sagte er mit einer Spur von Bewunde rung in der Stimme. »Adlergipfel.« Chang Wen, der zu uns getreten war, bemerkte leise: »Eigentlich heißt er >Geiergipfel<, aber Mister Kamasuki liebt den Adler mehr als den Geier, also haben wir uns darauf geeinigt ...« Kamasuki widersprach ihm gutmütig: »Lassen wir den Major seine eigene Meinung sagen ...« Er streckte die Hand aus und wies zum Gipfel: »Da, sehen Sie, Sir, dort oben, die beiden Nadelbäume, die ganz allein stehen und deren Äste so seltsam gebogen sind — kann man sie mit den Flügeln von Geiern vergleichen? Oder eher mit den Schwingen von Adlern? Von ihnen hat der Gipfel nämlich seinen Namen!« Ich fand den einen Vergleich so treffend wie den anderen, obwohl Kamasuki behauptete, er habe in Indien Geier gesehen, ihre Flügel sähen ganz anders aus als die Äste der Bäume da oben. Chang Wen hörte lächelnd zu. Adler oder Geier — mich interessierte viel mehr das, was Master Sergeant Osborne mir mitteilte: »Kurz unterhalb der Spitze, da liegt unser Quartier ...« Eine weitere halbe Stunde stiegen wir nun immer steiler bergauf, dann gabelte sich der Pfad. Zur Rechten ging er in felsige Terrassen über, die an Treppen erinnerten, und Chang Wen erklärte mir, er führe zu einem kleinen Tempel, der Kuanyin geweiht sei, der — 250
meines Wissens — einzigen weiblichen buddhistischen Gottheit. Eine verlassene Siedlung schließe sich an, in der der Stab der roten Guerillas läge, und es wäre abgemacht, daß wir dort nicht durchmarschierten. Also nahmen wir den linken Pfad, der in einen Abhang gehauen war — an der einen Seite rissiger, feuchter Fels, an der anderen schwarze Tiefe. Osborne machte mich aufmerksam, daß seine Leute hier eine wirkungsvolle Sorte kleiner Minen angebracht hatte, für alle Fälle. Sie seien jetzt natürlich inaktiv, könnten aber von unse rem Quartier aus durch einen Hebeldruck scharf gemacht werden. »Da bleibt kein Japs übrig, wenn die hochgehen. Und außerdem gibt es dann den Pfad nicht mehr«, sagt er beruhigend, wie um mir die absolute Sicherheit unseres Verstecks zu demonstrieren. Ein Versteck ist es eigentlich nicht. Eher ein Platz zum Erholen: Als sich der Pfad nach einigen hundert anstrengenden Metern wie der verbreitert, liegt vor uns auf einem Plateau, wie durch einen Zauber aufgebaut, plötzlich ein Gebäude im Stil englischer Land häuser. Es erscheint ungewöhnlich groß, hat eine breite Veranda, von der aus man ins Tal blicken kann. Welche Arbeit mag es ge macht haben, allein das Baumaterial über die schmalen Pfade bis hier herauf zu befördern! Kein Tempel — ein überraschend modern eingerichtetes Ferienhaus, wie mir scheint. Chang Wen führt uns hinein. An der Tür schlägt mir Kellis freu dig auf die Schulter. »Du hast zu lange gezögert, deshalb musstest du so weit laufen!« Chang Wen hatte ihn als ersten am Fuße des Berges ausgemacht und ihn mit einem der roten Guerillas zur >Villa< geschickt, während ein Dutzend anderer roter Guerillas schon die Behälter mit unserer Ausrüstung barg und hinaufschaffte, wofür Kellis ihnen großzügig die Fallschirme schenkte, die sie angeblich zu Moskitonetzen verarbeiten wollten. Hinter Kellis 251
erscheint ein junger Soldat, der sich höflich als Vic Maloney vorstellt und hinzufügt, er sei der Funker des Kommandos K. Man stehe mit Sian in Verbindung, die Meldung von unserer Landung sei bereits abgesetzt. Chang Wen hält mir die Hand hin. »Wir werden uns morgen se hen, Mister Robbins. Jetzt muß ich zu meiner Abteilung.« Dann sind wir allein. Kellis schließt die Tür, die ohnehin nur aus einem Rahmen mit Moskitodraht besteht. Dieser aber ist, wie auch die Fenster, mit Papier beklebt, damit kein Lichtschimmer nach draußen dringen kann. Es gibt nur Armeelampen, das Haus hat keinen
Stromanschluss.
Wir
brennen
in
der
geräumigen
Empfangshalle ein paar der Ölfunzeln an, mit denen die GIs gewöhnlich ihre Bunker beleuchten, wir erkennen Rohrsessel, Tische, einen Kamin, eine gediegene, gepflegte Einrichtung, die mich zu der Frage veranlaßt, wer um Himmels willen denn hier gehaust habe, in diesem Bergparadies, das sogar für jeden von uns ein eigenes Zimmer hat und ein Bad, in dem man das Quellwasser, das draußen vorbeifließt, mit einem sinnreich konstruierten Ofen erwärmen kann. »Millionär«, sagt Kellis lakonisch. »Export von Tee, Nudeln und Sojasoße in alle Länder Asiens. Eine Bank hat ihm auch gehört, oder wenigstens ein Teil davon. Er ist vor den Japanern ausgerissen. Die haben das Haus dann als Er holungsquartier für den Chef der Pekinger Garnison benutzt. Gelber Mann mit gelbem Fräulein am Wochenende, so etwa. Er traut sich nicht mehr hierher, seitdem es Chang Wen und seine Leute gibt. Tja, diese Japse sind nicht mehr ganz das, was sie über Pearl Harbor noch waren ...« Dann wird er ernst, er weist uns an, in den Sesseln sitzend die Order entgegenzunehmen, die das Kommando K. auf den Weg mitbekam. Er liest sie vor, nachdem jeder von uns ein Glas Whisky 252
in der Hand hält und — außer Kamasuki — eine Zigarette angebrannt hat. Eine seltsame Art des Befehlsempfanges, aber die Army überrascht einen immer wieder. Wie es scheint, sind wir an einem Ort angekommen, der zwar einsam liegt, uns aber keine großen Entbehrungen abfordern wird. Es ist eine Idylle mitten in dem langsam ausbrennenden Krieg. Die Japaner könnten unseren Funkverkehr zwar abhören, vermutlich wären sie auch noch in der Lage, unseren Standort zu bestimmen, aber wir wissen, daß sie nicht mehr die Kraft haben, uns anzugreifen. In den letzten Wochen haben sie, in Erwartung des sowjetischen Eingreifens, immer mehr Truppen aus dem Hinterland in die Mandschurei abziehen müssen. >Das Adlernest< taufe ich insgeheim unseren Stützpunkt. Ringsum wimmelt es von roten Guerillas. Sie haben Befehl, uns Hilfe zu leisten. Vor allem schirmen sie uns gegen Überraschungen jeder Art ab. Über den Befehl, den Kellis uns vorliest, gibt es keine langen De batten. Er trägt uns im Grunde nichts weiter auf, als hier zu liegen, unsere Chance abzuwarten und dann die Höhle des japanischen Lö wen in China gewissermaßen zu einem Käfig für ihn zu machen ...Befehl Kommando K., geführt von Major James Kellis, bezieht Quartier an dem dafür vorgesehenen Platz. Bis zum Eintreffen neuer Befehle verhält sich das Kommando ruhig und verläßt seine Basis nicht. Während dieser Zeit macht sich das Kommando mit den geografi schen und topografischen Gegebenheiten des Gebietes Peking ver traut. Das Kommando muß spätestens zwei Wochen nach seinem Eintreffen am Bestimmungsort die Bedingungen dafür geschaffen haben,
daß
es
binnen
fünf
Stunden
nach
Erhalt
eines
entsprechenden Befehls das Zentrum der Stadt erreichen kann. Über 253
die Art und Weise, in der das zu geschehen hat, entscheidet Major Kellis nach Empfang des per Funk erfolgenden Zeichens. Funkkontakt: Empfang von 12 bis 14 Uhr, tägl. Sendung von 0 bis 2 Uhr, tägl. In Sonderfällen jederzeit: Frequenz K-47,4
1.8.1945 Trägheit. Gedanken an das einzige, was in diesem Paradies fehlt: ein paar Mädchen. Tagsüber sitzen wir in der Sonne des heißen Kontinentalsommers, wir trinken Limonade, die Ted Osborne aus Army-Zitronenpulver und eiskaltem Quellwasser mixt, Maloney und Kamasuki spielen Black Jack. Wenn Maloney an seinem Radio sitzt
und
in
die
Welt
hinaushorcht,
spielt
Kamasuki
Mundharmonika. Kellis stöbert in den Buchbeständen des ehemaligen Besitzers der Villa, macht mich auf englische Ausgaben aufmerksam und vergräbt sich schließlich in die Lektüre von Hudsons > Green Mansions<, einem Schinken, der so alt ist wie unser Jahrhundert. Der Wanderer, der in den Dschungeln Venezuelas sein eigenes Ich sucht, was immer er auch darunter versteht, jedenfalls verliebt er sich dann in ein höchst eigenartiges Mädchen — ich erinnere mich, daß das Buch eine Weile auf dem Nachttisch meines Vaters lag, bis er es eines Tages irgendwem schenkte. Der Besitzer der Villa muß es sehr geschätzt haben, wenn man das daran messen will, wie zerlesen das Exemplar ist. Ich selbst blättere in Stapeln der Pekinger englischsprachigen Zeitschrift >Caravan<, einer Mischung von britischer Ko lonialillustrierter und europäischem Reklamemagazin. Es sind zu rückliegende Jahrgänge, aus den späten dreißiger Jahren. 254
Nachmittags, wenn die Sonne schon flach hereinkommt, streife ich manchmal durch die Gegend. Der Adlergipfel ist dicht bewach sen, bis fast unter seine höchste Spitze, hier ist er kahl, und hier ste hen die beiden >Geierbäume<. Es wächst eine robuste Kiefernart hier, das Unterholz ist nur dünn, man kann weite Strecken bequem wandern. An einigen Stellen in den Tälern könnte ich stundenlang sitzen. Bin ich ein Romantiker? Ich rekapituliere sogar alte chinesi sche Gedichte, und immer wieder packt mich das Verlangen, die passive Weisheit jener Gedichte in englische Worte zu transponie ren. Friedenssehnsucht und Siegesfreude gibt es in den alten Versen, ein seltsames Gemisch, das Verlangen nach Harmonie von Mensch und All, bezaubernde Bilder aus Worten, da erstehen Lotosteiche und Palmenwälder, Käfer kriechen im Gras, und Eisvögel schreien auf toten Ästen. Könnte die Welt freundlicher sein, wenn möglichst viele Menschen das Gefühl übernähmen, das aus den meisten dieser Zeilen strömt? Ich weiß es nicht, aber es käme auf einen Versuch an. Nur — angesichts von Thompsons und B-29-Bombern wage ich es nicht, darüber Voraussagen zu machen. Es bohrt in mir, zu wissen, daß Weisheit und Güte unweigerlich den Waffen der Gegenwart unterlegen sind. Bin ich ein verhinderter Dichter? Manchmal glaube ich das. Aber dann wieder besinne ich mich darauf, Major des OSS zu sein. Und OSS, das ist Amerika. Alles, was ich weiß, ist, daß dieses Amerika mich hierher geschickt hat, um China, das rauhe, sanfte, blühende, brennende, das Land, in dem ich meine ersten unbeholfenen Schritte tat, für Amerika gleichsam als ewige Geliebte zu erobern. Tue ich es für Amerika? Oder tue ich es für China? Ich kann es nicht sagen. Aber ich werde das tun, was ich tun kann, und wenn es mich auch viele Jahre meines Lebens kosten sollte. Es werden Jahre in China sein! Ich werde mir klarer darüber, daß es nicht allein der Befehl ist, 255
der mich antreibt. Ich will dieses Land, ich begehre es, mit allen seinen Schönheiten, mit den Narben auch, dem Aussatz, der hier und da sein Gesicht zeichnet. Man wird mich nicht davon abbringen — dies ist nicht ein Job schlechthin, wie ihn vielleicht Kellis versieht, oder Osborne, für das, was Politiker so gern als >Vaterland< bezeichnen. Nein, es ist ein Anliegen, das tief in mir wurzelt. — Eines Nachts bekommen wir, nach vorheriger Ankündigung über Funk, einen Nachschubabwurf. Kamasuki klettert hinunter in die Siedlung am Kuanyin-Tempel, wo die roten Guerillas ihr Stabsquartier haben. Wie schon vorher, werden sie uns bei der Bergung der Behälter helfen. Holly hat in seinem Funkspruch versteckt mitgeteilt, daß die Behälter einiges enthalten, das für die Guerillas bestimmt ist. In dieser Nacht sind wir mit Ausnahme des Funkers alle unter wegs. Die Maschine zieht einen Kreis, dann purzeln die Güter für uns herab. Zum Glück haben die Abwerfer Routine genug, um sie so zu plazieren, daß wir nicht allzu lange suchen müssen. In weniger als zwei Stunden haben wir das Zeug auf dem Gipfel: neue Batterien für Funkgerät und Radio, Lebensmittel, Zeitungen, einen Berg Waffen. Ich suche daraus einiges zusammen, was wir den roten Guerillas übergeben. Zielfernrohrgewehre, schwere Revolver, Thompsons. Gegen Mittag, als Chang Wen das alles mit einem Trupp abholt, habe ich Gelegenheit, endlich einmal ausführlich mit ihm zu reden. Er läßt seine Guerillas mit den Waffen abziehen, dankt mir mehr mals für die Thompson, die ich ihm persönlich geschenkt habe, und dann sitzen wir auf der Veranda, bei einem kühlen Getränk, und können Rückschau halten. Ich will vor allem wissen, wie es zu seiner Freilassung gekommen ist, und ich bin überrascht, als er mir 256
berichtet, er sei nicht freigelassen worden, sondern geflohen. »Lange nachdem Sie damals das Gespräch mit mir hatten, Mister Robbins, hat man ganz plötzlich einige Leute aus der Haft entlas sen«, erzählt er, und ich erinnere mich wieder an die Mitteilung von Kang Sheng in Jenan über diese seltsame Anwandlung von Tschiang Kai-sheks Gerichtsbarkeit. »Allerdings«, so fährt er fort, »waren diese Entlassungen gezielt. Ich saß damals noch im > Weißen Haus<, in einer Einzelzelle, isoliert, trotzdem erfuhr ich davon. Tai Li war es wohl gelungen, aus einigen Gefangenen Verräter zu machen. Sie sollten zu den Kommunisten zurückgehen und dort als Spione für Tai Li arbeiten. Man entließ aber nicht nur diese Verräter, sondern man ließ mit ihnen zugleich eine Anzahl von ehrlichen Leuten frei, aus denen Tai Lis Vernehmer bisher kein Wort herausbekommen hatten. Das machte jede Unterscheidung schwer, war gut ausgedacht. Aber Tai Li kennt Jenan nicht, er hat keine Vorstellung von dem, was die Freigelassenen dort erwartete. Ich habe sie getroffen, später, als ich selbst geflüchtet war und nach längerer Zeit Jenan erreichte. Sie saßen im Haftlager, wie ich.« »Sie waren in Jenan in Haft?« Er lächelt verlegen. »Nicht direkt in Jenan. Der große Käfig befindet sich einen Tagesmarsch nördlich der Stadt.« »Aber — ich habe nie etwas davon gehört, außer Gerüchten ...« »Sie hätten den Gerüchten Glauben schenken können, Mister Robbins. Ich rechne darauf, daß Sie nicht weiter darüber reden wer den. Mein Gefühl sagte mir in Tschungking bereits, daß Sie ein ehr licher Mensch sind. Deshalb werde ich Ihnen die Wahrheit sagen: Kang Shengs Gefängnisse sind nicht besser als die Tai Lis.« Ich bin bestürzt. »Man hat Sie einfach eingesperrt, als Sie nach Jenan kamen?« 257
»Ja.« »Warum?« »Ich war verdächtig. Ich kam aus Tschungking, wie die anderen.« »Aber«, weiche ich aus, »Sie waren doch ein entflohener Gefan gener, macht denn das keinen Unterschied?« »Keinen«, sagt Chang Wen. »Leider. Ich war geflohen, ja. Eine nicht von außen gezielt organisierte Operation, die meine Person betraf. Meine Flucht wurde durch einen Zufall möglich. Man teilte mich, weil ich von Beruf Schlosser bin, einem Arbeitskommando zu, das am äußersten Nordrand der Stadt, in einem Gebäude, in dem sich ein General etabliert hatte, Eisenträger für die Decke eines Luftschutzraumes zusammenschweißen sollte. Wir arbeiteten dort mehrere Wochen. Das mußte eine Partisaneneinheit erfahren haben, die in den Hua Ying Bergen, nördlich der Stadt operierte. Diese Leute überfielen den Konvoi, mit dem wir in die Stadt zurückbefördert werden sollten. Wir waren fünf Gefangene. Leider kamen die übrigen vier bei dem Überfall ums Leben, weil eine der Sauerstoffflaschen, die wir mitführten, explodierte, als ein verirrter Schuß sie traf. Ich selbst kam davon. Die Genossen nahmen mich in die Berge mit, und ich kam nach einiger Zeit wieder zu Kräften. Da marschierte ich los, nach Jenan ...« »Um eingesperrt zu werden!« Er schüttelt den Kopf. »Nicht um mich einsperren zu lassen! Ich wollte mich zurückmelden und neue Aufgaben übernehmen. Aber ich konnte nicht beweisen, daß ich nicht inzwischen zum Spion geworden war, deshalb kam ich in das Lager. Drei Monate. So lange dauerte es, bis die Anführerin der Partisanengruppe aus den Hua Ying Bergen bestätigte, daß ich von ihrer Einheit gewaltsam befreit worden war ...« 258
»Und dann kamen Sie hierher?« Er zögert. Dann sagt er: »Ich mußte mich eine Weile erholen. Im Lazarett. Es waren mir bei Vernehmungen zwei Rippen gebrochen worden, ich bekam schlecht Luft. Ein russischer Arzt hat mich so weit kuriert, daß ich heute wieder einigermaßen gesund bin ...» »Ihre eigenen Genossen haben Sie geschlagen?« Er bewegt leicht die Schultern. Schweigt eine geraume Zeit, nippt an seinem Limonadenglas, schließlich zündet er sich eine Zigarette an und sagt langsam: »Mister Robbins, es gibt sehr verschiedene Arten von Genossen dort oben in Jenan. Was mich betrifft, so bin ich Kommunist, und es gibt Situationen, in denen ein einzelner Kommunist viel Verständnis für das Gesamtinteresse der Partei aufbringen muß. Nicht alles, was in diesem Zusammenhang geschieht, ist nötig, aber es ist wohl unvermeidlich. Deshalb möchte ich darüber lieber nicht weiter sprechen, wenn Sie das nicht beleidigt...« Ich hatte zwar nie angenommen, daß Kang Sheng bei seiner Tscheng-Feng-Kampagne< wie bei der Ausübung seiner Abwehrtä tigkeit überhaupt Samthandschuhe zu tragen pflegte, trotzdem war ich von der Erzählung Chang Wens verwirrt. Am meisten drängte sich mir die Frage auf, was einen Mann mit Erfahrungen dieser Art veranlaßt haben konnte, so stillschweigend wieder das Gewehr zu nehmen und sein Leben für jene einzusetzen, die zuvor seine Würde mit Füßen getreten hatten, abgesehen von den körperlichen Schäden, die er davongetragen hatte. Die Vokabel >Bewußtsein< mußte wohl mehr beinhalten, als uns in den Seminaren von OSS ge lehrt worden war. Chang Wen hielt mich wohl, besonders nachdem ich lange in Je nan gewesen war, für so etwas wie einen amerikanischen Sympathi santen des Kommunismus in Militäruniform. 259
»Sehen Sie«, erklärte er mir ruhig, »ich bin weiter nichts als ein Arbeiter aus Shanghai. Ich bin als sehr junger Bursche zur Revolution gekommen, habe in der Fabrik, in der ich arbeitete, Streiks or ganisiert, habe Leute versteckt gehalten, hungernden Kindern von Genossen meinen Reis gegeben. Und dabei habe ich begonnen, auch Bücher zu lesen. Shanghai war ein Zentrum der Revolution. Eine Exilrussin, die in der französischen Konzession auf den Strich ging, lehrte mich das kyrillische Alphabet. Zuerst das. Dann übte sie mit mir diese fremde Sprache, solange, bis ich die Broschüren lesen konnte, die aus Moskau zu uns geschmuggelt wurden. Sie sagte, ich sei eine Sprachbegabung, es machte ihr Spaß, mit mir an den Vormittagen zu arbeiten, wenn ich Nachtschicht hatte. Dabei konnte ich ihr nichts bezahlen, ich versah lediglich die Tür ihrer Kammer mit massiven Eisenriegeln, auch die Fenster, damit sie sich sicher fühlen konnte. So eigenartig sind manchmal die Wege von Menschen ...« »Waren es die russischen Texte, die Sie zum Kommunisten machten?« Er schüttelt den Kopf. »Worte allein bewegen nichts, Mister Robbins. Es war der Hunger, der mich zum Rebellen machte. Die Erkenntnis, daß meine Freunde in der Fabrik auch hungerten, drängte uns zum Zusammenschluß. Was die russischen Texte betraf, so gaben sie uns die Zuversicht, daß es sich lohnte, für die Befreiung zu kämpfen. Die Russen hatten das geschafft, sie hatten gesiegt. Sie lehrten uns, daß die Welt erst dann wirklich gerecht sein wird, wenn Arbeiter sie regieren.« »Oder Bauern«, versuche ich, seine Meinung weiter zu erfor schen, denn ich hatte in Jenan die Chance, von Mao Tse-tung selbst zu erfahren, wie er die Prioritäten setzte. Chang Wen sagt nur: »Beide sind in China arm. Da gibt es keinen Unterschied. Nur in 260
der Zahl, da sind die Bauern stärker. Wahrscheinlich noch für lange Zeit. Meine Gruppe da unten am Tempel besteht aus Bauern. Ich führe sie. Wir fragen einander nicht, ob der eine Schweißen gelernt hat oder der andere Reis pflanzen kann und sonst nichts. Bei uns sind sogar einige ehemalige Soldaten, die unter dem Verräter Wang Tsching-wei gedient haben. Man hat sie rekrutiert — was sollten sie tun? Wir haben Vernunft in ihre Köpfe gebracht, heute sind sie zu verlässige Mitkämpfer ...« Ich erinnere mich, daß Wang Tsching-wei, der Chef der pro-japa nischen Kollaborationsregierung, einer Gruppe mit stark faschisti scher Prägung, in Nanking residierte. Das war ein Mann, der unter der Schirmherrschaft Japans so etwas Ähnliches aus China zu machen beabsichtigt hatte, wie es Deutschland oder Italien gewesen waren. Im November vergangenen Jahres war Wang Tsching-wei gestorben. Seitdem bestehen seine Truppen zwar noch, aber ihr Zerfall schreitet fort, meist werden sie unter japanischem Kommando für Hilfszwecke verwendet, soweit sie noch nicht desertiert sind. »Haben Sie mit ihnen eine >Tscheng-Feng-Kampagne< gemacht, wie man das in Jenan hatte?« erkundige ich mich. Chang Wen lächelt nur. Über >Tscheng-Feng< äußert er sich indirekt, als er sagt: »Mister Robbins, wir sind Revolutionäre, wir glauben nicht daran, daß man das Bewußtsein eines Menschen durch eine Kampagne ändern kann. Bewußtsein ist eine Mischung aus Emotionen und Wissen, es muß wachsen, und man muß es behutsam pflegen, damit es sich entwickelt. Im übrigen — den Charakter eines Menschen, auch den Grad, den sein Bewußtsein erreicht hat, erkennen wir am besten, wenn wir ihm Aufgaben stellen und darauf achten, wie er sie bewältigt.« »Das sieht man aber in Jenan anders«, mache ich ihn aufmerk 261
sam. Er blickt mich an, als verstünde er den Sinn meiner Frage nicht. Schließlich sagt er: »Man spricht vernünftig mit solchen Leu ten, die auf der falschen Seite gestanden haben. Wenn sie gutwillig sind, ist es ganz natürlich, daß sie; sich uns anschließen. Man kann wohl Menschen nicht nach einem Stundenplan umerziehen, jeden falls produziert man Revolutionäre nicht, indem man ihnen etwas für eine vorher festgelegte Zeit einpaukt und sie nach Ablauf dieser Frist dann für fertig erklärt. Menschen haben jeden Tag von neuem an sich zu arbeiten, sie haben neue Erkenntnisse zu gewinnen und zu verdauen, alte Vorurteile abzulegen. Gewiß kann man sich dabei gegenseitig helfen, und wenn man dazu noch gemeinsam kämpft, ist das alles viel leichter ...« Es reizte mich schon, mit diesem Mann noch viel länger zu reden, er unterscheidet sich auf mancherlei Art von vielen Kommunisten, die ich in Jenan kennengelernt habe. Doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Er muß zurück zu seiner Gruppe. »Danke für die Maschinenpistole«, sagt er noch einmal, als er geht. »Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen. Immer wenn ich an unser Gespräch in Tschungking zurückdenke, kommt mir zu Be wußtsein, wie verschlungen die Wege der Menschen sind. Sagen Sie mir bitte: Haben Sie damals dafür gesorgt, daß die Verräterin Wang Kwei-fan verschwand?« Ich hätte mir denken können, daß ihm diese Frage seit unserem erneuten Zusammentreffen unter den neuen Umständen keine Ruhe ließ, er will genau wissen, was er von mir zu halten hat. Aber ich werde mich hüten, alle Karten mit einemmal aufzudecken, deshalb erwidere ich nur zurückhaltend: »Lieber Freund, ich habe Sie da mals gefragt, ob Sie eine Botschaft hätten, die ich übermitteln könnte. Sie hatten eine. Ich habe lediglich dafür gesorgt, daß sie au ßerhalb der Gefängnismauern gehört wurde, nicht mehr.« 262
Er lächelt. Sagt nichts weiter. Drückt meine Hand, dann geht er, die Thompson über der Schulter. Ich habe Kurierpost von Holly bekommen, ein versiegeltes Ku vert, das bei den Papieren steckte, die für Kellis bestimmt waren. Jetzt habe ich Zeit zu lesen. Da ist ein kurzer Hinweis von Holly, daß es in Jenan fünfzig Tage lang den sorgfältig vorbereiteten 7.Parteitag der KP-Chinas gegeben habe. Eine Analyse liegt bei, sie ist von einem Dixie-Mann verfaßt, der sich während der Veranstaltung einigermaßen informieren konnte. Dessen Schlußfolgerungen: Die Position Mao Tse-tungs in der KP-Chinas kann als absolut gesichert angesehen werden, obwohl seine alten Gegner weiterhin in der Partei und auch in der Führung arbeiten. Das neue Statut stellt Mao Tse-tung demonstrativ als geistigen Führer der KP-Chinas heraus. Die Partei nimmt stärker militante Züge an. Ein vorsichtiges Vortasten in Richtung auf die UdSSR ist unver kennbar. Die USA wurden auf dem Parteitag noch als >mögliche Verbündete < gesehen. Der Parteitag sprach sich für die >revolutionäre Lösung der chinesischen Frage< aus. Auf die politische Konstellation im Lande umgesetzt, bedeutet das die Vorbereitung zum Bürgerkrieg gegen die Kuomintang und deren Verbündete.
3.8.1945 Gegen Mittag wurden wir auf Flugzeuggeräusche aufmerksam. Kellis befahl uns, in Deckung zu gehen. Für diesen Zweck waren an der Hinterfront unserer >Villa< Löcher ausgehoben und getarnt worden, in sie sprangen wir, als sich das Geräusch näherte. 263
Nach einer Weile konnten wir die Maschine sehen, einen Doppeldecker. Kamasuki betrachtete sie lange durch das Fernglas, ehe er schließlich sagte: »Eine alte Kawasaki S-98. Ungefährlich.« Wir blieben trotzdem in den Löchern, bis der pummelige Doppeldecker mit dem ratternden Motor verschwunden war. Es war nicht nötig, die Japaner aufmerksam zu machen, daß sich in dem idyllischen Haus auf dem Adlergipfel Leben regte. Kellis machte sich lustig über das Maschinchen: »Ich dachte, den Typ hätten sie längst verschrottet!« Wie es schien, konnten die Japaner in der derzeitigen Situation selbst auf solche ausgedienten Stücke ihrer einstigen Luftmacht nicht mehr verzichten. Die Berichte, die uns über die Schlacht um Okinawa erreicht hatten, sprachen davon, daß sie dort selbst Sport flugzeuge für ihre Kamikaze-Angriffe auf unsere Träger eingesetzt hatten. Ich hatte genug Zeit, mich mit dem Report über den Jenaner Par teitag intensiv zu beschäftigen, so viel ist mir klargeworden: Mao Tse-tung hat seine eigene Machtposition in der Partei in einer Weise gestärkt, daß es für den Fall einer Annäherung an Moskau lediglich ihn als Partner gibt. Eine geschickte Taktik, die Sowjets werden das zu berücksichtigen haben, denn zweifellos sind die Jenaner entschlossen, sich Moskau anzunähern, nachdem ihre Gespräche mit uns keinen Erfolg gebracht haben. Sie haben oft genug durchblicken lassen, daß diese Hintertür für sie offen steht. Was die Teilnehmer von >Dixie< betrifft, so haben wir diese Andeutungen sehr wohl verstanden, nur Washington begriff nicht. Wie mir scheint, beurteilen die Jenaner die Lage höchst nüchtern, obgleich sich ihr Anspruch auf völlige Befreiung Chinas oberfläch lich etwas großsprecherisch ausnimmt. Aber sie spüren, daß es mit Japan zu Ende geht, und sie wissen, daß die Sowjets eingreifen wer 264
den. Für diesen Zeitpunkt rüsten sie sich. Dann werden sie ver mutlich demonstrativ ihre bisher kaum erwähnte >marxistische Gei stesverwandtschaft aus der Kiste holen und zusammen mit ihren Moskauer Genossen, den ungeliebten, in ganz Nordchina auf den Plan treten, um deren kaum in Frage stehenden Sieg über die japanische Gruppierung in der Mandschurei zu teilen und davon zu profitieren. Wäre das alles zu verhindern gewesen? Ich denke ja. Aber es hat keinen Sinn mehr, über vergebene Chancen zu trauern. Neue wer den sich eröffnen, vielleicht, es fragt sich nur wann. Ich fluche, als ich aus dem Deckungsloch klettere, weil ich meine frisch gewa schene Uniform beschmutzt habe. Während ich mir den Dreck ab klopfe, ruft Osborne, daß das Mittagessen in einer halben Stunde fertig sein wird: Büchsenfleisch mit Dauerbrot, dazu etwas, das auf dem Etikett der Büchsen als >Pudding< bezeichnet wird, das sich aber nach dem Erwärmen stets zu einer Substanz verwandelt, die an dünne Milch mit Himbeersaft erinnert. Nachdem wir gegessen haben, liest Kamasuki, der regelmäßig die Nachrichten aller möglichen Stationen abhört, uns das vor, was sich in den letzten Tagen auf der Welt ereignet hat. Eine Mischung, für
die
wohl zum Teil Kamasukis
Geschmack
bei der
Zusammenstellung verantwortlich ist: Amerikanische Soldaten im besetzten Deutschland dürfen jetzt >mit erwachsenen Deutschem Kontakt pflegen, allerdings nur auf Straßen und in öffentlichen Lokalen. — Admiral Halseys 3. Flotte beschießt das japanische Festland ohne Widerstand seitens der japanischen Marine. — 1500 Bomber haben japanische Städte angegriffen. Resultat: 126 Quadratmeilen Wohngebiete der größten Städte Japans existieren nicht mehr. — 265
In Potsdam, in der Nähe von Berlin, sind die > großen Drei< zu einer Konferenz über Fragen der Beendigung des Krieges und der Sicherung des Friedens in Europa zusammengetreten: Präsident Truman, der an Roosevelts Stelle getreten ist, Premierminister Churchill und Marschall Stalin. — In England wird inzwischen Churchill abgewählt, ein gewisser Clement Attlee ist der neue Premierminister. Er fliegt nach Potsdam und löst dort Churchill bei den > Großen Drei< ab. — Während der Potsdamer Konferenz ergeht — unterzeichnet von Truman, Churchill und Tschiang Kai-shek — die Aufforderung an Japan, bedingungslos zu kapitulieren. Eine Weigerung hätte >die sofortige und völlige Zerstörung Japans < zur Folge. — »Der Krieg brennt aus«, sagt Kellis gelassen. Er ist überhaupt ein ruhiger, besonnener Mann, was man nicht sogleich vermutet, wenn man zum ersten Mal mit ihm zu tun hat. Nach und nach entpuppt er sich als jemand, der nicht allein das Kriegshandwerk unter den Be dingungen des Kommandoeinsatzes beherrscht — er verfügt über eine erstaunliche politische Bildung. Während wir am späten Nachmittag im kurzen, verdorrten Gras vor unserer Behausung liegen und uns faul die Sonne auf die Haut scheinen lassen, meint er: »An die Stelle der großen Feuer werden die kleinen treten. Indien ist reif für einen Aufstand, auf den Philip pinen gärt es, die Holländer haben Ärger mit ihren Insulanern, die Engländer mit den Burmesen — es sieht so aus, als ob wir einer Pe riode der Rebellionen entgegengehen. Kolonien, die keine mehr sein wollen. Rebellen, die meistens rot sind. Das Signal für neue Konflikte ist bereits gezogen ...« »Und in China gibt's Bürgerkrieg«, füge ich an. Er nickt. Stimmt mir zu. Er hat sich relativ schnell mit den politischen Verhältnissen hier vertraut gemacht. 266
»Gibst du Tschiang Kai-shek eine Chance?« will er von mir wis sen. Ich antworte prompt: »Wenn die Roten sich mit den Sowjets zusammentun, bleibt Tschiang nur noch die Kapitulation, jedenfalls auf lange Sicht.« »Und wenn wir intervenieren?« »Gegen die Russen?« Er verzieht das Gesicht, denkt lange nach, dann sagt er: »Das wäre die eine Möglichkeit. Nicht sehr angenehm, daran zu denken. Aber es heißt, wir sind uns mit den Russen einig, daß die Nach kriegsprobleme Chinas möglichst nicht in einen Bürgerkrieg aus ufern sollen, wir unterstützen ihren Wunsch, die beiden Widersa cher zu Vereinbarungen zu bringen ...« Es ist möglich, daß das gelingt. Aber das kann heute noch nie mand genau beurteilen. Ich glaube aus meinen Erfahrungen heraus nicht daran, daß Mao Tse-tung sich auf lange Sicht damit abfinden wird, die Macht mit Tschiang Kai-shek zu teilen. »Wir können ein bißchen nachhelfen«, meint Kellis. »So daß Tschiang Positionen bekommt, die seine Seite stärken.« »Wie ich die Kuomintang beurteile, wird sie auch diese Positio nen wieder verspielen. Der Grundfehler Tschiangs ist, daß er Mao für einen Primitivling hält, der leicht auszutricksen ist. Er täuscht sich. Wenn es um Schläue geht, wird Mao den Generalissimo aus tricksen, soviel habe ich in Jenan begriffen.« »Und das heißt, letztlich würden wir auf der Seite des Verlierers stehen?« meint Kellis düster. Ich widerspreche ihm nicht, es ist das, was ich befürchte. Abends bringt Chang Wen uns frisches Ziegenfleisch herauf. Os borne hat Zeit, also macht er sich daran, den Braten herzurichten, und wir hören Radio, sitzen da, unterhalten uns, essen dann unmäßig viel, so daß auch Chang Wen meint, am liebsten würde er 267
sich gleich hinter einen Busch legen, eingerollt wie eine verdauende Schlange. Als die Zeit für den Funkkontakt gekommen ist, rudert Maloney plötzlich wild mit den Armen und schreit: »Runter, los! Maschine in dreißig Minuten! Eine Person mit Sonderauftrag!« Es ist Holly. Die Maschine zog nur einen Kreis, während wir mit unseren Lampen blinkten, dann spie sie das dunkle Bündel aus, das bald an der Glocke des entfalteten Schirms niederschwebte. Der ferne Donner der Motoren war noch nicht verklungen, als wir Holly bereits halfen, die Gurte abzustreifen. Wir stiegen aufwärts, für den Rest der Nacht gab es Gespräche über das, was nun wohl von uns verlangt werden würde. Holly hielt sich mit Voraussagen zurück. »Wir warten. Über Funk wird der Befehl für die nächste Aktion kommen. Bis dahin ordne ich allgemeine Alarmbereitschaft an. Waffen und Ausrüstung griffbereit, Uniform wird nicht abgelegt.« Er führte ein Gespräch mit Chang Wen, über dessen Inhalt er keine Mitteilungen an uns machte. Chang Wen verschwand, und Holly wies uns an auszuschlafen. Erst am späten Vormittag des 4. August nahm er mich beiseite. Aus einem der Behälter, der kürzlich abgeworfen worden war und den wir wegen seiner Beschriftung >Aufbewahren, erst auf Sonder befehl öffnen! bisher verschlossen gelassen hatten, nahm Holly nun zuerst einen Zivilanzug, den ich sogleich anzuprobieren hatte. Er paßte. Auch die Hemden waren in meiner Größe geliefert worden, Halbschuhe, ein leichter Mantel und einige andere Stücke. »Deine neue Ausrüstung«, erklärte Holly mir schmunzelnd. »Und nun setz dich, ich habe dich zu instruieren.« Eine Stunde später weiß ich, daß mein weiterer Aufenthalt in China sich in Zivil abspielen wird. Ich bin weder aus dem OSS ent lassen, noch hat sich an meinem Dienstgrad etwas geändert, ich bin 268
einfach zum Zivilisten geworden. »Privatgelehrter wirst du sein«, verkündete Holly mir grinsend. »Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Gewöhne dich an entspre chende Umgangsformen. Army und OSS wirst du nicht mehr ken nen. Die Bedingungen haben sich einschneidend geändert. Alle OSS-Teams, die wir bis hinauf in die Mandschurei zum Einsatz ge bracht haben, lauern dort auf die japanische Kapitulation. Wir ope rieren ab sofort offiziell im Kontext mit der Kuomintang. Da oben sozusagen als Quartiermacher, anderswo in anderer Eigenschaft. Regierungspolitik, mein Junge, nichts daran zu ändern. Nur für dich sieht die Sache etwas anders aus. Wir arbeiten auch für übermorgen, ohne viel darüber zu reden, in diesem Falle reden wir überhaupt nicht darüber, nicht einmal mit der Regierung. Also: die japanische Kapitulation ist für dich bereits Nebensache. Du wirst in Peking etabliert, als respektabler Privatmann, ohne die geringsten Kontakte zu uns, und von da an wartest du, bis Kang Sheng wieder Kontakt zu dir aufnimmt. Von unserer Seite werden wir für Kontakterhaltung ohnehin sorgen. Klar?« Es war mir absolut nicht so klar, wie Holly vermutete, und ich hatte eine Menge Fragen: »Weiß Kang Sheng, wo ich bin?« »Er bekommt sogar deine Hausnummer.« »Und was habe ich zu tun?« »Gar nichts, soweit es uns betrifft. Vorläufig jedenfalls. Du bist ein privater Resident amerikanischer Abstammung mit Kenntnissen der Landessprache und ausgeprägtem Faible für chinesische Kunst und
Literatur
in
Peking.
Du
gründest
einen
Hausstand,
meinetwegen kannst du dir eine Tai-tai nehmen und Kinder zeugen, nur über Amerika hast du ab sofort eine Meinung, die sich nicht mehr mit der eines loyalen Staatsbürgers deckt, daher bleibst du in China ...« 269
»Und das sollen mir die Chinesen abnehmen?« Ich mußte lachen. Aber Holly blieb ernst. »Die Chinesen — die gibt es nicht. Solange Tschiang Kai-shek in Peking das Sagen hat, sind auch wir da. Anruf genügt, und wir brin gen alles in Ordnung, was dich drückt. Und wenn er ... nun, sagen wir, wenn Old Tschiang eines Tages mal nicht mehr da ist ...« »Du meinst, wenn die Roten zum Zuge kommen?« Er wiegte den Kopf. »Wenn du Hurley fragst, passiert das nie. Wenn du mich fragst und die Leute, die sich das mit dir ausgedacht haben, ist es eine Frage der Zeit.« »Bürgerkrieg?« Es kann sogar ein großer Krieg werden, das ist noch nicht her aus.« »Und da sitze ich in Peking. Privatgelehrter!« »So ist es«, sagte er seelenruhig. »Du wirst in jedem Falle sicher sein wie in Abrahams Schoß. Niemand wird dir etwas tun. Solange wir da sind, nicht, und nach uns kann nur Kang Sheng kommen — was du dann zu tun hast, erfährst du früh genug. Spätestens von ihm selbst. Klar?« Ich hatte noch unzählige Fragen, aber ich hob sie mir für später auf. Immerhin hatte Hollys Planung etwas, das mich reizte. Also sagte ich erst einmal Ja, und Holly umarmte mich vor Freude, worauf wir eine Flasche echten >Old Crow< austranken und dann umfielen. Zwei Tage später merkten wir, daß der Funker an seinem Gerät eine offenbar sehr wichtige Meldung mitschrieb. Es dauerte lange. Das Ergebnis war eine nüchtern abgefasste Nachricht, von der wir nur vage ahnten, daß sie den Lauf der Weltgeschichte verändern würde. 270
6. August 1945. Präsident Truman: Statement
Vor sechzehn Stunden hat ein Flugzeug der Vereinigten Staaten eine Bombe auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen, einen wichtigen Stützpunkt der japanischen Armee. Diese Bombe hatte mehr
Sprengkraft
als
die
Menge
von
20
000
Tonnen
herkömmlichen TNTs. Es handelte sich um eine Atombombe, sie verkörpert die geballte Energie des Universums ... (atmosphärische Störungen) ... Wir haben zwei Billionen Dollar in das bedeutendste wissen schaftliche Unternehmen der Geschichte investiert, und wir haben Erfolg gehabt. Die große Errungenschaft ist jedoch weder der Um fang des Unternehmens, noch seine Geheimhaltung oder seine Ko sten, sondern vielmehr die Zusammenfassung der Kenntnisse und Fähigkeiten von Wissenschaftlern der verschiedensten Disziplinen für ein gemeinsames Ziel... (atmosphärische Störungen) ... Die Tatsache, daß der Mensch die Energie des Atoms entfes seln kann, eröffnet eine neue Ära des Wissens um die elementaren Kräfte der Natur. Mit der Bombe haben wir die Möglichkeiten der Zerstörung auf eine revolutionäre Weise erhöht... (atmosphärische Störungen) ...
Aufzeichnungen 7.8.1945 Wir Sitzen auf der Veranda und warten. Vic Maloney, der Funker, dreht an den Knöpfen des Radios, lauscht, ganz gespannte Aufmerksamkeit. 271
Irgendwann verkündet Maloney, in Hiroshima gäbe es jetzt da, wo einmal die Häuser standen, eine etwa vier Quadratmeilen große, absolut ebene Fläche. Ein Drittel der Bevölkerung wird als tot gemeldet, die Zahl der Verletzten ist unübersehbar, es herrscht Chaos. Wir versuchen, uns das vorzustellen. Es erscheint unfaßbar. Jedenfalls ist das Ende des Krieges nahe. 8.8.1945 »Die Sowjets haben den Japanern den Krieg erklärt!« ruft Maloney uns zu, dann schiebt er den Kopfhörer wieder über die Ohren. Holly nickt bedächtig. »Jetzt entscheidet sich die Zukunft Asiens ...« Osborne bringt eine Flasche, will aus Anlaß der Neuigkeit die Gläser füllen. Aber Holly winkt ab. »Laßt das. Es kann buchstäblich jede Sekunde losgehen ...«
•
Draußen, auf der Veranda, sitzt Chang Wen. Zwei seiner Guerillas liegen im Schatten der Büsche und schlafen. Chang Wen hat mit Holly darüber gesprochen, daß alle Vorbereitungen getroffen sind, aber ich weiß nicht, welcher Art Vorbereitungen. Werde es früh genug erfahren, versichert mir Holly. 9.8.1945 Der Funker fängt erste Meldungen über Kampfhandlungen in der Mandschurei auf. Danach sind sowjetische Truppen mit zwei Stoß keilen, die sich zu einer Zangenbewegung entwickeln werden, be reits mehr als 15 Meilen über die vordersten japanischen Linien vorgedrungen. Holly schüttelt den Kopf. »Das ist nun die gefürchtete Kwantung-Armee!« Ich sage: »Die Russen machen Kleinholz daraus ...« Aber Holly,
mürrisch,
knurrt
bloß:
»Zu
schnell,
Junge,
zu
schnell ...« Radio Tschungking meldet, rote Truppen unter dem Befehl Tschu Tehs bewegen sich aus dem Jenaner Gebiet 272
nordwärts. Das überrascht uns nicht. Dann, plötzlich, horcht der Funker an seinem Gerät angestrengt, springt auf und verkündet: »Eine zweite von diesen neuen Bomben! Diesmal auf Nagasaki!« Am Abend erfahren wir, daß es auch in dieser einstmals bedeutenden Metropole im Westen Kyuschus lediglich noch Trümmer, Tote und Chaos gibt. Holly trommelt ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch der Veranda. Eine ruhige, sehr warme Nacht. Bei der geringsten Bewegung bricht uns der Schweiß aus. Wir schlafen unruhig, während Maloney und Kamasuki sich am Funkgerät ablösen.
10.8.1945 Angeblich hat Japan um Frieden gebeten. Maloney fängt die ob skure Station, die das meldet, nur für Sekunden ein. Der Meldung zufolge soll Japan die Bitte geäußert haben, den Gottkaiser Hirohito behalten zu dürfen. Holly ist nervös wie immer in den letzten Tagen. Er fiebert dem Ende des Krieges entgegen. Aber es ist nicht nur das, was ihn nervös macht. Für uns steht mehr auf dem Spiel. Ich ahne, was Holly drückt, als ich sein Gesicht beobachte, während der Funker meldet, die Sowjets seien bereits tief hinter den japanischen Befestigungslinien, Amur und Ussuri seien von ihnen überschritten.
11.8.1945 Funkspruch an Kellis aus Sian. Er hält eine kurze Beratung mit Holly ab, dann baut Maloney das Funkgerät ab, uns bleibt lediglich das batteriebetriebene Radio. Kellis, Osborne, Kamasuki und Maloney verlassen den Adlergipfel.. Sie nehmen Waffen und Munition mit, außer dem 273
Funkgerät. Chang Wen holt sie ab, zusammen mit einigen seiner Männer, die das Gepäck tragen. Bevor sie gehen, ruft Kellis Holly und mir zu: »Ich sehe euch in Peking!« Nachdem sie verschwunden sind, verrät Holly mir, Chang Wen und seine Leute hätten Kontakt zu einer Einheit der ehemaligen Wang-Tsching-wei-Truppen in der Stadt, diese wären von den Japanern bisher zu Wachdiensten verwendet worden, jetzt aber seien sie bereit, den Amerikanern gegen die Japaner zu helfen. »Die Jungens werden stillschweigend in der Stadt untertauchen«, sagt Holly. »Sie werden als erste da sein, wenn der japanische Kommandeur Schluß macht...« Spätabends höre ich im Radio die Meldung eines von der Army betriebenen Senders in Manila. Es heißt, nach Konsultationen der Alliierten sei den Japanern mitgeteilt worden, Hirohito dürfe vorläufig auf seinem Thron bleiben, er unterstünde jedoch nach der Kapitulation
dem
Oberkommandierenden
der
Alliierten
Besatzungstruppen. Wir schlafen kaum. Plötzlich ist es unheimlich auf dem Adlergipfel. Wir wissen nicht, ob es unten am KuanyinTempel noch rote Guerillas gibt. Die Zikaden veranstalten ein ohrenbetäubendes Konzert in der Mittsommerhitze. Beide sind wir froh, als der Himmel nach der kurzen Nacht sich im Osten grau färbt.
12.8.1945 Einer der Männer Chang Wens klettert zu uns herauf und teilt uns mit, Kellis und sein Team seien wohlbehalten in Peking angelangt. Wir bewirten ihn mit Büchsenfleisch und Brot, er trinkt etwas von unserer GI-Limonade, dann geht er wieder abwärts, verspricht
aber,
uns
weitere 274
Botschaften
Kellis'
sofort
weiterzuleiten. Im übrigen sei der Adlergipfel nach wie vor sicher, am Kuanyin-Tempel befände sich der größte Teil von Chang Wens Abteilung.
14.8.1945 Wortlaut des Freundschafts- und Bündnisvertrages wird verlesen, der soeben zwischen der Republik China und der UdSSR in Mos kau unterzeichnet worden ist, und zwar von den jeweiligen Außen ministern Molotow und Wang Shih-tschieh. Ich kann sehen, wie Holly bei dieser Mitteilung aufatmet. Wäh rend wir beide an dem kleinen Empfänger sitzen, jeder einen der beiden Kopfhörer am Ohr, sagt Holly: »Das gibt uns Luft, Junge! Sie haben sich tatsächlich an die Abmachungen der Alliierten gehalten. Man lernt nie aus ...« Ich überlege, wie Mao Tse-tung diese Nachricht aufnehmen wird. Mit Holly bin ich mir einig, daß der Parteitag von Jenan ziemlich unverschleiert die Weichen in Richtung Bürgerkrieg gestellt hat. Nun aber würde Mao, wenn er tatsächlich Ernst macht, die Sowjets kaum zum Verbündeten haben ... Als der Text verlesen ist, sind wir uns darüber klar, daß er einige Artikel enthält, über den Beistand im Kampf gegen Japan etwa, die bereits von der Geschichte überholt sind. Interessant ist der Artikel, in dem sich beide Parteien verpflichten, keine Bündnisse und keinerlei
Koalitionen
einzugehen,
die
sich
gegen
eine
Vertragspartei richten. Es folgen Absätze über Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit, gegenseitige Hilfe beim Wiederaufbau sowie über die Achtung der gegenseitigen Souveränität und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des Partnerstaates. »Das ist die Entscheidung«, sagt Holly, als der gesamte Text 275
verlesen ist. »Deutlicher konnten die Sowjets nicht ausdrücken, daß sie nicht an einem Bürgerkrieg in China interessiert sind, sondern an nationaler Versöhnung. Mao wird mit Tschungking verhandeln müssen ...« Ich bezweifle, daß er das tun wird, aber Holly widerspricht mir lachend: »Natürlich wird er! Er braucht Zeit! Und er wird solange verhandeln, bis seine Karten in diesem gottverdammten Poker besser liegen ...« Wie zur Bestätigung dessen, was Holly vorausgesagt hat, gibt Tschungking noch am späten Abend bekannt, Generalissimus Tschi-ang Kai-shek habe Mao Tse-tung zu politischen Gesprächen über die Zukunft Chinas nach Tschungking eingeladen. — Noch in derselben Nacht donnern die ersten schweren Transport maschinen der Air Force, von Südwesten her kommend, über den Adlergipfel hinweg. Peking scheint ihr Ziel zu sein. Wir lauschen auf der Veranda dem Motorenlärm, und Holly meint, es müßte eigentlich jetzt bald einmal etwas geschehen. Spöttisch prüft er, wie mir der Zivilanzug sitzt. Er ist zufrieden. Ehe sich einer von uns zum Schlafen hinlegen kann, erscheint Chang Wen plötzlich bei uns. Er ist müde, aber seine Augen leuch ten freudig, als er uns informiert, Major Kellis habe am Abend die formelle Kapitulation des japanischen Generalstabes für Nordchina entgegengenommen. »Der alte Grieche«, Holly lachte. »Er wird noch in die Weltge schichte eingehen, während wir hier herumsitzen!« Wenig später entscheidet er, daß Chang Wen uns am nächsten Vormittag nach Peking bringen soll. Der nickt nur und erklärt: »Keine Schwierigkeit. Ich habe vorge sorgt. An der Thermalquelle von Wen Tschuan steht ein requiriertes japanisches Auto für uns bereit!« 276
30.9.1945 Vor einer Woche nun schon saß ich mit Holly zusammen an einem reich gedeckten Tisch im Innenhof meines Hauses. Es war die herbstliche Tag- und Nachtgleiche, nach dem alten chinesischen Mondkalender der neunte Tag des achten Monats. Man nennt das Fest >Tschong Djiu<, und es ist kein lärmendes Fest, wie man es etwa im Frühjahr hat, eher ein besinnliches, mit gutem Essen, philo sophischen Gesprächen; über alles gießt ein unglaublich naher, fast greifbar erscheinender, orangefarbener Vollmond sein Licht. Wir tranken Tee und aßen die traditionellen >Yü Bing< dazu, süße, runde, manchmal mit Fleisch oder Nüssen gefüllte Kuchen, die an diesem Tage überall angeboten werden. Mein Koch, Lao Wu, hatte sie mit seiner Frau zusammen selbst gebacken. Die Wu Tai-tai war aus Anlaß des Festes in eine Art Sauberkeitswut verfallen, hatte jeden Winkel im Hause gefegt und gewischt, die Fenster geputzt und schließlich den Tisch gerichtet, für mich und meinen einzigen Gast. Nun war ich also ein rechtmäßiger Einwohner der Stadt! Das alles war ziemlich still und ohne Aufsehen arrangiert worden. Einige Tage hatte ich in dem nun von Japanern geräumten >Grand Hotel de Peking< verbracht, in dem auch Kellis' Kommando zeitweilig residiert, inzwischen war Holly mit Chang Wen in der Stadt unterwegs gewesen und hatte mit dessen Hilfe ein Haus für mich gekauft, das mir auf Anhieb nicht nur gefiel, sondern für mich buchstäblich den Inbegriff chinesischer Wohnkultur darstellte. So wohnte ich, noch bevor General MacArthur die offizielle Kapitulationsurkunde mit den Japanern austauschte, bereits in der Ping Tjiao Hutung 4, außerhalb des alten Stadttores Tjien Men, südlich der arg verfallenen Stadtmauer. Diese nicht sehr breite Gasse ist gesäumt von grauen Lehmziegelmauern, hinter denen sich 277
überfüllte, vereinzelt allerdings auch komfortable Wohnstätten wie die meine verbergen, was kein Mensch für möglich hält, bevor er nicht durch das rotlackierte Eingangstor Zugang gefunden hat: zum Vorhof mit den Quartieren der Bediensteten, zum großen Innenhof, der durch eine runde Öffnung in einer Glasurziegelwand betreten wird, zu dem geräumigen Haus, um dessen riesigen Wohnraum sich nach allen Himmelsrichtungen /immer gruppieren. Nebengebäude schließen sich an, in denen sich Küche und Bad befinden, Aufbewahrungskammern für dies und jenes, eine Heizanlage und eine selbst nach amerikanischen Begriffen vorbildliche Toilette, einschließlich Bidet! Sogar über ein Telefon verfüge ich. — Holly brauchte mich nicht lange zu überreden. Für jeden, der China kannte, war dies ein Paradies, ich sagte sofort ja. Der Erwerb war einfach, das Haus hatte einem Kollaborateur gehört, dem Inha ber eines Tanzlokals aus Hongkong, der während der japanischen Besatzung in Peking ein Etablissement für Offiziere betrieben und wohl nur zeitweise hier gewohnt hatte. Es war von der neuen Stadtverwaltung enteignet worden, als der Besitzer sich wieder in Richtung Hongkong davonmachte, wohl um Unannehmlichkeiten zu entgehen, die er mit den neuen Behörden haben könnte, und vor denen er in Hongkong gewiß sicherer war. Den Preis blätterte Holly in großen Dollarnoten auf den Tisch des chinesischen Beamten, der mit
einer
für
Kuomintang-Bedienstete
unglaublichen
Geschwindigkeit meine Besitzurkunde ausfüllte und gleichzeitig das Geld verschwinden ließ, mit ziemlicher Sicherheit in die eigene Tasche. Chang Wen hatte inzwischen Lao Wu aufgetrieben, einen ehema ligen Koch in einem kleinen Restaurant, samt seiner Frau, zwei verlässliche Leute, die sich glücklich schätzten, bei einem (der siegreichen) Ausländer angestellt zu werden. Als alles geregelt war 278
und als ich das Haus binnen zweier Tage aus den Beständen eines verstaubten Magazins möbliert hatte, zog sich Chang Wen wieder in die Gegend des Adlergipfels zurück. Es war den roten Abteilungen nicht gestattet, sich in den Städten aufzuhalten, hier übte die schnell aus dem Süden herangeflogene Beamtenschaft der Kuomintang die Macht aus, und einige tausend amerikanische Marines wachten darüber. Also versprach Chang Wen, irgendwann einmal wiederzukommen, nun sei ja der Krieg vorbei, und im übrigen habe sich Mao Tse-tung doch entschlossen, nach Tschungking zu Verhandlungen zu fliegen — es sähe so aus, als würde sich die Lage im Lande nach und nach normalisieren. Ich glaubte ihm das nicht ganz, denn wie so oft, war ich besser informiert: Mao hatte seine Truppen bereits nach dem Norden in Marsch gesetzt, sie okkupierten dort, wo die Sowjets sich auf die Kontrolle der größeren Städte beschränkten, bereits weite ländliche Gebiete und bauten sie zu Stützpunkten aus, gemäß der von Mao bereits in Jenan so oft verkündeten Taktik, daß man die Städte vom Land aus einkreisen müsse. Tschiang Kai-shek hatte das Fernziel dieser Operation fraglos erkannt, er hatte die UdSSR bereits gebeten, ihre ursprünglich auf drei Monate vorgesehene Be satzungszeit in den mandschurischen Provinzen um vorerst weitere drei Monate zu verlängern: die Kuomintang hatte Transportprobleme, sie konnte trotz unserer Hilfe ihre Behörden und Truppen nur langsam in die nördlichen Gebiete umverlegen. — Eigentlich war dieses Herbstfest für Holly und mich eher ein trauriger Anlaß. Einige Zeit hatte ich in meinem neuen Heim faul dahingelebt (eine ganze Kammer steckte voller PX-Verpflegung!), hatte mich mit der Einrichtung beschäftigt, kleine Reparaturen ausführen
lassen,
ein
paar
vorsichtige
Spazierfahrten
mit
spottbilligen Rikschas durch die Stadt unternommen, um mich 279
wenigstens oberflächlich mit ihr vertraut zu machen, da war das Fest gekommen, und Holly, mit etwas Schnaps, ein paar Stangen Zigaretten, mit einer Kassette voller alter Gold- und Silbermünzen, die er mir in die Hand drückte (»Kriegsbeute, du wirst es brauchen können!«), und einer Miene, die nichts Erfreuliches verhieß. So zauberhaft der Mond war, so würzig der mit Jasmin gebrühte Tee, so süß die Mondkuchen — wir kamen uns beide plötzlich vor wie verwaiste Kinder. »Ich muß dir eine betrübliche Mitteilung machen«, begann Holly, »wir haben kein Dach mehr über dem Kopf. Am 20. September hat Präsident Truman das OSS aufgelöst. Er soll dabei inoffiziell geäußert haben, er lege keinen Wert auf eine NachkriegsGestapo. Ein Slogan übrigens, den Hoover vom FBI erfunden hat, für uns, obwohl er auf seinen Laden weit besser passen würde.« Ich mußte das erst eine Weile verdauen. Dann erkundigte ich mich noch einmal: »Aufgelöst? Tatsächlich?« »OSS existiert offiziell nicht mehr, mein Junge. Ich fliege morgen früh über Tokio in die Staaten zurück. General Magruder, Donovans
Stellvertreter,
ist
mit
der
Abwicklung
des
Auflösungsjobs beauftragt, bei ihm habe ich mich zu melden.« »Und Kellis?« »Magruder hat verfügt, daß er vorläufig bleibt. Sein Kommando läuft ab sofort unter der Bezeichnung >US-Kommission für die Repatriierung von militärtechnischem Personals Aber das braucht dich nicht zu interessieren, du hast ohnehin nichts mehr mit ihm zu tun.« »Das heißt, ich bleibe hier für mich allein, habe keine Vorgesetz ten mehr, stehe auf keiner US-Lohnliste und kann gottverdammt zu sehen, wie ich mich durchs Leben schlage?« Er zuckte die Schultern. Dann unterhielten wir uns lange Zeit, 280
während der Mond gravitätisch über den klaren Himmel wanderte, und ich erfuhr nach und nach, was eigentlich geschehen war. Holly kam aus Tokio, wo er einige Tage beim Stab MacArthurs zu tun ge habt hatte, und dort hatte er auch John Service getroffen. Einiges war vor sich gegangen, schon in den Sommermonaten, wovon wir keine Ahnung gehabt hatten, und nun begannen für uns Konsequen zen spürbar zu werden. Da gab es in Washington die geopolitische Zeitschrift >Amerasia<, ein Blatt, dessen allgemeine Tendenz sich deutlich gegen Tschiang Kai-shek richtete, immer schon, ohne je doch etwa kommunistisch zu sein. Immerhin sagte man einigen Re dakteuren plötzlich kommunistische Ambitionen nach, was wohl darauf zurückzuführen war, daß die >Amerasia< in der Frage, mit wem die USA in China paktieren sollten, deutlich den Kommunisten den Vorrang gegeben hatte. Holly vermutete, daß die Affäre, die sich explosionsartig um das Blatt entwickelte, auf eine Falle zurückging, die Tschiang Kai-shek über seine Lobby in den Staaten geschickt aufgebaut hatte, um die öffentliche Meinung von den Sympathien für Mao Tse-tungs Experiment abzubringen. Er erinnerte sich daran, daß Barrett ihm einmal mitgeteilt hatte, er habe den Verdacht, alles, was John Service an Berichten zum State Department schicke, werde in unmittelbarer Nähe des Präsidenten von irgendeiner Person eingesehen, die mit Tschiang Kai-shek Informationen austausche. Im März erstattete jemand, der offenbar vom FBI vorgeschickt worden war, bei Donovan Anzeige, die >Amerasia< würde Geheimdienstmaterial
veröffentlichen.
Zunächst
war
dieser
Vorwurf noch nicht öffentlich erhoben worden, aber FBI-Hoover, ohnehin ein Rivale Donovans, der seine Position als >oberster Aufklären durch OSS bedroht sah, schaltete sich nun offiziell ein, und es kam zu einem nächtlichen Einbruch in die Redaktionsräume 281
der >Amerasia<, wobei angeblich Hunderte von Top-SecretDokumenten gefunden wurden, das meiste davon stammte von Service in Jenan. Die Ermittlungen zogen sich über eine lange Zeit hin. Wie erst jetzt bekannt wurde, war Botschafter Hurley davon informiert, daß auch >Dixie< angeblich in den Fall verwickelt war. Im Sommer gelangte die Affäre dann in die Zeitungen, eine Vernehmung folgte der anderen, auch John Service wurde peinlichen Verhören unterzogen. Tenor der gesamten Aktion, an der die konservativsten Leute aus State Department, Kongreß und Justiz mit geradezu missionarischem Eifer arbeiteten: im State Department und im OSS haben sich Kommunisten eingenistet, die die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten gefährden. »Das riecht nach Hochverrat!« sagte ich. Holly nickte. »Das tut es.« Für die Dauer der Ermittlungen, bis zur Abhaltung des Prozesses, dessen Ergebnis Holly erst gestern vor seinem Abflug aus Tokio er fahren hatte, waren alle Beteiligten zeitweilig vom Dienst suspendiert worden, auch Service. Diesen hatte das State Department jedoch bereits im Juli wieder einstellen müssen, da eine Zwischenentscheidung
des
Distriktsgerichts
Columbia
ihm
bescheinigen mußte, daß die Berichte, die aus seiner Feder stammten und die >Amerasia< benutzt hatte, keinen Verrat von Dienstgeheimnissen im Interesse einer fremden Macht darstellten. Er war sogleich auf einen Posten in Tokio abgeschoben worden. Nun hatte das Distriktsgericht Columbia auch das endgültige Urteil gefällt, und das lief ebenfalls weder auf Spionage noch auf Geheimnisverrat
hinaus,
sondern
lediglich
auf
solche
Minimaldelikte wie Verletzung der Dienstpflichten. Es verhängte einige geringfügige Geldstrafen und stellte im übrigen fest, daß sich die Veröffentlichungen in der >Amerasia< im Rahmen der 282
gesetzlich verbürgten Informationsfreiheit bewegten. Soweit war die Geschichte juristisch beigelegt. Aber sie hatte eben alle üblichen, durch Pressekampagnen dieser Art hervorgerufenen Nebenerscheinungen: die China-Abteilung des State Departments stand in dem Ruf, mit Kommunisten durchsetzt zu sein, die mit Mao Tse-tung paktieren wollten und damit die antikommunistische Grundkonzeption der Vereinigten Staaten verrieten. OSS erschien als eine Verschwörung linker Intellektueller, und besonders seine China-Sektion bestand, wenn es nach der Meinung einer Meute konservativer Senatoren und Journalisten ging, aus instinktlosen, irregeführten, im schlimmsten Falle geistesverwandten Verehrern des Weltkommunismus. »Haben wir denn eine so massive antikommunistische Welle bei uns zu Haus«, fragte ich Holly, »nachdem die Russen immerhin un sere jahrelangen Verbündeten waren?« Holly antwortete bedächtig: »Wir haben da einen Umschwung, Junge. Kein Zweck, es zu leugnen. Die Russen haben Stärke gezeigt, anstatt sich in dem Krieg aufzureiben. Sie sind ernst zu nehmen, gerade der Krieg hat ihre Schlagkraft erwiesen. Das Märchen vom inneren Zusammenbruch des Sowjetsystems liegt in Berlin begraben. Daheim bei uns hat das bei den Leuten, die unsere Allianz mit den Russen ohnehin immer als fragwürdig betrachtet haben, neue Widerstände ausgelöst. Dazu kam die Atombombe. Mit diesem unheimlichen Ding hat sich Amerika von Grund auf verändert. Mit dieser Bombe können wir jeden Gegner binnen einiger Stunden zerstören, restlos, die Bilder von Hiroshima und Nagasaki beweisen es. Solch eine gewaltige Vision beeinflußt das Denken vieler Leute zu Hause auf eine ganz eigenartige Weise: sie sehen im Kommunismus, zumal er sich gegenwärtig schon in Osteuropa ausbreitet, den potentiellen Gegner der Zukunft. Warum 283
nicht ihn präventiv mit Atombomben ausschalten, heute schon? Warum ihn nicht mit der Waffe unter Druck setzen, zu Konzessionen zwingen? Du wirst zugeben müssen, solche Vorstellungen sind nicht von vornherein als absurd abzutun, es stecken Überlegungen dahinter, Zukunftsprojektionen. Und hier sind wir bei dem Problem des chinesischen Kommunismus: es gibt für die Mehrzahl der Leute zu Hause, die politischen Einfluß haben, keinen Unterschied mehr zwischen dem Kommunismus Maos und dem Stalins. Das Wort Kommunismus genügt, und du hast keine Gesprächspartner mehr, selbst bei größter Mühe um Sachlichkeit. Kommunismus — das ist etwas, das wir zerschlagen müssen. Gut. Wir beide würden uns vermutlich auch wohler fühlen, wenn es ihn nicht gäbe — nur: wir wissen um die Unterschiede, und wir trauern um die grandiosen strategischen Chancen, die hier vergeben werden, nur weil ein Reizwort undifferenziert zu wirken begonnen hat ...« »Glaubst du«, fragte ich, »daß wir im Falle eines Bürgerkrieges Tschiang Kai-shek retten können?« Er bezweifelt es. Er weiß wie ich, daß uns, wenn wir das ernstlich versuchten, ein kräftezehrender Landkrieg in China bevorstünde. Gegen Mao Tse-tung, der eigent lich gern unser Verbündeter sein würde und dem bei einem Eingrei fen amerikanischer Truppen gegen die Kommunisten sicherlich Moskau beistehen würde. Eine schizophrene Konstellation. »Weltkrieg Nummer drei«, sagte Holly düster. »Die Russen wis sen genau, weswegen sie Tschiang und Mao lieber am Verhand lungstisch hätten als im Schützenloch. Und wir werden, wenn ich mich nicht sehr irre, am Ende nicht im Sinne der Brandredner da heim entscheiden, sondern unter Anwendung unserer Vernunft. Wir müssen nämlich eins bedenken, und das bedenkt zu Hause in dem augenblicklichen Freudentaumel über die Bombe niemand: eine 284
solche technische Entwicklung kann nie allein unser Privileg bleiben. Die Russen haben die Potenzen, unvermutet schnell mit uns gleichzuziehen. Dann gnade uns Gott, wenn wir sie zum Gegner haben ...« Das alles änderte nichts daran, daß wir sozusagen ohne Job wa ren. Holly versuchte zwar, mich zu beruhigen: »Zunächst wird man uns dem Kriegsministerium unterstellen, wenn ich mich nicht irre. Ich habe das aus Andeutungen in Tokio entnommen. Das wird uns Zeit geben, unsere Kräfte neu zu formieren. Seit dem vergangenen Herbst liegt dem Präsidenten ein Vorschlag von Donovan vor, über einen kombinierten Abwehr- und Aufklärungsdienst in der Nach kriegszeit, eine völlig unabhängige, nur dem Präsidenten rechen schaftspflichtige Organisation. Haben wir die, dann können die ge eigneten Leute darin insofern Politik machen, als sie ganz ohne Aufsehen Tatbestände schaffen, die den Präsidenten in Zugzwang bringen. Aber vorerst läuft Hoover noch Sturm dagegen. Immerhin — auch der FBI-Chef hat politische Gegner, wir werden sie in aller Stille sammeln. Wenn alle unsere guten Leute von ihren bisherigen Posten im Ausland nach Hause zurückkehren, haben wir binnen kurzer Zeit eine Macht beisammen. Dann sind wir wieder da, Junge!« Lao Wu erschien, aus der Küche kommend, gemessenen Schrit tes, von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, eine Platte tragend, auf der ein besonders kunstvoll gemachter Mondkuchen lag. Weiß ist zwar die
Trauerfarbe
der
Chinesen,
aber
Lao
Wu
hatte
als
anpassungsfähiger Mensch schnell begriffen, daß Ausländer mit ihr eher Sauberkeit und Hygiene verbanden, er trug die Kochuniform, die aus einem Arsenal der Army stammte, mit Stolz. Und als er uns den neuen Kuchen vorsetzte, machte er uns aufmerksam: »Dies ist ein Kuchen, wie wir ihn früher, bevor die Japaner kamen, stets 285
gebacken haben. Aber jetzt sind die Japaner geschlagen ...« Er war ein glühender Nationalist, allerdings mehr in Worten als in Taten, er hatte zu keiner der in der Stadt bestehenden Widerstandsgruppen gehört, sich als Pastetenbäcker in einer ehemals französischen Bäckerei durchgeschlagen, am Ha Ta Men, einem der vielen Stadttore, von denen ich bislang erst wenige kenne. Der Kuchen zeigte im Relief das Bild eines Hasen, der in einem Mörser etwas zerstampft. Kaum hatten wir das Kunstwerk gebührend bewundert, erschien Lao Wus Frau mit einer Schale voller Melonenscheiben, Pfirsiche, Pflaumen und Äpfel. »Die Früchte des Herbstes ...« Auch sie gab sich feierlich, wie der Anlaß es gebot. Keiner der beiden ließ sich dazu bewegen, ein Stück Mondkuchen an unserer Tisch zu essen oder eine Frucht. Sie würden es vorziehen, vom Kü chenfenster aus in aller Stille den Mond zu betrachten. »China ...« sinnierte Holly, nachdem sie wieder gegangen waren, »wer wird es je verstehen?« »Verstehen wir es denn?« Er zuckte die Schultern. Ein Mann, der wie ich in diesem uner meßlich scheinenden Land aufgewachsen war, der seine Geschichte kannte, seine Tragödien. »Wir verstehen, daß Mao lieber mit uns zusammengehen will als mit den Sowjets, und wir können dieses Stück politisches Gold keiner Bank andrehen. China — vielleicht verstehen wir es wenigstens ein bißchen. Aber wir werden nicht lange genug leben, um es ganz zu begreifen. Wie John Birch.« Ich erinnerte mich an den Namen. War das nicht der junge Cap tain gewesen, in >Camp 7< in Sian, der gelegentlich heikle Fragen zu stellen pflegte? Der Baptistenmissionar, der zuvor bei Chennaults Fliegertruppe gestanden hatte? »Genau der«, bestätigte Holly mürrisch. »Er ist tot. Irgendwann 286
im August geriet er mit seinem Kommando, auf dem Weg nach Norden, in eine Straßensperre der Roten. Ich kenne bisher nur einen lückenhaften Bericht darüber. Paul Frillmann hat ihn mitgebracht, er ist von Kunming gekommen, um die Leitung dessen zu überneh men, was in Peking vom OSS übrigbleibt. Kennst du ihn?« Ich hatte Frillmann kennengelernt, erinnerte mich aber nur noch daran, daß er vom OSS zu Chennaults Fliegern geschickt worden war, als Kaplan der Einheit, was mir damals ziemlich eigenartig vorkam, aber wer wollte schon die Verschlungenen Wege des OSS beurteilen! Wahrscheinlich würde Frillmann das fortführen, was Kellis aufgebaut hatte: die japanischen Truppen zwar entwaffnen, sie aber in geschlossenen Truppenteilen halten und je nach den Erfordernissen der schwachen Kuomintangabteilung, die wir hergeflogen hatten, zur Aufrechterhaltung von > Sicherheit und Ordnung< zur Verfügung stellen. Das alles geschah, um zu verhindern, daß die roten Guerillas, die rings um Peking lauerten, einfach im Handstreich die Macht an sich rissen, wie das in den Gebieten nördlich von Jenan inzwischen geschah, sogar in entfernten Gegenden der Mandschurei. »Was wird Kellis tun? Unter Frillmann arbeiten?« »Nein«, sagte Holly. »Frillmann löst im Grunde die OSS-Station langsam auf. Offiziell. Kellis scheidet aus, er bleibt hier, in ähnlicher Eigenschaft wie du, nur daß er nicht so lange bleiben wird. Er wirbt ohne viel Aufsehen für uns Leute an. Vorsorge für die Zukunft ...« »Aber — es gibt uns nicht mehr! Wozu brauchen wir dann Leute?« Er lachte. »Es wird uns wieder geben. Und es gibt die Zukunft, Junge.« Dann verfiel er in die düstere Stimmung zurück, als ich ihn fragte, wie Birch ums Leben gekommen sei. 287
»Die Roten wollten seinen Trupp nicht durchlassen. Angeblich hat er ihnen daraufhin mit der Atombombe gedroht, und es gab eine Schießerei.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so ...« »Einfach so?« »Er ist nicht der einzige, den wir bis jetzt verloren haben. Und er wird nicht der letzte sein. Das ist das, was diese Narren im State Department oder bei FBI nicht gern hören. Kennst du Peter Dewey?« »Colonel Peter Dewey?« »Just den meine ich. Du mußt ihn bei der Ausbildung getroffen haben, in Honolulu ...« Ich erinnerte mich an Dewey. Ein Harvard-Mann, mit viel Erfah rung in Asien. >Das bebrillte Genie < nannten wir ihn. »Tot«, sagte Holly. »In Saigon, vor ein paar Tagen. Als ich in Tokio war, kam gerade der Sarg an, mit Fahne.« »Aber — was suchte der in Saigon?« Ich war so lange aus dem OSS-Geschäft heraus gewesen, daß ich Mühe hatte zu begreifen, was inzwischen dort vorgegangen war. Holly klärte mich mit ein paar Worten über einen Aspekt unserer Arbeit auf, von dem ich bislang keine Ahnung gehabt hatte. »Wir hatten von Kunming aus einen Kanal zu einem gewissen Nguyen-ai-Quoc. Er benutzt jetzt den Namen Ho Chi-minh. Ein Kommunistenführer, der in Indochina eine bewaffnete Bewegung gegen
die
Japaner
anführte.
Reservate
in
unzugänglichen
Gegenden, Überfälle, viel Zulauf von der Bevölkerung, lief ganz ähnlich wie bei Mao Tse-tung. Wir hatten Informationen, daß dieser Kerl Matrose gewesen war, unter anderem. Außerdem fanden wir heraus, daß er keine direkte Verbindung mit Moskau unterhielt. Es lag nahe, ihn anzugehen, zumal er bekanntgegeben hatte, sein Endziel sei die Unabhängigkeit Vietnams nicht nur von Japan, 288
sondern auch von Frankreich. Da schien ein Einstieg für uns möglich:
Unterstützung
gegen
Zusicherung
von
kleinen
Entgegenkommen in der Zukunft. Archimedes Patti, einer unserer besten Indochina-Kenner, hat die Sache in die Hand genommen. Leider sind ihm offenbar die Franzosen auf die Spur gekommen, sie haben gerochen, was wir vorhatten, und sie konterten. Ich vermute, Sainteny war es, der uns das Holz querlegte. War in Kunming stationiert, nannte seinen Laden >Mission 5<, stand zu de Gaulle. Wir bekamen im Sommer Wind davon, daß Ho Chi-minh in seinem Versteck im Norden von Indochina todkrank auf der Matte lag, also setzten wir dort ein Team ab, mit Paul Hoagland, unserem Kunminger Stationsarzt. Der hat Ho Chi-minh behandelt. Malaria, Dysenterie, was weiß ich noch. Gutes Einvernehmen. Wir schienen einen Fuß fest drin zu haben, entschlossen uns zur Entsendung weiterer Teams, flogen Dewey nach Saigon, um präsent zu sein, wenn die Japaner dort aushauchten — aber wir hatten den alten Rebellen Ho Chi-minh offenbar unterschätzt. Er versicherte uns, das freie Vietnam wird mit den USA gute Beziehungen pflegen, wie mit anderen Staaten auch, mehr war nicht drin. Nicht daß man unsere Leute etwa feindselig behandelte, nein, im Gegenteil, man war freundlich, aber auf eine Art, wie wir sie nicht erwartet hatten. Und an dieser > Freundschaft auf der Basis absoluter Souveränität< war keiner von uns mehr interessiert. Zumal zu allem Unglück die Franzosen, von Sainteny zur Eile angetrieben, daran gingen, Kontingente nach Saigon zu verschiffen. Als Antwort darauf proklamierte dieser alte Fuchs Ho Chi-minh am 2. September die nationale Unabhängigkeit Vietnams. Dewey starb etwa drei Wochen später, bei einer Schießerei auf offener Straße in Saigon. Indochina ist in Aufruhr. Die Franzosen können entweder die Sache allein ausfechten oder sich zurückziehen. Was uns betrifft, so ist der 289
Versuch misslungen. Die Besserwisser daheim halten uns jetzt natürlich vor, jeder ähnliche Versuch mit Mao Tse-tung wäre ebenso verlaufen ...« »Schade um Dewey«, sagte ich. »Schade überhaupt um alle, die wir auf diese Weise verlieren.« Holly bewegte die Schultern. »Sie sind der Einsatz in dem Spiel, Sid. Bauern auf dem Schachbrett. Entbehrlich. Liegt in der Natur unserer Arbeit, seien wir nicht unrealistisch, wir alle sind im Grunde entbehrlich ...« Er nahm die Whiskyflasche und goß die Gläser wieder voll, wir tranken, aber der Whisky schmeckte plötzlich schal, und ich spülte den Geschmack mit einem Schluck Tee herunter. »Also bin ich es auch?« »Wir sind Soldaten, Sid. Zivil oder Uniform. Manchmal gewinnen wir, manchmal verlieren wir. Manchmal triumphieren wir, wie MacArthur, manchmal verschwinden wir im Nebel, wie Stilwell ...« »Oder wir werden zu Privatgelehrten, wie Sidney B. Robbins, OSS-Major, gestrandet in Peking, in der Ping Tjiao Hutung, den Mond genießend!« Er spürte meinen Sarkasmus, nach einer Weile wurde er ziemlich ernst und schlug vor: »Laß uns noch einmal in aller Ruhe überlegen, wie es für dich weitergeht. Vom OSS wird nach der Auflösung ein harter Kern übrigbleiben, verstreut, in der Diaspora sozusagen. Aber abrufbereit. Und ich rechne fest damit, daß wir in ein oder zwei Jahren so etwas wie ein neues OSS haben werden, egal wie man es nennen wird; wir brauchen es! Wenn wir nämlich das, was die Konservativen daheim jetzt fordern, die >Weltmacht Nr. 1<, wirklich sein wollen, dann braucht diese Weltmacht Leute wie uns. Also — fassen wir uns in Geduld. Bringen wir uns über 290
die Runden, wie ein Boxer, der darauf wartet, daß sein Gegner müde wird. Was dich betrifft, hier kann man es aushalten ...« Er machte eine Handbewegung, die alles einbezog, das Haus, den Hof mit der Miniaturgrotte aus Felsgestein, den winzigen Teich da vor, in den Lao Wu zwei glubschäugige Goldfische getan hatte, das Bambusgehölz unweit des Küchenzugangs — auch den runden Herbstmond und den Kuchen mit dem Hasen. Ich schnitt das Mei sterwerk an, und wir probierten es. Innen waren Nüsse und Man deln, gehackte Datteln und Ingwer. »Gut«, entschied ich mich. »Ich bin nun einmal hier, und ich bleibe. Wenn niemand etwas dagegen hat, werde ich mir mein Ein kommen selbst verschaffen ...« »Wer sollte wohl etwas dagegen haben!« »Also — dann sehen wir uns zum letzten Mal?« Ich hatte erwartet, daß er betrübt darauf reagieren würde, aber er lächelte nur, goß wieder Whisky ein und meinte: »Gottes Wege, mein Junge, sind unerforschlich. Eines Tages wirst du von mir Nachricht bekommen. Oder ich werde selbst da sein ...« Und dann gab er mir eine Adresse in Hongkong. Nichtssagend, eine chinesische Firma und die Straße mit der Nummer. Alles, was ich ihm jemals zu übermitteln hätte, würde ihn über diese Adresse erreichen. Solange er lebe. Mehr nicht. Übrigens — alles, was ich ihm bisher an persönlichen Aufzeichnungen übergeben hätte, sei bereits
dort.
In
einem
hervorragend
konstruierten Tresor,
niemandem zugänglich außer ihm. Keine Sorge also. Einen Augenblick lang dachte ich darüber nach, daß ich Hollys Wege wohl auch nie ganz erraten würde. Dann fiel mir ein, daß sich in diesem, meinem neuen Haus ebenfalls ein Safe befand, zwar nur mit einem Schlüssel gesichert, aber dafür vom alten Besitzer an einer Stelle eingebaut, an der niemand im Traum einen Safe vermu 291
ten würde. Ich beschloß, Hollys großzügiges Geschenk an Goldund Silbermünzen dort zu verwahren, ebenso alles, was ich fortan niederschrieb. Holly mußte davon nicht unbedingt erfahren, zumal er nicht einmal mehr mein Vorgesetzter war. Streng genommen war ich durch diese unzeremonielle Entlassung nicht einmal mehr Major, war überhaupt nicht mehr Angehöriger der Streitkräfte der Staaten. »Sei froh«, sagte Holly zu mir, als der Mond sich langsam hinter das Dach meines Hauses verkroch, »du wirst eine ruhige Zeit verle ben, während ich in die Staaten heimkehre, um die Sache durchzu fechten, die da ansteht. Gib mir über Hongkong Nachricht, wenn das Wasser dir bis zum Kinn steigen sollte. Ich werde Rat schaffen. Und — wenn Kang Sheng sich meldet, dann gib ihm zu verstehen, wir werden das, was wir in Jenan begonnen haben, eines Tages zu Ende führen, selbst wenn wir sehr viel älter dabei werden. Wir sind jederzeit bereit, mit diesen Leuten gemeinsame Sache zu machen, solange sie sich von den Sowjets distanzieren. Sobald die Bedingungen dafür besser sind als heute, werden wir weitersehen ...« Um das Kang Sheng auszurichten, blieb ich in China! Ich war versucht zu lachen. Wer weiß, auf welcher Steppe des Nordwestens Kang Sheng die Kugel ereilen würde! Aber schließlich war das nicht meine unmittelbare Sorge. Da war Peking, die ehrwürdige Residenz der Ming-Kaiser, der Tjing. Da waren die unzähligen Paläste und Tempel, die lärmenden Straßen, die Garküchen an ihren Rändern, die Rikschas und Trambahnen, da war der Duft der Blüten, der sich mit dem Gestank der Gullys mischte, mit dem Brodem der gewürzten Gerichte, dem Qualm der Kochfeuer — da war eine Welt, in der ich mich zu Hause fühlte und die ich neu entdecken konnte. Ich war begierig, sie mir endgültig anzueignen. 292
Wir nahmen etwas betreten Abschied voneinander, aber jeder von uns hatte das Gefühl, daß es kein Abschied für immer war. Holly winkte mir noch einmal zu, als er in den Jeep stieg, der ihn am Morgen abholte. »Bleib ein guter Junge!« rief er scherzend, dann gab der Fahrer Gas. Lao Wu säuberte mit seiner Frau zusammen das Geschirr von gestern, vor der Küche, unter dem Strahl der Wasserleitung. »Schönes Mondfest«, sagte er. Ich bemerkte erst jetzt, daß er sei nen rechten Arm nicht ganz richtig bewegen konnte, er hielt ihn ähnlich, wie ich das bei Tschou En-lai beobachtet hatte, leicht ange winkelt. »Verwundung?« erkundigte ich mich. Er schüttelte den Kopf. »Der Tritt eines Esels. Ich war noch ein Kind, damals ...« Seine Frau beeilte sich, mir zu versichern, daß ihr Mann trotz dieser kleinen Blessur jegliche Arbeit verrichten könnte. Ein junges Ehepaar, das um seine Arbeitsstelle bangte. Ich beruhigte sie. Und dann empfahl ich ihnen, nach einem Stubenmaler Ausschau zu hal ten, die Wände des Hauses konnten einen Anstrich vertragen. Lao Wu, der sich immer geschmeichelt fühlte, wenn ich das >Wu< wie >Hu< aussprach, was >Tiger< bedeutet, wußte sofort Rat. Eilfertig trocknete er sich die Hände ab. »Am Ende der Gasse wohnt ein Maler! Er arbeitet billig und gut. Ich werde alles erledigen, Sir!« Die Wu Tai-tai trippelte mit kurzen Schritten in die Küche zu rück. Sie stammte aus einem Dorf in der Provinz Schantung, und man hatte ihr als Kind noch die Füße eingebunden, jener alten, mir völlig unverständlichen Sitte folgend, daß die verkrüppelten Füße der
Frau
in
reiferen
Jahren
besondere
Grazie
verleihen.
>Lotosfüße< nannte man es, der Teufel weiß, wer diese wohlklingende Bezeichnung für die Tortur erfunden hat! Ich machte mich auf den Weg zum Zentrum. Bis zur Dschou 293
Sche Kou zu Fuß, und von da mit einer Rikscha (für den Gegenwert von etwa fünfzig Cents) die Tjien Men Dadji nordwärts, durch das Tjien Men, in Richtung Changan-Boulevard. Etwas östlich der roten Mauern der > Verbotenen Stadt<, in der die Kaiser gelebt hatten, östlich des riesigen Eingangstores, dem sie den Namen >Tor des ewigen Friedens < verliehen hatten, lag, nicht weit von der Einmündung der Morrison-Street, benannt nach einem englischen Berater der letzten Tjing-Herrscher, das > Grand Hotel de Peking<, jene Luxusherberge des Zentrums, wo man zu jeder Tages- und Nachtzeit Amerikaner antreffen konnte. Schweigsame Leute wie Kellis, oder total betrunkene Offiziere des Marinecorps, das sich immer mehr in Peking einzunisten begann. Ich traf Kamasuki, der in der Halle an der Bar saß und Coca Cola trank, als sei es himmlischer Nektar. Er war in Zivil, und er begrüßte mich erst, als ich ihm zu erkennen gab, daß er ohne Bedenken mit mir sprechen konnte. Dann allerdings begrüßte er mich wie einen verschollen gewesenen Bruder. Außer seiner guten Laune fiel mir auf, daß er mich nicht mehr mit meinem Dienstgrad ansprach, sondern einfach sagte: »Hallo, Sid! Fein, dich zu sehen ...« Die Auflösung vom OSS schritt schnell fort! Etwas gedämpft teilte Kamasuki mir mit, er stehe noch dem >Zivilisten< Kellis zur Verfügung, habe aber viel Zeit. Den >Job<, wie er es nannte, erledigte jetzt Frillmann, aber das wußte ich schon. Kamasuki hatte vor dem Hotel ein japanisches Auto stehen, eine enge Kiste, von der er behauptete, es wäre einer deutschen Marke nachgebaut, gliche ihr aufs Haar, aber leider hätten die Japaner nicht ganz begriffen, daß Autos auch bequem sein sollten. Wir fuhren stundenlang mit dem ratternden Vehikel durch die Stadt. Ich sah zum ersten Mal ihre Ausdehnung, ich spürte die Ar mut, aber ich verliebte mich nach und nach in diese Quadratmeilen 294
grauer Mauern mit niedrigen Häusern dahinter, in die Tempel und Pagoden mit ihren glasierten Dächern, die geschwungenen Brücken über kleine Seen, in den Geruch, die Farben, das Gewimmel. Es würde mir nicht schwerfallen, hier heimisch zu werden. Gegen Abend machten wir halt an einem Restaurant und aßen ein durchschnittliches Mahl. Noch waren Lebensmittel knapp, Auslän der aßen daher meist in den wenigen großen Hotels, die horrende Preise nahmen, in Dollars. Wir beide fühlten uns in der dürftigen Bude recht wohl, der Wirt verbeugte sich, wenn wir ihn nur anblickten, und auch er hatte natürlich einige Leckereien zu bieten (für Dollars!). »Du kannst mich jeden Tag im >Peking< erreichen«, vertraute Kamasuki mir an. »Bis zu meiner Abberufung residiere ich dort. Kellis auch. Wir haben so gut wie nichts zu tun, ein paar Kleinigkeiten ...« Nun ja, ich kannte die Art Kleinigkeiten, um die sich Kellis küm merte. Aber sie waren, wie man zu sagen pflegt, nicht mehr Haut von meinem Hintern. Von Kamasuki erfuhr ich in den nächsten Ta gen eine Menge von dem, was sich in der Mandschurei abspielte, ich bekam Zeitungen, wurde sogar zum Empfang eingeladen, als weitere Kontingente der mit Schiffen in Tientsin angelandeten Marineinfanteristen in Peking eintrafen, und ich lernte dabei einige Offiziere kennen. Doch das war alles nicht wichtig. Für mich entschied sich einiges, als ich in einer Zeitung ein ziemlich großes Inserat aufgab: »Erteile Unterricht in Englisch. Beherrsche die chinesische Sprache ebenfalls. Vereinbarungen zwischen 11 bis 12 Uhr täglich. < Wenig später hatte ich fürs erste zwei Dutzend Schüler, die regel mäßig Stunden bei mir nahmen. Es waren sehr unterschiedliche Leute: Studenten, die in der Beherrschung einwandfreien Englischs 295
den Absprung an eine Universität in England oder Amerika suchten, Beamte aus dem neuen Kuomintang-Apparat, die täglich mit Amerikanern zu tun hatten, Fabrikanten, die sich auf neue Exportchancen vorbereiteten — selbst ein Rikschamann stellte sich ein, verfügte über eine bereits modernisierte Version des traditionellen Vehikels, die durch ein Fahrrad gezogen wurde. Er hatte oft amerikanische Kunden, war ein junger, kräftiger Bursche, und er wollte das notwendigste Englisch erlernen, damit die Marinesoldaten nicht immer wütend wurden, wenn er ihre Kommandos nicht verstand. Am Tor meines Hauses befestigte ich ein Schild in Englisch und Chinesisch: Sprachlehrer. Ich war vom OSS-Major zum freien Unternehmer geworden! Und — was sich sehr bald zeigte — dieses Geschäft ernährte seinen Mann. Nicht selten zahlte einer meiner Fabrikanten in Lebensmitteln. Außerdem bekam ich bald Besuch von amerikanischen Offizieren, die mit den chinesischen Zivilbehörden zusammenarbeiteten. Sie wollten in der Regel nicht viel mehr lernen als ein paar gängige Idiome der Umgangssprache: Guten Tag. Danke. Möchten Sie Bier? Wo ist ein Frisör? Wo kann man Antiquitäten kaufen? Sind Sie ärztlich untersucht, mein Fräulein? — Mein Gemüt stellte sich auf die neue Situation schneller ein, als ich selbst das erwartet hatte. Wieder einmal bemerkte ich, daß ich eine nahezu unbegrenzte Anpassungsfähigkeit besaß, eine Eigen schaft, von der ich beim OSS so oft gesagt bekommen hatte, sie sei für einen guten Agenten die Grundvoraussetzung des Erfolgs. Nun denn! Mit Kamasukis Hilfe gelang es mir, in einem der soeben einge richteten Army-Läden eines der neuesten Radiogeräte zu erwerben, einen Empfänger mit besonders leistungsfähigem Kurzwellenteil, für tropische Bedingungen entwickelt, robust und dabei ziemlich 296
klein. Nun höre ich jeden Tag von einem Dutzend Stationen, was so in der Welt geschieht. Lao Wu und seine Frau halten mich für einen der größten Gelehrten der Welt, und für einen treuen Freund Chinas, was ganz in meinem Sinne ist. Sie beteuern einmal ums andere, wie glücklich sie sind, bei mir arbeiten zu dürfen. Abends, wenn ich an meinem Radio sitze, schleichen sie auf Zehenspitzen um mich herum. Sie ahnen nicht, daß ich seit neuestem außer AFRS, unseren Militärstationen (Armed Forces Radio Service), und Manila oder Hongkong auch Jenan höre. Radio Hsinhua nennt sich die Station. Jeder Nachrichtendurchsage folgt die ausdrückliche Aufforderung, die roten Nachrichten beliebig weiterzuverbreiten. Kein Copyright!
Nachkriegswelt im Radio Hsinhua, 11.10.1945 Die Verhandlungen zwischen der KP Chinas und der Kuomin tang, zu denen sich der Vorsitzende Mao Tse-tung seit dem 28. August in Tschungking aufhielt, wurden abgeschlossen. Vorsitzender Mao Tse-tung, der inzwischen wieder in Jenan ein getroffen ist, erklärte: »Sollte die Kuomintang nun doch noch einen Bürgerkrieg entfesseln, so wird die ganze Nation sie allein als Urheber erkennen, und auch die übrige Welt wird es als gerecht empfinden, wenn wir den Angriff der Kuomintang allseitig zerschlagen ...«
Radio Tschungking, 11. 10. 1945 Unter Bruch der bestehenden Abkommen hat der rote General stab in Jenan über 100000 Soldaten unter Führung der Generale Tschu Teh und Lin Piao in Richtung Mandschurei in Marsch ge 297
setzt. Unter Ausnutzung des sowjetischen Entgegenkommens gelang es den roten Truppen, einen großen Teil der von den Japanern niedergelegten oder in Arsenalen abgestellten Waffen, darunter auch Artillerie und Panzer, in ihren Besitz zu bringen und sich damit auszurüsten.
Radio Manila, 15.10.1945 US-Truppen sind gegenwärtig damit beschäftigt, Zehntausende kommunistischer Guerillas zu entwaffnen, die sich während der ja panischen Besatzungszeit zusammengerottet haben und die völlige Unabhängigkeit der Philippinen unter roter Vorherrschaft verlan gen. Ihr Verhalten ähnelt dem der auf den holländischen Besitzun gen in Niederländisch-Indien existierenden roten Banden, sowie de nen, die in Burma, Indochina und Malaya auftreten. In Indochina, wo kommunistische Kräfte Anfang September bereits einen soge nannten unabhängigen Staat Vietnam ausgerufen hatten, sind wei tere französische Truppenkontingente zur Niederwerfung des Widerstands eingetroffen.
Hsinhua, 17.10.1945 Es erweist sich immer deutlicher, daß Tschiang Kai-shek nicht ehrlich um eine Zusammenarbeit im nationalen Interesse bemüht ist. In den letzten Tagen häufen sich Angriffe der Kuomintangtrup pen auf das Gebiet von Jenan und andere von der KP-Chinas be freite Zonen. Vorsitzender Mao Tse-tung rief zur entschlossenen Abwehr gegen alle Angriffe der Kuomintang auf und befahl die Errichtung von sicheren Stützpunkten in der Mandschurei...
Hsinhua, 25.10.1945 Aus den von der Volksbefreiungsarmee besetzten Gebieten im 298
Norden und Nordosten wird gemeldet, daß Maßnahmen zur Boden reform gemäß den Richtlinien des Zentralkomitees der KP-Chinas durchgeführt werden und auf allseitige Unterstützung der Bauern stoßen. Patriotische Großbauern haben weiter die Gelegenheit, ihr Land zu bebauen, nur die Ausbeutung von Pachtsklaven ist ihnen nicht mehr gestattet.
Afhs, 14.11.1945 In einer Woche wird in Nürnberg, einer Stadt im Süden Deutsch lands, das internationale Tribunal gegen die Nazi-Kriegsverbrecher beginnen. Zwanzig Hauptangeklagte erwartet vermutlich die Höchststrafe.
Hsinhua, 11.11.1945 Wie aus Washington bekannt wurde, bekräftigte die US-Regie rung ihre Absicht, weiterhin einseitig Waffen und Hilfsgüter an die Kuomintang zu liefern. Präsident Truman ließ verlauten, die USHilfe würde nicht durch weitere Truppenentsendungen ergänzt wer den. Gleichzeitig aber behauptete er, die Existenz der vom chinesi schen Volk geliebten Volksbefreiungsarmee mache eine politische Einigung in China unmöglich.
Afrs, 27.11.1945 US-Botschafter Patrick Hurley ist von seinem Posten in Tschungking zurückgetreten. Der von Präsident Truman nach Tschungking entsandte General George Marshall wird neuer Botschafter in China werden. Es ist beabsichtigt, daß er bereits in wenigen
Wochen
mit
Generalissimus
Tschiang
Kai-shek
zusammentrifft, der das Regierungszentrum nach Nangking verlegt... 299
31.12.1945 Neujahr. Ich frage mich, ob ich schon so viel von der chinesi schen Lebensweise in mir habe, daß ich es nicht feiere. Ich habe keine Lust, mich in das Gewimmel der Militärs von Rang zu mi schen, die sich heute in den besseren Hotels treffen. Noch weniger reizt es mich, mitzuerleben, wie sich die fünftausend GIs in den Animierkneipen um die Morrison-Street herum betrinken. In den letzten Wochen sind solche Lokale wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden geschossen. Peking ist nicht mehr von Tschungking zu unterscheiden, wenn es darum geht, Lustbarkeiten und Geschäfte, Betrug und Prostitution aufzulisten. Insofern könnte man sagen, das normale Leben ist wieder eingezogen. Mit der Kuomin tangadministration allerdings kam auch alles das, was es dieser immer noch bedeutenden Partei und ihrer Führung — leider für uns, denn wir sind fest mit ihr verbündet — unweigerlich verwehren wird,
das
Riesenland
zu
vereinen
und
die
bestehenden
Widersprüche aufzulösen. Neue Probleme kommen täglich hinzu. Die Ökonomie ist katastrophal, man hat die Pekinger Fabriken darauf abgestellt, den gehobenen Bedarf der Oberschicht zu befriedigen, was der arme Mann ißt, womit er sich kleidet, was seine Kinder vor Krankheiten schützt — das alles ist gleichgültig. Als Amerikaner könnte ich das, was sich hier abspielt, eigentlich mit ziemlicher Gelassenheit und aus einer gewissen Distanz heraus beobachten, nur ist mir das nicht möglich, ich bekenne, es liegt an mir selbst. Ich bin zwar kein Missionar, der sozusagen professionell die Leiden anderer mitleidet und daraus Festigkeit für seinen Glauben schöpft, ich bin überhaupt nicht religiös, nur braucht man das in dieser Stadt gar nicht zu sein, um das würgende Unbehagen zu empfinden, das mich plagt. Eines Tages beobachtete ich, wie Lao Wu, als er mich bei der 300
Schreibarbeit wähnte, einen Kübel mit Abfall auf die Gasse hinaus trug. Gemüseschalen, Obstreste, leere Konservendosen, dazwischen den Inhalt ausgeleerter Aschenbecher. Ich hätte mir weiter keine Gedanken gemacht, wenn ich nicht kurz darauf vor dem Tor einen ziemlichen Lärm gehört hätte. So kam ich dazu, wie sich ein halbes Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft um das balgten, was Lao Wu weggeworfen hatte, um es problemlos vom Hals zu bekommen. Es wird mir wahrscheinlich nie im Leben gelingen, das Bild loszuwerden, so wie manche andere Bilder aus diesem Land, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben: in Lumpen gegen die Winterkälte gehüllte kleine Mädchen rauften mit Jungen um den Strunk eines Kohlblattes, andere hieben mit Fäusten aufeinander ein, um einen Knochen zu ergattern, den Rest eines Hühnerbeins, ein Mädchen biß in die Rückengräte eines Fisches, an der Dreck und Asche klebten, und der Kleinste von allen, ein Knirps mit im Schritt geschlitzter Hose, wie sie Kinder seines Alters hier üblicherweise tragen, damit sie ihre Notdurft verrichten können, indem sie sich lediglich hinhocken, schrie aus Leibeskräften — er hatte den Finger in einer Schmalzbüchse verklemmt, die ihm ein anderer zu entreißen versuchte, das scharfe Blech schnitt schmerzhaft ins Fleisch. Lao Wu kam, als ich den Versuch machte, schlichtend einzu schreiten. Er ließ eine Fluchkanonade los und warf Steine nach den sich balgenden Kindern, wohl in der Ansicht, daß er für mich Ruhe schaffen müsse. Ich hielt ihn zurück. »Sie wachsen auf wie Tiere!« schimpfte er. »Sie schänden das Gesicht des Landes!« Ich wies ihn zurecht: »Es sind Menschen, Lao Wu, nur haben sie Hunger. Und Hunger macht verzweifelt. Haben Sie selbst nie wel chen gehabt?« Da wurde er still. Natürlich habe er Hunger gehabt, 301
aber es gehöre sich nicht, vor dem Haus eines Ausländers ein Schauspiel dieser Art aufzuführen. Ein Mensch muß Stolz besitzen. Ich sagte: »Für einen Satten mag es leicht sein, Stolz zu zeigen, für einen Hungrigen ist es schwer. Es sind Kinder mit knurrenden Magen, deshalb werden sie vor meiner Tür nicht verflucht. Holen Sie für jeden eine Handvoll Reis!« Er folgte verblüfft meiner Aufforderung, obwohl er es sich nicht verkniff, mich aufmerksam zu machen, daß diese Kinder fortan jeden Tag um Reis betteln würden, vor meiner Tür, mich bei der Ar beit stören mit ihrem Geschrei. Aber wir gaben ihnen den Reis. Sie sahen mich mit ihren großen, dunklen Augen an wie ein Wesen, von dem sie nicht wissen, ob sie es fürchten oder lieben sollen. »Nun geht«, forderte ich sie auf, und sie gingen, bis auf den einen, den Kleinsten, der immer noch flennend auf der Erde hockte, den Zeigefinger der einen Hand zwischen dem rissigen Blech der Schmalzbüchse eingeklemmt, blutend, in der anderen Hand den klebrig gekochten Reis, den Lao Wu ihm gegeben hatte. Als ich nach ihm griff, schrie er auf. Aber als er mich verstand, weil ich in seiner Sprache zu ihm redete, sehr langsam und geduldig, er solle keine Angst haben, wir würden das mit dem Finger schnell in Ordnung bringen, da war nur noch Mißtrauen in seinen Augen. Er mochte fünf Jahre alt sein. Mit einer blitzschnellen Bewegung führte er die Hand mit dem Reis zum Munde und verschlang alles gierig. Noch immer daran würgend, blickte er mich an, als wollte er sagen: So, jetzt kannst du mir das wenigstens nicht mehr nehmen! Er ließ sich nach einigem Zureden von mir ins Haus führen, wo ich ihn von der Blechdose befreite, und er ließ es ohne einen Schmerzlaut über sich ergehen, als ich die Wunde auswusch, mit verdünntem Mercurochrom, jener violetten Universalsubstanz aus jedem Army-Verbandkasten, betupfte und zuletzt mit einem Ver 302
band versah. »Man muß aufpassen, daß er nicht stiehlt!« brummte der besorgte Lao Wu im Hintergrund. Ich reagierte nicht darauf, fragte den Kleinen, wie er heiße. »Di-di. »Nun gut, du bist Di-di, der kleine Bruder, aber aus welcher Familie?« Es stellte sich heraus, daß sein Vater zu den Soldaten gezo gen worden war, vor langer Zeit schon, und daß niemand wußte, ob er noch lebte. Die Mutter fuhr Kohlenstaub aus, mit einem Handkarren, sie kam immer erst spätabends nach Hause, schmutzig, todmüde, und nur manchmal mit etwas Eßbarem. »Solche Kohlen macht man aus dem, was meine Mutter ausfährt!« Er deutete auf die hier üblichen Presskohlen, gefertigt auf ähnliche Art, wie ich es in Jenan gesehen hatte. Dann ging er an den großen Kamin, den ich im Wohnzimmer gern heizte. Er streckte beide Hände dem Feuer entgegen, um sie zu wärmen, es war draußen bereits empfindlich kalt. Ich wußte längst, daß in der Gasse nicht nur wohlhabende Leute wohnten. Es gab Häuser wie das meine, die von sechs bis acht kin derreichen Familien zusammen bewohnt wurden, und nur wenige der Eltern hatten Arbeit. »Hast du oft Hunger?« Er überlegte lange. Angst vor dem Fremden, den die übrigen Kinder
natürlich
>Langnase<
nannten,
vielleicht
auch
>ausländischen Teufel<. Seine Augen musterten mich, der Blick schweifte zu dem bunten Rollbild aus Seide, das an der Wand hing, eine fürstlich gekleidete Dame, glitt dann zu mir zurück. »Wir essen ... wenn es ... Essen gibt.« Er schielte nach der Tür. Ich forderte ihn auf, sich vor den Kamin zu setzen, jene für Chinesen fremde Einrichtung, die sich der ehe 303
malige Besitzer des Hauses vermutlich aus Lust an englischem Le bensstil hatte einbauen lassen. »Wärme dich, solange du willst. Ich werde Lao Wu sagen, daß er dir noch etwas zu essen gibt. Und ich werde ihm auch sagen, daß er nicht mehr mit dir schimpfen soll, denn du bist doch mein Freund, oder bist du das nicht?« Zögern. Zaghaftes Nicken. Wache Augen. Ein Kind, das mich auf seltsame Weise faszinierte. Eine Weile lang dachte ich darüber nach, daß es schön wäre, selbst Kinder wie diesen Jungen zu haben, und ich ertappte mich bei der Erkenntnis, daß ich dies zum ersten Mal tat. Di-di bekam eine Schale mit Hühnersuppe, die er schmatzend leerte, dann drückte ich ihm ein Paket Army-Keks in die Hand, ge öffnet. Er roch daran, aß aber nichts davon. Sah mich nur unver wandt an. Nach einer langen Weile Schweigen tippte er vorsichtig mit dem Finger auf der Kekspackung und stotterte: »Meine Mutter ... viel leicht hat sie kein Essen ...« Gleichzeitig umklammerte er die Pak kung mit der gesunden Hand. »In Ordnung, Di-di«, sagte ich feierlich. »Du bist mein Freund. Nimm das deiner Mutter mit, mag sie auch essen. Wann wirst du mich wieder besuchen?« Er verstand nicht, was ich meinte, blickte verlegen auf den teuren Teppich, auf dem er hockte. Wie kann ein weißer Mann, ein frem der Teufel, einen kleinen, hungrigen, schmutzigen chinesischen Jungen zu seinem Freund erklären und zum Besuch einladen? Dahinter konnte nur eine Heimtücke stecken! Ich sah, wie er mit sich rang, also beruhigte ich ihn: »Du mußt wirklich keine Angst vor mir haben. Ich bin ein gelehrter Mann, kein Teufel, und Lao Wu wird dir auch nichts tun. Wirst du wieder kommen, wenn der 304
Hunger dich plagt?« Bevor er sich zu einer Antwort entschließen konnte, gab es erneut Lärm an der Tür, und Di-di zog erschrocken den Kopf ein, er kannte die weinende Stimme, die da draußen Lao Wu bestürmte, der fremde Herr (sie sagte >Herr<, nicht >Teufel
vor, Sir. Unter so vielen hungernden Landsleuten bin ich satt und wohlhabend ...« Das Peking des Jahres 1945. Es ist nahezu unbeschreiblich, wie hier die Gegensätze aufeinanderprallen, tiefstes Elend und ver schwenderischster Luxus. Ein Gemisch, das unweigerlich zur Explosion kommen muß. Doch — ist das nicht in ganz China heute so? Ich saß an diesen Wintertagen mit ihren nächtlichen Frösten und dem
wärmenden
Sonnenschein
der
Mittagsstunden
fast
unausgesetzt über Gedichten, die ich übersetzte. Außerdem gab ich Sprachstunden, und chinesische wie amerikanische Dienststellen begannen mir Texte zuzuleiten, die jeweils in die andere Sprache zu übertragen waren. Das Ergebnis: ich schwamm förmlich in Geld. Das war also das Leben eines > Privatgelehrten <, wie ich es führte. Nach und nach hatte ich mich daran gewöhnt, ich war dabei, mir eine Art eigener Existenz aufzubauen, und ich stellte fest, daß es dabei Arbeiten gab, die ich fast mechanisch erledigte, wie das Übersetzen von Formularen oder der Sprachunterricht, anderes aber faszinierte mich immer mehr: ich hatte damit begonnen, systematisch Gedichte Tu Fus in die englische Sprache zu übertragen. Mir fiel nicht auf, daß OSS und alles, was damit zusammenhing, sich unmerklich immer mehr in den Hintergrund verloren. Kamasuki traf ich eines Tages, als ich im >Peking< zu tun hatte. Man hatte ihm gerade seine Abkommandierung nach Tokio mitge teilt. Kellis war bereits verschwunden. Aus einem Impuls heraus, vielleicht, weil er freundschaftliche Gefühle für mich hegte, lud Ka masuki mich zu einem Abschiedsessen in eines der teuersten Lokale der Stadt ein, das >Tjüandjüde<, was man bei einiger Phantasie etwa als >Zusammentreffen aller Tugenden< übersetzen 306
könnte. Es lag in einer unauffälligen Seitenstraße, ein wenig außerhalb des Tjien Men, und man erkannte es an seinem eigenwilligen Eingang, einer kreisrunden Öffnung in der knallroten Außenwand. Dies war die andere Seite des Pekings dieser Zeit: ein sich tief verbeugender Wirt in langem, dunklem Gewand empfing uns, würdig und trotzdem unterwürfig, er sprach das grässlichste Pidgin-Englisch, das ich seit langer Zei gehört hatte — unsere GIs nennen es den >Shopkeeper-Slang< —, und er führte uns in eines der vielen Abteile des Restaurants, das nach drei Seiten abgeschlossen und durch einen luxuriösen handbemalten Lampion beleuchtet ist. Der Tisch stand bereits voller Schalen und Schüsselchen, Teller waren da und Löffel und Gabeln, für den unkundigen Ausländer, aber auch Stäbchen, und zwar solche aus handgeschnitztem Elfenbein. Hier ißt man >Peking-Ente<, ein speziell gezüchtetes, gemästetes Tier, für dessen Zubereitung es traditionelle Rezepte gibt, seit annä hernd hundert Jahren besteht das Lokal und macht sein Geschäft damit: Ente gefüllt, braun und appetitlich anzusehen, Entenklein aus Zunge, Därmen, Nieren und Leber, Entenfüße in Entenfett gebraten, Entenherz in einer Hefesoße, Enteneier, geröstete Flügelknochen, Suppe mit Innereien, dazu Gemüse vom Lauch bis zum gesäuerten Kürbis, kandierten Ingwer und Melonenkerne, Bambusspitzen und Sojabohnenkeime, glasige Reisnudeln in Entenbrühe, Wasserka stanien und gepfefferten Spinat, dazwischen Mao Tai, von allen Hirseschnäpsen der angeblich beste und natürlich teuerste, süße Limonade, Tsingtaoer Bier und Shaoshing-Wein, ein fruchtig schmeckendes, niedrigprozentiges Getränk, das sehr entfernt an trockenen Sherry erinnert — man ißt und trinkt, schmatzt und schlürft, rülpst ungeniert, zur Freude des Wirtes, bis man nach etwas mehr als zwei Stunden buchstäblich Schwierigkeiten hat, sich 307
vom Stuhl zu erheben, das ist der Augenblick, in dem man angeblich merkt, wie einer Peking-Ente zumute ist, bevor sie geschlachtet wird. — Zusammen mit Kamasuki genoß ich das schwere, reichhaltige Essen. Eigentlich waren wir recht oberflächlich befreundet, seit dem Kommando K; aber nachdem wir uns in alle Winde zerstreut hatten, war Kamasuki, dieser stets freundliche, unbeschwerte Bursche, sozusagen die auf lange Sicht letzte Erinnerung an die »gute, alte Zeit« beim OSS. Er fand einfach Spaß daran, mit einem >alten Kameraden< den letzten Abend in Peking so angenehm wie möglich zu verbringen. Immer wieder erschien der Wirt, achtete darauf, daß alle Zutaten auf dem Tisch waren, dirigierte den Kellner, der uns bediente, über wachte die Temperatur der Getränke. Und er zeigte sich hocher freut, als ich mich in seiner eigenen Sprache mit ihm unterhielt. Er ließ sich sogar dazu überreden, einen Mao Tai mit uns zu trinken: auf die ewige Freundschaft der ehrenwerten Amerikaner mit den Chinesen! Ganbei! Stolz wies er uns das auf einen Zug geleerte Schälchen vor, zum Zeichen, daß er es mit dem >Ausleeren bis auf den Grund< ehrlich gemeint hatte. Ein echter Gentleman der alten Schule, sogar der zentimeterlange Nagel am kleinen Finger fehlte nicht, der Beweis dafür, daß er hier nicht etwa jemand war, der seine Hände zur Arbeit benutzte, sondern der Chef. Kamasuki erzählte mir, daß er Post von seiner Mutter habe, sie sei nach langer Internierung während des Krieges jetzt wieder zu Hause, habe auch ihre alte Arbeit wieder aufgenommen, in einer Fabrik, die Damenstrümpfe aus Nylon herstellte. Er war glücklich darüber, und er sah auch seine eigene Zukunft recht rosig — solange die Army ihn in Tokio brauchte, würde er im Dienst bleiben, danach würde er, gemäß dem eben ergangenen >GI-Bill<, 308
das die Chancen der heimkehrenden Kriegsteilnehmer gesetzlich sichern sollte, ein Ingenieurstudium aufnehmen. Wir blieben im >Tjüandjüde<, bis das Lokal sich langsam zu leeren begann. Die meisten Besucher waren entweder höhere Kuomintangbeamte, die man an ihrem Benehmen sogleich erkannte, oder aber Offiziere von uns, die ein gutes Essen schätzten. Sie würden sich zu einigen abschließenden Drinks lieber in ihre Hotels verfügen, wo ausländisches Bier und englischer Whisky ausgeschenkt wurden. Wir entschieden uns auch dafür, zumal Kamasuki immer noch im >Peking< residierte. Vor dem Lokal, in gebührendem Abstand zu den Autos, die bereits vorgefahren waren, drängten sich die klapprigen Karren, teils noch vom alten Typ, bei dem der Mann zwischen den beiden langen Zugstangen lief, barfuß, trotz der bereits beißenden Nachtkälte, aber es gab auch schon einige, bei denen die Sitzgondel hinter ein Fahrrad montiert war, mit einer Art Verdeck versehen, was die Fahrt angenehmer machte, allerdings wohl nur für den Gast. — Während ich mit einem dieser Fahrrad-Rikschamänner den Preis aushandelte, hörte ich die Pipa. Ein Bettler spielte sie, an der Mauer des Restaurants sitzend, alt, mit ein paar langen Bartfäden, blind. Er spielte das alte chinesische Instrument, das zwar der Gitarre entfernt ähnelt, aber einen völlig anderen Klang ergibt, neben ihm auf dem Boden stand eine leere Konservendose, so eine wie die, mit der Di di sich verletzt hatte: amerikanisches Schmalz. Ich wollte weg von dem Restaurant, so schnell wie möglich. Kamasuki warf ein paar Dollarmünzen in die Büchse. Der Mann spielte weiter, wie entrückt. Ob ihm der nächstbeste Dieb das Geld stehlen würde? »Was ist los?« erkundigte sich Kamasuki mit leicht schleppender Stimme. »Dir hat's wohl nicht gefallen, wie? Keine Weiber, ist es das?« 309
Ich mußte alle Überredungskünste aufwenden, um ihn davon ab zuhalten, daß er den Rikschafahrer zum nächsten Bordell umdiri gierte. Ein eisiger Wind pfiff durch Peking in dieser Nacht. Es war, als kröche die Kälte förmlich aus dem Boden. Wir waren trotz der Plane ziemlich erfroren, als wir am >Peking< ankamen. In der Halle, um die Bar herum, saßen die Spättrinker mit ihren einheimischen Mädchen. Wir leerten noch ein paar Gläser Whisky, hörten uns ein paar GI-Witze an, dann waren wir plötzlich beide müde, und ich schlief die wenigen Stunden, die bis zu Kamasukis Abreise verblieben, auf seinem Zimmer. Morgens hatte ich einen Hunger, als hätte ich seit Tagen keine Mahlzeit mehr gehabt. Eigentlich wollte ich dem Chinesen hinter dem Rezeptionstisch nur ein Trinkgeld in die Hand drücken, dafür, daß ich im Hotel übernachtet hatte, was ihm natürlich nicht entgangen war, doch als ich an die Rezeption kam, blieb ich länger stehen. Der beleibte Zivilist, der hier wild gestikulierend immer wieder verlangte, mit einer bestimmten Telefonnummer verbunden zu werden, verlangte ausgerechnet meine eigene Nummer, in einem akzentgefärbten Englisch, und abwechselnd in ebenso akzentgefärbte Chinesisch, wütend und ungeduldig, weil seine Aufregung den Chinesen hinter dem Tisch nicht weiter berührte. Dieser versicherte nur immer wieder höflich, es melde sich niemand unter der verlangten Nummer: »Sir, vielleicht ist das Kabel defekt. Viele Kabel sind jetzt defekt in Peking ...« »Quatsch!« tobte der Ausländer. »Der Mann hat diese Nummer, und ich wette, das Kabel ist in Ordnung! Geben Sie sich, gottver dammt, Mühe!« Nachdem ich mir das eine Weile angehört hatte, tippte ich dem Ausländer auf die Schultern: »Kann ich Ihnen hel fen? Wie war die Nummer?« Er sagte sie auswendig her. »Ich habe 310
sie nun seit gestern abend schon so oft wiederholt, daß ich sie im Schlaf singen könnte! Hallo, übrigens, danke für die gute Absicht, wer sind Sie?« Er war in Eile, hatte sein Gepäck neben sich stehen. Ich hielt ihn für einen Europäer, wegen seines Akzents. Ein nicht sehr großer, massiger Mann, tadellos gekleidet, der ganz im Widerspruch zu sei ner Ungehaltenheit gegenüber dem Chinesen auf mich eher einen gemütlichen Eindruck machte. Er öffnete den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, als ich sagte: »Ich heiße Robbins. Wenn ich recht verstanden habe, verlangten Sie meine Nummer ...« »Gott im Himmel, sind Sie etwa dieser Robbins?« »Sidney B. Robbins, wenn Sie den meinen, ja.« »Der Tu-Fu-Mann?« Ich blickte ihn etwas überrascht an. Er überschüttete mich mit einem Schwall von Worten, aus denen ich nach und nach entneh men konnte, daß er Verleger sei, oder jedenfalls in der Verlegerbranche
tätig,
aus
San
Francisco,
Herausgeber
schöngeistiger Literatur, besonders chinesischer, alter, klassischer, daß er als Emigrant lange in Shanghai gelebt habe, wo Verhandlungen mit einem Mister Ku zu führen gewesen waren, wegen eines Rechtsstreits um Urheberrechte mit dem >Victory Digest< ... »Eine Version von >Readers Digest<, verstehen Sie? Speziell für Fernost. Geringfügige Sache, die Kerle tun ein gutes Werk, aber sie müssen natürlich die Rechte der Autoren respektieren, es ist ihnen schwer beizubringen, sie haben jahrzehntelang Piraten-Editionen fabriziert, Nachdrucke ohne Lizenz, keiner konnte das so recht kon trollieren, wer kann schon Chinesisch lesen! Aber jetzt ...« Er holte tief Luft. »Das ist alles uninteressant für Sie. Ein alter Freund, Ernie 311
Holloway, gab mir Ihre Adresse. Kenne ihn seit Shanghai, traf ihn in Frisco wieder, neulich. Kam aus China zurück. Fragte ihn, ob er nicht einen Tip für mich hätte — er hatte einen: Sie!« Damit strahlte er mich an, zog aus der Kavalierstasche eine Zi garre, hielt sie mir hin, zog mich zu einem Tisch, bestellte Whisky, machte mich aufmerksam, daß er noch genau eine halbe Stunde Zeit hätte, und blickte mich sprachlos an, als ich mich erkundigte: »Was für ein Tip war denn das, Mister ...?« »Löwenstein. Bernard Löwenstein.« Er fischte eine Geschäfts karte aus der Tasche. »Es stimmt doch, daß Sie Chinesisch lesen, es übersetzen können und daß Sie sozusagen als Privatgelehrter hier leben, sich mit chinesischer Kunst beschäftigen, und mit Dichtung?« »Das stimmt allerdings«, bestätigte ich. Holly hatte an meine Zu kunft gedacht, es war rührend. »Und für wen tun Sie das?« »Für niemanden, Mister Löwenstein.« Er schnappte wieder nach Luft. Stürzte einen Whisky hinunter, fragte dann ruhiger: »Das heißt, Sie sind frei?« »Ich bin ein freier Mann, ja.« »Hören Sie«, sagte er eindringlich. »Wir suchen einen Mann wie Sie. Wir wollen Tu Fu herausgeben. China ist in Mode, und wir ha ben bloß die paar alten Tu-Fu-Gedichte, die dieser Fletcher, der Engländer, vor fünfzehn Jahren in Shanghai beim Commercial Press drucken ließ. Wir brauchen Li Po. Und wir brauchten Wang Wei und Tjiu Wei und Shen Tschüan-Li und ... und Ming und Ping und Dingsda! Wollen Sie für uns arbeiten?« So lernte ich Mister Löwenstein kennen, etwas benebelt noch, nach einer durchzechten Nacht, hungrig, wie man am Morgen nach einer ausgiebigen chinesischen Mahlzeit seltsamerweise stets ist. 312
Als unsere Unterredung zu Ende war, weil Mister Löwenstein (ein Österreicher von Geburt übrigens, wie er mir verriet) mit einem Auto abgeholt wurde, zum Flugplatz, hatten wir uns darauf geeinigt, daß ich ihm in absehbarer Zeit einige
meiner
Liebhabernachdichtungen Tu Fus nach San Francisco schicken würde, zur Begutachtung. Danach würde er sich erneut mit mir in Verbindung setzen, zum Zwecke genauerer Planung des Vorhabens und des Vertragsabschlusses. Ich war sozusagen auf Probe engagiert.
Der
Mann gefiel
mir,
er
war zweifellos
ein
Geschäftemacher, aber was wäre alle Literatur ohne Leute, die sich darauf verstehen, sie zu verkaufen! »Wir nehmen Sie unter Vertrag, Mister Robbins!« versicherte er mir, während er mir die Hand schüttelte, als wollte er die Funktionstüchtigkeit meiner Gelenke prüfen. »Ich bin sicher, daß wir hervorragend miteinander auskommen. Es stimmt doch, was Ernie mir sagte, daß Sie hierzulande aufgewachsen sind, wie?« »Es stimmt.« »Eine gute Idee von Ernie!« Dann, als der Fahrer bereits in der Pendeltür der Halle erschien, fiel ihm ein: »Brauchen Sie Geld?« Ich sagte vorsichtshalber nichts. Wer kann schon von sich be haupten, daß er Geld nicht braucht! Löwenstein entschloß sich blitzschnell. Er griff in die Tasche, holte eine Rolle mit Hundertdollarscheinen hervor, zählte davon fünfundzwanzig ab, schob sie mir hin, dazu die Hotelrechnung und drängte: »Schreiben Sie auf der Rückseite von dem Wisch, Vorschuß in Höhe und so weiter erhalten, Unterschrift.« Ehe ich ihm danken konnte, war er durch die Pendeltür ver schwunden. Neben mir tauchte Kamasuki auf, ebenso verkatert wie ich, aber reisefertig. Er schüttelte den Kopf. »Man läßt dich zehn Minuten allein und findet dich mit einer Handvoll Hunderter wieder 313
und einer Zigarre — wenn wir uns das nächste Mal sehen, verrätst du mir, wie man das macht!« Wenig später hatten wir Abschied genommen. Ob wir uns jemals wiedersehen? Ich fuhr in einer Rikscha den langen Weg bis zur Ping Tjiao Hu lung, und weil mich dabei so erbärmlich fror, ließ ich den Fahrer hinter dem Tjien Men anhalten, auf der breiten Straße, zu deren bei den Seiten es ein Geschäft neben dem anderen gab, ebenerdige Lä den mit aufklappbaren Fassaden. Hier konnte man vom Goldfisch bassin bis zum Diamanten mit Facettschliff so gut wie alles kaufen. Ich erwarb einen relativ modern aussehenden, gesteppten, dick mit Kapok gefütterten Mantel und eine Pelzmütze. Als ich dem Ladeninhaber einen Hundertdollarschein hinhielt, lief er im Gesicht rot an, wie bei einem Herzanfall, und schließlich konnte er stottern, er brauche ein paar Minuten, um das zu wechseln, was ich da in der Hand hielt. — Und heute sitze ich vor meinem Kamin, das Feuer wärmt die Füße, ich schreibe träge vor mich hin, auf dem Tisch steht Obst, es sind Nüsse da und Mandeln, süße Datteln, irgendwo liegt die Zigarre herum, die Mister Löwenstein mir zusteckte. Es ist Abend. Das Jahr 1945 geht zu Ende. Zeit zur Besinnung? Ich habe keine Lust dazu. Träume vor mich hin. Blicke auf den kleinen Di-di, der auf dem Teppich hockt, frisch gewaschen, ganz dicht am Feuer und in die Flammen schaut. Er trägt Lumpen, aber er trägt sie mit einer unvergleichlichen Selbstverständlichkeit. Am späten Abend ist er gekommen. Lao Wu brachte ihn herein, verkündete, er habe ihn vorsichtshal ber >abgewaschen <. Der Junge sah mich ein bißchen beklommen an, bis ich ihn freundlich lachend begrüßte. Leise sagt das Kind, was ihm Lao Wu, der alte Fuchs, aufgetragen hat: »Guten Tag, 314
Onkel, ich wünsche ... zehntausendfaches Glück, zum ... ausländischen Neujahr!« Dabei hatte er mir eines jener grellbunten, naiv gemalten Neu jahrsbilder hingehalten, wie man sie überall im Lande im frühen Fe bruar verschenkt, wenn nach dem Mondkalender das neue Jahr beginnt. Ein nacktes, dickes Baby ist da aufgemalt, umrahmt von Blu men und Vögeln, Inbegriff des Wohlbefindens! Ich verbeuge mich tief, wie es die Sitte erfordert, ganz gleich ob er sie kennt oder nicht, und dann gehe ich an mein Regal. Da liegt — Beilage zu einem Filmmagazin aus den Staaten, das ich unlängst in einem Hotel aufgelesen habe — ein Farbfoto von Shirley Temple aus ihrem ersten Film. Sie hat vor kurzem geheiratet, unter der jubelnden Zustimmung meiner Landsleute, drüben, über dem weiten Wasser. Di-di nimmt es mit den sauber gewaschenen Fingern (wie ich Lao Wu kenne, hat er von der grünen Schmierseife genommen!), hält es wie eine Reli quie, und — auch er verbeugt sich, als ich ihm Glück wünsche. Die Zeremonie ist vorüber. Lao Wu hat sie grinsend durch den Türspalt beobachtet. Ob er ahnt, daß ich mich einsam fühle? Di-di erzählt, daß er Kohl gegessen hat, heute. Daß die Mutter noch mit dem Karren unterwegs ist, es wird spät werden, denn sie hat erfreu lich viele Fuhren jetzt, wo es kalt ist und die Leute Kohle brauchen. Er sitzt vor dem Kamin, zu meinen Füßen, und ab und zu betrachtet er Shirley Temple. Knabbert ein paar Nüsse, die ich für ihn knacke, probiert eine Dattel. Und dann kommt die Wu Tai-tai herein, sie hat, wie immer, Schwierigkeiten beim Gehen auf dem Teppich, wegen ihrer >Lotosfüße<. Auf einem Teller bringt sie eine dampfende Batate. Als sie Di-di zum Essen auffordert, blickt der sie zuerst ungläubig an, fragt dann flüsternd, so daß ich es nicht hören soll: »Für mich ganz allein?« 315
Die Wu Tai-tai tätschelt ihm lachend den Kopf. »Für dich. Und für deine Mutter darfst du später, wenn du heimgehst, auch eine mitnehmen, der Onkel hat es erlaubt!« Er hat die knusprige Schale der Süßkartoffel ganz vorsichtig geöffnet, jetzt beißt er Stück um Stück des mehligen Inhalts heraus, schmatzt dabei nicht weniger, als Kamasuki und ich es bei der Pe king-Ente taten, und gelegentlich lacht er mich an. Ich habe keine Gedanken mehr an diesem Abend, ich sehe den Jungen an, der glücklich ist, träume vor mich hin, trinke dazwischen, und immer, wenn ich mich auf mich selbst besinne, weiß ich nicht mehr, wovon ich geträumt habe ...
16./17.2.1946 Ein Wochenende. Ich kann zum ersten Mal wieder zwei Tage hintereinander meine Gedanken aufzeichnen. Was mir am meisten leid tut: ich habe Tschun Djie im Bett verbracht, das farbenprächtige Frühlingsfest der Chinesen, mit dem sie das neue Mondjahr beginnen. Um diese Zeit zieht man sich festlich an, man besucht seine Verwandten und Freunde, es wird gebraten und gebacken, überall in den Straßen wird Zuckerwerk verkauft, man beklebt die Fenster und Türen mit bunten Bildern, opfert den Ahnen Weihrauchstäbchen und Papiergeld, und wer immer Lust hat, veranstaltet mit Feuerwerkskörpern einen infernalischen Lärm. Mich hatte eine Grippe gepackt, das Fieber, der Husten, alle jene Erscheinungen, die dazu führen, daß man sich am liebsten unter der Steppdecke vergräbt und die Welt ihrem Lauf überläßt. Lao Wu zi tierte einen chinesischen Heilkundigen herbei, einen würdigen alten Herrn mit etwa einem Dutzend langer, schneeweißer Barthaare, der untersuchte mich kurz, dann verschwand er wieder, um bald mit 316
einigen Tüten voller Kräuter wiederzukommen. Er erklärte der Wu Tai-tai, wann sie was für mich zuzubereiten hatte: bitteren Tee, im Mörser zerstoßene Kräuter und Wurzeln, damit erschien sie pünkt lich alle zwei Stunden und verabreichte mir auch noch jeweils drei Pillen, die aus Büffelmist gepreßt zu sein schienen und zum Glück keinen Geschmack hatten. Es ging mir nicht so schlecht, daß ich echte Befürchtungen gehabt hätte, deswegen ließ ich die Behandlung mit den nach uralten Rezepturen hergestellten traditionellen Heilmitteln gelassen über mich ergehen, faßte das alles als Studie auf und entdeckte, daß ich mich bald erstaunlich besser fühlte. Lao Wu grinste wissend: »Viel besser als ausländische Medizin! Alle ausländische Medizin ist weiß. Keine gute Farbe, weiß!« Vermutlich habe ich Lao Wu unterschätzt. Er ist nicht nur klug und anpassungsfähig, er scheint auch ein Gespür für meine Lebens haltung zu haben, und er ist ein ungemein praktisch veranlagter Mensch. Ohne daß ich auf diese einfache Idee gekommen wäre, hat er mit der Mutter von Di-di verhandelt, jetzt bringt sie regelmäßig einmal in der Woche Presskohlen auf ihrem Karren zu uns. Da wir im gewissen Sinne >Großabnehmer< sind und nun zu ihrem festen Kundenkreis zählen, bedeutet das für sie eine nicht zu unterschätzende Sicherheit. Zwar läßt sich Lao Wu nicht dazu herbei, ihr beim Abladen und Hereintragen zu helfen — das wäre unter seiner Würde —, aber ich konnte beobachten, daß er sie nach der Anliefe rung mit einer großen Schale Reis verpflegte. Es ist so gut wie si cher, daß sich zwischen dem Reis auch Fleischstückchen und Ge müse befanden. So verwunderte es mich nicht, daß Di-di am Tage des Frühlingsfestes erschien, mit einem aus Buntpapier geklebten Lampion und einem >Tang Hulu<, das ist ein Stab aus gespaltenem Bambus, auf den kleine, mit rotem Zucker kandierte Äpfel gespießt 317
sind, eine der traditionellen Leckereien des Festes. Wie es scheint, gewinne ich Freunde. Zwei weitere Nachbarn machten mir, dem leider Bettlägrigen, in aller Form ihre Aufwartung, das Ehepaar Liao, noch jung, der Mann arbeitet als Weichenschmierer auf dem Bahnhof, die Frau ist Straßenreinigerin in der Morrison-Street, einer der elegantesten Geschäftsgegenden im Zentrum. Und die beiden haben vier Kinder. Der andere Nachbar war ein Mann in mittleren Jahren, dessen Frau einen Ramschladen in der Tjien Men Wei Dadjiä betreibt (Körbe, Geschirr, Holzkisten, Besen und dergleichen), während er selbst einen Spezialberuf hat, von dem er hofft, daß er ihm eines Tages wieder ein besseres Einkommen sichert: er sticht in der Liu Li Tschang, einer Gasse westlich von hier, in einer angeblich seit mehr als hundert Jahren bestehenden Druckerei, aus Birnenholz Druckstöcke für die Vervielfältigung von Aquarellen aus dem unerschöpflichen
Arsenal
der
traditionellen
chinesischen
Tuschmalerei. Sie alle versicherten mir, daß sie sich hoch geehrt fühlten, einen so wissenden und gebildeten Nachbarn zu haben. Da ich leider noch nicht aufstehen konnte, bat ich Lao Wu, sie zu bewirten, ich bedankte mich bei ihnen, fortan würden wir, das sagte ich ihnen, wie es sich gehörte, keine Fremden mehr sein, die einander schweigend begegneten, wir wären jetzt > Leute, die am gleichen Ufer wohnen <. Gegen Abend veranstaltete dann Di-di vor meinem Hoftor mit Feuerwerkskörpern einen ohrenbetäubenden Lärm. Lao Wu berichtete mir schmunzelnd, der Kleine selbst habe gar kein Geld gehabt, sie zu kaufen, er habe sie von besser gestellten Kindern eingetauscht: für jeden der Kracher durften sie zehn Minuten lang das Bild der amerikanischen Neujahrsgöttin ansehen. Shirley Temple! Es war vorgestern, als ich mich schon wieder einigermaßen ge 318
sund fühlte, da meldete mir Lao Wu den Besuch eines jungen Mannes. »Er sieht ganz ordentlich aus, Sir. Kein Bettler. Sauber. Spricht unständig, läßt sich nicht abweisen. Besteht darauf, daß ich Ihnen sage, Ihr guter Freund Tso Wen sei da ...« »Hat er gesagt Tso Wen?« »Tso Wen, Sir.« Es schien unglaublich zu sein, aber ich nahm mir nicht lange Zeit zum Überlegen, ich ließ Lao Wu den Besucher hereinholen. In der Tat, es war Tso Wen, der junge Mann, der während meiner Zeit in Jenan so oft um mich gewesen war, einer der engsten Mitarbeiter Kang Shengs. Sein Gesicht hellte sich auf, als er mich sah, wir be grüßten uns wie alte Freunde, und die Wu Tai-tai brachte uns Tee und Gebäck. Tso Wen sah gut genährt aus, er war städtisch geklei det, man hätte ihn nicht von einem der unzähligen jungen Kuomin langbeamten unterscheiden können, die in Peking herumflanierten, wenn sie nicht damit beschäftigt waren, die Arbeit ihrer Vorgesetz ten zu machen, die lieber zu Haus blieben oder eigenen Geschäften nachgingen. »Wie es mich freut, daß wir uns wiedersehen ...«, sagte er, dann blickte er sich um und fand offenbar Gefallen an meiner Einrich tung. »Schön haben Sie es hier! Ich bin sehr erleichtert!« Er trank Tee und erzählte, die größte Sorge seines Chefs sei es, dass ich Schwierigkeiten in Peking haben könnte. Eigentlich war er darauf vorbereitet gewesen, mir zu helfen, und er sei überrascht, wie gut ich die neue Lage gemeistert habe. Eine ganze Weile brachten wir bei Betrachtungen über die allgemeine Lage zu, über das Leben in Peking, dann kam Tso Wen auf den Kern der Sache. »Genosse Kang Sheng möchte Sie unbedingt sprechen, Mister Robbins. Er erwartet Sie.« Mir war einigermaßen unklar, wie das zu realisieren sein könnte, 319
denn ich wähnte Kang Sheng in Jenan oder in der Mandschurei. Wie sollte ich dorthin gelangen? Tso Wen lächelte nachsichtig. »Der Genosse Kang Sheng befindet sich ganz in der Nähe!« »In Peking?« »Nicht direkt. Wir könnten in einer Stunde dort sein, wenn Sie in der Lage wären, eine Autofahrt zu machen ...« Ich hatte meine Bedenken, denn ich fühlte mich von der Grippe noch etwas geschwächt, und ich erklärte es Tso Wen. Er hatte Ver ständnis dafür, aber andrerseits wäre der Genosse Kang Sheng aus verschiedenen Gründen nur kurze Zeit in der Gegend, und das Treffen sei wichtig. Im übrigen könnten wir Decken mitnehmen, damit mir unterwegs warm genug sei. »Also gut«, sagte ich schließlich. Die Sache war zwar etwas mysteriös, aber schließlich interessierte mich schon, was Kang Sheng mir in dieser Situation mitzuteilen hatte. Tso Wen klärte mich lächelnd auf: »Mister Robbins, Sie haben keine Anstrengungen zu erwarten. Nur eine knappe Stunde in einem guten Auto. Genosse Kang Sheng möchte mit Ihnen Abendessen ...« Das Auto stand am Ende unserer Gasse, dort wo sie in die breite Dschou Sehe Kou einmündet. Ein alter, aber gut gepflegter amerikanischer Ford der Vorkriegszeit mit einer Pekinger Nummer. Wer weiß, wer ihn während des Krieges gefahren hatte! Der Fahrer trug die Uniform der Kuomintangtruppe und er blickte mich nicht an, als er mir den Schlag öffnete. Aus dem Tonfall, in dem Tso Wen ihm den Befehl zum Anfahren gab, erkannte ich, daß es sich vermutlich um einen roten Soldaten handelte, der verkleidet war. Was hier vorging, würde ich wohl nie in allen Einzelheiten erfahren, ich sparte mir die Mühe, nach den Zusammenhängen zu fragen; Tso Wen war bei Details, die in die Interna gingen, auch in 320
Jenan nie gesprächig gewesen, es sei denn, Kang Sheng hatte ihn beauftragt, mich zu informieren. Wir fuhren westwärts aus der Stadt hinaus. Als die Siedlungsge biete dünner wurden, kam im Licht der Scheinwerfer ein Posten häuschen in Sicht. Der dazu gehörende Schlagbaum war herabgelassen. Noch immer war Peking, wie andere größere Städte auch, eine >Insel im Meer<. Die Kuomintangbehörden konnten mit unserer Hilfe ihren Herrschaftsbereich gerade noch bis an die Stadtränder
ausdehnen,
was
dahinter
lag,
war
unsicheres
Territorium, es gehörte den roten Guerillas. Tso Wen zog aus der Tasche ein mit seinem Foto und vielen Sie geln versehenes Papier. Das hielt er aus dem herabgekurbelten Fen ster, als der Posten an den Wagen herantrat. Ich war sicher, der Po sten konnte nicht lesen, was da stand, aber ich wußte auch, welch magische Kraft Siegel auf Analphabeten in China haben. So warf der Posten, wie ich das erwartet hatte, einen respektvollen Blick auf das Papier, besah sich die Autonummer, streifte den Fahrer mit einem Blick und salutierte dann. Dabei machte er Tso Wen achtungsvoll aufmerksam: »Das kritische Gebiet beginnt hinter der zweiten Brücke, die vor Ihnen liegt ...« Tso Wen nickte nur und kurbelte das Fenster hoch, der Schlagbaum öffnete sich, und wir fuhren in die Dunkelheit. Es schien mir, daß wir nach einiger Zeit leicht nordwärts einschwenkten, und es dauerte nicht lange, bis wir in eine Ortschaft einfuhren, die mir vage bekannt vorkam. Als ich Tso Wen fragte, lächelte der nur und sagte: »Dschoudjiahsiang.
Sie
sind
schon
hier gewesen,
Mister Robbins.“ In der Tat, es war der Ort, durch den ich mit Holly gefahren war, als wir vom Adlergipfel zur Stadt aufbrachen, damals nach der Kapitulation der Japaner. 321
Vor einem dürftigen Straßengasthaus hielten wir an. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand plötzlich ein in Steppkleidung gehüllter junger Bursche mit einem Gewehr neben dem Auto. Er sah in unsere Gesichter, tippte an seine Pelzkappe, und dann war da schon Kang Sheng. Er trat aus dem Eingang des Gasthauses und machte eine einladende Bewegung. Der alte Kang Sheng, so wie ich ihn aus Jenan in Erinnerung hatte, kurzsichtig durch seine dicken Brillengläser blinzelnd. Nur diesmal trug er einen ausländisch geschnittenen Anzug, er war offenbar bemüht, sich hier, im Hinterland der Kuomintang, obwohl rote Guerillas es zum größten Teil beherrschten, dem äußeren Bild anzupassen: jeder kleine Kuomintangbeamte trug heute mit Stolz einen >westlichen< Anzug. »Lieber Kamerad Robbins!« rief er, dann schüttelte er mir freudig die Hand, klopfte mir auf die Schulter und dirigierte mich ins Innere des Gasthauses. Der Wirt und seine Frau, offenbar mit den Guerillas in dieser Gegend seit längerem im Einvernehmen, standen wie ein Empfangskomitee da und verbeugten sich tief. Außer Kang Sheng und mir befand sich niemand in dem kleinen Raum, wir ließen uns an dem bereits gedeckten runden Tisch nieder, und Kang Sheng ließ sich berichten, wie ich mich in Peking eingelebt hatte. Er schüttelte besorgt den Kopf, als er von meiner gerade überstandenen Grippe erfuhr, und dann tranken wir Tsingtao-Bier, das ihm sichtlich schmeckte. Ich erzählte von dem, was sich seit meiner Ankunft in Peking ereignet hatte, und konnte beobachten, daß Kang Sheng mich mit einem Blick ansah, in dem Bewunderung zu spüren war. »Wir freuen uns sehr, daß Sie sich in der Stadt eingelebt haben, Kamerad Robbins«, sagte er schließlich. »Es ist gewiß nicht einfach gewesen. Ich gebe zu, ich habe Sie unterschätzt, Sie sind ein Mann, der sich schnell zurechtfindet. Ich darf Ihnen die herzlichen Grüße 322
des Genossen Vorsitzenden ausrichten. Er weiß als einziger, daß ich mich hier mit Ihnen treffe ...« »Danke«, erwiderte ich. »Wenn Sie mit ihm zusammenkommen, übermitteln Sie ihm bitte auch meine Grüße!« Er versprach das. Aber er hielt sich nicht lange bei Vorreden auf, er war gekommen, um mich über Zusammenhänge zu informieren, alles andere war höfliches Beiwerk. »Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen die Lage erläutern, wie wir sie sehen. Es wird für Sie von Be deutung sein, unsere Beurteilung zu kennen. Vermutlich haben Sie erfahren, daß der neue Beauftragte des amerikanischen Präsidenten, Mister Marshall, seine Tätigkeit seit Januar darauf richtet, eine Art >große Pause< herbeizuführen, in der sich die Kuomintang mit uns auf eine ehrliche Zusammenarbeit einigen soll, bevor wir eine Kon sultativkonferenz abhalten, um danach China politisch einigen zu können. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir diese Bemühungen des Herrn Marshall kritisch beurteilen, um nicht zu sagen, wir halten sie für heimtückisch. Trotzdem haben wir dem Waffenstillstand seit dem 10. Januar zugestimmt, haben an der Konsultativkonferenz teilgenommen, und dort ist dann ja auch formal die Bildung einer Koalitionsregierung beschlossen worden, die
Vereinigung
aller
Streitkräfte
unter
gemeinsamem
Oberkommando, sowie eine Anzahl minder wichtiger Reformen auf verschiedenen Gebieten. Mister Robbins, wir sind uns darüber klar geworden, daß nichts davon in der Realität durchführbar ist ...« »Sie glauben, daß die Verhandlungen nicht das geringste Ergebnis bringen werden?« »Genau das glauben wir«, antwortete er freundlich. »Sie haben lediglich dazu geführt, daß der verdeckte Bürgerkrieg jetzt als Waffenstillstand bezeichnet wird. Mister Marshall sorgt dafür, daß währenddessen immer mehr Kuomintangtruppen um die von uns 323
besetzten Gebiete zusammengezogen werden, die Garnisonen in den mandschurischen Städten werden aufgestockt, und der >Waffenstillstand< soll lediglich dazu dienen, daß wir diese Vorbereitungen zu unserer Vernichtung nicht behindern dürfen. Das ist die bittere Wahrheit, das ist der Verrat, den die gegenwärtige Regierung der USA an uns übt...« Er unterbrach sich, dachte nach, dann versicherte er mir: »Kame rad Robbins, man wird uns nicht unvorbereitet finden, wir sind nicht untätig, auch wir bereiten uns auf das Unvermeidliche vor, und zwar mit aller Kraft. Aber — wir wissen andrerseits, daß es in den Vereinigten Staaten Kräfte gibt, die dieses bedingungslose Engagement für Tschiang Kai-shek missbilligen, die lieber mit uns zusammen ein freies China schaffen würden, das als Partnerland der USA eine höchst wichtige Rolle auf dem asiatischen Festland spielen könnte, weil es nämlich ein innerlich stabiles Land sein würde. Wir wissen, daß beispielsweise Sie zu diesen Kräften gehören, auch andere Ihrer Landsleute, die wir in Jenan kennen lernten. Aber wir sind Realisten, wir blicken den Tatsachen ins Auge: diese von uns hochgeschätzten Leute sind vorerst unterlegen, sie werden sich auf lange Zeit in der amerikanischen Politik nicht durchsetzen können. Der schwelende Bürgerkrieg zwischen uns und der Kuomintang wird also eines Tages explosionsartig ausbrechen. Wir treffen alle Vorbereitungen, seien Sie unbesorgt. Wir werden uns der Kuomintang nicht beugen, wir werden uns die Macht in China erkämpfen, das ist sicher. Sicher ist auch, daß die amerikanische Unterstützung Tschiang Kai-shek nicht retten wird. Und wenn die USA noch mehr Truppen schicken, die sich etwa an den kommenden Kämpfen beteiligen, so würde das den dritten Weltkrieg bedeuten ...« Ich fühlte mich verpflichtet, eine Äußerung zu tun, und ich be 324
merkte: »Bis hierher bin ich genau Ihrer Meinung. Ich bedaure das, was unsere Administration gegenwärtig tut, aber es gibt wohl kaum eine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Ich möchte Sie aufmerk sam machen, daß die Atombombe eine Art Zäsur in der amerikani schen Politik herbeigeführt hat, mit der wohl niemand rechnete ...« Er stimmte mir zu. Aber dann sagte er, nachdem er etwas Bier getrunken hatte: »Wir haben keine Furcht vor dieser Bombe, Kamerad Robbins. Wir sind entschlossen, der Kuomintang endgültig und mit Waffengewalt die Macht aus der Hand zu schlagen. Ich möchte, daß Sie das Ihren Gesinnungsfreunden in den Vereinigten Staaten übermitteln. Wir lassen uns mit dem Despoten Tschiang Kai-shek auf keine Wagnisse mehr ein, unser Kurs ist festgelegt, wir werden ihn vernichten. Reinen Tisch machen wir. Was den dritten Weltkrieg betrifft, so glauben wir, daß die Völker, auch in unserer Region, kriegsmüde sind. Amerika würde diese Völker gegen sich aufbringen, wenn es tatsächlich Truppen zu Tschiang Kai-sheks Hilfe entsenden würde. Und dann ist da zu bedenken, daß es die Sowjets gibt. Sie würden ein amerikanisches Engagement unmittelbar vor ihren Grenzen zweifellos als Bedrohung empfinden. Mehr möchte ich dazu nicht andeuten. Nur — wir werden trotz allem unsere Angebote an die Vereinigten Staaten offenhalten. So wie wir das in Jenan erklärt haben. Ich möchte Sie bitten, die ganze Kompliziertheit der Lage gründlich zu durchdenken. Im bevorstehenden Kampf gegen Tschi-ang Kai-shek werden wir uns Verbündete suchen müssen ...« »Moskau?« Er lächelte. »Sobald der Bürgerkrieg voll entbrennt, werden Kommunisten aus dem einen Land einfach den Kommunisten im anderen Land helfen müssen, Mister Robbins, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollen. Unter uns gesagt: die Sowjets möchten 325
den Bürgerkrieg vermeiden. Sie halten das noch für möglich, sie glauben an die Chance einer Koalitionsregierung, in der die KP eine wesentliche Rolle spielt, die sie dann nach und nach ausbauen soll. Wir glauben nicht an diese Möglichkeit, und wir werden mit den Sowjets nicht mehr lange darüber debattieren, wir werden sie vor vollendete Tatsachen stellen — nur das ist nicht Ihr Problem. Ich möchte, daß Sie' Ihren Vorgesetzten mitteilen, es wird sich angesichts
der
gegenwärtigen
Haltung
der
amerikanischen
Administration nicht vermeiden lassen, daß wir uns an die andere Seite anlehnen. Wir haben keine Wahl, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Man soll das berücksichtigen: es ist nicht unser eigener Entschluß, es ist das politische Verhalten Amerikas, das uns dazu zwingt.« »Nur«, wandte ich ein, »habe ich keine Vorgesetzten mehr, Mister Kang Sheng. Das OSS ist aufgelöst. Jeder, der in Jenan war, gilt heute zu Hause als des Kommunismus verdächtig ...« Er winkte ab, ungeduldig, wie es mir schien. »Ja, ja, ich weiß das. Aber ich bin auch informiert, daß bestimmte Kräfte sich für die Schaffung
eines
zentralisierten
neuen
Apparates
einsetzen.
Kamerad Robbins, denken Sie selbst nach: Erfahrene Leute auf diesem Gebiet, Leute, die sich in Geheimdienstarbeit auskennen und gleichzeitig in Asien zu Hause sind, Leute, die mit uns bekannt wurden, die mit uns sprechen können, von Mann zu Mann — sie sind rar. Man wird auf alte Spezialisten zurückgreifen müssen, eines Tages, früher oder später. Alles, was wir haben müssen, ist Geduld. Wir Chinesen haben viel Geduld, es ist eine unserer wertvollsten Tugenden, wir werden den Zeitpunkt abwarten, zu dem sich die Dinge verändern lassen. Gibt es eine Verbindung zwischen Ihnen und Ihren ehemaligen Vorgesetzten?« Ich zögerte. Was ging es ihn an. Aber es war vermutlich klüger, 326
in diesem Falle mit offenen Karten zu spielen. »Ich kann meinem Führungsoffizier — dem ehemaligen — über eine Zwischenadresse Botschaften zusenden.« »Das ist doch sehr gut! Tun Sie das weiter. Wir arbeiten auf sehr lange Sicht, was das betrifft. Und auf sehr vielen verschiedenen Wegen. Informieren Sie Ihren ehemaligen Führungsoffizier über unsere Auffassung, wie ich Sie Ihnen darlegte. Wenn Sie von ihm eine Rückäußerung erhalten ...« Er unterbrach sich, suchte in seinen Anzugtaschen, brachte dann einen Zettel hervor und sah mich ernst an. »Kamerad Robbins, dies ist eine praktische Frage. Wir sind auf Mister Marshalls Taktik ein gegangen, wie ich es beschrieb, es hat uns unter anderem auch einige neue legale Möglichkeiten eingebracht. Beispielsweise die, daß es jetzt in Peking eine sogenannte > Dreierkommission < gibt, Amerikaner, Kuomintang, KP-Vertreter, die ganz offiziell diese Farce von Waffenstillstand überwachen sollen. Wissen Sie davon?« Ich schüttelte den Kopf. Ich wußte tatsächlich nicht, daß es inzwischen in Peking offizielle KP-Vertreter gab. Aber selbst, wenn ich es gewußt hätte, wäre das für mich kein Grund gewesen, sie etwa zu suchen. Das sagte ich Kang Sheng. Er nickte bekräftigend, freute sich offenbar über meinen konspirativen Instinkt. »Sehr richtig! Lassen Sie sich nie auch nur in der Nähe dieser Kommission sehen! Halten Sie sich fern. Sie sind ein Privatmann, der in Peking lebt, sonst nichts. Ich gebe Ihnen eine Telefonnum mer, die Sie sich merken, nicht aufschreiben, sondern nur ins Ge dächtnis einprägen. Für den Fall, daß Sie eine Botschaft für mich haben, rufen Sie diese Nummer an und sagen, in der Ping Tjiao Hu tung sei die Elektrizität ausgefallen, man solle das bitte reparieren. Nur das, sonst nichts. Einfach auflegen, warten. Es wird sich dann jemand bei Ihnen melden, und der wird nicht von einer Reparatur 327
an der elektrischen Anlage sprechen, sondern an der Wasserleitung. Sie führen ihn in Ihr Badezimmer, dort geben Sie ihm die Botschaft für mich, den Rest erledigt er. Hier die Nummer ...« Ich prägte sie mir ein, es war nicht besonders schwierig, man hatte uns beigebracht, solche Zahlen zu behalten. Nach und nach kam ich mir vor wie in einem Verschwörerfilm, aber das alles, was Kang Sheng hier mit mir besprach, gehörte wohl unvermeidlich zum Handwerk: der >Privatgelehrte< Robbins war dabei gewesen, das über Tu Fu und Li Po zu vergessen! Wie auf Verabredung erschien in unserer Gesprächspause der Wirt. Er trug einen unter Glut stehenden Feuertopf, eines jener mit Holzkohle befeuerten Kochgeräte, mit denen man am Tisch Mahl zeiten selbst kochen kann. Teller mit Gemüse, Fleischbrocken und Reis kamen hinzu, Schalen mit Soßen und Gewürzen. Kang Sheng forderte mich auf, zuzugreifen: »Ein bescheidenes Mahl!« »Immerhin«, sagte ich, während ich mit den Stäbchen ein Stück Fleisch in die siedende Brühe hielt, »es ist opulenter, als wir es in Jenan hatten!« Er lachte, zwinkerte mit den kurzsichtigen Augen. »Sie verstehen es, Fortschritte aufzudecken, Kamerad Robbins! In der Tat, wir ha ben uns verbessert. Nicht nur in dieser Hinsicht. Wir sind stärker geworden. In der Mandschurei haben wir den Japanern so viele Waffen abgenommen, daß wir eine Division nach der anderen damit ausrüsten können. Wir haben ihre Lastwagen, ihre Granatwerfer, ihre Geschütze — sogar ihre Panzer haben wir. Unsere Soldaten sind dabei, alle diese für sie neuen Waffen beherrschen zu lernen. Aber sie sind gelehrig — Tschiang Kai-shek wird das sehr bald spüren!« Ich tunkte das gegarte Fleisch in eine Schale mit Soße, es schmeckte gut, ich aß Lauch und hielt ein Stück Kohl in die Brühe. 328
Der Wirt kam mit einer der langhalsigen Brandyflaschen, die ich von Peking her kannte, er goß winzige Schälchen voll und entfernte sich wieder, fast lautlos. »Also Bürgerkrieg«, sagte ich, um nochmals auf das zurückzu kommen, was Kang Sheng mir erläutert hatte. Er nickte. »Sie dürfen das Ziel von Jenan nie aus den Augen verlieren, Kamerad Robbins. Es ist unsere Stärke, daß wir das nicht tun. Das Leben verläuft in Wellenlinien, aus tiefen Tälern steigt man eines Tages zu lichten Höhen empor. Wir werden das erleben, beide ...« Er hielt das Schälchen mit dem Brandy hoch, wir tranken. Als er das leere Schälchen absetzte, schärfte er mir nochmals ein: »Was immer geschieht, wir werden die Hand Amerikas, wenn sie sich uns entgegenstreckt, nie ausschlagen. Morgen nicht, in zehn Jahren nicht, nie. Es ist wichtig, daß Sie das wissen und daß möglichst viele Leute in den Vereinigten Staaten das erfahren. Haben Sie übrigens irgendwelche Sorgen in Peking, die wir Ihnen abnehmen könnten?« Mir fiel nichts ein, ich spürte nur, daß sich das gemeinsame Essen seinem Ende zu bewegte und Kang Sheng den Zweck seiner Unterredung mit mir als erfüllt ansah. Deshalb schilderte ich ihm in kurzen Worten, womit ich mich beschäftigte, wie es mir ging, teilte ihm sogar mit, daß mir ein Verleger aus den Staaten ein Geschäft mit chinesischer Poesie eröffnet hatte. Er wiegte den Kopf. »Sehr gut! Es ist wichtig, daß Sie in Peking zu einer Persönlichkeit werden, der man Respekt entgegenbringt und an deren Rechtschaffenheit niemand zweifelt. Wir werden in dem Viertel, in dem Sie wohnen, verbreiten lassen, daß Sie zwar ein Ausländer, aber ein treuer Freund des chinesischen Volkes sind. Wenn ich mich nicht irre, wäre das sogar mehr als ein geschickt un ter die Leute gebrachtes Gerücht, nicht wahr?« 329
»Sie wissen sehr gut, daß ich China tatsächlich liebe«, sagte ich. »Und es fällt Ihnen nicht etwa schwer, bei uns zu leben? Auch nicht, wenn Sie an all die zivilisatorischen Vorteile denken, die Sie in Amerika hätten?« Eigenartig, seine bohrenden Fragen ähnelten denen, die Holly mir mehr als einmal gestellt hatte. »Was ist schon Zivilisation«, sagte ich ausweichend, »verglichen mit der Chance, sich mit einer der ältesten Kulturen der Welt beschäftigen zu können, in der Ruhe meines Heimes, ohne Sorgen? Zu Hause würde ich vermutlich wegen kommunistischer Ideen unter Druck stehen. Nein, ich lebe gern in Peking!« Er hob den Zeigefinger. »Vergessen Sie nie, Kamerad Robbins, wir sind dabei, in diesem Land ein Stück neuer Geschichte zu schreiben, mit dem Gewehr. Aus dem Gewehrlauf kommt alle Macht, wie unser Genosse Vorsitzender sagt. Sie werden Zeuge sein, mehr noch, Sie werden teilhaben daran ...« Ich tauchte weiter Fleisch und Gemüse in die blubbernde Brühe über dem Holzkohlefeuer, aß, trank Bier, hörte Kang Sheng zu, wie er mir voraussagte, die Revolution werde unvermeidlich siegen, der Kuomintang würden in Kürze lediglich ihre Bürokraten verbleiben, jene Feiglinge in Maßanzügen, die Bauern aber würden zusammen mit der Befreiungsarmee eine Provinz nach der anderen erobern, wobei
die
zwangsrekrutierten,
politisch
unaufgeklärten
Kuomintangsoldaten ihnen in Scharen zulaufen würden, freiwillig. »Waren Sie in der Mandschurei?« fragte ich ihn zwischendurch. Er nickte. Beschrieb die riesigen Industrieanlagen, die sich dort befanden, die Bodenschätze. Und er sprach über die Beute, die Lin Piaos und Tschu Tehs Truppen dort gemacht hätten. Als der Wirt wieder mit der Brandyflasche erschien, beauftragte Kang Sheng ihn, Tso Wen zu rufen. Der kam, mit einer flachen Tasche, als sei 330
das zuvor abgemacht gewesen, legte sie vor Kang Sheng hin und ging wieder. Kang Sheng lächelte verschmitzt. »Wir sprachen von Beute, Ka merad Robbins. Ich darf Ihnen im Auftrage des Genossen Vorsitzenden etwas überreichen, das der Sicherung Ihres Daseins in Peking dienen soll ...« Ich erwartete eine Maschinenpistole, vielleicht eine Automatik, aber stattdessen zog Kang Sheng aus der Tasche ein Päckchen, das etwa die Größe einer Zigarrenkiste hatte. Er wickelte das Papier auf, vor mir lag ein Stapel hauchdünner Goldplatten, drei Dutzend, vielleicht auch fünf. »Es sind zwanzig«, erläuterte Kang Sheng, den das kostbare Me tall kaum zu erregen schien, er drehte eine der Platten in der Hand um, als handle es sich um eine Postkarte, und machte mich auf einen Prägestempel mit japanischen Schriftzeichen aufmerksam. »Unser Eigentum. Sie haben es gestohlen, aber sie mußten es zu rücklassen, wie der Dieb den Mantel ...« Er schob mir das Päckchen über den Tisch zu, vorbei an dem Feuertopf und den Tellern mit den Resten der Mahlzeit. »Das soll für mich sein?« Er lächelte nicht, als er sprach, sein Gesicht hatte überhaupt einen ernsten Ausdruck angenommen. »Wir haben Sie gebeten, in China zu bleiben, was immer in der nächsten Zukunft geschehen sollte. Sie sind bereit, uns zu helfen, das wissen wir zu schätzen. Und — niemand weiß, was die nächsten Monate uns allen bringen werden. Dies hier könnte eines Tages den Reis und das Kochöl für Sie be deuten. Es wird Hunger geben, schlimmer, als er jetzt ist. Dann wird es gut sein, etwas eintauschen zu können. Nehmen Sie es ruhig, wir haben genug davon. Wie lautet die Telefonnummer, die Sie in Peking anrufen können?« Verblüfft wiederholte ich sie aus dem Gedächtnis. Er lobte mich 331
dafür, forderte mich noch einmal zum Zugreifen auf, dann rief er nach dem Wirt und bestellte den Tee: Das Mahl ging dem Ende zu. »Wir werden uns lange Zeit nicht sehen«, sagte Kang Sheng, als er mich zur Tür brachte. »Leider. Aber der Tag wird kommen, an dem wir die Ideen unseres Vorsitzenden auch nach Peking tragen, und dann wird das Leben eigentlich erst beginnen!« Er sprach fast feierlich, und er drückte meine Hand, wies jeden Dank zurück, winkte nur noch einmal und verschwand wieder in dem Restaurant. Tso Wen lachte, als ich nach Kuomintangsoldaten in der Nähe fragte. Er versicherte mir, daß wir in dem Auto absolut sicher seien. Es gäbe unzählige Augen rechts und links der Straße, aber das wä ren die Augen roter Guerillas. Jeder von ihnen habe den Befehl, seine Waffe gesichert zu lassen. Als wir die Straßenkontrolle nach Peking hinein hinter uns hatten, sagte er gedämpft in Englisch zu mir: »Es ist möglich, daß wir uns in Peking einmal aus Zufall irgendwo begegnen. Bitte, begrüßen Sie mich nicht, beachten Sie mich nicht, ich bin ein Fremder für Sie, so, wie Sie ein Fremder für mich sind ...« Das ABC der Konspiration. Ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »0. K., ich kenne die Spielregeln, mein Junge!« Er schien erleichtert, als er mich am Eingang zur Ping Tjiao Hutung absetzte. Ob er es war, den ich unter der mysteriösen Telefonnummer erreichen würde? Ich fragte ihn nicht, ich kannte die Regeln. Als ich mein Haus erreichte, das Päckchen mit den Goldblättern unter dem Arm geklemmt, traf ich einen enttäuschten Lao Wu. Seine Frau hatte Essen vorbereitet. Teigtaschen mit Fleisch gefüllt. Als er jetzt erfuhr, daß ich schon gegessen hatte, war er verärgert, aber das legte sich schnell, als ich ihm auftrug, selbst ausgiebig da von zu essen und den Rest zu Di-dis Mutter zu schaffen. Er liebte 332
es, mit den Nachbarn in gutem Einvernehmen zu leben, und wo durch würde das noch besser gestärkt werden können als durch ein so unerwartetes, fürstliches Geschenk! Ich ging an meinen Wandtresor. Da lag das Zeug, das Holly mir übergeben
hatte,
und
da
lag
das
Bündel
mit
den
Hundertdollarnoten. Die Packung Goldplättchen legte ich dazu. Ein Schatz, von dem man Jahre leben könnte, als Ausländer, Jahrzehnte als Chinese. Es war, als habe sich einer mit dem anderen abgesprochen, mich auf jeden Fall in dieser zwielichtigen Stadt zwischen Krieg und Bürgerkrieg zum Millionär zu machen. Himmel, warum steckten sie mir nur alle das Zeug zu, ich brauchte es nicht, es war nicht nötig, um mich in China zu halten, und meinen Lebensunterhalt konnte ich mir ohnehin selbst verdienen! Auf der Anrichte stand eine Flasche Whisky, ich goß mir ein Glas ein, und plötzlich, beim ersten Schluck, merkte ich, daß es mir nicht schmeckte. Warum trank keiner mit mir? Das Schicksal eines Krösus in einer zerrissenen Welt ... Morgen werde ich an Holly berichten. Zum ersten Mal, über die Hongkonger Adresse, die er mir gab. Und dann im >Peking< einen GI suchen, der den Brief mitnimmt...
April 1946 Es ist ein tristes Jahr, das da begonnen hat, und ich weiß nicht so recht zu sagen, woher die Tristesse kommt, die mich befällt. Da ist diese im Grunde wunderschöne, interessante Stadt, die ich immer noch kaum kenne. Wann werde ich zu ihrer Entdeckung auf brechen können? Einige tausend Jahre Historie stecken in ihren Mauern, glänzen in den Palästen und modern unter der Erde. Es muß im 15. Jahrhundert gewesen sein, wenn mich meine Schul kenntnisse in der chinesischen Geschichte nicht im Stich lassen, als 333
der regierende Ming-Kaiser Peking zur Hauptstadt des Reiches machte. Zweihundert Jahre danach stürzten die Mandschu-Fürsten die Ming, und sie begründeten die letzte Dynastie chinesischer Herrscher hier, in den Mauern der Verbotenen Stadt<, die man auch Winterpalast nennt, mit ihrer beeindruckenden Vorderfront, dem Tien An Men. Die Tjing, wie die Mandschufürsten sich nannten, wurden von den Ideen Sun Yat-sens besiegt, von einer Revolution, die allerdings nie ganz vollendet wurde. Aber Peking war nicht mehr die Hauptstadt, sie ist es auch jetzt nicht. Die Ansammlung von niedrigen Häusern (keines durfte laut kaiserlichem Edikt so hoch sein wie der Kaiserpalast), dieses Panorama in Grau mit den dazwischen aufragenden Pagoden, den hohen Wällen der Paläste, den Türmen und Hügeln liegt unter der zitronenfarbigen Frühjahrssonne und scheint wie in einem unruhig machenden Traum zu schlummern. Ich bin gewiß, ich werde später Zeit und Lust bekommen, das al les zu entdecken, was es zwischen Lehmwällen und Glasurziegel mauern, zwischen idyllischen Seen und schneeweißen Pagoden zu entdecken gibt, aber im Augenblick drängt es mich nicht dazu. Im Gegenteil, ich ertrage den Anblick dessen, was sich in der Stadt ab spielt nur schwer, und ich bin froh, wenn ich allein in meiner Stu dierklause sitze, mit Tu Fu beschäftigt, mit Aufzeichnungen, mit der Erteilung von Sprachunterricht — werde ich zum Eremiten? Ein Tu Fu—Gedicht, das in meine gegenwärtige Stimmung paßt, habe ich übersetzt. Es bedarf noch der Bearbeitung, ich spüre das, aber ich füge es — zusammen mit anderen, vorher übersetzten — der Sammlung bei, die ich an Mister Löwenstein auf den Weg bringe: Die einsame Wildgans Zu traurig, um zu essen, 334
zu trinken, hockt die einsame Wildgans. Ihr gramvoller Ruf nach dem entflogenen Schwarm verliert sich in fernen Wolken. Unverwandt streift der Blick durch den leeren Himmel, suchend nach den Gefährten. Echo der eigenen Klage ist nicht ihr Antwortschrei, schreckt nur die kleinen Sänger im herbstlichen Geäst, stört ihren Schlaf mit seinem Weh. Dann zwinge ich mich dazu, ins Zentrum zu fahren, in das quir lende Durcheinander von Menschen in Lumpen, Menschen in engli schem Tuch, Menschen in Uniform, von Rikschas, Eselkarren, Sup penküchen und ambulanten Händlern, die von Coca Cola bis zu Weihrauchstäbchen nahezu alles anbieten. Die Stadt stinkt, trotz der wenigen elegant gekleideten Leute, oder vielleicht gerade um ihret wegen, nach Armut. Ich gehe die Morrison Street entlang, die traditionelle Geschäfts straße des Zentrums, wo es Spielzeugläden und Lokale gibt, indi sche Damenschneidereien und Friseursalons, Buchläden und Blu menstände. Ein gemächlicher Spaziergang, bei dem Hunderte von Menschen an mir vorbeidrängen, manchmal im Gewühl vor einem Schaufenster voller Corned Beef und Kaffeebüchsen ihre Ellenbo gen benutzend, was hier nicht unbedingt ein Ausdruck von Aggressivität ist, eher von Neugier. Irgendwo kaufe ich ein Päckchen kandierten Ingwer, er kostet, das rechne ich mir schnell 335
aus, ein Zehntel des Monatslohnes, den der Angestellte eines Feinkostladens bezieht, dem ich englischen Sprachunterricht gebe. Er möchte durch den Erwerb von Sprachkenntnissen sein Einkommen aufbessern, hat er mir gestanden, Ausländer, die in seinem Laden einkaufen, geben gern ein Trinkgeld, wenn der Verkäufer ihre Sprache auch nur ein wenig beherrscht und sie beraten kann — wer anderes als Ausländer kauft hier schon Feinkost! Am nördlichen Ende der Morrison Street befindet sich einer der Eingänge des alten Dung An Basars. In einem Gewirr von Gassen steckt hier ein Laden, ein Verkaufsstand neben dem anderen, ich staune über die Vielfalt dessen, was angeboten wird, aber es gibt viel mehr Zuschauer als Käufer. Aus der gestampften Erde der Gassen und Passagen zieht immer noch Kälte herauf, die der Winter gespeichert hat. Man fröstelt. Ich gehe in eines der Restaurants und trinke einen Topf heißen Tee. Drei Kellner stehen zu meiner Bedienung bereit, ich bin der einzige Gast. Es ist noch heller Tag, die Gäste kommen erst am Abend: GIs, Matrosen, amerikanische Zivilbeamte und Kuomintangleute. Vor dem Lokal hängt in einem Schaukasten eine amerikanische Zeitung. Das Capitol im Schnee des vergangenen Winters. Ein Ge neral namens Peron, der in Argentinien durch einen Coup an die Macht gekommen ist. Britische Soldaten, die in Palästina verhindern, daß Juden aus Europa illegal ins Land einwandern. Das Begräbnis von General George S. Patton, einer der farbigsten Generalsfiguren der letzten Kriegsphase in Europa. Siebzig Tote durch Mord in New York innerhalb eines Vierteljahres. Vereinte Nationen sind aufgefordert, eine internationale Kontrolle der Atomenergie in die Wege zu leiten. General Marshall mit Tschiang Kai-shek und der Madamissima in Nanking — Tschiang 336
hoffnungsvoll lächelnd, in eine Pelerine gekleidet, mit den drei Generalsecken am Kragen, die Madamissima elegant frisiert, mit lässig geschlungenem Seidenschal. Dwight D. Eisenhower, Held des Europafeldzuges, bei Präsident Truman, anläßlich der Amtsübernahme als Stabschef des Weißen Hauses. Truman, auf dem Bild ein kleiner, vergnügt blickender Mann mit Fliege. Wer hat mir nur erzählt, er habe früher einmal mit Krawatten gehandelt, unter anderem? Al Davis, Boxchampion im Weltergewicht, in einer New Yorker Bar von vier Kriminellen überfallen und erschlagen worden ... Nach einer Weile kommt mir zu Bewußtsein, wie weit das alles von meinem jetzigen Dasein entfernt ist. Möchte ich lieber dort sein, in New York? Ich weiß es nicht. Meine Gefühle sind gespalten. Es wird am besten sein, Zeit verstreichen zu lassen. — . Als ich mich umdrehe, um weiterzugehen, steht eine Gruppe bettelnder Kinder um mich herum, mit ausgestreckten Händen. Für einen Augenblick bin ich unschlüssig. Gebe ich ihnen ein paar Münzen, so wird das Dutzende weiterer Kinder herbeilocken, sie würden mich, in der Hoffnung auf ein Almosen, kilometerweit verfolgen. Aber noch bevor ich mich entschließen kann, taucht hinter den Kindern ein Polizist in der blauen Kuomintang-Uniform auf, überblickt die Situation, hebt seinen Schlagstock und drischt ohne Warnung auf die
Kinder ein.
Als sie blitzschnell
auseinanderstieben, grinst der Polizist mich freundlich an und legt die Hand an die Mütze mit dem Kuomintang-Stern. »Alles o.k., Sir!« Ich murmle verdattert »Danke« und gehe zurück in Richtung auf das >Peking< wo ich mich an der Bar niederlasse, um einen Whisky zu trinken. Hierher verirrt sich kein Chinese in Lumpen, dafür sorgen einige Türsteher in dezentem Zivil, junge, kräftige 337
Burschen, deren Jacketts von den untergeschnallten Revolvern ausgebeult sind. Nur die Schuhputzjungen vor dem Hotel dulden sie, und auch das nur, weil die ihnen Prozente zahlen. Ein Navy-Captain läßt sich nach einer Weile neben mir nieder. Junger Mann, der die Uniform mit Stolz trägt, wie man sehen kann. Auch den DSO. »Britisch?« fragt er mich. Ich bin erstaunt, wußte nicht, daß ich wie ein Engländer wirken kann. Als er hört, woher ich komme — ich nenne ihm die Universität und rede nicht von Tschengtu —, ist er sofort bereit, mir den nächsten Whisky zu bezahlen, und ich mache das Spiel mit, schließlich habe ich den Brief an Holly in der Tasche, und der Captain ist bei der Navy! »Lausiges Nest!« urteilt er über Peking. »Habe mir den Palast an gesehen, von außen, versteht sich, war in diesem einen Park da, wo die weiße Pagode steht, habe einen Buddha gekauft, für Zuhause, aber damit scheinen die Möglichkeiten Pekings erschöpft zu sein ...« Er dient auf einem Zerstörer, der vor Tsingtao liegt. Landgang, auch für die Matrosen. Er lacht: »Ich bin gespannt, wie viele von ihnen mit einer Dosis Tripper an Bord zurückkommen! Werden schwere Tage haben, bis Hongkong!« »Sie laufen aus in Richtung Hongkong?« »Ohne eine Träne zu vergießen, Sir! Ist kein Geheimnis mehr, der Krieg ist vorbei.« Er lacht. »Da unten ist es gemütlicher. Klima, Mädchen, alles einfach. Der Süden ist überall schöner als der Norden. War arg zerstört, Hongkong, aber jetzt sieht es schon wieder recht angenehm aus. Die Engländer haben so ihre eigene Art, für Ordnung zu sorgen ...« Als er mich fragt, was ich als Zivilist hier treibe, erzähle ich ihm, daß ich bis Kriegsende Major war, heute aber für die zivile Hilfslei 338
stung abkommandiert bin. Er respektiert sogleich meinen höheren Dienstgrad, indem er noch öfter >Sir< sagt, im übrigen stellt er keine Fragen. Es gibt Hunderte amerikanischer Zivilisten in China, es gibt die Beauftragten der UNRRA, die Ratgeber für den Verwaltungsapparat der Kuomintang, auch schon Handelsleute, die erste Marktsondierungen betreiben. Als ich ihn frage, ob er eine Postsache für mich in Hongkong erledigen würde, ist er sofort bereit. »Warum nicht, ich werde dort mehr Zeit haben als hier. Wir gehen ins Dock ...« Er wirft nur einen knappen Blick auf die Adresse, sagt dann lako nisch: »Sehr bequem, das liegt nicht weit von der Queens Road ent fernt. Gute Gegend zum Einkaufen, früher. Jetzt auch schon wieder. Erwachsene Tochter im Haus?« Ich verstehe nicht sogleich. Er klärt mich auf: »Ich werde selbst hingehen, wenn es da eine Tochter gibt. Sonst schicke ich meinen Burschen ...« Als ich ihn aufkläre, es handle sich um eine Handels einrichtung, lenkt er vergnügt ein: »Gehe trotzdem besser persönlich hin, vielleicht sitzt eine Sekretärin mit gewissem Format im Vorzimmer!« Er ist ein unbeschwerter junger Mann, vielseitig ausgebildet, und er hat das Bewußtsein des Siegers. Ich bin mir nicht klar, ob mir das imponiert, obwohl es ihm zusteht. Er wirft mit Trinkgeld um sich, blinzelt dem Zeitungsmädchen im Vorbeigehen zu, und als eine sehr alte Chinesin, vermutlich die würdige Schwiegermutter irgendeines Kuomintang-Beamten ihm auf dem Weg zur Tür vor die Füße läuft, tritt er höflich beiseite, verbeugt sich galant und sagt: »Pardon Mylady! Empfehlung an das Fräulein Tochter!« Ich kann ihm nicht böse sein, auch nicht, als er vor dem Eingang plötzlich nachdenklich wird und mit komischem Ernst sagt: »Hätte vielleicht lieber Enkeltochter sagen sollen, wie?« 339
Es sind diese Jungens, die Amerika hervorbringt, und es sind die, von denen die Last des Krieges getragen wurde. Ich bin froh, die Nachricht für Holly losgeworden zu sein. Der Captain macht einen verläßlichen Eindruck. Nun werde ich ge spannt warten, ob Holly sich meldet. Und auch auf Antwort von Mister Löwenstein werde ich warten. Ob er meine Übersetzungen mag? »Diese gottverdammten Bastarde!« schimpft der Navy-Captain plötzlich. Wir stehen vor dem >Peking<, wollen uns verabschieden. Er deutet zum Changan Boulevard hin, und ich sehe, was er meint. Ein Dutzend Rikschas sind nebeneinander aufgestellt, wie Pferde an der Startlinie eines Rennens. In jedem der klapprigen Gefährte sitzt ein amerikanischer Matrose, trotz der immer noch kalten Witterung nur mit blauer Hose und gestreiftem T-Shirt bekleidet, das runde, schneeweiße Käppi keck ins Genick geschoben. Andere stehen in Trauben herum, schließen Wetten ab. Noch ehe wir an der Stelle ankommen, fällt ein Schuß. Und während einer der Matrosen gemächlich seine Pistole wieder im Halfter unterbringt, jagen die Rikschas los, unter dem Johlen der Matrosenmeute, in Richtung auf das Tien An Men. Dort erkenne ich eine weitere Gruppe Seeleute. »Ich werde sie alle einsperren lassen!« tobt der Captain neben mir. Aber dann beruhigt er sich schnell und meint nachdenklich: »Die Jungens brauchen Zerstreuung, Sir. Es sind tapfere Burschen. Seit Okinawa zwei Landgänge, das war alles. Vielleicht sperre ich sie besser nicht ein ...« Es ist ein gespenstisches Schauspiel: die Rikschas werden von ihren Ziehleuten mit aller Kraft bewegt, und die Insassen feuern die mageren, barfüßigen Chinesen mit Ausdrücken an, von denen ich froh bin, daß die meisten Chinesen sie nicht verstehen. Ein Rennen. Die Matrosen in den Fahrzeugen reißen sich die Käppis vom Kopf 340
und schlagen damit auf die Knie. Ich muß unwillkürlich daran den ken, daß es gut ist, daß sie keine Peitschen haben. — »Noch Wetten auf Eins bis Zwölf?« ruft der Maat aus, der den Signalschuß abfeuerte. Als sich keiner aus der Menge meldet, verkündet er todernst: »O.K., Boys, Nummer sieben liegt bei den Wetten vorn. Hundert Dollar drin!« Ich erkenne Nummer sieben erst, als die Karren auf dem Rück weg vom Tien An Men näherkommen, es ist der Bursche, der bei mir Unterricht nimmt und der sich oft stolz als >Number One Rick shaw Boy< bezeichnet hat. Er ist kräftig, und er liegt vor den anderen. Über uns werden chinesische Stimmen laut. Da oben, auf einer wackeligen Stellage aus Bambuspfählen, hocken zwei Männer mit großen Haumessern, sie waren offenbar dabei, die Äste der Allee bäume zu stutzen. Nun springen sie auf ihrer kleinen Plattform aufgeregt herum und feuern Nummer sieben an. Ich habe in dieser Stadt schon manches gesehen, das mir nicht sonderlich gefiel, hier aber läuft etwas ab, gegen das mein Gefühl rebelliert. Nur muß ich mir verkneifen, eine abfällige Bemerkung über dieses Spektakulum zu machen, weil vermutlich niemand an dieser Stelle mir beipflich ten würde, nicht einmal die Rikschafahrer selbst, denn für die be deutet das Rennen sicherlich eine zusätzliche Einnahme. Außerdem ist es erfahrungsgemäß unklug, sich mit einem Rudel ausgelassener Matrosen anzulegen. Also sehe ich mir alles ruhig an, winke Num mer sieben, dem strahlenden Sieger, zu, der mich erkennt, höre den Jubel der Wetter um mich herum, und dann gibt es plötzlich über mir ein knirschendes Geräusch, etwas knallt mir an den Hinterkopf, danach wird es dunkel um mich. — Als ich wieder zu mir kam, blickte ich auf eine weiß gekalkte Wand mit einem Fenster, ich spürte, daß ich in einem Bett lag, roch 341
Desinfektionsmittel, und als ich mich aufzurichten versuchte, ver spürte ich einen dumpfen Schmerz am Kopf, der bandagiert war. Was, um Himmels willen, war geschehen? Ich erinnerte mich mühelos an das Rikscha-Rennen, mir fiel auch ein, daß ich zuvor dem Navy-Captain die Nachricht für Holly mitgegeben hatte. Wo war ich jetzt? So vorsichtig es ging, bewegte ich den Kopf zur Seite. Ich lag in einem Bett in einem völlig weiß wirkenden Zimmer, es gab da einen Stuhl und eine Art Wandschirm und eine Tür, die — wie alles andere — weiß gestrichen war. Ein Krankenhaus? Die Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer Weile wurde die Tür von außen leise geöffnet und eine nicht mehr junge Chinesin warf einen Blick in meine Richtung. Sie trug einen hochgeknöpften Krankenhauskittel und eine Kopfhaube. »Wo bin ich?« Meine Stimme klang krächzend. Die Chinesin legte erschrocken den Zeigefinger auf den Mund und rief halblaut: »Nicht bewegen, Mister, nicht sprechen, ich hole Doktor!« Damit war sie verschwunden. Also doch ein Krankenhaus. Wer weiß wo! Hinter den Fensterscheiben nur ein paar kahle Äste. Wieder ein Ge räusch an der Tür, wieder eine Frau im hochgeschlossenen weißen Kittel, diesmal ohne Haube. Die Chinesin hielt sich hinter ihr. »Mister Robbins, sind Sie wach?« Ein akzentfreies, weiches Englisch, dazu ein Gesicht, das fast chinesisch wirkte, ähnlich dem der alten Frau mit der Haube. Nur war es jünger. Und anders. Diese Frau konnte aus dem Süden stammen, aus Kanton, eine Hakka vielleicht... Ich brummte, daß ich wach sei, schloß die Frage an, wo ich denn eigentlich wäre. Die Frau mit dem braunen Gesicht, in dem es zwei sehr leicht schräggestellte, graue Augen gab, verzog die Mundwinkel. Volle, sehr rote Lippen. »Ich bin Doktor Kwan«, sagte sie. »Sie hatten einen Unfall. 342
Schmerzt der Kopf?« »Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Sie beugte sich über mich. Aus der Tasche zog sie eine winzige Taschenlampe mit einem Clip, wie ihn Füllfederhalter haben. Während sie den Lichtstrahl in meine Augen richtete, forderte sie mich auf, nach links und rechts zu blik ken. An ihrem Gesicht war nicht abzulesen, was sie herausfand. »Doktor, was ist das hier?« Sie ging nicht darauf ein, bedeutete der Chinesin, meinen Kopf vorsichtig anzuheben, und betastete die Bandagen. Ihre Finger be fühlten meine Nackenwirbel. »Schmerzen, wenn ich hier drücke?« »Keine Schmerzen.« »Drehen Sie ihn auf die Seite ...« Das war wieder an die Chinesin gerichtet, offenbar eine Krankenschwester. Und plötzlich fiel mir auf, daß sie mit ihr chinesisch sprach, nur war es nicht der rollende Pekinger Dialekt, der sich manchmal anhört, als spräche jemand mit einem halben Glas Schnaps im Mund. Ich spürte ihre Finger wieder an meiner Wirbelsäule, und als ich ihr bestätigte, daß ich alles spüre, ohne Schmerz dabei zu empfinden, schien sie erleichtert zu sein. Sie untersuchte mit sachlicher Konzentration meinen ganzen Körper, bis hinunter zu den Fußspitzen, ließ mich die Zehen bewegen und jeden Finger. Als sie sich aufrichtete, wobei sie eine Strähne ihres langen, tiefschwarzen Haares aus der Stirn strich, erkundigte ich mich wieder, ungeduldiger, wo ich sei. Sie beauftragte die Schwester: »Holen Sie einen Wagen. Und sagen Sie den Leuten im Röntgenraum Bescheid, ich brauche die gesamte Wirbelsäule, Kopf, vor allem an der Wunde ...« Bevor ich meine Frage wiederholen konnte, wandte sie sich mir zu: »Erinnern Sie sich an den Hergang der Sache?« 343
»Mir muß etwas auf den Kopf gefallen sein, Doktor«, sagte ich. »Es war ein Gerüst mit zwei Arbeitern. Ihr Name?« »Sie sagten ihn doch schon, Doktor, ich heiße Robbins!« Sie lächelte. Wenn sie das tat, wirkte sie warm, beinahe zärtlich. »Ihre Wohnung?« »Ping Tjiao Hutung«, antwortete ich folgsam; »Was haben Sie vor einer Woche gemacht?« Ich versuchte unwillkürlich wieder, mich aufzurichten, aber sie verhinderte es. Ich wurde langsam mißtrauisch. »Warum, zum Teufel, müssen Sie das wissen, Doktor?« Wieder lächelte sie. »Mister Robbins, ich bin nicht neugierig, dies ist keine Privatunterhaltung, ich möchte nur herausfinden, ob Ihr Gedächtnis durch den Schlag gelitten hat. Also — erinnern Sie sich?« Ich probierte ein Grinsen, aber ich war mir nicht klar, ob es unter der Bandage nicht eher wie eine Grimasse ausfallen würde. »Vor einer Woche habe ich in meinem Haus in der Ping Tjiao Hutung ge sessen und Tu Fu übersetzt, falls Ihnen der Name ein Begriff ist. Und ich erinnere mich an mein Haus, an Lao Wu, seine Tai-tai, an den kleinen Di-di, an das >Peking<, einen Captain, den ich da traf, sogar an dieses lausige Rikscha-Rennen ...« Sie winkte ab. »Gut, gut. Das genügt. Sie verstehen — bei solchen Unfällen kann es üble Schäden geben. Sie haben eine Gehirnerschütterung, so viel ist sicher, wir werden feststellen, ob sich dahinter etwa noch ein Schädelbruch versteckt oder ein angeknackster Wirbel. Haben Sie Geduld, Sie werden das überleben. Wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, sorgen wir dafür, daß Sie erst einmal ausreichend schlafen können ...« »Kann ich nach Hause?« »Sie meinen, in Ihr Quartier in dieser Hutung?« »Das ist kein Quartier, es ist mein Haus!« 344
»Ich fürchte, Sie werden eine Weile bei uns bleiben müssen. Aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen, wir sind verträgliche Leute.« »Was für ein Haus ist das?« Wieder lächelte sie, diesmal etwas länger. »Mister Robbins, Sie befinden sich in der Militärabteilung des Peking Union Medical College. Sie wissen doch, der alte Rockefeller hat diese Stiftung ge macht, damals ...« »Ja, ja, Doktor, ich weiß das. Nur — wieso in der Militärabtei lung?« »Sie sind Amerikaner, oder nicht?« »Das bin ich. Es steht in meinem Paß.« »Den habe ich gelesen, deshalb sind Sie hier. Wir behandeln in dieser Abteilung Amerikaner, und da es sich dabei fast ausnahmslos um Soldaten handelt, ist dies die Militärabteilung.« »Aber — Sie sind nicht von der Army, wie?« Ich gewann nach und nach meine Selbstsicherheit wieder. Sie griff nach einem Fieberthermometer, das sie in der Tasche ihres Kittels trug, und steckte es mir ziemlich unzeremoniell in den Mund. »Ich pflege mich zwar nicht jedem Patienten mit meiner ge samten Familie vorzustellen, aber wenn Sie schon neugierig sind: ich bin Ärztin im Armeedienst, seit Pearl.« »Sie sind ... Amerikanerin?« fragte ich an dem Thermometer vorbei. »Ja. Zerbeißen Sie das Ding nicht!« »San Francisco?« »Nein. Lihue.« Wieder das Lächeln. Schadenfroh, wie mir schien, denn ich hatte keine Ahnung, wo dieses verdammte Lihue lag. Sie klärte mich auf: »Eine kleine Stadt auf Kauai. Und Kauai ist die nördlichste Insel der Hawaii-Gruppe. Möchten Sie auch die 345
Straße wissen, in der ich gewohnt habe?« Ich hätte in der Tat noch vieles mehr wissen wollen, aber ich schob das auf. Diese Hawaiianerin, in deren Adern zweifellos nicht nur polynesisches, sondern vermutlich auch chinesisches Blut floß, faszinierte mich, und es schien geraten, nicht von vornherein alles zu verderben, was da vielleicht noch zu erwarten war. Sie strahlte Ruhe aus und war dabei doch hellwach, und sie verkörperte, wie mir jetzt einfiel, als ich mir die vielen Fragen an sie noch einmal vergegenwärtigte, eine Gelassenheit, die mir wie die Geduld ganz Asiens vorkam. Ich starrte sie an, und sie merkte es, überging es lächelnd. Machte mich nur aufmerksam: »Wenn wir Sie untersucht haben, werden wir bei Ihnen zu Hause Bescheid sagen lassen. Erinnern Sie mich daran, Ihre Frau soll sich nicht unnötig beunruhigen ...« Ich wartete, bis sie mir das Thermometer aus dem Mund nahm, es ablas und einsteckte, dann sagte ich so gleichmütig wie möglich: »Eine Frau habe ich nicht, Doktor Kwan. Aber es wird gut sein, wenn das chinesische Ehepaar benachrichtigt wird, das meinen Haushalt führt.« In diesem Augenblick ging die Tür auf, die Schwester kam mit einer Art Krankentrage auf Rädern an. Ihr folgten zwei Chinesen, die mich vorsichtig vom Bett aufhoben und auf die Trage legten. Dann fuhren sie mich auf den Gang hinaus. Doktor Kwan wandte sich an die Schwester: »Bringen Sie mir die Aufnahmen möglichst schnell. Und achten Sie darauf, daß er keine unvorsichtigen Bewe gungen macht ...« Sie sagte es auf Chinesisch. Mandarin, nicht Hakka. Die Schwe ster nickte und erkundigte sich leise: »Versteht er wenigstens etwas Chinesisch?« Da hörte ich Doktor Kwan zum ersten Mal richtig lachen, hell 346
und klingend. »Liao Dadji, er übersetzt Tu Fu! Sie können sich mit ihm in der Sprache der Tang-Zeit unterhalten!« Ich fletschte die Zähne. Doktor Kwan quittierte es mit einem Augenzwinkern, und dieses Augenzwinkern war es, was mich für die nächsten Stunden begleitete. Mich interessierte kaum, was die Kerle auf dem Röntgentisch mit mir anstellten, ich merkte es zwar, daß mir ein ängstliches Mädchen eine Nadel in die Vene stach, um Blut zu entnehmen, für irgendei nen Test, aber es berührte mich nicht weiter. Eine Stunde später lag ich wieder in meinem Bett und sah das Gesicht der Ärztin immer noch vor mir, während die ältliche Schwester mir vorsichtig das Kissen zurechtschüttelte. Plötzlich fiel mir ein, sie zu fragen: »Liao Dadji, wissen Sie, ob unsere Ärztin verheiratet ist?« Sie kicherte zwar, aber sie sagte mit Bestimmtheit: »Nein!« »Können Sie ein Geheimnis bewahren?« »Ich denke schon, Mister!« »Dann betrachten Sie meine Frage nach Doktor Kwan als ein sol ches. Am besten, Sie vergessen sie.« Sie war zutraulich geworden, seitdem sie sich in ihrer Sprache mit mir unterhalten konnte, eine sehr verbreitete Erscheinung bei Chinesen, die Sprache ist die große Barriere, sie trennt, aber sie kann auch überraschend schnell zueinander führen. Nun bedankte sich die Schwester Liao in aller Form, weil ich sie respektvoll > Große Schwester nannte, und sie verriet mir, während sie aus einer Ampulle eine Injektionsspritze füllte: »Doktor Kwan ist ein sehr guter Mensch. Nie böse. Viel Arbeit, auch nachts. Sie schläft hier im Haus. Und Sie werden jetzt auch schlafen, Mister ...« Der Einstich tat nicht weh. Es war ein Beruhigungsmittel, und es wirkte relativ schnell. Ich hörte noch die Schwester sagen: »Alles ist sehr gut. Doktor Kwan hat schon gelächelt, als sie die Filme sah. 347
Keine schweren Schäden, nicht am Kopf und nicht woanders ...« Ich dämmerte vor mich hin. Sah die leere Spritze auf einem kleinen Tablett liegen, und dann hörte ich nur noch wie durch ein Wat tepolster: »Wan An«, was soviel wie Gute Nacht bedeutete. — Die Routine begann, als ich nach vielen Stunden aufwachte. Irgendwann, während ich an Doktor Kwan dachte, erschien statt ihrer die Schwester Liao und verrichtete alle die Arbeiten, die an einem Kranken versehen werden müssen, sie fühlte meinen Puls, wieder lutschte ich an einem Thermometer, dann hielt sie mir eine Schale Suppe hin, dazu richtiges Armeebrot, achtete darauf, daß ich den Grießpudding mit der schaurig roten Army-Himbeersoße aß, und zuletzt den Apfel, worauf sie mein Bett aufschüttelte und das Fenster für einen Augenblick öffnete. Ich schnupperte nach der fri schen Luft, die von draußen hereinzog, und sagte: »Wenn ich mich nicht irre, riecht es nach Frühling ...« Sie bestätigte es. Mein Kopf schmerzte weit weniger als bei mei nem ersten Erwachen, und ich war ziemlich froh darüber. Ein Bam busgerüst kann einem Mann ganz leicht das Genick brechen! Doktor Kwan, als sie schließlich kam, gab mir die Hand und sagte, nachdem sie mich nochmals untersucht hatte: »0. K., das ist noch
einmal
gut
abgegangen,
Mister
Robbins.
Eine
Gehirnerschütterung bringt einen Mann wie Sie nicht um. Ich verordne Ihnen noch zehn Tage absolute Ruhe, und zwar hier, bei uns. Danach werden Sie entlassen und melden sich sofort wieder, wenn Sie das Gefühl haben, es stellen sich Unregelmäßigkeiten ein.« »Nun gut«, erklärte ich mich gottergeben bereit, »wenn Sie mei nen. Wissen Sie eigentlich, daß draußen Frühling ist?« »Und ob ich das weiß! Morgen wird die Heizung abgestellt!« Sie ging zur Tür. Doch da fiel ihr ein: »Haben Sie einen Sohn?« 348
»Doktor«, sagte ich betont vorwurfsvoll, »ich habe nicht einmal eine Frau!« »Neffen?« Es dämmerte mir, aber ich schwieg vorsichtshalber. Sie verzog wieder das Gesicht zu ihrem Lächeln, das mich in den unruhigen Hospitalnächten verfolgte. »Da draußen ist ein kleiner, ziemlich schmutziger Junge. Sagt, er muß unbedingt seinen Onkel sehen ...« Es konnte nur Di-di sein, und er war es natürlich auch. Sie führte ihn herein und schärfte ihm auf Chinesisch ein: »Nur zehn Minuten. Und daß du nicht auf das Bett kletterst!« Er kletterte nicht auf mein Bett, er schob sich näher, zögernd, be klommen, hielt mir seine in der Tat nicht eben saubere Hand hin und begrüßte mich. Nachdem er begriffen hatte, daß ich sprechen und sogar lachen konnte, berichtete er mir, was es in der Gasse an Neuigkeiten gab, daß Lao Wu auch kommen würde, um mich zu besuchen, und daß es allen Nachbarn sehr leid täte wegen dieses Unfalls. Erst als Schwester Liao hereinkam und sich im Zimmer zu schaffen machte, erinnerte er sich an das, was die Ärztin gesagt hatte. »Waren das schon zehn Minuten, Onkel Sid?« Wer mochte ihm beigebracht haben, mich mit >Onkel Sid< anzu reden? Es konnte nur Lao Wu, der alte Fuchs, gewesen sein. Ich ließ mir nichts anmerken, sagte nur, es sei besser, wenn er jetzt wie der ginge. Da griff er blitzschnell in die Tasche seiner Lumpenjacke und drückte mir eine Platte Kaugummi in die Hand. >Beechnut.< Wahrscheinlich irgendwo gestohlen oder von einem GI geschenkt bekommen. Ehe ich etwas sagen konnte, war er weg. Tage später, an einem Abend, als das Licht draußen eine bläulichgraue Farbe annahm, erschien Doktor Kwan wieder. Sie schien mehr Zeit zu haben als sonst. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß es mir weiterhin besser ging, erbat ich mir von 349
ihr die Erlaubnis, von nun an wenigstens meine Notdurft auf der Toilette verrichten zu dürfen. Sie lachte nicht, forderte mich nur auf: »Erheben Sie sich, versuchen Sie es ...«Ich hatte es bereits heimlich
versucht,
und
ich
tat
es
nun
wieder,
ohne
Beschwerden.»Kein Schwindelgefühl?»Nicht das geringste, Doc!« »Gehen Sie langsam bis zum Fenster.« Wie um das Tempo, in dem ich die Schritte setzte, selbst zu bestimmen, trat sie an meine Seite und nahm meinen Arm. Ich merkte, daß sie mich scharf beob achtete. Am Fenster standen wir eine Weile. Sie schien zufrieden zu sein. Sagte nur: »Sie sind tückisch, diese Gehirnerschütterungen, man kann nicht vorsichtig genug sein. Wie ist es mit den Augen? Sehen Sie alles scharf, oder verschwimmt das Bild?« Ich drehte mich ihr zu. Ein Mann wie ich weiß, daß man einer Ärztin Respekt schuldet, selbst wenn man sie am liebsten auf die Nase küssen und ihr einen Heiratsantrag machen möchte; deshalb sah ich sie nur an und sagte: »Doc, ich sehe Ihr Gesicht mit den grauen Augen so klar, daß ich es mein Leben lang nicht werde vergessen können. Selbst in meinen Träumen werde ich es nicht loswerden. Überzeugt Sie das von meiner Gesundung?« Ich hatte eine unwillige Reaktion erwartet, aber die schlanke Frau, von der jeder GI ohne zu zögern sogleich behauptet hätte, sie wäre an genau den richtigen Stellen gepolstert, nicht an den falschen, runzelte lediglich die Stirn und bemerkte: »Es überzeugt mich von etwas anderem, Mister Robbins. Und darüber ist jetzt nicht die Zeit zu reden. Gehen Sie langsam zum Bett zurück und legen Sie sich wieder hin, ich möchte das beobachten ...« »Weitere zehn Tage?« Es gelang mir immer wieder, sie zum Lächeln zu bringen. Sie schüttelte den Kopf. »Sie können nächste Woche nach Hause, wenn Sie mir versprechen, keine schweren Arbeiten zu machen, viel zu 350
liegen und wenig Alkohol zu trinken.« »O.K., Doc«, sagte ich. »Und ich lade Sie sogar ein, mich dabei zu kontrollieren. Oder hätte ich lieber sagen sollen: besuchen Sie mich?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann setzte sie sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Ich konnte sehen, daß sie ArmySchuhe trug, klobige, wenig elegante Dinger. »Wie lange leben Sie schon in Peking, Mister Robbins?« »Seit einem halben Jahr.« »Und vorher? Army?« »Army, ja«, erwiderte ich der Einfachheit halber. »Wie kommt es, daß Sie so gut die Sprache beherrschen?« Ich erklärte ihr, daß ich hier aufgewachsen war. Ich ließ Jenan aus und alles, was damit zusammenhing. Aber ich hatte mich in ihr getäuscht, sie sagte, als ich schwieg: »Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Verdacht, Sie hätten da noch vieles mehr zu erzählen ...« »Das hätte ich. Aber es würde sehr lange dauern ...« »Vielleicht holen wir es einmal nach.« Der Vorschlag kam von ihr, zu meiner Verblüffung. Ich begann zu begreifen, was ich eigentlich hätte wissen müssen, daß es unter gewissen Umständen keine einsamere Kreatur geben kann als eine Frau, die bei der Army Dienst tut. Wir sahen uns an, ich sagte: »Gern. Jederzeit. Meine Einladung steht. Wo ich wohne, wissen Sie. Meine Telefonnummer kennen Sie auch.« »Lieben Sie China, Mister Robbins?« fragte sie mich unvermit telt. »Es ist eine Art Heimat für mich. Wie Kauai für Sie.« »Werden Sie lange hier bleiben?« Das hoffe ich sehr.« »Und Sie haben keine Sehnsucht ... nach den Staaten?« 351
»Sehnsucht, Miß Kwan, hat man nach Menschen.« Sie schüttelte den Kopf, wie in Verwunderung über sich selbst. »In Kauai, als Kind schon, und auch später, als ich in Honolulu stu dierte, hatte ich so oft Sehnsucht nach China. Ein Teil meiner Vor fahren stammt von hier ...« »Und jetzt?« Sie zuckte die Schultern, unschlüssig. »Mir scheint, Sie haben recht, Sehnsucht, wirkliche, hat man nach Menschen ...« Sie gab mir die Hand, als sie ging. War wieder ganz sachlich, die Ärztin, die dem Patienten erlaubt: »Und — das mit der Toilette — sagen Sie Schwester Liao Bescheid, beim ersten Mal soll sie noch neben Ihnen hergehen ...« »Bis zur Tür nur, wie ich hoffe!« Sie sah mich noch einmal mit ihrem sonderbar forschenden Blick an, lächelte, sagte dann: »Die Army hat Sie geprägt, Mister Tu FuRobbins. Aber sie hat ausnahmsweise keinen Kretin aus Ihnen ge macht, sondern einen amüsanten Menschen. Ich werde etwas Zeit brauchen, die Verwunderung darüber zu überwinden.« In der folgenden Woche wurde ich entlassen. Ich sah Doktor Kwan nur noch einmal, sehr kurz, als ich über den Flur ging. Sie hatte außer dem Kittel eine weiße Kappe auf, die ihr Haar ver deckte, vor Mund und Nase trug sie einen Mullschutz, ihre Hände steckten in Gummihandschuhen. »Ich habe zu operieren«, klang es undeutlich durch den Mull. »Alles Gute!« »Darf ich Sie anrufen?« Sie nickte. Ich sah nur ihre Augen, aber ich spürte, daß sie lä chelte. Als ich in der Ping Tjiao Hutung ankam, empfingen mich Lao Wu und seine Frau wie einen verlorenen Sohn. Im Nu stand ein schmackhaftes Essen auf dem Tisch, überall in den Zimmern gab es blühende Kirschzweige. Mir wurde zum ersten Mal klar, wie viele 352
unnütze Zimmer ich hatte. Und dann war da der Brief aus Hongkong. Von der Southern Trading Company, aber nicht von jenem Mister Lee, an den ich meine Botschaft gerichtet hatte, sondern von Holly selbst. Kein Poststempel. Lao Wu berichtete, ein Bote habe ihn gebracht. Junger Mann, gut gekleidet. Glückspilz Sid Robbins: am Tode durch Er schlagen
vorbeigegangen,
das
Besuchsversprechen
eines
atemberaubend schönen Hawaii-Mädchens in der Tasche, und dazu den schriftlichen Beweis von Holly, daß ich nicht ganz vergessen bin in diesem konfusen Durcheinander, das heute China ist!
Von Holly an Violet 1) Informationen in Kanäle geleitet, die vorerst noch ebenso pri vat sind wie ich. Aber: Präsident Truman hat am 22. Januar den Er laß für die Bildung einer >Nationalen Nachrichtenbehörde< unter zeichnet. Abwarten, bis das Bild sich klärt. An K.Sh.: Keine Chance im Augenblick für offizielle Kontakte. Kann lange dauern. Jeder, der in Jenan war und das in den Staaten nur erwähnt, wird untersucht. Kommunismus wird als undifferen ziertes Phänomen in wachsendem Maße zum Gegenstand nationaler Hysterie. Erwähnte Anlehnung MTt an Moskau wird daher von uns nicht zu verhindern sein. Deine Perspektive: dort bleiben. Mit K.Sh. Verbindung halten. Angesichts der politischen Entwicklung wirst Du vermutlich bald die einzige und letzte Kontaktperson dort sein. Bei finanziellen Schwierigkeiten: Nachricht an mich. Bin jetzt für ständig in Hongkong. Holly 353
28.4.1946 Es ist Sonntag, und ich bin glücklich! Ein wenig unzufrieden, daß ich jetzt, nach einem unvergesslichen Wochenende wieder allein bin, aber wie ich mich kenne, wird sich das verlieren. Sobald Sandra Kwan wieder bei mir ist! Und — vor ausgesetzt, es gibt in diesem P. U. M. C. keinen besonders schweren Fall, wird das vielleicht schon heute abend sein ... Sandra Kwan, diese einzigartige Frau, die mich im Krankenbett des P.U.M.C. vom ersten Augenblick beschäftigte, ließ mich warten, bis ich unruhig genug war, sie einfach anzurufen, »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, Doc«, sagte ich, »aber Sie haben meine Schädeldecke geflickt. Und Sie hatten ver sprochen, mich zu besuchen. Darf ich Sie daran erinnern?« Sie hatte offenbar gerade etwas Zeit, sie fertigte mich nicht knapp und bündig ab, sondern sie antwortete beinahe belustigt: »Mister Robbins, natürlich erinnere ich mich! Nur muß ich Sie korrigieren, ich hatte Ihnen nichts versprochen, im Gegenteil, Sie deuteten an, daß Sie mich anrufen würden. Es freut mich, daß Sie das heute tun!« »Dann muß ich mich entschuldigen, wie es scheint, hat mein Kopf doch einen bleibenden Schaden davongetragen«, lenkte ich ein. »Kommen Sie her, ich werde Sie untersuchen!« Da machte ich Ernst. »Wenn Sie einverstanden sind, Doc, werde ich kommen, und zwar sofort. Aber nicht zur Untersuchung. Ich lade Sie zu einem Essen bei mir ein. Zu einer Stunde am Kamin, ohne den Geruch von Desinfektionsmitteln. Wann beenden Sie Ihren Dienst?« Sie hielt dagegen: »Langsam, langsam, Mister Robbins! Es ist Freitag, wir haben eine Schlägerei zwischen Matrosen und Army 354
gehabt,
es
gab
einige
Unfälle,
außerdem
habe
ich
Nachtbereitschaft.« »Bis wann?« »Samstag morgen, sechs Uhr.« »Danach werden Sie ausschlafen wollen, oder?« Ich merkte, daß sie zögerte. »Nun ja, das hängt davon ab, ob in der Nacht nicht etwa wieder ein Army-Truck mit einem betrunkenen Fahrer frontal ins Ha Ta Men rast und ich anschließend die Knochen der Leute schienen muß, die drinsaßen ...« »Sagen wir um zwölf Uhr?« »Im Peking?« Ich spürte, daß sie mich provozieren wollte, sie wußte genau, daß ich mich nicht in ein Restaurant mit ihr setzen wollte. Deshalb sagte ich: »Nein, nicht im >Peking<. Das Restaurant heißt Robbins Yüan Tscheh. Haus und Garten des Bürgers Robbins, für den Fall, daß Ihre Sprachkenntnisse versagen.« »Ich habe Sie schon verstanden«, gab sie zurück. »Sie möchten mich in Ihre Höhle locken. Nun gut, das ist eine Zusage. Zwölf Uhr.« »Ich hole Sie ab!« Sie mußte die Erregung in meiner Stimme be merkt haben, aber sie informierte mich nur betont sachlich: »O.K., Danke. Ich habe in der obersten Etage ein Zimmer. Daran hängt ein Schild: >Dr. Sandra Kwan, US Medical Service<. Klopfen Sie stark, für den Fall, daß ich noch schlafe ...« Sie schlief natürlich nicht mehr, als ich am Samstag an die Tür klopfte. Sie trug Zivil, und sie kam mir in ihrem hochgeschlossenen chinesischen Brokatkleid seltsam hilflos vor. Aus einer Dose mit der Aufschrift >Butterfly< nahm sie Puder und betupfte sich vor dem Spiegel die Nase. Ein winziges Zimmer, ein niedriges Bett, Waschbecken, Schrank, Tisch, Stuhl. 355
»Ausgeschlafen?« Sie sah mich nur kurz an. »Ich bin seit acht Uhr morgens unter wegs gewesen, um ein Paar Nylons aufzutreiben! Im PX kenne ich einen Herrn, dem habe ich einen Bruch operiert, er steckte mir ein Paar zu ...« Unwillkürlich ging mein Blick zu ihren Beinen. Sie trug eine dünne chinesische Seidenhose unter dem Brokatkleid. Noch bevor ich etwas sagen konnte, kam sie mir zuvor: »Sie brauchen nicht so verdattert zu gucken! Als ich die Nylons hatte, fehlte mir das Ding, an dem man sie befestigt, und das hatte der Bruchpatient nicht in seinem Sortiment. Also habe ich das Problem anders gelöst. Erinnert Sie mein Aufzug ein bißchen an eine Tonkinesin?« Ich grinste, ich konnte es nicht verhindern. »Nie eine gesehen!« »Frauen im Krieg!« schimpfte sie. »Man sollte uns für die Zeit, die wir damit verbringen, zu Männern machen! Geben Sie mir bitte den Schal da ...« Ich sah, daß sie flache Schuhe trug, wie die Chinesen sie aus Kat tun nähen, die Sohlen bestehen aus einem Dutzend oder mehr La gen fest vernähter Lumpen und erweisen sich als äußerst dauerhaft. Als wir das Zimmer verließen, langte sie eine Umhängetasche aus Army-Drillich von einem Haken an der Tür, warf sie über die Schulter und ermahnte mich: »Nun reißen Sie Ihren Blick endlich von meinen Beinen los!« Ich legte ihr den Army-Wintermantel um die Schultern und bemerkte: »Was immer ich an Ihnen betrachte und worunter es auch immer versteckt ist, es gefällt mir, Doc!« »Ach ja, ich habe mir gedacht, daß es sich darum handelt. Und hören Sie auf, mich Doc zu nennen, ich bin jetzt privat!« Wir blie ben im Ausgang des riesigen Hospitals stehen. Draußen war die Welt grau. Im Frühling, wenn aus dem Nordwesten die tagelang an dauernden Stürme über Peking fauchen, bringen sie mikrofeinen 356
Staub mit sich, der selbst am hellen Tag das Licht der Sonne verdü stert, die ganze Stadt wie in einen Schleier taucht. Die Augen beginnen zu tränen, die Nase verstopft sich, und zwischen den Zähnen knirscht es noch Tage später, wenn die Sonne bereits wieder von einem klarblauen Himmel herab scheint. »Ich habe vergessen, beim Fahrzeugpool ein Auto zu bestellen«, erinnerte sich Sandra Kwan, »wie kommen wir jetzt in diese Hu tung?« Aber ich hatte vorgesorgt. Wie aus dem Nichts tauchte vor uns eine mit solidem Verdeck versehene Fahrradrikscha auf, der Fahrer sprang vom Sattel und knöpfte den Einstieg auf. Dabei salu tierte er fast militärisch und schmetterte uns seinen Gruß entgegen, in mühsamem Englisch: »Welcome Mylady, welcome Mister Rob bins! I'm Number One Rickshaw Boy of Peking, safe and fast!« Nummer sieben des unglückseligen Rennens, mein Schüler! »Woher kennt der Sie?« erkundigte sich meine Begleiterin, als wir abfuhren. Sie zog den Schal vor den Mund, denn trotz der Pla nen war die Luft buchstäblich mit Staub gesättigt. Ich erklärte es ihr. Nach einer Weile wollte sie wissen: »Womit bezahlt er?« »Wir haben ein Abkommen. Ich bringe ihm das bei, was er für den Umgang mit Ausländern braucht, und er fährt mich, wann im mer er mich irgendwo in der Stadt entdeckt, wohin ich will.« Sie schwieg längere Zeit. Der Sturm pfiff, die Rikscha knarrte. Dann, durch den Schal dumpf klingend, die gemurmelte Feststel lung: »Mister Robbins, Ihre Tätigkeit in Peking erschien mir bisher etwas
schleierhaft.
Jetzt
erst
begreife
ich,
welch
hohen
völkerverbindenden Wert sie hat!« Sie ging durch die vielen Zimmer meines Hauses, voller Staunen, besah sich alles, selbst die Badestube und die Küche, wo die Wu Tai-tai verlegen auf ihren verkrüppelten Füßen umhertrippelte und Lao Wu diensteifrig auf Befehle wartete. Er grinste über das ganze 357
Gesicht, als sie ihm sagte, sie fände es schön warm. Dann beugte sie sich über eine der Pfannen, in denen Fleisch brutzelte, mit Knoblauch gewürzt und Anis. Sie zog den Duft ein, nahm schnell meine Hand und bat: »Lassen Sie uns dieses Zauberkabinett verlassen, bevor ich meinen Beruf vergesse!« Nach dem Essen, als wir Whisky tranken und Lotoskerne knab berten, als sie in meinen Büchern stöberte, Gedichtübersetzungen las, als wir aus dem Radio AFRS hörten, Jo Stafford, krähend, und das Geschrumm von Hillbillies, einigten wir uns darauf, daß wir nun nicht mehr Doktor und Patient waren, sondern Sandy und Sid. Wir lagerten uns auf das, was ich Couch nannte, was aber weiter nichts war als eine aus Federn und Polstern geschickt hergerichtete Variante des chinesischen Kangs, wir sprachen über die Armee und über China, ein paar Dinge, die in den Staaten vor sich gingen, und schließlich konnte es nicht ausbleiben, daß wir voneinander wissen wollten, was jeder für die Zukunft im Sinne hatte. In meinem Falle war das, ohne daß ich in der Lage gewesen wäre, ihr die volle Wahrheit zu sagen, ziemlich schnell erklärt: ich liebte das Land, seine Leute, ich war hier viel mehr zu Hause als in den Staaten, also hinderte mich nichts daran, hier zu bleiben. Sie nahm das ohne besondere Überraschung zur Kenntnis, >shac ked-up Americans, Leute aus den Staaten, die sich irgendwo für im mer einrichteten, hatte sie wohl schon erlebt. Sie hatte die Beine auf den gepolsterten Kang gezogen, trank einen Schluck und sagte nachdenklich: »Bei mir ist das alles vage. Nichts ist vorauszusagen. Lediglich, daß die Army mich entlässt, wenn ich das will. Manchmal hätte ich gern, daß meine Zukunft ein bißchen deutlicher markiert wäre ...« »Wirst du nach Hawaii zurückgehen?« Sie sah mich an, und dann sagte sie nach einer Weile doch das, 358
was sie hatte sagen wollen: »Würdest du versuchen, mich zurückzu halten?« Es war die glänzendste Gelegenheit, ihr einen Heiratsantrag zu machen, und ich hatte eigentlich keinen Grund zu zögern. Oder doch? Ich entschloß mich zu der Frage: »Was würdest du zu Hause machen?« »In mein Hospital in Lihue zurückgehen und arbeiten.« »Sonst nichts?« »Meine Familie besuchen, besser gesagt die Angehörigen meiner Familie, die auf Kauai leben. Und dann die in Honolulu.« Ich lehnte mich zurück, blickte aus dem Fenster, wo der Staub auf die Stadt herabrieselte. »Schade«, sagte ich, »es wäre schön, dich hier zu haben ...« Sie wich mir aus, indem sie anfing, mir von ihrer Familie zu erzählen. Es fiel mir schwer, ihr zu folgen, was sie schilderte, war verwirrend, es ergab vermutlich erst Klarheit, wenn man es wie ein Diagramm vor sich sah. »Weißt du«, begann sie, »im Grunde bin ich weder Amerikanerin noch Chinesin, und ob ich sagen soll, ich bin Hawaiianerin, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht findest du es heraus, wohin ich gehöre, wenn ich dir erzähle, daß mein Vater als sehr junger Mann aus Kanton nach Hawaii auswanderte, mit seiner ebenfalls sehr jungen Frau. Die beiden hatten Glück, zuerst jedenfalls, sie fanden Arbeit auf der Zuckerrohrplantage eines Amerikaners, der damals schon ziemlich reich war, in Kauai, ihm gehörte so gut wie alles Land zwischen Lihue und dem Tal von Hanalei. Ein Sohn wurde geboren, nach einem Jahr noch einer. Bei dessen Geburt starb die Frau meines Vaters. Da gab es nun einen ansehnlichen Kantonesen mit zwei kleinen Kindern. Das hawaiianische Küchenmädchen des Plantagenbesitzers verliebte sich in ihn. Ihr Vater war übrigens 359
Amerikaner gewesen. Vielleicht waren es eher die beiden Kinder, die ihr Mitgefühl antrieben, jedenfalls heirateten sie. Der Plantagenbesitzer, der ein reicher und trotzdem nicht geiziger Mann war, überschrieb ihnen ein ziemlich großes Stück Brachland unter der Bedingung, daß mein Vater weiterhin die Oberaufsicht über seine Besitzungen versah. Während er das tat, kaufte er über Jahre, in gewissen Abständen, neues Land hinzu. Ich wurde erst viel später geboren, als meine beiden chinesischen Stiefbrüder schon zur Schule gingen. Ist das langweilig für dich ...?« Ich fuhr aus meinen Gedanken auf. »Nicht langweilig, Sandy, nur etwas kompliziert. Ich sehe Zuckerrohrfelder vor mir, hoch, ra schelnd im Wind, ich habe sie in Erinnerung, aus meiner eigenen Kinderzeit ...« »So wie ich«, sagte sie. »Zuckerrohr, soweit das Auge reicht. Ananas. Reis. Captain Cook muß gewußt haben, wie das Paradies aussah, als er ausgerechnet auf Kauai an Land ging! Die Geschichte meiner Familie ist schnell zu Ende erzählt. Der Besitzer der Lände reien, der meinen Vater immer noch als Angestellten führte, starb. Seine Frau siedelte nach Honolulu um, in eine Villa. Der Besitz wurde versteigert. Mein Vater ist ein guter Geschäftsmann, er war es damals schon, er nahm Kredite auf, bei der Bank of China, und heute gehört ihm das, worauf er als Emigrant zu arbeiten anfing. Einiges mehr noch. Meinen Stiefbrüdern gehören Raffinerien und Bonbonfabriken, Hotels und Gaststätten. Vater und Mutter leben auf ihrem Besitz. Und die Kinder meiner Stiefbrüder gehen vermutlich bald zur Schule. Eines wurde genau an dem Tag geboren, als die Japaner Pearl bombardierten. Ein Sonntagskind! Ein halbes Jahr zuvor war ich aus Honolulu zurückgekommen, nach Kauai, mit dem abgeschlossenen Studium in der Tasche. Die Army brauchte mich nicht zu überreden, ich packte meinen Koffer, zog 360
Uniform an, und dann sah ich die Welt, wie es immer so schön auf den Navy-Plakaten heißt: Lazarett in Honolulu, Lazarett in Wellington, Lazarett in Brisbane, und von dort nach Peking. P. U. M. C. Was macht man aus solch einem Leben, großer Denker?« Ich wanderte ein paarmal durch das große Wohnzimmer, wobei ich merkte, daß ihr Blick mir folgte. Schließlich goß ich nochmals Whisky in unsere Gläser. »Da gibt es mehrere sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Du könntest die Plantage deiner Eltern übernehmen ...« »Ich habe Medizin studiert, nicht Landwirtschaft!« »Du könntest dir von einem deiner Stiefbrüder ein Hotel schen ken lassen, in Waikiki ...« »In Hotels wohnen gesunde Leute!« Ich nahm allen Mut zusammen. »Am liebsten wäre mir, du sagtest jetzt, ich soll dir einen Kuß geben und dich als Tai-tai in diesen Mauern hier behalten.« »Du willst eine Wahine hier behalten? Das meinst du im Ernst? Ein
Mädchen
von
den
Inseln?
Etwas
chinesisch,
etwas
hawaiianisch, etwas amerikanisch?« »Was sollte ich gegen eine Wahine haben, Sandy? Es gibt kaum schönere Mädchen!« »Das habe ich schon von anderen Army-Captains gehört, ich war immer sehr beeindruckt.« Ich wandte mich ihr zu, ich wußte plötzlich nicht mehr genau, ob sie noch scherzte oder ob sie ernst sprach und enttäuscht. »Sandy«, sagte ich, »mein letzter Dienstgrad war Major. Ich muß dich weiter hin aufmerksam machen, daß du mit mir nicht nur das Innere dieser schönen Mauern teilen sollst, sondern ein ziemlich kompliziertes Leben, was dir erst in einiger Zeit aufgehen wird. Und mit einiger Zeit meine ich nicht ein paar Wochenenden, sondern das, was der 361
Beamte im Konsulat am Montag festlegen wird!« »Was hat der da zu sagen?« »Der sagt in der Regel: bis daß der Tod euch scheidet.« Sie nahm einen großen Schluck Whisky, stellte das Glas ab und fragte mit ihrem, wie mir schien, angeborenen Sinn für Komik: »Sidney B. Robbins, soll ich das für einen dieser altmodischen Heiratsanträge halten?« »Du kannst ihn ablehnen oder annehmen, Wahine!« Sie streckte die Arme nach mir aus. »Gott im Himmel, man muß dich förmlich dazu zwingen!« Am Abend fuhr sie nicht ins P.U.M.C. zurück, wir sprachen gar nicht darüber, es war alles gesagt, was es zwischen uns zu sagen ge ben konnte. Ich erinnere mich nur noch daran, daß sie viel später, in meinem Schlafzimmer, drohte: »Sidney B. Robbins, wenn du auch nur einen einzigen Blick auf meine langen Army-Winterunterhosen wirfst, werde ich sofort hinaus in den Staubsturm flüchten!« Lao Wu hat zwar alle Ritzen an den Fenstern und Türen mit Pa pierstreifen verklebt, trotzdem knirschte der Staub zwischen unse ren Zähnen. Gegen Mittag rief das Hospital an. Frau Doktor Kwan werde dringend gebraucht. Sie hätte gestern diese Nummer hinterlassen. Ich bat darum, ein Auto zu schicken, und beschrieb den Weg ... Eben hat sie angerufen. »Sid, Lieber, es wird länger dauern, als ich dachte. Am Flugplatz hat es eine Havarie gegeben, mit drei C 47. Wir haben alle Hände voll zu tun. Bist du einsam?« »Ohne dich immer, Wahine!« »Geh schlafen«, riet sie mir. »Schließ die Augen, bis ich komme. Schwester Liao sagt, wenn der Staubsturm bläst, schließen selbst die bronzenen Löwen vor den Palästen die Augen. Sie meint, sie 362
träumen dann das Spiel von den Wolken und dem Regen. Und jetzt muß ich fort, ich will dir lieber nicht beschreiben, was ich tun muß. Aloha, Darling!« Ich sagte nur: »Aloha!«
Osten ist rot Armed Forces Radio News, Tokio: In den frühen Morgenstunden des 25. Juni 1950 haben Truppen des von der UdSSR gestützten nordkoreanischen kommunistischen Regimes überraschend nach Artillerievorbereitung an vier verschie denen Stellen den 38. Breitengrad überschritten, der das demokrati sche Südkorea vom kommunistischen Norden trennt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind — ersten Verlautba rungen aus Washington zufolge — fest entschlossen, der kommuni stischen Herausforderung energisch zu begegnen ...
Hsinhua News, Peking: In den Morgenstunden des 25. Juni 1950 hat die Volksarmee der Koreanischen Volksdemokratischen Republik erneute schwerste Grenzprovokationen mit einem energischen Gegenschlag beantwor tet. Die südkoreanischen Angreifer wurden entlang der gesamten Demarkationslinie am 38. Breitengrad zurückgeschlagen und befin den sich auf der Flucht südwärts. Die Volksrepublik China steht voll und ganz auf der Seite der mit uns brüderlich verbundenen Koreanischen Volksdemokratischen Republik ... 363
15.7.1950 Es war am späten Vormittag jenes 25. Juni, eines strahlend schö nen, sonnigen Sonntags, als die beiden so widersprüchlichen Nach richten vom Kriegsausbruch in Korea in unser vergleichsweise be schauliches Leben einschlugen wie Bomben. Ich war im Hof damit beschäftigt, eine jener »Pendjing« genann ten Miniaturlandschaften in einer Tonschale zu modellieren — traditionelle chinesische und auch japanische Gärtnerkunst, die ich neuerdings als Hobby betrieb, als Sandy, die in der Kühle unseres Wohnraums die kleine Sue stillte, unser zu Jahresanfang geborenes Mädchen, rief: »Hör dir das genau an!« Ich ließ mich in einen Sessel fallen und hörte der Wiederholung jener Meldung zu, die Hsinhua durchgab, gesprochen von einer schneidend scharfen Frauenstimme. Wenig später gelang es mir, unsere Army-Station in Tokio einzustellen, und ich hörte deren Darstellung. Eine Weile saßen wir uns danach schweigend gegenüber, Sandy mit dem Kind auf dem Schoß, ich mit meinen noch von der Miniaturgärtnerei verschmutzten Händen. Dann versuchte ich Sandy zu beruhigen: »Nun, so ganz unerwartet kommt das nicht. Aber, ich glaube, es wird sich abfangen lassen ...« »Abfangen?« Sie legte Sue, die friedlich schlummerte, in den Bambuskorb und bedeckte ihren Körper mit einem Frottetuch. »Ich meine, man wird eine Weile aufeinander schießen, und dann wird jeder in seine Ausgangsstellung zurückkehren ...« »Das glaubst du wirklich? Gerade du, Sid?« Sie war meine Frau, und seiner Frau gegenüber kann man eine verdeckte Tätigkeit wie die meine nur begrenzte Zeit verbergen, also hatte ich ihr nach unserer Eheschließung offen erklärt, welchem Zweck mein Aufenthalt in Peking hauptsächlich diente. Sandy, humorvoll wie sie ist, und durch nichts so leicht aus der 364
Fassung zu bringen, hatte nur den Kopf geschüttelt und mit unernstem Selbstmitleid gesagt: »Ich dachte es mir, daß diese schöne Geschichte mit uns beiden irgendwo einen 22er Haken hat, nun gut, laß uns hoffen, daß wir das beste daraus machen können ...« Jetzt war ich unsicher, denn ich wußte, wohin ihre Frage zielte: Südkorea, oder wie es sich selbst nannte, die Republik Korea, war ein Schutzkind der Vereinigten Staaten, seit Januar mit einem Pakt über gegenseitige Verteidigung und gegenseitigen Beistand, es gab dort US-Truppen, es gab unsere Berater in der Landesarmee, todsi chere Anzeichen dafür, daß wir uns dieses strategische Faustpfand auf dem asiatischen Festland nicht einfach durch einen kommunisti schen Angriff aus dem Norden nehmen lassen würden. Das aber konnte erhebliche Verwicklungen bedeuten, denn das nördliche Ko rea, nach dem Krieg einige Zeit von den Sowjets besetzt, war inzwischen als selbständige Volksrepublik mit den Sowjets durch Bündnis verflochten, ebenso wie China es als seinen >Bruder< betrachtete. Als ich das laut durchdachte, meinte Sandy nur: »Ab sofort kann uns jeder Chinese als Kriegsgegner betrachten. Vielleicht interniert man uns ...« Sie warf einen wenig frohen Blick auf das schlafende Kind. Ich beschloß, sofort von der Möglichkeit Gebrauch zu ma chen, Kang Sheng persönlich anzurufen. Er hatte mir vor Monaten, nachdem die kommunistische Volksregierung fest etabliert war, eine neue Nummer gegeben, unter der er jederzeit erreichbar sein würde. So ging ich ans Telefon und wählte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frauenstimme. Ich brachte mein Anliegen vor, und die Stimme teilte mir recht freundlich mit: »Es ist gut, Mister Robbins, ich übermittle Ihren Anruf. Genosse Kang Sheng wird mit Ihnen Verbindung aufnehmen, sobald er verfügbar 365
ist ...« An seiner Stelle erschien am Nachmittag Tso Wen. Er war in Eile, und als ich ihm meine Besorgnis vortrug, lächelte er nur hintergründig, eine Angewohnheit, die er anscheinend von seinem Chef übernommen hatte. Dann sagte er: »Mister Robbins, ich verstehe Ihre Befürchtungen sehr gut und kann Ihnen einstweilen versichern, daß sie unbegründet sind. Es wird Ihnen nichts geschehen. Genosse Kang Sheng wird sich in allernächster Zeit ausführlich mit Ihnen unterhalten. Gegenwärtig ist er durch wichtige Beratungen gebunden.« »Und falls meine Nachbarn sich entschließen sollten, mich in der Zwischenzeit zu lynchen?« Er lächelte nur wieder. »Nichts dergleichen wird geschehen, wir haben dagegen Vorsorge getroffen, seien Sie völlig beruhigt. Wenn jemand Sie nach Ihrer Meinung fragt, geben Sie zur Antwort, Sie leben in China und haben nicht das geringste mit der Aggression in Korea zu tun, auch nichts mit Amerika. Sollte wider Erwarten eine Situation entstehen, die Sie nicht allein meistern, rufen Sie sofort bei uns an, wir bereinigen das dann schnell.« Bei uns — das hieß das >Büro für öffentliche Sicherheit, die oberste Abwehrbehörde der Volksrepublik, in der Tso Wen einen hohen Posten bekleidete, nämlich den des Verbindungsmannes zwi schen dem Sicherheitsminister und Kang Sheng, der selbst dieses Ministeramt nicht bekleidete, er versah die Funktion des Sicherheitsbeauftragten im Zentralkomitee der Partei. Seine Weisungen bestimmten die Tätigkeit des Ministers Lo Jui-tsching, den ich nicht einmal persönlich kannte.
,
Ich verabschiedete mich einigermaßen erleichtert von Tso Wen, und es gelang mir auch, Sandy ein wenig die Befürchtungen zu neh men. Lao Wu und seine Frau waren durch die Nachrichten aus Ko 366
rea nicht sonderlich beunruhigt, und wenn sie es waren, so ließen sie es nicht erkennen, sie taten ihre Arbeit wie stets zuvor, und am Nachmittag,
als
Sandy
und
ich im Wohnzimmer
saßen,
beschäftigten die beiden sich damit, den Bambus, der auf dem Hof wuchs, zu stutzen. Was alles war um uns herum in den letzten vier Jahren gesche hen! Unser beider Leben hat sich auf eine sanfte Weise, aber eben unaufhaltsam verändert, vor allem: wir leben, ohne es sonderlich wahrzunehmen, in einem kommunistischen Staat! Ich erinnere mich noch sehr gut an das Tauziehen zwischen Ku omintang und KP um eine gesamtnationale Lösung, während beide sich zum entscheidenden Kampf rüsteten. Anfang 1947 rief Mao Tse-tung dann, gewissermaßen als Antwort auf Tschiangs Manöver, zum allseitigen Kampf gegen die Kuomintang auf. Tschiang hatte inzwischen seine Truppen in Richtung auf das Jenaner Gebiet in Marsch gesetzt. Mao wich ihnen aus. Er tauschte Raum gegen Zeit, ließ Jenan räumen und die Angriffe Tschiangs monatelang ins Leere stoßen, bis sie sich schließlich totliefen. Ein halbes Jahr, bevor sich Mao von Jenan weiter nach dem Nor den zurückzog, in die Nähe seiner nun bereits gefährlich schlagkräf tigen und gut gerüsteten Hauptkräfte, artikulierte er nochmals seinen Standpunkt gegenüber uns. Nach dem, was ich erfuhr, trieb sich damals in seiner Nähe eine amerikanische Journalistin namens Strong herum, von der bisher niemand etwas gehört hatte und die auch keine bestimmte Zeitung vertrat. Epstein, der inzwischen in Peking residiert und mit dem ich mich gelegentlich unterhalte, beschrieb sie als >Reisejournalistin< ohne Bindung, aber mit starker Linkstendenz. Sie soll aus der Sowjetunion nach Jenan gekommen sein, nachdem sie sich in Moskau mit den Behörden aus schwer zu erforschenden Gründen verkracht hatte. In Jenan nutzte 367
Mao sie, um seine Stellungnahme per Interview jemandem darzulegen, der sie ins Ausland lancieren konnte. Er sagte, ob noch eine friedliche Lösung des innerchinesischen Problems möglich sei, hänge von der US-Regierung ab. Nur wenn sie die Kuomintang zügle, gäbe es Aussichten auf Frieden. Interessanter aber war seine Äußerung über die Gefahr, daß Amerika als Verbündeter der Kuomintang in China die Atombombe einsetzen könnte. Da sagte er, er halte diese Bombe für einen >Pa piertiger<,
im
chinesischen
Verständnis
etwas
gräulich
Aussehendes, das in Wirklichkeit aber ziemlich harmlos ist. Selbstverständlich
stürzten
sich
alle
Agenturen
auf
diese
frappierende Aussage, und sie ging um die Welt, was als Nebeneffekt der Dame Strong den Ruf einer >internationalen Journalistin< einbrachte. Ich hielt die Sache mit dem >Papiertiger< zwar für publizistische Schaumschlägerei, allerdings verging mir das Lachen darüber, als ich im November 1947 aus dem Radio erfuhr, der sowjetische Au ßenminister habe eine Erklärung abgegeben, wonach die Sowjet union selbstverständlich ebenfalls die Kernspaltung gemeistert habe und im Besitz der entsprechenden Waffen sei. Jegliche Konfronta tion konnte von nun an blitzschnell in einen großen Krieg mit dem Zerstörungspegel von Hiroshima ausufern. Dennoch schien die so wjetische Verlautbarung unsere Politiker daheim nicht umzustim men, sie betrieben das, was man hier in der Propaganda bald den >kalten Krieg< gegen den Kommunismus nannte, mit wachsender Intensität. Und — sie änderten ihre China-Politik nicht. Abzusehen war daher, wenn nicht unvorherzusehende Ereignisse eintraten, eine Festigung der Allianz Peking—Moskau. Gegen Ende 1947 stellte Radio Hsinhua bereits fest, daß der Charakter des Bürgerkrieges in China sich grundsätzlich zu wandeln begann: Es ginge "nun nicht 368
mehr um die Verteidigung roter Gebiete, sondern um die endgültige Liquidierung der Reste von Tschiang Kai-sheks Macht. — Aus Hongkong erreichte mich um diese Zeit die Nachricht von Holly, in der er mir knapp mitteilte, per Nationalem Sicherheitsge setz vom 18. September 1947 sei der neue Geheimdienst der USA endlich existent, er trage die Bezeichnung Central Intelligence Agency. Gleichzeitig bat er um Geduld, es werde noch einige Zeit vergehen, bis die Dinge so liefen, wie wir das brauchten. Ich versorgte ihn weiterhin mit Hinweisen, die Kang Sheng mir für diesen Zweck übermitteln ließ, und er versicherte mir, meine formelle Übernahme in die neue >Agency< sei lediglich eine Frage der Zeit. Kang Sheng teilte ich das vorsichtshalber mit, dieser hielt sich im Winter wieder einmal bei Peking auf, und er quittierte die Mitteilung
höchst
erfreut,
was
mich
einerseits
verblüffte,
andrerseits allerdings auch beruhigte. — Im April 1948 beherrschten die roten Truppen bereits den größ ten Teil der zentralchinesischen Provinz Honan, sie besetzten die alte Kaiserstadt Loyang. Unter dem Eindruck dieses Erfolges rief Mao die Mitglieder der demokratischen Parteien zur Zusammen arbeit mit der siegreichen KP auf. Im Herbst traten die von dem mir aus Jenan bekannten General Lin Piao angeführten Truppen in der Mandschurei zur Generalof fensive an, mit dem Ergebnis, daß die Kommunisten im November bereits dieses ungeheuer wichtige Industriegebiet samt seinen Zen tren beherrschten. Der nächste Stoß zielte auf Tientsin und Peking, er erfolgte im Winter 1948/49. Um die Jahreswende war Peking von roten Truppen eingeschlossen. Unsere Dienststellen wurden bis auf ein Konsulat geräumt, das Personal auf dem Luftweg fortgeschafft. Ich selbst hatte um diese Zeit eines Abends Besuch von Tso Wen, der sich illegal bereits in der Stadt aufhielt. Er kam, 369
um mir von Kang Sheng auszurichten, ich solle mich keinesfalls durch die allgemeine unter den Amerikanern in Peking herrschende Panik anstecken lassen und mich unbedingt einer Evakuierung entziehen. Im gewissen Sinne war der Fall von Peking symptomatisch
für
die
Auflösungserscheinungen
nicht in
mehr
der
zu
kontrollierenden
Kuomintang-Armee.
Sechs
Wochen lang lauerten rote Truppen um die Stadt herum, aber sie beschossen sie nicht. In dieser Zeit handelten die Kommunisten mit dem Pekinger Garnisonschef, General Fu Tso-yi die kampflose Übergabe aus. Die Parade der >Volksbefreiungsarmee am Ha Ta Men vorbei war eindrucksvoll, besonders für mich, der ich rote Truppen aus Jenan kannte: dies erschien wie eine völlig andere Armee. Amerikanische Studebakers, voll besetzt mit einheitlich in Wintermontur gekleideten Soldaten, amerikanische Haubitzen und andere Geschütze, dazwischen japanisches Gerät, vor allem leichte Panzer, und dann wieder leger, aber geordnet marschierende Kolonnen, Pferdegespanne, kräftige, ausgeruht erscheinende Solda ten, das japanische oder amerikanische Gewehr über der Schulter. An der Spitze fuhr Mao Tse-tung, in einem amerikanischen Jeep stehend, winkend, lachend. Hier zogen keine Rebellen aus der chinesischen Legende ein, hier trat eine Armee auf den Plan, die die letzten Jahre genutzt hatte, sie war für das Kriegshandwerk ausgebildet und gerüstet. Ironischerweise waren die Waffen offenkundig
dem
Gegner
abgenommen
worden,
die
Milliardenlieferungen aus den Vereinigten Staaten hatten — wollte man es so sehen — nun doch noch den Empfänger erreicht, der so lange um sie geworben hatte. Ich biß mir auf die Lippen, als ich das alles sah: Diese Armee hätte unser Partner auf dem asiatischen Festland sein können, bis hinauf zu den Grenzen der Sowjetunion — jetzt marschierte sie an der Seite der Sowjets. — 370
Noch im Januar schlug der arg bedrängte Tschiang Kai-shek den Kommunisten einen Waffenstillstand mit anschließenden Friedens verhandlungen vor. Mao lehnte ab, im Bewußtsein, den Sieg vor sich zu haben, er wußte inzwischen, daß die USA keine Truppen zur Unterstützung Tschiangs entsenden würden. Einen Tag später erließ er an die >Volksbefreiungsarmee< den Befehl, im ganzen Land gewaltsam die letzten Reste der Macht Tschiangs zu brechen. Was folgte, war ein Amoklauf der roten Truppen nach dem Sü den. Kein Sperrriegel hielt sie mehr auf, kein Luftbombardement, nicht einmal der Yangtsekiang, die große Naturbarriere. Tschiang Kai-shek floh mit dem Rest seiner Politiker und Generäle nach Tai wan. Dorthin konnte Mao ihm nicht folgen, er besaß keine Marine, aber er hatte schon offiziell bekanntgegeben, Taiwan sei ein Bestandteil Chinas, und es werde zu gegebener Zeit auch noch befreit werden. Die letzte offizielle Kommunikation zwischen der neuen kommu nistischen Macht und den USA brach ab, als das State Department einen Vorschlag Tschou En-lais ablehnte, den dieser dem in Nan king verbliebenen US-Botschafter Leighton Stuart machte. Jener ehemalige Missionar und zeitweilige Leiter der Pekinger YenchingUniversität, dem Tschou En-lai nahelegte, als US-Botschafter nach der neuen Hauptstadt Peking überzusiedeln, man könnte dort über die
Versöhnung
Amerikas
mit
dem
revolutionären China
verhandeln (ein wahrlich ungewöhnliches Angebot, das im Grunde der verzweifelte Versuch Tschous war, das Band zu uns nicht abreißen zu lassen!), wartete vergeblich auf die Erlaubnis dazu aus Washington. Sie kam nicht. Statt ihrer erhielt er die Weisung zur Rückkehr,
und
unser
State
Department
bezeichnete
die
>Volksregierung< in Peking als > Handlanger eines fremden Imperialismus <, die man nicht anerkennen könne. — Ich hatte Zeit 371
genug, mir über die auf lange Zeit wohl letzte Chance zur Einflußnahme auf China Gedanken zu machen, vor allem über die von haarsträubender Unkenntnis zeugende Art und Weise, in der unsere Politiker sie verschenkten. Kang Sheng ließ mich an einem regennassen Sommerabend abholen, ein Fahrzeug brachte mich durch einen Seiteneingang des alten Kaiserpalastes zu einem schmucken Haus, auf dessen Terrasse dann auch bald Tschou En-lai eintraf, mit Grüßen Maos für mich. Er war höflich, sogar freundlich, und er erinnerte sich an die Jenaner Zeit, aber da war eine gewisse Distanz. Wir tranken Tee und sprachen über die Lage. Dabei waren wir uns einig, daß der undifferenzierte, hysterisch sich steigernde Antikommunismus in den Staaten, der stellenweise, die Form einer Psychose annahm, etwa wenn die Notwendigkeit der gewaltsamen Zurückschlagung< betont wurde, den amerikanischen Politikern einen der bösesten Streiche der Geschichte spielte. Wann hatte es jemals zuvor eine so grandiose Fehlbeurteilung einer Führungsmannschaft gegeben wie im Falle der KP Chinas, obwohl sachliche Informationen über die echten Tatsachen wahrlich zur Genüge vorlagen, bei OSS oder der Nachfolgerin CIA, aber auch im State Department und anderswo? »Ein tragisches Mißverständnis«, urteilte Tschou En-lai. »Auf der Basis dieses Missverständnisses werden sich neue ergeben, und das wird, wie ich zu meinem Bedauern vermute, die politische Entwicklung in ganz Asien auf lange Zeit negativ bestimmen.« Weder Kang Sheng noch ich sahen uns in der Lage, diese Beurteilung in Frage zu stellen. Es war das erste Mal, daß ich als ein offizieller Gast im Regierungsviertel der neuen Machthaber weilte, aber es war kein ausgesprochen freudiger Anlaß, der uns zusammenführte. Es war das Eingeständnis, daß unsere Pläne nicht aufgegangen waren. — 372
Unter der neuen Macht gab es wider Erwarten keine Hungerpe riode.
Die
neue
Kuomintangspezialisten
Verwaltung, fast
bis
ausnahmslos
auf aus
wenige der
alte Armee
hervorgegangen, erwies sich als organisatorisch recht begabt und erfinderisch. Und sie übte einen vorerst nur mäßigen Druck aus. Auf dem Lande lief eine moderate Bodenreform, die Fabriken von Anhängern der Kuomintang wurden verstaatlicht, wogegen solche Kapitalisten, die sich als > Patrioten < ausweisen konnten oder der KP stillschweigend geholfen hatten, ihre Produktionsanlagen behalten durften. Eine eigenartige Revolution, das mußte wohl selbst unseren Politikern in Washington klarwerden, nur, ich vermute, sie erfuhren nie genau, was in China eigentlich vorging, hinter dem Vorhang, auf den sozusagen mit groben Schriftzeichen > Diktatur des Proletariats < gemalt war. Mit Sandy war ich mir in dieser Ansicht einig, wenn wir am Radio Nachrichten oder Kommentare aus Tokio hörten. Meine Frau faßte es in die Worte: »Sie sehen Rot, und zwar nur noch Rot.« Sie arbeitete seit dem Einmarsch der roten Truppen in Peking vorerst noch nicht wieder, die Militärabteilung des P. U. M. C. war aufgelöst. Doch dies war nicht der Grund dafür, daß sie sich zu Hause aufhielt; sie war schwanger. Das P. U. M. C. arbeitete weiter wie zuvor, jetzt als >Volkskrankenhaus<. Die neue Leitung hatte Sandy wissen lassen, man würde sie jederzeit wieder dort beschäfti gen, sobald sie das wünsche. Die letzten beiden amerikanischen Dienststellen in Peking, das >US-Information Office< und das Konsulat, packten Anfang dieses Jahres ihre Koffer. Um diese Zeit wurde Sue geboren, sie war definitiv der letzte US-Bürger, der in dem bereits hochgradig geräumten Konsulat seine Staatsbürgerschaft amtlich bestätigt bekam. 373
Die feierliche Zeremonie, bei der Mao Tse-tung von der Tribüne des Tien An Men den Hunderttausenden von jubelnden Chinesen, die sich auf dem großen Vorplatz vor dem Kaiserpalast versammelt hatten, die Gründung der Volksrepublik verkündete, erlebte ich ohne Sandy, am Rande des Changan-Boulevards stehend. Die Worte Maos, in seinem schweren Hunan-Dialekt gesprochen und durch Dutzende von Lautsprechern verstärkt, versetzten mich in einen schwer zu beschreibenden Zustand: »Niemand wird unsere Nation jemals wieder beleidigen können! China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben!« Mao gab dann die Namen der neuen Regierungsmitglieder an: Es war tatsächlich eine Koalitionsregierung, es gab nicht nur Kommunisten in ihr, sondern einen beachtlichen Anteil von Leuten, die zu nichtkommunistischen Splitterparteien gehörten. Der kleine Schönheitsfehler, daß keine Wahlen vorausgegangen waren, fiel kaum ins Gewicht. Ich mußte oft an die Worte Tschou En-lais denken, mit einem Groll darüber im Herzen, daß >Dixie< ihre Aufgabe sehr wohl erfüllt hatte, doch der greifbar nahe Erfolg, einen willigen Verbündeten südlich der sowjetischen Grenzen zu gewinnen, an Politikern gescheitert war, die nie im Leben einen chinesischen Kommunisten auch nur von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten! Zwei Monate später reiste Mao Tse-tung nach Moskau, und er führte sich dort damit ein, daß er erklärte, seine Verhandlungen mit den Sowjets hätten vor allem den Zweck, >das Weltfriedenslager mit der Sowjetunion an der Spitze zu festigen <. Er wurde in Moskau mit allen Ehren, die einem ausländischen Staatschef gebühren, empfangen. In den Kinos von Peking liefen noch im Dezember Wochenschaustreifen, die Mao im Gespräch mit Stalin zeigten und als Ehrengast bei dessen 70. Geburtstag. Die 374
Kommentatoren wiesen begeistert darauf hin, daß der Besuch China bei seiner weiteren Entwicklung entscheidend helfen würde. Im Januar berief Mao Tschou En-lai und einige Industrie- und Handelsfunktionäre nach Moskau, wo offenbar Einzelverträge abschlußreif geworden waren. Bereits einen Monat danach war bekannt, was man ausgehandelt hatte. Als die chinesische Delegation nach acht Wochen heimkehrte, druckte die > Pekinger Volkszeitung < (Jenminshibao) auf der Titelseite, was Mao beim Abschied in Moskau Reportern erklärt hatte: »Das von uns auf der Basis der Grundinteressen des chinesischen und des sowjetischen Volkes erzielte volle gegenseitige Einverständnis und unsere tiefe Freundschaft können durch Worte nur schwer ausgedrückt werden. Die durch Verträge gefestigte Freundschaft zwischen den Völkern Chinas und der Sowjetunion ist ewig, unzerstörbar und kann von niemandem aufgelöst werden.« Ein völlig neuer Mao Tse-tung? Oder ein angepasster? Jedenfalls verstärkte sich die prosowjetische Stimmung im Lande stürmisch. Russen in Peking wurden auf offener Straße von völlig Fremden be grüßt und gefeiert. Das große Bündnis der beiden volkreichsten kommunistischen Staaten, das wir hätten verhindern können, war Realität geworden. Wie diese Realität im einzelnen aussah, erläuterte mir Kang Sheng. Es war ihm anzumerken, daß die Entwicklung, die sich hier anbahnte, ihn nicht gerade in Entzücken versetzte. Aber er antwortete mir auf eine dahin zielende Frage: »Was hätten wir tun sollen, nachdem Amerika uns im Stich gelassen hat? Wir haben eine andere Chance wahrgenommen. Jetzt müssen wir versuchen, das Beste für uns daraus zu machen ...« Ich hatte inzwischen von Holly aus Hongkong ein weiteres Le benszeichen erhalten. Er forderte mich auf, Kontakt zu einem Vize direktor der noch in Peking bestehenden Bank of China aufzuneh 375
men, einem cleveren Managertyp, der des öfteren Hongkong beruf lich aufzusuchen hatte, weil dort interessanterweise eine Filiale dieser Bank weiter bestand. Vorsichtshalber informierte ich Kang Sheng über diesen neuen >Kanal<, ich wollte keinesfalls sein Miß trauen durch eine Handlung erwecken, von der er nicht durch mich, sondern durch seine Informanten erfuhr. Zu meinem Erstaunen nickte er nur lächelnd und sagte: »Wir kennen den Mann. Er hat un ser Vertrauen, wie Sie. Informieren Sie Ihren ehemaligen Vorgesetzten mit dem Hinweis, daß Informationen von uns an Sie gegeben werden ...«
An Holly: Ergebnisse
der
China-UdSSR-Verhandlungen
(16.12.1949
17.2.1950) -Vertrag
über
Freundschaft,
Bündnis
und
gegenseitige
Hilfe.(Schließt militärischen Beistand ein). Laufzeit 30 Jahre. -Kredite der Sowjetunion an China über die Dauer von fünf Jahren im Gesamtwert von ca. 300 Millionen Dollar. -Vereinbarung über die Rückgabe der noch von den Sowjets be nutzten Marinestützpunkte Port Arthur und Dairen in chinesische Oberhoheit. -Vereinbarung über die bisher von der Sowjetunion betriebene mandschurische Eisenbahnlinie, die unter chinesische Oberhoheit kommt. -Nichtigkeitserklärung der Sowjetunion hinsichtlich des noch 1945 mit der Kuomintang abgeschlossenen Vertrages. -Anerkennung
der
Souveränität 376
der
Mongolischen
Volksrepublik durch China, gleichzeitiges Verbleiben der äußeren Mongolei im chinesischen Staatsverband. -Gründung >Gemeinsamer Aktiengesellschaften vorzugsweise in Sinkiang, bei der Ortung und Ausbeutung von Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorkommen sowie bei der Gewinnung rarer Buntmetalle. -Einrichtung ständiger Luftverkehrslinien mit sowjetischer Hilfe: Peking—Irkutsk, Peking—Tschita, Peking—Alma Ata.
Anmerkung: Informationen von K. Sh. mit Anweisung zur Weitergabe: K. Sh. definiert Abkommen als Konsequenz der von den USA betriebenen China-Politik, die sich nach Mao Tse-tungs Meinung frühestens in zehn oder zwanzig Jahren werde ändern lassen. Dem Anschein nach sieht K. Sh. den sich durch das Bündnis zwangsläufig ergebenden sowjetischen Einfluß auf die chinesische Staatsstrategie als problematisch an. Allerdings scheint MTt inner halb der Führung des Partei- und Staatsapparates vorgebaut zu ha ben. Von den bekanntesten Vertretern der >Moskauer Richtung«, die noch in Jenan stark kritisiert wurden, ist keiner in ein Amt mit tatsächlicher
Entscheidungsgewalt
gekommen.
Wang
Ming
(nominell zwar ZK-Mitglied) ist mit der Gründung einer Kommission beauftragt, die sich mit >Rechtsfragen beschäftigen soll.
Yang
Shang-kun
(ebenfalls
ZK-Mitglied)
hat
eine
unbedeutende Funktion im technischen Apparat der Partei, er ist für die Organisation von Begräbnisfeiern beim Ableben verdienter Kommunisten verantwortlich. Tschang Wen-tien (Lo Fu) arbeitet irgendwo in der tiefsten Provinz als Parteisekretär. Lediglich Wang Djia-hsiang (ZK-Mitglied) wurde Botschafter Chinas in Moskau. Diese Entsendung soll mit Sicherheit einen gezielten Eindruck erwecken, nämlich den, daß zwischen den >Fraktionen< eine 377
Aussöhnung vonstatten gegangen ist. Schlussbemerkung: Das Leben normalisiert sich hier überraschend schnell. Keine blutigen Auseinandersetzungen, mit Ausnahme der Hinrichtung von bisher einigen hunderttausend Großgrundbesitzern im Zuge der Landreform. Anklage: Ausbeutung der ehemals Landlosen sowie Mißhandlungen. Violet
8.10.1950 Es vergingen Wochen, bis sich Tso Wen wieder bei mir meldete. Während dieser Wochen spielte sich in Korea eine Art Blitzkrieg ab. Die kommunistischen Truppen des Nordens stießen immer wei ter südwärts vor. Indessen dampfte die 7. US-Flotte auf die koreani schen Küstengewässer zu und riegelte die Straße von Taiwan ab. In Japan stationierte Bomberverbände unserer Strategischen Luftstreit kräfte begannen die immer länger werdenden Verbindungswege der vorrückenden Nordkoreaner anzugreifen. In der UNO war — gegen die Sowjets — der Beschluß gefaßt worden, eine sogenannte >UNO-Streitmacht< nach Korea zu entsenden. Die Vereinigten Staaten stellten das Hauptkontingent, MacArthur kommandierte. Eine folgenschwere Entscheidung. Peking, das spüre ich, macht mobil. In den Zeitungen erscheinen Landkarten, die die chinesisch koreanische Grenze zeigen, und Kommentare weisen darauf hin, daß die »sogenannte UNO-Aktion<, hinter der sich in Wirklichkeit die amerikanische Strategie gegen den Kommunismus verbirgt, letztlich die mandschurischen Grenzen Chinas bedrohen könne, sie würde aber das chinesische Volk abwehrbereit finden. Zudem wird viel über die Frage geschrieben, wer diesen Krieg tatsächlich begonnen hat. Bilder von John Foster Dulles, dem außenpolitischen 378
Berater des Präsidenten, erscheinen, die ihn am 20. Juni bei einer Inspektion des Geländes am 38. Breitengrad zeigen. Der Text dazu vermerkt
seinen
Appell
an
die
südkoreanische
Nationalversammlung, am 19.Juni, genau eine Woche vor Ausbruch des Krieges, >unerschrocken gegen den Kommunismus zu kämpfen <. Andere, mehr analytisch gefärbte Nachrichten erklären, daß Tschiang Kai-shek im Verein mit Syngman Rhee den Krieg provoziert habe, um die eigene Positionen dem Refugium Taiwan durch einen geschickten Trick zu festigen. Gemäß dem öffentlichen Bekenntnis der USA, den Kommunismus als »gefährlichsten Feind der freien Welt< zu bekämpfen und jedem von ihm bedrängten Land Hilfe zu gewähren, seien die USA einfach gezwungen, bei Feindseligkeiten zwischen Nord- und Südkorea einzugreifen, um ihr Gesicht zu wahren. Das wiederum träfe sich ausgezeichnet mit dem Bestreben Syngman Rhees, dessen Rücktritt eigentlich seit den Wahlen im Mai fällig gewesen war, bei denen seine Partei von über 200 Parlamentssitzen nur noch 47 hatte erringen können. Da er überdies genau wußte, daß ohnehin immer mehr Südkoreaner seiner despotischen Herrschaft überdrüssig würden und das Regime des Nordens als sozial weitaus gerechter ansähen, könnte eigentlich nur noch ein Krieg seine Position retten. Zwangsläufig, so wird erläutert, brächte die amerikanische Aktion mit sich, daß außer dem unmittelbar verwickelten Südkorea auch Taiwan und Japan, die
in direkter Nachbarschaft liegen,
entscheidende militärische Stärkung durch Amerika erführen. Im übrigen befinde sich ein Friedensvertrag zwischen den USA und Japan bereits in Arbeit, er sehe eine Wiederherstellung der japanischen Militärpotenz im Bündnis mit den USA vor. Und dann: Fotos von chinesischen Soldaten, die sich freiwillig melden, zu Tausenden, um die Grenze zu Korea am Yalu-Fluß zu schützen. 379
Als Tso Wen mich zu Kang Sheng holte, ahnte ich nicht, was vor mir lag. Tso Wen war mit einem Vorkriegs-Austin gekommen, dessen hintere Scheiben mit Gardinen verhangen waren. Wir fuhren bis zum Changan-Boulevard. Der Wagen bog nach links ab, fuhr zum Westteil der Kaiserstadt und rollte dann nach kurzer Kontrolle durch das Tor eines ummau erten Bezirkes, der westlich an die alten kaiserlichen Gebäude grenzte und in dem sich zwei idyllische Seen befanden, der >Südli che< (Nan Hai) und der >Mittlere< (Tschung Hai). An ihren Ufern standen modern gebaute eingeschossige Villen, die den größten Teil der hohen Partei- und Staatsbeamten mit ihren Familien beherberg ten, aber wohl auch einige Regierungsdienststellen. Als ich das letzte Mal im Regierungsbezirk war, sah ich einen anderen Teil, sicher hatte man inzwischen Restaurierungen vorgenommen, und nun bot sich hier das Bild eines gepflegten Vorstadt-Villenviertels, wenn man von den Mauern absah. Es gab noch einen dritten See in dieser Gegend Pekings, den >Nördlichen< (Be Hai), aber dieser war nicht in den streng bewachten Komplex einbezogen, ihn umgab ein herrlich angelegter Park, der jedermann zugänglich war. An den Sonntagen tummelten sich Tausende auf seinen Wegen und Grünflächen, erholten sich am Wasser oder tranken Tee im erstklassigen Be-Hai-Restaurant. Das Gelände um die beiden anderen Seen hingegen ist Sperrge biet. Wie ich feststellen konnte, stört sich kaum jemand daran, die Leute sagen, Be Hai ist ohnehin der schönste der drei Seen: die In sel Tjiong Hua mit der Pagode, mit dem Tempel der ewigen Ruhe und der Halle des Lichts, dem Tempel der zehntausend Buddhas, dem Fünf-Drachen-Pavillon und der Neun-Drachen-Wand, vor der ich mich zum ersten Mal mit Sandy und Sue auf einem Sonntagsausflug von einem Fotografen knipsen ließ (er benutzte 380
einen geradezu vorsintflutlichen Holzkasten von Kamera, gegen den eine amerikanische Speed-Graphic wie ein Ersatzteil aussehen würde!). Wir aßen im Restaurant Yi Lan Tang, auf der Nordseite der Insel gelegen, wo es auch den Anlegesteg für Ruderboote gibt, und nach dem Essen ruderte ich Sandy und das Baby länger als eine Stunde auf dem See herum, bis ich Blasen an den Handflächen hatte…. Die Villa, die ich in Tso Wens Begleitung betrat, war offenbar kürzlich erst fertig geworden. Das verwunderte nicht, denn gegen wärtig wurden in ganz Peking Verschönerungsarbeiten großen Um fangs
geleistet, von der Reinigung
der Gullys bis zum
Wiederaufbau alter Mauern. Was mich verwunderte, war die Nervosität, mit der Kang Sheng mich empfing. Er trug einen der sogenannten Kader-Anzüge, hochgeknöpft, militärisch einfach, grauer Gabardinestoff, ein paar Grade besser aussehend als die dunkelblaue Ausführung dieser Dinger, die für niedriger stehende Funktionäre zur Einheitskleidung geworden war. Kang Sheng zwang sich zu ein paar höflichen Floskeln, aber ihm war anzumerken, daß er so schnell wie möglich zur Sache kommen wollte. Also machte ich es ihm leicht, indem ich sagte: »Ich danke vielmals für Ihre Einladung, es schien mir unerläßlich, in dieser heiklen Situation, in der wir uns befinden, Ihnen meine Gedanken darzulegen ...« Er unterbrach mich, indem er mir die Hand auf den Arm legte. »Kamerad Robbins, wir haben Zeit, uns zu unterhalten. Etwas ande res hat aus technischen Gründen sofort zu geschehen. Wir brauchen ein Foto von Ihnen, für einen Paß. Ich erkläre Ihnen das alles später — würden Sie sich bitte da vorn auf den Hocker setzen ...« Etwas verwundert folgte ich seiner Aufforderung. Er rief einen Namen, und von draußen betrat ein Mann mittleren Alters den 381
Raum, in der Hand eine deutsche Rolleiflex-Kamera. Er nickte mir kurz zu, zog hinter Vorhängen zwei Lampen hervor, die er anschal tete und auf mein Gesicht richtete, dann tanzte er eine Weile vor mir herum, betätigte mehrmals den Auslöser, worauf er sich bedankte, die Lampen mitnahm und verschwand. Inzwischen hatte ein weißgekleideter Bediensteter Tee und Ge bäck serviert, einen Teller mit Früchten und eine Flasche Brandy samt einem Glas. Kang Sheng dirigierte mich zu einem Sofa, auf dessen Lehne, wie auch auf den Armlehnen zweier Clubsessel, weiße Spitzendeckchen lagen. »Greifen Sie zu, Kamerad Robbins«, forderte er mich auf, »wir haben die Absicht, Sie in einer nicht ganz einfachen Sache um Ihre Hilfe zu bitten ...« Er deutete auf die Brandyflasche, bemerkte, das er leider aus Ge sundheitsgründen nicht mit mir trinken könne, goß Tee ein, wobei er so hastig verfuhr, daß es große Pfützen auf dem Tisch gab, die ihn aber offensichtlich nicht störten. Eine Zeitlang unterhielten wir uns über den Korea-Krieg, tauschten Ansichten aus, ich äußerte meine
Besorgnis,
daß
daraus
ein
großer
Konflikt
unter
Einbeziehung meines Landes, Chinas und vermutlich auch der Sowjetunion werden könnte, wozu er gedankenvoll nickte. Seine Sorgen waren ganz gleicher Art. »Kamerad Robbins«, sagte er dann langsam, »das Schlimmste an diesem Krieg ist, daß ihn niemand von uns brauchen kann. Wir haben ihn nicht gewollt, auch die Sowjets nicht. Syngman Rhee hat ihn provoziert, um sein Regime mit der militärischen Unterstützung Ihres Landes am Leben zu erhalten; das alles ist nun außer Kon trolle geraten, das geschieht bei militärischen Aktionen sehr leicht, und nun ist die Lage äußerst gespannt, wir wissen, daß die Vereinigten Staaten eine Offensive vorbereiten ...« »Aber«, wandte ich ein, »die nordkoreanischen Truppen haben 382
ihre Gegner auf einem Brückenkopf im Südzipfel des Landes zu sammengedrängt, der wenige Quadratmeilen groß ist ... Sollte das nicht der Sieg sein?« Ich glaubte selbst nicht, daß es so ausging, aber ich wollte hören, was Kang Sheng dachte. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wissen, daß die Vereinigten Staaten große Reserven mobilisieren, andere Staaten senden ebenfalls Trup pen und Waffen, das alles läuft auf einen noch lange währenden, er bitterten Krieg hinaus, zu einer Zeit, da China im Begriff war, die dringendsten Aufgaben der inneren Stabilisierung in Angriff zu nehmen. Wir versuchen in der Landwirtschaft Fortschritte zu machen, wir sind dabei, unsere Industrie neu zu organisieren, das Finanzwesen zu ordnen, das Schulwesen und manches andere ...« Ich hatte darüber gelesen, die Zeitungen hatten am Ende der zweiten Juniwoche noch über die Beratungen des 3. Plenums der KP berichtet, in großer Aufmachung. Kang Sheng sagte: »Die Gefahr ist bereits größer, als wir sie in der Öffentlichkeit darstellen, Kamerad Robbins. Von den amerikanischen Stützpunkten in Japan aus fliegen viermotorige Fernbomber über unsere Grenzen und werfen auf mandschurischem Gebiet Bomben ab. Wir haben Verluste. Sobald Amerika sich mit Truppen massiv auf dem koreanischen
Kriegsschauplatz
engagiert,
werden
unsere
mandschurischen Grenzen selbstverständlich auch zu Lande bedroht sein. Zudem besagen unsere Vereinbarungen mit der Koreanischen Volksdemokratischen Republik, daß wir zu Beistand verpflichtet sind. Wenn Sie sich jetzt noch vergegenwärtigen, daß China ein ähnliches Bündnis mit der Sowjetunion hat, dann können Sie die katastrophale Entwicklung dieses Konfliktes unschwer voraussehen. Angesichts dieser Perspektive wollen wir Sie bitten, der amerikanischen Seite inoffiziell und in aller Stille unsere 383
Position zu erklären, sowie ein paar Vorschläge zu unterbreiten. Wir haben keinen anderen Weg, es gibt keine offiziellen Kontakte mehr, wie Sie wissen. Vertraulich kann ich Ihnen sagen, daß wir versucht haben, über den Botschafter Indiens Verbindung zu Washington herzustellen"— es war vergeblich.« Ich wußte nur zu gut, wie schwer es sein würde, in dieser At mosphäre einen offiziellen Kontakt herzustellen. Das State Depart ment hatte bereits erklärt, daß die Vereinigten Staaten die Republik Korea, ebenso wie Taiwan und Japan als die >vorderste Linie ihres pazifischen Verteidigungsgürtels gegen den Kommunismus< und China als das > Banditennest auf dem Festland < ansahen. Deshalb war ich instinktiv völlig überzeugt davon, daß Kang Shengs Besorgnis echt war. Die Sache lag klar: Mao fühlte sich nicht wohl in der Rolle, in die er geraten war, nicht zuletzt durch die Abfuhr, die wir ihm erteilt hatten. Ob ich helfen könnte, und wie? Kang Sheng sah mich einige Zeit nachdenklich durch seine dicken Brillengläser an, dann fragte er unvermittelt: »Könnten Sie für uns eine Reise unternehmen?« »Wie lange?« »In drei Tagen kann alles erledigt sein.« Ich ahnte, daß es Hongkong sein würde, und er bestätigte es. Als ich darauf verwies, daß ich allerdings von dort aus kaum die Mög lichkeit haben würde, viel zu erreichen, schüttelte er den Kopf und hielt mir entgegen: »Wir wissen, daß einige unserer alten Freunde inzwischen in die CIA übernommen worden sind. Unter anderem auch Ihr ehemaliger Vorgesetzter. Und wir wissen, daß er gute Ver bindungen zum neuen stellvertretenden Direktor der Agentur hat, die beiden kennen sich seit Jahren. Wenn es uns überhaupt gelingen sollte, etwas zu bewegen, dann über diesen Kanal ...« Einiges war mir unklar. Nach allem, was ich wußte, war der Chef der CIA ein 384
Admiral namens Hillenkoetter, und ich wußte nichts von einer Be kanntschaft Hollys zu ihm. Kang Sheng berichtigte mich: »Ein Mißverständnis. Der neue Chef der Agentur heißt Walter Bedell Smith, es hat einen Wechsel gegeben. Smith war Stabschef des Oberkommandierenden der in Europa operierenden US-Streitkräfte während des Krieges, General Eisenhower. Dieser wiederum ist nun Stabschef im Weißen Haus. Mister Smith hingegen amtierte eine Zeitlang als Botschafter in Moskau. Ein sehr konservativer Mann. Ich meinte allerdings nicht ihn, sondern seinen Stellvertreter, dieser kommt aus dem OSS ...« Er war zweifellos hervorragend orientiert, er nannte auch den Na men. »Mister Dulles.« »Aber — ich dachte, Mister Dulles ist außenpolitischer Berater des Präsidenten! Wurde sein Name nicht im Zusammenhang mit einem Besuch am 38. Breitengrad genannt?« »Das war Mister John Foster Dulles, der Bruder des Mannes, den wir meinen«, erläuterte Kang Sheng geduldig. »Es wird interessant für Sie sein zu erfahren, daß Mister Allen Welsh Dulles zwar auch als ein Konservativer, aber als ein Mann mit sehr nüchternem Analytikerverstand angesehen wird, während sein Chef, Mister Smith, eher zu impulsiven Reaktionen neigt. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, gehört zu werden, dann wird es Mister Allen Dulles sein, der unsere Worte zur Kenntnis nimmt. Mehr ist nach Lage der Dinge kaum zu erwarten, wir haben keinerlei Illusionen, Kamerad Robbins, aber wir versuchen es.« Ich konnte seine Bitte nicht ablehnen, und ich wollte das auch nicht. Ein Kampf, der von US-Truppen gegen China ausgefochten werden mußte und gegen dessen Verbündete, war ein von vornher ein auf Verschleiß der amerikanischen Kräfte hinauslaufender Landkrieg. Es würde ein Krieg werden, in dem wir nicht nur gegen 385
Menschenmassen Chinas und der Sowjetunion gleichzeitig zu kämpfen hätten — er fände unter dem Schatten der sowjetischen Atombombe statt, die die unsere zumindest aufzuwiegen imstande war. »Was wir vorschlagen«, erinnerte mich Kang Sheng, »liegt tat sächlich im langfristigen Interesse Chinas ebenso wie der USA.« Dann zog er ein Blatt Papier hervor und las mir vor, was der CIA übermittelt werden sollte, in der Hoffnung, daß es einsichtigen Leu ten dort gelingen könnte, die Regierung in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. »Sie dürfen dieses Papier mitnehmen«, sagte er, als er fertig war. »Es trägt keine Unterschrift. Sie dürfen Ihrem Gesprächspartner mitteilen, es handelt sich dabei um die Meinung unserer höchsten Staatsführung. Was uns betrifft, so werden wir über das, was hier geschrieben steht, niemals auch nur ein Wort verlieren. Es wird ver gessen sein. Selbst unsere Verbündeten werden nicht informiert werden,
egal
was
geschieht.
Wir
erwarten
von
Ihrem
Gesprächspartner, daß er dieselbe Haltung einnimmt.« Zwei Stunden später packte Sandy meine Koffer. Ich nahm nur das Allernotwendigste mit, es würde eine kurze Reise sein. Sandy war wider Erwarten nicht ängstlich, als ich ihr gestand, ich würde China für kurze Zeit verlassen. »Hongkong«, murmelte sie versonnen, »darum könnte man dich beneiden!« »Du wirst dich nicht beunruhigen?« Sie zog mich zur Couch und setzte sich auf meinen Schoß. Sie konnte sehr nüchtern sein, wer wußte das inzwischen besser als ich, und oft schlich sich in diese Nüchternheit unversehens ein Zug Ko mik. Jetzt sagte sie: »Was würde es ändern, du fährst ja doch! Hät test du es lieber, wenn ich dir eine Szene mache? Die Frau des 386
Spions, die den Fehlgriff ihres Lebens bejammert?« »Ich bin kein Spion, Sandy!« »Eben«, sie zuckte die Schultern. »Nicht mal das. Eher eine Art Briefträger. In einem altmodischen Land, das noch an keine interna tionalen Telegrafenlinien angeschlossen ist.« Wir küßten uns, ich merkte, daß sie lachte. Selbstverständlich war sie besorgt um mich, aber dies war eben ihre Art, es zu äußern. »Lieber wäre es mir«, sagte sie, »du bliebest hier und würdest weiter Texte übersetzen. Wer weiß, was für Versuchungen an dich schwachen Menschen in Hongkong herantreten!« Damit hatte sie die ganze Sache endgültig in einen unernsten Be reich gezogen, sie wollte den Ernst dessen, was ich zu unternehmen im Begriff war, einfach nicht erörtern, obwohl sie ihn sehr gut be griff. Meine Wahine! Ich begann immer neue Züge an ihr zu entdecken. Als Tso Wen mich abholte, küßte sie mich, ich drückte die kleine Sue an mich, und am Tor drohte Sandy mir: »Wenn du zurück kommst, Sidney B. Robbins, werden wir ein Fest feiern! Luau unter freiem Himmel, im Hof! Und ich will endlich einmal Gäste im Haus sehen!« Tso Wen übergab mir im Auto verschmitzt lächelnd einen Paß, in dem das Bild klebte, das der Fotograf bei Kang Sheng von mir ge macht hatte. Die Leute verstanden ihr Handwerk, daran bestand kein Zweifel: ich hieß Samuel Bernhard Roney und war Neuseelän der. Alle übrigen Daten stimmten mit den meinigen überein, mit Ausnahme des Geburtsortes, der war Wellington. »Wir haben die Anfangsbuchstaben Ihres Namens, so gewählt, daß sie den Ihrigen entsprechen«, bemerkte Tso Wen. »Das ist eine bewährte Methode, sich schnell an eine neue Identität zu gewöhnen ...« Der Teufel mochte wissen, ob er recht hatte, ich reiste zum ersten 387
Mal mit falschen Papieren! Es ging zum Flugplatz. Die Maschine, in die wir stiegen, ähnelte einer Dakota zum Verwechseln, aber Tso Wen erklärte mir lächelnd, sie sei aus der Sowjetunion, dort habe man sie nach einer amerikanischen Lizenz gebaut, China würde sie übrigens in Kürze auch fertigen. In der Kabine war ich mit Tso Wen allein. Es kam mir immer noch wie eine gewagt fabulierte Story vor: Sidney B. Robbins (oder vielmehr Samuel Bernhard Roney) in vertraulicher Mission aus China unterwegs nach Hongkong! Nach etwas mehr als zwei Stunden landeten wir in Shanghai. Die Türen blieben geschlossen, während der Vogel aufgetankt wurde. Als das endlich beendet war, klebte meine Kleidung am Körper, immerhin war noch Sommer, und die Temperaturen lagen in diesem Jahr ohnehin hoch. — Nächster Stopp war Kanton. Inzwischen waren fünf oder sechs Stunden vergangen. Tso Wen stieg als erster aus, winkte mir dann, und während ich die Gangway hinabstieg, fuhr schon ein Militärjeep heran, Tso Wen verstaute meinen Koffer, wir fuhren ab, durch einen Seitenausgang des Flughafens der Stadt zu. »Wie ist es«, erkundigte sich Tso Wen vorsichtig, »möchten Sie noch etwas essen? Oder lieber die Zeit nutzen und drüben erst ...« Ich hatte keinen Hunger, aber es interessierte mich, wie lange ich noch unterwegs sein würde. Tso Wen blickte auf seine Uhr. »Zwei Stunden, höchstens.« Da entschloß ich mich, auf ein halbrohes Steak in irgendeinem Hongkonger Restaurant zu warten. Tso Wen war zufrieden. Er rief dem uniformierten Fahrer zu, er solle zum Bahnhof fahren, dann gab er mir ein ziemlich dickes Bündel Pfundnoten und einen Zettel mit einer achtstelligen Zahl. »Die Telefonnummer, unter der Ihr Gastgeber zu erreichen ist ...« Gastgeber war zwar eine recht ku 388
riose Bezeichnung für Holly, aber immerhin frappierte mich die Routine, mit der das alles organisiert war. Seit den Höhlen von Je nan hatten diese Leute erstaunlich schnell zugelernt! Von Kanton fuhren in nicht allzu langen Abständen Bummelzüge die kurze Strecke bis zur Grenze von Hongkong. Ich brauchte, ein mal im Zug sitzend, nicht lange zu warten, die Wagenschlange setzte sich klirrend und ratternd in Bewegung. Tso Wen, auf dem Bahnsteig, hob leicht die Hand, dann waren wir aus dem Bahnhof. Es folgte die sonnendurchglühte Perlflußniederung mit ihren Reisfeldern, auf denen die zweite Ernte reifte, saftiges Grün trotz der Hitze, und vielfarbige Blüten überall. Im Gegensatz zu Shanghai war es hier angenehmer, die Luft war weniger drückend, eine leichte Brise fächelte die Kronen der Zuckerpalmen. Der Zug war nur mäßig besetzt. Alte Frauen mit Tragkörben, aus denen Hühner lugten, ein paar jüngere Mädchen, denen ich anzuse hen glaubte, daß sie aus Hongkong stammten, ein paar dienstrei sende Männer mit Aktentaschen — hier im Süden markierte sich im Verhalten der Leute nichts von der Sorge, die jetzt vielleicht die Be wohner der mandschurischen Provinzen erregen mochte: wann kommen die amerikanischen Bomber? Das lag wohl daran, daß England in Hongkong eine sehr ge schickte Politik betrieb, die auf alles andere angelegt war als auf Konfrontation. Die Briten mußten sich der kritischen Lage ihrer Kronkolonie bewußt sein, und sie hatten aus dieser Lage begonnen, systematisch Vorteile zu ziehen, von denen — um das mindeste zu sagen — nicht wenige sich auch als Vorteile für China erwiesen. Man trieb Handel auf immer großzügiger werdender Basis. Da die Zollbestimmungen in Hongkong äußerst günstig waren, bedeutete die Kolonie im wachsenden Maße eine ideale Einkaufsquelle für die Volksrepublik, und zwar für alle jene Güter, die sie aus dem 389
nicht befreundeten Ausland bekam. — Wenig Zeit verging, bis der Zug an der Grenzstation Schum tschun hielt. Vor uns lag eine Eisenbrücke. Ihr Zugang war gesperrt, hier kontrollierten chinesische Soldaten und Zollbeamte ziemlich routiniert die wenigen Reisenden. »Mister Roney?« Der Grenzposten musterte mich kurz, er gab nicht zu erkennen, ob er durch den effizienten Apparat Kang Shengs von meinem Auftauchen unterrichtet war, er besah sich das Visum und drückte dann seinen Stempel auf die nächste Seite des Passes, bevor er ihn mir zurückgab. Währenddessen hatte der neben ihm stehende Zollbeamte, soeben mit der Untersuchung eines Hüh nerkorbes fertig, kommentarlos mit seinem Kreidestück ein Kreuz auf meinen Koffer gemacht und winkte mich durch die Schranke. Es waren etwa dreihundert Meter Brücke. Auf der anderen Seite wieder eine Schranke, daneben ein Chinese in britischer Uniform, der sich mit meinem Paß nicht lange aufhielt, ihn stempelte und freundlich »All right, Sir!« sagte. Der Zollbeamte war Engländer, wie aus dem Bilderbuch Seiner Majestät geschnitten, groß, hager, mit blondem Schnurrbart. Er sagte, überrascht über mein nichtchi nesisches Gesicht: »Good afternoon, Sir!« Mein Gepäck interessierte ihn nicht, er bemerkte nur, indem er mir bedeutete, ich könne weitergehen: »Ziemlich heiß jetzt, da oben, wie?« Und er lachte aus vollem Hals, als ich ihm zublinzelte und zurückgab: »Keine Panik! Geschäft wie üblich!« Auch hier gab es einen Bahnsteig und eine kleine Station, auf der ein Zug wartete. Meine Mitreisenden stürmten bereits die Abteile. Ich warf gerade einen Blick auf das Schild dieses Grenzbahnhofes, auf dem ich noch nie gewesen war und der Lo Wu hieß, als mir je mand von hinten einen derben Schlag auf die Schulter versetzte: Holly! 390
Ich war mehr als verblüfft. Während wir uns begrüßten, überlegte ich, wie er von meiner Anreise erfahren haben konnte. Welche un sichtbaren Linien gab es zwischen Peking und der Kolonie? Und welche Rolle spielte Holly eigentlich in dem Netz, das da gespannt war? Er schob eine Beantwortung meiner Frage auf, bis wir den Bahnsteig verlassen hatten. Ich war darauf vorbereitet gewesen, mit dem Zug weiter südwärts durch Kowloon zu fahren, bis zum Star Ferry Pier an der Salisbury Road, von wo, wie man mir gesagt hatte, die Fähren nach der Insel Hongkong abgingen. Jetzt lachte Holly nur und wies auf einen kleinen schwarzen Austin: »Verlorene Zeit, mein Junge, wir nehmen diese Neuerwerbung von mir. Hat den Vorteil, daß uns niemand zuhört!« Ich war zum ersten Mal in Hongkong, und daher war ich erstaunt über die Atmosphäre in dieser alten britischen Kronkolonie. Kowloon, das wir jetzt auf einer sauberen Asphaltstraße durchquer ten, war der größere Teil der Besitzung, und das Land machte einen erstaunlich aufgeräumten Eindruck. Die Felder waren mit Reis und Bohnen bestellt, säuberlich durch Dämme abgegrenzt, die Ansied lungen, durch die wir fuhren, erweckten den Anschein, als habe man sie soeben abgewaschen. Ordnung war zu spüren, eine gewisse Heiterkeit der Leute, die zwar auch, wie in China, ärmlich gekleidet waren, das aber mit einer Anmut trugen, die sich wohl nicht allein durch das südliche Temperament erklären ließ. Holly meinte gleich mütig: »Laß dich nicht täuschen, Sid, die Leute haben gerade das Notwendigste zum Leben, aber — hier unten muß man sich daran gewöhnen, daß selbst die Armut noch bunte Farben hat, nicht graue, wie auf dem nördlichen Festland, wo du herkommst. Erzähl mir, wie es dir geht!« Ich berichtete ihm. »Deine Frau«, fragte er, »wird sie es durchhalten?« 391
Ich blickte ihn erstaunt an. Er kannte Sandy nicht, hatte keine Vorstellung von ihr, und er schien zufrieden zu sein, als ich ihm erklärte, ihre größte Sorge sei, bald wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können. Wir fuhren an einigen gemauerten Reservoirs vorbei, und Holly bemerkte, daß es sich dabei um Zisternen zum Auffangen von Regenwasser handelte. »Das ist die Achillesferse dieser Kolonie, sie hat kein eigenes Was ser. Sie bezieht es von China. Was das in Krisensituationen bedeu tet, kannst du dir ausrechnen ...« Wir hatten Glück, am Star Ferry Pier lag eine Fähre bereit, und zehn Minuten später waren wir auf der anderen Seite des Wassers, in Hongkong, Stadtteil Victoria, wie Holly mir erläuterte. Der Austin rollte munter in dem Gewühl von Autos, Rikschas und Radfahrern von der Connaugh Road zur Peddler Street, bog in die Queens Road Central ein und hielt nach einer Schleife vor einem nüchtern aussehenden Bürogebäude. Eine Tafel: Southern Trading Company. Wir waren angelangt! Noch hatten wir kein Wort über meinen Auftrag gesprochen, wir fuhren mit dem Fahrstuhl ein paar Stockwerke hoch, und als er an hielt, breitete Holly die Arme aus. »Hier ist mein Reich!« Ein Foyer, von dem gepolsterte Türen abgingen, unweit des Fahrstuhls ein halbkreisförmiger Schreibtisch mit einer Menge von Telefonen, dahinter eine junge Dame amerikanischen Zuschnitts, allerdings mit unverkennbaren Anzeichen dafür, daß ihre Ahnen nicht ausschließ lich aus den Staaten stammten. »Miß Nancy«, bemerkte Holly im Vorbeigehen. Ich nickte höflich. Dabei fiel mir der Captain von der Navy ein, der meine erste Botschaft hierher befördert hatte. Es wäre wohl taktlos gewesen, Miß Nancy danach zu fragen, ob er bei ihr Erfolg gehabt hatte! Holly führte mich in ein riesiges, elegant möbliertes Appartement mit Bad, Pantry und zwei Räumen. »Was 392
ist das, ein Hotel?« Holly nahm aus einem Schrank in der Pantry eine Whiskyflasche und Gläser, er schenkte ein, wir stießen an, auf das Wiedersehen, dann fragte er: »Essen?« »Und ob! Ich darf um ein Steak mit Preiselbeeren bitten!« Also doch ein Hotel! »Nein«, gab Holly Auskunft, nachdem er in ein Telefon knapp die Anweisung gegeben hatte, für seinen Gast ein Steak zu braten. »Dies ist schon die > Southern Trading<, und sie wickelt auch tatsächlich Geschäfte ab, sogar mit China. Aber das geschieht in den unteren Etagen, da haben wir chinesische Mitarbeiter von beachtlichen Fähigkeiten. Im übrigen ist das eine Einrichtung, die seit zwei Jahren uns gehört ...« »Uns?« Ich muß ziemlich verwirrt dreingeschaut haben, denn Holly lächelte nachsichtig und erklärte mir dann geduldig: »Der Agentur. CIA. Tarnstation. Der Nebenaspekt ist, daß sie finanziellen Gewinn macht. Aber das ist eigentlich schon kein echter Nebenaspekt mehr, Junge, die Agentur braucht Geld, das nicht aus vom Kongress kontrollierbaren Quellen des Staates kommt. Die Zeit, in der ich beispielsweise die Rückfahrkarte für dich beim Kongress hätte beantragen müssen, ist so gut wie vorbei, wir schwimmen in eigenem Wasser ...« Nach und nach begann ich zu begreifen. In der Tat, kein schlech ter Gedanke, diese Kombination von verdeckter Station und Ge schäft. Eine solche Praxis eröffnete für die Zukunft ein recht weites Feld von Möglichkeiten. Holly bestätigte das sofort: »So ist es. Kein Senator hat hier etwas zu bestimmen oder zu kontrollieren, wir sind selbständig. Dem Präsidenten rechenschaftspflichtig, was unsere politischen Aktivitäten angeht, allerdings, aber das ist in wachsendem Maße ebenfalls relativ zu sehen. Wir haben aus der 393
Vergangenheit gelernt, mein Junge!« Das schien mir auch. Ein Serviermädchen in einem schwarzen Kleid, das ihr bis zu den Kniekehlen reichte, trat mit einem Tablett ein und servierte. Mein Steak hatte die Größe eines aufgeklappten chinesischen Fächers und war mit Gemüsen dekoriert, die so schön aussahen, daß es eigentlich schade war, sie zu essen. »Kaffee, Sir?« erkundigte sich das Mädchen, sie lächelte freund lich dabei. An meiner Stelle beauftragte Holly sie: »Kaffee und Ap felstrudel. Und Eis, auch für mich!« Als sie gegangen war, forderte Holly mich auf: »O.K., laß es dir schmecken! Inzwischen würde ich gern wissen, was unser Partner anbietet. Wir bekamen lediglich über einen Kontaktmann gestern abend Bescheid, daß du heute kommst, mit einer wichtigen Bot schaft oder dem, was diese Kerle in Peking so nennen ...« Ich hatte das unsignierte Schriftstück in der Tasche, so wie es mir von Kang Sheng übergeben worden war. Holly vertiefte sich in den Text, während ich mich heißhungrig über das Steak her machte. Ich konnte sehen, wie Holly die Stirn runzelte, dann zog er den roten Schlips auf, den er zu seinem schneeweißen Hemd und den dezent karierten grauen Anzug trug. Nachdem er alles gelesen hatte, schenkte er sich einen neuen Whisky ein und ging zum Fen ster, um eine lange Zeit wortlos hinauszublicken. Als er sich um drehte, sagte er ernst: »Es ist ein gottverflucht verkorkstes Ge schäft!« Er sah, daß ich mit dem Essen fertig war, und setzte sich wieder zu mir. »Für den Fall, daß ich nicht alles begriffen habe, laß uns durchgehen, worauf es ankommt. Also, Kang Sheng macht den Vorschlag,
daß
wir
Syngman
Rhee
beeinflussen,
sofort
Waffenstillstand anzubieten ...» »Das ist die erste Variante«, bestätigte ich. »Und der Vorschlag 394
kommt nicht von Kang Sheng, sondern von > höchsten Regierungs stellen< was soviel heißt wie Mao Tse-tung selbst. Zu der Variante: die Truppen des Nordens würden dann vor Pusan stehenbleiben und es wären Möglichkeiten für Verhandlungen über den weiteren Ablauf der Dinge möglich, zwischen uns und den Südkoreanern auf der einen Seite und den Nordkoreanern als Partner. Ich vermute darin die Absicht, die Sowjets nach Möglichkeit aus der Sache her auszuhalten ...« Er grinste. »So klug bin ich auch. Aber — für diese Variante ist es zu spät. Abgesehen davon, daß die Sowjets schon drinstecken, und zwar in der UNO, wo sie uns Feuer unter dem Arsch machen, sind bei uns die Militärs am Zuge. MacArthur. Was der von Langzeitdiplomatie versteht, hat unter einem kurzgeschnittenen Fingernagel Platz. Überdies ist MacArthur einer, der schon rot sieht, wenn er das Wort Kommunismus nur hört. Keine Chance. Sehen wir uns die nächste Variante an ...« »Nun ja«, erläuterte ich, »für den Fall, daß die Kampfhandlungen weitergehen, sehen die Pekinger ein >roll-back< der nordkoreani schen Truppen voraus. Das würde mit Sicherheit nicht am 38. Brei tengrad haltmachen und sich auf die mandschurische Grenze zube wegen. Peking möchte aber, daß die UNO-Truppen die alte Grenze zwischen den beiden Koreas möglichst nicht überschreiten ...« »Weil sie in diesem Augenblick gezwungen wären, Beistand zu leisten, richtig?« »Richtig.« Er wiegte den Kopf. »Damit, mein Junge, ist die Scheiße unwiderruflich im Ventilator. Der Angriff über den 38. Breitengrad hinaus ist bereits beschlossene Sache.« »Dann werden die Chinesen Truppen schicken!« »Eben. Und unsere Militärs hätten jeden Vorwand der Welt, sie 395
bis in die Mandschurei hinein zu jagen, was seinerseits den Bündnisvertrag der Pekinger mit den Sowjets aktivieren würde, und damit lägen dann wir auf dem Bauch.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du mich fragst, Russen und Chinesen zugleich als Gegner — das ist zuviel.« »Du wirst die Vorschläge weitergeben?« Er lehnte sich zurück. »Ich werde in unsere Funkstation gehen, sobald ich meinen Kaffee getrunken habe. Nur — sei dir klar dar über, das ist ein heißer Krieg, und selbst wenn Allen Dulles es will, wird er ihn nicht so leicht stoppen können. Abgesehen davon, daß ich nicht glaube, er will überhaupt schon einen Ausgleich mit den Chinesen. Es ist zu früh. Und er ist auch erst Stellvertreter des Direktors. Er hat zwar ein offenes Ohr für alles, was mit uns zusam menhängt, er schirmt uns ab, er ist einer der wenigen Leute in der Agentur, die von unserem Kontakt zu Peking überhaupt wissen. Aber du mußt dir darüber klar sein, Junge, daß sich die Lage in der Welt verändert hat. Sieh dir Asien an, nichts als kommunistische Rebellionen, eine Besitzung nach der anderen wird von Leuten kas siert, die zwar meist ziemlich wenig von Kommunismus verstehen, eher sind sie Nationalisten, nur — für Washington sehen sie alle rot aus. Das Zeitalter der aggressiven Ausbreitung des Kommunismus. Es ist viel Wahres daran, aber der Rest ist Phantasie, und es wird lange dauern, bis es wieder vernünftige Analysen gibt. In der Zwi schenzeit haben wir bei dem, was wir tun — jedenfalls mit Leuten wie Mao —, den Kongress gegen uns, die Industrie, das Militär, den Präsidenten, die UNO, und so gut wie die gesamte Presse ...« »Etwas viel«, bemerkte ich kleinlaut. Er nickte. »Ein äußerst ungünstiges Kräfteverhältnis, Junge. Und — hast du dir mal überlegt: es ist ja nicht so ganz abwegig zu behaupten, letz ten Endes würde Mao uns auch nur für seine ganz eigenen Interes 396
sen ausnutzen, oder?« »Ich weiß nicht«, gab ich unschlüssig zurück. »Mein Eindruck ist nach wie vor, dass die Leute unsere Partner werden möchten.« »Um uns gegen die Russen ausspielen zu können, ja.« »Man könnte das Sicherheitsbedürfnis nennen ...« Er wiegte den Kopf. »Das könnte man. Weißt du, ich glaube, dass ich für meinen Teil die Sache ganz gut durchschaut habe. Ich bin mir nicht mehr so sicher, daß Mao lediglich der gute Junge ist, der sich gern unter den Schirm der USA begibt. Er denkt weiter. Man darf ihn nicht unterschätzen, das haben wir vielleicht anfangs getan. Er möchte unter unseren Schirm, so glaube ich wenigstens, weil er dann sozusagen den Rücken frei hat, in Asien. Da ist so manches, was sich nicht reimt. Wir haben beispielsweise sichere Beweise dafür, daß Emissäre Maos fieberhaft in so gut wie allen diesen antikolonialistischen Bewegungen in Asien an Einfluß gewinnen. Das Interessante dabei ist, daß die Sowjets sich hier zwar prinzipiell engagieren, daß sie aber zurückhaltend sind. Sie schätzen die Chancen solcher Bewegungen nüchtern ein und raten zu überlegtem Vorgehen. Maos Emissäre hingegen provozieren den Aufstand um jeden Preis. Auch um den, daß die entsprechende Bewegung daran kaputtgeht /..« Ich hatte einiges zu überlegen, mein Horizont von Peking aus war begrenzt, ich begriff das. »Könnte man das nicht vielleicht als einen Versuch werten, in den Bewegungen, von denen du sprichst, die Führung zu erringen, bevor Moskau sie bekommt?« »Das könnte man. Nur — das Problem ist Chinas Bündnis mit den Sowjets. Solange das besteht, werden unsere Politiker nicht nachgeben. Da sehe ich kein Land ...« Mir wurde die Misere, in der wir steckten, immer klarer. Natür lich zielte Mao auf Ausbreitung seines Einflusses in kleineren Län 397
dern Asiens ab. Die einzige Chance bestand darin, diesen Einfluß durch Annäherung an Mao nach und nach auch unter unsere Kon trolle zu bringen. Doch das war ein Gedanke, der so weit in die Zu kunft ging, daß er im Augenblick noch irreal erschien. Wer weiß, ob wir jemals so weit kamen. »Ein äußerst ungünstiges Bild«, sagte ich. »Wir werden unter diesen Umständen kaum vorwärtskommen ...« Holly meinte: »Nun ja, in der Politik handelt nie die eine Seite ganz allein. Da ist immer auch die andere mit im Spiel. Wir haben das Konzept, daß wir jede Bestrebung Maos, die sich gegen die So wjets richtet, nutzen. Im übrigen liegt es an uns, wo und wie wir ihn an der Leine halten, wenn es einmal so weit kommt.« »Aber wir kommen damit nicht vorwärts.« »Es braucht Zeit«, sagte Holly. »Und während dieser Zeit verbündet sich Mao immer weiter mit den Russen. Er kann das unter diesen Umständen nicht vermeiden, obwohl ich fest glaube, daß er das Gegenteil möchte. Es gibt nicht nur ihn, es gibt auch andere Leute in der Führung dort. Er muß mit den Hunden bellen, sonst fressen sie ihn.« »Du sagst es.« Er verfiel in ein stumpfes Brüten, und er blickte kaum auf, als das Mädchen den Kaffee brachte, den Apfelstrudel und Eiswürfel. Abwesend trank er einen Schluck nach dem anderen, dann erhob er sich abrupt. »Ich gehe es an. Wenn es länger dauert, leg dich schlafen. An der Tür ist ein Klingelknopf, wenn du ihn drückst, kommt das Mädchen ...« Ich mußte einige Stunden geschlafen haben, als ich davon auf wachte, daß Holly wieder da war. Draußen war es dunkel geworden. Gähnend erkundigte ich mich: »Was erreicht?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, knipste die Tischlampe an und forderte mich auf: »Komm her, schreib. Bringen wir es hinter 398
uns ...« Ich rieb mir die Augen, fuhr in meine Schuhe, griff mir das Pa pier, das Holly bereitgelegt hatte, und dann begann er zu sprechen. »Konsultation mit dem Partner erbrachte folgendes: Einstellung der Kampfhandlungen im Pusan-Brückenkopf nicht möglich. Offensivvorbereitungen laufen bereits unter Militärkontrolle. Anhalten der Kampfhandlungen am 38. Breitengrad ebenfalls un möglich, aus gleichem Grund. Ab Überschreiten des 38. Breitengra des würde politische Regelung möglich werden, auch falls inzwi schen chinesische Truppen in den Konflikt verwickelt sind. Voraus sichtliche Reaktion der UdSSR bei Annäherung von UNO-Truppen an mandschurische und sowjetische Grenze (Wladiwostok) wird Einlenken in Richtung auf Verhandlungen begünstigen. Wir raten, zu diesem Zeitpunkt Waffenstillstandsvorschlag zu unterbreiten. Endziel: Republik Korea verbleibt in US-Einflußsphäre, von Nord korea durch alte Demarkationslinie getrennt. Danach offizielle Ver handlungen möglich, die den Konflikt endgültig beilegen. Gesprächspartner betont: Verfahren nach diesem Schema würde für spätere Kontakte USA—China Tür offenhalten. Langsame Rückkehr, über sehr langen Zeitraum, zu Vorstellungen, die von >Dixie< entwickelt wurden, bleibt von der Bündnispolitik Chinas und dessen innenpolitischer Situation abhängig. Gesprächspartner wird jedes Zeichen, das von Peking aus gegeben, wird, sorgfältig registrieren. Totale Integration in den Sowjetblock würde jegliche Form der Annäherung unmöglich machen. Austausch von Mitteilungen in bisher
geübter
Art
wird
vom Gesprächspartner
stärkstens
befürwortet, verbunden mit Erörterung taktischer politischer Maßnahmen, wenn Interesse daran besteht.« Ich
legte
den
sogenannten 399
Kugelschreiber,
eines
jener
praktischen neuen Schreibgeräte, das ich hier bei Holly zum ersten Mal sah, auf das Papier und sah ihn an. »Das heißt, der Krieg geht weiter.« »So ist es.« »Und wir beabsichtigen nicht, die Russen zu unmittelbarem Ein greifen zu provozieren?« »Richtig. Das ist die Stufe, bis zu der die Politiker zu Hause gehen werden. Wobei es zu Reibungen mit den Militärs kommen wird, so viel ist sicher, sie haben Blut gerochen, aber sie sind vermutlich nicht in der Lage, nüchtern einzukalkulieren, daß es bei Eingreifen der Russen in den Konflikt im wachsenden Maße unser Blut sein würde, das sie dann noch riechen ...« Damit
war
Kommunismus
alles bis
gesagt: an
die
militante äußerste
Eindämmung Reizschwelle,
des deren
Überschreiten uns durch einen Gegenschlag bedrohen würde. Eine sehr interessante Einschätzung des realen Kräfteverhältnisses lag unausgesprochen in dieser Strategie. Holly bestätigte das sofort. »Es gibt den Trend, Kamikaze zu spielen, Sid: alles erringen oder sterben. Er ist stark. Aber es gibt ebenso die illusionslose Kalkulation des Risikos, wie du siehst. Zwischen diesen beiden Polen wird sich auf lange Sicht die Politik der Vereinigten Staaten bewegen. Unter uns gesagt, diese Konstellation könnte sich eines Tages ändern, die Voraussetzung wäre, daß Mao eine rigorose Abkehr von Moskau vollzieht. Hältst du das für möglich?« Ich konnte nicht mit gutem Gewissen Ja oder Nein sagen. Aber ich antwortete ehrlich: »Auf absehbare Zeit hat er dafür wohl keine Chance, Holly. Das Land ist kommunistisch. Die Russen sind die >älteren Brüder<, und sie werden ihrer Rolle gerecht, sie investieren sehr viel, das wird nach und nach spürbar für die Leute, 400
und es prägt ihr Denken. Damit tritt unweigerlich eine innere Stabilisierung des Landes selbst und seiner Verbindungen zu den Sowjets ein. Wenn das genügend lange so läuft, wird Mao eines Tages mit seiner Intention, von den Sowjets abzurücken und unser Partner zu werden, allein dastehen.« »Das hieße, er würde sich den Konsequenzen einer Entwicklung, die er selbst unwillig mit eingeleitet hat, letzten Endes fügen müs sen ...« »Es bleibt ihm kaum eine Wahl, wie die Dinge liegen«, sagte ich. »Ein Politiker wie er, der einen solch hochgeschraubten persönli chen Führungsanspruch erhebt, muß sein Gesicht wahren. Er kann keine willkürlichen Schwenkungen vollziehen, das würde ihn schnell unglaubwürdig machen. Den historisch günstigsten Zeit punkt für seine Anbindung an uns haben wir verpaßt, nicht er. Jetzt haben wir auf eine neue Jahrhundertchance dieser Art zu warten. Nur — jedes Jahr wird, während wir warten, in China eine weitere Generation Kommunisten mündig, und die ist stets auf brüderliche Verbundenheit mit Moskau orientiert, gegen uns.« Er schwieg lange, klopfte ein paarmal mit den Fingern wütend auf die Sessellehne, dann stand er auf. »Das ist die Wahrheit und es ist das Dilemma. Laß uns irgendwo essen gehen. Morgen früh kannst du zurückfahren ...« Der kleine Austin rollte auf erstaunlich guten Straßen westwärts aus Victoria in Richtung Küste, und hier ging es im weiten Bogen, meist in Sichtweite des Meeres, bis zu dem an der Südseite der Insel gelegenen Aberdeen, wo wir auf einen Sampan umstiegen, der uns in die Bucht hinausfuhr. Einst war Aberdeen, damals noch unter dem chinesischen Namen Chek Py Wan, das größte Fischerdorf der Insel gewesen, dann ein Schlupfwinkel für Piraten, nun wimmelte das Wasser der Bucht von Tausenden kleiner Boote, deren Laternen 401
im Wellenschlag wie Irrlichter tanzten. Die Mehrzahl waren Haus boote, auf denen vielköpfige Familien lebten, aber es gab auch see tüchtige Dschunken und Fischereifahrzeuge, die hier für die Nacht ankerten. Ein unvergeßliches Bild, diese schwimmende Siedlung mit der entfernten Silhouette des Victoria Peak und der lichterflimmernden Stadt im Hintergrund. »Ich beneide dich«, konnte ich mir nicht verkneifen, zu Holly zu sagen. »Peking ist trostlos dagegen, wie?« Ich mußte das bestätigen. Zwar waren die geringfügigen Kriegs schäden relativ schnell beseitigt worden,
niemand konnte
behaupten, Peking sei eine schmutzige, verwahrloste Stadt. Ebenso wie niemand behaupten konnte, daß sich das Leben — verglichen mit den Jahren des Bürgerkrieges — nicht zu seinem Vorteil verändert hatte. Es gab erstaunlich viel Lebensmittel zu kaufen, die Kinder bettelten nicht mehr um etwas Eßbarem, sie gingen zur Schule und bekamen dort eine Mahlzeit. Nach und nach waren sogar die Gestalten, die in Lumpen herumliefen, weniger geworden; der neue Staat verbuchte zweifellos die ersten Erfolge seiner Politik. Was Peking im Vergleich zu Hongkong fehlte, war die südländisch anmutende Leichtlebigkeit seiner Bewohner, es waren die hunderttausend bunten Lichter, der Talmiglanz, der von den unzähligen mehr oder weniger nutzlosen Dingen ausging, die hier überall zur Betrachtung standen — und zum Kauf. Irgendwo am Pier hatte ein Händler Stoffe ausgebreitet, und ich erstand für einige englische Pfunde ein paar Meter schweren Brokatstoff mit goldgewebtem Drachenmuster für Sandy. Während ich noch in die Bewunderung meines Mitbringsels vertieft war, kaufte Holly eine Celluloidklapper, in der zwei Affen aus Blech auf einem Ast herumturnten. Er meinte, das wäre etwas für das Baby. 402
Und er kaufte gleich nebenan ein halbes Dutzend echter ParkerFüllhalter, die er mir lachend in die Tasche schob. »Verschenk sie da oben, ich weiß, die Kerle sind ganz wild auf Parkers!« Der Sampan brachte uns zu einem großen, mit bunten Lampen verzierten Boot, dem >Tai Pake<, einem der schwimmenden Restaurants in der Bucht. Zwei Decks mit lampiongeschmückten Tischen, der Geruch nach kantonesischen Speisen, diensteifrige Kellner in nicht mehr ganz weißen Jacken, und auf jedem der beiden Decks eine Kapelle, einander abwechselnd im Spiel von schmalziger Tanzmusik, zu der sich auf einem gläsernen, von unten beleuchteten Parkett die Paare drehten. Wir bestellten süßsauren Karpfen und ein halbes Dutzend weite rer Gänge, man brachte uns Bier, und wir stießen mit den angelaufenen Gläsern an. »Auf das, was du für uns tust!« prostete Holly mir zu. Das Bier war aus Manila importiert, es schmeckte etwas bitter, aber es erfrischte in der drückenden Schwüle des Abends großartig. Ich wischte mir den Schaum vom Mund, mit einer Serviette, die einen aufgestickten Drachen trug, dann sagte ich: »Auf die neue Agentur! Wie hast du es angestellt, den Posten zu kriegen?« Holly hatte es klug angestellt. Nach der Auflösung von OSS war er nicht nach Washington gegangen, um sich dort zurückzumelden, sondern er hatte zusammen mit einem ehemaligen chinesischen Vertrauensmann, eben jenem Mister Lee, die > Southern Trading< gegründet. Das Anfangskapital war vergleichsweise einfach aufzutreiben gewesen in jener Zeit, vermutlich steckte einige Kriegsbeute mit in dem Unternehmen. »Ich hatte keine Lust, mich von ein paar hirnlosen Eiferern da heim ebenso vor ein Gericht stellen zu lassen, wie das John Service passierte!« Er lachte! »Nein, mein Junge, ich bin auf Tauchstation 403
gegangen, stillschweigend. Galt als verschollen, nur ein paar sehr gute Freunde wußten, wie sie mich erreichen konnten. John Davies beispielsweise. Er hatte Glück, er kam nach einiger Zeit wieder ins State Department. Er war es auch, der mich nach der gebotenen Si cherheitsfrist in die neugegründete Agentur lancierte. Um diese Zeit machten wir mit der >Southern Trading< bereits Gewinn, und ich konnte Bedingungen stellen! Dabei erwies sich, daß die Kerle im Grunde froh waren, ein paar alte China-Fachleute aufzutreiben. Es gab zwar ab und zu diese oder jene Verleumdung, wir wären alle Kommunisten, aber bisher haben wir das immer noch in Ordnung bringen können. Es sind ein paar kleine Kläffer, die uns heute noch mißtrauisch beäugen, die entscheidenden Leute kennen die Zusam menhänge inzwischen besser. Trotz Mister McCarthys Geschrei ...« Ich hatte den Namen gehört, auch gelesen, in Peking. »Wer ist das eigentlich? Zeitungsmann?« Holly schüttelte den Kopf. »Senator. Aus Wisconsin. Das sollte den Leuten eigentlich schon Aufschluß über die Grenzen seines Ho rizonts geben, aber — er hat einen Ausschuß gegründet, der nach heimlichen Kommunisten in Regierungsstellen schnüffelt, in der Presse, beim Film ...« »Ein Idiot?« »Oh, nein! Im Gegenteil, er versteht sein Handwerk. Nur — er merkt nicht, daß er seine Kräfte an den falschen Objekten vergeu det!« »Kaum vorstellbar, so etwas.« »Doch, es ist Realität, Junge. Von dir weiß er zum Glück wohl nichts, sonst hätte er dich längst vor seinen Ausschuß zur Verneh mung geladen. Oder deinen Paß für ungültig erklären lassen ...« Ich zog belustigt meinen Neuseeland-Paß aus der Tasche. Holly warf nur einen kurzen Blick darauf und bemerkte gelassen: »Wir 404
haben aus der gleichen Quelle auch ein paar Dutzend davon auf Lager. Und was diesen McCarthy angeht, so ist er jetzt erst richtig im Kommen. FBI-Hoover arbeitet mit ihm zusammen. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir mit dieser Garnitur von Fanatikern fertig sind. Das Schlimme daran ist: sie sind keine Hochstapler, sie tun das aus echter Überzeugung. Wieweit das geht, siehst du am Beispiel von unserem guten John Birch ...« Ich hatte seit der Todesmeldung nie wieder den Namen dieses jungen Offiziers gehört. Jetzt klärte mich Holly auf: »Es gibt einen patriotischen Verein unter seinem Namen. Das Konservativste, was sich im Süden der Staaten zusammentrommeln läßt, hat sich zum Kreuzzug gegen den Kommunismus vereint, und John Birch ist ihr Märtyrer: der feige von den Roten ermordete saubere amerikanische Junge. Jede alte Jungfer weint bittere Tränen über sein Schicksal. Weshalb und wie er tatsächlich gestorben ist, erfährt keiner. Rache ist heilige Pflicht, so etwa läuft das. Du kannst froh sein, niemand von denen weiß, daß du mit Mao Tse-tung zusammen Melonen kerne geknackt hast! Sie ahnen nicht, daß es dich überhaupt gibt.« Ich mußte lachen, obwohl das, was Holly da in seiner schnodderigen Art erzählte, eigentlich nicht belachenswert war. »Meinen amerikanischen Paß habe ich jedenfalls noch, er liegt si cher in Peking!« »Wenn er abläuft, schick ihn mir, ich lasse ihn verlängern, ohne das er irgendwo vorgelegt wird.« Wir aßen uns durch die verschiedenen Vorspeisen. Krabben, gebacken, Lauch, panierte Pilze. Die Kapelle spielte etwas, das sich wie ein Foxtrott anhörte. »Was mich nur erstaunt«, sagte ich, »ist das Durcheinander in der Aufklärungsbranche, Holly. Allein in Pe king sitzt ein halbes Dutzend Amerikaner im Gefängnis, denen 405
Spionage nachgewiesen wurde. Was sind das daheim für Idioten, die in einer solchen Situation verdecktes Personal opfern, statt die offiziellen Quellen zu nutzen, die wir erschlossen haben? Wir können über jede Frage, die uns tatsächlich auf den Nägeln brennt, von Kang Sheng Aufschluß erhalten. Und da verschleißen wir wertvolle Leute, die sich wie Amateurspione benehmen, im Auftrag der Navy-Aufklärung, oder der Marine — was weiß ich! Einen Rockefeller-Stipendiaten an der Pekinger Universität haben sie festgesetzt, weil er die Garnison auf ihre Stärke erkunden sollte, samt seiner Frau. Zwölf Jahre haben sie bekommen ...» Holly nickte ernst. Sein Gesicht wurde verschlossen. Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß. Wir haben Listen. Es war dieses Durch einander, das nach der Auflösung von OSS entstand, und es war die Kommunistenpanik, die Leute angefacht haben, von denen die mei sten nicht einmal genau wissen, ob Stalin ein sibirischer Fallensteller ist oder die Bezeichnung für eine rostfreie Legierung. Ach ...« Er brach ab und winkte dem Kellner. »Whisky!« Schweigend warteten wir, bis der Kellner die Gläser brachte. Hollys mürrisches Gesicht hellte sich auf, als er mich aufforderte: »Trinken wir. Vergessen wir die Dummheit. Wir werden sie überwinden!« Daß ich inzwischen auf der Lohnliste der CIA stand, erfuhr ich nebenbei, während wir den süßsauren Karpfen mit unseren Stäb chen bearbeiteten. Eine erstklassige zubereitete Speise, die uns voll auf beschäftigte. Trotzdem nahm sich Holly dabei Zeit, mir zu eröffnen, ich würde in den Personalakten geführt, unter dem Vermerk >auf Außenstation<, mein Gehalt habe sich im Vergleich zu meinem Majorssalär um runde zweihundert Dollar monatlich erhöht und werde regelmäßig auf mein Konto in den Staaten 406
überwiesen. Die Bank habe übrigens in Hongkong eine Filiale. Als ich darauf etwas verblüfft dreinblickte, grinste mich Holly über seine Essstäbchen hinweg an und sagte an einem Bissen süßsauren Karpfens vorbei: »Ich nehme an, es ist dir recht, alter Junge. Wenn nicht, kannst du auch nichts daran ändern. Du hast Ja gesagt. Aussteigen kannst du, wenn du im Pensionärsalter bist oder wenn wir dich aus anderen Gründen zurückziehen ...« Nach alldem, was Holly mir von dem Durcheinander in den Staa ten erzählt hatte, war es mir ganz recht, in Peking zu leben, zum einen war es ein erregendes Abenteuer, unmittelbarer Zeuge von Vorgängen zu sein, die andere nur vom Hörensagen kannten. Zum anderen umging ich auf diese Weise unliebsame Verwicklungen, die mir zu Hause nicht erspart geblieben wären. Wie lange ich noch in Peking zu residieren hatte, stand nach Hollys Meinung in den Sternen. »Um da oben wirklich den entscheidenden Schritt machen zu können, brauchen wir nicht nur eine Kehrtwendung Maos, sondern auch eine absolut neue, heute noch nicht vorstellbare Politik bei uns zu Hause. Sowie einen Präsidenten, der bereit ist, unser Spiel mitzuspielen, wenn es sein muß gegen die konzentrierte Engstirnigkeit ganzer Legionen von Mayflower-Nachfahren!« Ich hielt das für eine zutreffende Beurteilung. Mir wurde bewußt, daß es in Korea bald sehr heiß zugehen würde, daß dort GIs sterben würden, Koreaner, vermutlich auch Chinesen, aber nach Lage der Dinge war das eine Entwicklung, an der niemand mehr etwas Ent scheidendes ändern konnte. Holly war derselben Meinung, er sagte: »Vielleicht ist das alles der Preis, den man bei uns auf der Suche nach besseren Taktiken zahlen muß.« Er legte mir eindringlich ans Herz, unsrerseits bei den Pekinger Gesprächspartnern immer wieder den Gedanken zu vertiefen, den Mao bereits in der Jenaner Zeit fi xiert hatte: Wir müssen mit Geduld und Zielstrebigkeit auf eine An 407
näherung in der Zukunft hinarbeiten, was immer es auch an Rück schlägen geben sollte. China und die Vereinigten Staaten sind von der Natur geschaffene Partner, sie müssen über Irrtümer und Miß verständnisse, auch blutige, eines Tages zueinander finden. — Der Kellner brachte die Nachspeise, klebrig kandierte Apfelspal ten, warm noch, die wir in herben Wein tauchten, bevor wir sie aßen. Bei der Kapelle erschien eine bildhübsche Chinesin in engan liegendem, seitlich gewagt geschlitztem Gewand. Sie sang einen sentimentalen Schlager, mit hoher, klingender Stimme. Holly mußte wohl gemerkt haben, daß ich sie interessiert musterte, er zog eine Apfelspalte hoch, drehte sie, bis die Zuckerfäden rissen, tauchte sie betont lässig in seine Weinschale und erkundigte sich: »Hast du Lust auf Weiber?« Ich muß etwas überrascht gewirkt haben, denn er lachte. »Zier dich nicht, Peking ist weit! Die da kannst du für zehn Dollar die ganze Nacht haben, für zwanzig bringt sie noch ihre jüngere Schwester mit, die ist nicht häßlicher ...« Aus irgendeinem Grunde gefiel mir das Mädchen, sie mochte mich an Chi-Pao-Lily erinnert haben, oder vielleicht war es auch nur ihre Stimme, die ich sympathisch fand, ich entschloß mich jedoch, auf ein Abenteuer zu verzichten. Meine Gedanken wären nicht bei der Sache gewesen. Es ist eine eigenartige Welt, in der wir leben. Da oben in Korea starben in diesem Augenblick Leute, und wir saßen hier, unterhielten uns bei Zuckeräpfeln, erörterten, ob wir es mit einem Mädchen versuchen sollten, nachdem wir uns darüber klargeworden waren, daß es vielleicht in wenigen Wochen oder Monaten, ausgelöst durch Korea, einen alles verschlingenden großen Krieg geben konnte, den nach den Erfahrungen von Hiroshima keiner von uns überleben würde. Und dabei waren wir fröhlich! 408
»Werd nicht zum Philosophen!« warnte mich Holly gutmütig. »Dies ist nicht das Zeitalter des Geistes, es ist das der Waffen!« »Es gibt geistige Waffen«, machte ich ihn aufmerksam. Ich kannte ihn lange genug, er war jemand, der zu Vereinfachungen neigte, obwohl er eine hervorragende Intelligenz besaß. Er widersprach mir zwar nicht, aber er schwieg nachdenklich, und nach einiger Zeit, als wir zum Abschluß des hervorragenden Mahles einen würzig duftenden Tee tranken, meinte er: »Ich streite nicht gern mit dir, Sid. Nur — wenn es Waffen geistiger Art gibt, so sind wir es, die sie seit langer Zeit geführt haben. Was haben wir mit ihnen ausgerichtet? Man hat die Leute mit den besten geistigen Fähigkeiten als Vaterlandsverräter verleumdet. Mich hat das alles skeptisch gemacht. Ich glaube heute, erst wenn sich all die schönen, feuerspeienden Spielzeuge, die das Gefühl von Macht geben, nach und nach als Illusionen erwiesen haben werden, offenkundig, dann wird
eine
gediegene
Überlegung,
ein
Geniestreich
des
menschlichen Geistes in der Politik wieder seinen Wert bekommen. Die Generäle müssen ganz klein werden, bevor wir es sein werden, die Kommandos geben. Weißt du, was mich dabei nur beunruhigt?« »Daß du es nicht mehr erleben könntest?« »Das auch«, gestand er. »Aber vor allem — daß die Russen mit dem Kopf Politik machen, während wir es immer noch mit Bombern versuchen, bis wir merken, daß die Russen auf und davon gezogen sind. Wie du sehr gut weißt, haben sie genau das im Falle Chinas bereits praktiziert. Und sie haben gewonnen.« Ich sagte: »Vorläufig, Holly.« Aber ich gestand mir ein, daß seine Überlegungen auf der Ebene lagen, auf der auch ich zu denken pflegte. — Holly instruierte mich am Morgen, daß ich weiter über jenen Bankbeamten Nachrichten an ihn senden könnte. »Er ist oft genug 409
hier. Die Pekinger haben gewisse interne Abmachungen mit den Engländern in Hongkong. Gegenseitiges Stillhalten, solange jeder die Spielregeln einhält. Das bringt beiden Seiten Nutzen. Etwas, wovon wir nur träumen können ...« Wir fuhren wieder auf der Fähre nach Kowloon hinüber. Das Land bis hinauf nach Lo Wu lag unter einer dünnen Dunstschicht. Dann stach die Sonne hindurch. Wir standen einen Augenblick auf dem Parkplatz vor der Station. Chinesinnen mit Bündeln und Kör ben eilten an uns vorbei. Noch war der Zug nicht da. Ich entschloß mich zu der Frage, die ich Holly eigentlich ganz am Anfang unserer Begegnung hatte stellen wollen und die mir dann entfallen war, sich eigentlich durch alles, was wir wußten, schon von selbst beantwortet hatte. Trotzdem, ich wollte hören, was er meinte, also fragte ich ihn: »Holly, die Russen wollten den Krieg da oben nicht, das kann man sich ausrechnen, die Chinesen wurden ebenfalls davon überrascht, und wir selbst waren auch nicht vorbereitet — wer hat ihn gebraucht, und warum?« Er grinste. Der alte Holly, der sich darüber amüsiert, daß andere nicht die Löcher in der Wand finden, durch die man blicken kann. »Die Vierundsechzigtausenddollarfrage, Sid! Man braucht nicht lange zu überlegen, wenn man untersucht, wem er nutzt. Syngman Rhee war am Ende. Und der alte Generalissimo auf Taiwan hatte Angst, daß die Roten ihm übers Meer nachsetzen. Angekündigt ha ben sie es oft genug. Beide brauchten das große, bedingungslose, nur durch einen Krieg zu erreichende militärische Engagement von unserer Seite. Darum ging es schon lange: Südkorea und Taiwan verkörpern vitale Interessen der Vereinigten Staaten, sie müssen mit allen Mitteln verteidigt werden! Ich habe nichts gegen Kriege, mein Junge, wenn sie etwas einbringen. Korea bringt nichts. Wir sind zu Sklaven unserer eigenen politischen Schlagworte geworden, mehr 410
ist zu der ganzen Sache nicht zu sagen, ein Rätsel ist das nur für Naivlinge.« Er erinnerte mich an Überlegungen, die Kang Sheng angestellt hatte. Holly meinte: »Er ist schon ein nüchterner Rechner, das wuß ten wir immer. Und das wird ihn uns letztlich als Verbündeten erhalten. So hoffen wir wenigstens. Da kommt dein Zug!« Auf der anderen Seite der Grenze erwartete mich Tso Wen. Er stellte keine Fragen, außer der, ob ich alles erledigt hätte. Das bestä tigte ich ihm, und damit war er zufrieden. Er zierte sich etwas, als ich ihm einen Parker schenkte, aber er nahm ihn dann doch. Am späten Nachmittag waren wir wieder in Peking. Das Auto brachte uns vom Flugplatz direkt zum Tschung-Nan-Hai, wo Kang Sheng mit ausdruckslosem Gesicht das anhörte, was ich von meinem Zettel ablas. Als ich geendet hatte, drückte er mir ungewohnt herzlich die Hand. Wir saßen noch eine Weile beim Tee, ich tauschte meinen Paß wieder gegen den anderen, und Kang Sheng meditierte: »Es ist eine tragische Entwicklung, Kamerad Robbins, aber wir können sie wohl für den Augenblick nicht aufhalten. Ich stimme übrigens dem Wunsch zu, daß wir die Kontakte weiterführen, was immer geschieht. Es ist nie zu spät, eine Wende zu vollziehen. Ich danke Ihnen, und ich übermittle Ihnen auch den ausdrücklichen Dank des Genossen Vorsitzenden ...« Dann stand er auf und entschuldigte sich, dringende Staatsge schäfte warteten. In dem Auto, das mich zur Ping Tjiao Hutung zu rückbrachte, stand ein großer Korb erlesener Früchte als Geschenk für mich und Sandy. Ananas und Bananen, Pfirsiche und riesige Trauben, kernlos, wie sie in Sinkiang gezogen wurden, Mangos und Apfel, man bekam sie auf dem Markt in dieser Qualität selten. 411
Sandy fiel mir um den Hals und weinte vor Freude. Ich gab mir Mühe, meine Bewegtheit wenigstens etwas zu verbergen: »Du hast wohl geglaubt, ich bliebe dort und ließe dich hier in der Kälte sitzen, Wahine?« Sie sagte nur leise: »Himmel, bei dem Job, den du hast, kann man doch nie genau wissen, wo irgendein Narr plötzlich auf dich schießt!« Der Rest war Freude über den Drachenbrokat. Lao Wu vollführte Freudensprünge, als er den Parker geschenkt bekam, seine Frau kämpfte mit Tränen — es war ein Zeichen von Bildung geworden, einen Füllfederhalter in der Brusttasche zu tragen, die neuen An züge, selbst die Hemden, waren so gearbeitet, daß man den Füllfederhalter bequem in die aufgenähte Brusttasche stecken konnte, ohne daß die Klappe hochzuschieben war. Sue schlief selig, obwohl Lao Wu später im Hof einen ziemlichen Lärm veranstaltete. Er zimmerte eine Tafel zusammen, die an einen langen Bambusstab genagelt wurde. Di-di, sein rotes Halstuch, das ihn als Schüler und >jungen Kommunisten< kennzeichnete, stolz um den Hals gebunden, assistierte dabei. Auf der Tafel stand in großen fetten Schriftzeichen »Schützt die Grenzen Volkschinas! Helft den koreanischen Brüdern! Nieder mit dem US-Imperialismus!< »Der Straßenobmann hat es eben aus der Druckerei gebracht«, erläuterte Lao Wu in einem Ton, der sich wie eine Entschuldigung anhörte. Ich beruhigte ihn: »Ja, ja, das hat schon seine Richtigkeit!« Es war erstaunlich, wie die kommunistische Politik mit Hilfe eines Netzes von Obleuten in jeder Straße durchgesetzt wurde. Offenbar fand niemand an dieser Organisiertheit einen Nachteil, die Leute akzeptierten selbst die Kontrolle, die damit über ihre eigenen Lebensgewohnheiten
ausgeübt
werden 412
konnte,
ohne
zu
widersprechen. Und — was gab es bei diesem Zusammenleben von so vielen Menschen auf engstem Raum überhaupt voreinander zu verbergen? Jeder wußte ohnehin alles von jedem! Di-di teilte mir freudestrahlend mit: »Morgen ist die große De monstration, da gehen wir mit, Onkel Sid!« Ich schenkte ihm einen Apfel. Er hielt sich oft bei uns im Hof auf, wenn er nicht in der Schule war, ging Lao Wu zur Hand oder achtete auf Sue, wenn die in ihrer Wiege aus Bambus lag. »Erzähl mir von der Welt draußen ...«, flüsterte Sandy, als wir viel später nebeneinander lagen, in unserem Schlafraum. Ich erzählte ihr von Hongkong, dem Lichtermeer von Victoria und den Booten in Aberdeen. Ich ließ Holly aus, und sie fragte nicht nach ihm. Sie hörte still zu, und dann, schon etwas schläfrig, murmelte sie: »Ob wir uns das alles einmal zusammen ansehen können?« Warum eigentlich nicht? Wir waren Staatsbürger der USA, mit ordentlichen Pässen, und niemand konnte etwas dagegen haben, daß wir reisten. Nur — da war dieser Krieg ... »Ja, der Krieg«, murmelte Sandy. Sie schmiegte sich an mich, ihr langes Haar fiel über meine Schulter. »Bist du glücklich?« fragte ich sie, ohne rechten Grund. Aber sie war bereits eingeschlafen. Heute, da ich mit dem Niederschreiben dieser Blätter am Ende bin, erscheint es mir sinnvoll, das, was sich nach meiner Reise in und um Korea abspielt, wenigstens in seinen aufschlussreichsten Details festzuhalten. Die Zeit ist schnelllebig geworden, und die Ereignisse überstürzen sich. Wenn ich beispielsweise an Jenan denke, so erscheint es mir wie eine unendlich lange zurückliegende Etappe, ich habe Mühe, mich an Einzelheiten zu erinnern, die Konturen verschwimmen. Hier, in der Ping Tjiao Hutung sitze ich und arbeite vorwiegend an Übersetzungen, die ich für verschiedene Amtsstellen anfertige, aber auch für Zeitschriften und Verlage. Obwohl mir das 413
Verlagshaus des Mister Löwenstein inzwischen mitteilte, man werde die Publikationen der Tu-Fu-Ausgabe auf einen >günstigeren Zeitpunkt< verschieben müssen, bin ich ein vielbeschäftigter (und gut bezahlter!) Mann, ich kann zufrieden sein. Korea ist es, was mich
beunruhigt.
Die
Ereignisse
dort
nehmen
ihren
unabänderlichen Verlauf. Aus den Nachrichten der verschiedenen Stationen beziehe ich ein oft widersprüchliches, im ganzen gesehen aber doch informatives Bild, zu dem fast täglich neue Striche kommen. Und dann, plötzlich, verkündet die Sprecherin von Radio Peking mit ihrer schneidend hellen Stimme eine Nachricht, die mich wieder einmal (und hoffentlich nicht nur mich) daran erinnert, daß wir es bei den Chinesen nicht etwa mit einfallslosen Leuten ohne weit reichendes Konzept zu tun haben: Während die ganze Welt wie gebannt auf Korea starrt, löst Peking — und zwar mit Gewalt — ein Problem, das mehrere Seiten hat. Es liquidiert die Selbständigkeit Tibets, jenes von religiösen Figuren beherrschten unermesslichen Gebietes auf dem >Dach der Welt<, das traditionell unter britischem Einfluß stand, wiewohl es oft genug chinesischen Kaisern Tribut zollte. Peking startet eine Aktion, die im Hinblick auf die gegenwärtige Weltlage niemand bremsen kann, der Zeitpunkt ist ideal gewählt. Ein uralter Traum vieler chinesischer Kaiser, die Einvernahme Ti bets wird gewissermaßen ohne viel Aufhebens vollzogen, China ge winnt ein Territorium hinzu, das etwa ein Viertel seiner bisherigen Landfläche ausmacht. Die Engländer, in Tibet unsichtbar präsent, müssen die Aktion vorausgeahnt haben, seit langem, denn sie veranlaßten das gottglei che geistige Oberhaupt der Tibeter, den schätzungsweise fünfzehn Jahre alten Dalai Lama, sich aus der Hauptstadt Lhasa nach Yatung, dicht an der indischen Grenze zu begeben. Gleichzeitig zog der 414
oberste Chef der steinzeitlich ausgerüsteten tibetischen Armee, ein gewisser Apei, mit seinen Truppen ostwärts, in Richtung auf die chinesische Grenze, wo er sich in Tschamdo niederließ, wohl um eine Invasion der Chinesen frühzeitig abzuwehren. Tschamdo liegt etwa siebenhundert Kilometer westlich von Tschengtu, eine Reise dorthin, wenn man sie von den chinesischen Randsiedlungen vor dem großen Hochland aus unternimmt, dauert Wochen und ist beschwerlich. Um so aufschlussreicher ist die Nachricht, die ich über die > Befreiung Tibets< aus dem Pekinger Radio höre. Danach wurden die
tibetischen Truppen
geschlagen,
ihr
Anführer
gefangengenommen und nach einer Belehrung über die Politik der Volksrepublik China gegenüber nationalen Minderheiten wieder freigelassen. Er und weitere tibetische Würdenträger werden in Kürze in Peking über die friedliche Wiedervereinigung mit dem chinesischen Mutterland verhandeln. Wenn ich Kommentare in ausländischen Radiostationen höre, be stärkt mich das stets in meiner Skepsis, was die Einschätzung Pe kings durch unsere Politiker und Journalisten betrifft. Da ist von einer >rotchinesischen Banditenclique< die Rede, die ein Terrorre gime über das Land ausübt, überall Chaos und den Zusammenbruch des gewohnten Lebens verursacht. Leute wie Mao oder Tschou werden als >Häuptlinge< bezeichnet, die nur durch Moskaus Wohlwollen ihr Spiel in China treiben können, solange die >Freie Welt< (auch so ein neuer Modeausdruck) das noch duldet, und am laufenden Band wird die Vorstellung vermittelt, es handle sich bei der Volksrepublik China um ein Gebilde auf tönernen Füßen, das alsbald in sich zusammenbrechen wird. Wie kurzsichtig dies doch alles ist, von wieviel Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse es zeugt, von welcher katastrophalen Fehleinschätzung der Politik, die hier gemacht wird und die vielleicht viel weiter in die Zukunft zielt 415
als beispielsweise das, was die Vereinigten Staaten gegenwärtig tun. Ich spreche oft mit Sandy darüber, wenn wir an den warmen Herbstabenden geruhsam beim Tee an unserem Goldfischteich sit zen, und sie stimmt mir zu. Sie hat sich nicht nur erstaunlich gut in die Lebensweise hineingefunden, unter der wir hier residieren, sie beginnt vielem, was die Chinesen tun, Respekt entgegenzubringen, beispielsweise der Organisierung des Gesundheitswesens, den Kampagnen
zur
Realisierung wesentlicher
hygienischer
Maßnahmen. Selbst wenn ich noch zuweilen darüber lächle, wie die Kinder mit den Fliegenklatschen durch die Straßen laufen, verbissen jedes Insekt vernichtend, wie man öffentliche Sammelstellen für getötete Ratten einrichtet und >Fangprämien< zahlt — Sandy meint, ähnliches sei unter den nun einmal gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit, mit Infektionsträgern aufzuräumen, bis es bessere Allgemeinverhältnisse gibt. Man hat ihr übrigens angeboten, im >Volkskrankenhaus< halbtags zu arbeiten, unter sehr guten Bedingungen und bei einer Bezahlung, die wesentlich höher liegt als die chinesischer Ärzte. Ich glaube, Kang Sheng hat da unauffällig ein paar Fäden gezogen. Vermutlich wird Sandy annehmen, sie ist zwar noch voll und ganz mit der kleinen Sue beschäftigt, aber sie sehnt sich nach Betätigung in ihrem Beruf. Ich kann das nicht nur verstehen, ich würde es sogar begrüßen, wenn es dazu käme. Es wird Sandy die Zeit erleichtern, die wir hier zu verbringen gedenken, sie so heimisch in dem Land werden lassen, wie ich es bin ...
416
10.7.1951 Soeben
hat
Radio
Peking
bekanntgegeben,
die
Verhandlungsdelegationen der USA, Koreas und Chinas sind zu ihrem ersten Gespräch in einem Ort namens Kaesong am 38.Breitengrad zusammengetroffen. Gegenstand der Gespräche: Einstellung der Feindseligkeiten im gegenseitigen Einvernehmen, Bestimmung des 38. Breitengrades als erneute Demarkationslinie, Schaffung einer demilitarisierten Zone beiderseits dieser Linie und schrittweiser Abzug aller ausländischen Truppen sowie Rückführung der Kriegsgefangenen beider Seiten. — Ich habe lange keine Aufzeichnungen gemacht, heute aber drängt es mich aus vielerlei Gründen, meine Gedanken wieder einmal fest zuhalten. Nicht zuletzt weil ich das Empfinden habe, daß trotz aller publizistischen Schaumschlägerei auf beiden Seiten doch ein erster, unauffälliger Schritt auf eine behutsame Annäherung hin getan wurde. Ob und wie es weitergeht, wird abzuwarten sein, jedenfalls scheint es so, als sei meine Reise nach Hongkong im vergangenen Jahr nicht völlig umsonst gewesen. Wobei mir schmerzlich klar ist, daß die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Krieg nicht mit ihrem Sieg krönen konnten. Egal was noch geschieht, daran ist nichts mehr zu ändern. Die Sowjets hingegen haben einerseits durch ihre umfangreiche Unterstützung der KVDR und andrerseits durch ihre letztlich erfolgreiche Politik der Herbei führung einer Verhandlungslösung ihr internationales Image beachtlich heben können. Eine gefährlich erfolgreiche Politik! Wir haben ihr kaum etwas entgegenzusetzen als den wütenden Antikommunismus, und es zeigt sich, daß die Leute in sehr vielen Ländern
dieses
Geschreis
müde
sind,
sie
wollen
nicht
Auseinandersetzungen, sondern Verträglichkeit. Die Sowjets haben 417
das fraglos erkannt. Wie mir scheint, ist unsere Außenpolitik, und nicht nur, was China und Korea angeht, in eine Art Sackgasse geraten,
aus
Kurzsichtigkeit
heraus,
vielleicht
auch
aus
Überschätzung des Geklingels mit der Atomwaffe. Es kommen da wohl schwierige Zeiten auf uns zu. — Was China betrifft, so wäre jetzt die >Zeit der Signale< angebrochen, nur wie die Dinge liegen, werden sie wohl noch auf sich warten lassen, keinesfalls ist hier ein schnelles Vorankommen abzusehen. Immerhin — wenn ich an die Botschaft denke, derentwegen ich im vorigen Jahr nach Hongkong reiste, so wird mir klar, daß das dort empfohlene System des behutsamen Aufeinanderzutastens Erfolg versprechend sein könnte. Ein eigenartiger Krieg war das, was sich da im letzten halben Jahr in Korea abspielte. Es gab begrenzte Vorstöße auf beiden Seiten,
es
fehlte
nicht
an
Artillerieschlägen
und
Luftbombardements; um manchen Hügel, den man später wieder aufgab, wurde erbittert gekämpft, nur — alles in allem fror der Krieg sozusagen ein, keine der beiden Seiten legte es auf eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld an. Ob die Koreaner dafür einfach zu schwach waren, wage ich nicht zu entscheiden. Was uns betrifft, so haben unsere Militärs wohl endlich eingesehen, welche Dimensionen das Risiko hat, und sie mußten sich zähneknirschend mit dem Erreichten zufriedengeben. Das lief auf ein gegenseitiges Stillhalten hinaus, unter Vermeidung von Gesichtsverlust, eben ein klassisches Patt. Nordkorea gab zu erkennen, eine Vereinigung der beiden Landesteile sei ein Prozeß der Zukunft. Und wir mußten ebenfalls darauf verzichten, wie MacArthur es noch so farbig genannt hatte, >eine Wiedervereinigung durch das Schwert< zu erzwingen. Inzwischen ist MacArthur »zurückgezogen«. Kürzlich äußerte sich General Wedemeyer, der es ja wissen muß, aus langer China-Erfahrung: »Der Korea-Krieg war ein Faß ohne Boden, und 418
ein Sieg für uns war nicht abzusehen.« Nun folgt wahrscheinlich eine sehr lange Phase von Verhandlun gen, schon um zu verschleiern, daß die Schlächterei uns nichts ein brachte, außer vielleicht der Einsicht, daß die primitiven Theorien der antikommunistischen Schreier eben durch die veränderten Kräf teverhältnisse auf der Welt überholt sind. Man kann den Kommunismus
wohl
nicht
mehr
frontal
im
umfassenden
Waffengang aus der Welt schaffen, obwohl diese Forderung, wie ich in Zeitungen aus den Staaten lese, immer noch erhoben wird. Man wird vielmehr auf lange Sicht neue Strategien entwickeln müssen, die darauf zielen, einen Blockcharakter nach und nach aufzuweichen. Solange wir bei dieser Aktion nicht nur einen einzelnen Gegner haben, sondern ein ganzes Weltsystem, können wir nicht auf Erfolg rechnen. Wir können höchstens das bestehende Patt aufrechterhalten. Man wird das bei uns zu Hause begreifen müssen, ob man will oder nicht, Korea war die erste, harte Lektion. Aber es gab für mich nicht nur diesen ebenso unsinnigen wie auf schlußreichen Krieg. Manches war auch erfreulich. Sue, unser Kind, entwickelt sich prächtig, es läuft bereits ohne Hilfe, ist kerngesund und gewöhnt sich immer mehr an die neue chinesische Amah,
die
wir
seit
einiger
Zeit
angestellt
haben,
ein
Bauernmädchen aus einem Dorf in Schantung, das sich bei uns wohlfühlt und die kleine Sue nicht eine Minute aus den Augen läßt. In Peking nennt man solch eine Hausangestellte Ba Mu, was eigentlich die Bezeichnung für eine Ziehmutter ist. Nun ja, unser Haushalt wächst! Das Mädchen heißt Hsiao Yü, sie trägt diesen lustigen Namen »kleiner Fisch< mit Würde, und sie zeichnet sich im übrigen durch einen trockenen bäuerlichen Humor aus, der manchmal sogar Lao Wu seine hohe Position im Haus vergessen läßt und zu lautem Ge 419
lächter veranlaßt. Sandy arbeitet wieder im > Volkskrankenhaus <, in dem ich sie kennenlernte, als es noch das P. U. M. C. war. Eines Tages entschloß sie sich. Der Direktor des Hospitals hatte ihr bereits mehrfach angeboten, dort tätig zu werden, Ärzte würden gebraucht. In der Tat ist eine große Zahl der älteren Ärzte kaum noch in der Lage,
Dienst
zu
versehen.
Die
Nachfolgegeneration
an
ausgebildeten Medizinern ist schwach, das ist einerseits auf den langen
Krieg
zurückzuführen,
der
das
Ausbildungssystem
durcheinanderbrachte, andrerseits aber haben sich viele Ärzte mit den Resten von Tschiang Kai-sheks Truppen nach Taiwan begeben, wo, wie man hört, sogar ein Überschuss an medizinischem Personal besteht. Es war am ersten Tag, an dem Sandy in dem neuen, nun staatli chen Hospital Dienst tat. Ich holte sie am Nachmittag ab, und wir machten einen Spaziergang durch das Stadtzentrum, wobei wir schließlich nach eingehender Betrachtung der Auslagen in den Schaufenstern der Wanfutjing (sie hieß früher Morrison-Street) im ehemaligen >Peking< landeten, um uns bei Limonade zu erfrischen. Weder das Hotel noch die Stadt überhaupt machen den Eindruck, daß sich China in einen Krieg verwickelt hat, und das ist schon et was merkwürdig, wenn man überlegt, welche Konsequenzen Korea aufgeworfen hat. »Bist du zufrieden?« wollte ich von Sandy wissen. Sie trug ein leichtes, buntes Kattunkleid, und sie sah so blendend aus, daß einige der Nichtchinesen in der Hotelhalle ihr neugierige Blicke zuwarfen. Als ich sie darauf aufmerksam machte, lachte sie nur und erinnerte mich, daß ich sie vor Zeiten auch nicht gerade uninteressiert angesehen hatte. Man setzte sie als leitende Ärztin auf der eben erst geschaffenen Unfallstation ein, eine Stellung, die ihr 420
lag und in der sie sich wohl fühlte, wie sie mir verriet. »Es ist ein bißchen kompliziert«, erzählte sie dann. »Verbandmaterial ist knapp, auch Medikamente gibt es nicht gerade im Überfluß, trotzdem haben sich die Leute viel vorgenommen. Bezahlungsfreie Behandlung für jedermann, das war vor Jahren noch undenkbar ...« »Russische Medikamente?« erkundigte ich mich. Sie nickte. »Penicillin und Sulfonamide. Es ist gar nicht so einfach, die Pak kungen sind in dieser eigenartigen Schrift gekennzeichnet, nur ein einziges Mädchen auf der Station kann sie überhaupt lesen. Aber wir haben auch nagelneue amerikanische Medikamente. Man hat mir gesagt, sie stammen aus Kriegsbeute in Korea. Daneben gibt es japanische Sachen, die stammen noch aus der Besatzungszeit, da produzierten die Japaner in der Mandschurei viel Medikamente für ihre dort stehenden Truppen. Aber das Zeug ist meist überlagert, es gibt eine Anweisung, es nur in Notfällen zu verwenden und nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen ...« Dann erzählte sie weiter, daß es bereits gut funktionierende Fa briken in Shanghai gab, die mit der Produktion von Medikamenten begannen. »Unter anderem habe ich heute eine Liste aufgestellt mit den notwendigsten Arten. Man hat mir gesagt, die Shanghaier Fabriken würden ihre Produktion danach einrichten. Sie haben übrigens russische Pharmazeuten dort, die sie anleiten. Rußland, der ältere Bruder, du brauchst nur die Rede darauf zu bringen, und die Augen der Leute leuchten auf, das ist keine Übertreibung ...« Die Hinwendung zu den Sowjets vollzog sich unaufhaltsam. »Su Lien«, sagte Sandy. »Das ist für viele eine Art Zauberwort. Als ich mich nach und nach mit den anderen Angestellten der Sta tion bekanntmachte, wurde ich fast jedesmal erst gefragt, ob ich eine >Su Lien< sei, eine Sowjetbürgerin. Wenn ich dann sagte, ich sei Amerikanerin, gab es zunächst stummes Staunen. Danach 421
einigte man sich dann darauf, ich sei eben eine > fortschrittliche Amerikanerin <, die im Gegensatz zu der amerikanischen Regierung Freundschaft mit China wolle, deshalb sei ich hier. Zudem käme ich aus Hawaii, was ja eine amerikanische Kolonie sei, und daher sei ich auch ein vom US-Imperialismus unterdrückt gewesener Mensch! Sie haben sogar Doktor Bethune erwähnt, der ist eine Art internationaler Held für sie geworden. Eigentlich hat mich beeindruckt, wie unvoreingenommen die Leute mir gegenüber sind, weil es ja immerhin die Erinnerung an Korea gibt...« Wir unterhielten uns eine Weile über chinesische Charakterzüge. Wenn man überhaupt eine überbrückende Verallgemeinerung vor nehmen konnte, dann die, daß die Mehrzahl der Bürger Chinas das kommunistische System keinesfalls etwa als Belastung empfand, sondern als genau das, was es auch im offiziellen Sprachgebrauch war: neues Leben. »Übrigens«, sagte Sandy, »habe ich einen Plan gefaßt, heute. Was hältst du davon, wenn wir uns ein Kindermädchen zulegen?« »Eine Amah?« »Sehr richtig.« Und dann erschien wieder dieses verschmitzte Wahinenlächeln auf ihrem Gesicht, sie blickte durch die Scheiben nach draußen, wo die Sonne auf den Changan brannte und die Bü sche um die Hotelzufahrt knallrote Blüten trugen. Langsam sagte sie: »Wunderschöner Tag, nicht?« Ich beschloß, nur zu nicken und Limonade zu trinken. Zu schweigen war die beste Methode, Sandy zum Reden zu bringen, das wußte ich, und ich spürte, daß sie mir etwas zu sagen hatte. Allerdings überraschte sie mich dann doch mit dem, was sie sagte, und zwar gründlich. »Wie bringe ich dir nur bei, daß Sue um die Jahreswende nicht mehr allein sein wird ...« Sie weidete sich an meiner Verblüffung. 422
Als ich mich aufrichtete und während Sandy sich verlegen ihr Haar zurechtstrich, fragte ich noch einmal: »Das ist die Wahrheit?« Sie nickte. Ich hätte am liebsten einen Freudenruf ausstoßen wollen, ließ es aber dann, dies war China, und hier den Hurley-Indianer zu spielen war nicht angebracht. Als ich Anstalten machte, mich wieder Sandy gegenüber niederzulassen, stieß ich mit einem baumlangen, dürren Nichtchinesen zusammen, der soeben vom Buffett kam, mit zwei Gläsern Brandy, randvoll. Er verschüttete ein bißchen davon, fing den Stoß ab, sah mich und Sandy etwas neugierig an, und bevor ich mich entschuldigen konnte, sagte er trocken, in einem lässigen Englisch, das mir verdächtig nach London klang: »Oh Boy, Sie haben da eine gute Wahl getroffen! Hallo!« Er nickte Sandy augenzwinkernd zu. »Dies ist der erste Brandy, nach all dem Fusel in Seoul, lassen Sie ihn mich erst trinken, bevor Sie mich k.o. schlagen!« Damit ging er grinsend zum Nebentisch, wo eine, bildhübsche Halbchinesin auf ihn wartete, stellte die Gläser ab und winkte uns noch einmal zu. »Das Kindermädchen habe ich schon«, bemerkte Sandy leise, wie um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Sie ist zwanzig, kommt vom Dorf, und ich habe heute mittag ihren linken Arm in Gips gelegt. Ist beim Aussteigen aus dem Bus gefallen ...« So kam Hsiao Yü zu uns, nach ein paar Wochen, als sie den Arm wieder bewegen konnte. Eines dieser elternlosen Mädchen vom Lande, die ihre Chance in der Stadt suchten. Sie hatte sie gefunden. Es gab einige Formalitäten zu erledigen, in Büros, aber niemand hatte etwas dagegen, daß sie bei uns arbeitete, und sie schätzte sich glücklich, ein Kind betreuen zu können, mit der Aussicht, daß es in absehbarer Zeit zwei sein würden. Ausländische Kinder noch dazu! Am nächsten Tag war ich zu einem Buchverlag bestellt, dem 423
zentralen >Volksverlag<, der seit einiger Zeit damit begonnen hatte, neben politischen Broschüren auch Novellen und Romane zu verlegen. Man führte mich zum Chef des Unternehmens. Weitschweifig erläuterte er mir sein Verlagsprogramm, und dann erwähnte er, in Kürze werde es einen gesonderten Verlag geben, der chinesische Literatur, in fremde Sprachen übersetzt, produzieren wolle. Für den Export. Ähnlich wie man bereits »People's China« herausgab,
eine
politische
Wochenschrift
in
Englisch,
seltsamerweise auch in Esperanto, was einige im Denken der europäischen zwanziger Jahre befangene höhere Leute hier wohl immer noch für eine »Weltsprache« hielten. »Kamerad Robbins«, sagte der Verleger, die Arme ausbreitend, China ist noch isoliert, kaum ein Verleger in einem anderen Land interessiert sich für den Reichtum unserer Literatur. Mancherorts ist es sogar verboten, Bücher von uns zu übersetzen, sie könnten den Bazillus der Revolution verbreiten! Also — wir helfen uns selbst, wir werden unsere Literatur aus eigener Kraft auf den Weltmarkt bringen!« Er schob mir den dürftig eingebundenen Roman eines mir unbe kannten Autors hin, mit einem Titel, der etwa lautete > Mauer aus Leibern <, wenn man ihn wörtlich übersetzte. Eine Geschichte, die während der Zeit des antijapanischen Krieges spielte, im nordöstli chen Zipfel des Jenaner Gebiets, wo den Truppen Maos die Japaner gegenüberlagen und wo es zwar nie ein entscheidendes Gefecht, da für aber eine Unmenge blutiger Scharmützel gegeben hatte. Historie bereits, sagte ich mir. Nach allem, was ich bisher gelesen hatte, fiel es den chinesischen Autoren schwer, einen Stil zu finden, der annä hernd den Lesegewohnheiten von Leuten entgegenkam, die von Bü chern die Vorstellung hatten, daß sie neben der Vermittlung von po litischen Einsichten durchaus auch der Unterhaltung zu dienen hat 424
ten. Das meiste, was ich kannte, war dürr, didaktisch, farblos, eifernd und bis zur Komik pathetisch. Ich war weit davon entfernt, mich darüber lustig zu machen, ich kannte das Land lange genug, um zu wissen, wo die Ursachen lagen. Die Revolution hatte — durch Mao persönlich verkündet — eine Auffassung von Kunst geschaffen,
die
Primitivität
des
künstlerischen
Ausdrucks
gleichermaßen pries wie ablehnte. Die konfuse Beschaffenheit von Maos Jenaner Kunstthesen führte unweigerlich dazu, daß jüngere Autoren nun begannen, >im Volksstil< zu schreiben, meist ohne Talent, obzwar mit dem ehrlichen Willen, der Revolution zu dienen. Die Älteren, die noch durch die literarische Schule Lu Hsüns gegangen waren oder sich wenigstens auf sie orientierten, gerieten mit den ambivalenten The sen Maos auf andere Weise in Konflikt, sie schwebten bei jede Zeile, die man hätte >literarisch< nennen können, in der Angst, da£ man sie aufgrund von Maos Thesen ohne weiteres als >konterrevolutionär< bezeichnen konnte. Aus diesem Dilemma würde die chinesische Literatur, das war meine Meinung, auf absehbare Zeit keinen Ausweg finden, wenn nicht kompetente Leute eine Theorie entwickelten, mit deren Hilfe tatsächliche Kunst in den Prozeß der Revolution integriert werden konnte. Doch das schien nicht in Sicht zu sein, es -wurde im Gegenteil immer wieder darauf verwiesen, daß die Kunst in der Volksrepublik sich gemäß den Rezepten Maos von Jenan zu entwickeln habe. Langfristig würden sich daraus wahrscheinlich erhebliche Konflikte ergeben. Anzudeuten begannen sie sich bereits, und das Beispiel dafür war einer der älteren, welterfahrenen Autoren, die in der Volksrepublik lebten, Lao She, mit seinem bereits in den dreißiger Jahren geschriebenen > Rickshaw Boy<, einem Buch, das wie kein anderes mir bekanntes liebevoll und einfühlsam die unterste soziale Schicht der alten chinesischen Gesellschaft porträtierte. Man las es nicht, 425
ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, daß es höchste Zeit gewesen war, das soziale System Chinas gründlich umzustülpen. Dieser Ansicht aber waren die Offiziellen wohl nicht, und das wiederum mochte Gründe haben, die nicht nur in diesem herrlichen Roman zu suchen waren. Lao She hatte, aus der Bürgertum stammend und sich nach und nach von starren bürgerlichen Vorstellungen lösend, wie er selbst angab, in Oxford studiert, danach lange in England gelebt und dort an Hochschulen Chine sisch gelehrt, er war 1946 für drei Jahre in die Vereinigten Staaten gegangen, um dort eine Lehrtätigkeit zu übernehmen. Damals war sein > Rickshaw Boy< in den Staaten erschienen und hatte unzählige Leser gefunden. Lao She führte eine Fehde gegen den amerikanischen Übersetzer, dem er ankreidete, er hätte das Buch allzusehr >amerikanisiert< und dadurch die chinesische literarische Eigenart beschädigt, doch so schlimm konnte das nicht gewesen sein, ich jedenfalls zählte den > Rickshaw Boy< zu meinen Lieblingsbüchern, es atmete China, es ließ den Leser auf eine völlig unaufdringliche Weise die Leiden Chinas sozusagen miterleben, und gerade dadurch wurde es für jeden empfindsamen Menschen förmlich zu einer Aufforderung, die unvermeidliche Revolution nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu verstehen. Alles das hatte offenbar nicht den Beifall Maos oder anderer Auguren gefunden. Unmittelbar nach Ausrufung der Volksrepublik war Lao She aus den Staaten nach China heimgekehrt, immerhin war er den Revolutionären hier kein Unbekannter, er hatte während der japanischen Besatzung sogar illegal als Präsident einer patriotischen und selbstverständlich linksorientierten Schriftstellervereinigung gewirkt. Sein Buch allerdings, von dem ich zufällig eine in den Staaten erschienene Ausgabe erwischt hatte, war hier immer noch nicht erschienen. Ich fragte den Verleger danach, und ich spürte 426
sogleich seine Verlegenheit. »Da gibt es Probleme, Kamerad Robbins. Es wurde nicht für die Arbeiter und Bauern geschrieben. Lao She hat nicht die fundamen talen Richtlinien des Vorsitzenden über den Charakter der Volksliteratur gekannt, als er es schrieb. Deshalb muß er jetzt umdenken. Man spricht mit ihm, daß er seinen Roman umarbeitet, so daß er unseren Anforderungen genügt. Ich glaube, er wird es tun, und es wird eine chinesische Fassung des Buches geben ...« Offenbar wollte er nicht ausführlicher darüber reden, und ich zog es vor, mich nicht weiter zu äußern. Wir kamen auf die >Mauer aus Leibern< zurück. Er gab mir für die Arbeit lediglich zehn Monate Zeit, was gewiß knapp war, aber er machte mir ein so großzügiges finanzielles Angebot, daß ich sofort zusagte. In der Tat konnte man diese Art von stark propagandistisch eingefärbten Kriegsbüchern, in denen es kaum knifflige literarische Umsetzungsprobleme gab, sozusagen >vom Blatt< übertragen. »Übrigens sind wir sehr froh, daß es Sie gibt, Kamerad Robbins«, vertraute der Verleger mir offenherzig an. »Die Zahl der Leute, die eine solche Arbeit für uns machen können, ist gering. Wir waren froh, als wir an Sie verwiesen wurden ...« Er sagte nicht, von wem, aber ich konnte es mir denken. Der des kurzsichtigen Mannes in dem Häuschen am Tschung-Nan-Ha reichte fraglos weit. — So hatte der Tag eigentlich einen erfreulichen Auftakt gehabt, ich bekam gutbezahlte Arbeit, und was den Autor anging, machte ich mir kaum Gedanken, ich kannte diesen Typ von im Grunde ungeselligen Funktionären, der hier war nur einer von vielen, die vielleicht gar kein literarisches Talent besaßen, sich trotzdem aber aufgerufen fühlten, >der Revolution ihre Feder zu weihen <. Später, als ich zu Hause war, überlas ich den Roman flüchtig und 427
kam zu dem Schluß, daß seine forcierte Übersetzung ins Englische (vermutlich auch in andere Sprachen) nicht ganz zufällig betrieben würde. Ich erinnerte mich an eine erst vor kurzem in den Zeitungen geführte Auseinandersetzung um einen Film. Dabei hatte es sich um >Das Leben des Wu Hsün< gehandelt, eine überlieferte Gestalt aus dem 19. Jahrhundert. Wu Hsün, ein armer Bauer, hatte keine Schule besuchen können, aus Mangel an Geld. In Erkenntnis dieser Misere, die in der fraglichen Zeit der Mandschu-Dynastie so gut wie jeden Menschen ohne Vermögen betraf, beschloß Wu Hsün, in einem bewundernswerten Alleingang Abhilfe zu schaffen oder wenigstens Aufmerksamkeit dafür zu erwecken, auf welche Weise das soziale Bildungsprivileg zu unterlaufen war. Er zog als Bettler durch das Land, konnte mit dem erbettelten Kapital nach und nach zum Geldverleiher werden, schließlich auch Grundbesitz erwerben, und auf diese Weise besaß er nach etwa dreißig Jahren die finanziellen Reserven, um aus eigener Initiative Schulen für die Armen zu errichten. Die Mandschu-Herrscher konnten in der letzten Phase seiner Tätigkeit nicht umhin, ihn sogar zu unterstützen. — Als der Film, etwa auf dem Höhepunkt des Korea-Krieges, in die Filmtheater kam, erfuhr er zwar kein uneingeschränktes öffentliches Lob, aber er wurde trotz vieler Einwände gegen Details im Prinzip positiv bewertet. Zu meinem großen Erstaunen verschwanden diese vernünftigen Beurteilungen aber sehr bald aus den Spalten der Zei tungen, dafür erschienen immer mehr kritische Einwände, die darin gipfelten, daß nach den Richtlinien des Vorsitzenden Mao Bildung und Erziehung absoluten Klassencharakter hätten, was ich zwar grundsätzlich nicht einmal bestritten hätte, was aber hier so darge stellt wurde, als seien Wu Hsüns Bemühungen weiter nichts gewesen als bürgerlicher Reformismus< und das Endprodukt seiner 428
Aktion nichts weiter als eine Schar reaktionärer Wissender^ die in keinem Falle der Revolution dienen könnten. Dies erschien mir primitiv, zumal bei der ganzen Kampagne nicht die Rede von spontanen Äußerungen sein konnte, dafür waren die Beiträge zu systematisch aufeinander abgestimmt. Schließlich erschien ein Artikel in der >Volkszeitung<, an der Stelle, von der jeder weiß, daß sie für grundsätzliche Stellungnah men Mao Tse-tungs ohne Nennung von dessen Namen reserviert ist. Hier wurde offiziell der > durch und durch reformistische Charakter < des Films festgestellt, und daran schloß sich die Bemerkung,
daß
es
>in
Kulturkreisen,
wo
ein
heilloses
ideologisches Durcheinander herrscht^ offenbar nicht möglich ist, das Machwerk über Wu Hsün richtig einzuordnen. Ich deute diese Kampagne so, daß ich abgesehen von ihren vor dergründigen Tageszielen in ihr die Weiterführung der in Jenan be gonnenen Auseinandersetzung über das Wesen der Kunst erkenne, den Versuch, die Künstler einheitlich auf Maos damalige Thesen festzulegen, was offenbar immer noch nicht völlig gelungen ist. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob hier nicht eine Art Schattenboxen stattfindet, in dem Sinne, daß man zwar über künstlerische Werke streitet, im Grunde aber politische Positionen meint. Die Forcierung des Druckes solcher Werke wie der >Mauer aus Leibern< ist meiner Meinung nach als Richtungsanzeige für die gesamte Kunst zu verstehen. Ohne Zweifel will Mao die Mehrzahl der Künstler und Intellektuellen zuerst in einem (mir fragwürdig erscheinenden) Erziehungsprozeß auf seine Thesen einschwören, bevor er sie in der neuen Gesellschaft überhaupt wirken läßt. Das mutet an wie ein pädagogisches Zweistufenprogramm. Mao muß die naive Vorstellung haben, daß man Menschen >einstellen< kann, wie Uhren, und daß sie — einmal richtig eingestellt — dann endlos 429
auch richtig weiterlaufen. Das zeugt von totalem Unverständnis für die Funktion der Kunst sowie den Ablauf künstlerischer Prozesse überhaupt. Nur — ich werde den Verdacht nicht los, daß Mao sich hier im Alleingang befindet. Wenn ich mir nämlich beispielsweise sowjetische Filme in den Kinos ansehe, habe ich den Eindruck, daß sie aus einer völlig anderen Kunsttheorie heraus entstanden sind. Wollte man Maos Thesen auf sie anwenden, müßte man sie alle verbieten! Übrigens erfuhr ich, daß Tschiang Tsching, Maos Gattin, die Kampagne gegen den Film wesentlich beeinflußt hat. Ich wußte bis dahin nicht, daß sie als Leiterin der für die Filmarbeit verantwortli chen Abteilung im ZK arbeitet, eine Beschäftigung, die offenbar vor ihr mit besonderer Hingabe versehen wird, da sie aus eigener (und manchmal nicht sehr guter!) Erfahrung die Verhältnisse in der Filmbranche kennt. Ich erfuhr das buchstäblich auf der Straße, in der Nähe des Hsi Tan, einer der Haupteinkaufsstraßen, als plötzlich ein
Auto
anhielt
und
Ma
Hai-te
heraussprang,
mich
überschwenglich begrüßend. Er versprach, mich unbedingt bald zu besuchen, und fügte gewissermaßen entschuldigend hinzu, er sei ein bißchen knapp Zeit, ihm seien wesentliche Funktionen im neuen Gesundheitswesen übertragen worden, die ihn zu langen Reisen in von Epidemien und anderen > Erbleiden < Chinas geplagte Gegenden nötigten. Jetzt gerade sei er auf dem Wege zu Tschiang Tsching, die eine Injektion benötige, sie leide an sehr schwer bestimmbaren Infektionen. Im Zusammenhang mit Grüßen, die ich ihm für sie auftrug, teilte er mir mit, sie sei mit der >Aufräumarbeit< im Filmwesen total überlastet. Alles ging sehr schnell, halb scherzhaft warnte er mich noch: »Gib gut auf dich acht, wir haben es augenblicklich mit einer ver stärkten Tätigkeit konterrevolutionärer Banditen im Land zu tun. 430
Aber — wir schaffen das schon!« Der alte Ma Hai-te, quirlig, wach, freundlich bis zur Kumpelhaf tigkeit. Seine in Jenan unvermeidliche Leica hatte er nicht mehr umhängen ... Ich fand die Warnung vor >Banditen< einigermaßen verwunder lich, aber Ma Hai-te sah mich ernst an und wies dann auf ein großes, eng mit Schriftzeichen bedecktes Plakat, das genau hinter mir an einer Mauer hing. Ich hatte diese Plakate schon des öfteren gesehen, mir aber nicht die Mühe gemacht, sie zu lesen, ich war der Meinung, sie enthielten irgendwelche Anweisungen für Hygiene, Fliegenbekämpfung oder übliches. Nun, als ich, mit Ma Hai-te neben mir, den Text las, erkannte ich, daß es sich um das Urteil eines >Volksgerichts< über die konterrevolutionäre Tätigkeit von drei ehemaliger Offizieren der Kuomintang-Armee handelte. Angeblich hatten sie Funktionäre der KP überfallen und ermordet. Am Ende die Strafe: Tod durch Erschießen. »Man lernt immer wieder hinzu«, bemerkte ich, wohl etwas verlegen. Es lag mir auf der Zunge, hinzuzufügen, daß ich allerdings kein KP-Funktionär sei, aber da wies Ma Hai-te schon auf einen wuchtig mit roter Farbe quer über das Plakat gezogenen Hakenstrich. »Was das heißt, weißt du auch nicht?« Ich konnte nur den Kopf schütteln, und der kleine Doktor erläu terte mir sachlich: »Das Urteil wird drei Tage ausgehängt. Meldet sich in der Zeit niemand, der seine Berechtigung widerlegen kann, wird es vollzogen. Das Zeichen dafür ist der rote Haken ...« »So einfach ist das ...«, sagte ich. Ma Hai-te riet mir: »Sieh dich vor, Sid. Alle sind gefährdet, wir auch. Ausländische Freunde der KP sind Ziele für diese Banditen ...« Dann lachte er plötzlich. »Da denkt man, du gehst mit wachen Augen durch die Welt, aber du merkst nicht einmal, wie es um dich 431
herum einen erbitterten Kampf um die Volksmacht gibt! Wohnst du nicht irgendwo außerhalb des Tjien Men?« »Ping Tjiao Hutung«, erwiderte ich. »Nummer 4. Für den Fall, dass du mich wirklich besuchst!«
i
Er versprach es. »Ich komme, sobald ich kann. Alte Freundschaft, ganz klar, ich habe mir vorzuwerfen, daß ich nicht längst bei dir war ...« Er hielt mir die Hand hin. »Das Auto wartet, ich muß fahren. Stell dich mal morgens, kurz nach Sonnenaufgang am Tjien Men auf. Da fahren die Lastwagen mit den Delinquenten aus der Stadt. Sie werden auf einer Halde erschossen, irgendwo dort, wo jetzt der Klärschlamm aus der Kanalisation gesammelt wird. Es mag interessant für dich sein ...» Ich bezweifelte das, aber ich konnte es ihm nicht mehr sagen, denn er flitzte bereits zu dem wartenden Auto, sprang hinein, winkte kurz, und dann war die Begegnung vorüber. Ich habe mich eines Morgens am Tjien Men aufgestellt, wie Ma Hai-te es mir geraten hat. Die Lastwagen kamen. Es waren fünf. Keine Planen über den Ladeflächen, auf denen jeweils etwa ein Dutzend Männer standen, auch einige Frauen darunter. Leere, aus druckslose Gesichter. Um sie herum Soldaten mit Maschinenpisto len. An den Türen der Lastwagen große Schriftzeichen >Tod den Konterrevolutionären! < Um mich herum standen Hunderte von Leuten, die dieses Schau spiel offenbar nicht zum ersten Mal beobachteten. Manche unterhielten sich leise. Keine Genugtuung in den Gesichtern, keine Scha denfreude, eher stumme Gleichgültigkeit. Aber kein Wort auch, das sich gegen die Exekutionen erhoben hätte. Als die Wagen auf der langen, südwärts aus der Stadt führenden Straße verschwanden, zer streute sich die Menge. Ein Teil scharte sich um einen alten, bärti 432
gen Zauberkünstler, der von Tienchiao herübergekommen sein mußte, der Gegend, in der traditionell die Gaukler und Akrobaten wohnten. Er ließ aus einem amerikanischen Stahlhelm ein Kanin chen nach dem anderen erscheinen, und einige der Leute warfen Münzen in den Helm ... Nach Hause gekommen, schlage ich in alten und neueren Veröffentlichungen nach und notiere mir, was Mao Tse-tung im Zusammenhang mit der >Bekämpfung konterrevolutio närer Banditen< verlautbart hat. Eine seltsame Mischung, die es wert ist, chronologisch festgehalten zu werden.
Mao Tse-tung - 27.9.1950 »Im gegenwärtigen Kampf gegen das konterrevolutionäre Ge heimagententum, das gleichlaufend mit dem amerikanischen An griff in Korea gegen uns mobilisiert wurde, sollten wir nicht gleich immer hinrichten. Das wird Agenten und Banditen zu offenen Ge ständnissen ermutigen. Die Abwehrorgane brauchen sich dadurch nur mit einer relativ geringen Zahl Unverbesserlicher zu befassen, der Rest der Arbeit kann von örtlichen Polizeistellen und Einwoh nerkomitees erledigt werden ...«
Mao Tse-tung - 17.1.1951 Wir müssen im Kampf zur Unterdrückung der Konterrevolution fest, zielsicher und hart zuschlagen. Fest zuschlagen heißt, wir müs sen die richtige Taktik verfolgen. Zielsicher zuschlagen heißt, wir dürfen keinesfalls die Falschen töten. Hart zuschlagen heißt, jeder Konterrevolutionär, der den Tod verdient, muß getötet werden.«
Hsinhua- 21.2.1951 Vorsitzender Mao Tse-tung hat im Namen der Volksregierung die an die Sicherheitsorgane ergangenen Bestimmungen zur 433
Bekämpfung von Konterrevolutionären präzisiert. Danach sind willkürliche Verhaftungen nicht gestattet. Mitschuldige und Mitwisser konterrevolutionärer Verbrechen werden ebenfalls bestraft.
Vordringlich
Militärdienststellen
von
sind
Partei-,
Regierungs-
konterrevolutionären
Elementen
und zu
säubern, die sich dort eingeschlichen haben. In jenen Gebieten, in denen eine allseitige Unterdrückung der Konterrevolution bereits vollzogen ist, kann gemäßigt vorgegangen werden. Vorsitzender Mao
sagte
wörtlich:
»Unerläßlich
ist,
sämtliche
Konterrevolutionäre zu unterdrücken, aber dabei dürfen wir nicht Leute irrtümlich verhaften oder hinrichten. Ob wir auf diesem Ge biet richtig oder falsch arbeiten, ist an der Reaktion der Massen auf unsere Maßnahmen ablesbar.«
Mao Tse-Tung - 15.6.1951 Es besteht Anlaß, ein für allemal festzustellen, daß Schwerver brecher selbstverständlich die Todesstrafe verdienen und exekutiert werden müssen. Ein Aufschub der Exekution kommt bei ihnen nicht in Frage.«
25.10.1951 Ma Hai-te fegte wie ein Wirbelwind im Hof unseres Hauses herum. Er kam gegen Abend, beladen mit einigen Taschen voller Früchte, mit Brandy, Erdnüssen und russischen Fischkonserven. Nachdem er alles abgestellt hatte, umarmte er Sandy, die er noch nicht gekannt hatte, und rief: »Hallo, das ist mir eine große Freude! Eine Frau, wie ich sie Sid immer gewünscht habe! Und bald wieder Mutter ...« Er musterte beinahe fachmännisch ihren Leibesumfang, und ich bewunderte Sandy, die das ohne schnippische Bemerkung über sich ergehen ließ, sie hatte beschlossen, gute Miene zu dem 434
Schauspiel zu machen. Sue blickte etwas ratlos zu uns beiden herüber, als der kleine Mann sie auf den Arm nahm und abdrückte. Dann lachte sie aber, und Ma Hai-te stellte sie wieder auf die Füße, hielt bei geschlossener Faust den Daumen senkrecht und bestätigte mir gönnerhaft: »Sehr gut gemacht, Sid! Ausgezeichnet!« Sandy murmelte zwar: »Da sind wir aber sehr stolz auf das Lob ; im übrigen stellte sie sich jedoch wider Erwarten recht gut auf Ma Hai-tes unkonventionelle Art ein; die beiden gerieten — ihrer identischen Berufe — sogar bald in Erörterungen über den Ge sundheitsdienst in der Volksrepublik, sie hatten Auffassungen, die miteinander nicht unbedingt in Reibung geraten mußten. Als wir et was später im Hof, an unserem Rohrtisch saßen, in den knarrenden Sesseln, und das Essen einnahmen, verriet Ma meiner Frau, daß ihm ihr Engagement in China großen Respekt abnötige. Er war zweifellos ein Enthusiast, völlig im Einvernehmen mit der >neuen Ordnung<, nur vermutete ich, daß er weit weniger vom Kommunismus verstand, als einige Leute in Jenan ihm zugetraut hatten. Für mich war er vielmehr ein Mediziner mit ausgeprägtem sozialem Engagement, wie man es nicht selten bei Ärzten findet, die in ärmlichem Milieu aufgewachsen sind oder ihr Leben lang dort praktiziert haben. Es gibt selbst in der Literatur solche Figuren, sie haben gewisse humanistische Grundvorstellungen, die sich bei der Ausübung ihr Berufes vertiefen und zuweilen mit politischem Engagement gleich-" gesetzt werden, obwohl sie eigentlich nichts weiter repräsentieren als einen aus der Lebenspraxis erwachsenen Hang zur Hilfe für Schwache und Unterprivilegierte. Ganz offenbar hatte eine solche Grundeinstellung Ma Hai-te nach China gebracht, dem von Armut und Krankheiten geplagten Land. Hier hatte er — in der Umgebung Maos — die Chance gesehen, das zu tun, was er 435
auch nun wieder im Gespräch als Veränderung der Welt< bezeichnete. Kein Zweifel, sein Anliegen als Mediziner traf sich mit dem, was die Kommunisten ihrerseits im politischen Sinne als Weltveränderung
postulierten,
ob
deckungsgleich
oder
mit
gewissen Differenzen, das blieb abzuwarten. »Werden Sie nach dem zweiten Kind weiter im Hospital arbeiten?« erkundigte er sich bei Sandy, während wir duftendes Erdnuß fleisch aßen. Sandy wiegte den Kopf. Sie sagte: »Ich glaube schon. Vorausgesetzt, man kann mich brauchen. Ich möchte keinesfalls meinen Beruf aufgeben ...« »Und ob man Sie braucht!« Er lachte. »In diesem Lande kommt auf Zehntausende ein ausgebildeter Arzt. Wir sind jedem dankbar, der zu uns kommt und hilft.« Er bekleidete einen Verwaltungsposten im Gesundheitsdienst, so viel hatte er uns verraten. Daß er nicht einfach täglich im weiße Kittel Patienten empfing, war darauf zurückzuführen, daß es vor lern nötig war, in China eine moderne Infrastruktur für das Gesundheitswesen zu schaffen, das aber konnte nur durch Leute geschehen, die selbst Mediziner waren und zu denen die Führung hierzulande Vertrauen hatte. Er lachte wieder. »Wenn wir das allein von Funk tionären organisieren ließen, selbst von sehr klugen, würden sie alle zwei Tage nicht wissen, wie es weitergehen soll, sie würden letzten Endes Krankenhäuser bauen lassen, in denen die Operationssäle fehlen!« »Und die Russen?« warf ich ein. »Gibt es nicht auch Hilfsverein barungen auf medizinischem Gebiet mit ihnen?« »Es gibt sie«, bestätigte er. »Teilweise haben sie sich bereits sehr positiv ausgewirkt. Die Russen haben Spezialisten geschickt, die mit ihren Erfahrungen helfen. Auch technische Ausrüstungen, Röntgeneinrichtungen, chirurgische Instrumente — vieles, was wir 436
eben noch nicht haben ...« Dann erzählte er von einer Sache, die eigenartigerweise in den hiesigen Zeitungen kaum behandelt worden war oder die ich überle sen haben mußte. Allerdings hatte ich auch aus dem Radio nie etwas darüber gehört. »Das war etwa um die Zeit, als die Volksrepublik gegründet wurde, im späten Herbst und im Winter 1949, in der inneren Mon golei. Wir stellten damals dort eine wachsende Zahl von Pestfällen fest. Eine alarmierende Situation, denn es hatte bereits zwei Jahre zuvor in der Mandschurei eine Pestepidemie gegeben, mit einigen Zehntausend Opfern. Dazu muß man wissen, daß die Japaner nicht weit von Harbin während des Krieges ein Institut betrieben, in dem die verschiedensten Seuchenerreger gezüchtet wurden, man testete die Chancen biologischer Kriegsführung. Ich kann mich erinnern, daß wir ziemlich ratlos waren, wir hatten weder ein ärztliches Ver sorgungsnetz noch Impfstoff. Die Volksregierung wandte sich um Hilfe an die Sowjets. Was dann geschah, übertraf alles, worauf wir zu hoffen gewagt hatten.^ Eine Woche nach dem Hilferuf trafen etwa dreißig russische Mediziner in Peking ein, geführt von einem unglaublich
resoluten
Professor,
der
dem
Leiter
unseres
Empfangskomitees, das ihn zum Essen einladen wollte, ziemlich barsch erklärte, essen werde er nach getaner Arbeit, man solle ihm sofort auf der Landkarte die betroffenen Gebiete zeigen und schnellstens seine chinesischen Arbeitspartner herbeibringen. Das war am Abend. Um Mitternacht hatten sich die Russen mit uns gemeinsam bereits auf die Eingrenzung eines zu isolierenden Gebietes durch die Volksbefreiungsarmee geeinigt, sie hatten telegrafisch von Zuhause weiter Helfer bestellt und uns veranlaßt, alle vorhandenen Ärzte und Sanitäter der Armee an bestimmten Punkten zu konzentrieren. Ein generalstabsmäßiger Plan. Danach 437
aßen sie etwas, wechselten ihre Kleidung, und am Morgen waren sie bereits in das Katastrophengebiet unterwegs. Ich hatte nicht für möglich gehalten, daß sie so vorgehen würden, wie sie es taten: sie errichteten keine zentralen Impfstellen, woran wir zuerst gedacht hatten, sie gingen selbst systematisch durch die Ansiedlungen, in Begleitung von Sanitätern, und suchten die Erkrankten auf. Den Sanitätern, die davon nicht begeistert waren, sagten sie: >Wollt Ihr Euren Landsleuten helfen, dann überwindet die Angst und helft da, wo die Leute auf dem Rücken liegen. Wenn Ihr Angst habt, schert Euch zum Teufel !< Nach zwei Wochen hatten sie alle Betroffenen mit Serum geimpft, die meisten in ihren Häusern oder Hütten, auf dem Kang. Andere,
von
ihnen
organisierte
Kommandos
versprühten
gleichzeitig überall Desinfektionsmittel, wieder andere leiteten Gruppen unserer Armee an, wie man Ratten ködert und bekämpft. Geschlafen haben sie in der Zeit vielleicht vier oder fünf Stunden täglich, mehr nicht, der Professor fertigte mich einmal mit der Antwort ab: >Zum Schlafen bin ich nicht hergekommen, hier ist lange genug geschlafen worden!< Was sie eigentlich gegessen haben, ist mir heute noch nicht ganz klar. Sie kannten keine Gnade, weder gegen die Seuche, noch gegen sich selbst, wenn einer sagte, irgend etwas sei unmöglich zu machen schnitten sie ihm einfach das Wort ab und sagten: >Seit Lenin gibt es keine unmöglichen Dinge mehr, höchstens welche, die etwas schwerer zu machen sind oder etwas länger dauern. < Die Seuche war nach zwei Wochen tot. Erledigt. Besiegt. Ich hatte eine Grippe, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der Professor untersuchte mich und meinte grinsend: >Alles in Ordnung. Influenza, keine Pest. Nach Hause gehen, ausruhen! Dann gab er mir eine Handvoll Ampullen, die ich mir nach und nach 438
injizieren sollt gähnte, zündete sich eine dieser komischen Pappmundstückzigaretten an und sagte gedehnt: >So — das wäre geschafft<. Ich hatte vorher kaum mit Russen zu tun gehabt, aber, glauben Sie mir, zu der Zeit begriff ich, weshalb sie die Deutschen bis Berlin gejagt haben!« Ich fragte: »Das war noch vor dem offiziellen Hilfsabkommen?« Er bestätigte es. »Ja. Übrigens blieben Teile dieses Teams damals in der Mandschurei. Sie haben gesagt, man mache am besten gleich reinen Tisch, wenn man schon einmal dabei sei. Also impften sie noch zwischen acht und zehn Millionen Leute gegen Cholera, Ty phus und Pocken. Erst dann fuhren sie wieder nach Hause ...« »Leistungsfähige Verbündete«, bemerkte ich. Er nickte. Sagte eine Weile nichts, und dann: »Wir beziehen im Augenblick eine Menge Unterlagen von ihnen, für die Herstellung von medizinisch technischem Ausrüstungsmaterial. Sie sind der Meinung, unsere Fa briken in Shanghai können das sehr gut nach den vorgegebenen Zeichnungen selbst produzieren.« Sandy meinte: »Gut zu hören! Jedesmal wenn ich im alten P.U.M.C. schnell eine Röntgenaufnahme brauche, sagt man mir, der Apparat sei gerade wieder mal defekt. Ich hoffe, die Russen konstruieren verläßlichere Apparate!« Ma Hai-te fühlte sich verpflichtet zu bemerken: »Wir werden sie für unsere Bedürfnisse abändern.« »Ist die russische Technologie besser als die amerikanische?« Er blickte mich an, zuckte die Schultern und sagte: »Keine Ah nung, Sid. Amerika hat uns leider nicht die Chance gegeben, seine moderne Technologie zu übernehmen. Das letzte von ihnen war das, was im P. U. M. C. liegt. Du weißt, wie gern wir von Amerika moderne Sachen gehabt hätten ...« 439
Ich begnügte mich mit einem zustimmenden Nicken und damit, daß ich unserem Gast eine generöse Portion gedünsteter Sojaboh nenkeime in die Schale legte. Ma Hai-te war gelöst und gesprächig. Er schien sich in seiner Funktion wohlzufühlen, und er erzählte über die Programme, die er aufgestellt hatte, um in dem immer noch arg rückständigen Land wenigstens die schlimmsten Übel systematisch auszurotten. Neben der Pest, die relativ selten geworden war, handelte es sich im wesentlichen um die Syphilis, die
aus
den
verschiedensten
Gründen
ebenfalls
in
den
mandschurischen Provinzen und in der inneren Mongolei immer noch stark verbreitet war. »Früher hatten dort fünfunddreißig bis fünfzig Prozent aller Er wachsenen die Lues«, plauderte er. »Heute haben wir überall Teams, die systematisch die Leute untersuchen und bei positivem Befund sofort die Behandlung einleiten. In ein paar Jahren ist das alles vergessen, auch die Cholera, die Ruhr, im Süden die Lepra. Aber wir haben noch viel zu tun. Gerade im Süden. Da macht uns die Schistosomiasis zu schaffen, die Leute holen sie sich auf den Reisfeldern, weil die mit Fäkalien gedüngt werden. Es gibt dort die Enzephalitis, die Meningitis, aber wir müssen nicht nur heilen, wir müssen beispielsweise unter der zurückgebliebenen Bevölkerung, unter
ungebildeten
Menschen eben,
die
in
ihren
uralten
Gewohnheiten gefangen sind, ein völlig neues System der körperlichen
Hygiene
einführen,
wir
müssen
ihnen
Zusammenhänge zwischen alten, im Grunde durch die Verelendung gewachsenen
Gewohnheiten
und
gefährlichen
Krankheiten
erklären, das ist nicht nur medizinische Tätigkeit allein, es ist Erziehung, Bildung ...« Sandy stimmte Ma zu: »Das fängt damit an, daß die Leute bei uns in den Korridoren auf den Boden spucken. Eine ekelhafte 440
Gewohnheit, und völlig unnötig. Oder sie husten einem bei einer Untersuchung ins Gesicht, niemand hat ihnen je gesagt, daß man dabei Krankheitserreger übertragen kann, was man vermeidet, wenn man sich die Hand vor den Mund hält!« »Man kann auch einen Spucknapf benutzen«, rief Ma Hai-te. »Genau das ist es. Die Anfangsgründe der Hygiene haben wir zu schaffen. Gegenwärtig produzieren hundert Porzellanfabriken im Lande Spucknäpfe, auf unsere Anweisung hin, statt wertloser nach gemachter Tang-Figuren, die man Ausländern andreht! Verzeihung, das ist nicht ganz die Unterhaltung für ein Essen ...« Sandy meinte vermittelnd: »Macht nichts, wir beide sind Medizi ner, und Sid wird sich daran gewöhnen, der Ästhet!« Sie blinzelte mir zu. Ich ballte die Faust und drohte ihr. »Sehen Sie«, machte sie Ma Hai-te aufmerksam, »das ist nun seine Art, auf die Realität zu reagieren! Es wäre ihm lieber, wir sprächen über Laotse oder eine anderen dieser gelehrten Männer ...« Ma Hai-te lachte, er hob das Brandyglas und prostete mir zu. »Leider hast du nicht die robuste Natur der Russen, mein Lieber, das stimmt wohl. Was würde aus dir werden, wenn du mal für eine hall
Stunde
ins
Pekinger
Kanalisationssystem
hinabsteigen
müßtest!« »Vermutlich würde mir das Essen hochkommen«, gab ich ungt1 rührt zurück. Ma Hai-te erzählte: »Ein paar Russen sind da hinein gekrochen, hast du davon gehört?« »Kein Wort. Was suchen Russen im Pekinger Kanalisationssystem? Die Gegner des Weltkommunismus?« »Nun ja«, er schmunzelte. »Diese Kanäle unter der Stadt sind sechshundert Jahre alt. Sicher ist dir nicht der Gestank entgangen der unsere Stadt umgab, früher. Es gibt ihn heute kaum noch, wenn du einmal darauf achten würdest. Die alten Abwässeranlagen, ohne 441
die Verwendung von Beton gebaut, waren meist eingestürzt und verstopft. Damals, am Anfang der Volksrepublik ist einer von den russischen
Architekten
wochenlang
unter
der
Erde
herumgekrochen, sah aus wie ein Höhlenforscher und stank wie zehn Latrinen, wenn er gelegentlich den Kopf aus einem Loch steckte, um etwas Tabak zu verbrennen. Aber er legte Zeichnungen an und tüftelte ein Reparatursystem aus, mit dem man in einem knappen
Jahr
die
ganze
Kanalisation
reparieren
konnte.
Betonmauern an den Kreuzungen, Siebe, Gefällestrecken, alles das. Heute riecht es da draußen nicht mehr nach Fäkalien!« Ich machte mir meine Gedanken über die offenkundige Begeiste rung Ma Hai-tes, die aus seinen Worten über die Russen sprach. In der Tat, hier spiegelte sich etwas wider, was man heutzutage überall entdecken konnte, ganz besonders nach dem Korea-Krieg, in dem die Sowjets ganze Divisionen chinesischer Freiwilliger mit modern sten Waffen versorgt hatten, sie sogar an ihren neuesten DüsenMiGs trainierten — eine freundliche Hinwendung zu dem großen Nachbarn im Norden, dem älteren Bruder, der durch das Verhalten seiner Sendboten und die Substanz seiner Hilfe das Gefühl ver mittelte, man sei als Chinese eben nicht mehr der arme, verlauste Hungerleider, sondern der respektierte Partner. Die Auswirkungen waren noch nicht abzusehen. Wenn man sich an die gezielte Zurückhaltung Maos im Hinblick auf die Sowjets in Jenan erinnerte, so konnte man sich fragen, ob er heute etwa auch schon dieses neue Gefühl empfand, oder ob er sich gegen dessen Einzug bei seinen Landsleuten nicht eher wehrte. In jedem Falle würde er sich wohl hüten, das zu sagen, was er wirklich dachte, und ich war mir nicht ganz sicher, wie tief die Begeisterung über die neuen Verbündeten bei Leuten wie Ma Hai-te saß. War sie umkehrbar? Unter Umständen konnte viel davon abhängen. »Ganbei!« sagte ich, 442
mit dem Brandyglas in der Hand, »auf die Russen und ihre unerschrockenen Kanalreiniger!« Ma Hai-te hob seinen Zeigefinger. »Und — darauf, daß die Amerikaner uns eines Tages nicht mehr als die roten Barbaren betrachten werden, als die schlitzäugigen Horden feindseliger Kreaturen aus den Tiefen der Gobi!« »So Gott will!« schloß sich Sandy an, bevor ich noch meine Warnung anbringen konnte, diese Art von chinesischem Brandy sei nicht gerade Medizin für werdende Mütter. Später, nachdem wir uns ins Wohnzimmer zurückgezogen hatten machte Sandy Ma Hai-te Vorwürfe, daß er seine Frau nicht mitgebracht, hatte. Er entschuldigte sich: »Ich übe feierlich Selbstkritik! Leider haben wir gerade auch ein Baby, und Su Fei geht noch nicht viel aus. Aber wir werden das alles nachholen, ich verspreche es. Übrigens wohnen wir in einem ganz ähnlichen Haus wie Ihr. Herr lich, diese alten chinesischen Häuser — ich bedaure heute schon die Leute, die einmal in den Betonkästen leben werden, die wir jetzt in den Außenbezirken bauen ...« Es war bereits ziemlich spät, als er — gewissermaßen beiläufig — mit dem Anliegen herausrückte, das ihn zweifellos hauptsächlich zu uns geführt hatte. Er begann über Tschiang Tsching zu erzählen, Maos Gattin, die mit seiner Frau befreundet war und die nach sei nen Worten mit ihrer Gesundheit Schindluder trieb. »Sie arbeitet Tag und Nacht über Kunsttheorie, liest, macht Ausarbeitungen für den Vorsitzenden, dazu kommen ihre Verpflichtungen in der Filmabteilung, und jetzt hat sie sich auch noch entschlossen, in Kürze irgendwohin zu reisen, wo die Landreform in vollem Gange ist — nicht einmal ihr Mann kann ihr das ausreden ...« Danach wandte er sich an mich. Ob ich bereit wäre, morgen einige Stunden in der Regierungszone am Tschung-Nan-Hai zu ver 443
bringen. Es handle sich um die Vorführung von Filmen mit amerikanischem Text, die Tschiang Tsching sich studienhalber anzusehen hatte. Ihr Englisch sei dürftig, eine Simultanübersetzung sei notwendig, und es sei ihr Wunsch, daß ich zu diesem Zweck zu ihr käme ... Ich hatte diese >Mauer aus Leibern< in Arbeit, und es war abzusehen, daß ich damit ohne Schwierigkeiten fertig werden würde. Was war da schon ein verlorener Tag! Und warum sollte ich nicht wieder einmal jene kapriziöse junge Frau besuchen, die Reiterin von der jetzt sozusagen die >First Lady< des Staates? »Sie läßt dich abholen«, verkündete Ma Hai-te mir, »sagen wir — gegen neun Uhr?« Sandy bemerkte ironisch: »Sagen Sie ihm, daß er sich ein sauberes Hemd anziehen muß!« Sie spielte auf meine Gewohnheit an, die Tage in verwaschenem Khaki zu verbringen, barfuß, manchmal un rasiert, wenn mich das Arbeitsfieber packte. Ma Hai-te kicherte. »Aber keinen Schlips, bitte! Sie kann das nicht ausstehen. Angeblich trugen alle diese bürgerlichen Salonbolschewisten aus Shanghai, die ihr das Leben schwer machten, Schlipse!« »Er hat gar keinen«, erklärte Sandy. »Den letzten trug er, als er mich verführte, seine Frau zu werden, ich glaube, auch der war geliehen.« Ich paßte mich der gelösten Stimmung an und rief ihr zu: »Lie bes, soll ich etwa erzählen, was du bei dieser denkwürdigen Gele genheit trugst?« Worauf sie mir mit ihrer kleinen Faust drohte und ankündigte: »Du würdest die Nacht nicht überleben!« Ich überlebte sie, irgendwie, obwohl ich mit Ma Hai-te, nachdem sich Sandy zu später Stunde zurückgezogen hatte, noch eine weitere Flasche dieses >Brandy« genannten Getränks leerte. — Das erste, was mir durch den Kopf schießt, als ich vor Tschiang 444
Tsching stehe: die Frau ist gealtert! Sie kommt mir aus der Tür des bungalowähnlichen Hauses im Tschung-Nan-Hai-Viertel entgegen und zeigt ein Lächeln, als sie mir die Hand hinstreckt. Aber ihr Lä cheln hat nicht mehr den recht ungezwungenen, mädchenhaften An flug, den es etwa in Jenan hatte, als sie vor meiner Behausung auf ihr Pony sprang. Das ist jetzt, rechne ich schnell, sieben Jahre her. Ihr Gesicht hat eine blaßbronzene Farbe. Da sind Fältchen um die Augen herum, die sich vertiefen, und da sind ein paar sommer sprossenähnliche Flecke, einer davon auf der Nase, das alles habe ich vor Jahren nicht bemerkt, möglich, daß sich die Flecke durch die Blässe der Haut stärker abheben als früher. »Es freut mich, daß Sie meiner Bitte gefolgt sind, Kamerad Rob bins«, sagt sie, als sie mich hineinführt. Auch die Stimme ist anders, es fehlt ihr der volle, schwingende Wohlklang, den ich in Erinnerung habe, sie ist kälter geworden, schneidender, ohne Unfreundlichkeit zu verströmen. Die Frau muß jetzt Ende der Dreißig sein, ich rechne es mir aus, ebenso, daß Mao auf die Sechzig zugeht. Beides sind in gewisser Weise kritische Stationen im Leben, an denen sich körperliche Veränderungen spürbar machen. Mag sein, daß man darüber nachdenken muß, wenn man jemandem nach so langer Zeit wiederbegegnet. Ich frage sie, als wir uns an den Teetisch setzen, warum sie so lange nicht in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen war. Krankheit? »Das auch.« Sie gießt den Tee selbst ein, bietet mir Keks an. »Ich habe oft Fieber, weiß nicht die Ursache. Auch die Ärzte wissen weiter nichts, als daß meine Leber angegriffen ist.« Sie lacht bitter. »Finden Sie einen Chinesen, dessen Leber nicht angegriffen ist! Pfuscher!« Dann trinkt sie einen Schluck Jasmintee aus der dünnen Porzellanschale mit dem Ming-Dekor und fügt mit etwas mehr 445
Bitterkeit in der Stimme hinzu: »Hier sitze ich, der Käfig hat keine goldenen Stäbe, sondern rote. Aber sie sind nur außen rot, an der Oberfläche. Innen sind sie schwarz. Wie alles aus Moskau. Wenn es nicht den Vorsitzenden gäbe, man hätte mich schon völlig aus dem Leben gedrängt ...« Nach der Bedeutung der Anspielung auf Moskau will ich mich lieber nicht erkundigen, das ist zu heikel. Aber natürlich ist mir aufgefallen, daß sie seit der Gründung der Volksrepublik nicht ein einziges Mal etwa auf einem Foto in der Zeitung zusammen mit ihrem Mann abgebildet war. Sie erklärt es mir: »Es sind die alten Feinde, Kamerad Robbins. In Jenan waren sie kleinlaut geworden, wagten es nicht mehr, ihre Schweinsgesichter zu zeigen. Heute kriechen sie nicht nur wieder aus ihren Löchern, sie sind auf dem besten Wege, die Partei völlig in ihre Gewalt zu bekommen. Der Vorsitzende kann nicht alles allein tun, er braucht Mitkämpfer. Aber was für Leute sind das! Sie verstecken sich hinter dem breiten Rücken ihrer Moskauer Freunde und manövrieren im Grunde gegen den Vorsitzenden. Es ist eine gefährliche Zeit. Wir müssen aufpassen, daß China endlich Geltung in der Welt erlangt, oder es wird untergehen. Aber man macht es uns nicht leicht ... Nur — noch ist nicht das letzte Wort gesprochen! Wir werden von den Russen nehmen, was immer wir von ihnen bekommen können, wir müssen das tun, weil Amerika uns boykottiert, aber wir werden zu unserem eigenen Weg zurückkehren! Eines Tages wird die Welt erkennen müssen, daß nicht der Sowjetkommunismus, sondern der chinesische Weg, den der Genosse Vorsitzende weist, den Erfolg garantiert. China wird die stärkste rote Weltmacht sein, wir sind den Russen kulturell und geistig überlegen, wir haben die größeren Potenzen, wir haben Menschen und Schätze, und wir werden die führende Weltmacht des Kommunismus sein, auch 446
wenn wir jetzt noch stillhalten müssen ...« Der Ausbruch überraschte mich einigermaßen, nicht nur, weil er im krassen Gegensatz etwa zu der Stimmung Ma Hai-tes stand, er stand auch in einem augenfälligen Gegensatz zu allem, was offiziell in China geschah, was geschrieben und selbst von Mao öffentlich gesagt wurde. »Wir haben uns in der letzten Zeit auf unsere Intellektuellen und Künstler konzentriert«, sagte sie. »Das war nötig. Wir werden es immer wieder tun müssen, sie sind für fremde Einflüsse
am
empfindlichsten.
Zudem
gibt
es
so
viele
ausgesprochene Verräter unter ihnen. Der Klassenkampf auf diesem Gebiet wird das schwerste sein. Wir müssen ihn gewinnen, denn erst dann gibt es für uns keine Hin dernisse mehr, weder in der materiellen Produktion, noch sonstwo ...« Ich hütete mich, ihr zu sagen, daß ich diese Vorstellung für naiv hielt, zumal mir dazu einfiel, daß Mao Tse-tung erst vor Tagen auf der Sitzung des Nationalkomitees der Politischen Konsultativkonfe renz, wie die >Volkszeitung< berichtete, wörtlich gesagt hatte: »Die ideologische Umerziehung, besonders die der Intellektuellen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die gründliche demokratische Umwandlung und schrittweise Industrialisierung unseres Landes. China kann nicht durch Fabriken und Kolchosen allein zum Kommunismus gelangen, es braucht den neuen Menschen. Um ihn geht der Kampf heute, vor allem innerhalb der Partei.« Da war er wieder, der >neue Mensch<, den man gewissermaßen im Schnellbackverfahren herstellen wollte und der' alsdann alle die komplizierten wirtschaftlichen und politischen Probleme Chinas automatisch und in kürzester Frist spielend lösen würde. Eine Vorstellung, die für mich als Nichtmarxisten absurd war und von der ich den Verdacht hatte, daß sie auch mit der 447
klassischen kommunistischen Theorie wenig gemein hatte. Oder das, was ich davon aus Büchern wußte, war falsch. Aber ich war weder geschult genug, noch hatte ich Lust, über dieses Problem mit Tschiang Tsching zu streiten, es ging mich nichts an, ich hatte es lediglich als aufschlussreiches Phänomen innerhalb
der
chinesischen
kommunistischen
Führung
zu
registrieren und meine stillen Schlüsse daraus zu ziehen. »Ich habe in den letzten Monaten eine problematische Zeit durchgemacht«, wich ich auf ein anderes Gebiet aus. Tschiang Tsching sah mich neugierig an, und ich fuhr fort: »Immerhin ist es nicht so einfach, als Amerikaner in einem Land zu leben, das sich de facto im Krieg mit den Vereinigten Staaten befindet und in dem eine Kampagne unter der Losung >Bekämpft Amerika< läuft ...« »Sie meinen das im Zusammenhang mit Korea?« Ich nickte. »So viele meiner Landsleute sind in einem Krieg ge storben, der zu nichts führte. Und so viele Ihrer Landsleute. Eine schmerzliche Erfahrung für einen Mann, der im Grunde will, daß zwischen uns Einvernehmen herrscht ...« Sie sagte: »Ich kann Sie verstehen. Ich teile Ihre Gefühle. Der Vorsitzende hat unlängst den Gedanken geäußert, daß dieser Krieg vielleicht auf lange Sicht, trotz aller Verluste, auch in Amerika den Prozeß des Umdenkens befördern könnte. Wir müssen nur unbeirrt weiter daran arbeiten. Wußten Sie übrigens, daß der Vorsitzende einen Sohn in Korea verloren hat?« Ich wußte es nicht. Sie bestätigte, daß darüber nicht eine Zeile gedruckt worden war. »Mao An-ying. Er stammte aus der ersten Ehe des Vorsitzenden. Er fiel im November vorigen Jahres. Ich habe ihn nie gesehen ...« Das war alles, was sie dazu sagte. Plötzlich, wie um zur Sache zu kommen, wechselte sie das Gesprächsthema. Sie hatte sich zwei 448
Spielfilme aus der etwas zurückliegenden Produktion in den Staaten >Gone with the Wind< und >For whom the Bell tolls<, kommen lassen, auf Wegen, die ich nicht kannte. »Ich habe seit einiger Zeit an der ideologischen Umformung unseres Filmwesens gearbeitet«, erläuterte sie mir. »Sicher haben Sie die Auseinandersetzung mit je nen Schädlingen verfolgt, die >Wu Hsün< produziert haben. Nun, heute ist die Filmindustrie insgesamt unter unserer Kontrolle. Ich selbst werde versuchen, weiter auf diesem Gebiet zu arbeiten, ob wohl die Verräterbande innerhalb der Partei es durchgesetzt hat, daß ich meine Funktion abgebe. Wahrscheinlich werde ich kurzfri stig eine neue Aufgabe übernehmen — trotzdem, man wird noch von mir hören, was die Kunst betrifft! Nur — mir fehlt die unmittelbare
Vergleichsmöglichkeit
zu
Spitzenfilmen
der
kapitalistischen Produktion, deswegen will ich mich orientieren ...« Ihr Englisch reichte nicht aus, um Dialoge zu erfassen, auch ihre historischen Kenntnisse waren begrenzt, so erhoffte sie von mir Assistenz.
Wir
verließen
den
Empfangsraum
mit
seinen
Polstermöbeln, auf denen spießige Spitzendeckchen lagen, und gingen in einen kleinen, offenbar nur der Information der Führungsspitze dienenden Kinosaal, wo wir, nebeneinander sitzend, hinter einem Tisch mit Obst und Getränken die beiden Streifen über uns ergehen ließen. Ich kannte sie beide noch nicht. >Gone with the Wind<
war
eine
Liebesgeschichte
lange,
farbige,
tragisch
eingestimmte
vor dem Hintergrund des amerikanischen
Bürgerkrieges, ein Epos, in dem die Negersklaven des Südens nicht gerade begeistert darüber erschienen, daß die Yankees sie von ihren südstaatlichen Herren befreien wollen. Mir selbst kam das Ganze ein bißchen arg verkitscht vor, aber meine Geschichtskenntnisse über die Vereinigten Staaten reichten aus, um zu begreifen, daß hier nicht
die
historische
Tragweite 449
der
damaligen
Auseinandersetzungen unvermeidlichen
ins
Auge
Randepisoden,
sprang, in
denen
eher man
eine
jener
je
nach
Weltanschauung Typisches oder Verlogenheit erkennen konnte. Tschiang Tsching, die unauffällig eine Nickelbrille aufgesetzt hatte, nachdem die Bilder liefen, äußerte sich anerkennend über die Schauspieler. »Glänzende Darstellungskunst für einen faulen Zweck!« Viel mehr sagte sie darüber nicht. »Es gab keine Opposition gegen diese Interpretation?« wollte Tschiang Tsching von mir wissen. »Der Film macht die Befreiung der Sklaven doch zu einer persönlichen Tragödie! Wehren sich dagegen nicht die Kräfte der Gesellschaft, für die die Sklavenbefreiung eine heilige Aufgabe war?« Ich gab mir alle Mühe, ihr zu erklären, was man in Amerika unter Demokratie verstand, auch, daß das Filmgeschäft dort im wesentli chen unter merkantilen Aspekten betrieben wird, wobei politische Überlegungen oft in den Hintergrund treten, es sei denn, jemand entschloß sich, einen ausgesprochen kommunistischen Film zu ma chen, was man vermutlich unterbinden würde. Ich glaube, ich war bei meinen Erklärungen nicht sehr überzeugend, denn Tschiang Tsching blieb während der Pause, die wir nach dem langen Streifen einlegten, ziemlich skeptisch. Sie wollte wissen, ob es jemals möglich sein könnte, in Amerika einen Film zu produzieren mit einem Inhalt, der das Publikum in seiner Einstellung zu China grundsätzlich umstimmen könnte. Das brachte mich in arge Verlegenheit. Ich zog mich aus der Affäre, indem ich sagte, das hinge wohl davon ab, wer sich entschlösse, ihn zu machen, und wie gut er gerate. Es dauerte eine Weile, bis ich bei ihr Verständnis für eine auch der kommunistischen Kunsttheorie nicht ganz fremde These fand, derzufolge Kunst einen nationalen Wesenszug habe, was ihr Ver 450
ständnis bei anderen Völkern zwar nicht ausschloß, in bestimmten Grenzfällen aber problematisch machte. Sidney B. Robbins, der Marxismus-Lehrer der Gattin des Vorsitzenden in Sachen Kunst! Sie beließ es bei den wenigen Erörterungen, wir nahmen einen Imbiss zu uns, der von jungen Männern serviert wurde, die ganz offensichtlich Soldaten in Kellnerkleidung waren. Dann lief Hemingways Spanienkriegs-Story an. Wieder äußerte sich Tschiang Tsching anerkennend über die Dar steller. Sie begriff auch den Konflikt, der zwischen dem Dynamitero und der Gruppe Bergbewohner entstand, um die Sprengung der Brücke. Aber sie spie Gift und Galle über die inzwischen weltberühmt gewordene Liebesgeschichte, besonders über die
Kopulation im Schlafsack.
Ich widersprach ihr
vorsichtshalber nicht, außerdem hatte ich Erfahrung mit ArmySchlafsäcken und hegte gewisse Zweifel über das, was man in ihnen veranstalten konnte. Tschiang Tsching entrüstete sich eine ganze Weile über die bourgeoise Geschmacklosigkeit, die sich in der Darstellung von Intimitäten auf der Leinwand zeigte, und als ich verschämt darauf verwies, daß Liebe sich eben manchmal Zeit und Ort nicht nach vorgegebenen Prinzipien aussuche, wies sie das als eine im höchsten Maße unpädagogische Einlassung zurück. Es habe im chinesischen Befreiungskampf, der in seinem Umfang zudem gar nicht mit dieser > Spanischen Episode< zu vergleichen sei, die allergrößte Sauberkeit im Verkehr von Männern und Frauen gegeben. Der Begriff Sauberkeit hätte mir beinahe ein Schmunzeln entlockt, aber ich beherrschte mich. Liebesbeziehungen als etwas Unsauberes zu bezeichnen, das war bislang das Vorrecht kirchlicher Eiferer gewesen. Ich hielt es jedoch für unangebracht, Tschiang Tsching in dem gegebenen Zusammenhang an ihr eigenes Abenteuer in Jenans revolutionären Höhlen zu erinnern, ich hätte 451
Schlafsack sozusagen mit Höhle in Abwägung zueinander bringen können, aber vermutlich hätte sie mich hinausgeworfen. Mit der Revolution, besser gesagt, mit der Gründung der Volksrepublik, das war mir nicht entgangen, war in das chinesische Leben ein Zug von Prüderie eingeflossen, der es nach und nach zu beherrschen begann. Ob das eine unvermeidliche und in einiger Zeit vorübergehende Randerscheinung dieses historischen Umbruchprozesses war, oder ein bleibender Bestandteil des Systems, darüber wagte ich im Augenblick noch keine Voraussage, jedenfalls artete diese Prüderie gelegentlich ins Groteske aus, so viel hatte ich schon bemerkt. Es war beispielsweise üblich geworden, daß man zwei junge Leute un terschiedlichen Geschlechts, die sich nach der Arbeit relativ harmlos trafen, eben eine Verabredung hatten, wenig später vor das Parteikomitee ihres Betriebes rief und sie allen Ernstes fragte, wann sie zu heiraten gedächten. Zeigte es sich, daß sie daran nicht interessiert waren, wurde ihnen eine Strafpredigt gehalten, in der das Wort >Moral< unverhältnismäßig oft vorkam, und am Ende wurden sie verpflichtet, sich unter diesen Umständen keinesfalls noch einmal zu treffen. Natürlich war das nicht ohne tiefere politische Ursachen. In China war das Prostituiertentum stets eine soziale Erscheinung gewesen. Trotzdem hatte man vermittels einer gezielten Propaganda in der Anfangsphase des neuen Staates den Leuten eingebläut, China sei unter der Kuomintang zu einer Art > frivolen und unmoralischen Lebens < verleitet worden, es sei höchste Zeit, daß diese nationale Schande abgeschafft werde. Im Ergebnis dieses Unsinns wagten es selbst Jungverheiratete heute noch kaum, auf der Straße nur Hand in Hand zu gehen. Ein Kuß in einem öffentlichen Park war sozusagen ein gesamtgesellschaftliches Ärgernis, die Betreffenden hatten zu erwarten, daß sie wenig später intensiv überprüft wurden, ob sie nicht etwa in der Vergangenheit 452
Prostituierte und Zuhälter gewesen waren, die nun in ihre alten schlechten Gewohnheiten< zurückfielen. Mit Tschiang Tsching einigte ich mich schließlich darauf, daß wir es bei Hemingways Film mit einem Sujet zu tun hatten, in dem es revolutionäre Substanz gab, die aber durch die Absicht des Publi kumsfanges vermittels erotischer Elemente letztlich geschändet worden sei. Was lag mir schon daran? Ich konnte es mir allerdings nicht verkneifen, auf einen sowjetischen Film zu verweisen, der in Peking mit großem Erfolg gelaufen war und in dem man auf erotische Anspielungen wohltuenderweise verzichtet hatte. Sie hörte die Ironie aus meinen Worten nicht heraus. »Sie meinen diesen >Tschapajew« »Den, ja.« Darauf dachte sie eine Weile nach, dann rümpfte sie die Nase. »Nun ja, der Film war brauchbar, in Grenzen«, meinte sie gönner haft. »Nur — was hat er denn schon vollbracht, dieser große Reiter held? Ein paar Schlachten siegreich geschlagen. Wir Chinesen ha ben Hunderte solcher Helden! Tausende! Wir könnten über jeden einzelnen von ihnen einen Film machen, der die Welt aufrütteln würde!« Ich schlug ihr versöhnlich vor: »Vielleicht über einige, als Anfang gewissermaßen, das würde sich schon lohnen ...« »Ja!« rief sie impulsiv. »Das ist ja unser Problem! Wir müssen unsere Künstler zuerst umerziehen, so, wie sie jetzt beschaffen sind, haben sie nicht das Zeug dazu, überhaupt einen revolutionären Film zu machen!« Es hätte sich angeboten, über einige Künstler mit ihr zu sprechen, bei denen ich persönlich diese Fähigkeit durchaus vermutete. Mir fiel ein Roman der großes Ansehen genießenden Ting Ling ein, der sie über die Landreform in den soeben befreiten Gebieten des 453
Nordostens verfaßt hatte, ein Buch, das zwar nicht eben meinem Lesegeschmack entsprach, aus dem aber ein überwältigendes revolutionäres Engagement deutlich wurde, das selbst mich nicht völlig unbeeindruckt gelassen hatte, zumal die Autorin eine erhebliche künstlerische Meisterschaft erkennen ließ. Ich bekam keine Antwort. Statt dessen erklärte sie mir: »In absehbarer Zeit begebe ich mich nach Zentralchina. Ich werde zu einer Gruppe gehören, die den planmäßigen Ablauf der Landreform kontrolliert. Es geht zu schlep pend vor sich, man muß eingreifen.« Radio Taiwan hatte unlängst gemeldet, bisher seien etwa zwei Millionen wohlhabender Bauern (so nannte man dort gern die Grundbesitzer) von Volkstribunalen im Rahmen der Landreform zum Tode verurteilt und sofort erschossen worden. Weitere zwei Millionen Chinesen wären bereits im Zuge der Bewegung gegen Konterrevolutionäre und Banditen getötet worden. Während mir das durch den Kopf ging und ich mir Tschiang Tsching als Vorsitzende eines Dorftribunals vorzustellen versuchte, klatschte sie in die Hände. Aus einem Nebenraum erschien einer dieser soldatischen Kellner mit einem riesigen Präsentkorb. »Ich habe Ihnen zu danken«, sagte Tschiang Tsching feierlich. »Sicher werden wir uns wiedersehen. Ich bin sehr froh, daß Sie zu einem echten Freund Volkschinas geworden sind, und ich werde dem Vorsitzenden von meiner Begegnung mit Ihnen berichten. Bitte, grüßen Sie Ihre Gattin ... ein kleines Geschenk!« Damit war ich entlassen. Das >kleine Geschenk< wog schätzungsweise einen Viertelzentner. Als ich es daheim ins Wohnzimmer schleppte, faltete Sandy die Hände über ihrem wohlgerundeten Leib und rief: »Himmel! Was muß diese Dame dich lieben, wenn sie dir das alles schenkt!« 454
Ich warf ihr eine Vollreife Mango zu.
20.1.1952 Am 6. Januar, eine Woche nach Beginn des neuen Jahres stehe ich im Volkskrankenhaus, und ausgerechnet die alte Schwester, die ich sogleich wieder erkenne, weil sie mich hier nach meinem Unfall vor Jahren gepflegt hat, zeigt mir für eine Minute meinen Sohn. Ein Sonntagskind! Es hätte nicht des bunten Bändchens um sein Handgelenk be durft, ich hätte ihn so erkannt, vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, jedenfalls bin ich glücklich, und ich möchte am liebsten die alte Schwester umarmen vor Freude, wenn das nicht ein so grober Verstoß gegen die guten Sitten wäre. Sie bringt ihn in das Kinderbewahrzimmer zurück, dann führt sie mich zu Sandy, der man ein kleines, sehr helles Einzelzimmer gegeben hat, wo sie bereits in einer monatealten Ausgabe von >Housewife< blättert, als ich eintrete. Sie streckt mir lachend die Arme entgegen. »Zufrieden?« Was sagt man zu solch einer Frau! Wieder einmal wird mir be wußt, welch ein Glückspilz ich bin! Als ich mich aus ihrer Umar mung löse, tippt sie mir auf die Nase und sagt: »So, jetzt hast du mich nach den unumstößlichen Regeln der neuen Pekinger Hygiene mit allen möglichen Bakterien infiziert, die mir ein schnelles Ende garantieren! Was macht Sue?« »Als ich sie verließ, versuchte sie gerade wieder einmal hinter das Geheimnis der beiden Affen in der Hongkonger Klapper zu kommen, und zwar mit den Zähnen. Hsiao Yü beobachtete sie dabei, wie eine Schlange das Kaninchen ...« Wir plaudern, ich bemerke erst nach einer Weile, daß ich dabei ihre Hand halte. Leichthin bemerke ich: »Du bist keine Wahine, du 455
bist eine von diesen Hexen aus Kauai, die nach jedem Kind schöner werden ...« Alles ging sehr schnell und ohne Komplikationen, erzählt sie mir, einer der jüngeren chinesischen Kollegen hat die Geburt überwacht, und sie möchte sich ausschütten vor Lachen, als sie beschreibt, wie nervös er war, wie er ihr immer wieder ein Fieberthermometer zwi schen die Lippen schob, den Puls fühlte und dabei seine verbeulte Eieruhr ablaufen ließ. »Er war aufgeregter als ich«, meint sie. »Und du? Wie ich dich kenne, hast du genau zu der Zeit, als der Junge zum ersten Mal krähte, den zwölften Whisky getrunken, wie?« »Es war Bai Gar«, gestehe ich grinsend. »Ich hatte wieder einmal Appetit auf etwas Perverses.« So scherzen wir, bis es Zeit ist, zu gehen. In ein paar Tagen werde ich Sandy abholen, und meinen Sohn, und er wird Burt heißen, wie mein Großvater, und höchstwahrscheinlich wird sich Hsiao Yü Tag und Nacht keine Sekunde von seinem Bettchen wegrühren. — Unlängst war ein Club eröffnet worden, ich hatte es gelesen. Vor zugsweise für ausländische Presseleute, von denen es inzwischen eine ganze Menge hier gab, eine Folge des Korea-Krieges einerseits, andrerseits aber ein Zeichen dafür, daß die Volksrepublik an internationalem Interesse gewann und bereits Zeitungsleute aus neutralen, nicht verbohrt antikommunistischen Ländern anzog, von denen aus den sozialistischen Bruderländern< nicht zu reden. Ma Hai-te nahm mich in Empfang, er gratulierte mir lärmend und machte alle in dem großen Raum sitzenden und trinkenden Gäste auf mich aufmerksam: »Genossen, das ist Sid Robbins! Soeben glücklicher Vater eines gesunden Jungen geworden! Nichts an ihm auszusetzen, seit den Tagen von Jenan, außer daß er sich meist zu Hause bei sich vergräbt, über Tu Fu und anderen nichtproletari 456
schen Dichtern. In China aufgewachsen, hao, hao, und — nach China heimgekehrt: hin hao! Sid, du kommst mit einem Drink für alle davon, wenn du versprichst, nächstes Mal deine Frau mitzubringen!« Er küßte seine Fingerspitzen, und die Versammelten grinsten. Ich kam mir vor wie der Kandidat in einer Quizveranstaltung in Minne toka oder Finchberry Hill. Aber ich beschloß, gute Miene zu ma chen, und grinste ebenfalls. »Versprochen. Bai Gar oder Brandy?« Ich hätte mit keiner anderen Frage einen größeren Erfolg haben können, die Kerle schlugen sich auf die Knie vor Lachen. Offenbar hatte ich ihren humoristischen Nerv getroffen. Einer erkundigte sich, ob ich öfters Leute vergiftete. Und dann hob der Barkellner, ein Chinese, die Vierkantflasche mit dem Johnny-Walker-Etikett hoch. Epstein, den ich unter den Anwesenden entdeckte, rief mir zu: »He, Sid, dies ist nicht mehr die Höhle von Jenan, wir haben die US-Army um ein paar Tonnen Whisky erleichtert, in Korea!« Während der Barmann eingoss, begrüßte ich die einzelnen. Da waren einige Leute aus europäischen kommunistischen Ländern, deren Namen ich nicht behielt, Ungarn und Polen, Tschechen, Ostdeutsche, und da war außer Epstein ein weiterer Amerikaner, der sich als »Rittenberg« vorstellte, ein Engländer hieß Crook. Ein aus der Karibik stammender Neger mit chinesischem Einschlag fletschte freundlich die Zähne und sagte: »Jack Chen«, worauf mich Epstein belehrte, daß er Karikaturist bei »People's China« sei und sein Vater einstmals chinesischer Außenminister gewesen war. Zum Schluß winkte mir ein baumlanger Engländer zu und sagte lässig: »Hallo, gratuliere! Der Name ist Winnington. Grüße an Ihre Frau ...« Es klang sonderbarerweise nicht herablassend, er zog mit seinem Fuß einen Stuhl heran, und ich konnte mich hinsetzen, was mir lieb 457
war, weil sich so die Aufmerksamkeit nicht mehr ganz so stark auf mich allein konzentrierte. Von draußen kam ein nicht sehr großer, wendiger Mann herein, ließ sich durch Ma Hai-te den Anlaß der Whiskyrunde erklären und setzte sich dann unzeremoniell neben uns. »Burchett, gratuliere!« Der lange Engländer erklärte mir: »Wir sind bloß mal für ein paar Tage von Kaesong herübergekommen. Keine Pubs da drüben. Kein Leben wie hier. Schlagen uns bei diesem Hick-Hack von Waffenstillstandsverhandlungen herum ...« Der Whisky wurde ausgeteilt und unter großem Hallo getrunken. Irgendwer bestellte gleich die nächste Runde. »Schlimm dort, in Korea?« wandte ich mich an Winnington. Erwinkte ab. »Oh Boy, Sie haben Kriege gesehen, wie?« Dann, nachdem er einen gedankenvollen Blick in sein leeres Glas geworfen hatte, fügte er sarkastisch hinzu: »Das Schlimmste ist — im Winter, in der Nacht, wenn einem da jemand von hinten zwei Tatzen auf die Schulter legt, weiß man nie genau, ob man schießen soll oder nicht ...«
'
»Wieso?« Er lachte. »Weil man nicht sicher ist, ob es wirklich nur ein harmloser Wolf ist oder aber Wilfred Burchett, der schon wieder eine Zigarette will ...« In dieser Runde, die ganz offensichtlich nicht zum ernsten Ge spräch hier zusammengekommen war, konzentrierte sich die allge meine Aufmerksamkeit bald nicht mehr so ausschließlich auf mich wie bei meinem Eintreten. Epstein schilderte, daß man im Augen blick dabei sei, im großen Umfang die Publikation fremdsprachiger Propagandamaterialien zu organisieren, es würde Zeitschriften ge ben, bald, auch Broschüren und Bücher. Ma Hai-te erzählte von 458
einer neuen Kampagne, die mit der per Gesetz verkündeten Gleich berechtigung der Frau zu tun hatte. Dann kam er auf Kindbetthy giene zu sprechen, auf die Abschaffung der unseligen Tradition, der zufolge die meisten Bäuerinnen ihre Babys in Hockstellung zur Welt brachten, auch heute noch, wo sie niemand mehr zwang, buchstäblich bis zur Geburt im Reisfeld zu arbeiten. Er verbreitete sich
eine
Weile
über
die
schädlichen
Folgen
dieser
althergebrachten, zweifellos von Elend und Ausbeutung geprägten Verfahrensweise, verglich sie mit dem Unsinn, die Füße einzubinden, und zwischendurch bestellte wieder jemand eine neue Runde Whisky. Diesmal war es Rittenberg, ein Mann, der mir dadurch auffiel, daß seine Augen hinter dicken Brillengläsern fortwährend gleichsam brannten. »O.K., Sid«, rief Epstein diesem nicht sehr gesprächigen Ameri kaner zu, »deine Schokolade war gut, nur die Kekse waren lausig. Wir nehmen den Whisky als verspätete Entschuldigung!« Ich verstand manches nicht, was zwischen diesen Männern ge sprochen wurde. Winnington klärte mich auf: »Er war bei der UNRRA, in Shanghai. Konnte manchmal ein bißchen Toilettenpa pier statt zu Old Tschiang in unsere Gegend umdirigieren ...« »Sie waren in Jenan?« fragte ich ihn. »In der Mandschurei«, antwortete er. »Als die entscheidende Etappe begann. Ich habe den Marsch nach Peking mitgemacht.« Er lachte. »Es war angenehm, gelegentlich Toilettenpapier von Sid Rittenberg zu haben, wir schissen alle wie die Möwen. Jetzt ist er ein hohes Tier. Macht Propagandasendungen bei Radio Peking, in Englisch.« »Sie sind Korrespondent?« Der lange, seltsam gleichmütig er scheinende Mann interessierte mich, er war kein«Enthusiast, man spürte das. Ein nüchterner Beobachter. Was er wirklich dachte, ver 459
barg er — jedenfalls im Augenblick — hinter seiner glänzend vorgetragenen Party-Stimmung. Er teilte mir mit: »Daily Worker. Meine Partei hat mich hergeschickt. Wir wollen wenigstens ein bißchen von dem Bogus totmachen, den unsere bürgerlichen Blätter über China verbreiten. Sie sind ein Tu-Fu-Fan?« »Ich übersetze ihn. Versuche es. Augenblicklich habe ich aller dings die >Mauer von Leibern< in Arbeit. Kennen Sie die?« Er trank sein Glas aus, in einem langen Zug. »Habe diese Mauer gesehen. In Korea.« Es klang bitter. »Wir sollten uns öfters hier treffen«, schlug Ma Hai-te vor. »Und unsere Frauen mitbringen. Es ist gut, wenn Leute wie wir ab und zu unsere Eindrücke austauschen. Und — ein bißchen Geselligkeit schadet auch nicht ...« Man stimmte ihm zu. Inzwischen war noch ein Inder erschienen, und nun kam ein Burmese. Was mir auffiel, war, daß es keine Rus sen hier gab. Epstein meinte lakonisch: »Zu viel Arbeit. Und dann ... haben sie vielleicht auch nicht unseren Sinn für Geselligkeit ...« Es war Burchett, der ihm lachend widersprach: »Du solltest mal eine Feier bei ihnen mitmachen, Epi, ich glaube nicht, daß du das überlebst! Sie feiern selten. Aber wenn sie es tun, dann tun sie es ebenso konsequent, wie sie den Krieg geführt haben. Sieg oder Tod!« Nach dem allgemeinen Gelächter sagte Rittenberg ernst: »Sie ha ben Anweisung, sich mit uns nicht einzulassen. Wir sind für sie de kadent. Das könnte ihrem Bewußtsein schaden.« Es klang eisig. Ein peinliches Schweigen entstand. Ich hörte nur Winnington an der Pfeife vorbei, die er sich angezündet hatte, knurren: »Hat zuviel Trotzki gelesen, der arme Kerl ...« Wohl um die Situation zu ent spannen, krähte Burchett fröhlich: »Ich weiß nicht, immer wenn dieser Orlowski in Korea nachts in mein Loch krauchte und sich an 460
meinem dicken Arsch wärmte, empfanden wir uns gegenseitig nicht dekadent!« Es war vielleicht gut, daß in diesem Augenblick die Frau erschien. Sie war nicht mehr jung, groß und knochig mit angegrautem Haar, und sie trug einen chinesischen Kaderanzug. Sie forderte uns auf, ins Obergeschoß zu gehen, wo wir eine Sammlung von fotografischen Dokumenten sehen könnten, über Versuche bakteriologischer Kriegsführung durch die Amerikaner. »Wir hatten bereits während des Korea-Krieges darüber berichtet«, sagte sie mit einer ziemlich schulmeisterlichen Stimme. »Jetzt wird bekannt, daß Flugzeuge auch über der Mandschurei Container mit Bakterien abgeworfen haben. Wir sind dabei, eine Ausstellung über diese Barbarei zusammenzustellen. Vielleicht kann der eine oder andere uns dabei einen guten Rat geben ...« Sie blieb in der geöffneten Tür stehen. Wie eine Gouvernante, die zum Unterricht ruft. Es gab keinen Widerspruch gegen die Be stimmtheit, mit der sie ihren Wunsch vorbrachte. Wir erhoben uns und wanderten nach oben. Ich muß im nachhinein gestehen, daß ich von dem, was im Obergeschoss zu sehen war, einen zwiespältigen Eindruck hatte. Da waren Fotos an die Wände gepappt, auf ihnen seltsame Blechbehälter, die im Schnee lagen und aus denen Flöhe oder Läuse herauskrochen, auch Mäuse, angeblich mit Pestbazillen, Milzbrandund Cholerabakterien infiziert. Großaufnahmen zeigten auf den Blechbehältern amerikanische Vermerke, Zahlengruppen. Es gab Bilder, auf denen mobile Desinfektionstrupps der chinesischen Armee zu sehen waren, die in Dörfern mit Sprühgeräten arbeiteten, solche von B-29-Bombern und von chinesischen Toten, die angeblich an den Folgen von Infektionen verstorben waren. Dies alles machte einen gespenstischen Eindruck. Es erweckte den 461
Anschein von Authentizität, aber andrerseits schien es unglaublich. Ich schwankte, denn natürlich wurde mit bakteriologischen und auch mit chemischen Kampfmitteln experimentiert, darüber berichteten in den Staaten selbst Zeitschriften wie >Collier's< ausführlich, und man wußte, daß unsere Generäle, sofern man ihnen die Leine lang genug ließ, nicht zimperlich waren, wenn es um Tests von Waffen ging. Ich war sicher, man würde bei uns zu Hause das Ganze für ein geschickt inszeniertes Propagandamanöver erklären, aber ich wurde den Gedanken nicht los, daß dies alles tatsächlich so geschehen sein konnte. Man konnte es nicht ausschließen, das wäre gegen Vernunft und Erfahrung gewesen. Jedenfalls würde die Aktion uns schaden, so viel war mir klar. Ich hatte keine Lust, mich an den Diskussionen, wie man die Ausstellung komplettieren könnte, zu beteiligen. Ein paar nichtssagende Freundlichkeiten noch, dann brach ich auf. Ich hatte die beste Entschuldigung der Welt: eine kleine Tochter, die zu Bett zu bringen war, und sie tat es nicht, ohne die übliche Geschichte von der guten alten Wunderland-Alice ... Eine Woche später war Sandy mit dem kleinen Burt da, und da mit zog eine Menge neues Leben bei uns ein. Tage und Nächte wa ren unverhältnismäßig kalt, China erlebte einen außerordentlich harten Winter. Man erzählte sich, daß es in Gegenden am Yangtse, wo
die
Leute
auf
Minusgrade
kaum
vorbereitet
waren,
Erfrierungsfälle gab. Di-di,
stolzer Schulgänger
mit
rotem Jungkommunisten-
Halstuch, erscheint mit seiner Mutter am Abend bei uns, die beiden bringen Glückwünsche für unseren Sohn, und sie überreichen uns feierlich ein kleines Pferdchen, ein aus Stroh kunstvoll geflochtenes Spielzeug, für den heranwachsendem Burt. Di-di drückt mir noch einen Flugzettel in die Hand, wie ihn jeder Bewohner der Gasse von 462
ihm bekommt: die Volksregierung ruft zum »Kampf mit geschwungenen Bannern und laut geschlagenen Trommeln < auf. Diesmal geht es gegen >Drei Übel< und >Fünf Übel<. Die >Drei< sind Korruption, Verschwendung und Bürokratie, jeder soll gegen sie mutig zu Felde ziehen. Die >Fünf< sind Bestechung, Steuerbetrug, einfacher Betrug, Diebstahl von Staatseigentum und Verrat von Staatsgeheimnissen. Das alles geht zwar etwas durcheinander, aber es ist zu erkennen, daß dahinter die Absicht steht, alle Leute auf traditionelle wie neue >Üble Gewohnheiten < im Lande aufmerksam zu machen, mit dem Ziel, sie zu eliminieren. Ein sauberer Staat der Arbeiter und Bauern soll China werden, so steht es da geschrieben, und ich nehme es zur Kenntnis, während Di-di noch schnell einen Blick auf den friedlich schlummernden Burt werfen darf. Dann kommen die anderen Nachbarn, alle mit kleinen Geschenken, billigen Farbdrucken oder Stofflöwen — wenn Burt nur erst so groß wäre, daß er damit spielen kann! An einem Vormittag erscheint Tso Wen. In den frühen Morgenstunden hat es geschneit, leicht nur, wie das in diesen Breiten üblich ist, so daß über Peking eine hauchdünne Schneedecke liegt, die bis zum Mittag von der Sonne aufgesogen ist. Solche Schneefälle bezaubern die Pekinger auf besondere Weise, sie erfreuen sich wie Kinder am Anblick der verzuckert wirkenden Dächer und Bäume. Für sie ist die >weiße Pracht< ein Ausdruck rarer Schönheit, und vor allem die Kunstmaler haben immer wieder diese seltenen Anblicke auf ihren Bildern festgehalten. Wenn man die Schaufenster mancher Kunstläden betrachtet, könnte man zu dem Eindruck gelangen, das Charakteristikum Pekings sei eine hauchfeine Schneedecke und dicker Reif an dürren Ästen! Tso Wen kommt, als die Pracht schon verdunstet ist, er nimmt mich mit zu Kang Sheng, in einem neuen Auto, einem russischen 463
Modell,
das
einen
leidlich
modernen
Eindruck
macht,
leistungsfähig zu sein scheint und den Typennamen >Pobjeda< trägt, was, wie mir Tso Wen beiläufig erklärt, >Sieg< heißt. Das Gespräch mit Kang Sheng lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein Gebiet, für das ich mich bisher wenig interessiert habe. Im Ge folge des Krieges in Asien, teilweise durch ihn hervorgerufen oder begünstigt,
ist
Kolonialländer
eine in
umfassende
Richtung
auf
Bewegung staatliche
ehemaliger
Unabhängigkeit
entstanden. Kang Sheng hat mit mir über eines dieser Länder gesprochen.
An Holly Zusammenkunft auf Wunsch meines Gesprächspartners. Fol gende Gesichtspunkte zu übermitteln, über die nach Meinung mei nes Gesprächspartners eine US-China-Abstimmung im beiderseiti gen Interesse dringend nötig wäre: Situation in Indochina verschärft sich täglich. Nach hiesigen Er wägungen ist Frankreich trotz US-Hilfe nicht mehr in der Lage, eine positive Entscheidung herbeizuführen, kann die gegenwärtige Belastung im Höchstfalle noch ein bis zwei Jahre durchhalten. Bis dahin wird der Viet-Minh alle wichtigen strategischen Positionen in Indochina entweder besetzt haben oder durch Einkreisung paralysieren können. Für die USA kann dadurch — bei weiterem Engagement —die Notwendigkeit des Truppeneinsatzes entstehen. Die kommunistischen Organe in Vietnam müssen von Volks china aus prinzipiellen Gründen unterstützt werden, solange sie aus ländischer Intervention ausgesetzt sind. Die Sowjetunion unterstützt 464
diese Organe ebenfalls.
Volkschinas Transportwege müssen
aus Bündnisgründen für sowjetische Hilfslieferungen nach Vietnam zur Verfügung gestellt werden. Volkschina befürchtet, daß es nach dem unvermeidlichen Ausscheiden Frankreichs aus dem Konflikt in Indochina zu einer bewaffneten Auseinandersetzung vom Charakter des Korea-Krieges kommen könnte. In diesem Falle würde China Truppen zur Unterstützung der vietnamesischen Volksorgane entsenden müssen, was zweifellos die unnötige Konfrontation China—USA weiter verhärten würde. Es sollte auf beiden Seiten im gegenseitigen Interesse nach Lösungen gesucht werden, die das vermeiden. Volkschina tritt offiziell dafür ein, daß die Völker Indochinas ihre innenpolitischen Probleme ohne ausländische Einmischung lö sen. Das entspricht vernünftigen Überlegungen: Auf lange Sicht könnten auch die USA militärisch in Vietnam keine zufriedenstel lende Lösung erkämpfen, es sei denn, sie wären bereit, den Konflikt zum >Weltkrieg< auszuweiten. Würden die USA sich allerdings zur Zurückhaltung im Indochina-Konflikt entschließen, so scheinen langfristig mit den dortigen Volksorganen Vereinbarungen möglich, die amerikanische Interessen in diesem Raum in hohem Maße wah ren würden. Volkschina erklärt sich bereit, in diesem Sinne Einfluß auf die vietnamesischen Volksorgane zu nehmen. Dies könnte in der Perspektive dazu führen, daß der sowjetische Einfluß in dem fraglichen Gebiet eingedämmt würde, wogegen Volkschina und die Vereinigten Staaten Vietnam (und anderen, dann selbständigen Staaten in Indochina) gemeinsam Aufbauhilfe leisten. Volkschina würde
das
als
ein
vielversprechendes
Projekt
künftiger
Zusammenarbeit auf dem asiatischen Festland betrachten. Da Frankreich fraglos über kurz oder lang aus dem Indochina konflikt ausscheiden wird, wofür es vor allem in der französischen 465
.innenpolitischen Szene unverkennbare Anzeichen gibt, liegt der Schlüssel für die Anbahnung einer weiterführenden Lösung in dem beschriebenen Sinne ausschließlich bei der US-Regierung. Volks china ist zur Zusammenarbeit bereit und würde nur ungern in einen ausgeweiteten
Indochinakonflikt
eingreifen.
Eine
erneute
Konfrontation China-USA liegt nicht in der Absicht Volkschinas, sie könnte lediglich durch Umstände erzwungen werden, die durch das Nichtverstehen der Situation und der langfristigen Absichten Volkschinas in den USA verursacht werden.
Der Gesprächspartner betont, daß er jederzeit zu vertraulicher Erörterung von Einzelproblemen wie auch von konzeptionellen geo-politischen Fragen zur Verfügung steht, ungeachtet der Komplikationen, die sich aus dem Korea-Krieg ergeben haben. Alle offiziösen chinesischen Verlautbarungen und sonstigen politischen Äußerungen ändern nichts an dieser grundsätzlichen Bereitschaft.
18. Januar 1952
466
Violet 30. Mai 1952 Seit Tagen sind alle Zeitungen mit seitenlangen Berichten über bakteriologische Kriegsführung der Vereinigten Staaten in Korea angefüllt, mit Bildern, Untersuchungsprotokollen, Totenziffern — und mit Eingeständnissen amerikanischer Air-Force-Angehöriger, die an solchen Aktionen beteiligt waren und das Pech hatten, wie wir sagen, >mit herabgelassener Hose< dabei erwischt zu werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es bei Fälschungen be stimmte kritische Details gibt, die man aus Mangel an genauer Kenntnis geschickt übergeht, hinter unwesentlichen Angaben gleichsam verschwinden läßt; der Journalismus, wie wir ihn zu Hause betreiben, liefert viele Beispiele dafür, die allerdings nur der geschulte Leser erkennt. Hier verhält es sich anders. Es sind gerade die Details, die in den chinesischen Berichten stutzig machen, sie stimmen, und aus ihnen entnehme ich, daß wir wohl tatsächlich den Korea-Krieg dazu benutzen, eine Anzahl neuer Waffen zu erproben, einschließlich bakteriologischer, die man in den einschlägigen Kreisen der Vereinigten Staaten gegenwärtig neben chemischen Kampfstoffen für die brauchbarsten > Massenvernichtungsmittel unterhalb der Atomschwelle< hält. Ich habe mir die Arbeit gemacht, das zu analysieren, was die Chinesen darlegen. Danach stützt sich die Kampagne im wesentlichen auf die Gefangennahme zweier amerikanischer Flieger, des First Lieutenants John Quinn, der als Pilot eine B-26 flog, und seines Navigators, des First Lieutenants Kenneth L. Enoch. Beide sind — als einzige Besatzungsmitglieder der abgeschossenen Maschine mit der Nummer XX600 — am Leben geblieben, sie sind auf Fotos abgebildet, auf denen gleichzeitig 467
chinesische und ausländische Journalisten zu sehen sind, es gibt ein Bild, auf dem Burchett mit ihnen spricht. Kein Zweifel, daß sie leben und daß sie in den Untersuchungen das gesagt haben, was sie wissen. Kein chinesischer Propagandist kann sich das ausgedacht haben, es sei denn, er verfügte über hellseherische Fähigkeiten: die Maschine gehörte zur 5. US-Luftflotte, war in die 8. Staffel der 3. Gruppe
des
3.
Kommandeur
ein
Bombergeschwaders Oberst
namens
eingestellt,
Ohman
ist.
dessen
Sogar
der
Gruppenkommandeur ist namentlich angeführt (Colonel Morgan), ebenso wie der Staffelkapitän (Lieutenant-Colonel Leahy). Wenn die Chinesen sich das alles ausgedacht hätten, würde es von uns längst triumphierend dementiert worden sein — nichts dergleichen geschah. — Quinn und Enoch machten erstaunlich präzise Aussagen, so be kannte Enoch, daß er Ende August 1951 auf dem Stützpunkt Iwa kuni in Japan die erste Belehrung über die Wirkungsweise von bak teriellen Kampfmitteln erhalten hatte, zwei weitere folgten auf dem Stützpunkt Kunsan in Korea im Oktober und Dezember. Quinn war nur einmal instruiert worden, in Kunsan, zusammen mit Enoch und anderen. Beide nannten sogar die Namen der Instrukteure, und sie zählten etwa zwei Dutzend Namen von Kameraden auf, die ebenfalls für den Umgang mit dem neuen Kampfmittel geschult worden waren. Und sie machten Angaben über Art und Einsatzmöglichkeiten der Bakterienbomben verschiedenen Typs. Außer simplen Pappcontainern, die am Boden bersten und den Inhalt, infizierte Insekten und Parasiten, freigaben, verwendete man bombenähnliche Blechbehälter, die sich bereits in einer Höhe von einigen hundert Metern über der Erde öffnen und ihren Inhalt verstreuen, es wurde sogar mit Sprühanlagen an den Maschinen gearbeitet, aus denen im Tiefflug ganze Landflächen mit infizierten 468
Insekten verseucht werden können, wie es scheint, paßte man die Art und Weise des Absetzens den jeweiligen Gegebenheiten sowie den
Eigenschaften
der
infizierten
Tiere
an.
Über
die
Krankheitserreger gaben Enoch und Quinn an, daß es sich um Beulenpest, Typhus, Cholera, Pocken, Gelbfieber, Enzephalitis und Malaria handelte, sowie um einige spezifische Erreger von Tierseuchen wie Milzbrand und Maul- und Klauenseuche. Bei den abgeworfenen Insekten machten Fliegen, Flöhe, Moskitos und Läuse den Hauptanteil aus. Die Laboratorien, in denen sie gezüchtet und infiziert wurden, liegen mit Sicherheit in den Vereinigten Staaten. Ich habe mit Sandy über die Sache gesprochen, ihr mußte ich vie les vorlesen, was in den Zeitungen stand, weil sie zwar inzwischen ein sehr anständiges Chinesisch spricht, Schriftzeichen aber nur in geringer Zahl lesen kann. Sie meint, an der Aktion sei sicherlich durch die Zeitungen vieles aufgebauscht worden, allerdings stehe fest — das habe auch sie im Volkskrankenhaus beobachten können —, daß Desinfektionsmittel und Substanzen zur Ungezieferver nichtung ausgesprochen knapp seien. Früher beispielsweise hätte man alle Zimmer und Korridore des Hospitals täglich mit Desinfek tionslösung geschrubbt, heute schrubbe man sie zwar auch noch täglich, aber mit grüner Seife, und nur einmal in der Woche verwende man eine bescheidene Beigabe von Kreosot. »Und du hältst das für eine Bestätigung dafür, daß man die Desinfektionsmittel im Nordosten und in Korea braucht?« fragte ich sie. »Man hat mir ganz offiziell erklärt, daß sie deshalb zeitweilig knapp wären. Es würde sich bessern, sobald die Sowjets Hilfe schickten, sie sei bereits unterwegs, aber die sowjetischen Mittel kämen in großen Tankwagen. Da die Eisenbahnlinien in Korea 469
ziemlich zerstört sind, kann man das Zeug nicht schnell genug an Ort und Stelle transportieren, man müsse es umfüllen, dafür wiederum müßte man erst geeignete Anlagen und kleinere, mit Lastwagen zu transportierende Behälter beschaffen ...« Als ich sie nach den Konsequenzen befragte, die sie sich vorstel len könnte, nachdem der Krieg durch die Bakterienaktionen gewis sermaßen eine neue Dimension bekommen hatte, bewegte sie ratlos die Schultern und meinte: »Jeder neue Krieg wird automatisch neue Waffen hervorbringen. Eine davon wird immer grausiger sein als die andere. Hast du Napalmverletzte gesehen?« Ich kannte Fotos von Körpern, deren Haut selbst nach einem langen Heilungsprozeß nur noch aus verschwarteten Wülsten bestand. »Das nächste werden Chemikalien sein«, sagte Sandy düster vor aus. Ich mußte mich zwingen, nicht an unsere Kinder zu denken. Enoch und Quinn waren nach eigenen Angaben am 13. Januar um 21 Uhr 45 mit ihrer B-26 in Kunsan gestartet, mit dem Auftrag, ihre Bakterienbehälter über Anju, einer Ortschaft nordwestlich Phönjangs abzuwerfen. Bevor solche Besatzungen starten, pflegen sie den Inhalt des Bombenschachtes sowie die an den Tragflächen befestigten Bomben noch einmal auf einwandfreie Beschaffenheit der Aufhängevorrichtung und der Zünder zu kontrollieren. Enoch und Quinn gaben zu Protokoll, daß ihnen diese Inspektion — wie schon bei früheren Flügen mit Bakterienbehältern — auch diesmal verwehrt wurde, spezielle Posten bewachten die Maschine und ließen selbst die Besatzung nicht mehr an die Last heran. Eine Sicher heitsmaßnahme, die darauf hindeutete, daß die Bakterienwaffe in der Tat noch im Zustand der Erprobung war. Knapp zwei Stunden nach ihrem Start, um 23 Uhr 30, als die B 26 ihre im offiziellen militärischen Sprachgebrauch innerhalb des Geschwaders als >Blindgänger< bezeichneten Behälter abgeworfen 470
hatte, wurde sie von gegnerischer Flak getroffen. Zwei weitere Besatzungsmitglieder, der Bombenschütze Downes und der Mechaniker Campbell waren tödlich verletzt, Quinn und Enoch konnten sich mit ihren Fallschirmen retten. Sie wurden von Angehörigen
einer
chinesischen
Freiwilligeneinheit
gefangengenommen. Wenn man sie auf den Bildern sah, machten sie nicht den Eindruck, Torturen ausgesetzt gewesen zu sein, sie trugen
zwar
die
von
den
Chinesen
ausgegebene
billige
Drillichkleidung, sahen aber sauber und gesund aus, Quinn trug einen Schnauzbart. Enoch rauchte auf der Abbildung eine Zigarette, während er etwas schrieb. Beide hatten Statements verfaßt, in denen sie ihr Bekenntnis abgaben, Bakterien abgeworfen zu haben, aber sie zeichneten auch substantielle Angaben über ihre Person und ihre militärische Karriere auf. Ich halte einiges davon hier fest, weil ich den Gedanken nicht loswerde, daß diese Sache weit reichende Konsequenzen haben kann. Es wird internationale Proteste geben, eine Verletzung der Haager Landkriegsordnung, für wie veraltet man sie immer hält, liegt zweifellos vor, ebenso ein Verstoß gegen ungeschriebene Prinzipien der Menschlichkeit. Die chinesischen Zeitungen verschweigen denn auch nicht, daß selbst die deutschen Faschisten es nicht gewagt haben, bakteriologische oder chemische Kampfmittel anzuwenden — fraglos haben wir das zum ersten Mal in der Geschichte der bisherigen Kriege getan, und zwar nach chinesischen Angaben in insgesamt 804 festgestellten Fällen, wobei sich die Ziele über weite Strecken Nordostchinas erstrecken, bis in die Nähe von Tsingtao. Ich mache mir Gedanken, welche Folgen das haben wird. Fraglos sind alle Bemühungen der Chinesen um Kontakte mit uns und um eine behutsame Annäherung durch die Bakterienaktion unserer Mi litärs ernsthaft gefährdet. Mühsam aufgebautes Vertrauen in die an 471
dere Seite, sowenig auch davon bislang vorhanden ist, wird zerschlagen. Ich bin böse darüber. Wozu arbeite ich hier? Wozu verbringe ich meine besten Jahre mit dem Offenhalten dieses einzigartigen Kanals, wenn unser militärisches Oberkommando alles, was ich systematisch aufbaue, mit einer einzigen derartigen Dummheit sogleich wieder einreißt? Doch es gibt noch andere Überlegungen: Werden die Sowjets (natürlich auch die Chinesen selbst) nun automatisch Bakterienwaffen in
ihre
Arsenale
aufnehmen, um mit gleicher Münze antworten zu können? Die Sowjets hatten bewiesen, wie schnell sie unsere Drohgebärden unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit der Atombombe zu kontern imstande waren, indem sie >nachzogen<. Würden sie eine derartige Eskalation der Waffentechnik, wie sie der Bakterienkrieg darstellte, ablehnen und unsere Experimente lediglich verbal als >Kriegsverbrechen< deklarieren? Oder würden sie noch etwas anderes, bisher Unausdenkbares dagegen tun? Es ist Angst, was ich bei diesen Überlegungen empfinde, darüber werde ich mir klar. Ganz plötzlich haben wir die Welt, die ohnehin am Bande eines Atomkrieges balanciert, auf neue Art vor eine weit reichende Entscheidung gestellt. War das klug? Haben unsere Militärs nicht damit rechnen müssen, daß diese Sache aufgedeckt wird? Sie mußten diese Befürchtung haben, besonders, nachdem die Sowjets bei ihrem Feldzug gegen die Japaner in der Mandschurei Geheimlabors der Japaner entdeckt hatten, Bakterienwaffen
im
Anfangsstadium
in denen
experimentiert
mit
wurde.
Trotzdem ... Hier — vielleicht für künftige Zeiten festgehalten — einiges aus den Angaben der beiden US-Flieger. Enoch : Mein Name ist Kenneth L. Enoch, First Lieutenant in der US-Air Force. Meine Dienstnummer ist AO-2069988. Ich wurde 472
am 14. Januar 1925 in Washington, Pennsylvania geboren. Meine gegenwärtige Heimatadresse ist: Youngtown, Ohio, 18. South Osborne Street, wo ich mit Mutter, Bruder, Schwester und Schwager gelebt habe. Ich absolvierte im Januar 1943 die High School, arbeitete dann in einem Stahlwerk und trat am 7. Juni 1943 in die Air Force ein. Nach der Ausbildung als Bordschütze und Navigator wurde ich als Navigator auf der B-24 in Casper, Wyoming und in Langley Field, Virginia einer weiteren Ausbildung unterzogen. Ich diente danach in China und auf Okinawa, während des 2. Weltkrieges, dabei flog ich insgesamt 21 Einsätze. 1947 verließ ich den aktiven Dienst, arbeitete in verschiedenen Stahlwerken und absolvierte zwei Jahre auf einem College. Danach nahm ich eine Arbeit in einem Kraftwerk auf, zu Beginn des Koreakrieges wurde ich zum aktiven Dienst zurückberufen. Mitte August 1951 war ich bereits in Übersee, am 1. September begann mein Dienst auf dem Air Force Stützpunkt Kunsan, Korea ... Ich habe über Korea insgesamt 32 Einsätze geflogen, alle mit der B-26.
Die
Verkehrswege,
Einsätze
richteten
Fahrzeugkolonnen,
sich
vornehmlich
Eisenbahnzüge,
gegen Brücken,
Bahnhöfe und Flugplätze. Von den Einsätzen flog ich 30 mit normalen Sprengbomben, 2 mit Bakterienbehältern ... In der Nacht des 13. Januar waren wir gegen 23 Uhr 30 über dem Ziel, in etwa 5 000 Metern Höhe, als wir von der Flak getroffen wurden. Wir verloren sofort an Höhe, wenige Minuten später stieg ich mit dem Fallschirm aus der brennenden Maschine aus, ungefähr 10 Meilen nordwestlich der Ortschaft Sunan ... Weil ich die Reißleine aus der Hand verloren hatte und sie erst wieder suchen mußte, verlor ich viel Zeit und stürzte sehr tief, mein Fallschirm öffnete sich knapp über dem Boden, in etwa 15 Metern Höhe. Ich war noch beim Ablegen der Fallschirmgurte, als ich er 473
kannte, daß chinesische Soldaten mich bereits umstellt hatten. Die Maschine war wenige hundert Meter entfernt aufgeschlagen und brannte aus ... Meine erste Belehrung über bakteriologische Waffen erhielt ich in Iwakuni, Japan, von einem Zivilisten namens Wilson. Mr. Wilson betonte, daß diese Belehrung streng geheim sei, es nahmen etwa 10 weitere Piloten und 15 Navigatoren daran teil ... Mr. Wilson sprach über verschiedene Typen bakteriologischer Waffen. Er erwähnte, daß man sie in Blechbehältern befördern könnte, die den normalen Bomben ziemlich ähnlich sahen, nur wä ren sie eben mit infizierten Insekten gefüllt. Beim Aufschlag würden sie sich öffnen. Infizierte Insekten können auch in einfachen Pappcontainern befördert werden, die beim Aufschlag die Tiere freisetzen. Weiterhin können Container an Fallschirmen abgeworfen werden, meist tut man das, wenn man Schädlinge wie Ratten oder Mäuse befördert, die infiziert sind. Es gibt Methoden, solches Ungeziefer auch von Bord spezieller Landeboote in Richtung Land abzulassen, und zwar an stillen Küsten hinter den gegnerischen Linien. Eine andere Methode ist, bakterientragenden Staub direkt aus einem Flugzeug aus geringer Höhe abzulassen, man kann das über Seen, Flüssen, Wasserreservoirs usw. tun, um die Trinkwasserversorgung zu stören ... Im Oktober und Dezember 1951 nahm ich in Kunsan an zwei weiteren Belehrungen über Bakterienwaffen teil, die der für Kunsan zuständige Offizier für Information und Erziehung, Major Browning abhielt... Am 7. Januar, um 2 Uhr nachts hatte ich einen Flug mit Bakte rienwaffen anzutreten. Wir starteten um 3 Uhr mit dem Ziel Hwangju, nicht weit von Sariwon entfernt. Damals gingen wir bis auf etwa 150 Meter tief hinab, drosselten die Geschwindigkeit und 474
warfen zwei Container mit Bakterien am Westrand von Hwangju ab. Zeit des Abwurfs war 4 Uhr morgens. In meinem Flugbericht hatte ich die Abwürfe von Bakterienbehältern speziell zu deklarieren, nämlich als den Abwurf von >2 FünfzentnerBlindgängern< ... Am 10. Januar um 3 Uhr nachts startete ich erneut zu einem sol chen Flug, diesmal mit dem Abwurfziel nördlich von Chunghwa. Wir umkreisten Chunghwa, gingen auf etwa 150 Meter hinab und setzten die Container über dem westlichen Teil von Chunghwa ab, um 4 Uhr 10 ... Quinn: Mein Name ist John Silas Quinn. Ich wurde am 16. April 1922 in Pittsburg, Kansas geboren und bin jetzt First Lieutenant in der US-Air Force. Meine Dienstnummer ist 17993 A. Die Adresse meiner Familie ist: 1090 North Marengo Avenue, Pasadena, Kalifornien.
'
Im Mai 1943 trat ich in eine Reserveeinheit des US-Marinecorps in Pasadena ein, zur Air Force kam ich im Februar 1948. Im Fe bruar 1949, nach Absolvierung einer Kadettenschule kam ich auf den Luftstützpunkt Craig Base, Alabama. Dort blieb ich bis zum 25. August 1951, dann ging ich zum Stützpunkt Langley, um auf der B 26 trainiert zu werden. Am 27. November kam meine Versetzung nach Korea, ich meldete mich in Kunsan am 1. Dezember ... Ich wurde mit derselben Maschine abgeschossen, in der First Lieutenant Enoch flog, am 13. Januar 1952. Nach meiner Gefangennahme
wurde
ich
anständig
behandelt,
von
der
Koreanischen Volksarmee wie auch von den chinesischen Freiwilligen ... Am 18. Dezember 1951 erhielt ich in Kunsan meine Belehrung über Bakterienwaffen, sie wurde von einem Mr. Ashfork gegeben. Uns wurde gesagt, diese Information sei streng geheim und wir 475
sollten selbst unter uns nicht weiter darüber sprechen ... Ich habe zwei Bakterienbomben am 4. Januar abgeworfen, und zwar in der Nähe von Phönjang ... Am 11. Januar warf ich zwei weitere Bakterienbomben etwa drei Meilen nördlich von Kunari ab ... Andere Angehörige meines Geschwaders, von denen ich weiß, daß sie mit Bakterienwaffen Einsätze flogen, waren Kenneth L. Enoch, Jack Larson, ein gewisser Schmidt und Francis Duffy, ich weiß das, weil ich in derselben Unterkunft mit ihnen wohnte ... Ohne mit Sandy darüber zu beraten, weil ich fürchtete, daß sie mich vielleicht von meinem Vorhaben abhalten würde, rief ich Kang Sheng an. Am Morgen war plötzlich Tso Wen da, zehn Minuten nach dem Anruf, daß er mich abholen käme. Ich hatte mir zuvor gut überlegt, wie ich Kang Sheng meinen Standpunkt am geschicktesten darstellen konnte, um die Antworten zu erhalten, an denen mir gelegen war. Also begann ich damit, daß ich dem >engsten Vertrauten des Genossen Vorsitzendem, wie er sich selbst einmal bezeichnet hatte, meine Entrüstung über die Bakterienangriffe darlegte und ihm meine Besorgnis über die Entwicklung eingestand, die sich da anbahnte.
Ich
machte
nicht den
geringsten Versuch,
die
chinesischen Publikationen in Frage zu stellen, absichtlich, um meinen Gesprächspartner von vornherein aufgeschlossener zu machen und ihn zu überzeugen, daß es mir ernst sei mit meinem Anliegen: Würde China noch einmal zu einem Ausgleich bereit sein, oder würde es in Kooperation mit den Sowjets zu Gegenmaßnahmen schreiten? Würde China ab sofort ebenfalls bakteriologische Kampfmittel in seinen Waffenbestand aufnehmen? Gäbe es, sofern die USA die Abwürfe stillschweigend einstellten, 476
die Möglichkeit, sich für die Zukunft auf eine Ausklammerung solcher Waffen zu einigen? Ich bot mich unverhüllt als Vermittler in dieser von mir in ihrer ganzen Gefährlichkeit erkannten Lage an, das verfehlte nicht seinen Eindruck auf Kang Sheng, wie ich bald merkte. Wir spazierten nebeneinander am Ufer des Nan Hai entlang, weit hinter uns schlenderte ein Zivilist, offenbar der persönliche Bewa cher Kang Shengs, sonst war niemand weit und breit zu erblicken an diesem Tage des in den Sommer übergehenden Pekinger Frühlings. Kang Sheng hörte mir aufgeschlossen zu, ein wenig überrascht auch, er hatte wohl nicht vermutet, daß ich ihn ausgerechnet
wegen dieser
Angelegenheit
sprechen wollte.
Schließlich setzten wir uns auf eine Bank, die im Schatten einer alten Trauerweide am Ufer stand. Kang Sheng vertrug Sonnenlicht schlecht, es machte ihn blinzeln. Im Schatten der Weide, als ich mit meinem Anliegen am Ende war, schwieg er zunächst eine Weile und blickte auf das ruhige Wasser. Dann sprach er über die Schönheit des Tages, über die Impulse, die von dem ruhigen Vorsommerwetter mit seinen mäßigen Temperaturen auf die Menschen ausgehen, und plötzlich sagte er: »Da oben im Nordosten sieht es nicht so gut für die Leute aus. Wir haben eine Menge Vorkehrungen zu ihrem Schutz treffen müssen, immer noch müssen Desinfektionstrupps weite Landstriche mit Chemikalien besprühen, es gibt überfüllte Hospitäler — aber wir glauben, die akute Gefahr ist beseitigt...« »Obwohl niemand sicher sein kann, daß es nicht neue Angriffe dieser Art gibt?« Er lächelte. Legte beide Arme auf die Rückenlehne der Bank, streckte sich, dann sah er mich durch seine dicken Brillengläser beinahe belustigt an und sagte: »Kamerad Robbins, Ihre Sorge ist 477
verständlich. Jeder, der die Annäherung zwischen China und den Vereinigten Staaten anstrebt, empfindet das, was Ihre Militärs da getan haben, als einen neuen Rückschlag. Zumal es zu einer Zeit kommt, wo wir absehen können, daß der Krieg in Korea ausläuft. Sehen Sie, gegenwärtig wird um die besten Positionen gekämpft, da oben. Und Ihre Landsleute sind bemüht, den Norden Koreas, von dem sie nun wissen, daß sie ihn nicht bekommen, so durch Bom bardements zu verwüsten, daß er für viele Jahre Brachland ist. Das alles kommt nicht überraschend, die Bakterienangriffe allerdings haben uns überrascht. Nur — wir haben unsere eigenen Informationsquellen, sie sind ziemlich zuverlässig, aus ihnen erfahren wir, daß es sich bei den Abwürfen um einen ausgedehnten Test handelt, mehr ist das nicht, ein Test auf Wirkung und auf unsere Reaktion. Inzwischen sind die Abwürfe übrigens eingestellt worden. Das kommt unseren Absichten entgegen. Wir werden selbstverständlich sehr viel propagandistischen Gebrauch von dieser barbarischen Aktion machen. Aber es wird dabei bleiben, wenn nicht die Vereinigten Staaten ihrerseits zu einer Fortführung der Angriffe übergehen ...« Er setzte mir geduldig auseinander, daß China an keiner militäri schen Auseinandersetzung mit den USA interessiert sein, der Koreakrieg stelle schon eine Belastung dar, die sich als erheblich störend erweise. China habe eine Unzahl ökonomischer Probleme zu lösen, die Erkundung und Erschließung der Naturressourcen sei mit sowjetischer Hilfe eingeleitet worden, nach und nach werde die Infrastruktur des Verkehrswesens verbessert — kurz, es bestünde in den führenden Kreisen des Landes das Bedürfnis, auf absehbare Zeit jedem militärischen Abenteuer aus dem Wege zu gehen. »Aber das alles kann sich ändern, wenn die amerikanische Seite die Bakterienabwürfe fortsetzt?« 478
Er nickte. »Dann würde sich die gesamte Situation ändern, Kamerad Robbins. Wir möchten das nicht, bitte, informieren Sie Ihre Vorgesetzten davon, aber in einem solchen Falle würden wir natürlich gemeinsam mit unseren Verbündeten neue Überlegungen anstellen müssen ...« »Wird die Sowjetunion reagieren?« Er verschloß sich. Antwortete knapp: »Die Sowjetunion strebt eine Ächtung der Bakterienwaffen an, ebenso wie eine Ächtung der Nuklearwaffen. Sie ist nicht bereit, von diesem Prinzip abzugehen. Unter uns gesagt — auch die Sowjetunion braucht Ruhe.« Wir erörterten das Problem noch weiter, aber ich gewann immer mehr den Eindruck, daß es für Kang Sheng schon so gut wie erledigt war, was mich ebenso sehr erstaunte wie beruhigte. Natürlich, und das war das unvermeidliche Risiko, war von Kang Sheng nicht zu erfahren, ob es nicht doch bei passender Gelegenheit eine Revanche geben würde, doch es schien im Augenblick wohl keine abgeschlossene Meinung im Führungsgremium darüber zu geben. Bevor wir unseren Spaziergang um den See fortsetzten, hob Kang Sheng die Hand und rief damit seinen Bewacher herbei. Ohne daß ich mithören konnte, trug er ihm etwas auf, und der Mann ver schwand. Wir gingen weiter. Kang Sheng gab mir deutlich zu verstehen, daß er auf die ganze Angelegenheit nicht weiter zurückkommen wollte. Er sprach über Schwierigkeiten in der Landwirtschaft, Bevölkerungszahl,
über
das
die
nur
Problem schwer
in
der
explodierenden
Einklang
mit
dem
Nahrungsmittelaufkommen zu bringen war, er klagte über Arbeitsmangel, der es zu vielen Leuten unmöglich machte, Geld zu verdienen,
der
aber
andrerseits
dazu
zwang,
veraltete,
arbeitskräfteintensive Produktionsweisen beizubehalten, nur um 479
Menschen zu beschäftigen, und so eine Technisierung und Mo dernisierung vieler Zweige der Produktion in weite Ferne rückte — dies alles schienen die Fragen zu sein, mit denen die chinesische Führung gegenwärtig beschäftigt war, und das leuchtete mir durch aus ein, weil ich aus der Beobachtung der Lebensverhältnisse ähnli che Schlüsse gezogen hatte. Meine Sorge, daß die Aktion unserer Militärs uns blitzartig in die große militärische Konfrontation treiben
könnte,
schwand.
Am
Ausgangspunkt
unseres
Spazierganges angekommen, übergab der Bewacher Kang Sheng einige Papiere, die dieser nach kurzer Durchsicht mir überreichte. »Sie dürfen das an Ihre Vorgesetzten weiterleiten, es liegt uns so gar viel daran. Zusammen mit der Bemerkung, daß es von unserer Seite keine Vergeltungsmaßnahmen auf gleicher Ebene geben wird, falls die Angriffe sich nicht wiederholen ...« Ich warf einen Blick in die Papiere. Es waren abgelichtete hand schriftliche Statements der beiden so oft in den Zeitungen zitierten amerikanischen Flieger. »Was wird aus ihnen?« Er schien mich nicht sogleich zu verstehen, fragte zurück: »Sie meinen die beiden Offiziere?« »Ja.« Er winkte ab. »Das übliche. Sie sind bereits in eines der Kriegsgefangenenlager übergeführt worden. Sobald das Abkommen über den Austausch der Gefangenen zustande kommt, werden sie ausgeliefert.« »Keine Sonderbehandlung?« Es schien mir wenig glaubhaft. Aber Kang Sheng lächelte nur verschlagen und stellte mir die Gegenfrage: »Warum sollten wir das tun? Sie haben uns alles gesagt, was sie wissen. Wir sind sicher, sie werden als Offiziere nach ihrer Heimkehr in die Vereinigten Staaten weitaus mehr 480
Schwierigkeiten bekommen, als sie bei uns hatten ...« Ich besah mir die Statements erst zu Hause, in Ruhe. Kein Zwei fel, dies waren Handschriften von Amerikanern. An Holly schickte ich sie auf dem derzeit üblichen Weg, von dem ich argwöhnte, daß er unauffällig von Kang Sheng selbst möglich gemacht worden war (der Bankreisende). Seltsam — ich war absolut nicht das, was man auch nur im entferntesten einen > Spion < nennen konnte, ich war vielmehr eine Art Zwischenträger geworden, etwas, das mir bei meinem Entschluß, in China zu bleiben, keineswegs vorgeschwebt hatte. Und doch war das, was ich hier versah, ohne nennenswerte Gefährdung für mich selbst, wohl eine in ihrer Bedeutung weit über landläufige Spionage hinausgehende Aufgabe.
An Holly Rücksprache mit K. Sh. am 28.5. 1952 auf meinen Wunsch. Ge genstand: die von der chinesischen Presse veröffentlichten Einzel heiten über Abwürfe von Bakterien in Korea und Nordostchina durch unsere Air Force. 1.) Chinesische Führung wird Angriffe mit Bakterienwaffen weiterhin als Verletzung geltenden Kriegsrechtes und anderer internationaler Rechtsgrundsätze propagandistisch auswerten, mit dem Ziel der 380 Ächtung dieser Waffen und der Verurteilung der USA wegen ihres Gebrauchs. Chinesische
Führung
betrachtet
Angriffe
mit
Bakterienwaffenintern als Tests, lehnt solche Waffen aber für sich selbst ab, aus grundsätzlichen Erwägungen und offenbar in Übereinstimmung mit den Sowjets und deren Bemühungen, 481
bestimmte Massenvernichtungsmittel international zu ächten.
Gegenaktionen der chinesischen (oder sowjetischen) Seite mitgleichartigen Waffen sind nach Angabe von K. Sh. nicht zu erwarten, was im Zusammenhang mit der von China und der Sowjetunion bezogenen moralischen Position im internationalen Rahmen zu sehen ist. Hilfsaktionen der Sowjets beschränken sich auf Lieferung von Desinfektionsmitteln und Abwehrspezialisten sowie die medizinische Betreuung Betroffener.
Mein Eindruck ist, daß diese Festlegungen unter dem Gesichts punkt erfolgt sind, daß die Air Force weitere Angriffe mit Bakterienwaffen einstellt. Im Falle der Fortsetzung ist damit zu rechnen, daß in der Sowjetunion neue Überlegungen angestellt werden, die dann Auswirkungen auf das chinesische Verhalten haben könnten.
Gefangene Air-Force-Angehörige Enoch und Quinn werden nach Angabe von K. Sh. wie normale Kriegsgefangene behandelt und würden im Falle einer entsprechenden Regelung ausgetauscht wer den.
Anbei: handschriftliche Statements von Enoch und Quinn in Kopien. Quelle: K. Sh.
Violet
Ende des ersten Buches 482