Irene Ranzmaier Stamm und Landschaft
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
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Irene Ranzmaier Stamm und Landschaft
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
48 ( 282)
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Stamm und Landschaft Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte
von
Irene Ranzmaier
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Veröffentlicht mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020052-2 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Vorwort Über Josef Nadler und seinen umstrittenen Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung sind zahlreiche Beiträge geschrieben worden. Die Konzeption und Wandelbarkeit der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, die sie zum Dokument der Geschichte mehrerer Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts machen, rufen ebenso große Faszination wie Ablehnung hervor. In dieser ersten Monographie zum Thema soll Nadlers stammeskundlicher Ansatz weder als Irrweg der Germanistik im 20. Jahrhundert analysiert werden, noch sein Werk auf dessen etwaige Relevanz für die gegenwärtige germanistische Forschung geprüft werden. In diesem Buch geht es um die Frage, worauf diese Konzeption sich gründete, worin ihre problematischen Aspekte liegen, warum sie dennoch wissenschaftliche Geltung erlangen konnte und diese wieder verlor. Eine Arbeit diesen Umfangs kann nicht ohne entsprechende Unterstützung geleistet werden. Die finanzielle Grundlage wurde vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gelegt; am Institut für Geschichte der Universität Wien wurde mir Platz für Arbeit und Materialien eingeräumt. In wissenschaftlichen Belangen gilt mein Dank Mitchell G. Ash für die Übernahme der Projektleitung und die Betreuung der Dissertation, deren Inhalt in die Kapitel 1-8 dieses Buchs einfließt. Wendelin Schmidt-Dengler hat als zweiter Betreuer der Dissertation seine Zeit und sein Wissen zur Verfügung gestellt. Weiterer Dank gebührt dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Finanzierung eines Forschungsaufenthalts aus Mitteln des Marbach-Stipendiums und besonders dem damaligen Leiter der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik, Christoph König. Peter Wörster am Herder-Institut Marburg danke ich für die Unterstützung bei der Archivarbeit; David Oels in Berlin für Recherchen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Bei Maria Kroker möchte ich mich für die administrative Betreuung des Projekts bedanken. Für jene Unterstützung, die weit über materielle, technische und theoretische Aspekte hinausgeht, geht mein herzlicher Dank an meine Familie und Ben. Wien, Februar 2008
Irene Ranzmaier
Inhalt Vorwort ..................................................................................................... V Inhalt ....................................................................................................... VII 1. Einleitung ............................................................................................... 1 1.1. Forschungsstand ........................................................................................... 3 1.2. Problemstellungen und Aufbau................................................................ 12
2. Die Germanistik im Gefüge der Wissenschaften um 1900 .......... 20 2.1. Grundlagen und Probleme der Philologie .............................................. 20 2.2. Die „neuen“ Geisteswissenschaften........................................................ 26 2.3. Germanistik als Geisteswissenschaft ....................................................... 29 2.3.1. Philosophie ............................................................................................... 33 2.3.2. Psychologie ............................................................................................... 37 2.3.3. Kunstgeschichte....................................................................................... 42 2.4. Soziologie ..................................................................................................... 44 2.5. Literaturgeschichtsschreibung .................................................................. 49 2.5.1. Problemfelder der Literaturgeschichtsschreibung.............................. 50 2.5.2. Literaturgeschichtsschreibung in der Habsburgermonarchie........... 54 2.6. Methodenpluralismus................................................................................. 58 3. Nadlers Positionierung im Wissenschaftskontext.......................... 62 3.1. Die wissenschaftstheoretische Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1914..................... 62 3.2. Nadlers Grundlagen- und Hilfswissenschaften ..................................... 70 3.2.1. Nomothetische Kulturwissenschaften ................................................. 70 3.2.1.1. Geographie ............................................................................................ 71 3.2.1.2. Volkskunde............................................................................................ 75 3.2.1.3. Stammeskunde und Ethnologie ......................................................... 81 3.2.1.4. Kulturgeschichte................................................................................... 84 3.2.2. Genealogie/Familiengeschichte ............................................................ 88
4. Die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ 1909-1918 ...................................................................... 93 4.1. Vorgeschichte.............................................................................................. 93
VIII
Inhalt
4.2. Grundzüge und Erscheinungsverlauf 1911-1918 .................................. 96 4.3. Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ................................... 102 4.3.1. Stamm und Landschaft......................................................................... 102 4.3.2. Der Stamm als genealogische Einheit ................................................ 105 4.3.3. Stamm und Nation ................................................................................ 113 4.3.4. Die Landschaft als natürliche Einheit ................................................ 116 4.3.5. Soziale Gliederungen ............................................................................ 122 4.3.6. Bewegungen, Typen, Analogien.......................................................... 129 4.4. Antagonismen ........................................................................................... 134 4.4.1. Das System der Altstämme .................................................................. 134 4.4.2. West – Ost .............................................................................................. 137 4.4.2.1. Altstämme und Neustämme............................................................. 137 4.4.2.2. Klassik und Romantik ....................................................................... 143 4.4.2.3. Abendland und Morgenland............................................................. 148 4.4.2.4. Romantik und Restauration .............................................................. 152 4.4.3. Nord – Süd ............................................................................................. 155 4.4.3.1. Süddeutschland und Norddeutschland........................................... 156 4.4.3.2. Österreich und Preußen .................................................................... 159 4.4.3.3. Katholizismus und Protestantismus................................................ 177 4.5. Konsequenzen der stammeskundlichen Literaturbetrachtung.......... 181 4.5.1. Natur und Kultur................................................................................... 181 4.5.2. Politische Implikationen....................................................................... 189
5. Der Status der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1912-1920 ......................................... 195 5.1. Die Berufung nach Fribourg 1912......................................................... 195 5.2. Befürworter und Gegner der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung............................. 204
6. Stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung 1921-1928 ......................................... 220 6.1. Die Berliner Romantik............................................................................. 222 6.1.1. Polemik und Konsolidierungsbemühungen...................................... 222 6.1.2. Völkermischung als Grundprinzip ..................................................... 235 6.2. Die zweite Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ 1923-1928 ............................. 244 6.2.1. Die Geltung der Grundlagen- und Hilfswissenschaften ................. 254 6.2.2. Volk und Raum...................................................................................... 265 6.2.3. Volk und Genealogie ............................................................................ 272 6.2.4. Antisemitismus....................................................................................... 277
Inhalt
IX
6.2.5. Kleindeutsche und großdeutsche Lösung ......................................... 283 6.2.6. Konfessionen ......................................................................................... 290 6.2.7. Konsequenzen der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung........................................................................ 295
7. Aufschwung der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung 1921-1931 ......................................... 303 7.1. Die Auseinandersetzung mit der Neuauflage....................................... 305 7.2. Nadler im Rahmen der Lehrstuhlbesetzungspolitik............................ 329 7.2.1. Zürich 1920 ............................................................................................ 330 7.2.2. Innsbruck 1920/21................................................................................ 337 7.2.3. Köln 1921 ............................................................................................... 343 7.2.4. Breslau 1924 ........................................................................................... 351 7.2.5. Die Berufung nach Königsberg 1924/25 .......................................... 354 7.2.6. Prag 1925/26.......................................................................................... 359 7.2.7. Wien 1926 ............................................................................................... 360 7.2.8. München 1926/27................................................................................. 365 7.2.9. Die Berufung nach Wien 1931............................................................ 373
8. Die problembehaftete Durchsetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1912-1931 ..... 379 8.1. Der wissenschaftliche Rahmen............................................................... 379 8.2. Nationalliteratur(en) ................................................................................. 391 8.3. Der politische Rahmen ............................................................................ 396
9. Stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung und Nationalsozialismus................. 401 9.1. Die „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ 1938-1941 ............ 402 9.1.1. Die Lizenzausgabe beim Propyläen-Verlag....................................... 403 9.1.2. Die Einarbeitung der Rassenkunde .................................................... 406 9.2. Die Auffassung von stammeskundlichvölkischer Literaturgeschichtsschreibung zur NS-Zeit .............................. 424 9.2.1. Die „offizielle Seite“ – Nadler und NS-Gremien............................. 424 9.2.2. Literaturwissenschafter und Journalisten........................................... 429
10. Der stammeskundliche Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung nach 1945.......................................... 439 10.1. Die „Literaturgeschichte Österreichs“ 1948 ...................................... 440 10.2. Die „Geschichte der deutschen Literatur“ 1951 ............................... 458 10.2.1. Die „Wissenschaftslehre“ von 1914 als „Vorschule“.................... 459 10.2.2. Das Verhältnis der einbändigen zur vierbändigen Ausgabe......... 464 10.3. Entnazifizierung...................................................................................... 480
X
Inhalt
10.4. Die Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 .................................................... 484
11. Stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung und der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit...................................... 499 12. Anhang ............................................................................................. 509 12.1. Abkürzungsverzeichnis.......................................................................... 509 12.2. Archivquellen .......................................................................................... 509 12.3. Rezensionen, Jubiläumsschriften, Nachrufe ...................................... 510 12.4. Quellen ..................................................................................................... 513 12.5. Forschungen............................................................................................ 516 13. Personenregister.............................................................................. 525
1. Einleitung Josef Nadler gehört zu jenen Vertretern der deutschen Philologie, deren Name und Werk stets mit der national-völkischen Germanistik der Zeit des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden. Obwohl es keine „offizielle“ nationalsozialistische Germanistik gab – weder seitens des Regimes noch seitens der Fachvertreter wurden entsprechende Richtlinien formuliert – hat sich für die entsprechende Zeit der Terminus „nationalvölkische Germanistik“ in der Literatur zur Fachgeschichte eingebürgert. Er bezeichnet jene Betrachtungsweisen der deutschen Sprache und Literatur, die „das deutsche Wesen“ als einzig gültigen Wertmaßstab erachteten, das auf den biologisch-deterministisch zu denkenden Kategorien „Volk“ und „Rasse“ beruhe.1 Die Behandlung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung Nadlers unter diesem Aspekt ist zweifellos gerechtfertigt, doch hat die einseitige Perspektive, unter welcher dieser Ansatz als Vorläufer bzw. durch weitere Radikalisierungen als Höhepunkt der national-völkischen Germanistik analysiert wurde, zahlreiche Facetten des Nadlerschen Konzepts unbeachtet gelassen. Dies betrifft in erste Linie die frühen Entwicklungsschritte seines Hauptwerks – der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ – ab etwa 1909, die spezifischen wissenschaftlichen Grundlagen desselben, sowie die Geschichte der Rezeption des stammeskundlichen Ansatzes und die Gründe für die Durchsetzung des Anspruchs auf die Wissenschaftlichkeit desselben zwischen 1912 und 1931. Nadler entwickelte seine Richtung der Darstellung der deutschen Literaturgeschichte zu einem Zeitpunkt der Neuaushandlung sowohl des Verhältnisses zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als auch – in Zusammenhang damit – der Entwicklung zahlreicher neuer Konzepte der deutschen Literaturwissenschaft. Sein Werk ist damit als ein Entwurf zur Lösung disziplinspezifischer, in größere interdisziplinäre Zusammenhänge eingebetteter Probleme aufzufassen, das in Konkurrenz zu zahlreichen weiteren Entwürfen stand und in Bezug auf diese stets hinsichtlich des Ausmaßes seiner Durchsetzungskraft zu überprüfen war. Gleichzeitig —————— 1
Vgl. Almgren, Birgitta: Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Uppsala: University Press 1997, S. 40-43.
2
Einleitung
standen sowohl Formulierung und Weiterentwicklung des Ansatzes als auch dessen Durchsetzungskraft immer unter dem Einfluß politischer Geschehnisse. Besonderes Augenmerk ist hierbei auf die Nachwirkungen der (klein)deutschen Einigung von 1871, die spannungsgeladenen innerstaatlichen Verhältnisse während der letzten beiden Jahrzehnte der Habsburgermonarchie, deren Zerfall 1918 als Folge des ersten Weltkriegs sowie auf die Einrichtung der Weimarer und der ersten österreichischen Republik zu legen. Das Hauptziel der vorliegenden Analyse ist demzufolge die Erforschung der Relation zwischen den inner-, inter- und außerdisziplinären Bedingungen für die Formulierung sowie wechselnde Konjunktur der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1909 und den 1950ern und den laufenden Umgestaltungen des Ansatzes durch Josef Nadler, die als ständige Neuausrichtung der Strategie zur Durchsetzung des Konzepts verstanden werden. Damit liegt das zentrale Interesse auf dem Wechselverhältnis zwischen den wissenschaftlich-politischen Bedingungen für die Entwicklung und Rezeption eines wissenschaftlichen Ansatzes und den Durchsetzungsstrategien eines Wissenschafters. Denn jene Strategien werden zwar aus spezifischen Bedingungen heraus entwickelt und auf sie abgestimmt, doch letztlich sind die Bedingungen durch ihre Konstanz oder Änderung für den Erfolg oder Mißerfolg der Strategie von entscheidender Bedeutung. Dabei sind die inner-, inter- und außerdisziplinären Teilbereiche der gesamten wissenschaftlich-politischen Bedingungen nie in aller Klarheit voneinander zu trennen. Die innerdisziplinären Traditionen des Faches, welchem ein Wissenschafter seinem Forschungsgegenstand nach zugeordnet wird, werden immer vom Verhältnis zu Nachbar- oder auch weiter entfernten Disziplinen mitbestimmt, wie auch das Verhältnis eines Faches oder mehrerer Wissenschaften zu politischen Entwicklungen von komplexen Wechselbeziehungen gestaltet wird. Es gilt also vor allem, Verschiebungen im Rahmen der wissenschaftlich-politischen Bedingungen zu verfolgen – etwa „Paradigmenwechsel“ innerhalb der Disziplin, Neuordnungen im Disziplinengefüge oder politische Machtwechsel – und der Frage nachzugehen, wie ein Gelehrter auf solche Verschiebungen reagiert bzw. wie diese Verschiebungen die Rezeption und Verbreitung seiner Lehre positiv oder negativ beeinflussen. Mit dieser Zugangsweise steht diese Arbeit dem Konzept von „semantischem Umbau“ mit seiner Berücksichtigung der sich ändernden Resonanzböden nahe, sie greift aber
Forschungsstand
3
weit über die bei der Entwicklung des Konzepts im Zentrum gestandenen zeitlichen Grenzen von 1933 und 1945 hinaus.2 Eine solche Zugangsweise verhindert, daß die Geschichte der Nadlerschen stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung weiterhin in letztlich teleologischer Ausrichtung einseitig als jene eines Vorläufers der völkisch-nationalen Literaturgeschichtsschreibung zur Zeit des Nationalsozialismus oder als letzte Radikalisierung der Germanistik als „nationale Wissenschaft“ beschrieben wird.3 Tatsächlich konzentriert sich der Großteil der Sekundärliteratur zu Nadler auf diese Thematik, wie ein Blick auf den Forschungsstand zeigt.
1.1. Forschungsstand Nachdem Nadler bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit von der Presse als prominenter Germanist der nationalsozialistischen Periode in den Mittelpunkt gerückt wurde, ist es kaum verwunderlich, daß ihm und seiner stammeskundlichen Literaturgeschichte im Rahmen jener ab Mitte der 1960er Jahre intensiv einsetzenden Diskussion der Germanistik als „nationale Wissenschaft“ wiederum ein großes Maß an Aufmerksamkeit zuteil wurde. In den ersten fachgeschichtlichen Darstellungen erscheint sein stammeskundliches Konzept meist als Vorläufer zur völkischnationalen Germanistik, das zu Beginn der nationalsozialistischen Periode mit nur geringen Radikalisierungen vollständig in diese Richtung eingeschwenkt sei. Die betreffenden Arbeiten konzentrieren sich somit in ideologiekritischer Auseinandersetzung auf die problematischen Facetten des stammeskundlichen Ansatzes bzw. auf dessen mit nationalsozialistischen Ideologemen kompatiblen Elemente und operieren in dieser Weise in einem eingeengten Blickfeld. Gleichgültig, ob direkt nach Vorläufern der völkisch-nationalen Germanistik der nationalsozialistischen Periode gefragt wird, oder ob Nadlers Ansatz unter die Konzepte des „Methodenpluralismus“ ab etwa 1910 eingereiht wird, erscheint sein Werk in diesem Zusammenhang als eine —————— 2
3
Vgl. Bollenbeck, Georg; Knobloch, Clemens (Hrsg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945. Heidelberg: Winter 2001; speziell auf die Germanistik angewandt wurde das Konzept in: Kaiser, Gerhard; Krell, Matthias (Hrsg.): Resonanz und Eigensinn. Studien zur Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert. Heidelberg: Synchron 2005. Vgl. Lämmert, Eberhard u. a.: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 6. Auflage 1980 und zusammenfassend: Gaul-Ferenschild, Hartmut: Nationalvölkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung. Bonn: Bouvier 1993, S. 52-82.
4
Einleitung
der letzten oder die letzte Stufe der bürgerlichen Literaturwissenschaft auf dem Weg in den Nationalsozialismus.4 Die Grundlage dieser Beiträge bilden Texte aus der Feder Nadlers, vor allem seine wissenschaftstheoretischen Positionsbestimmungen und Vorworte seiner Bücher – kaum wird aus dem Lauftext seiner literaturgeschichtlichen Werke zitiert – sowie nicht selten die journalistischen Polemiken der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sebastian Meissls im Laufe der 1980er Jahre erschienenen Arbeiten stellen die wichtigsten Untersuchungen zu Werk und Leben Josef Nadlers dar.5 Sie basieren neben publizierten Texten des Literaturhistorikers auf umfangreichem Archivmaterial und stellen Nadler und seine Publikationen erstmals in enger abgegrenzte Kontexte: die politischen Verhältnisse in Österreich zwischen den Jahren 1930 und 1950 sowie das akademische Netzwerk der Universität Wien. Meissls Aufsätze bilden für jede Untersuchung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung eine unerläßliche Grundlage. Letztlich ist Nadler jedoch auch hier hauptsächlich Repräsentant der „Wiener Ostmark-Germanistik“,6 selbst wenn dokumentiert wird, wie zwiespältig sich das Verhältnis zwischen dem Literaturhistoriker und mehreren Gremien der nationalsozialistischen Machthaber gestaltete. Auch in weiteren Arbeiten der 1980er Jahre dominiert das Thema Nationalsozialismus die Auseinandersetzung mit Nadler weiterhin. Doch der Blickwinkel verschiebt sich tendenziell von der reinen Ideologiekritik an der Germanistik im Sinne einer Untersuchung ihrer Anpassung an und Propagierung von nationalistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologemen in Richtung auf eine Analyse der Wechselwirkungen zwischen Politik und Wissenschaft. Als Beispiel hierfür ist Dieter Kellings Aufsatz
—————— 4
5
6
Vgl. die Abschnitte zu Josef Nadler in: Hermand, Jost: Synthetisches Interpretieren. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1968, S. 62-81; Greß, Franz: Germanistik und Politik. Stuttgart: Frommann 1971, S. 125-146; Rosenberg, Rainer: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Berlin: Akademie-Verlag 1981, S. 238-253. Meissl, Sebastian: Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre. Über Josef Nadlers literaturwissenschaftliche Position. In: Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Hrsg.: Klaus Amann, Albert Berger. Wien u. a.: Böhlau 1985, S. 130-146; Ders.: Germanistik in Österreich. Zu ihrer Geschichte und Politik 1918-1938. In: Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Hrsg.: Franz Kadrnoska. Wien u. a.: Europaverlag 1981, S. 475-496; Ders.: Der „Fall Nadler“ 1945-1950. In: Verdrängte Schuld – Verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945-1955. Hrsg.: Ders. u. a. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1986, S. 281-301. Meissl, Sebastian: Wiener Ostmark-Germanistik. In: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Hrsg.: Gernot Heiß u. a. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, S. 133-154.
Forschungsstand
5
„Josef Nadler und der deutsche Faschismus“ anzuführen.7 Kelling arbeitet besonders die während der Zeit des Faschismus kritisierten Aspekte des stammeskundlichen Ansatzes heraus und weist auf den Druck hin, dem Wissenschafter von politischer Seite ausgesetzt waren. Und selbst wenn man seiner Vermutung, Nadler habe den vierten Band der vierten Auflage seines Hauptwerks nicht selbst geschrieben, nicht zustimmen kann, ist damit der Blickwinkel auf eine allein von innen her ideologisierte Germanistik aufgegeben. Diesen Blickwinkel auf das komplexe Beziehungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik während der Zeit des Nationalsozialismus hat Peter Sturm in seiner Analyse der Literaturwissenschaft im Dritten Reich weiter verfolgt.8 In dieser erscheint Nadler zwar weiterhin als prominenter Vertreter der völkisch-nationalen Germanistik, aber nicht mehr als einzelner Sonder- und Sündenfall neben wenigen weiteren, sondern wird in einen breiteren, eine größere Anzahl von Wissenschaftern berücksichtigenden Kontext gestellt. In ähnlicher Weise kontextualisiert wird der Beispielfall Josef Nadler in Arbeiten zum Themenkreis Nationalsozialismus und Universität Wien.9 Hier sei die Arbeit der Historikerin Erika Weinzierl hervorgehoben,10 da es sich um eine der wenigen nicht allein auf die Disziplingeschichte der Germanistik bezogenen Publikationen handelt, in welchen Nadler eine Rolle spielt. Doch auch hier ist die Verbindung mit der nationalsozialistischen Zeit Knoten- und Angelpunkt. Die Auseinandersetzung mit Nadler im Rahmen der Thematik regionaler Literaturgeschichtsschreibung ist ebenso deutlich von der Auffassung seines Werks als nationalsozialistisch gefärbte Negativfolie bestimmt,11 wobei das Hauptaugenmerk auf einer Rehabilitation der regionalen Literaturgeschichtsschreibung durch moderne, den Nadlerschen Entwurf überwindende Ansätze liegt. —————— 7 8 9
10 11
Kelling, Dieter: Josef Nadler und der deutsche Faschismus. In: Brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR 1986/87, S. 132-147. Sturm, Peter: Literaturwissenschaft im Dritten Reich. Wien: Edition Praesens 1995. Ranzmaier, Irene: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft. Wien: Böhlau 2005; Schmidt-Dengler, Wendelin: Nadler und die Folgen. Germanistik in Wien 1945 bis 1957. In: Zeitenwechsel. Hrsg.: Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 35-46. Weinzierl, Erika: Wissenschaft und Nationalsozialismus. In: Vertriebene Vernunft II. Hrsg.: Friedrich Stadler. Wien, München: Jugend und Volk 1988, S. 51-62. z. B. Mecklenburg, Norbert: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur. In: Kontroversen, alte und neue. Hrsg.: Albrecht Schöne. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 3-15; Oellers, Norbert: Aspekte und Prinzipien regionaler Literaturgeschichtsschreibung. In: Literatur an der Grenze. Der Raum Saarland – Lothringen – Luxemburg – Elsaß als Problem der Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg.: Uwe Grund, Günter Scholdt. Saarbrücken: SDV 1992, S. 1121.
6
Einleitung
Vor allem die Autoren disziplingeschichtlicher Arbeiten aus den letzten fünfzehn Jahren haben schließlich auch weitere Zugänge zum Nadlerschen Werk gefunden, in erster Linie durch eine Annäherung vom 19. Jahrhundert her anstatt vom Nationalsozialismus als Kristallisationspunkt auszugehen. Andreas Schumann und Dietmar Lieser ordnen etwa die stammeskundliche Literaturgeschichte in die weit zurückreichende Tradition regionaler deutscher Literaturgeschichten ein.12 Dabei ergibt sich, daß der am stammeskundlichen Ansatz so scharf kritisierte Biologismus nicht erst durch Nadler in diese Sparte der Literaturgeschichtsschreibung eingeführt wurde. Tatsächlich besteht laut Schumann die eigenständige Leistung Nadlers lediglich darin, regional bezogene Einzelergebnisse im Entwurf einer nationalen Literaturgeschichtsschreibung zusammengeführt zu haben. Dies erscheint mir vor allem in Hinblick auf Nadlers Konzept der Zuteilung bestimmter Epochen zu einzelnen deutschen Stämmen zu kurz gegriffen – denn diese ist nicht aus früheren Einzelergebnissen abzuleiten –, doch es ist zu begrüßen, daß der stammeskundliche Ansatz hier in eine länger zurückreichende Tradition der Literaturgeschichtsschreibung eingeordnet wird. Jürgen Fohrmann geht in seiner Monographie ebenfalls von älteren Traditionen der Literaturgeschichtsschreibung aus, konzentriert sich allerdings auf Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte.13 Für ihn stellt der Nadlersche Entwurf ein Beispiel für die Auflösung jenes literaturgeschichtlichen Konzepts dar, das durch das 19. Jahrhundert hindurch bestimmend gewesen sei: die Literaturgeschichte als „Entelechie der deutschen Nation“. Das Werden der einheitlichen deutschen Nation in Form eines Auswickelns zu sich selbst sei nicht mehr konstituierend für die stammeskundliche Literaturgeschichte, weil mit der stammheitlichen Volkskunde eine neue begründende Ebene vor die Texte geschoben werde.14 Nadler verkörpert in dieser Untersuchung somit einen Endpunkt bzw. einen Neuanfang, womit Fohrmann auf die Thematik des Wissen—————— 12
13 14
Schumann, Andreas: „...die Kunst erscheint überall an ein nationales und locales Element gebunden...“ (A.W. Schlegel). Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Sprachkunst 20 (1989), S. 237-257. Lieser, Dietmar: Literaturräume. Zu Begriff und Gegenstand regionaler Literaturgeschichtsschreibung. In: Oberschlesische Dialoge. Kulturräume im Blickfeld von Wissenschaft und Literatur. Hrsg.: Bernd Witte. Frankfurt u. a.: Lang 2000 (=Schriften des Eichendorff-Instituts Bd. 2), S. 25-39. Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich. Stuttgart: Metzler 1989. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 232-235. Ähnliche Entwicklungen, wie Fohrmann sie für die Literaturgeschichtsschreibung feststellt, lassen sich auch in der Geschichtswissenschaft verfolgen, speziell an Karl Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung, vgl. 3.2.1.4.
Forschungsstand
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schaftswandels der Germanistik um 1900 vorausweist. Das Thema Literaturgeschichte und Nation nimmt Hans-Georg von Arburg in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung mit einem Vergleich der kurz nacheinander erschienenen Schweizer Literaturgeschichten Josef Nadlers und Emil Ermatingers auf.15 Hier liegt das Hauptaugenmerk auf der Frage, inwieweit die beiden Werke der Aufgabe gerecht geworden seien, Orientierungshilfe bei der Suche nach einer nationalen Identität zu bieten. Unter einem Fohrmanns Herangehensweise nahestehenden Ansatz analysiert Holger Dainat den Nadlerschen Entwurf der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung.16 In seiner Arbeit erscheint diese Richtung als Beispiel für einen von mehreren nach 1900 entwickelten Lösungsansätzen für das Problem, aus den angehäuften Kenntnissen der Philologie Orientierungswissen zu gewinnen und Kategorien für deren Ordnung zu bilden. Damit ist Nadler in einen breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext gestellt, was neue Aspekte in die Auseinandersetzung mit seiner Literaturgeschichtsschreibung einbringt. Ein Beitrag von Petra Boden zeigt, daß unter ähnlicher Betrachtungsweise sogar neue Anknüpfungspunkte für die Analyse des Nadlerschen Hauptwerks im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gefunden werden können. 17 In ähnlicher Weise eröffnen die Autoren des Sammelbandes „Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925“18 mit der Aufarbeitung der interdisziplinären Bezüge der Germanistik zu anderen Wissenschaften neue Möglichkeiten der Einordnung Josef Nadlers in seine Disziplin. Wie fruchtbar eine solche interdisziplinär ausgerichtete Perspektive sein kann, die Nadlers kulturwissenschaftliche Facetten erfaßt, zeigen die Arbeiten von Wolfgang Neuber und Wolfgang Müller-Funk.19 Müller—————— 15 16 17 18
19
von Arburg, Hans-Georg: Schweizer (National-)Literatur? In: Schreiben gegen die Moderne. Beiträge zu einer kritischen Fachgeschichte der Germanistik in der Schweiz. Hrsg.: Corina Caduff, Michael Gamper. Zürich: Chronos 2000, S. 125-243. Dainat, Holger: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg.: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp. Stuttgart: Metzler 1994, S. 494-537; zu Nadler S. 521-524. Boden, Petra: Stamm – Geist – Gesellschaft. Deutsche Literaturwissenschaft auf der Suche nach einer integrativen Theorie. In: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Hrsg.: Holger Dainat, Lutz Danneberg. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 215-261. König, Christoph; Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt/M.: Fischer 1993. In Hinblick auf Nadler, der in vielen Beiträgen Erwähnung findet, ist besonders der Aufsatz von Christoph König hervorzuheben: „Geistige, private Verbündung“ Brecht, Nadler, Benjamin und Hugo von Hofmannsthal, S. 156-172. Neuber, Wolfgang: Nationalismus als Raumkonzept. Zu den ideologischen und formalästhetischen Grundlagen von Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Hrsg.: Klaus Garber. München: Fink 2002, S. 175-191; Müller-Funk, Wolfgang: Josef Nadler. Kulturwissenschaft in nationalsozialistischen Zeiten? In: Die „ös-
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Einleitung
Funk faßt beispielsweise die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung als Teil einer Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, da sie – wenn auch unter Diskontinuitäten – mit der kulturwissenschaftlichen Literaturtheorie, an deren Anfang meist Herder gesetzt wird, verknüpft sei. Neuber betont in seinem Beitrag, daß Nadlers spezifische Raumkonzeption trotz ihrer augenscheinlichen Nähe zu aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Frühneuzeitforschung, die wirtschaftliche Faktoren, Anthropologie und Regionalismusforschung mit einbezieht, nicht als Vorläufer derselben gelten kann. Ebenfalls aus seiner relativ isolierten Stellung als national-völkischer Germanist wird Nadler durch Arbeiten zur Rezeption seines Barock- oder Romantikbegriffes herausgehoben.20 Allerdings gilt auch für die eben angeführten neueren Arbeiten, die wichtige Grundlagen für die vorliegende Analyse geschaffen haben, daß das verwendete Quellenkorpus zu Nadler weitgehend auf seine wissenschaftstheoretischen Aufsätze und die Vorworte seiner literaturgeschichtlichen Werke beschränkt blieb. Dieser Mangel wird durch den Bezug auf Sebastian Meissls Aufsätze als meistbenutzte Sekundärliteratur allenfalls indirekt ausgeglichen. Archivquellen zu Nadler – meist Briefe – wurden darüber hinaus in umfassender Weise nur für Beiträge herangezogen, deren Thema das Verhältnis eines Dichters21 zu Josef Nadler ist oder die sich mit universitätspolitischen Themen wie Lehrstuhlbesetzungen22 auseinandersetzen. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeiten liegt jedoch vorwiegend auf der Frage, wodurch die Faszination dieser Künstler bzw. —————— 20
21
22
„österreichische“ nationalsozialistische Ästhetik. Hrsg.: Ilija Dürhammer. Wien: Böhlau 2003. z. B. Schoolfield, George C.: Nadler, Hofmannsthal und „Barock“. und Daviau, Donald G.: Hermann Bahr, Josef Nadler und das Barock, beide in: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 35/3/4 (1986), S. 157-170 und S. 171-190; sowie: Klausnitzer, Ralf: Krönung des ostdeutschen Siedelwerks? Zur Debatte um Josef Nadlers Romantikkonzeption der zwanziger und dreißiger Jahre. In: Euphorion 93 (1999), S. 99-125. z. B.: Volke, Werner: Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 35-88; Hopf, Karl: Hermann Bahr und Josef Nadler. Dokumentation einer Brieffreundschaft. In: Vierteljahresschrift des AdalbertStifter-Instituts des Landes Oberösterreich 33/1/2 (1984), S. 19-51; Wyss, Ulrich: Rudolf Borchardt und Josef Nadler. In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Hrsg.: Ernst Osterkamp. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 113-131; Berger, Albert: Der tote Dichter und sein Professor. Weinheber und Nadler in der Diskussion nach 1945. In: Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Hrsg.: Wendelin Schmidt-Dengler u. a. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 191-201. z. B.: Osterkamp, Ernst: „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre“. Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1926/27 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. In: Jahrbuch der deutschen SchillerGesellschaft 33 (1989), S. 348-369; Jäger, Ludwig: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München: Fink 1998.
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Gelehrten an der Arbeit oder Person des Germanisten bewirkt wurde. Die eingehendste Darstellung der wechselseitigen Einschätzung von Persönlichkeit und Arbeit zwischen einem Dichter und dem Literaturhistoriker hat Christoph König in seinem Buch über Hugo von Hofmannsthal geleistet, das auch wichtige allgemeine Betrachtungen über die Auswirkung des Nadlerschen Konzepts auf die Darstellung einzelner Dichter enthält.23 Im großen und ganzen konzentriert sich, wie bereits bemerkt, der Großteil der Sekundärliteratur zu Nadler nach wie vor auf seine Verbindung mit der völkisch-nationalen Germanistik, sowie mit dem Nationalsozialismus,24 und arbeitet dabei auf einer relativ engen Quellenbasis. Es findet zwar keine Beschränkung auf Nadlers während der NS-Zeit erschienenen Publikationen statt; Grundlagentexte und Zitate aus Nadlers Feder werden aus dem gesamten Zeitraum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit geschöpft und die stetige Entwicklung respektive Radikalisierung des Konzepts wird verzeichnet. Dabei ist jedoch bei der Verwendung der wenigen theoretischen Abhandlungen Nadlers sowie der Vorworte seiner Literaturgeschichte festzustellen, daß meist zu wenig Augenmerk auf die teilweise beträchtlichen Zeitabstände zwischen diesen Publikationen und die dazwischenliegenden persönlichen, wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen gelegt wird. Zwischen den beiden meistzitierten wissenschaftstheoretischen Arbeiten Nadlers – die „Wissenschaftslehre“ von 1914 und „Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde“25 von 1934 – liegen beispielsweise zwanzig Jahre, ein Weltkrieg, die Neuauflage sowie Fertigstellung der nunmehr vierbändigen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, zahlreiche Lehrstuhlbesetzungsverfahren mit für den Literaturhistoriker negativem Ausgang, die Berufungen nach Königsberg und Wien sowie ständige Bemühungen um die Durchsetzung der eigenen Konzepte innerhalb der Disziplin. Zudem muß betont werden, daß die erste wissenschaftstheoretische Grundlegung des Ansatzes durch Nadler erst zwei bzw. ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ veröffentlicht —————— 23 24
25
König, Christoph: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen: Wallstein 2001 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte Band 2), bes. das Kapitel „Das Literaturgeschichte gewordene ,Zeiturteil’: Josef Nadler“, S. 242-268. Dies gilt auch für rezente Artikel, wie: Füllenbach, Elias: Ein Außenseiter als Sündenbock? Der Fall Josef Nadler. In: Kritische Ausgabe 2 (2004), S. 25-30 und die auf Nadler Bezug nehmenden Beiträge in Dainat, Holger; Danneberg, Lutz (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen: Niemeyer 2003. Nadler, Josef: Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge. In: Euphorion 21 (1914), S. 1-63; Ders.: Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde. In: Volkstum und Dichtung [vormals Euphorion] 35 (1934), S. 1-18.
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Einleitung
wurde und somit nicht mit der erstmaligen Formulierung des stammeskundlichen Konzepts gleichzusetzen ist. Zu wenig differenziert sind oft auch die Ansichten zur Unveränderlichkeit der Nadlerschen Konzepte. So zitiert Fohrmann „...um das Unveränderte der Position [von der ersten Auflage zur Zeit nach 1945] zu demonstrieren...“,26 aus der zweiten Auflage von Nadlers nach dem Zweiten Weltkrieg verfaßten einbändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ (1961). Dies ist wiederum zurückzuführen auf die weitgehende Konzentration der Autoren der Sekundärliteratur auf Nadlers 1914 erschienene „Wissenschaftslehre“. Denn Fohrmann ist zuzustimmen, daß Nadler in seinem nach dem 2. Weltkrieg erschienenen Werk fast wörtlich zur Formulierung seines Konzepts von 1914 zurückkehrt,27 doch wird durch diesen Kurzschluß von 1914 mit 1961 der Wandel, den Nadler zwischen 1914 und 1928 in seinem Werk vorgenommen und bis 1945 beibehalten hat, übersprungen. Der wissenschaftlichen Literatur zu Josef Nadler und seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung fehlt fast völlig die Aufarbeitung der allerersten Schritte der Entwicklung des Konzepts.28 Weiters wurden der Einfluß, den August Sauer tatsächlich ausübte sowie weitere wissenschaftsgeschichtliche Traditionen aus anderen Fächern, die Nadler als Grundlagen- oder Hilfswissenschaften der Literaturgeschichte erachtete, nicht eingehend analysiert. Ebenso ist bisher keine Aufarbeitung der ersten Karriereschritte Nadlers geleistet worden, wozu nicht nur die Berufung nach Fribourg (Schweiz) gehört, sondern, zeitlich noch davor liegend, auch der Auftrag des Verlegers Josef Habbel zur Abfassung einer Literaturgeschichte. Ebensowenig nachgegangen wurde der Entwicklung des Konzepts der Zuordnung einzelner Epochen zu bestimmten Stämmen bei der Niederschrift der ersten Auflage der „Literaturgeschichte er deutschen Stämme und Landschaften“ durch Nadler. Generell ist auch auf die praktische Umsetzung des theoretischen Konzepts des Nadlerschen Hauptwerks wenig eingegangen worden. Eine detaillierte Analyse des Inhalts der „Literaturgeschichte“ und speziell sei—————— 26 27 28
Fohrmann, Jürgen: Über das Schreiben von Literaturgeschichte. In: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Hrsg.: Peter Brenner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 200. Vgl. die „Wissenschaftslehre“ mit der „Vorschule“ in: Nadler, Josef: Geschichte der deutschen Literatur. Regensburg: Habbel 2. Auflage 1961, S. VII-XVIII. Masato Izumis Beitrag hierzu trägt eine apologetische Note, da er katholizistische Tendenzen des Werks auf den katholischen Referenten des Verlags sowie die Konzentration auf den Stamm auf den Einfluß Sauers zurückführt. Beidem kann nicht zugestimmt werden, wie im Laufe der Analyse deutlich werden wird. Izumi, Masato: Zur Entstehung der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“. In: Zwischenzeiten – Zwischenwelten. Hrsg.: Josef Fürnkäs u. a. Frankfurt/M.: Peter Lang 2001, S. 449-461.
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ner politischen Implikationen fehlt bislang völlig. Als weitere Folge davon wurden Änderungen, die am theoretischen Rahmen vorgenommen wurden, nie auf ihre Auswirkung auf den Lauftext der gesamten Literaturgeschichte hinterfragt. Darüber hinaus ist festzustellen, daß umfangreiches Archivmaterial zu und von Josef Nadler noch nicht wissenschaftlich ausgewertet wurde, etwa Korrespondenzen mit Verlagen und Wissenschaftern sowie Dokumente zu Lehrstuhlbesetzungsverfahren. Auch in Arbeiten aus den letzten zehn Jahren finden sich noch Abstempelungen Nadlers als Vertreter eines „blutrünstigen Vitalismus“ und „geistiger Brutalität“,29 was zum besseren Verständnis der Bedingungen des Zustandekommens eines solchen Konzepts – und damit weiter Teile der Germanistik in der Mitte des 20. Jahrhunderts – wenig beiträgt. Und auch wenn Ulrich Wyss gerade angesichts dessen zuzustimmen ist, daß Nadler „...das Odium, der prominenteste Nazi-Germanist gewesen zu sein oder wenigstens einer der wenigen, die ihre Disziplin einer konsequent durchgebildeten faschistischen Geschichtskonzeption unterwarfen...“ niemals losgeworden sei, so ist dem darauf folgenden Satz zu widersprechen: Nadlers Literaturgeschichte ist une affaire classée, es gibt da nichts mehr zu lernen, schon gar nicht etwas zu retten. Kollegen, die sich der Mühe unterzogen hätten, die voluminösen Bände überhaupt zu lesen, kenne ich nicht. [...] Es lohnt sich wohl nicht, dieses oevre einer neuen Analyse im Detail zu unterziehen. 30
Eine „Rettung“ Nadlers ist weder möglich noch wünschenswert.31 Doch zu lernen gibt es von seiner Literaturgeschichte und ihrer Wirkung noch viel – in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht nämlich.
—————— 29 30
31
Apel, Friedmar: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. München: Knaus 1998; zu Nadler siehe S. 187-196. Wyss, Ulrich: Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers. In: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter. Hrsg.: Hartmut Kugler. Berlin, New York: de Gruyter 1995, S. 57, Hervorhebung im Original. Aus dem Nadlerschen Ansatz sei nur zu erfahren (ebd.) „...welche Fehler jede auf Region und Landschaft zielende Literaturgeschichte begehen wird, wenn sie ihre Prämissen nicht auf das allersorgfältigste durchdenkt.“ Obwohl auch aus der jüngsten Zeit Beispiele für Beiträge genannt werden können, die Nadlers Werk wenig kritisch und durchaus als wissenschaftliche Leistung betrachten, z. B. Harder, Hans-Bernd: Josef Nadler in Königsberg (1925-1931). In: Die AlbertusUniversität. Hrsg.: Hans Rothe, Silke Spieler. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1996, S. 81-94; Kraus, Hans-Cristof: Josef Nadler (1884-1963) und Königsberg. In: Preußenland 38 (2000), S. 12-25. Bezeichnenderweise stützen sich bei Arbeiten wesentlich auf Nadlers Autobiographie „Das kleine Nachspiel“ (Wien: ÖBV 1954).
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Einleitung
1.2. Problemstellungen und Aufbau Zunächst läßt sich mit der Heraushebung eines einzelnen unter jenen zahlreichen nach 1900 miteinander konkurrierenden Konzepten der Literaturwissenschaft ein wichtiger Beitrag zur Fachgeschichte leisten. Die Bearbeitung des Nadlerschen Ansatzes bietet sich als exemplarische Untersuchung einer spezifischen Strategie zur „Überbietung der Philologie“32 an, also eines speziellen Lösungsvorschlags für das Problem der Kategorisierung und sinnstiftenden Ordnung der überbordenden philologischen Detailkenntnisse. Das Hauptaugenmerk liegt unter diesem Aspekt auf der spezifischen wissenschaftstheoretischen Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in ihrem Verhältnis zu konkurrierenden, ebenfalls um Überbietung der Philologie wetteifernden Entwürfen. Von dieser Basis ausgehend kann mit der Bestimmung der Rolle der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu einer bestimmten Zeit, wie sie sich in Rezensionen und anhand von Nadlers Status unter den Universitätsgermanisten ausdrückt, ein besser strukturiertes Bild der im „Methodenpluralismus“ gefächerten germanistischen Ansätze gegeben werden. Dieses Bild wird wesentlich bestimmt durch die unterschiedlichen interdisziplinären Anbindungen, welche auf die um 1900 bestehende Konkurrenzstellung zwischen den ein neues Selbstverständnis formulierenden Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften zurückgehen. Gerade die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, weil Nadler die Trennung von geistes- und naturwissenschaftlicher Methodik ablehnte und durchaus auch nomothetische Wissenschaften zu seinen Grundlagen- und Hilfsdisziplinen zählte. Folglich ist gerade die Analyse der Nadlerschen Konzepte geeignet, die bislang weitgehend als disziplinäre Selbstreflexion betriebene Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in einen breiteren wissenschaftshistorischen Kontext zu heben.33 Denn indem der überwiegende Teil der unter „Methodenpluralismus“ zu fassenden Strömungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik sich am neuen, „idiographisch“ geprägten Selbstverständnis der Geisteswissenschaften orientierte (vgl. Abschnitt 2.2.), ist die Perspektive bisher eher eng geblieben. Dies bedeutet —————— 32 33
Dainat, Holger: Überbietung der Philologie. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg.: König, Lämmert, S. 232-239. Wie dies durch die Herausarbeitung von Verbindungen mit Philosophie und Kunstgeschichte bereits durch den von König und Lämmert herausgegebenen Sammelband zur literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte und in einigen Arbeiten Holger Dainats geleistet wurde: König, Lämmert: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte.
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nämlich ein Ausklammern von Ansätzen, deren Entwicklung gerade in Hinblick auf die völkisch-nationale Germanistik stärker ins Blickfeld gerückt werden muß, da sie nicht erst um 1930 entstanden, sondern erst zu diesem Zeitpunkt von den Universitätsgermanisten in den Kanon den wissenschaftlichen Ansätze integriert wurden. Bei der Analyse der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung stellt sich allerdings heraus, daß die Wissenschaften, an welche Nadler anknüpft, ihre Hauptrolle bei der Formulierung des Ansatzes der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung spielen. Sie bieten ihm Grundlagen, auf denen er seine eigenen Konzepte aufbaut und weiterentwickelt, während die Weiterentwicklung des stammeskundlichen Ansatzes weit stärker der Eigenlogik des Konzepts folgt als sich weiterhin an den Grundlagen- und Hilfswissenschaften bzw. deren Weiterentwicklung zu orientieren. Vollständig geht die interdisziplinäre Anbindung jedoch nie verloren. Einerseits ergibt sich im Laufe der Zeit eine Auseinandersetzung des Literaturhistorikers mit weiteren Aspekten anderer wissenschaftlicher Fachbereiche; andererseits wirkt Nadlers spezifische Positionierung im Spannungsfeld mehrerer Disziplinen in der Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung stets weiter. Das jeweilige Prestige bzw. die Konjunktur seiner Grundlagen- und Hilfswissenschaften bestimmen maßgeblich die Aufnahme seiner „Literaturgeschichte“ innerhalb der Germanistik, bis nach und nach inhaltliche Aspekte des Werks stärker in den Vordergrund treten. In diesem Zusammenhang ist jedoch weit häufiger die mangelnde Vertrautheit von Nadlers Fachkollegen mit den betreffenden wissenschaftlichen Ansätzen festzuhalten als eine kritische Auseinandersetzung mit denselben. Gerade daran läßt sich die innerdisziplinäre Befindlichkeit der Germanistik erfassen, wie im erste Ergebnisse zusammenfassenden Kapitel 8. zu präzisieren sein wird. In Hinblick auf Nadlers Hauptwerk als Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte steht ein spezifischer Aspekt der Germanistik im Vordergrund: jener der Nationalliteratur. Des Literaturhistorikers Herkunft als Altösterreicher und Deutschböhme sowie sein Studium in Prag zur Zeit heftiger Nationalitätenkonflikte weisen darauf hin, daß Nadlers Vorstellung einer einheitlichen deutschen Nationalliteratur im Vergleich zu „reichsdeutschen“ Darstellungen mehreren Modifikationen unterliegen muß. Die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ ist speziell in den Jahren vor 1918 als Lösungsansatz für ein doppeltes Problem zu verstehen: zunächst wird, nachdem die deutsche Literaturgeschichte nach der (klein)deutschen Einigung unter Ausschluß Österreichs kaum mehr als Instrument für bzw. als Vorwegnahme einer einheitlichen deutschen Nation geschrieben werden kann, allgemein ein neues Konzept
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Einleitung
für eine sinnstiftende Ordnung und Darstellung der Geschichte der gesamten deutschen Literatur notwendig. Nadler befindet sich außerdem zur Zeit der Entwicklung seines Konzepts als deutschsprachiger Bewohner der Habsburgermonarchie in einer relativen Außenseiterposition, da fraglich ist, auf welcher Grundlage die auf österreichisch-ungarischem Gebiet entstandene deutsche Literatur nun zur „deutschen Nationalliteratur“ gezählt werden könne bzw. solle. Alle diese Aspekte haben den Aufbau der „Literaturgeschichte“ maßgeblich beeinflußt, die damit auch mit weitgreifenden politischen Implikationen behaftet ist. Das Vorhaben, unter Berücksichtigung der eben skizzierten Forschungsdesiderata zunächst eine umfassende Analyse der Formulierung und Weiterentwicklung des stammeskundlichen Ansatzes zu leisten, verlangte über weite Strecken die Konzentration auf den Lauftext der ersten, zweiten und vierten Auflagen der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ (drei Bände 1911-1918, vier Bände 1923-1928 und vier Bände 1938-1941) sowie den beiden einbändigen Werken „Literaturgeschichte Österreichs“ (1948) und „Geschichte der deutschen Literatur“ (1951). Hinter deren Gewicht treten die ausschließlich der Wissenschaftstheorie gewidmeten Ausführungen Nadlers zurück; jene sind als Stellungnahme des Literaturhistorikers zu seiner Positionierung im wissenschaftlichen Kontext von Bedeutung, können jedoch aufgrund der zeitlichen Verhältnisse nur bedingt als Zugang zu den theoretischen Konzepten des stammeskundlichen Ansatzes dienen (vgl. Abschnitt 3.1.). Aus dem fast 500 Schriftstücke umfassenden Archivbestand der Briefe Nadlers an seinen Lehrer August Sauer ließ sich gewissermaßen die „Innenansicht“ Nadlers auf sein eigenes Werk, seine Einstellung zum Zeitgeschehen sowie auf seine berufliche Stellung und Aussichten erfassen. Die zugehörige „Außenansicht“ auf die Persönlichkeit und das Werk des Literaturhistorikers wurde wiederum zum geringeren Teil aus Korrespondenzen und in erster Linie aus Universitäts- bzw. staatlichen Universitätsverwaltungsakten zu Lehrstuhlbesetzungsangelegenheiten gewonnen. Eine maßgebliche Rolle kam in dieser Hinsicht zusätzlich den Rezensionen und anderen publizierten Auseinandersetzungen mit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu. Diese großteils erstmals aufzuarbeitende Quellengrundlage – allein die vierbändigen Auflagen der „Literaturgeschichte“ umfassen jeweils weit über 3000 Buchseiten – brachte über weite Strecken eine engere Orientierung an innerdisziplinären Belangen der Germanistik mit sich, gegen die Bezüge auf andere Disziplinen und breitere Kontexte oftmals zurücktreten mußten. Als zentraler Aspekt der Nadlerschen stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ist, wie bereits angeschnitten, deren spezifische, stark interdisziplinär geprägte wissenschaftliche Grundlegung zu erachten. Um
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diese in ihrer vollen Bedeutung erfassen zu können, wird die Analyse mit einer Einordnung der Germanistik in das Gefüge der Wissenschaften um 1900 eingeleitet. In diesem Rahmen werden zunächst die grundlegenden Probleme der Germanistik skizziert, die von der zunehmenden Unzufriedenheit der Fachvertreter mit den Ergebnissen der praktizierten philologischen Forschung geprägt waren (Abschnitt 2.1.). Die folgenden Abschnitte (2.2. und 2.3.) sind denjenigen literaturwissenschaftlichen Ansätzen gewidmet, welche die Folie bilden, von welcher Nadlers Konzepte in der Folge abzuheben sein werden und mit welchen die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung konkurriert. Die Ansätze der Germanisten zur Lösung des zuvor vorgestellten Problemkomplexes im Rahmen einer „Überbietung der Philologie“ bewegten sich anders als jener Nadlers weitgehend innerhalb des neu formulierten, über die Methode begründeten Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften. Sozialwissenschaftliche Konzepte konnten unter diesen Bedingungen kaum Einfluß erlangen – weder auf die Vertreter der „geisteswissenschaftlichen“ Literaturwissenschaft noch auf Nadler selbst (Abschnitt 2.4.). Für die Literaturgeschichtsschreibung, welche der Einhaltung philologischer Standards als Kriterium für Wissenschaftlichkeit in den Augen der maßgeblichen Universitätsgermanisten kaum gerecht geworden war, ergaben sich aus dieser Konstellation einerseits neue Chancen hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Status. Andererseits waren jedoch auch in diesem Bereich bisher angewandte Modelle der Darstellung problematisch geworden, wie bereits in Abschnitt 1.1. in Bezug auf die Arbeiten Jürgen Fohrmanns angedeutet wurde (Abschnitt 2.5.1.). Für Nadler als Deutschböhme und Bürger der Habsburgermonarchie sind zusätzlich spezifisch österreichische Momente der Literaturgeschichtsschreibung zu berücksichtigen, die vor allem vom Gefühl der mangelnden Berücksichtigung österreichischer Literatur in Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte geprägt waren (Abschnitt 2.5.2.). Nadler schrieb sich mit seiner „Literaturgeschichte der Stämme und Landschaften“ demnach mehrfach in den wissenschaftlichen Kontext ein. Zunächst ist sein Werk, wie bereits betont, ein Entwurf zur „Überbietung der Philologie“ unter mehreren konkurrierenden Konzepten. Weiters bildet seine stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung ein Modell für die Darstellung einer mehrere Länder umfassende, aber dennoch einheitlich zu denkenden deutschen Nationalliteratur, die bisher wenig beachtete Regionen, allen voran Österreich, massiv aufwertet. Und letztlich bezieht Nadler auch in der neuen, durch Methodendebatten bestimmten Konstellation zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften eindeutig Stellung. In dieser Hinsicht weicht der Literaturhistoriker stark von den mehrheitlich geisteswissenschaftlich bestimmten Ansätzen seiner Fachkol-
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legen ab. Seine Positionierung geschieht in prägnanter Absetzung von den individualistisch-idiographischen Konzepten der geisteswissenschaftlich orientierten Germanisten, wie Kapitel 3. dokumentiert. Unter Ablehnung der Trennung spezifisch geisteswissenschaftlicher von naturwissenschaftlichen Methoden verteidigt Nadler die Geltung von Kausal- und Determinismusdenken auch in historisch-philologischen Disziplinen. Zusätzlich reihte er sich mit den von ihm genannten Nachbar- und Hilfswissenschaften Geographie, Volkskunde bzw. Ethnographie, Stammeskunde und Karl Lamprechts Konzept von Kulturgeschichte in bestimmte sozial- oder kulturwissenschaftliche Traditionen des 19. Jahrhunderts ein. Außerdem steht der Literaturhistoriker über seine Prager Lehrer August Sauer und Adolf Hauffen in einer spezifisch österreichischen bzw. Wiener Tradition der Volkskunde mit stark ethnographischer Ausrichtung und institutioneller Anbindung an die Anthropologie.34 Mit Nadlers spezifischem Aufbau auf die Genealogie nach dem Vorbild von Ottokar Lorenz ist gleichzeitig von Anfang an eine enge Verbindung mit erbbiologischen Theorien vorhanden (Abschnitt 3.2.2.). Allerdings erfolgte die Veröffentlichung der theoretischen Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in der „Wissenschaftslehre“, welche die Basis für die Analyse der wissenschaftlichen Positionierung Nadlers bildet, erst nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“. Sie ist somit eine Stellungnahme zur Methodendiskussion innerhalb der Germanistik und eine Abgrenzung des interdisziplinären Bereichs, reflektiert aber keineswegs den Entstehungsvorgang der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Dieser sowie der inhaltlichen Analyse der „Literaturgeschichte“ ist Kapitel 4. gewidmet. Nadler baute auf seinen Grundlagen- und Hilfswissenschaften ein äußerst komplexes Konzept auf, in dessen Rahmen die Kultur eines Volkes bzw. der einzelnen Volkstümer solchermaßen auf vererbte Eigenschaften und geistiges Verwachsensein mit der Landschaft zurückgeführt wird, daß zur Erhaltung eines Volkstums die Vermeidung der Mischung mit anderen Stämmen oder Völkern und die Erhaltung des Siedelgebiets unerläßlich sind. Als Konsequenz dieses Ansatzes erscheint Kultur immer abhängig von Natur – in erster Linie von ererbten Eigenschaften, in zweiter Linie von der Umwelt – während auch soziale Verbände als Kollektivindividuen auf natürliche Grundlagen zurückgeführt werden. —————— 34
Bockhorn, Olaf: „Volkskundliche Quellströme“ in Wien: Anthropo- und Philologie, Ethno- und Geographie. In: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg.: Wolfgang Jacobeit u. a. Wien u. a.: Böhlau 1994, S. 417-424.
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Auf derselben Basis gelingt es Nadler überdies, ein kulturelles Übergewicht des mehrheitlich katholischen Südens bzw. Südwestens des deutschen Sprachraums zu Ungunsten des Nordens und speziell Nordostens zu suggerieren, womit nicht zuletzt der Aufwertung Österreichs im Vergleich zu Preußen gedient wird. Allerdings ging es Nadler zwar um die Behauptung eines Sonderstatus für die deutschsprachige Literatur der Habsburgermonarchie und der späteren Republik, aber nie um die Propagierung einer von der deutschen unabhängigen österreichischen Nationalliteratur. In einem weiteren Schritt werden, aufbauend auf die zuvor gewonnenen Ergebnisse, in Kapitel 5. die Rezeption der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ sowie die ersten Schritte der akademischen Karriere Nadlers verfolgt. Hier lassen sich die Auswirkungen der spezifischen wissenschaftlichen Positionierung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung auf die Aufnahme des Ansatzes durch Fachkollegen und Journalisten aufzeigen. Dabei werden erste Ursachen für die mangelnde Auseinandersetzung mit den vielfach ungesicherten Grundlagen des Nadlerschen Konzepts deutlich, die maßgeblich aus der neuformulierten Differenzierung zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften auf der Grundlage der Methodik resultierten. Außerdem ist festzuhalten, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Teil der Habsburgermonarchie schon früh weitgehend positive Aufnahme fand. Diese Entwicklung ist jedoch nur zum Teil auf Spezifika der österreichischen Wissenschaftslandschaft, etwa die stark ethnographisch ausgerichtete Volkskunde, zurückzuführen. Die Aufnahme des Nadlerschen Ansatzes wurde hier in erster Linie durch die in der „Literaturgeschichte“ vorgenommene Aufwertung der österreichischen deutschsprachigen Literatur gefördert. In universitätspolitischer Hinsicht lassen sich Schlüsse auf den Einfluß August Sauers, aber kaum auf die Bewertung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ziehen. Kapitel 6. ist der Weiterentwicklung des stammeskundlichen Ansatzes durch Nadler bis zum Abschluß der nunmehr vierbändigen zweiten Auflage seines Hauptwerks im Jahr 1928 gewidmet. Die fortschreitende Arbeit an den Konzepten ist einerseits gekennzeichnet durch Bemühungen des Literaturhistorikers, die interdisziplinäre Begründung seines Ansatzes mit den bedeutenderen geistesgeschichtlichen Strömungen der Germanistik als vereinbar zu erweisen – nicht zuletzt durch die Hervorhebung interdisziplinärer Ansätze in der germanistischen Sprachwissenschaft. Andererseits ist erst in der zweiten Auflage das Nadlersche Konzept von Klassik, Barock und Romantik auf eine einheitliche Grundlage gestellt, wobei dieselbe in ihrer Konzentration auf die Mischung von Völkern weitreichende Konsequenzen mit sich bringt. Der Aufbau der stam-
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meskundlichen Literaturgeschichtsschreibung verliert auf diese Weise tendenziell an Flexibilität und problematische Aspekte wie Nadlers Antisemitismus treten stärker hervor. Die bereits zuvor bestehenden fragwürdigen Facetten des Werks bleiben von diesen Modifikationen überdies unbeeinflußt. In Kapitel 7. wird gezeigt, daß der weitere Verlauf der Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung und von Nadlers akademischer Karriere Zeugnis von der nun auch innerhalb der Disziplin Germanistik wachsenden Akzeptanz für den Ansatz des Literaturhistorikers gibt. Die Nadlersche Richtung wird durch seine Fachkollegen unter die Ansätze des „Methodenpluralismus“ eingereiht, wenn auch mit jeweils unterschiedlichen Vorzeichen. Hand in Hand damit geht eine detailliertere Auseinandersetzung mit Nadlers Konzepten, die aber ein weiteres Mal fragwürdige grundlegende Annahmen des Literaturhistorikers unberührt läßt. Tatsächlich gehörte die Überzeugung von der Existenz von Stammeseigenschaften und deren Einfluß auf die Literatur gewissermaßen zum Allgemeinwissen der Zeit. Wie die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung immer mehr zur ernstzunehmenden Konkurrenz für die vorherrschenden geistesgeschichtlichen Strömungen der Germanistik wird, zeigt sich an Nadlers Rolle in Lehrstuhlbesetzungsangelegenheiten. In diesem Rahmen zeichnen sich auch erstmals die Auswirkungen der politischen Implikationen der „Literaturgeschichte“ ab, da der Literaturhistoriker nicht selten mehr Unterstützung von Regierungs- als von Universitätsgremien erhielt. Im die Zeit zwischen 1909 und 1931 zusammenfassenden Kapitel 8. ist auf die Ursachen für die und die Probleme der Durchsetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als wissenschaftlicher Ansatz im inner- und außerdisziplinären Bereich einzugehen. Dieses vorläufige Fazit wird dadurch begründet, daß einerseits die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung mit dem Abschluß der zweiten Auflage 1928 keine Änderungen ihres Grundkonzepts mehr erfuhr und andererseits der Ansatz um 1930 den Zenit seines Erfolgs erreichte. Ab etwa 1940 zeichneten sich der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung ungünstige Entwicklungen ab. In Kapitel 9. wird dokumentiert, wie Nadler in der berüchtigten vierten Auflage seines Hauptwerks sein weitgehend unverändertes Konzept als nationalsozialistisch verstand und welche Ambivalenzen sich aufgrund dieser Einschätzung unter Germanisten und NS-Gremien ergaben. Kapitel 10 verfolgt im Anschluß daran die Versuche des Literaturhistorikers, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit für seine stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung mit nach 1945 publizierten einbändigen Werken zur österreichischen und deutschen Literaturgeschichte neuerlich durchzusetzen und deren man-
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gelnde Wirkung. Der Thematik des Nadlerschen Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit seines Werks und dessen wechselhaftem Erfolg ist auch das abschließende Kapitel 11. gewidmet.
2. Die Germanistik im Gefüge der Wissenschaften um 1900 Die Germanistik, besonders der Fachbereich der neueren Literaturwissenschaft, befand sich um 1900 in einer Phase der Neuorientierung. Die Ursachen dafür sind sowohl im innerdisziplinären Bereich zu suchen als auch auf ein neu definiertes Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zurückzuführen. Nicht zuletzt ist auch noch ein allgemeines, auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen fußendes Krisenbewußtsein des fin de siècle zu berücksichtigen.1 Die innerhalb der Germanistik wachsende Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der philologisch bestimmten Forschung resultierte in der Suche nach erweiterten Grundlagen für die Disziplin. Dabei orientierten sich die Fachvertreter an den unterschiedlichsten Forschungsrichtungen und schrieben sich in unterschiedlichster Weise in das Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen ein. Um Nadlers Position im Rahmen dieser Stellungnahmen bestimmen zu können, wird der Analyse ein Überblick über die Probleme der Germanistik um 1900 und die neu entwickelten Lösungsvorschläge vorausgeschickt.2
2.1. Grundlagen und Probleme der Philologie Das etwa um 1890 akut werdende innerdisziplinäre Bedürfnis der Germanistik nach Erneuerung resultierte in erster Linie aus der wachsenden Unzufriedenheit der Fachvertreter mit den Ergebnissen der philologischen Forschungsweise.3 Den entschiedendsten Verfechtern der strengen Ein—————— 1
2 3
Vgl. z. B. vom Bruch, Rüdiger; Graf, Friedrich Wilhelm; Hübinger, Gangolf: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900. In: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Hrsg.: Dies. Stuttgart: Steiner 1989, S. 9-24. Obwohl Germanistik um 1900 die deutsche Sprachwissenschaft mit einbegriff, bleibt bei folgenden Ausführungen in Konzentration auf Nadlers Fachgebiet die Linguistik weitgehend ausgeschlossen. Vgl. im folgenden: Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte; König, Christoph; Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt/M.: Fischer 1999.
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haltung philologischer Standards wurde vor allem seitens jüngerer Fachvertreter der Vorwurf zuteil, durch ihre Konzentration auf Textkritik, Quellenkunde, Editionstätigkeit, Motiv- und Stofforschung sowie auf Dichterbiographien unter jeweils bis in die kleinsten Details gehender Forschung die Synthese der gewonnenen Ergebnisse in größere Zusammenhänge zu vernachlässigen. Überdies wurde speziell den Vertretern der Scherer-Schule immer öfter die Übernahme naturwissenschaftlicher Methodik, speziell von Determinismus- und Kausalitätsprinzipien, vorgehalten und dies als „positivistisch“ abgelehnt. Die zu dieser Zeit einsetzende und rasch lauter werdende Kritik richtete sich jedoch keineswegs generell gegen die philologische Arbeitsweise, sondern gegen die allzu einseitige Arbeitspraxis der Schüler und Nachfolger Wilhelm Scherers. Die Standards der philologischen Forschung konnten durch die Fachvertreter zudem nicht völlig preisgegeben werden, weil die Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung der Germanistik im Laufe des 19. Jahrhundert als Philologisierung erfolgt war. In Absetzung von der Hegelschen Metaphysik und unter Ablehnung jeglicher Spekulation und a-priori-Theoriebildung konstituierten sich die modernen Wissenschaften im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Innerhalb jener sich neu herausbildenden disziplinären Struktur der Wissenschaften nahm die klassische Philologie eine Leitfunktion ein, einerseits aufgrund ihrer dominierenden Rolle in der Ausbildung der Gymnasiallehrer und andererseits, da sie zu diesem Zeitpunkt im Unterschied zu anderen Forschungszweigen mit der Quellenkritik bereits über eine gut entwickelte wissenschaftliche Methodik verfügte. Noch vor der Erhebung der Naturwissenschaften zum Ideal der Exaktheit kam somit der Philologie die Ehre zu, die Maßstäbe von „Wissenschaftlichkeit“ zu bestimmen. Unter diesen Voraussetzungen kann es nicht überraschen, wenn die Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur als Philologisierung erfolgt, und zwar sowohl in der Alt- wie in der Neugermanistik. [...] Auf eine theoretische Begründung ihrer selbst kann die Germanistik insofern verzichten, als sie sich an die Standards und Argumentationsniveaus der Leitdisziplin anpaßt und sich über die Form des Erkenntnisgewinns legitimiert. 4
Die Legitimation der philologischen Arbeitsweise über ihre Methode erwies sich als umso vorteilhafter, als die Methode praktisch gleichzeitig auch die Forschungsprobleme vorgab, die sich in erster Linie im Bereich der Edition und sprachhistorischen Forschung bewegten.5 —————— 4 5
Dainat, Holger: Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein. In: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Hrsg.: Peter Brenner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 72. Kolk, Rainer: Repräsentative Theorie. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geistesgeschichte. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissen-
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Als Ideal der Exaktheit sollten aber die Naturwissenschaften mit ihren wiederholbaren Messungen und Experimenten die Philologie rasch ablösen. Dessen war sich laut Wolfgang Höppner auch Wilhelm Scherer in seinem Lob der Naturwissenschaften bewußt, da der berühmte Germanist erkannt habe, daß ihre Methoden nur als Modell für die Beschäftigung mit Sprache und Literatur dienen könnten und nicht als Vorgabe, welche allein Wissenschaftlichkeit gewährleisten könne.6 In Scherers Konzept übernahmen schließlich gesellschaftliche Prozesse den Status der Naturgesetze im naturwissenschaftlichen Modell; die Vorstellungen des Kausalismus- und Determinismusprinzips wurden jedoch im Zuge dieser Übertragung beibehalten. Dieser Aspekt wurde nicht nur um 1900, sondern auch weit später beanstandet. Höppners Untersuchungen zeigen indes, daß Wilhelm Scherer sich in seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit bei weitem nicht so strikt am Beispiel der Naturwissenschaften orientierte, wie es bei der Lektüre mancher gegen die „positivistische“ Philologie gerichteten programmatischen Schriften nach 1900 scheinen mag. Gerade die Autoren der neueren Sekundärliteratur zu diesem bedeutenden Germanisten haben großen Wert darauf gelegt, Scherer vom Diktum des Positivisten Comtescher Prägung zu befreien.7 Anhand der wichtigsten Publikationen Scherers dokumentiert beispielsweise Höppner, wie dieser zwar das (idealisierte) Vorbild des exakten und kausalen Denkens in den Naturwissenschaften schätzte und auch die Textkritik als unentbehrliche Grundlage literaturwissenschaftlicher Arbeit ansah, aber weder die speziellen Probleme der historisch-philologischen Wissenschaften aus den Augen verlor, noch allein die Einzelpersönlichkeit und das Einzelwerk ohne Blick auf größere Zusammenhänge zu erforschen beabsichtigte. Der Germanist habe es in diesem Zusammenhang als wesentlich erachtet, ...daß die induktiv-empirische Erforschung einzelner Determinanten, die das „Warum“ geschichtlicher Erscheinungen aufhellen sollten, konsequent verbunden wurde mit der Frage nach dem „realen Allgemeinen“. Damit rückte Scherer Probleme von Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher (und literarhistorischer) Prozesse ins Blickfeld, deren Bezugspunkt weniger das naturgesetzliche Prinzip war, sondern das Individuum in der Einheit seiner natürlichen und geistigen Anlagen.8
Der Mensch, respektive der Dichter, wird in Scherers Anschauung demnach nicht allein von materiellen Verhältnissen geprägt, sondern ebenso —————— 6 7 8
schaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg.: Petra Boden und Holger Dainat. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 82. Vgl. Höppner, Wolfgang: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993. Siehe zu folgendem besonders S. 8-51 und S. 193-210. Vgl. neben Höppner auch: Kindt, Tom; Müller, Hans-Harald: Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftsgeschichtlichen Stereotyps. In: DVJS 74 (2000), S. 685-709. Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“, S. 35.
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von der geistigen Atmosphäre. Als Folge dieser stärkeren Einbeziehung des Geistigen erscheinen die in den Arbeiten Taines entscheidenden Faktoren race, milieu, moment bei Scherer als Ererbtes, Erlebtes und Erlerntes. Im Mittelpunkt von Scherers Interesses stand jedoch die Erforschung des geschichtlichen Zusammenhanges zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch die Formulierung von Gesetzen, was den Vergleich von Erscheinungen an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten als wichtigste Methode hervortreten ließ – das Prinzip der „wechselseitigen Erhellung“. Um 1900 wurde nicht zuletzt die fehlende Selbstreflexion der „positivistischen“ Philologie auf ihre Methoden zum Problem. Im Konnex der Gesamtsicht der Philologen auf ihre Vorgehensweise ist die geringe Bedeutung der methodischen und theoretischen Reflexion jedoch nachvollziehbar. Holger Dainat stellt etwa einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung von philosophischer Spekulation und dem Desinteresse an theoretischer Überlegung her.9 Doch auch andere Faktoren spielen hierbei eine Rolle: zunächst ist für die Erfüllung des Hauptziels der Philologen, die Herstellung von Originaltexten, die Methode der philologischen Textkritik das einzig adäquate Mittel. Die Überzeugung von der Objektivität der philologischen Forschung und vom Fortschritt des Erkenntnisprozesses ließ theoretische Reflexion als obsolet erscheinen, solange die handwerklichen (methodischen) Standards der Philologie eingehalten würden. Wäre der Originaltext erst wiedergewonnen, lautete weiters eine Überzeugung der Philologen, so lege sich sein Sinngefüge von selbst offen. Daraus resultiert auch das ausgeprägte, später als „Mikrologie“ geschmähte Interesse für Details, denn je vollständiger die Details erforscht wären, desto näher meinte man der Sinnentfaltung des Textes oder gar dem inneren Zusammenhang der gesamten Geschichte der deutschen Literatur zu kommen.10 Da man erwartete, die Synthese der Forschungsergebnisse werde auf einer gewissen Stufe praktisch von selbst erfolgen, waren theoretische Überlegungen, wie Synthesen herzustellen seien, freilich entbehrlich. Gleichzeitig mußte von einem solchen Standpunkt aus der Versuch, Synthesen zu bilden, als vorschnell und dilettantisch gelten, umso mehr, da auf diesem Weg die methodischen Standards der Philologie nicht eingehalten würden. Nicht anders als in der Altgermanistik, wo die Anlehnung an die klassische Philologie aufgrund der Beschäftigung mit alt- und mittelhochdeutschen Texten unmittelbar nahe lag, erfolgte die Verwissenschaftlichung —————— 9 10
Dainat: Von der neueren deutschen Literaturgeschichte, S. 499. Dainat, Holger: Die paradigmatische Rolle der Germanistik im Bereich der Philologien. In: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1916-1945. Hrsg.: Wolfram Fischer. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 174.
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der Neugermanistik ebenfalls im Rahmen der Philologie. Wilhelm Scherer selbst hatte einen großen Beitrag zur Etablierung der Neugermanistik als eigenes Fachgebiet geleistet. So blieb die Einheit der Disziplin Germanistik zunächst sowohl über die Methode wie auch über die gemeinsame Auffassung, die Philologie sei eine allgemeine Kulturwissenschaft, als deren Gegenstand der deutsche Nationalgeist anzusehen sei, gewahrt.11 Trotzdem ließ sich nicht verleugnen, daß mit der unterschiedlichen Quellenlage der neugermanistischen Forschung im Vergleich zur Altgermanistik – dem neueren Fachbereich stand breiteres und vor allem mehr auf die Dichterpersönlichkeit bezogenes Material zur Verfügung – neue Fragestellungen an den Gegenstand der neueren deutschen Literatur und besonders an die Gedankenwelt der Dichter gerichtet wurden. Doch auch hier blieb das Ziel, spekulative Aspekte, etwa jene der Ästhetik, durch empirische Forschungsarbeit zu ersetzen, was zum Projekt einer induktiven Poetik führte. In deren Rahmen sollten die für den jeweiligen Zeitraum geltenden ästhetischen Normen aus den Quellen historisch-empirisch hergeleitet werden. Zusätzlich zur Erschließung der Originalfassungen von Dichtungen durch die Textkritik, vor allem durch das Verfolgen des Entstehungsprozesses und die Rekonstruktion von Vorstufen, gewann so die Stoff- und Motivgeschichte an Bedeutung. In Zusammenhang damit ist auch die Hochkonjunktur der Dichterbiographie zu setzen, die es wiederum ermöglichen sollte, die besondere eigenschöpferische Leistung einzelner Autoren einschätzen zu können. Überdies war die Biographie ein willkommenes Mittel, die ausgreifende Detailforschung insofern in überschaubaren Grenzen zu halten, als das zu bearbeitende Material eben auf eine Person, ein Werk und ein Leben beschränkt wurde. Die Betrachtung und Bewertung literarischer Werke unter dem Horizont der jeweiligen Epoche ihrer Entstehung hatte jedoch den Nachteil, daß von dieser Grundlage keine Kriterien für die Beurteilung der Gegenwartsliteratur abgeleitet werden konnten. Damit entfernte sich die Literaturwissenschaft zusehends vom zweiten Hauptadressaten, an welche sich ihre Leistungen neben dem Erziehungswesen richteten: den Produzenten und Lesern zeitgenössischer Literatur. Besonders für die Erfassung expressionistischer Werke fehlte den Germanisten bald jedes Werkzeug. Somit hatte sich die Germanistik als philologische Disziplin etablieren und institutionalisieren können. Doch manche Aspekte der „positivistischen“ Philologie, welche zu diesem Erfolg beigetragen hatten, begannen im Laufe der Zeit durch inner- und außerdisziplinäre Entwicklungen Probleme aufzuwerfen. Aus dem Vertrauen heraus, daß sich nach genügend weit fortgeschrittenem Erkenntnisprozeß der Blick auf größere Zusam—————— 11
Vgl. Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte, S. 503-506.
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menhänge von selbst eröffnen werde und demnach kein Detail zu vernachlässigen sei, fehlte ein Kriterium zur Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem bei der Behandlung eines Werks oder eines Dichters. In ähnlicher Weise wurde im Bestreben „...jenseits der historischen und gesellschaftlichen Determinanten in den ,schöpferischen Triebkräften’ der produktiven Natur unverstellt habhaft zu werden...“12 sehr großer Wert auf die Rekonstruktion der Entstehung eines Werks und deren Bedingungen gelegt, wodurch auch mögliche Beeinflussungen der Dichter untereinander stark miteinbezogen wurden. Für die Auslegung der Werke blieb hingegen kein Raum, da sich ihr Sinn nach der philologischen Überzeugung aus den Details ohnehin von selbst ergeben und die Dichtung sich bei genügend großem Forschungsfortschritt von selbst erklären würde. Die Beschäftigung mit dem Sinngehalt des literarischen Werks war somit völlig in den Hintergrund getreten. Aus der bereits erwähnten Gleichsetzung von Methode und Wissenschaftlichkeit resultierte ein weiteres, diesmal konzeptuelles Dilemma der Philologie: Dadurch, daß Methode mit Wissenschaft(lichkeit) identifiziert wird und als Gegenbegriff zu Dilettantismus fungiert, beraubt sich die Philologie anderer Zugriffe auf ihr Material. Methoden können daher auch nicht alternativ diskutiert werden; es steht immer zu viel auf dem Spiel. Indem die Differenz von Erkenntnis und Sachverhalt getilgt wird, bleibt eine andere Erkenntnis des Sachverhalts ausgeschlossen. 13
Dadurch nahm sich die philologische Germanistik die Möglichkeit, an theoretischen Diskussionen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen teilzunehmen und auf neue Ideen und wissenschaftliche Vorgehensweisen zu reagieren. So kam es zu einem Abschließen des germanistischen Forschungsbetrieb gegen innovativere Fächer, unter welchen schließlich die Philosophie gegen Endes des 19. Jahrhunderts wieder eine bestimmende Rolle erlangte. Die Kritik an der in den Augen vieler Germanisten durch die SchererSchule verkörperten „positivistischen“ Philologie mag angesichts dieser Entwicklungen berechtigt gewesen sein, obwohl ihr Bild, vor allem was Wilhelm Scherers Affinität zu den Naturwissenschaften betrifft, oft zu einseitig und zu negativ gezeichnet wurde. Doch letztlich ging es weniger um die Ablehnung Scherers als um ein neues Verständnis der deutschen Philologie. Diese sollte nunmehr dezidiert als Geisteswissenschaft gelten, um sich von den prestigeträchtigeren Naturwissenschaften durch einen —————— 12 13
Laermann, Klaus: Was ist literaturwissenschaftlicher Positivismus? In: Zur Kritik der literaturwissenschaftlichen Methodologie. Hrsg.: Viktor Zmegac und Zdenko Škreb. Frankfurt/M.: Athenäum 1973, S. 62. Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte, S. 501.
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völlig andersartigen Charakter abzusetzen. Eine solche Absetzung erforderte zu ihrer Glaubwürdigkeit ein völlig anderes Erscheinungsbild der Germanistik – und nicht zwingend gänzlich geänderte Forschungsgrundlagen. Daß die philologische Arbeit unerläßliche Grundlage für alle literaturwissenschaftlichen Synthesen zur Erstellung größerer Zusammenhänge sei, blieb auch nach 1900 weitgehend unbestritten. Die Philologie als Grundlage wurde nicht in Frage gestellt und konnte auch nicht in Frage gestellt werden, ohne den durch sie erlangten Anspruch der Germanistik auf Wissenschaftlichkeit aufs Spiel zu setzen. Philologische Arbeit mußte geleistet werden. Aber: sie konnte nicht alles gewesen sein.
2.2. Die „neuen“ Geisteswissenschaften Um 1900 veränderte sich das Gefüge der Wissenschaften nachhaltig. Der sich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts abzeichnende Prestigeunterschied zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften wurde virulent, da die großen Erfolge der Naturwissenschaften und die sich am Maßstab der Physik ausrichtende Wissenschaftsauffassung mehrere Disziplinen vor ein Legitimationsproblem stellten – darunter auch die Philologien. Das Legitimierungsbedürfnis der nun als „weich“ geltenden Wissenschaften wurde zusätzlich durch das Manko erhöht, in ihrer Ausrichtung auf philologische Arbeitsweise und Historismus sowie dem damit verbundenen Werterelativismus (jedes Detail, jede einzelne Epoche sind gleichwertig) dem Orientierungsbedürfnis der Öffentlichkeit keinen Tribut mehr gezollt zu haben. Als neue Leitwissenschaft unter den historisch-philologischen Disziplinen löste die Philosophie die bislang führende klassische Philologie ab. Nach ihrem Bedeutungsverlust am Beginn des 19. Jahrhunderts und der daraus resultierenden Selbstreflexion, die sich besonders in der Auseinandersetzung mit Erkenntnistheorie geäußert hatte, war die Philosophie nun den übrigen historisch-philologischen Disziplinen überlegen: „Dieses Theorieangebot liefert den Anknüpfungspunkt einer philosophischen Auseinandersetzung mit der weitgehend theorielosen, ja theoriefeindlichen Praxis der positiven Wissenschaften in Deutschland...“14 und zwar in Verbindung mit einer Rückbesinnung auf idealistische Traditionsbestände und unter dem verstärkten Einfluß einer nationalen Komponente. Die von den Germanisten empfundene innerdisziplinäre Verknöcherung des Forschungsbetriebs konnte nun aufgebrochen werden, da die klassische Philologie und somit die philologische Forschung im allgemeinen ihren Status —————— 14
Dainat: Vom Nutzen, S. 75f.
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als Leitdisziplin verloren hatte und der Wechsel zur Philosophie als neue Leitdisziplin nicht nur neue Perspektiven der Forschung erschloß, sondern gleichzeitig die Grundlagen für die Kritik am Positivismus lieferte. Um das einführende Kapitel nicht zu überlasten, beschränkt sich die Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung im folgenden auf jene Stränge, welche für die Germanistik Bedeutung erlangten.15 Die wichtigsten erkenntnistheoretischen Grundlagen für das neue Selbstverständnis der Geisteswissenschaften wurden von Wilhelm Dilthey sowie den Neukantianern Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert geschaffen. Gemeinsam ist ihren Ansätzen, daß nicht mehr wie bisher der Forschungsgegenstand, also außermenschliche Natur (Materie) bzw. menschlicher Geist, über die Zuordnung zu Natur- oder Geisteswissenschaften entschied, sondern das Forschungsverfahren. Heinrich Rickert, der die Bezeichnung „Kulturwissenschaften“ anstelle der „Geisteswissenschaften“ bevorzugte, führte etwa eine Trennlinie zwischen zwei unterschiedlichen Weisen der Darstellung von Wirklichkeit ein: zunächst die generalisierenden, also auf allgemeine Begriffsbildung ausgerichteten Naturwissenschaften und weiters die auf das Individuelle und Besondere gerichteten, mit historischer Begriffsbildung arbeitenden Kulturwissenschaften. Zentral ist im zweiteren Fall der Wertbegriff: „...wir verstehen darunter [dem Begriff „Kultur“] die Gesamtheit der Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden.“16 Die Wertsetzung erfolge bei Kulturobjekten durch die Gemeinschaft. Damit geriet die kulturwissenschaftliche Forschung jedoch in die Gefahr des Werterelativismus und der Subjektivität. Rickert hielt Objektivität in den Kulturwissenschaften dennoch für möglich, wenn auch mit Einschränkungen: „Eine wertbeziehende Darstellung gilt immer nur für einen bestimmten Kreis von Menschen, welche die leitenden Werte [...] als Werte verstehen und damit anerkennen, daß es sich um mehr als rein individuelle Wertungen handelt.“17 Die Objektivität bliebe in seinen Augen über die allgemeine Geltung der Kulturwerte innerhalb einer Epoche gewahrt, wobei er überdies die These von immanenten Werten vertrat: „...wonach die einer Kultur eigenen Werte der Ausdruck von überzeitlichen, absolut gültigen Normen sind.“18
—————— 15 16 17 18
Derselben Begründung unterliegt auch die Konzentration auf germanistikgeschichtliche Sekundärliteratur in diesem und den folgenden Abschnitten. Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaften und Naturwissenschaft. Tübingen: Mohr 2. Auflage 1910, S. 27. Rickert: Kulturwissenschaften, S. 140. Iggers, Georg: Deutsche Geschichtswissenschaft. Wien u. a.: Böhlau 1997, S. 199.
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Wenn sich auch einige von jenen an den „neuen“ Geisteswissenschaften orientierten Germanisten auf Rickert beriefen,19 hatte Wilhelm Diltheys Konzept einer geisteswissenschaftlichen Methodik auf die deutsche Philologie weitaus größeren Einfluß. Versuchten Rickert und Windelband noch „...rationale Methoden für irrationales Material...“20 zu finden, so zweifelte Dilthey generell an der Möglichkeit eines rationalen Zugangs zu den Geisteswissenschaften und ließ die Suche nach Kausalgesetzen fallen. Diltheys Erkenntnistheorie beruht auf der Ansicht, daß Geisteswissenschaften wie die Naturwissenschaften mittels Erfahrung zu forschen hätten, allerdings nicht in der Form passiver Beobachtung, sondern als aktiver Vorgang des Miterlebens und Nachvollziehens von Denkakten und Handlungen der historischen Individuen in ihren spezifischen Lebenszusammenhängen. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, wo der Mensch nur äußere Beziehungen beobachten und auf dieser Grundlage Erscheinungen erklären könne, sei in den Geisteswissenschaften wirkliche Erkenntnis mittels der Verknüpfung historischer und psychologischer Methoden – letztlich über das Verstehen – möglich. Das Problem, wie bei solcher Vorgehensweise objektive Erkenntnis zu erlangen sei, versuchte Dilthey zu lösen, indem er Subjekt und Objekt auf die gemeinsame Grundlage des Lebens zurückführte. Georg Iggers bemerkt dazu: „Wenn Dilthey an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis aufgrund subjektiver Lebenserfahrung festhält, so geschieht das, weil er in der Tradition des deutschen Idealismus Geschichte noch als einen Prozeß sieht und eine grundlegende Harmonie zwischen den perspektivischen Wahrnehmungen des Individuums im Prozeß und der gesamten Wirklichkeit voraussetzt.“21 Jedem Kultursystem, beispielsweise einer Epoche, eignet in Diltheys Konzept ein spezifischer Sinnhorizont (der Lebenszusammenhang), welcher alle Äußerungen des Geistes prägt und somit objektiviert. Denn in allen Geisteserzeugnissen eines Kultursystems seien dieselben Wirkungszusammenhänge und inneren Gesetze wirksam, die zugleich seinen „Geist“ widerspiegelten.22 Da jeder historischen Struktur ein Wertsystem zugrunde liege, könnten die Weltanschauungen verschiedener Kultursysteme verglichen und typologisiert werden. Damit wurde die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit zum Gegenstand der Geisteswissenschaften. „Dieser ,Menschheitswissenschaft’ ging es im Kern —————— 19 20 21 22
Auch Josef Nadler beruft sich in seiner wissenschaftlichen Grundlegung auf Rickert, allerdings geht er nur bis zu einem gewissen Punkt mit ihm konform, vgl. 3.1. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 176. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 187f. Herrmann, Ulrich: Materialien und Bemerkungen über die Konzeption und die Kategorien der „Geistesgeschichte“ bei Wilhelm Dilthey. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, S. 50.
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um die Beschreibung und Analyse der kulturschaffenden ,Kraft’ des Menschen, die unsere Lebenswelt als Kultur in Symbolen und Traditionen entziffert, weshalb im Medium der Religion, der Kunst und der Dichtung dasjenige immer schon geschaut und erfahren werden kann, was nachträglich in Philosophie und Wissenschaft immer nur unzulänglich zu begreifen ist.“23 Zwar haben weder Dilthey noch Rickert eine allgemein akzeptierte Begründung der methodischen Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften leisten können, aber zumindest gelang eine Einschränkung der Geltung der naturwissenschaftlichen Standards auf dem Gebiet der historisch-philologischen Disziplinen. Die Geisteswissenschaften konnten auf diese Weise ein neues Selbstverständnis entwickeln, während die bereits vollzogene Auseinanderentwicklung der „harten“ und „weichen“ Wissenschaften wissenschaftstheoretisch legitimiert wurde. Dadurch verstärkte sich ihre Auseinanderentwicklung allerdings nicht nur weiterhin, sondern die bevorzugte Erforschung des Individuellen in den nicht naturwissenschaftlichen Disziplinen des deutschen Sprachraums behinderte überdies im Vergleich mit dem übrigen Westeuropa und den USA die Etablierung der Sozialwissenschaften. Durch die Begründung der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften in ihrer jeweils eigenen Methodik wurde praktisch die Möglichkeit, innerhalb der Geisteswissenschaften mit generalisierenden Methoden zu verfahren, aufgehoben, da man sich in den Augen der geisteswissenschaftlichen Fachkollegen damit von den historischen Wissenschaften abzuwenden drohte.24 Doch zumindest innerhalb der Geisteswissenschaften kam es zu einer verstärkten Annäherung zwischen den Disziplinen, wie generell die Geisteswissenschaften näher an die orientierungsbedürftige Öffentlichkeit heranrückten. Denn durch ihre Betonung von Werten, Leben und Weltanschauung waren die Geisteswissenschaften nach Diltheyscher Konzeption geradezu prädestiniert, Orientierungsbedürfnisse der Öffentlichkeit zu erfüllen. Auch die Germanistik beschäftigte sich nun mit der Frage, was sie als deutsche Philologie der Öffentlichkeit an Orientierungshilfe zu bieten imstande war.
2.3. Germanistik als Geisteswissenschaft Als die Diskussion über die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften aufgrund ihrer Methoden ihren Höhepunkt erreichte, war die —————— 23 24
Herrmann: Materialien und Bemerkungen, S. 53. Dainat: Vom Nutzen, S. 76-78.
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entscheidende Phase der Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung der Germanistik bereits vorüber. Aus diesem Grund war es den Fachvertretern wieder möglich, sich neuen Theorien zuzuwenden, ohne den Status der Disziplin zu gefährden. Dies gilt umso mehr, als die Philologie als ausschließlich zulässiger Forschungsansatz zwar kritisiert, aber als wesentliche Grundlage der germanistischen Forschung nicht in Frage gestellt wurde. Die bereits seit etwa 1890 innerhalb der Germanistik geführte Grundlagendiskussion verstärkte sich nun unter der Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Erwägungen der Philosophie der Neukantianer und Diltheys. Mit dem Wechsel der Leitdisziplin von der klassischen Philologie zur Philosophie verband sich für die Germanistik eine stärkere Binnendifferenzierung, da die Mediävistik der philologischen Methodik weitgehend treu blieb, während im neueren Fach – vor allem aufgrund der anders gearteten, umfassenderen und stärker personenbezogenen Quellenmaterialien – Erneuerung angestrebt wurde. Um 1910 begannen sich an den Universitäten neue literaturwissenschaftliche Ansätze zu etablieren, deren Vertreter sich vor allem auf die Konzepte Wilhelm Diltheys beriefen und für eine neue Ausrichtung der Germanistik stehen: die Geistesgeschichte. Die Bezeichnung „Geistesgeschichte“ für die Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts hat sich zwar fest eingebürgert, unterliegt jedoch weder einer einheitlichen Definition, noch ist ihre Dauer in übereinstimmender Weise umgrenzt. Wird ihr Anfang noch relativ einhellig mit dem Jahr 1910 verbunden und an die Rezeption von Wilhelm Diltheys Werk „Das Erlebnis und die Dichtung“ (1906) gekoppelt, so ist ihr Ende bzw. der Beginn einer neuen Periode der Literaturwissenschaft bereits umstritten.25 Ebenso unterschiedlich gestaltet sich die Aufnahme von einzelnen Ansätzen und Gelehrten in den Rahmen der Geistesgeschichte bzw. deren Einordnung in andere Stränge. Diese Uneinheitlichkeit resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß ab etwa 1910 innerhalb der Germanistik kein ähnlich integrierendes Element wie die philologischen Standards oder eine andere einheitliche Methodik mehr vorhanden waren. Die zahlreichen neuen Ansätze im auch mit dem Schlagwort „Methodenpluralismus“ bedachten Zeitraum sind kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Rainer Kolk kommt deshalb zu dem Resumée, daß als einzige Gemeinsamkeit, unter welche alle Richtungen zu einer „Geistesgeschichte“ zusammenge—————— 25
Holger Dainat setzt beispielsweise in Übereinstimmung mit Wilhelm Voßkamp das Ende der Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft in die 1960er Jahre (Dainat: Vom Nutzen, S. 80); während im von Christoph König und Eberhard Lämmert herausgegebenen Sammelband die „Geistesgeschichte“ auf ihre Hochkonjunktur zwischen 1910 und 1925 beschränkt wird: König, Lämmert: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925.
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faßt werden können, die Ablehnung der Philologie bzw. des Philologismus als deren Übertreibung und Status als einzig zulässige Methode gelten kann.26 Ablehnung der Philologie heißt also, gemäß jenen zuvor gezeichneten Problemfeldern der „positivistischen“ Forschungsrichtung: Kritik an der „Mikrologie“ als Aufnahme jeden winzigen Details in den Forschungsprozeß ohne Scheidung zwischen Wesentlich und Unwesentlich sowie die Forderung nach der Herstellung größerer Zusammenhänge. Zudem mahnten viele Germanisten eine verstärkte Betonung des Kunstcharakters der literarischen Werke ein, was nicht zuletzt die Bewertung der Gegenwartsliteratur wieder ermöglichen sollte. Damit war die Zuwendung zur (normativen) Ästhetik praktisch vorgegeben. Neben dem Kunstcharakter der Werke wollten viele Germanisten außerdem den schöpferischen Geist des Individuums hervorgehoben sehen, womit gegen die bisher betriebene Einflußforschung (wie wurde ein Literat durch Vorgänger beeinflußt?) die Originalität des einzelnen Dichters stärker in den Vordergrund rückte. Die Interpretation und die Herausarbeitung des Sinngehalts eines Werks sei in ihrem Wert vor die Rekonstruktion seiner Entstehung zu reihen. All diese Änderungen sollten auch den Leserkreis für germanistische Arbeiten über die Fachkollegenschaft hinaus ausweiten, wobei man mittels angewandter Ästhetik und einer Schwerpunktsetzung auf den Sinngehalt der Werke das Orientierungsbedürfnis der Öffentlichkeit nun wieder bedienen zu können hoffte. Um die Umsetzung dieser Ziele unter Aufrechterhaltung des wissenschaftlichen Status zu gewährleisten, wurde eine Erneuerung der methodischen und theoretischen Fundierung der Germanistik notwendig. In Übereinstimmung mit Kolks Feststellung, die Einheit der Geistesgeschichte ergebe sich allein durch die gemeinsame Ablehnung der Philologie, steht Holger Dainats Befund, daß die nach 1900 neu formulierten Ansätze verschiedene Modelle zur „Überbietung der Philologie“ darstellen.27 In diesem Zusammenhang fand jedoch kein Paradigmenwechsel von der Philologie zur Geistesgeschichte statt, da die bisher vorherrschende wissenschaftliche Ausrichtung nicht ersetzt, sondern lediglich auf den Status einer Grundlagenwissenschaft reduziert werden sollte. Die Rede von einem Paradigmenwechsel wäre schon allein aufgrund der Uneinheitlichkeit der Strömungen der geistesgeschichtlichen Periode problematisch, da ab der Jahrhundertwende innerhalb der Germanistik praktisch keine Normalwissenschaft mehr etabliert werden konnte. Die germanistische Forschung erhielt einen völlig neuen Charakter: —————— 26 27
Kolk: Repräsentative Theorie, S. 91. Dainat: Überbietung der Philologie, S. 232-239.
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Im Unterschied zu den philologischen Darstellungen verstehen sich die neuen „geistesgeschichtlichen“ Synthesen nicht mehr als abschließende Bilanzen, sondern als Versuche, Hypothesen oder Aufgabenstellungen zu formulieren und einzulösen. Dafür gibt es prinzipiell unterschiedliche Möglichkeiten, die miteinander konkurrieren. In der Germanistik spricht man von „Methoden“, wohlwissend daß es sich im strengen Sinne nicht um Methodenfragen handelt, sondern um Fragen der Legitimität und Relevanz von Problemstellungen. 28
Durch solchen Pluralismus der Anschauungen wurde jedoch die Relativität wissenschaftlicher Erkenntnis deutlich, wie Dainats weitere Ausführung darlegt. Und aus dem Bewußtsein der daraus resultierenden Gefährdung des Objektivitätsideals heraus entstand wiederum innerhalb der Germanistik das Gefühl einer Krisensituation. Dieses suchte man zum Teil durch stärkeren Bezug auf Werte zu kompensieren – ein gefährliches Unternehmen zur Rettung der Objektivität, wie sich im Verlauf der Geschichte der Germanistik zeigt. Die Bemühungen um neue wissenschaftstheoretische und methodische Begründung der Germanistik brachten eine Zunahme interdisziplinärer Denkweisen unter den Germanisten mit sich. Die Anleihen bei anderen (Geistes)Wissenschaften begannen sich zu häufen, wie sich auch bei der Analyse der stammeskundlichen Literaturgeschichte Josef Nadlers erweisen wird, dort allerdings unter anderen Vorzeichen. Um seine spezifische Form der interdisziplinären Begründung einer neuen Art zur Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur besser fassen zu können, bietet es sich an, folgenden Überblick über die konkurrierenden Ansätze der Germanistik nach 1900 nicht in erster Linie aus der Perspektive der Germanistik zu ordnen,29 sondern jene Strömungen in ihrem Verhältnis zu anderen Disziplinen und Wissenschaftszweigen darzustellen. In die Abschnitte 2.3.1. bis 2.4. werden jene Fachgebiete aufgenommen, die für die erstmalige Formulierung von Nadlers Ansatz keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielten; in Abschnitt 3.2. wird der Überblick über jene für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung maßgeblichen Wissenschaften erfolgen. Die jeweilige Entwicklung der vorgestellten Ansätze der Literaturwissenschaft wird zumindest bis in die 1920er Jahre weiterverfolgt, um nicht nur den wissenschaftlichen Rahmen für die Formulierung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu skizzieren, sondern darüber hinaus auch erste Eindrücke der innerdisziplinären Konkurrenzstellung, in welche Nadler sich einschrieb, zu ermöglichen.
—————— 28 29
Dainat: Die paradigmatische Rolle, S. 175. Wie die Darstellung z. B. in Hermand: Synthetisches Interpretieren erfolgte.
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2.3.1. Philosophie Da die Philosophie als Leitwissenschaft der „neuen“ Geisteswissenschaften gelten kann, ist das Verhältnis des Großteils jener in Überbietung der Philologie formulierten Ansätze zu dieser Disziplin bzw. bestimmten Strömungen derselben bereits vorgezeichnet. Die Germanisten orientierten sich vor allem in wissenschaftstheoretischer Hinsicht an Rickert und noch mehr an Dilthey. Wilhelm Diltheys Einfluß auf die Germanistik ging weit über die theoretische Grundlegung der „neuen“ Geisteswissenschaften hinaus, weil ein Teil seiner Theorien unmittelbar mit literaturwissenschaftlichen Aspekten verbunden war. Die Attraktivität seiner Anschauungen für Literaturwissenschafter gründete sich vor allem auf seinem Erlebnis- und Lebensbegriff. In Diltheys Konzept ist das innere Erleben bestimmt vom „erlebten Zusammenhang“ der Gedanken, Gefühle und des Willens, die erst im Nachhinein voneinander unterschieden würden. Mitchell Ash führt dazu aus: For him [Dilthey] this meant beginning with an intuitive description of inner experience more systematic than that carried out by poets but at the same level of sympathetic understanding. In his 1894 essay, such description yielded continuous cycles of thinking, feeling, and willing in interaction with a changing milieu. Aspects of the environment are taken up as ideas, affectively treated, then converted into willed action, which in turn always alters the milieu, and so on. This dynamic flow of interrelationship between the „totality of human nature“ and the world Dilthey called, simply „life“ or „life itself“. The cultural coding in this terminology is evident. The „life“ Dilthey meant was that of an educated elite of cultivated individuals, capable of comprehending the thought and feeling of past cultures by actively „co-experiencing“ them. 30
Die Germanisten verfuhren allerdings bei der Auswertung von Diltheys Theorien durchaus selektiv, wobei in der Verwendung mancher Begriffe mit der Zeit Abweichungen von der durch Dilthey selbst intendierten Definition eintraten. Man stützte sich vor allem darauf, daß nach Diltheys Ansichten ein Dichter seine Erlebnisse in seinem Werk verarbeite. Der Leser gelange zum Verständnis der Dichtung, indem der in der Dichtung festgehaltene Erlebnisausdruck im Zuge der Lektüre wiederum Gegenstand eines Erlebnisses werde.31 Im Nacherleben der festgehaltenen Erlebnisse könne der entsprechend gebildete Gelehrte direkt zum Sinngehalt des Textes vorstoßen. Als Konsequenz für die Literaturwissenschaft verschob sich das Interesse der Germanisten von den psychologischen Vorgängen des —————— 30 31
Ash, Mitchell G.: Gestalt psychology in German culture, 1890-1967. Holism and the quest for objectivity. Cambridge: University Press 1995, S. 73. Laermann: Literaturwissenschaftlicher Positivismus, S. 64.
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Schaffensprozesses auf das Werk als Ausdruck einer Erfahrung und einer bestimmten Weltanschauung.32 Denn die Erlebnisse des Dichters würden aus dem bestimmten Lebenszusammenhang seiner Epoche und deren spezifischen Bewußtseinsformen übernommen und sein Werk stelle somit nicht nur die innere Welt des Dichters, sondern auch die äußere Wirklichkeit des Lebens einer bestimmten Zeit dar. Dadurch könne das literarische Werk ein Werkzeug der Lebensdeutung werden, sowohl der individuellen als auch der gemeinschaftlichen Seite des menschlichen Daseins.33 Eine Übernahme des Erlebnisbegriffs in die Literaturwissenschaft gestaltete sich insofern problematisch, als etwa unklar blieb, ob bereits dem Erlebnis selbst ein schöpferischer Akt innewohne und ob bzw. wie das Erleben eines Dichters subjektiv beeinflußt sei. Ein weiteres Problem ergab sich für die Germanisten bezüglich der Frage, in welcher Weise über das einzelne Erlebnis und einzelne Werk hinaus zur Erfassung der „Weltanschauung“, bzw. der sich in einer Epoche verwirklichenden Idee zu gelangen sei, um die es ihnen letztlich ging. Denn obwohl diesem Konzept nach alle Dichtungen einer Epoche aus einem gemeinsamen Sinnhorizont stammen, erfaßt nicht jedes einzelne Werk den gesamten Lebenszusammenhang einer Zeit. Auch darin liegt ein Grund für die Differenzen zwischen den literaturwissenschaftlichen Richtungen, die sich unter das Vorzeichen der Konzepte Diltheys stellten. Für die unter dezidierter Berufung auf Dilthey formulierten geistesgeschichtlichen Entwürfe lassen sich somit nur wenige Gemeinsamkeiten anführen: Erstens die Überzeugung, daß der Dichtung ein schöpferischer Denkakt zugrunde liege und sich im literarischen Werk deshalb eine Idee ausdrücke. Das Werk gewinnt unter dieser Ansichtsweise überzeitliches und ahistorisches Wesen und ist nicht den geschichtlichen Tatsachen seiner Entstehungszeit, sondern allenfalls der Weltanschauung seiner Epoche verpflichtet. Der Geist als schöpferisches und somit irrationales Element ließe sich zweitens nicht durch ein einseitig rationales, von Notwendigkeit und Kausalität geleitetes Verfahren bestimmen. Unter diesen Prämissen wird das Verstehen auf der Basis des (Nach)Erlebens die wichtigste Verfahrensweise der Literaturwissenschaft. Weiters resultieren daraus die Konzentration auf die Werksphäre, also den Kunstcharakter der Dichtung sowie auf die intuitive Synthese der durch das Nacherleben gewonnenen
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Viëtor, Karl: Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. In: Publications of the Modern Language Association of America 60 (1943), S. 6. Wehrli, Max: Was ist/war Geistesgeschichte? In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Hrsg. König, Lämmert, S. 26.
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Erkenntnisse.34 Als zentrale Ausdrücke erweisen sich außerdem das „Ganze“ bzw. die „Ganzheit“ und „Einheit“, sowohl von Einzelwerken, als auch von Dichterpersönlichkeiten bis hin zu gesamten Epochen und darüber hinaus. Mit Karl Viëtor lassen sich hier noch folgende Kennzeichen der an Dilthey orientierten Ansätze ergänzen: ...daß die einzelnen Gebiete des geistigen Lebens „Auswirkungen des Gesamtgeistes“ (Unger) der Epoche sind; daß man die einzelnen Phänomene im Zusammenhang ihres geschichtlichen Lebens auffassen muß. Wie auch bei der menschlichen Individualität die einzelnen Äußerungen und Handlungen nur aus der Einheit der Person verstanden werden können.35
In unmittelbarer Nachbarschaft zur Philosophie wurde ein wissenschaftlicher Ansatz der Germanistik angesiedelt, der sich schließlich zu einer Hauptströmung entwickelte: die Ideen- und Problemgeschichte. Ihre im Vergleich mit manchen anderen neuen Konzepten große Bedeutung zeigt sich schon daran, daß sie in manchen Publikationen der Sekundärliteratur geradezu synonym mit dem Terminus „Geistesgeschichte“ gesetzt wird. Zudem läßt sich ihr großes Prestige am Ablauf der Lehrstuhlbesetzungsangelegenheiten ablesen, in welche auch Nadler involviert war (vgl. Abschnitt 7.2.). Als ihre Hauptvertreter gelten Rudolf Unger, Paul Kluckhohn, Hermann August Korff und – mit gewisser Einschränkung – auch Julius Petersen. Besonders intensiv und schon zu einem frühen Zeitpunkt setzte sich Rudolf Unger mit der theoretischen und methodischen Grundlage seiner später mit „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ bezeichneten Richtung auseinander, die deshalb hier als Beispielfall näher vorgestellt werden soll. Schon in einem Vortrag aus dem Jahr 1907 bedauerte Unger den Ausschluß philosophischer, sowie speziell psychologischer und ästhetischer Aspekte aus der Literaturbetrachtung, welche als Literaturgeschichtsschreibung unbedingt mit historischer Analyse zu verknüpfen sei.36 Die große Nähe der (Neu)Germanistik zur Philosophie gründe sich auf das gemeinsame Stoffgebiet der Weltanschauung und Ideengeschichte, was besonders für die neuere deutsche Literatur ab etwa 1750 gelte. Neben einer historischen Prinzipienwissenschaft vom geschichtlichen Leben, deren Formulierung von den Geschichtswissenschaften zu leisten sei, um zu einer Klärung des Kulturbegriffs zu kommen oder die Frage —————— 34 35 36
Riha, Karl: Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte. In: Zur Kritik der literaturwissenschaftlichen Methodologie. Hrsg.: Viktor Zmegac und Zdenko Škreb. Frankfurt/M.: Athenäum 1973, S. 76. Viëtor: Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, S. 7f. Unger, Rudolf: Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft. [Vortrag 1907] In: ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte (=Gesammelte Studien Bd.1). Berlin: Junker und Dünnhaupt 1929, S. 2 und 18. Zur Psychologie und Ästhetik vgl. 2.3.2.
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nach dem Verhältnis des Individuums zu Gesamtheiten wie dem Volk zu lösen, war Unger vor allem an der historischen Selbstdarstellung des Menschen in seinen Ideen und Werten gelegen: „Der gesamte kulturgeschichtliche Prozeß würde sich, von diesen Ideen und Werten aus gesehen, als zielstrebig, als die fortschreitende Realisierung derselben darstellen.“37 Die Fundamente des Wissens lägen so nicht auf empirisch-psychologischem Boden, sondern auf transzendentalem, nämlich dem unwandelbaren Kern des Menschen. Auch die Literaturgeschichte als induktive Erfahrungswissenschaft stieße somit an einem gewissen Punkt auf ein Gebiet des Unerfahrbaren. Dieses sich auf seine Natur gründende Wesen des Menschen habe nun in der Dichtung seine gegenständliche Erscheinungsweise, wie Unger in „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“38 ausführt. Somit sei die Erforschung des menschlichen Wesens nur möglich im Zurückgehen „...auf die letzten und zunächst noch ganz unspezialisierten und unreflektierten Probleme des Lebens selbst in seiner elementaren Ursprünglichkeit, auf die uralten und unveraltbaren Fragen des Menschseins und ihrer Gestaltung in der Geistes- und Literaturentwicklung.“39 Eine Anlehnung an die Methode und Heuristik der Philosophie ergäbe sich daraus, daß die Dichter sich wie die Philosophen mit jenen Problemen auseinandersetzen, wenn auch in ihrem unmittelbaren Erleben und weniger abstrakt. 1925 präzisierte Unger seine Ansichten weiter und bezeichnete die Geistesgeschichte nunmehr als spezifische Betrachtungsweise der geistigen Welt. Und zwar eine Betrachtungsweise, die, auf den ideellen Oberbau der Kultursynthese gerichtet, das einzelne Geistesgebiet erfaßt als Auswirkung des einheitlichen Gesamtgeistes der jeweiligen – zeitlich, national, geographisch oder sonstwie bestimmten – Kultur und daher in seinen unlösbaren Zusammenhängen mit anderen geistigen Kulturgebieten. Diese Zusammenhänge sind wiederum begründet von außen her in dem gemeinsamen kultursoziologischen, insbesondere staatlichrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Unterbau [...], innerlich und wesentlich aber eben in ihren funktionellen Beziehungen als Spiegelungen ein und desselben Geistesgehalts, dessen Differenzierung in die einzelnen Kulturgebiete von Religion, Philosophie und Kunst, wesensmäßig in der Struktur des objektiven Geistes selbst angelegt, empirisch sich verwirklicht durch die Brechung im Medium verschiedener Bewußtseinsstellungen des geschichtlichen Menschen. Die Grundvoraussetzung dabei ist die der wesentlichen Einheitlichkeit des jeweiligen „Kultur-
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Unger: Philosophische Probleme, S. 31. Unger, Rudolf: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. In: Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 1/1 (1924), S. 13. Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, S. 16.
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geistes“ und daher der organischen Bezogenheit aller seiner Gebilde auf einen gemeinsamen innersten Sinngehalt. 40
Die Aufgabe der Literaturwissenschaft sei die Herausarbeitung des Sinngehalts und der Lebensdeutung der Dichtung hinsichtlich der Bewußtseinsstufen (Epochen) des Gesamtgeistes, deren Unterschiedlichkeit sich in ihrer Stellung zu den Grundproblemen des Lebens äußere. Die Existenz dieses Gesamtgeistes gäbe nun der Wissenschaft ihr objektivsachliches Moment in der unveränderlichen Menschennatur, während man in der Dichtung eine Wechselbeziehung zwischen phänomenologischer Entfaltung des (objektiven) Wesens und der subjektivpsychologischen Seite der Erfahrung, bzw. des dichterischen Lebens und Schaffens anzunehmen habe. Ungers Programm enthält zwar genaue Vorstellungen zu den Grundlagen der Germanistik, doch wie literaturgeschichtliche Erkenntnisse konkret gewonnen werden können, bleibt undeutlich. Allein die produktive Phantasietätigkeit des (Literatur)Historikers, mit der er sich in vergangenes Leben versetzt und dieses anschaulich macht, wird erwähnt.41 Tatsächlich entsteht bei der Lektüre der Eindruck, Unger wolle die größten Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Anwendung seiner Grundannahmen auf den Gegenstand der Literatur ergeben, auf andere Wissenschaften abwälzen: das geschichtsphilosophische Fundament der Literaturgeschichtsschreibung, das mit so prekären Fragestellungen wie dem Verhältnis des einzelnen zum Kollektiv zu kämpfen hat, solle von der Geschichtswissenschaft geliefert werden. Die allgemeine Ideengeschichte und Erforschung der Weltanschauungen ist Gegenstand der Philosophie, eben nur mit Ausnahme ihrer Erscheinungsformen in der Dichtung. Allein die Ästhetik, obwohl auch sie letztlich der Philosophie zuzuordnen sei und auf psychologischer Erfahrung aufbaue, scheint in Form einer normativen Poetik direkt der Literaturwissenschaft zuzugehören. Die Hauptaufgabe eines Literaturhistorikers liegt augenscheinlich in der Verknüpfung aller dieser Gebiete im Zuge der Analyse literarischer Werke. 2.3.2. Psychologie Würde man sich an der disziplinären Ordnung an den Universitäten um 1900 orientieren, so müßte die Psychologie gemeinsam in einem Abschnitt mit der Philosophie behandelt werden. Denn zur Wende vom 19. zum 20. —————— 40 41
Unger, Rudolf: Literaturgeschichte und Geistesgeschichte. In: DVJS 4 (1926), S. 180f. Abdruck eines Vortrags im September 1925. Unger: Philosophische Probleme, S. 22.
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Jahrhundert hatten die Vertreter der Psychologie zwar einen wichtigen Schritt zur Etablierung ihrer Wissenschaft als eigenständige Disziplin getan – als Meilenstein ist dabei die Gründung von experimentalpsychologischen Instituten anzusehen – doch an den Universitäten blieb die Bindung an die Philosophie noch aufrecht. Problematisch waren in dieser Hinsicht einerseits das Fehlen eines praktischen Anwendungsgebiets und damit mangelnde Berufsaussichten für Psychologen; andererseits wirkte auch die Vielfältigkeit der methodischen und theoretischen Ansätze der Psychologie einer Institutionalisierung entgegen.42 Den ebenfalls nicht einheitlichen Konzepten der experimentellen Psychologie mit ihrer Nähe zu naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen standen jene Wissenschafter entgegen, welche die Psychologie zwar durchaus als empirische Forschungsdisziplin verstanden, jedoch experimentelle Methoden ablehnten bzw. nicht als alleinige Forschungsmethode eingesetzt wissen wollten. Als Folge der neuen Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften auf der Grundlage ihrer Methoden befand sich die Psychologie aufgrund ihrer zahlreichen Ansätze erst recht in einer unklaren Position.43 Wohl weil der Grad der Anerkennung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft gerade durch die Einrichtung experimenteller Laboratorien stark gestiegen war, reihten Rickert und Windelband die zeitgenössische Psychologie unter die generalisierenden, gesetzgebenden Wissenschaften und standen ihr als solche eher ablehnend gegenüber.44 Innerhalb der Germanistik wurde wiederum Wilhelm Diltheys Entwurf einer geisteswissenschaftlichen Psychologie am einflußreichsten. In einem später adaptierten Ansatz vertrat Dilthey die Notwendigkeit einer psychologischen Grundlegung der verstehenden Geisteswissenschaften, da die Psychologie den seelischen Zusammenhang aus Gefühlen, Gedanken und Willen (vgl. Abschnitt 2.3.1.), in welchem die innere Erfahrung gegeben sei, zu beschreiben und zu zergliedern imstande sei. Für die Dichtung galt nun, daß das im inneren Zusammenhang stehende Erleben nie—————— 42
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Ash, Mitchell G.: Die experimentelle Psychologie an den deutschsprachigen Universitäten von der Wilhelminischen Zeit bis zu Nationalsozialismus. In: Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Hrsg.: ders. und Ulfried Geuter. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 45f. Zum problematischen Verhältnis zwischen „reinen“ Philosophen und Psychologen vgl. auch Ash: Gestalt psychology in German culture, Kap. 3. Dies läßt sich besonders gut an der dualistischen Konzeption Wilhelm Wundts dokumentieren: in dieser gehört die experimentelle Psychologie mit ihrem Forschungsgegenstand der Erfahrungen, Vorstellungen und Willensvorgänge als ergänzende Wissenschaft an die Seite der Naturwissenschaften, während die Völkerpsychologie durch ihre Erforschung der in Gesellschaft und Geschichte herrschenden geistigen Kräfte als Grundlage aller Geisteswissenschaften anzusehen wäre (vgl. Benetka, Gerhard: Denkstile der Psychologie. Wien: WUV 2002, S. 63-100). Ash: Gestalt psychology, S. 42f; Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 160.
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dergeschrieben werde. Die fertige Dichtung sei somit Ausdruck des Erlebens, wobei es Dilthey zunächst stärker auf den schöpferischen Akt, also die Niederschrift des Erlebens ankam. In einer späteren Konzeption wich er jedoch von der Ansicht, das Erlebnis sei der Gegenstand der Geisteswissenschaften, ab: An ihre Stelle tritt die These, dass die Geisteswissenschaften im Zusammenhang von Erleben, den Ausdrücken von Erlebnissen und dem Verstehen dieser Ausdrücke gründen. Alles, was vom Menschen gemacht wird, kann als Ausdruck, als Zeichen bewussten Lebens gedeutet, dem Prozess des Verstehens unterworfen werden.45
So tritt im wissenschaftlichen Interesse das Produkt des schöpferischen Ausdrucks an die Stelle des schöpferischen Aktes und die Hermeneutik rückt an die Stelle der Psychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ähnlich dem völkerpsychologischen Ansatz Wilhelm Wundts ging auch Dilthey davon aus, daß Sprache, Sitte und Recht Erzeugnisse des Gesamtgeistes darstellten, weshalb man aus ihrer Entwicklungsgeschichte am meisten über den Menschen lernen könne.46 Das Verstehen der Bedeutung von Werken muß unter diesem Ansatz nicht mehr mittelbar über das Verstehen psychischer Strukturen laufen, da Verstehen durch unmittelbares Nacherleben – in diesem Fall das Nacherleben des dichterischen Werks – möglich sei. Die enge Anlehnung mancher Germanisten an Wilhelm Dilthey auch in Fragen der Psychologie kommt wiederum besonders deutlich bei Rudolf Unger zum Ausdruck. 1907 schrieb er der Psychologie die Aufgabe zu, Einblick in das Seelenleben des Dichters und des Schaffensprozesses zu ermöglichen. „Der organische Zusammenhang zwischen dem äußeren und namentlich dem inneren Leben und dessen schriftstellerischen Äußerungen muß erforscht werden, die Eigenart und Entwicklung dieses inneren Lebens, die Entfaltung der individuellen Anlagen wie die unmittelbaren und mittelbaren Entwicklungen, die diese durch Erziehung, Umwelt, Leben, Lektüre, Zeitgeist erfahren, müssen begründet werden.“47 Die Ästhetik solle im Anschluß daran als empirisch-beschreibende und erklärende Normwissenschaft auf der psychologischen Erfahrung aufbauen und eine Basis für die Beurteilung von Werken in ihrer organischen Geschlossenheit und eigentümlichen ästhetischen Gesetzmäßigkeit bilden. Sie richte sich zwar laut Unger auf ein Ideal aus, doch die ästhetischen Normen seien im Wesen des menschlichen Geistes mit dessen unwandel—————— 45 46 47
Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 189. Benetka: Denkstile der Psychologie, S. 167-190. Unger: Philosophische Probleme, S. 16. Ähnliche Ansichten finden sich auch in: Merker, Paul: Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 1 (1925), S. 19.
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baren Kern begründet, entsprächen psychologischen Tatbeständen und gelten somit als objektiv. Sechzehn Jahre später klingen Ungers Worte zur Psychologie bereits anders: Bezugnehmend auf Diltheys „psychologistischen“ Zugang ist nun von der Objektivität durch psychologische Tatbestände nicht mehr die Rede: „Für uns Heutige dagegen, die wir im Zeichen eines neuen philosophischen Objektivismus stehen und arbeiten, ist die ‚Natur des Menschenlebens’ als Gegenstand der Dichtung wieder objektive Größe geworden, die wir weder unter individual- noch sozialpsychologischer Perspektive, sondern zunächst aus sich selbst, aus ihrer gegenständlichen Erscheinungsweise zu verstehen suchen müssen.“48 Obwohl der betreffende Abschnitt als Überbietung Diltheyscher Konzepte formuliert ist, läßt sich der Eindruck einer Wende Ungers zur Hermeneutik, das heißt: zur (geistesgeschichtlichen) Auslegung kultureller Produkte, wie sie auch Dilthey selbst vollzogen hat, nicht leugnen. Die Anlehnung an Dilthey in Fragen der Psychologie war in der Germanistik um 1900 keineswegs allgemein. Julius Petersen etwa zeigte nur wenig Vertrauen in die Psychologie seiner Zeit, oder zumindest in ihren Beitrag zum Verständnis eines dichterisches Werks. Die „Normalpsychologie“ – dieser Begriff bleibt leider undefiniert, dient aber der Absetzung des dichterischen Genies vom Mittelmaß – „...versagt gegenüber dem komplizierten Verlauf des abnormen künstlerischen Schaffensprozesses.“49 Zudem konzentriere sie sich zu sehr auf die Veranlagung der Menschen als auf ihr Seelenleben, weshalb Petersen der Intuition, das heißt dem intuitiven Nachvollziehen des Schaffensprozesses ergänzt durch Logik, den Vorzug vor der Psychologie gibt. Überhaupt sei die Psychologie keine Hilfs- und schon gar keine grundlegende Wissenschaft der Literaturwissenschaft, sondern erst „..im Vergleich aller nacherlebten Schaffensvorgänge finde die Psychologie ihr Material.“50 Auch der Begriff einer Sozialpsychologie findet sich in manchen germanistischen Programmatiken erwähnt, sie nimmt jedoch einen geringen Stellenwert ein, was auch damit zusammenhängt, daß die akademische Psychologie sich vornehmlich mit Individualpsychologie befaßte. Zudem stand der Großteil der Germanisten sozialpsychologischen wie auch soziologischen Ansätzen alles andere als unvoreingenommen gegenüber (vgl. Abschnitt 2.4.). Oskar Walzel betrachtete die Sozialpsychologie beispielsweise als die Grundlage der Arbeiten Karl Lamprechts und kritisierte, der Kulturhistoriker wolle damit individuelle psychologische Vorgänge auf —————— 48 49 50
Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, S. 13. Petersen; Julius: Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg: Winter 1914 (=Antrittsvorlesung Basel 2. 12. 1913), S. 29. Petersen: Literaturgeschichte als Wissenschaft, S. 46.
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allgemeine Gesetze reduzieren.51 Unger hingegen schrieb der sozialpsychologischen Betrachtungsweise ausschließlich die Aufgabe zu, die Volksdichtung als Erzeugnis überindividueller Dichtertätigkeit zu erforschen. 52 Da er sich im gleichen Atemzug daraus die Lösung der Probleme von Sprache, Mythos, Sage und Sitte erhofft, ist wiederum die Nähe zu Dilthey deutlich, womit der Weg also weniger über die Psychologie als über die Geschichte führt. Nach Oskar Bendas Darstellung beschränkte sich die Aufnahme psychologischer Elemente in die literaturwissenschaftliche Germanistik der 1920er vor allem auf Strukturpsychologie.53 Mehr als auf Dilthey geht diese auf dessen Schüler Eduard Spranger zurück, dessen Strukturpsychologie sich präsentiert als ...ein System von psychologischen Typen, die jeweils einer bestimmten Weltanschauung zugeordnet sein sollten. Diesem System zufolge konnte jedes Individuum als eine besondere Kombination der Idealtypen des theoretischen, des ökonomischen, des ästhetischen, des gesellschaftlichen, des religiösen oder des Machtmenschen beschrieben werden, wobei einer von diesen jeweils dominierte. 54
Benda konstatiert zwar eine Masse an neuen Typologien (z. B. Geschlecht, Alter, Kultur, Völker, Rassen, Klassen, Stämme, Stil), stellt dieser Forschungsrichtung jedoch ein negatives Zeugnis aus, indem er sie als „psychologische Fiktionen“ bezeichnet, welche als bequemes Ordnungsprinzip für die Fülle der Kulturerscheinungen dienten.55 Dagegen attestiert er der universitären Germanistik, sie ignoriere die psychoanalytische Forschung, was jedoch für die akademische Psychologie ebenfalls galt. Karl Viëtor warf noch 1945 den Gelehrten der geistesgeschichtlichen Richtung veraltete und vage psychologische Vorstellungen vor,56 was durchaus als zutreffend gewertet werden kann. Die Psychologie wurde zwar gern als Wissenschaft vom Seelenleben nominell in den Verband der Hilfsdisziplinen der Germanistik aufgenommen, doch eher programmatisch denn als tatsächlich einbezogener Forschungsgegenstand. Umso mehr, als etwa die —————— 51 Walzel, Oskar: Analytische und synthetische Literaturforschung. In: GermanischRomanische Monatsschrift 2 (1910), S. 163. 52 Unger: Philosophische Probleme, S. 17. 53 Benda, Oskar: Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Wien: HölderPichler-Tempsky 1928, S. 26-30. 54 Ash: Die experimentelle Psychologie, S. 68. 55 Benda: Der gegenwärtige Stand, S. 30. Diese Konzepte dürften der geistesgeschichtlichen Richtung jedoch willkommen gewesen sein, so sprach sich auch Rudolf Unger für die „...strukturpsychologische Ergründung des dichterischen Erlebens und Schaffens...“ von subjektiver Seite her aus. Unger: Literaturgeschichte und Geistesgeschichte, S. 185. 56 Viëtor: Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, S. 23.
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von manchen Germanisten bevorzugte Sprangersche geisteswissenschaftliche Psychologie unter den Psychologen Minderheitenprogramm blieb. 2.3.3. Kunstgeschichte In der Kunstgeschichte um 1900 vereinigten sich, um mit Jost Hermand zu sprechen, zwei Grundimpulse: einerseits die empirische Sinnespsychologie der 1890er Jahre und andererseits die neuidealistische Philosophie. „Die offenkundigen Diskrepanzen dieser methodischen Mixtur, die das Sinnlich-Gegebene mit einer von allen milieubedingten Voraussetzungen gereinigten Begriffsbildung zu verbinden sucht, hoffte man dadurch überbrücken zu können, daß man die aus der unmittelbaren Anschauung gewonnenen „Sehformen“ zu wissenschaftlichen Grundbegriffen erhob, deren konstitutive Kraft direkt aus dem Absoluten zu stammen scheint.“ 57 Am einflußreichsten erwiesen sich im Hinblick auf die Germanistik Heinrich Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“.58 Wölfflin versuchte, Stilbegriffe rein formal aus der Anschauung der Kunstwerke zu entwi keln, also ohne auf die historischen Hintergründe der Entwicklung einzelner Stile einzugehen und unter Verzicht auf die Nennung einzelner Künstler. Er arbeitete vor allem mit Gegensatzpaaren wie etwa Renaissance – Barock, und auch seine fünf Grundkategorien waren in dieser Weise aufgebaut (z. B. linear – malerisch, offen – geschlossen).59 In Orientierung am Wölfflinschen Ansatz der Kunstgeschichte entstanden in der Germanistik formtypologische Ansätze, als deren wichtigste Vertreter Oskar Walzel und Fritz Strich zu nennen sind. Bei Fritz Strich verläßt jedoch die Typologisierung, die sich in der Kunstgeschichte auf den Untersuchungsgegenstand beschränkt hatte, den Rahmen des Werks und wird unter Übernahme der bei Wölfflin vorgegebenen antithetischen Struktur auf künstlerische Menschentypen übertragen. Zentral ist hier die Trennung des klassischen und den romantischen Menschentyps, welchem einerseits die Vollendung und andererseits die Unendlichkeit zugeordnet wird. Damit entfernte sich Strich teilweise recht weit von Wölfflin.60 Auch in manchen Arbeiten Oskar Walzels wird mit ähnlichen binomischen Begriffspaaren gearbeitet, doch war in seinem Fall die Anlehnung —————— 57 58 59 60
Hermand: Synthetisches Interpretieren, S. 136. Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München: Bruckmann 1915. Vgl.: Hermand: Synthetisches Interpretieren, S. 139-141. Dilly, Heinrich: Heinrich Wölfflin und Fritz Strich. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg.: König, Lämmert, S. 277.
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an den kunsthistorischen Ansatz durch eigene theoretische Grundlegung vorbereitet. Schon 1910, also fünf Jahre vor dem Erscheinen von Wölfflins einflußreichem Werk, entwickelte er Gedanken, die für ein späteres Anschließen an den kunsthistorischen Ansatz geradezu prädestiniert scheinen.61 Er betonte zunächst, wie viele seiner Kollegen, die Notwendigkeit, von der Einzelanalyse zu größerer Synthese zu gelangen, verschob diese aber allein auf stil- und formtypologische Ebene – vor allem hinsichtlich einzelner Epochen: „Analytisch arbeitet, wer die individuellen Erscheinungen Lessing, Goethe, Schiller auf den ‚Allgemeinbegriff’ des ‚deutschen Klassizismus’ zurückführt; synthetisch ist der Versuch gedacht, die Individuen Lessing, Goethe, Schiller zu dem ‚selbständigen Ganzen’, genannt ‚deutscher Klassizismus’ zu verknüpfen.“62 Zur Synthese solle man über fortschreitende Begriffsbildung gelangen, wobei innerhalb der Literaturgeschichte als solche begrifflichen Elemente die im Kunstwerk verwirklichten Ideen, die Lebensprobleme, die es darstellt und schließlich seine Form anzusehen seien. „Form ist hier im weitesten und tiefsten Sinne genommen, vom äußerlich Technischen bis zu dem geheimnisvollen Punkte, an dem die künstlerische Idee in eine ihr notwendige Gestalt übergeht.“63 Walzels ganze Aufmerksamkeit gilt also der Form, genauer gesagt, der Entwicklung, dem „Werden“ der literarischen Form bzw. des Stils als Ganzes, die wiederum vor allem über den Beitrag des Individuums zu fassen seien. Synthetische Literaturforschung in seinem Sinne soll vor allem die Entwicklungsbahnen der Kunst von Individuum zu Individuum erschließen. Damit stehen, wie ihm selbst bewußt ist, die großen Kunstwerke und ihre Nachwirkung im Vordergrund, jedoch sei es dem Forscher geboten, anhand der zahlreicheren weniger bedeutenden Dichter und ihrem Werk gewissermaßen als Korrektiv den „Zeitgeist“ festzustellen, damit einzelne geniale Leistungen im richtigen Verhältnis gesehen werden könnten. Die Begriffe „Idee“, „Lebensproblem“ und „Zeitgeist“ sowie die Betonung des Individuellen lassen die Nähe dieser formtypologischen Richtung zur prestigeträchtigen Ideen- und Problemgeschichte deutlich werden. Der Form- und Stilforschung zum Zwecke der Bildung höherer Begriffe innerhalb der Literaturwissenschaft wird die Aufgabe zugeschrieben, das „selbständige Ganze“ verschiedener Epochenstile zu typologisieren, das jedoch am „Geist der Zeit“ hängt und damit anders als bei Wölfflin oder in späteren Arbeiten Walzels noch nicht zeitentbunden ist und —————— 61 62 63
Walzel: Analytische und synthetische Literaturforschung. Walzel: Analytische und synthetische Literaturforschung, S. 258. Walzel: Analytische und synthetische Literaturforschung, S. 321.
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sich stark auf das Individuum stützt. Daran zeigt sich überdies, daß die formalästhetische Richtung der Germanistik nicht allein dem Einfluß der Kunstgeschichte – oder zumindest nicht allein dem Einfluß Wölfflins – zuzuschreiben ist. Die Nähe Walzels zur Ideengeschichte drückt sich auch in seinem Ziel aus, die Erkenntnisse Diltheys und Wölfflins in ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung zu bringen, an deren Ende eben der „Zeitgeist“ – letztlich nichts anderes als der geistesgeschichtliche Epochengeist – deutlich hervortreten solle.64 Sein Verdienst ist es jedoch, die Produkte mehrerer Künste vergleichender formalästhetischer Betrachtung unterzogen zu haben. Was Walzel in der Folge von Wölfflin übernahm, unterschied sich wenig vom Vorgehen Fritz Strichs, weshalb Jost Hermand die Naivität der Übernahme der Wölfflinschen Grundbegriffe beklagt und feststellt, daß die Stiltypologie sich nie völlig aus dem Sog der Problemgeschichte hatte lösen können.65 Dennoch eignete sich Walzels Ansatz der Formtypologie laut Wilfried Barner unter den neuen germanistischen Strömungen am ehesten für die Bildung einer Schule: „Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe [...] haben bei aller antipositivistischen ‚Form’-Verehrung mit der ‚Philologie’ das genaue Hinsehen, die Konkretheit, die Umsetzungsmöglichkeit auf immer neue Gegenstände gemeinsam...“66 Das heißt, daß sie manche Vorteile der Philologie besaß und doch nicht der Ablehnung, die der „positivistischen“ Literaturbetrachtung zuteil wurde, ausgesetzt war. Diese Eigenschaften begünstigten wohl nicht zuletzt ein starkes Aufleben formtypologischer Ansätze nach 1945.
2.4. Soziologie Sozialwissenschaftliche Ansätze hatten in Deutschland weit später als in Frankreich und Großbritannien Fuß gefaßt und auch die Vorbehalte gegen sie waren hier von Anfang an stärker gewesen. Wolf Lepenies führt die schwierige Lage sozialwissenschaftlicher Fachbereiche unter anderem darauf zurück, daß in Deutschland aufgrund der größeren politischen und sozialen Rückständigkeit das Empfinden eines deutschen Sonderwegs entstanden war, welches gemeinsam mit der Feindlichkeit gegen eine dem Leben sich entfremdenden (Natur)Wissenschaft zur Ablehnung der Arbei—————— 64 65 66
Rosenberg: Zehn Kapitel, Abschnitt „Stiltypologie“, S. 202-225. Hermand: Synthetisches Interpretieren, S. 142f. Barner, Wilfried: Zwischen Gravitation und Opposition. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg.: König, Lämmert, S. 222.
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ten eines August Comte oder John Stuart Mill führte.67 Dabei beschränkte sich die fehlende Akzeptanz etwa für die Soziologie nicht nur auf diesen Aspekt. Von entscheidender Bedeutung war auch ihr Verhältnis zur Geschichtswissenschaft: „Die Soziologie westeuropäischer Prägung stieß in Deutschland auf politischen Widerspruch, weil sie die skandalöse Trennung der Gesellschaft vom Staat nicht nur hinnahm, sondern diese geradezu als Voraussetzung ihrer wissenschaftlichen Existenzberechtigung begrüßte, sie provozierte eine wissenschaftstheoretische Reaktion, weil sie die Eigenart historischer Phänomene mißverstand und sich als Konkurrentin der Geschichtswissenschaft aufspielte.“68 Mit jener auf der Grundlage der Konzepte Diltheys und Rickerts verschärften Dichotomie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ab 1900 wurde der Soziologie und ihren sozialwissenschaftlichen Nachbarfächern die akademische Etablierung nochmals erschwert. Diese Zweiteilung war von umso größerem Gewicht, als selbst unter den Vertretern der Soziologie die unterschiedlichsten Ansätze propagiert wurden, reichend von einer quantitativ, induktiv und objektiv arbeitenden „Naturwissenschaft der gesellschaftlichen Erscheinungen“, über eine „kulturwissenschaftliche Soziologie mit ihrer Betonung einer holistischen Perspektive und einer verstehenden Erarbeitung von Kulturgesetzen“ bis zur „Konzeption einer spezifisch sozialwissenschaftlichen Verbindung von Erklären und Verstehen.“69 Für die Repräsentanten der geistesgeschichtlichen Hauptströmungen der Germanistik mit ihrem klaren Selbstverständnis als Geisteswissenschafter und ihrer Betonung des schöpferischen Individuums stellten die Sozialwissenschaften als grundsätzlich generalisierende Wissenschaften kaum einen Bezugspunkt dar. Dies gilt auch für Josef Nadler, trotz seiner prinzipiell auf Kollektive gerichteten Literaturgeschichtsschreibung, wie in Abschnitt 4.5.3. zu verdeutlichen sein wird. Allenfalls konnte man sich in germanistischen Fachkreisen zur Erforschung von Gesamtgeistern für eine Sozialpsychologie erwärmen, sonst wurden die wenigen Ansätze zu soziologischen Betrachtungsweisen der Literatur meist ohne tiefergehende Behandlung unter „auch“ vorhandene Strömungen gereiht.70 Unter diesen „auch“ vorhandenen soziologischen Ansätzen der Literaturbetrachtung stammt der wohl innovativste von dem Anglisten Levin L. Schücking, dessen Arbeit auch in zeitgenössischen, den —————— 67 68 69 70
Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. München, Wien: Hanser 1985, S. 247-253 und S. 284. Lepenies: Drei Kulturen, S. 287. Hervorhebungen im Original. Käsler, Dirk: Deutsche Soziologentage 1910-1930. In: Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Hrsg.: Rainer Lepsius. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981 (=Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 23), S. 207. z. B. Unger: Philosophische Probleme, S. 17 und Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, S. 26.
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Methodenpluralismus der Germanistik thematisierenden Auflistungen erwähnt wird. Ausgehend von der Feststellung, daß ästhetische Urteile und die Begründung eines literarischen Kanons mit den Maßstäben der Gegenwart immer in Gefahr wären, subjektiv zu sein, kommt Schücking zu dem Schluß: Es bleibt also nur möglich, von dem Gesichtspunkt auszugehen, den der Charakter der Literaturgeschichte als ein Teil der Kulturgeschichte, als ein Bestandteil des jeweiligen geistigen Gehalts der Vergangenheit an der Hand gibt. W a s w i r d i n ei n e r b e s ti m m te n Z ei t i n d en v er s ch i ed en en T ei l en d e s Vo l ke s g el es en u n d w a r u m w i r d e s gel e se n , das sollte die Hauptfrage der Literaturgeschichte sein. 71
Schücking entwirft damit einen Ansatz, der durch seine Konzeption als Geschmacksgeschichte der unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen (Geschlecht, Alter, ländlicher/urbaner Raum), einen Schwerpunkt auf die Rezeptionsgeschichte setzt. Er hebt aber durchaus auch Instanzen der Kunstförderung, etwa Mäzenatentum, hervor und weist darauf hin, daß nicht der Dichter den Geschmack hervorruft, sondern sein Stil umgekehrt von seiner Zeit und seiner sozialen Schicht bzw. von deren seelischer Struktur, ihrer sozialen, politischen, religiösen und wissenschaftlichen Ideenwelt geprägt werde. Schückings großes Verdienst ist es also, den Dichter sozusagen aus seinen hehren Sphären, losgelöst von allen Bedingtheiten und Einflüssen, zurück auf die Erde geholt und in soziale Bindungen hineingesetzt zu haben. Es ist jedoch auffällig, daß er sich bei aller Klarheit über die Bedeutung sozialer Gruppen und ihres unterschiedlichen Geschmacks in seinen Ausführungen nie explizit auf die Wissenschaft Soziologie bezieht und sich auf keine Methodik festlegt. Nur im Titel seines Werks „Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“72 wird das Fach genannt, aber sofort als „eigene“, gewissermaßen spezifisch literaturwissenschaftliche und damit von der allgemeinen Soziologie unabhängige Richtung gekennzeichnet. Eine Publikation zur Frage der Vereinbarkeit der Literaturgeschichte mit der Soziologie in theoretischer Hinsicht stammt von Arnold Hirsch. 73 Da die Soziologie im Zuge ihrer Analyse der gesellschaftlichen Tatbestände zu allgemeinen Ergebnissen zu gelangen strebe, so Hirsch, sei sie den generalisierenden bzw. erklärenden Naturwissenschaften zuzurechnen. Eine Anwendung auf die Literaturgeschichte durch einen Germanisten wäre demnach nur um den Preis möglich gewesen, sich als Geisteswissen—————— 71 72 73
Schücking, Levin L.: Literaturgeschichte und Geschmacksgeschichte. In: GermanischRomanische Monatsschrift 5 (1913), S. 363f. Schücking, Levin L.: Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. München: Rösl 1923. Hirsch, Arnold: Soziologie und Literaturgeschichte. In: Euphorion 29 (1928), S. 75-82.
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schafter zu diskreditieren. Hirsch führt nun in die Trennung zwischen generalisierendem Erklären und individualisierendem Verstehen die Kategorie des generalisierenden Verstehens ein. Die Soziologie sei schließlich nicht wie die Naturwissenschaften an der bloßen Erfassung des Daseienden interessiert, sondern an sozialen Formen, die „ihrem Wesen nach verständliche Ideenkomplexe, Wertungen, Ansichten, Verhaltungsweisen, Glaubenssätze“74 wären. Somit widme sich diese Wissenschaft der Sinnerfassung, dem Verstehen, und nicht dem Erkennen. Folglich könne die Soziologie als eine allgemeinbegriffliche Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kulturwirklichkeit aufgefaßt werden, wobei sie durch die Bildung von Idealtypen von der individualisierenden Darstellung bestimmt bliebe. Diese „idealtypisch geformten Sinnbegriffe der gesellschaftlichen Kulturwirklichkeit“75 könnten nun der Erklärung des literaturhistorischen Prozesses dienen, indem einzelne Erscheinungen im Zusammenhang mit anderen verständlich gemacht würden. So soll auch der Dichter aus der zeitgenössischen Kultur in ihrer sozialen Bedingtheit erfaßt werden. Hirsch war ganz offensichtlich daran gelegen, die soziologische Betrachtungsweise auch für die sich als Geisteswissenschafter verstehenden Germanisten zu eröffnen. Dabei wird die Orientierung an Max Weber und dessen Begriff vom Idealtypus deutlich, wobei laut Wolf Lepenies gerade Weber aufgrund seiner Überzeugung, das Leben sei prinzipiell irrational, zu den (von außen) kaum kritisierten Vertretern seines Wissenschaftszweiges gehörte.76 Somit konnte Arnold Hirsch, obwohl auch sein Ansatz keine große Bedeutung erlangte, seitens seiner Fachkollegen doch als wichtiger Beiträger zur Erforschung der Literatur des Barock geschätzt werden. Paul Merker kritisierte indessen 1925,77 also bereits einige Jahre nach Beginn der Bemühungen der Germanisten um einen Neuanfang im Zeichen der Geisteswissenschaften, daß die Disziplin nach wie vor zu sehr der individuellen Seite verhaftet geblieben sei. Deren Bedeutung und die große Rolle des schöpferischen Genies wollte er auch nicht bestreiten, doch dürfe man darüber nicht die überpersönlichen Momente aus den Augen verlieren. Er forderte als Ergänzung eine soziologische Betrachtungsweise. Ausgehend von den unterschiedlichen Milieubegriffen verwarf Merker in Folge den marxistischen mit seinem Primat der Ökonomie; jenen Taines wegen der als naturwissenschaftliche Prägung aufgefaßten —————— 74 75 76 77
Hirsch: Soziologie und Literaturgeschichte, S. 78. Hervorhebung I.R. Hirsch: Soziologie und Literaturgeschichte, S. 81. Lepenies: Drei Kulturen, S. 195-298. Merker: Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung, S. 15-27.
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Einbeziehung von Rasse und Klima; die Gleichsetzung der Entwicklung des Staats und jener der Kunst; sowie die Volkstums- und bluterbliche Bedingtheit. Die Schlußfolgerung daraus klingt nun angesichts der „Soziologie“ im Titel von Merkers Aufsatz etwas verwunderlich: Ungleich tiefer sucht dagegen die moderne sozial- und kulturpsychologische Betrachtung zu gehen, die Geistiges aus Geistigem zu erklären sucht und reine Geistesgeschichte treibt. Sie sieht den nährenden und bestimmenden Untergrund der verschiedenen Formen des kulturellen Lebens in der allgemeinen Weltanschauung und gesamtseelischen Grundstimmung der Zeit.78
Bei deren Betrachtung scheidet überdies „...die stumpfe Masse der bloß vegetativ hinlebenden Individuen [...] ganz aus.“,79 sodaß von einer Gesellschaftswissenschaft praktisch nichts übrig bleibt und konsequenterweise als die drei Arten der gegenwärtigen soziologischen Literaturbetrachtung Problemgeschichte, Stoffgeschichte und Stilgeschichte genannt werden – mit einem Wort: Geistesgeschichte. An diesem Beispiel zeigt sich, daß nicht in allen germanistischen Strömungen jener Zeit, welche sich das Etikett „Soziologie“ zueigen machten, auch tatsächlich Gesellschaftswissenschaft betrieben wurde. Dies wird sich an der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung Nadlers bestätigen. Und selbst ernsthafte Versuche, wie jene Schückings und Hirschs, der soziologischen Betrachtungsweise einen Platz in der Literaturwissenschaft zu verschaffen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Wilhelm Voßkamp nennt dafür Gründe auf institutioneller und methodischer Ebene: Zunächst wirkte sich die nur langsam vor sich gehende Institutionalisierung der Soziologie und die fortdauernde innerdisziplinäre wissenschaftstheoretische Diskussion – auch hinsichtlich der unklaren Stellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – ungünstig für die Übernahme soziologischer Ansätze in weitere Wissenschaften aus. Für die Germanistik im besonderen war außerdem ausschlaggebend, daß keinem Marxisten oder Sozialdemokraten die Chance eingeräumt wurde, einen Lehrstuhl und damit größeren Einfluß zu erlangen. Zusätzlich war es in einer Periode, wo das literarische Werk und das dichterische Genie stark im Vordergrund standen, keineswegs von Vorteil, daß die literatursoziologischen Ansätze eher publikumsorientiert waren und kaum auf eine soziologische Werkinterpretation hingearbeitet wurde.80 Aus denselben Gründen wäre allerdings für Ansätze einer soziologischen Werkinterpretation noch weniger Akzeptanz zu finden gewesen. Die soziologische Bedingtheit des Publikumsgeschmacks hätten die Ver—————— 78 79 80
Merker: Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung, S. 25. Merker: Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung, S. 25. Voßkamp, Wilhelm: Literatursoziologie. Eine Alternative zur Geistesgeschichte? In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg.: König, Lämmert, S. 299f.
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treter der Geistesgeschichte noch eher hinnehmen können, weil dies mit ihren Ansichten zum Gesamtgeist zu vereinbaren gewesen wäre, doch es darf bezweifelt werden, daß sie einen „soziologischen Angriff“ auf den Schöpfungscharakter und individuellen Status der Dichtung zugelassen hätten. Für diese Sicht spricht auch Jost Hermands Befund: „Die meisten soziologisch interessierten Literatur- und Kunstwissenschafter schwenkten daher unter dem massiven Gegendruck der neuidealistischen Kreise schnell ins Kulturmorphologische um und begnügten sich bei ihren Gruppierungsversuchen mit bestimmten Lebensaltersphasen oder zyklisch-biologischen Tendenzen, die zwar das überindividuelle Prinzip immer noch durchscheinen lassen, aber so weit ins ‚Geistige’ abstrahieren, daß man hier kaum noch von soziologischen Kriterien sprechen kann.“81 Zum völligen Abbruch der Bemühungen um literatursoziologische Ansätze kam es mit der Herrschaft der Nationalsozialisten. Bezeichnenderweise gehörten Schücking und Hirsch, also die wichtigsten Theoretiker dieser kaum vertretenen Richtung, in die Reihen der zur Emigration gezwungenen Gelehrten.
2.5. Literaturgeschichtsschreibung In den hier wiedergegebenen Zitaten aus Programmschriften prominenter Germanisten ist bereits mehrmals der Terminus „Literaturgeschichte“ gebraucht worden, nicht selten sogar in Titeln von Büchern und Beiträgen und somit unter besonderer Betonung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Terminus „Literaturwissenschaft“ sich erst ab etwa 1890 zu etablieren begann und zuvor vor allem Vertreter der jüngeren Fachrichtung Neugermanistik ihre wissenschaftliche Arbeit – in Absetzung vom auf die sprachliche Behandlung konzentrierten älteren Fach – als „Literaturgeschichte“ bezeichneten.82 Die Überschrift dieses Abschnitts bezieht sich jedoch nicht auf jene Trennung zwischen altdeutscher Philologie und neuerer Literaturwissenschaft, sondern thematisiert allein Gesamtdarstellungen der Geschichte der deutschen Literatur – also jene Werke, welche die Entwicklung der deutschsprachigen Dichtung von ihren Anfängen bis an die Gegenwart heran verfolgen.83 —————— 81 82 83
Hermand: Synthetisches Interpretieren, S. 102. Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte, S. 515f. Tatsächlich reichten nur die wenigsten Gesamtdarstellungen bis in die unmittelbare Gegenwart des Autors, da entweder die Meinung vertreten wurde, man sei nicht imstande, eine unabgeschlossene Entwicklung zu beurteilen oder die Gegenwartsliteratur als geringwertig betrachtet wurde. Vgl.: Hess, Günter: Die Vergangenheit der Gegenwartsliteratur.
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2.5.1. Problemfelder der Literaturgeschichtsschreibung Gesamtdarstellungen der Literaturgeschichte nehmen im Rahmen der Geschichte der Germanistik insofern einen Sonderstatus ein, als entsprechende Werke sich angesichts der Verwissenschaftlichung der Disziplin in Form von Philologisierung nur in seltenen Fällen im akademischen Raum durchsetzen konnten.84 Tatsächlich stammt speziell nach 1870 die Mehrzahl der verbreitetsten literaturgeschichtlichen Überblickswerke nicht aus der Feder von Universitätsprofessoren oder –dozenten, sondern von Journalisten oder Deutschlehrern. Der sich auf Detailarbeit (unter Teilhabe am Großprojekt der deutschen Philologie) stützende Wissenschaftsanspruch der Philologen, verbunden mit ihrer Hoffnung, daß sich bei fortgeschrittener Arbeit die Zusammenhänge von selbst offenbaren würden, war mit der Abfassung von Gesamtdarstellungen nur schwer vereinbar. Umso mehr, als eine Unterscheidung getroffen wurde zwischen positivistischer, auf Quellen beruhender Geschichtsforschung und der Geschichtsdarstellung, die dem Bereich der Kunst zugeschrieben wurde – zwar der Kunst des Historikers, die jedoch nichtsdestotrotz dem Dilettantismus zuzuordnen war. Holger Dainat beschreibt das Dilemma der Literaturgeschichtsschreibung in folgender Weise: Einerseits gründet sie ihre Eigenständigkeit darauf, daß sie sich in Konkurrenz zur Philologie definiert [mit der sie jedoch den Gegenstandsbereich teilt], andererseits kann sie sich als wissenschaftliche Disziplin nur etablieren, wenn sie der philologischen Forschung einen höheren Stellenwert einräumt, wenn sich also eben diese Differenz minimiert. Ein Entkommen aus dieser Zwickmühle zeichnet sich erst dann ab, wenn die Philologie nicht mehr die basalen wissenschaftlichen Standards diktiert, wenn sich das gesamte wissenschaftliche Feld umstrukturiert hat. Das ist jedoch erst um 1900 der Fall.85
Stand nun zur Jahrhundertwende einer vermehrten Produktion von Gesamtdarstellungen der deutschen Literatur im akademischen Raum aus dieser Perspektive gesehen nichts mehr im Wege, so war auch hier die Frage nach dem Wie der Synthese ungelöst. Das Problem der sinnstiftenden Verknüpfung einer großen Menge an Daten, welches die Diskussionen und Arbeit der Literaturwissenschafter ab 1900 beherrschte, hatte sich für die Literaturgeschichtsschreibung im Sinne einer Gesamtdarstellung der deutschen Literatur allerdings schon viel früher gestellt. Im 19. Jahr—————— 84 85
In: Historizität der Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hrsg.: Walter Müller-Seidel. München: Fink 1974, S. 181-204. Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 138-170; ders.: Über das Schreiben von Literaturgeschichte; und Dainat, Holger: Überbieten? Immerzu! In: Euphorion 90 (1996), S. 463-468. Dainat: Überbieten? S. 466.
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hundert war, wie Jürgen Fohrmanns Forschungen ergeben haben, für die Mehrzahl der Literaturgeschichten die Lösung in der Figur der „Entelechie der deutschen Nation in der Literatur“ gefunden worden. Das heißt „...die deutsche Nation ,wickelt sich’ in ihrer Geschichte ihrem Wesen nach ,aus’ und findet in ihrer Geschichte zu ihrer immer schon gegebenen Identität“.86 Ein Vorgang, der sich nach der Logik dieses Konzepts im Medium der deutschen Literatur widerspiegle und sich an ihr verfolgen ließe. Dieses Modell, das die Literaturgeschichtsschreibung seit Gervinus maßgeblich prägte, war jedoch nie völlig problemlos, da die Entwicklung der Nation zu sich selbst zwar als Klammer über das gesamte Material gespannt wurde, aber in der Darstellung immer durch andere Kategorien, etwa ästhetische oder soziologisch-biographische, durchbrochen wurde, respektive werden mußte. Damit war dieses Konzept noch zur Zeit seiner Hochkonjunktur von Auflösung bedroht, während es, wie bereits angeschnitten, im akademischen Bereich aufgrund des Vorherrschens der Philologie und der Ablehnung jeglicher als verfrüht aufgefaßter Gesamtdarstellung ohnehin kaum Anwendung fand.87 Die innerwissenschaftlichen Gründe für die Substitution dieses Modells durch andere liegen nach der Meinung Jürgen Fohrmanns darin, daß die Darstellung der Literaturgeschichte als Einheit mittels der Figur der „Entelechie der Nation“ aufgrund der Unabschließbarkeit der Referenzen nicht zu leisten war. Aus diesem Grunde seien auch die nach 1890 entwikkelten Neuansätze durch Begrenzung des Gegenstandes (z. B. Konzentration auf einzelne Epochen oder einzelne Gattungen) und Bezug auf eine zentrale Referenz gekennzeichnet.88 Selbstverständlich hatten die allgemeinen, der einseitig philologischen Forschung zugeschriebenen Probleme, etwa die Einsicht, daß die Texte nicht von allein ihre Bedeutung offenbaren würden, sondern daß man sie zum Sprechen bringen müsse, beträchtlichen Einfluß auf die Entwicklung der Gesamtdarstellung der deutschen Literatur. Doch auch die allgemeine Entwicklung des Geschichtsdenkens, geprägt durch das zunehmende Bewußtwerden der Subjektivität von Auffassungen bzw. dem Zweifel an einem sinnvollen Geschichtsprozeß trug zur Aufgabe dieses Modells bei. Denn seit 1900, so Holger Dainat —————— 86 87
88
Fohrmann, Jürgen: Über das Schreiben von Literaturgeschichte, S. 181. Eine Ausnahme bildet hier Wilhelm Scherers „Geschichte der deutschen Literatur“ (ab 1883). Allerdings wurde ihm von Fachkollegen popularisierende Tendenz vorgeworfen. Die nationale Spezifizierung bleibt auch bei ihm eher Rahmengebung, Hauptziel Scherers war die Herstellung einer epochenspezifischen Kausalität. Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 225f. Fohrmann: Über das Schreiben von Literaturgeschichte, S. 190-192.
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...kann d er Sinnzusammenhang nicht mehr vorausgesetzt werden, sie (sic!) müssen hergestellt werden. Das geschieht in Abhängigkeit der Kategorien oder der theoretischen Annahmen, für die sich der Wissenschaftler vorab entscheidet und die er dann auf ihre Tauglichkeit prüft. Genau das ist die neue Funktion der Darstellung. Sie repräsentiert nicht länger Geschichte, sie präsentiert eine Arbeitshypothese. 89
Da die Arbeit der Germanisten dennoch auf Sinnstiftung ausgerichtet blieb, wie Dainat weiter ausführt, wurde dieser Vorgang dem Publikum nicht offengelegt. Durch die Begrenztheit der so entstehenden Sinnentwürfe gelang es jedoch nicht, das Gefühl einer Krise der Literaturgeschichtsschreibung aufzuheben. Das Modell der Entelechie der Nation in der deutschen Literatur verlor wohl zusätzlich in dem Moment an Attraktivität, als die Einigung des deutschen Reichs vollzogen und damit der Prozeß des „Zu-sich-selbstKommens“ der deutschen Nation gewissermaßen zu seinem Abschluß gelangt war. Die ab 1871 erscheinende Literatur konnte also – auch wenn die Gegenwartsliteratur ohnehin ein kaum beachtetes Feld innerhalb der Universitätsgermanistik darstellte – einerseits nicht mehr als Instrument für die bzw. als Vorwegnahme der Einigung der deutschen Nation behandelt werden. Andererseits rückte vor allem in populären deutschen Literaturgeschichtswerken der Aspekt der nationalen Einigung als erreichtes Ziel in den Hintergrund gegenüber der Verherrlichung des „großen Erbes“ der deutschen Kultur und die Repräsentation eines imperialistischen Staats.90 Das Konzept der Entelechie der Nation war sozusagen von seiner eigenen Geschichte überholt worden. Das Hauptproblem für die Literaturgeschichtsschreibung, das um 1900 nach der Aufgabe des nationalen Sinnkonzepts in noch größerem Maße virulent wurde, sieht Jürgen Fohrmann im Bestreben der Literaturhistoriker, ihren Gegenstand als Einheit zu begreifen und darstellen zu wollen. Jede literaturgeschichtliche Gesamtdarstellung mußte folglich „...gleichsam als die empirische Unvollkommenheit eines abstrakten Ideals...“91 erscheinen. Weder die Beschränkung der Untersuchungsgegenstände auf Gattungs- oder Epochendarstellungen konnte hier Abhilfe schaffen, noch die Suche nach neuen einheitsbegründenden Konzepten. Schon im 19. Jahrhundert, aber besonders im Methodenpluralismus nach 1900 ...gab es eine Vielzahl sich bekämpfender Varianten, die stets versuchten, dem unbestimmt scheinenden Feld der Texte den einen und nicht den anderen Sinn abzugewinnen. Sie alle stellten auf ihre Art „Konjekturen“ dar, die, geleitet von
—————— 89 90 91
Dainat: Überbieten? S. 468. Hervorhebungen im Original. Rosenberg: Zehn Kapitel, S. 128-138. Fohrmann: Über das Schreiben von Literaturgeschichte, S. 191.
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wissenschaftlichem oder politischem Interesse, die Summe analysierter Geschichten zu der Geschichte glaubten hochrechnen zu können. Insofern haben sie alle das Falsche gesucht und sind in die Krise geraten, weil die Arbeit am historischen Projekt sich ausschließlich verstand als Chance zur Findung der nur einen Bedeutung.92
Auch Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung erscheint Fohrmann als unter jene Entwürfe gehörig, welche die Auflösung der Figur der Entelechie der Nation in der Literatur vorantreiben, ohne gleichzeitig das Bestreben nach einer einheitlichen Darstellung der deutschen Literaturgeschichte aufzugeben. Nadlers spezifische, interdisziplinär geprägte Vorgehensweise zu untersuchen ist Thema dieser Analyse. Allerdings steht Nadler noch in einer weiteren Tradition, nämlich in jener der regionalen Literaturgeschichtsschreibung.93 Sie erlebte gerade nach der Reichsgründung 1871 einen Aufschwung, da manchen daran gelegen war, die Bedeutung der einzelnen Regionen im Rahmen einer einheitlichen Nation stärker hervorzuheben. Aus der romantischen Tradition der Germanistik heraus wurde in dieser Literaturgattung oft Bezug auf die deutschen Stämme genommen (vgl. Abschnitt 3.2.1.3.); um 1900 rückte die regionale Literaturgeschichtsschreibung zusätzlich in die Nähe der Heimatkunstbewegung. Daraus resultiert nicht zuletzt die Biologisierung, die Dietmar Lieser als einen Eckpunkt des „Projekts regionaler Literaturgeschichtsschreibung“ erachtet, was auch Andreas Schumann bestätigt: „Die Heimatkunst leistet mit ihrem kultur- und zivilisationskritischen Impetus und ihrer Mythisierung von Heimat, ,erdverbundenem’ Leben und Ursprünglichkeit Regionalismen Vorschub; daraus ergibt sich inhaltlich nicht nur eine teilweise biologistische Variante der SelbständigkeitsInterpretation einzelner Autoren und ihrer Landschaften im Hinblick auf ,unverfälschte Originalität’, sondern auch eine deutliche Hochwertung des Dialekts.“94 Die Autoren der einschlägigen Sekundärliteratur machen zwar keine Angaben über den Status der Verfasser regionaler Literaturgeschichten, aber aufgrund von Stichproben kann festgehalten werden, daß auch Werke dieser Gattung zumindest vor 1900 vornehmlich nicht von Universitätsdozenten und –professoren der Germanistik stammten. Allerdings gehört mit Adolf Hauffen als Urheber einer der Heimatkundebewegung —————— 92 93 94
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 262. Vgl. hierzu Schumann: „...Die Kunst erscheint überall an ein nationales und locales Element gebunden...“; Lieser: Literaturräume; Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Lieser: Literaturräume, S. 30 bzw. Schumann: „...Die Kunst erscheint überall an ein nationales und locales Element gebunden...“, S. 248.
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nahestehenden Literaturgeschichte Böhmens95 just einer der Lehrer Josef Nadlers unter die der akademischen Sphäre angehörigen Autoren regionaler Literaturgeschichten. Für Nadler als (Alt)Österreicher und Deutschböhme spielt jedoch noch ein weiteres Konzept neben jener der deutschen Nationalliteratur und mehrerer Regionalliteraturen eine Rolle: die Frage nach einer österreichischen Regional- oder Nationalliteratur. 2.5.2. Literaturgeschichtsschreibung in der Habsburgermonarchie Da auch in der Habsburgermonarchie die Verwissenschaftlichung der Germanistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Philologisierung erfolgte, fanden hier Gesamtdarstellungen der Literaturgeschichte im universitären Raum ebenso keinen Platz (wiederum ausgenommen jene Wilhelm Scherers).96 Aber noch vor der Etablierung der Germanistik als akademische Disziplin wurde sowohl der Versuch unternommen, eine alle Völker der Habsburgermonarchie umfassende Literaturgeschichte auszuarbeiten, als auch eine Darstellung der deutschen Nationalliteratur in Österreich zu leisten.97 Der Beamte Franz Sartori gab im Jahr 1830 eine „Historischethnographische Übersicht der wissenschaftlichen Cultur, Geistesthätigkeit und Literatur des österreichischen Kaisertums nach seinen mannigfaltigen Sprachen und deren Bildungsstufen in skizzierten Umrissen“ heraus, wobei im nicht mehr erschienenen zweiten Teil (Sartori starb 1832) die deutsche Literatur hätte behandelt werden sollen. 1849 veröffentlichte der Privatgelehrte Joseph Georg Toscano del Banner „Die deutsche Nationalliteratur der gesamten Länder (sowohl der heutigen wie der jeweilig dazugehörigen) der österreichischen Monarchie von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, historisch-chronologisch dargestellt“, wobei auch von diesem Werk nur der erste, das Mittelalter abdeckende Teil fertiggestellt wurde. Für die Zeit um 1850 verzeichnet Günther Wyrtzens in seinem Beitrag allerdings die weit verbreitete Auffassung, es gäbe neben der deutschen Nationalliteratur keine österreichische, womit neben der Gesamtdarstel—————— 95 96
97
Hauffen, Adolf: Die deutsche mundartliche Dichtung in Böhmen. Prag 1903. Vgl. zu Hauffen auch 3.2.1.2. Vgl. im folgenden: Schmidt-Dengler, Wendelin; Sonnleitner, Johann; Zeyringer, Klaus (Hrsg.): Literaturgeschichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Berlin: Schmidt 1995; Michler, Werner; Schmidt-Dengler, Wendelin: Germanistik in Österreich: Neuere deutsche und österreichische Literatur. In: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 5: Sprache, Literatur und Kunst. Hrsg.: Karl Acham. Wien: Passagen Verlag 2003, S. 193-228; Wyrtzens, Günther: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung in Österreich von 1800 bis 1918. In: Sprachkunst 14 (1983), S. 14-28. Wyrtzens: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung, bes. S. 15.
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lung der deutschen Literaturgeschichte von Gervinus keine weitere als nötig erachtet wurde.98 Johann Sonnleitner weist allerdings darauf hin, wie sehr manche österreichische Schriftsteller sich aufgrund der bei Gervinus vorliegenden „...Fixierung auf eine ästhetische Norm, die in der Synthese von antiker Form und deutscher Klassik realisiert wäre und nicht zuletzt die Instrumentalisierung der Literaturgeschichte für die Produktion von nationalem, d.h. deutsch-protestantischem Selbstbewußtsein...“,99 übergangen oder falsch beurteilt fühlten. Nach den Ausführungen Werner Michlers zu schließen, ging in Übereinstimmung damit der Wunsch nach der Konstituierung einer österreichischen Nationalliteratur auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem von Dichtern aus, während die Universitätsgermanisten neben ihrer generellen, auf der philologischen Methode beruhenden Skepsis gegenüber Gesamtdarstellungen der Literaturgeschichte eher eine deutsch-nationale Ausrichtung pflegten.100 So antwortete etwa Wilhelm Scherer auf den Anspruch mancher Schriftsteller, eine spezifisch österreichische Kultur zu vertreten, mit Beiträgen, welche die Abhängigkeit und Rückständigkeit der österreichischen Literatur von der bzw. gegenüber der deutschen zu beweisen suchten. Diese Vorgehensweise sowie Scherers dem Konzept der „Entelechie der Nation“ folgende Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte muß dem Gefühl des Übergangenseins weiterhin zuträglich gewesen sein. Der fehlende Zusammenhang der Bemühungen um die Konstituierung einer österreichischen Nationalliteratur mit der Universitätsgermanistik ist auch noch für die ab 1897 erscheinende „Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte“ von Johann Willibald Nagl und Jakob Zeidler zu verzeichnen.101 Die Beiträge zu diesem für die österreichische Literaturgeschichtsschreibung maßgeblichen Werk stammen überwiegend von Gymnasiallehrern und Privatgelehrten; allein Herausgeber Nagl sowie dessen und Zeidlers Nachfolger Eduard Castle waren als Dozenten der Universi—————— 98 99
Wyrtzens: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung, S. 16. Sonnleitner, Johann: Razzien auf Literaturhistoriker. Gervinus und die österreichischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In: Literaturgeschichte: Österreich Hrsg.: SchmidtDengler, Sonnleitner, Zeyringer, S. 165. 100 Michler, Werner: „Das Materiale für einen neuen Gervinus.“ Zur Konstituierungsphase einer „österreichischen Literaturgeschichte“ nach 1848. In: Literaturgeschichte: Österreich. Hrsg.: Schmidt-Dengler, Sonnleitner, Zeyringer, S. 181-212, bes. S. 184f und 198. 101 Vgl. Renner, Gerhard: Die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. In: Literarisches Leben in Österreich 1848-1890. Hrsg.: Klaus Amann u. a. Wien u. a.: Böhlau 2000, S. 859889 und Michler: „Das Materiale für einen neuen Gervinus“, S. 208-210. Das Werk erschien in Lieferungen; die ersten Lieferungen waren 1897 erhältlich, 1899 lag der gesamte erste Band vor. Der zweite erschien 1914, der dritte und vierte unter Eduard Castle als alleinigem Herausgeber 1935 und 1937.
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tät Wien verbunden.102 Im akademischen Raum schadete der „DeutschÖsterreichischen Literaturgeschichte“ neben ihrem daraus resultierenden dilettantischen Status weiters die Absicht der Herausgeber, ihren Objektivitätsanspruch auf die Einbeziehung aller politischen und religiösen Sichtweisen zu gründen. Dadurch erhielt das Werk einen stark pluralistischen Charakter – zu pluralistisch für die Philologen der Scherer-Schule. Neben der auf unterschiedlicher politischer Entwicklung begründeten kulturgeschichtlichen Differenz der österreichisch-deutschsprachigen zur „reichsdeutschen“ Literatur bezogen sich die Herausgeber der „DeutschÖsterreichischen Literaturgeschichte“ durchaus auch auf eine spezifisch österreichische Volkstümlichkeit, die mit enger Bindung an die österreichische Sprachform gedacht wurde.103 Der Gedanke eines österreichischen Stammescharakters war ebenfalls schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts präsent, wenn seine Bedeutung auch dem Einfluß der unterschiedlichen staatlichen Entwicklung Deutschlands und Österreichs untergeordnet wurde.104 Der vierbändige „Nagl-Zeidler-Castle“ ist als Projekt zur Abkoppelung einer österreichischen von der deutschen Nationalliteratur im Zeitraum seines Erscheinens einzigartig. Denn während etwa bei Wilhelm Scherer auch die Geschichte einer Region das kleinere Modell für die Teleologie eines geeinten deutschen Reiches darstellt,105 begreift die „Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte“ Österreich aufgrund der staatlichen Differenz als von einer solchen deutschnationalen Teleologie losgelöst. Bedeutung erhält das Werk überdies durch spezifische persönliche Zusammenhänge, die in ihrer Gesamtheit wiederum einen wichtigen Teil österreichischer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik ausmachen. Jakob Zeidler teilte nämlich nicht nur seinen Geburtsjahrgang 1855 mit den bekannten österreichischen Professoren Jakob Minor, Josef Seemüller und August Sauer, sondern auch denselben, von allen als sehr prägend empfundenen Deutschunterricht von Pater Hugo Mareta im Wiener Schottengymnasium, den auch der um ein Jahr jüngere Johann Willibald Nagl erlebte. Dazu bemerkt Werner Michler: Der historische Zufall dieses Zusammentreffens späterer Germanisten im Schottengymnasium gewinnt an Relevanz durch eine über diesen Zufall hinausgehende Konstellation. Der Enthusiasmus jener Bildungseliten verdichtet in der Hoch-
—————— 102 Die Ernennung Castles zum Extraordinarius erfolgte 1923, 1934 erhielt er den Titel eines Ordinarius, zwischen 1938 und 1945 war er seines Lehramtes enthoben, 1945 wurde er Ordinarius. 103 Renner: Die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, S. 863. 104 Wyrtzens: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung, S. 18. 105 So in der gemeinsam mit Ottokar Lorenz verfaßten „Geschichte des Elsasses“ (1871), vgl. Michler: „Das Materiale für einen neuen Gervinus“, S. 209.
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blüte des österreichischen Deutschliberalismus „Grillparzer“ und „Nibelungen“ zu einem tragfähigen Fundament, von dem aus einerseits eine „deutschösterreichische“ Kontinuität als literaturhistorisches Konstrukt evident schien, zugleich aber auch ein stabiles Fundament für die neue Philologengeneration; der literarische „Österreich-Effekt“ stützte die eigene Positionierung im akademischen und politischen Feld.106
Nicht zuletzt die endgültige Entscheidung für die Gründung eines Deutschen Reichs ohne Österreich förderte die Wendung zu österreichischen Autoren (vor allem Grillparzer) und zu als österreichisch beanspruchten Dichtungen (wie das Nibelungenlied und die Lieder Walthers von der Vogelweide), allerdings unter strenger Einhaltung der philologischen Standards auf der Grundlage von biographischer Forschung und Textkritik. Minor und Sauer, die im Hinblick auf die neuere deutsche Literaturwissenschaft maßgeblichen Universitätsgermanisten aus dieser Runde von Schulkollegen, hatten ihr Studium bei Scherer in Berlin fortgesetzt und vor allem ersterer verfocht die Detailforschung vehement. Die Ablehnung der „Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte“ durch August Sauer war allerdings laut Gerhard Renner nicht allein auf die mangelnde Einhaltung wissenschaftlicher Grundsätze durch deren Herausgeber zurückzuführen.107 Eine beträchtliche Rolle spielte Sauers Ziel einer Berufung nach Wien, der er besonders durch die Betonung der Bedürfnisse einer auf Österreich konzentrierten Literaturforschung Vorschub zu verleihen versuchte. Diese Argumentationslinie hätte an Gewicht verloren, wenn er die Arbeit Nagls und Zeidlers als diesem Bedürfnis gerecht werdend bewertet hätte. Jedoch darf nicht außer acht gelassen werden, daß Sauer trotz seiner Bemühungen um die Erforschung der österreichischen Literatur108 angesichts seiner Stellung in Prag inmitten der Nationalitätenkonflikte109 auch eine stärkere Affinität zum Deutschnationalismus hatte als die Herausgeber der „Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte“. Sein Entwurf einer „Literaturgeschichte als Volkskunde“ in der Rektoratsrede von 1907 (vgl. Abschnitt 3.2.1.2.) ist nicht zuletzt ein Versuch, eine österreichische Literatur im Rahmen der deutschen zu positionieren ohne sie darin aufgehen zu lassen.110 —————— 106 Michler: „Das Materiale für einen neuen Gervinus“, S. 206. 107 Renner: Die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, S. 864-870. 108 z. B. die Abschnitte zur österreichischen Dichtung in: Goedekes Grundriß. 2. Auflage, fortgesetzt von Edmund Goetze. Band 6, Dresden 1898, S. 499-794; Band 7, Dresden 1900, S. 1-160. Weiters plante Sauer die Einrichtung eines Instituts für österreichische Literaturforschung. Renner: Die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, S. 868f. 109 Vgl. Cohen, Gary B.: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, 1814-1914. Princeton: University Press 1981, bes. Kapitel 6, zu August Sauer S. 254; Greß: Germanistik und Politik, S. 133-136. 110 Michler; Schmidt-Dengler: Germanistik in Österreich, S. 197f, 207.
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Einen ähnlichen Weg sollte sein Schüler Josef Nadler mit seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung einschlagen. Auch Nadler selbst war stark durch die Nationalitätenkonflikte in der Habsburgermonarchie geprägt. 1884 in Neudörfl geboren, wuchs er in einem jener Grenzgebiete (Nord)Böhmens auf, wo die Deutschnationalisten vor allem hinsichtlich des Antisemitismus radikalere Ansichten vertraten als die Angehörigen des deutschsprachigen Bürgertums in der böhmischen Hauptstadt.111 Während seines Studiums in Prag machte Nadler einschneidende Erfahrungen im Rahmen nationalistisch bedingter Studentenunruhen. Als Angehöriger der CV-Verbindung Ferdinandea112 nahm er wohl am konfliktträchtigen sonntäglichen Farbenbummel am Graben teil, wie er Unruhen an der Universität erlebte – dies etwa gerade an jenem Tag, an welchem Sauer seine berühmte Rektoratsrede hielt: Ich denke der Zeiten, wo wir von Juden u. Alldeutschen zur Freude der Tschechen verprügelt wurden. Ich sehe die Ereignisse des 18. Nov. 1907 vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Ich konnte Ihre Rede nicht hören, weil ich mit meinen damaligen Freunden über die Stiege herunter befördert wurde. Die Hammel blieben im Saal. Eigentlich doch eine Ironie. Unten klatschten die Tschechen Beifall.113
Diese Erlebnisse gehören zweifellos zu jenen Faktoren, welche die „Literaturgeschichte“ in inhaltlicher Hinsicht maßgeblich formten, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Abschnitt 4.4.3.1. und 6.2.4.).
2.6. Methodenpluralismus Schon relativ früh wurde von manchen Germanisten das Ende der geistesgeschichtlichen Periode eingeläutet: 1945 veröffentlichte Karl Viëtor den Aufsatz „Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Ein Rückblick“.114 Viëtor hatte in der frühen Formulierungsphase geistesgeschichtlicher Ansätze selbst zu deren Vertretern gehört und war später wegen der nationalsozialistischen Herrschaft aus Deutschland in die USA emigriert, woraus sich möglicherweise auch eine breitere Perspektiven erlaubende Distanz zur deutschen Germanistik erklärt. Obwohl er der geistesgeschichtlichen Richtung 1945 eher skeptisch gegenüberstand, stellte Viëtor ihr doch einige positive Aspekte in Rechnung. So habe sie die —————— 111 Vgl. Cohen: The Politics of Ethnic Survival, bes. S. 153f, 177, 213f. 112 In einem Brief an Hermann Bahr vom 9. 5. 1919 bemerkte Nadler, der „katholischen Studentenverbindung“ nicht mehr anzugehören (Hopf: Hermann Bahr und Josef Nadler, S. 33). Der Zeitpunkt seines Austritts konnte nicht festgestellt werden. 113 ÖNB Nachlaß Nadler Briefe Sauer 415/1-371, Freiburg 5. 7. 1920. 114 Viëtor: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte.
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ausgeartete Detailforschung und Spezialisierung gebremst und sich in ihren typisierenden Darstellungen auf das Wesentliche konzentriert anstatt selbst weiterhin Stoff anzuhäufen. Überdies hielt Viëtor den sich der Geistesgeschichte zugehörig fühlenden Wissenschaftern die Beachtung größerer Zusammenhänge und die Aufwertung der Interpretation der literarischen Werke zugute. An diesem Katalog der positiven Eigenschaften fällt auf, daß sie genau jene Kritikpunkte aufheben, welche an der „positivistischen“ Philologie geübt worden waren. Auf der Soll-Seite führt Viëtor jedoch im Gegenzug einen Rückgang der Gelehrsamkeit und des Tatsachenwissens an, sowie die Gefahr, durch zu gewagte Synthesen in den Dilettantismus abzurutschen – also genau jene Probleme, welche die Philologie durch ihre Vorgehensweise auszuschließen sicher war. Als größter Schwachpunkt der Geistesgeschichte wird in diesem Rückblick allerdings der Verlust eines sachlichen Mittelpunkts der verschiedenen Methoden und des gemeinsamen Ziels der Germanistik genannt. Unter diesen Vorzeichen erscheint die Geistesgeschichte als ein mißlungener, da zerspaltener Versuch zur Überbietung der Philologie. Einzig das ebenso als negativ bewertete mangelnde Verständnis für religionsgeschichtliche und soziologische Zusammenhänge sowie für zeitgemäße psychologische Vorstellungen greift in Viëtors Text über die Vorgaben der Philologie hinaus. Es scheint also, als trügen die Vorteile der Geistesgeschichte gegenüber der Philologie ihre Nachteile im Vergleich zu eben dieser philologischen Arbeitsweise bereits in sich. Viëtor stand mit seiner Meinung nicht allein. Abgesehen davon, daß nur etwa 20 % der an den deutschen Universitäten lehrenden Germanisten primär als geistesgeschichtliche Autoren in Erscheinung traten (selbst wenn die Inhaber sehr renommierter Lehrstühle dazu gehören)115 wurde bereits Ende der 20er Jahre, also kaum zwei Jahrzehnte nach dem Beginn ihrer Ära, an den geistesgeschichtlichen Programmatiken Kritik geübt. Oskar Benda begann 1928 seinen Überblick über die zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Richtungen mit der Feststellung des um 1910 eingetretenen Endes der positivistischen Epoche, um danach neben den Epigonen der Philologie nicht weniger als elf unterschiedliche Ansätze der
—————— 115 Kolk, Rainer: Reflexionsformel und Ethikangebot. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg.: König, Lämmert, S. 39. An der Universität Wien, um auch ein österreichisches Beispiel zu nennen, konnte die Geistesgeschichte praktisch gar nicht Fuß fassen. Unter den Ordinarien sind lediglich Walther Brecht (1914-1928) und Paul Kluckhohn (1927-1931) unter diese Bezeichnung zu fassen, wobei es ihnen allerdings nicht gelang, ihren Schülern in Österreich zu Lehrstühlen zu verhelfen.
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Literaturbetrachtung zu beschreiben ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.116 Trotz des vorherrschend neutralen Tons in seinen Ausführungen stellt Benda an ihrem Ende fest, die zeitgenössische literaturwissenschaftliche Forschung sei „Sturm, Drang und Chaos“, wobei „...der Ausweg aus dem Chaos letzten Endes nur ein Rückweg...“ sein könne. Denn „[d]er dogmatische Glaube an die Fruchtbarkeit spekulativer Methoden und intuitive Deduktion ist ins Wanken geraten. Man sucht ihre positivistische Beglaubigung.“117 Die vielfach geschmähten Nachzügler der Scherer-Schule wären dazu berufen, zu ...retten was sich als dauernder Gewinn [der neuen Ansätze] beglaubigt hat [...]: den Blick für die realen Grundlagen des geistigen Lebens, den Blick für die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, den Blick für das Kunstwerk als Lebensform und vor allem die geschichtstheoretische Besinnung. 118
Viele Einsichten der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung werden also von Benda als positiv bewertet, nur sollten die Forscher sich wieder der positivistischen Methode – nicht der positivistischen Philosophie – zuwenden, da moderne Schlagworte die mühevolle exakte Arbeit nicht ersetzen könnten. Insgesamt entsteht bei der Lektüre der aus der Hand von Germanisten stammenden Programmschriften der Eindruck, daß die Öffnung anderen Fächern gegenüber, die vor allem unter der Hoffnung auf eine Lösung für die Probleme der Literaturwissenschaft erfolgte, ziemlich oberflächlich blieb. Denn obwohl die Entwürfe so zu verstehen sind, daß sich die Literaturwissenschafter selbst eben auch philosophische, psychologische, kunstgeschichtliche oder auch soziologische Kenntnisse aneignen und auf ihren Gegenstand anwenden sollten, so wird die Lösung theoretischer und methodischer Probleme gerne den Nachbarwissenschaften überlassen bzw. von diesen erwartet. Prominente Beispiele sind hier etwa Unger in seiner Zuschreibung von Aufgaben an die Geschichtswissenschaft, auf deren Erfüllung er in seiner eigenen Arbeit jedoch keineswegs wartet, sowie Strich und Walzel in ihrer Übernahme kunstgeschichtlicher Modelle. Der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielbeklagte Methodenpluralismus ist nicht zuletzt Folge der unterschiedlichen interdisziplinären Ausrichtungen der Germanisten, ohne daß einer dieser An—————— 116 Benda: Der gegenwärtige Stand. Er gliedert die Ansätze der Literaturforschung nach ihrer Ausrichtung auf: Rasse, Volk, Stamm, Altersgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Strukturpsychologie, Literaturpathologie, Kultur, Formalästhetik, Ideengeschichte. Davon ließen sich meines Erachtens einige zusammenfassen, auch bei Benda sind einige Germanisten in mehr als einer Richtung vertreten. 117 Benda: Der gegenwärtige Stand, S. 59f. 118 Benda: Der gegenwärtige Stand, S. 61.
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sätze zur gleichen (akademischen) Geschlossenheit der Disziplin geführt hätte, wie sie die Philologie eine Zeit lang gewährleistet hatte. Doch auch die Ausrichtung aller Germanisten auf bestimmte Strömungen der wiederum zur Leitwissenschaft gewordenen Philosophie hätte nicht mehr zu ähnlicher Geschlossenheit führen können, schließlich blieb auch in der Konzeption der Geisteswissenschaften nach Rickert und Dilthey, aus welchen die Fachvertreter zudem selektiv auswählten, vieles Programm und Entwurf. Die Literaturwissenschaft unter dem Vorzeichen der neuen Geisteswissenschaften war somit hinsichtlich der Publikationstätigkeit und der Konzeption von Monographien äußerst fruchtbar, doch die Probleme ihrer Methodik, welche sich durch die Ablehnung der Philologie als einzige Forschungsoperation ergeben hatten, konnten auf diesem Weg kaum gelöst werden. Im Hinblick auf Josef Nadler ist festzuhalten, daß sein Ansatz einer stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung eine unter vielen konkurrierenden Strömungen darstellt. Er unternahm in einer Periode der Neuorientierung den Versuch, Ziele und Vorgehen der Germanistik und besonders der Literaturgeschichtsschreibung neu zu definieren und allgemein verbindlich zu machen.
3. Nadlers Positionierung im Wissenschaftskontext Anschließend an die Skizzierung des wissenschaftlichen Rahmens, innerhalb welcher die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung entwi kelt wurde, ist auf Nadlers spezifische Positionierung in diesem Kontext einzugehen. Bei der Analyse der theoretischen Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung wird der Fokus dem interdisziplinären Charakter des Ansatzes entsprechend auf die herangezogenen Hilfs- und Grundlagenwissenschaften gelegt.1 Diesbezüglich besteht die Intention, nicht nur jene Aspekte der entsprechenden Fachrichtungen aufzunehmen, die auch für den inhaltlichen Aufbau der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ bedeutsam wurden, sondern auch benachbarte wissenschaftliche Stränge zu beleuchten, die aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen von den jeweiligen Wissenschaften möglicherweise bei der Rezeption des Nadlerschen Werks eine Rolle spielten.2 Grundsätzlich sind die theoretischen Ausführungen des Literaturhistorikers aufgrund der zeitlichen Verhältnisse nicht als Basis für die praktische Entwicklung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aufzufassen, wie in Kapitel 4 noch auszuführen sein wird. Doch die explizite Stellungnahme Nadlers zu seinen wissenschaftlichen Grundlagen eignet sich hervorragend für die Einordnung des Literaturhistorikers in seine wissenschaftlichen Rahmenbedingungen.
3.1. Die wissenschaftstheoretische Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1914 Josef Nadler publizierte 1914 in der von August Sauer und ab diesem Jahr auch von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift „Euphorion“ eine umfangreiche wissenschaftstheoretische Begründung seines stammeskundlichen Ansatzes der Literaturgeschichtsschreibung. Tatsächlich beabsichtigte er nicht einfach die Präsentation eines neuen Ansatzes, sondern nichts weniger als die grundlegende Klärung der Möglichkeiten, unter welchen —————— 1 2
Eine eingehende Analyse speziell der (erkenntnis)philosophischen Aspekte der „Wissenschaftslehre“ hat Christoph König geleistet: König: Hofmannsthal, S. 245-251. Dies gilt etwa für die landschaftskundliche Geographie, vgl. 3.2.1.1.
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Literaturgeschichtsschreibung prinzipiell möglich sei und welche Art von Arbeit diesen Namen überhaupt verdienen würde – wobei allerdings sein eigenes Konzept als einzig wissenschaftliches übrigbleiben sollte. Da der erste Band von Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ (künftig „Literaturgeschichte“) bereits im Spätherbst 1911 erschienen war, stellt die wissenschaftstheoretische Konzeption von 1914 nicht die „Urzelle“ des Nadlerschen Ansatzes dar, sondern die nachträgliche erkenntnistheoretische Begründung von durch praktische Arbeit gewonnenen Ergebnissen. Jene Ergebnisse waren allerdings keineswegs im beschriebenen methodischen und theoretischen Modus erreicht worden. Zur „Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte“,3 so der Titel des wissenschaftstheoretischen Beitrags, schrieb Nadler an Sauer: Der Aufsatz ist ganz etwas anderes geworden als ich ursprünglich dachte. Beim Durcharbeiten von Fichte, Humboldt, Schelling u A. W. Schlegel für den 3. Band [der „Literaturgeschichte“] drängte sich mir die Überzeugung auf, daß das Thema erkenntnistheoretisch gestellt u. beantwortet werden müsse. Besonders Humboldts geschichtstheoretische Abhandlungen u. Herder wirkten mir wie eine Offenbarung. Ich schleppte zusammen, aus Lamprecht, Rickert, Hintze, Lorenz, aus den philosophischen Zeitschriften, was auf das Problem Bezug hatte u. dacht [sic] es durch. Ich bin nun imstande unsere Anschauung erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen u. zu begründen. 4
Der Text stellt also die bewußte Positionierung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung innerhalb der Methodendiskussionen der Germanisten dar bzw. den Versuch der Legitimierung eines in Grundzügen feststehenden und zum Teil bereits durchgeführten literaturgeschichtlichen Programms. Er bezeichnet den Eintritt des Literaturhistorikers in die germanistische Methodendiskussion und bildet so den adäquaten Anschluß zum einführenden Abschnitt zur Germanistik ab 1900. Nadler wählte die Strategie, sich völlig unabhängig von bisher gültigen Prämissen germanistischer Arbeit zu präsentieren, wohl um sich deutlich vom zeitgenössischen Betrieb abzuheben, dem er Verfallserscheinungen attestierte. Er bemühte sich, ein System zu formulieren, das man entweder völlig umstoßen oder ohne die kleinste Adaptierung akzeptieren müsse. In den ersten Schritten bedient Nadler sich des Prinzips der reinen Logik, womit er sich vorerst nicht an einer bestimmten philosophischen Theorie oder einem philosophischen Denkansatzes orientierte (wie es etwa Rudolf Unger mit seiner Ideengeschichte tat). Seinen Ausgangspunkt findet der Literaturhistoriker in den schriftlichen Denkmälern deutscher Sprache, da nur diese im Bewußtsein tatsächlich enthalten seien. Diesen, so Nadler, tritt der Gelehrte völlig voraussetzungslos gegenüber, um sie zunächst —————— 3 4
Nadler: Wissenschaftslehre. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-147, München 6. 9. 1913.
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durch das Verfahren der fortschreitenden Begriffsbildung, also durch die Zusammenfassung von charakteristischen, immer wieder aufscheinenden Merkmalen nach ihrer jeweiligen Sprachform zu ordnen. Dabei entstünden auch höhere Begriffe wie etwa „Schiller“, die jedoch nichts mit einem Urheber zu tun hätten, sondern lediglich Denkmäler mit gleichen Merkmalen zusammenfaßten. Ebensowenig ließen sich auf dieser Stufe zeitliche und räumliche Einteilungen, Entstehungsgründe oder ursächliche Abfolgeverhältnisse zwischen den Werken feststellen. Solange sich eine Wissenschaft von den literarischen Denkmälern rein an die Texte hielte, wäre nach Nadlers Ansicht die fortschreitende Begriffsbildung mit dem obersten Ziel eines höchsten allgemeinen Begriffs die einzig mögliche Vorgehensweise – ein naturwissenschaftliches Verfahren im Verständnis der methodischen Trennung zwischen generalisierenden und individualisierenden Wissenschaften. In einem abschließenden Abschnitt der „Wissenschaftslehre“ wird deutlich, daß Nadler der bisher praktizierten philologischen Forschung, so sie sich auf die literarischen Denkmäler zu beschränken beabsichtigte, eben jene fortschreitende Begriffsbildung als einzig mögliche wissenschaftliche Operation zuschreibt. Die Philologie sei damit alles andere als eine historische Wissenschaft – und auch keine geisteswissenschaftliche nach deren neuem methodischen Selbstverständnis. Eine historische Wissenschaft von den Denkmälern liege erst dann vor, wenn der Forscher über die Texte hinausginge. Die Forderung, eine solche Wissenschaft müsse ihre Erkenntnismittel von der Seelenkunde (Psychologie) nehmen, weil die Denkmäler im Bewußtsein gegeben seien, oder von der Sprachwissenschaft, weil sie in sprachlicher/schriftlicher Form vorlägen, weist Nadler vehement zurück: die Erkenntnismittel hätten sich in erster Linie nach dem Erkenntnisziel und nicht nach dem Gegenstand zu richten. Zudem sei die Kenntnis der Sprache und des Seelenlebens nicht Zweck der Literaturgeschichte, sondern vielmehr ihre Voraussetzung, während wiederum nie ein Erkenntnismittel zur Erreichung des Erkenntnisziels ausreichen würde. Hat Nadler bisher nur die Sprachform thematisiert, führt der nächste Schritt der Abhandlung weiter zum Inhalt der schriftlichen Denkmäler, was die Gruppierung der Texte in Gegenstandsdenkmäler und Quellendenkmäler ermöglicht. Da die Quellentexte historische Informationen zu den Gegenstandstexten, aber auch zu deren Urhebern und generell zu historischen Ereignissen der realen Welt enthalten, sei erst mit der Beachtung der Inhalte der Denkmäler eine geschichtliche Betrachtungsweise durchführbar. Damit könne auch die zunächst aus rein formalen Kriterien gewonnene Ordnung aller Denkmäler unter höhere Begriffe nun auf die zureichenden Gründe für ihr Zustandekommen hinterfragt werden. An diesem Punkt führt Nadler die Abgrenzung der Literaturgeschichte von
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der Sprach- und Geschichtswissenschaft durch. In beiden Fällen erfolgt diese über den unterschiedlichen Umgang mit dem gemeinsamen Material, den Denkmälern. Sowohl für die Sprachwissenschaft als auch für die Geschichtswissenschaft seien die literarischen Denkmäler nicht Forschungsgegenstand, sondern Quelle – der Linguistik für ihren eigentlichen Gegenstand, die gegenwärtig oder in der Vergangenheit gesprochene Sprache und der Geschichte für ihren eigentlichen Gegenstand, die historischen Ereignisse. Demgegenüber sei also die Literaturgeschichte die einzige Wissenschaft, deren Gegenstand die literarischen Denkmäler nach ihrer Form und ihrem Inhalt seien. Das Primat der literarischen Denkmäler vor ihren Autoren als Urheber wird weiters dadurch betont, daß Menschen nur als zureichende Gründe für die Entstehung eines Werks, aber nicht als eigentlicher Forschungsgegenstand in die wissenschaftliche Arbeit eingehen würden, weil Persönlichkeiten nicht unmittelbar im Bewußtsein gegeben seien. An diesem Punkt gibt Nadler seine bisherige auf reiner Logik aufbauende Vorgehensweise auf, denn in seinen Augen ist auch durch sehr ausgedehnte Induktionsschlüsse von den Quellendenkmälern auf die Gegenstandsdenkmäler höchstens mit großer Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit Sicherheit darauf zu schließen, daß die zuvor aufgrund charakteristischer Ähnlichkeiten gebildeten allgemeineren Begriffe wie „Schiller“ auch tatsächlich auf eine Persönlichkeit „Schiller“ zurückgehen und daß außerdem diese Persönlichkeit gleichzeitig die Ursache für die spezifischen Eigenschaften der Denkmäler sein kann. Das Erkenntnisziel der Literaturgeschichte wird aus logischen und erkenntnistheoretischen Gründen allerdings über den „Urheber als Bewirkendes“ der Texte hinausgetrieben, weshalb der nächste Abschnitt der „Wissenschaftslehre“ folgerichtig mit „Der Urheber als Bewirktes“ betitelt wird. Die bisher gewonnenen Dingbegriffe sollen zu diesem Zweck in Beziehungsbegriffe aufgelöst werden. Dabei wird die Annahme der Beeinflussung eines Dichters durch einen anderen jedoch vehement zurückgewiesen, denn ein solcher Einfluß müsse seelisch erfolgen. Weil bei der Lektüre eines Werks allerdings nur stellvertretende Schriftzeichen vorliegen, ein Seelisches aber nie ohne Körperliches vorhanden sein könne, so sei eine Beeinflussung allein durch ein Buch nicht möglich. Die Bekanntschaft mit dem Werk eines Dichters wird also nicht als zureichender Grund für Ähnlichkeiten von jüngeren mit älteren Dichtungen aufgefaßt; zwischen zwei Texten könne kein ursächliches Abfolgeverhältnis vorliegen. Dagegen sei anzunehmen, daß zwei ähnliche Erscheinungen von einem gemeinsamen zureichenden Grund oder stark verwandten parallelen Ursachen ins Leben gerufen wurden.
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Auf seine Feststellung, daß nichts Seelisches ohne Körperliches gegeben sei, kommt Nadler mit der Bemerkung zurück, somit wäre auch keine Seelenkunde bzw. Psychologie ohne Körperkunde möglich. Diese Facette sei bisher von den Literaturwissenschaftern völlig vernachlässigt worden, was Nadler umso mehr kritisiert, als dieselben behaupten würden, bei ihren Forschungen vom Autor auszugehen und nicht von den Denkmälern wie er selbst. Die Einbeziehung des Körperlichen habe weiters den unschätzbaren Vorteil, daß man das Entstehen physischer Eigenschaften bei den Menschen gut erfassen könne, während das Zustandekommen des Seelenlebens nicht zugänglich sei. Das Vorhaben, die Körperlichkeit der Autoren als Bewirkendes für die Eigenschaften ihrer Werke heranzuziehen, erfordert laut Nadler neue Erkenntnismittel für die Literaturgeschichte, die den Ergebnissen der Familiengeschichte bzw. Genealogie zu entnehmen seien. Die Zeugungsabfolge innerhalb einer Familie wird in Nadlers Konzept als ursächliches Abfolgeverhältnis angesehen und bildet damit einen festen Bezugspunkt, an welchem eine Verknüpfung zeitlich weit auseinanderliegender, aber ähnlicher Denkmäler möglich werde. Denn Ähnlichkeiten zwischen Dichtungen würden auf gemeinsame Ahnen der Autoren zurückgehen, oder zumindest auf durch gleiche äußere Bedingungen wie Klima und Landschaft ähnlich organisierte Ahnen. Maßgeblich ist hier die Überzeugung, daß bestimmte seelische und körperliche Eigenschaften immer die gleichen ihnen entsprechenden literarischen Merkmale hervorbrächten: Wie nur im Körperlichen und Geistigen des Urhebers der zureichende Grund für alles Bewirkte der Denkmäler zu suchen ist, so kann auch der zureichende Grund für das verschiedenen Urhebern Gemeinsame nur im Körperlichen und Geistigen sei es ihrer gemeinsamen Ahnen, sei es ihrer verwandtorganisierten Ahnen zu suchen sein. Diese Erkenntnisse müssen mir diejenigen Wissenschaften bieten, deren Gegenstand der Aufbau von menschlichen Gattungen und Arten ist und der Einfluß der Erde auf diesen Aufbau: S t a m m es k un d e, Vö l k er k un d e, Ra ss en k u n d e, ferner G eo gr a p h i e und [...] die Vo l k sk un d e. 5
Als letztes Ziel, das für Nadler allein durch den Wissenschaftsgegenstand vorgegeben und begrenzt werden könne, sei für die deutsche Literaturgeschichte nach der Feststellung von Einheiten wie „schwäbisch schrifttümlich“ die fortschreitende Begriffsbildung bis zum abschließenden Begriff „deutsch schrifttümlich“ anzustreben. Eine allgemeine Literaturgeschichte, wenn alle dementsprechenden Voruntersuchungen vorlägen, könnte allerdings zu noch höheren Begriffen vordringen. Angesichts der eben erwähnten Hilfswissenschaften, auf die Nadler sich zu stützen beabsichtigte und zu welchen er überdies noch Sprachwis—————— 5
Nadler: Wissenschaftslehre, S. 50, Hervorhebungen im Original.
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senschaft und Familiengeschichte zählte, wundert es nicht, wenn sich schließlich der Literaturhistoriker der Frage nach dem Verhältnis der Literaturgeschichte zu den Naturwissenschaften zuwendet. Dazu bemerkt er, daß die Naturwissenschaften hinsichtlich der Bildung von Gesetzen allen anderen Wissenschaften letztlich nur wenig voraus hätten: Es gibt kein logisches Mittel, das mich zu der Voraussicht zwingen würde: das Gesetz des freien Falles gilt auch übers Jahr. Und es gibt kein logisches Hindernis, das mir entgegenstünde, genau solche, auf ihr richtiges Maß zurückgeführte Gesetze auch in anderen Wissenschaften zu suchen. Und wenn die Naturwissenschaften tausend Versuche über die gleiche Tatsache machen können, eine andere Wissenschaft aber ein ursächliches Abfolgeverhältnis nur 990mal beobachten kann, so ist das nichts weiter als ein für die Erkenntnis belangloser Zahlenunterschied.6
Letztlich seien die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in demselben Grad wie die historischen von dem in der inneren Wahrnehmung Gegebenen verschieden. Nadler beruft sich dabei auf Heinrich Rickert und dessen Satz, daß zwischen „naturwissenschaftlichen“ Erkenntnismitteln und jener anderer Wissenschaftszweige auf logischer Ebene kein Unterschied gemacht werden könne.7 Mit dem eigentlichen Ziel Rickerts, der naturwissenschaftlichen eine dezidiert auf das Individuelle gerichtete historische Betrachtungsweise entgegenzusetzen, ging Nadler hingegen keineswegs konform. Zunächst kritisiert er die Gleichsetzung des „Individuellen“ mit dem „Besonderen“ bei Rickert, weist die Befriedigung des Interesses am Individuellen der Kunst zu und beanstandet scharf die Bemerkung des Philosophen, für eine nach allgemeinen Gesetzen strebende Wissenschaft hätte niemand Interesse: „Das allgemeinere oder geringere Interesse entscheidet doch wahrhaftig nicht darüber, wie eine Wissenschaft betrieben werden muß.“8 In der Folge hebt Nadler heraus, wie viele der neuerdings allein den Naturwissenschaften zugeordneten Erkenntnismittel in dem von ihm skizzierten Vorgehen der literaturgeschichtlichen Forschung verwendet wurden: etwa der Induktionsschluß oder die fortschreitende Begriffsbildung als verallgemeinerndes Verfahren. Und er bringt noch ein wichtiges Beispiel, wo eben diese Begriffsbildung in der Literaturgeschichte ausschlaggebend sei, nämlich in der Zuweisung eines anonymen Werks an seinen Urheber: Und wie kann man Goethes und Lenzens Gedichte lediglich auf Grund der Reime scheiden und den beiden Urhebern säuberlich zuweisen, wenn beide eben
—————— 6 7 8
Nadler: Wissenschaftslehre, S. 51f. Nadler bezieht sich hier ohne Seitenangabe auf: Rickert, Heinrich: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen, Leipzig: Mohr 1902. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 53.
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nicht reimten, wie sie wollten, sondern wie sie es immer taten, eben mußten. Und dieses „muß“ hat keinen anderen Sinn in der Chemie und keinen anderen in der Geschichte. 9
Nachdem Nadler sich damit deutlich außerhalb einer „Germanistik als Geisteswissenschaft“ positioniert und deren Trennung von den Naturwissenschaften über die Methode generell ablehnt, beginnt die Auseinandersetzung mit den „Darstellungsmöglichkeiten“ oder „Richtungen“ literaturgeschichtlicher Forschung. Der Darstellung schreibt Nadler allein den Zweck des Anschaulichmachens von Erkenntnissen zu. Diese sei damit kein Wissenschaftsproblem, müsse aber von einem durchgehenden Standpunkt aus erfolgen. Gleichzeitig, da in der Literaturgeschichte geschichtliche Tatsachen dargestellt würden, zu deren Wesen Raum und Zeit gehörten, müsse sich die Darstellung zwingend nach diesen Vorgaben richten. Indem der Raum geschichtlich als menschengefüllte Erde und die Zeit geschichtlich als Menschen- und Ereignisfolgen erscheinen würden, folgert Nadler: Der Raum muß so in Teile zerlegt werden, wie sich das natürlich aus den Menschen und der Erde ergibt. Die natürlichen Teileinheiten der Erde sind aber die Landschaften im geographischen Sinne und diese Teileinheiten wandeln sich zwar durch Wetter, Wasser und ähnliches, aber sie wechseln nicht. Landschaft und Stamm sind die natürlichen Teileinheiten des Raumes. [...] Die natürlichen Teileinheiten der Menschenfolge sind die Generationen im genealogischen Sinne. Die natürlichen Teileinheiten der Ereignisfolgen sind die „Bewegungen“ im entwicklungsgeschichtlichen Sinne.10
Damit bleibt in Nadlers Augen keine Wahl zwischen verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten der Literaturgeschichte. Verschiedene wissenschaftliche „Richtungen“ der Literaturgeschichte seien nur legitim, wenn der Erkenntniswert aller Arbeitsweisen gleich hoch anzusetzen wäre. Eine Möglichkeit, die im folgenden Satz durch die Ansicht konterkariert wird, daß genau der gleiche Erkenntniswert nur bei gleicher Vorgangsweise zu erreichen sei. Aufgrund dessen könne es weder eine philologische, noch eine psychologische und schon gar keine ästhetische Arbeitsweise in der Literaturgeschichtsschreibung geben. Denn die Philologie sei nur imstande, Erkenntnisse über die Sprachform zu gewinnen, aber nicht über den Inhalt der Texte. Die psychologische Arbeitsweise hingegen könne nur etwas erkennen, wo ihr Seelenleben gegeben wäre, aber die Herkunft der Urheber sei kein Problem des Seelenlebens, sondern eine physiologische Angelegenheit. Die Ästhetik ist von Nadler bereits zuvor wegen der Unwissenschaftlichkeit einer Auswahl von Dichtungen nach Sittlichkeitsgrad oder Schönheit aus dem Forschungsbereich ausgeschieden worden. Als —————— 9 10
Nadler: Wissenschaftslehre, S. 53. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 58.
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logische Folge gibt es aber auch keine „ethnographische“ oder „genealogische“ Arbeitsweise – wie der Nadlersche Ansatz von Fachkollegen betitelt worden war – sondern allein dieser Vorgehensweise kommt der „Wissenschaftslehre“ entsprechend die Bezeichnung „Literaturgeschichte“ zu. Dem Literaturhistoriker ist deutlich daran gelegen, in Absetzung von der Philologie als einzig zulässige Arbeitsweise die Grundlage für den wissenschaftlichen Anspruch der bisher vielfach als dilettantisch angesehenen Literaturgeschichtsschreibung zu schaffen. Er geht dabei den Weg, geistige Entwicklungen auf natürliche Voraussetzungen zu gründen. Nadlers im Vergleich zum Großteil seiner Fachkollegen gegensätzliche Positionierung im interdisziplinären Kontext könnte nicht deutlicher sein. Zunächst lehnt er die Trennung zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Methodik ab, über welche zwischen den Vertretern weiterer Ansätze des in Entstehung begriffenen „Methodenpluralismus“ noch die größte Übereinstimmung herrschte. Schon die grundlegenden Operationen der Germanistik, nämlich jene der Philologie, seien (vorausgesetzt, man legt sie mit Nadler auf fortschreitende Begriffsbildung fest) nach Ansicht der „neuen“ Geisteswissenschafter „naturwissenschaftlich“ und damit würde die Positionierung der solchermaßen geisteswissenschaftlich denkenden Germanisten ad absurdum geführt. Dem geisteswissenschaftlichen „Verstehen“ durch Nachempfinden oder Nachschöpfung erteilt der Literaturhistoriker eine Absage durch die Feststellung, daß auch die historischen Ereignisse wesensverschieden von den der inneren Wahrnehmung gegebenen Gegenständen seien. Damit ist auch der einzige Punkt, an welchen Gemeinsamkeiten des Nadlerschen Ansatzes mit anderen Konzepten der Germanistik nach 1900 festzumachen wären – jener der Interdisziplinarität – letztlich ein trennender. Denn während die überwiegende Mehrzahl der Fachkollegen die Grenzen des neugebildeten, wenn auch nicht unumstrittenen geisteswissenschaftlichen Fächerkanons nicht überschritt und neue Anstöße seitens der Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte aufnahm, umfaßt Nadlers Reihe von Grundlagen- und Hilfswissenschaften ein breiteres Spektrum. Und selbst wenn Nadler sich auf Disziplinen stützt, welchen auch seine geisteswissenschaftlichen Fachkollegen Bedeutung zumaßen, bevorzugt er unterschiedliche Zweige: er befindet sich in einer Nahestellung zur an der Physiologie orientierten Psychologie und ordnet sich jenem Zweig der Volkskunde zu, der durch stärkere Orientierung an Geographie und Ethnographie gekennzeichnet ist als jene den Kreisen der Germanistik zuzuordnenden Forschungen. Mit Karl Lamprecht stützte Nadler sich überdies auf einen unter den deutschen Historikern äußerst umstrittenen Geschichtsforscher. Nadler stellt sich in seinem Versuch zur Überbietung
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der Philologie außerhalb der geisteswissenschaftlichen Germanistik in völlig andere Traditionen.
3.2. Nadlers Grundlagen- und Hilfswissenschaften 3.2.1. Nomothetische Kulturwissenschaften Eine ganze Reihe jener Disziplinen und Forschungsrichtungen, die Nadler als „wesentliche Hilfswissenschaften“11 betrachtete, steht zumindest in den für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung bedeutsamen Strängen in einer bestimmten wissenschaftshistorischen Tradition, die ich in Bezug auf Woodruff D. Smith als nomothetische Kulturwissenschaften bezeichnen möchte.12 Smith faßt die Cultural Sciences als Teil der Sozialwissenschaften, was deren Zwischenstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie in Abschnitt 2.4. beschrieben wurde, durchaus entspricht. Der Begriff „nomothetische Kulturwissenschaften“ wird hier allerdings anstelle von „Sozialwissenschaften“ weitergeführt, um eine eigene Bezeichnung für die spezifischen Traditionen, in welche Nadler sich einordnet, einzuführen. Die Gemeinsamkeiten dieser nomothetischen Kulturwissenschaften in Deutschland bestehen darin, daß sie einen kulturanthropologischen Ansatz teilten, auf die Untersuchung der Gesetze der menschlichen Gesellschaft und deren Offenbarung in der Kultur abzielten, und vor allem an Denk- und Verhaltensmustern von ganzen Menschengruppen anstelle von Individuen oder Eliten interessiert waren.13 Mehrere dieser wissenschaftlichen Fachbereiche konnten sich zwischen 1850 und 1870 akademisch etablieren und brachten nach dieser Periode wieder vermehrt interdisziplinär orientierte Entwürfe hervor. Sie sind außerdem gekennzeichnet durch eine enge Verbindung ihrer Vorstellungen mit den Zielen liberalistischer Politik, vor allem hinsichtlich der Sozialpolitik. Auf dem Wege der Aufdeckung der Gesetze der menschlichen Gesellschaft sollte es möglich werden, die Probleme der modernen Gesellschaft zu lösen. Nach dem Scheitern des Liberalismus begannen jedoch wiederum viele Wissenschafter auf der Suche nach den Ursachen für diese Entwicklung auch die Grundlagen der betreffenden Sozial- und Kulturwissenschaften zu hinter—————— 11 12 13
Nadler: Wissenschaftslehre, S. 51; Sprachwissenschaft, Familiengeschichte, Ethnographie, Geographie, Volkskunde; auf S. 50 werden zusätzlich noch Stammeskunde und Rassenkunde genannt. Smith Woodruff D.: Politics and the Sciences of Culture in Germany 1840-1920. New York, Oxford: Oxford University Press 1991. Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 3.
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fragen.14 Trotz dieser Skepsis wurde die nomothetische Vorgehensweise auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Konkurrenz zu den „neuen“ Geisteswissenschaften beibehalten. Dennoch: „In any event, much of the ‘nomothetic’ effort of early twentieth-century German cultural science came to be devoted to establishing elaborate cultural taxonomies rather than ‘laws’ in a more traditional sense.”15 In Folge sei die Entwicklung von Nadlers Grundlagen- und Hilfswissenschaften, die nach obiger Beschreibung zu den nomothetischen Kulturwissenschaften zu zählen sind, kurz skizziert: Geographie, Ethnographie/Volkskunde, Stammeskunde/Ethnologie und Karl Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung. Die Darstellung wird sich dabei auf jene Stränge der wissenschaftlichen Disziplinen konzentrieren, welche für Nadler oder die Rezeption seines Werks bedeutsam wurden und die er zum Teil explizit zu seinen Vorbildern rechnete – etwa Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung oder den Entwurf einer auf der Volkskunde basierenden Literaturgeschichte August Sauers. Es wird deutlich werden, wie eng manche dieser Wissenschaften in ihren Vorstellungen zusammenhängen und wie vielfältig die gegenseitigen Beeinflussungen sind. So sammeln sich beispielsweise schon in Lamprechts Kulturgeschichte die Einflüsse mehrerer Kulturwissenschaften, und ein einzelner Gelehrter wie Friedrich Ratzel ist ebenso Geograph wie Ethnologe oder Anthropologe. Dadurch ist die Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen Fachbereichen oftmals problematisch, womit jedoch die Abgrenzungsprobleme innerhalb des sich wandelnden wissenschaftlichen Gefüges schon in der Darstellung widergespiegelt werden. Als Grundlage für die Bedeutung oder Aufgabe, die jene von Nadler als Hilfswissenschaften bezeichneten Fachrichtungen in seinem Konzept tragen sollen, wird seine „Wissenschaftslehre“ herangezogen. Diese Vorgehensweise wird es ermöglichen, Nadlers wissenschaftstheoretische Programmatik auch in dieser Hinsicht mit der praktischen Ausführung der „Literaturgeschichte“ zu konfrontieren. 3.2.1.1. Geographie Der Geographie schreibt Nadler im grundlegenden wissenschaftstheoretischen Aufsatz von 1914 die Aufgabe zu, der Literaturhistorie Kenntnisse über den Einfluß der Erde auf den Aufbau der „menschlichen Gattungen“ zu liefern. Die Frage nach der physischen und psychischen Beein—————— 14 15
Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 234f. Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 12.
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flussung des Menschen durch seine Umwelt – Topographie, Klima etc. – gehört zu jenen Forschungsproblemen, welche zur Begründung der Geographie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin führten. Durch jene Vertreter der Geographie, die den Status von „Gründervätern“ tragen (etwa Alexander von Humboldt und Karl Ritter) präsentierte sich die Fachrichtung nicht nur als stark kulturwissenschaftlich orientiert, sondern diente auch teilweise als Modell für die Kulturanthropologie oder galt als jene Wissenschaft, welche die Ergebnisse anderer Disziplinen in ein System zu bringen imstande sei.16 Besonders für die Schüler Ritters gewann unter Einbeziehung der Lehren Herders die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch bzw. Menschengruppen und Umwelt in der Geschichte an Bedeutung. Die Abgrenzung von ähnlich orientierten Forschungsrichtungen wie Geschichte, Ethnologie oder auch (Völker)Psychologie erfolgte dabei über das Kriterium des Raums, also aufgrund der Annäherung an das Thema aus raumwissenschaftlicher Perspektive.17 Obwohl Nadler in seiner wissenschaftstheoretischen Positionierung die Bedeutung der Geographie für die Literaturgeschichtsschreibung betont, da sie die notwendigen Erkenntnisse über den Einfluß der Umwelt auf den Menschen liefern solle, beruft er sich auf keinen bestimmten Geographen oder eine bestimmte geographische Forschungsrichtung – weder in der „Wissenschaftslehre“ noch später in der Bibliographie seiner „Literaturgeschichte“. Dies kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, daß nicht nur ein bestimmtes Teilgebiet der Geographie und somit einige Spezialisten sich mit diesem Thema beschäftigten, sondern diese Problematik eben als eine Grundfrage der Geographie aufgefaßt wurde. Dennoch verwundert es, daß Nadler trotz seiner dezidierten Anlehnung an einzelne Wissenschafter der Kulturgeschichte, Genealogie oder Volkskunde keinen bestimmten Geographen heraushebt, obwohl gerade bei der Bearbeitung eines Forschungsgebiets durch zahlreiche Gelehrte und ihre unterschiedlichen Zugangsweisen die erwarteten geographischen Erkenntnisse äußerst unterschiedlich ausfallen können. Im ausgesprochen umfangreichen Briefwechsel mit August Sauer erwähnt Nadler nur ein einziges Mal in einer kurzen Notiz einen Geographen: „Seien Sie unbesorgt, ich lasse mir von Ratzel und Kirchhoff nichts entgehen.“18 Friedrich Ratzel also. —————— 16 17 18
Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 58. Vgl. Eisel, Ulrich: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer „Raumwissenschaft“ zur Gesellschaftswissenschaft. Kassel: Gesamthochschul-Bibliothek 1980 (= Urbs et regio Bd. 17), S. 54. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-50, München 10. 12. 1910. Zum Volkskundler Alfred Kirchhoff vgl. 4.3.4.
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Unter denjenigen Geographen, die sich der Frage nach der Interferenz zwischen Mensch und Umwelt widmeten, gehörte Friedrich Ratzel zu den einflußreichsten, er wirkte auch nachhaltig auf die Ethnologie.19 In seiner 1882 veröffentlichten „Anthropogeographie“ wird die Natur insofern zum Bedingungsfaktor der Kultur erklärt, als die Kultur als Entwicklung der Kräfte bzw. der Arbeitstätigkeit des Menschen an der Natur aufgefaßt wird. Damit geht Ratzel nicht von einer einseitigen Bestimmung des Menschen durch seine Umwelt aus. Denn unter einem solchen Ansatz steht nicht die körperliche Beeinflussung des Menschen durch seine Umwelt im Mittelpunkt, sondern vielmehr die aktive Auseinandersetzung mit dieser Umwelt über die Arbeitsleistung des Menschen. Der Bewohner einer Landschaft werde zwar durch die dort herrschenden Voraussetzungen geprägt, diese Prägung wirke sich jedoch wiederum auf jene Landschaft selbst aus. Dieser Standpunkt der Anthropogeographie wurde allerdings von Nadler vernachlässigt – zumindest, wenn man vom Wortlaut der „Wissenschaftslehre“ ausgeht.20 Denn nach diesem Beitrag zu schließen interessierte ihn vor allem die Wirkung der Umwelt auf den Menschen und weniger der Umgang des Menschen mit seiner Umgebung. In einem Brief an Sauer bedauert Nadler überdies die Betonung des anthropogeographischen Blickwinkels in den volkskundlichen Arbeiten Alfred Kirchhoffs, obwohl er seinen Lehrer gleichzeitig um die Besorgung eines Werks des Volkskundlers bittet.21 Ein anderer zentraler Faktor in Ratzels Konzept einer Humangeographie ist die Bewegung des Menschen über die Erdoberfläche. Die Interaktion von Menschengruppen mit Terrain, Klima und Vegetation ihrer jeweiligen Umgebung strukturiert nach Ansicht Ratzels Gesellschaft und Geschichte, wobei letztere als adaptive Evolution gesehen wird. Da „Wandern“ ein beobachtbarer Vorgang ist, der zudem physiognomischen Folgen nach sich ziehe, erlaube die Verfolgung von Migrationen das Schreiben einer geographischen Geschichte. Das schließt etwa die Annahme ein, daß kulturelle Unterschiede zwischen Völkern auf prähistorische Wanderungen zurückgehen Damit wird eine raumwissenschaftliche Dimension in den Geschichtsbegriff hineingelegt, denn „geschichtlich“ ist bei Ratzel „Bewegung“. Wie dieser Ansatz die Ethnologie beeinflußt hat, wird im Abschnitt zur Stammeskunde skizziert (Abschnitt 3.2.1.3.). —————— 19 20 21
Vgl. im folgenden: Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie, S. 99-123 und Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 141-160. In der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ spielt dieser Faktor eine wichtige Rolle, vgl. 4.3.4. „Es ist schade, daß Kirchhoffs Forschungen den anthropogeogr. Standpunkt so betonen. Man muß so mühsam nach Goldkörnern graben, die gerade noch brauchbar sind.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 17. 12. 1910.
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Nahe liegt auch die Berücksichtigung eines weiteren Zweiges der Geographie in Zusammenhang mit Josef Nadlers Betonung der Landschaft und in Hinblick auf die Forschungsrichtung der Volkskunde, in welche der Germanist einzuordnen ist. Der die Geographie über weite Strecken prägende „Mensch-Umwelt-Ansatz“ wurde nämlich zunächst regionalistisch als „Land und Leute“-Beschreibungen, als Länderkunde betrieben.22 Als wissenschaftliche Operation wurde dabei der Vergleich regionaler „Individuen“ von Natur und Kultur bevorzugt, mit dem Ziel, die Erdoberfläche nach ihren in Formtypen eingeteilten Merkmalen zur allgemeinen Kenntnis von Land und Leuten zu klassifizieren. Der Ausgangspunkt des Vergleichs ist die Gestalt der Landschaften, die intuitiv erfaßt, also „erlebt“ werden kann. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zu den „neuen“ Geisteswissenschaften und sogar zur germanistischen Geistesgeschichte und zur Stiltypologie, denn: „Das ,Erleben’ (und ,Verstehen’) von Landschaften ist mit dem Form-Genese-Schema derart verbunden, daß die typische Gestalt doppelt typisch ist: für die Region und für die Genese der Gestalt.“23 In der landschaftskundlichen Geographie heißt dies, daß Muster und Formen über ihre Entstehung erklärt werden, wobei der charakteristische Wandel eben dieser Muster und Formtypen die Basis von Regionalisierung bilde. Doch damit ist auch die Landschaftskunde letztlich auf das Ziel gerichtet, das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Natur zu erforschen. Die Landschaft ist dabei nur ein Mittel zur Ermöglichung von Vergleichen, wobei der Vergleich immer über Verknüpfung von geographischen und historischen Tatsachen erfolgte. An diesem Punkt schließt sich auch die Landschaftskunde trotz ihrer geisteswissenschaftlich anmutenden Methoden des Erlebens und Verstehens an die nomothetischen Kulturwissenschaften an. Umso mehr, als ihre Vertreter in gesellschaftstheoretischer Hinsicht die europäische bürgerliche Kultur und Wirtschaftsweise im Gegensatz zur außerhalb Europas gepflegten als vernünftig darzustellen beabsichtigten. Die landschaftskundliche Geographie spielte zwar in Nadlers Konzept der Literaturgeschichtsschreibung keine Rolle, gewinnt aber Bedeutung für konkurrierende Ansätze der Regionalforschung, deren Vertreter nicht wie der Literaturhistoriker von überzeitlichen, sondern historisch bedingten Stammeseigenarten ausgingen (vgl. Abschnitt 7.1.).
—————— 22 23
Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie, S. 54-56 und S. 84-95. Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie, S. 56.
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3.2.1.2. Volkskunde Als Impuls für den Nadlerschen Ansatz der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung wird stets die vielzitierte Rektoratsrede „Literaturgeschichte und Volkskunde“ seines Lehrers August Sauer genannt.24 Und auch Nadler selbst bestätigt in seinen Briefen an seinen „hochverehrten Herrn Lehrer“ diesen entscheidenden Einfluß, wenn er auch die Rolle der Lehrveranstaltungen vor jener der Rektoratsrede hervorhebt.25 Gemeinsam mit der Mehrzahl seiner Kollegen um 1900 betrachtete Sauer die philologische Arbeit nach wie vor als unerläßliche Grundlage für jegliche Literaturgeschichtsschreibung, wie seine Rede bestätigt. Die geläufigen Forschungsrichtungen innerhalb der Germanistik – Ästhetik bzw. Poetik, Stoff- und Motivgeschichte, Gattungsgeschichte, die junge vergleichende Literaturgeschichte, aber auch die „Geschichte der Weltanschauungen im künstlerischen Gewande“26 – werden zunächst positiv angeführt. Im nächsten Atemzug allerdings beklagt Sauer die Einseitigkeit vieler zeitgenössischer Literaturgeschichten und fordert ein zusammenfassendes Werk ein. Der wichtigste Kritikpunkt ist hierbei die Vernachlässigung der „eigentlich nationalen Seite“ der Literatur, des Volkstums, was Sauer der Konzentration auf den unbestimmten, zu Zirkelschlüssen verleitenden Begriff des Nationalcharakters zuschreibt. Anstelle weiterer Bemühungen zur wissenschaftlichen Erfassung des Nationalcharakters in dieser Art versucht Sauer die Aufmerksamkeit der Kollegen auf die deutschen Stämme und Landschaften zu lenken. Deren spezifischer Charakter sei aufgrund bestimmter Mischungen der Urbevölkerung mit jüngeren Wandervölkern, der unterschiedlichen Beschaffenheit von Boden und Klima sowie wechselnde politische, religiöse und soziale Lagen leichter zu bestimmen als jener der gesamten Nation: Denn im letzten Grunde ist der Mensch [...] ein Produkt des Bodens, dem er entsprossen ist, ein Angehöriger des Volksstammes, der ihn hervorgebracht hat, ein Glied der Familien, aus deren Verbindung er entsprungen ist. Ohne alle die
—————— 24
25 26
Sauer, August: Literaturgeschichte und Volkskunde. Rektoratsrede vom 18. 11. 1907. Prag: Calve 1907. Kurzbiographie Sauers: geboren 12. 10. 1855 Wiener Neustadt, gestorben 17. 9. 1926 Prag; Studium der Germanistik, Geschichte, Anglistik in Wien 1873-77; Dozent für deutsche Sprache und Literatur in Lemberg 1879-1883, ao. Prof. in Graz 1883-1886, ao. Prof. in Prag 1886, ab 1892 ebd. Ordinarius. Vgl.: Pichl, Robert: August Sauer. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 9. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1988, S. 438f. Aus den Briefen an August Sauer geht hervor, daß Nadler schon eine Vorlesung Sauers im Studienjahr 1904/05 als ausschlaggebend für seine spätere Konzeption empfunden hat. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-319, Freiburg 2. 5. 1918. Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 2.
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schwierigen Streitfragen der Abstammung, Anpassung und Vererbung [...] hier berühren zu wollen und ohne den weiteren Erklärungsgründen vorzugreifen, darf man doch an die ganz unverkennbaren, deutlich ersichtlichen Merkmale anknüpfen, die jeder mit seinem Volksstamm gemeinsam hat [...]. Diese Stammesmerkmale bilden die älteste und festeste Schicht, auf welcher alle Einflüsse und Eindrücke, wie sie Erziehung, Bildung und Leben mit sich bringen, sich aufbauen und wären uns diese Stammesmerkmale bekannt, wären sie wissenschaftlich erfassbar, so gäben sie ein ausgezeichnetes Kriterium zu einer gewissermaßen natürlichen Gruppierung auch der Literaten und Dichter eines Volkes.27
Nach einem Überblick über die bisherigen Ansätze einer landschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung kommt Sauer auf die Bedenken zu sprechen, welche gegen eine landschaftliche Gruppierung der deutschen Dichter ins Feld geführt werden könnten. Die Frage, ob nur weniger begabte Dichter dem Einfluß der Landschaft gewissermaßen ausgeliefert seien, zerstreut Sauer zunächst durch die Ablehnung des Gedankens des dichtenden Volkes als Masse. So wie jedes Volkslied auf einen einzelnen Schöpfer zurückgehe, wurzele jedes dichterische Genie im Heimatboden. In ähnlicher Weise wird dem Einwand, der Zusammenhang der Literatur mit dem Volkstum sei in älterer Zeit stärker gewesen als heute, begegnet. Denn laut Sauer wurzeln auch die Großstädte im Volkstum der einzelnen Landschaften. Der dritte aufgenommene Einwand ist schließlich der in wissenschaftstheoretischer Hinsicht entscheidende: woher sollen die Maßstäbe zur Erfassung des volkstümlichen Wesens genommen werden? Diese Aufgabe wird nun der Volkskunde zugeschrieben. Nicht ohne Absicht hat die Volkskunde keinen Eingang in die Abschnitte zur Germanistik um 1900 gefunden – sie zählt nicht zu jenen Wissenschaften, an welche die Fachvertreter der deutschen Philologie sich neu zu orientieren versuchten, weil sie schon zuvor als Teilgebiet der Germanistik verstanden worden war. Die enge Verkettung zwischen den beiden wissenschaftlichen Fachbereichen hat ihren Ursprung bereits in der romantischen Konzeption der Germanistik als alle Aspekte des Lebens und der Geschichte der Deutschen umfassende Wissenschaft.28 Als Konsequenz wurde die Volkskunde auch lange Zeit an den Universitäten in Personalunion mit der Germanistik gelehrt29 und in weiten Teilen ihrer Forschungen hinsichtlich der Wahl der Quellen wie auch der Methodik —————— 27 28 29
Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 5. Vgl. im folgenden: Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin, Darmstadt: Habel 1971 und Emmerich, Wolfgang: Germanistische Volkstumsideologie. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1968. Der erste Lehrstuhl für Volkskunde wurde 1919 in Hamburg an Otto Laufer vergeben, vgl. Könenkamp, Wolfgang: Gescheitert und vergessen: Folgenloses aus der Geschichte der Volkskunde. In: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg.: Kai Sievers. Neumünster: Wachholz 1991, S. 175.
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stark von der deutschen Philologie beeinflußt, wie sich anhand der vorrangigen Beschäftigung mit Lied, Sage und Mythos zeigt. Noch für 1914 läßt sich durch ein Zitat von Julius Petersen diese traditionelle Sicht eines Literaturwissenschafters auf die Volkskunde belegen. In seinen Augen stellt sich zwischen Sprache und Literatur „...die dem Volksgeist unmittelbar gewidmete Volkskunde als Wissenschaft von aller ursprünglich mündlicher Überlieferung in Glauben und Aberglauben, Sage und Märchen, Brauch und Sitte, Sang und Spiel.“30 Hiermit unterstreicht Petersen, daß volkskundliche Forschung dieser Ausrichtung vor allem auf die Sammlung des ideellen, bisher kaum schriftlich überlieferten Volksguts abzielte, was durchaus noch den Vorstellungen der Romantiker vom schöpferischen Volksgeist entspricht. Diese Auffassung von Volkskunde deckt sich jedoch nicht mit jener wissenschaftlichen Fachrichtung, welche August Sauer in seiner Rektoratsrede unter „Volkskunde“ faßt und als wichtige Ergänzung bzw. Vorbild einer neuen Literaturgeschichtsschreibung näher an die Germanistik heranholen möchte. Und es ist auch nicht jene Linie, die Josef Nadler in seinem literaturgeschichtlichen Projekt verfolgt, sondern eine meist weniger berücksichtigte. Angesichts der steten Hervorhebung der eben beschriebenen Verbindung der frühen Volkskunde mit der Literatur- und Sprachwissenschaft aufgrund der romantischen Konzeption der Germanistik beklagt Wolfgang Könenkamp an der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Volkskunde die „...frühzeitig einsetzende Verklärung der Volkskundegenese als einer Pflanze auf germanistisch-philologischer Wurzel...“.31 Tatsächlich wäre, wenn man von manchen volkskundlichen Konzeptionen der romantischen Tradition ausgeht, schon aus dieser Wurzel eine weit weniger eingeschränkte Volkskunde möglich gewesen, als später unter den Fittichen der deutschen Philologie realisiert wurde.32 Denn in den Arbeiten zweier oftmals als Gründerfiguren der Volkskunde angeführter Gelehrter, Jacob Grimm und Karl Weinhold, war die einseitige Konzentration auf die ideelle Überlieferung keineswegs vorgegeben. Grimm vertrat die Ansicht, man müsse sich mit allen Bereichen des Volkslebens befassen und auch sein Schüler Weinhold wollte in seinen Ansatz der volkskundlichen Forschung explizit auch Anthropologie, Psychologie, Volkswirtschaft, Naturkunde und Kunst miteinbeziehen. Die Aufnahme dieser weitreichenden Konzepte wurde laut Wolfgang Jacobeit verhindert —————— 30 31 32
Petersen: Literaturgeschichte als Wissenschaft, S. 9. Könenkamp: Gescheitert und vergessen, S. 177. Vgl.: Jacobeit, Wolfgang: Vom „Berliner Plan“ von 1816 bis zur nationalsozialistischen Volkskunde. In: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg.: Wolfgang Jacobeit u. a. Wien u. a.: Böhlau 1994, S. 21-23.
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...durch das Verleugnen und Bekämpfen einer neuen Geschichtsperiode, einer neuen sozialen Formation, einer sich etablierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, durch den reaktionären Flügel der deutschen Romantik in dessen Hinwendung zu einem in fernste Geschichtlichkeit transponierten „Volksgeist“. Volk wurde fortan mit undifferenziert gesehenem Bauerntum gleichgesetzt...33
Ein weiterer Grund für die Konzentration auf ideelle Überlieferung ist mit Sicherheit in der Verwissenschaftlichung der Germanistik durch Philologisierung zu finden. Jedenfalls existierte vor und teilweise auch neben jener mit der deutschen Philologie verbundenen, auf ideelle Überlieferung konzentrierten Volkskunde ein sich auf Geographie, Ethnographie und Staatswissenschaften stützender Zweig, welcher einige der von „germanistischen“ Volkskundlern vernachlässigten Aspekte berücksichtigte. Vor der Entstehung der eben beschriebenen „romantisierenden“ Volkskunde als Teil der Germanistik im Sinne einer Wissenschaft vom deutschen Menschen wurden manche Aufgaben der Volksforschung von staats- und landeskundlichen Wissenschaften wahrgenommen, etwa der Kameralistik.34 Diese stark auf statistische Erfassung konzentrierte Forschung sollte die tatsächlichen wirtschaftlichen und mentalen (religiösen, sittlichen) Befindlichkeiten des Volkes erheben, um Grundlagen für mögliche Verbesserungen zu schaffen. Sie war somit stark gegenwarts- und realitätsbezogen, ganz im Gegensatz zur später aufkommenden romantischen Volkskunde. Jener von der germanistisch-philologisch orientierten Volkskunde vernachlässigte Gegenwartsbezug, wie etwa die Auswirkung wirtschaftlicher Umwälzungen, wurde im Laufe der Zeit von den sich entwi kelnden Sozialwissenschaften aufgenommen. Als in diesen Rahmen passende (konservative) Soziallehre ist beispielsweise das Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Werk Wilhelm Heinrich Riehls zu nennen,35 da dieser die Kenntnis des Volkes vor allem für sozialpolitische Zwecke vorantreiben wollte. Aufgrund seiner Ansicht, daß dieser Zweck wiederum nur über die Erforschung des Volksgeistes zu erreichen sei, ist auch Riehl letztlich der romantisierenden Volkskunde zuzurechnen. Die Neuheit an seiner Lehre ist allerdings die Konzeption einer auf positivistischer Datensammlung und Empirie basierenden Volkskunde als „Naturgeschichte des Volkes“, also die Untersuchung des gesetzmäßigen Aufbaus der Volkspersönlichkeit nach natürlichen ethnographischen Grundzügen (wie bedingen sich Land und Leute gegenseitig?), nach den Banden der Natur (Familie) und nach den organischen —————— 33 34 35
Jacobeit: Vom „Berliner Plan“ von 1816 bis zur nationalsozialistischen Volkskunde, S. 24. Vgl. Jacobeit: Vom „Berliner Plan“ von 1816 bis zur nationalsozialistischen Volkskunde, S. 17-30. Vgl. zu Riehl: Bausinger: Volkskunde, S. 52-59 und Emmerich: Germanistische Volkstumsideologie, S. 87-93.
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Gliedern der Volkspersönlichkeit (Stände). Als Forschungsobjekt gelten Riehl die „vier großen S“ – Sprache, Sitte, Stamm, Siedlung – wobei vor allem mit der „Siedlung“ neben der ideellen Überlieferung nun auch materielle Güter zur wissenschaftlichen Bearbeitung herangezogen wurden. Die Richtung der Volkskunde, welche August Sauer als Grundlage seiner Literaturgeschichtsschreibung verstanden wissen wollte, gehört jenem mehr der Geographie und Ethnographie als der deutschen Philologie verbundenen volkskundlichen Zweig an, der sich den nomothetischen Kulturwissenschaften zuordnen läßt. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem Sauers Feststellung, daß die für sein Vorhaben erforderliche Volkskunde, „...eigentlich schon von den Gebrüdern Gr i mm geschaffen war, dann, bei fremden Völkern eifrig gepflegt, gerade in Deutschland halb und halb in Vergessenheit geriet, bis sie bei uns wieder entdeckt, den Händen des Dilettantismus entrissen und durch W ei nh o ld von neuem und diesmal fester und sicherer begründet wurde.“36 Somit ist bereits der Bezug zu einer weiter gefaßten Volkskunde hergestellt, wie sie von Grimm und Weinhold intendiert gewesen, aber von germanistischen Fachkollegen nicht ausgeführt worden war. Dadurch wird ein spezieller Bezug zu Österreich deutlich. Wie Olaf Bockhorn ausführt,37 ist die Volkskunde an der Universität Wien – Sauers Studienort – mindestens so stark von geographischer wie von philologischer Seite beeinflußt worden, wobei die Geographie wiederum in erster Linie naturwissenschaftlich ausgerichtet war. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war das Lehrveranstaltungsangebot, das „...zwischen 1850 und 1890 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien allenfalls als ,volkskundlich’ interpretiert werden konnte, fast immer in irgendeiner Weise ,ethnographisch’ (wenn auch slawisch, germanisch, historiogeographisch oder linguistisch) [...], daß also das Primat der Ethnographie weder zu übersehen noch [...] zu leugnen ist.“38 Zusätzlich nahmen die Mitglieder der Wiener Anthropologischen Gesellschaft, welche (physische) Anthropologen, Ethnographen und Prähistoriker umfaßte,39 in einer eigens gegründeten „ethnographischen Kommission“ volkskundliche Forschungsaufgaben wahr. —————— 36 37 38 39
Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 16. Hervorhebungen im Original. Bockhorn, Olaf: „Volkskundliche Quellströme“, S. 417-424. Bockhorn: „Volkskundliche Quellströme“, S. 419. Der Schluß des Satzes bezieht sich auf den hier ebenfalls schon zitierten Aufsatz von Wolfgang Könenkamp: Gescheitert und vergessen. Gegründet 1870, 1877 verlegte sie ihren Sitz in die neu gegründete Anthropologischethnographische Abteilung des Naturhistorischen Museums, vgl. Bockhorn: „Volkskundliche Quellströme“, S. 419.
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Mit der Anthropologischen Gesellschaft und dadurch mit stark ethnographisch ausgerichteter Forschung sind auch mehrere Absolventen der Universität Wien verbunden, die später einflußreiche Professoren an österreichischen Universitäten wurden und wichtige Beiträge zur jungen österreichischen Volkskunde erbrachten: Rudolf Meringer, Rudolf Much und Michael Haberlandt.40 Es ist nun bezeichnend, daß die drei Genannten nur vier, fünf und sieben Jahre jünger sind als August Sauer (geb. 1855), womit man sie zur selben Generation rechnen kann, auch in Hinblick auf ihre Studien. Zwei von ihnen – Meringer und Much – teilen mit dem späteren Prager Professor sowohl das Studium der Germanistik als auch denselben Doktorvater, Richard Heinzel. Und obwohl Sauers Studienfächer Germanistik, Geschichte und Anglistik waren, ist anzunehmen, daß er dennoch unter dem Einfluß der ethnographischen Ausrichtung, die sich ja auch auf die Wiener Germanistik erstreckte, stand. Dies wirkte sich mit Sicherheit auch auf sein in der Rektoratsrede vorgestelltes Konzept aus; schließlich verstand Sauer die Einteilung in Stämme und Provinzen als volkstümliche Grundlage der Literaturgeschichte. Noch ein weiterer Gelehrter läßt sich in diesen Kontext einreihen: Adolf Hauffen, im Jahr 1863 geboren, Student der Germanistik, Anglistik, Geschichte und Geographie in Wien, zunächst Privatdozent in Wien und ab 1889 außerordentlicher Professor in Prag.41 Und eben von seinem Freund und Kollegen Adolf Hauffen übernimmt August Sauer das Konzept einer „stammheitlichen Volkskunde“, welche die Grundlage der Literaturgeschichtsschreibung bilden soll. Hauffen bezieht nicht nur jene Forschungsgegenstände in seine „Deutsch-böhmische Volkskunde“ ein, die auch die oben beschriebene, an die Germanistik gekoppelte Volkskunde bevorzugt bearbeitet, also Sitte, Recht, Sprache, Poesie, Glauben, sondern auch Schädel- und Körperbildung, Haus und Hof, Tracht, Erwerbsverhältnisse und Nahrungsmittel sowie Volkskunst.42 Die Untersuchung aller dieser Gegenstände wird allerdings dezidiert auf die unteren, vorzugsweise ländlichen Schichten beschränkt. Letztendliches Ziel der stammheitlichen Volkskunde ist die Erstellung einer Charakterologie der einzelnen Stämme, welche schließlich bis zu einer Charakterologie des gesamten deutschen Volkes fortschreiten solle. Obwohl Sauer an späterer Stelle bean—————— 40
41 42
Rudolf Meringer, geb. 1859, Studium der Germanistik und vergleichenden Sprachwissenschaft in Wien, lehrte Vergleichende Indogermanische Grammatik in Wien und Graz; Michael Haberlandt, geb. 1860, sprachwissenschaftliches Studium in Wien, lehrte Allgemeine Ethnographie in Wien; Rudolf Much, geb. 1862, Studium der Germanistik und Geographie in Wien, lehrte Germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde in Wien; vgl. Bockhorn: „Volkskundliche Quellströme“, S. 420-422. Vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hrsg.: Walter Killy, Rudolf Vierhaus. München u. a.: Saur Bd. 4 1996. Vgl. Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 16.
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standet, bisherige in diese Richtung weisende volkskundliche Arbeiten hätten die Beobachtung der geistesgeschichtlichen und ethischen Grundströmungen außer acht gelassen, ist damit doch im Vergleich zur stärker an die philologische Germanistik gebundenen Volkskunde ein deutlicher Schritt auch zu einer physischen Seite der Stämme/des Volkes zu erkennen. Die Literaturgeschichtsschreibung habe sich nun in den Augen Sauers stärker der provinziellen und lokalen Literaturgeschichte zuzuwenden, die Ergebnisse der Volkskunde zu nutzen, sich an deren Forschungen zu beteiligen und mit Hilfe der Familiengeschichte und Genealogie verläßliche Stammbäume der bedeutenderen Dichter zu erstellen, da schließlich nicht der Geburtsort des Dichters, sondern vor allem seine Herkunft das entscheidende Moment sei. Und vor allem müsse der Versuch unternommen werden, ...einen Abriss der deutschen Literaturgeschichte in der Weise zu liefern dass dabei von den volkstümlichen Grundlagen nach stammheitlicher und landschaftlicher Gliederung ausgegangen werde, dass die Landschaften und Stämme in ihrer Eigenart und Wechselwirkung darin mehr als bisher zur Geltung kommen und dass bei jedem Dichter, jeder Dichtergruppe und jedem Dichtwerk festgestellt werde, wie tief sie im deutschen Volkstume wurzeln oder wie weit sie sich etwa davon entfernen. Der Literaturgeschichte von oben träte eine literaturgeschichtliche Betrachtung von unten, von den volkstümlichen Elementen aus mit besonderer Berücksichtigung der Dialektpoesie zur Seite. 43
Der Abschluß der Rede Sauers macht deutlich, daß er sich von einer solchen Konzeption der Literaturgeschichte eine Stärkung des deutschen Volkstums erhoffte, die nicht zuletzt auf die Pflege des deutschen Volkstums in Böhmen, also einem deutschsprachigen Randgebiet zielt. 3.2.1.3. Stammeskunde und Ethnologie Schon die volkskundliche Grundlage Nadlers ist also stark von der Vorstellung, das deutsche Volk setze sich aus Stämmen mit unterschiedlichen Volkskulturen zusammen, geprägt. Da die „stammheitliche Volkskunde“, wie sie von Adolf Hauffen definiert worden ist, sich zwar davon leiten läßt, daß das deutsche Volk stammlich differenziert sei, aber die Frage nach der ursprünglichen Entwicklung dieser Stämme außer acht läßt, muß noch eine weitere Forschungsrichtung für die Analyse des Nadlerschen Konzepts herangezogen werden, die auch er selbst in seiner „Wissenschaftslehre“ nennt: die Stammeskunde. Es ist allerdings ein problemati—————— 43
Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 20.
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sches Unterfangen, die germanische Stammeskunde als Wissenschaft zu definieren. Am adäquatesten läßt sie sich wohl in die romantische Konzeption der Germanistik als Wissenschaft vom deutschen Menschen einordnen, wo sie in erster Linie als Teil der germanischen Frühgeschichte betrieben wurde: „Man dachte an von Anfang an festgefügte Volksgruppen, Unterabteilungen des gesamten Volkes, die in Volkseigenheiten und Mundarten fortlebten.“44 Maßgeblich für diese Vorstellung waren antike Quellen, die von einzelnen Stämmen berichteten; von größter Bedeutung war wie so oft die „Germania“ des Tacitus. Daß vom Fortwirken dieser Stammesgebilde bis in die Gegenwart ausgegangen wurde, zeichnet sich vor allem in der Dialektologie ab. Hier wurden Mundartgrenzen häufig mit Stammesgrenzen gleichgesetzt und mit Bezug auf dieselben erklärt, wie überhaupt die Benennung der Mundarten nach alten Stammesbezeichnungen erfolgte.45 Umgekehrt erhoffte man sich von der Dialektforschung Aufschlüsse über die frühen Siedlungsverhältnisse der deutschen Stämme. Weitere Erkenntnisse zur Siedlungsgeschichte der deutschen bzw. germanischen Stämme erwartete man auch von der Ur- und Frühgeschichte. „Es lag nahe, sich darum zu bemühen, nicht nur die Hinterlassenschaft der Germanen von den nichtgermanischen Völkern zu scheiden, sondern auch die der Germanen einzelnen Stämme zuzuschreiben zu versuchen, d.h. zur „ethnischen Deutung“ vorgeschichtlicher Fundgruppen vorzustoßen.“46 Diese siedlungsarchäologische Forschungsweise, für welche besonders Gustav Kossinna bekannt wurde, ist in ihren Prämissen stark von Friedrich Ratzel beeinflußt. Denn in Anschluß an dessen Betonung der Migrationsbewegungen von Menschen entwickelte sich im Rahmen der Ethnologie die Ansicht, daß etwa das Aufscheinen gleicher bzw. ähnlicher Artefakte an verschiedenen Plätzen die Wanderung eines Volkes oder Verwandtschaft von Völkern bedeute. „Moreover, the collocation within a geographical area of a great many similar [cultural] traits essential-
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Schwarz, Ernst: Einleitung. In: Zur germanischen Stammeskunde. Aufsätze zum neuen Forschungsstand. Hrsg.: ders. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (=Wege zur Forschung Bd. 249), S. VII; ein Beispiel für eine solche Darstellung ist z. B. Zeuß, Kaspar: Die Deutschen und die Nachbarstämme. München: Lenter 1837. Nadler führt Zeuß in der Bibliographie zum ersten Band seiner „Literaturgeschichte“. Knoop, Ulrich; Putschke, Wolfgang; Wiegand, Herbert E.: Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Hrsg.: Werner Besch u. a. Berlin, New York: de Gruyter, Bd. 1/1 1982, S. 43f. Schwarz: Einleitung. Zur germanischen Stammeskunde, S. X.
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ly defined the physical boundaries of a cultural area...“47 Damit legten Ratzels Theorien nicht nur die Grundsteine für die Kulturkreis- und die spätere Lebensraumlehre, sondern trugen auch maßgeblich dazu bei, daß eben Räume bzw. Siedlungen mit einheitlichem prähistorischem Fundmaterial ethnographischen Einheiten zugeschrieben wurden. In der Folge zeichnete sich zudem die Tendenz ab, materielle Artefakte vermehrt als Ausdruck mentaler oder geistiger Eigenschaften zu deuten. Josef Nadler stützte sich in der Stammeskunde vor allem auf Otto Bremer,48 welcher an der Bedeutung des sprachlichen Aspektes für die Stammeszugehörigkeit festhielt: Wir verstehen unter dem Namen Germanen diejenigen Volksstämme, welche eine germanische Sprache sprechen. Wir nennen daher auch die Stämme anderer Herkunft, welche eine germanische Sprache angenommen haben, Germanen, ebenso wie diejenigen nicht mehr zu den Germanen zählen, welche eine andere Sprache angenommen haben. So gelten uns die germanisierten Slawen östlich der Elbe von dem Zeitpunkt an als Deutsche, wo sie die Herrschaft der deutschen Sprache bei sich anerkannt haben.49
Das Vorhandensein der germanischen Sprachfamilie gilt Bremer einerseits als Beweis dafür, daß die Germanen ursprünglich ein einzelner Volksstamm gewesen seien, andererseits ist jedoch auch die Sprache entscheidend für die Einteilung eines Volksstammes in seine stammlichen Untergruppen.50 Ursprüngliche politische Einheiten, so Bremer, ließen sich allerdings aus der Sprache allein nicht beweisen, da Sprachen immer in politische Grenzen hineinwüchsen (dennoch gilt für ihn: zeitgenössische Sprachgrenzen sind frühere Stammesgrenzen). Jedenfalls müßten sprachliche Befunde erst mit geschichtlichen Zeugnissen kombiniert werden. Die Hilfe der Anthropologie zur Bestimmung von Stammeseinheiten verschiebt Bremer dabei jedoch in die Zukunft, zum jetzigen Zeitpunkt fehle es noch an einer gesicherten Methode, da sich kein physisches Merkmal (z. B. Schädelform, Haar- und Augenfarbe) als stichhaltig erwiesen habe. Zudem sei fraglich, ob eine politische und sprachliche Einheit jemals eine anthropologisch einheitliche Rasse gewesen sei, vielmehr habe —————— 47
Smith: Politics and the Sciences of Culture, S. 142. Innerhalb dieser Kulturkreise, wie sie von Ratzels Schülern benannt wurden, sollte es auch möglich sein, den Einfluß der Umwelt auf den Menschen in kleinerem Raum zu studieren. 48 „Freilich ist Otto Bremer durch seine Ethnographie im Grundriß kanonisiert.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-51, München 27. 12. 1910. Die Bibliographie zum ersten Band der „Literaturgeschichte“ führt Bremer an zweiter Stelle nach Karl Lamprecht. 49 Bremer, Otto: Ethnographie der germanischen Stämme. Straßburg: Trübner 1904, S. 2. Zu den germanischen Sprachen und damit Stämmen zählt Bremer: Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Isländisch; Englisch; Nordfriesisch, West- und Ostfriesisch; Niederländisch, Platt- und Hochdeutsch sowie die ausgestorbenen Sprachen der Goten, Gepiden, Rugier, Wandalen, Burgunder, Eruler und Langobarden. 50 Bremer: Ethnographie der germanischen Stämme, S. 12f.
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man von Völkermischungen auszugehen.51 Auch die Prähistorie könne nur bedingt Erkenntnisse liefern, da etwa die geographische Verbreitung von Artefakten auch auf Tausch oder Handel zurückgehen könne – Bremer gehört also keineswegs zu den Vertretern eines siedlungsarchäologischen Ansatzes. Seine Arbeit ist in letzter Konsequenz auf die Erkenntnis der geistigen Individualität eines Volkes oder Stammes, also des Volks- bzw. Stammescharakters in seiner geschichtlichen Entwicklung gerichtet, den er als wichtigstes ethnographisches Merkmal erachtet. Die individuellen Eigentümlichkeiten ließen sich an Sprache, Religion, Kultur und Staat, also an kulturellen Äußerungen, festmachen. „Leider hat sich aber bisher die Forschung ausser auf litterargeschichtlichem Gebiet diesem so interessanten Faktor fast gar nicht zugewandt, so dass es uns sowohl an genügendem Material als an einer erprobten Methode für die Verarbeitung eines solchen fehlt.“52 Die Stammeskunde präsentiert sich also um 1900 als eine Forschungsrichtung ohne eigene Methoden und Grundlagen. Allein die Überzeugung von der Existenz solcher Stämme und ihres besonderen Charakters bestand, der sich in kulturellen Hervorbringungen äußere und bis in die Gegenwart erhalten habe, womit der heutige Zustand Rückschlüsse auf die Vergangenheit zuließe. 3.2.1.4. Kulturgeschichte Die Kulturgeschichte zählt nicht zu jenen Fachbereichen, welche Nadler in seiner „Wissenschaftslehre“ als Hilfsdisziplinen der Literaturgeschichtsschreibung anführt. Sie ist aber insofern ein zentraler Bezugspunkt, als die Kulturgeschichtsschreibung Karl Lamprechts für Nadler als Vorbild für Geschichtsschreibung im allgemeinen gilt, wie der Germanist wiederholt betont hat – etwa im Vorwort des ersten Bandes seiner „Literaturgeschichte“ und immer wieder in den Briefen an August Sauer. Besonders in methodischer Hinsicht ergeben sich Übereinstimmungen mit Lamprecht, worauf Nadler auch in der „Wissenschaftslehre“ hinweist.53 Ähnlich wie Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung stellt auch Lamprechts Ansatz der Kulturgeschichtsschreibung eine Reaktion auf innerdisziplinäres Krisenempfinden dar.54 —————— 51 52 53 54
Bremer: Ethnographie der germanischen Stämme, S. 17. Bremer: Ethnographie der germanischen Stämme, S. 18. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 4. Vgl. im folgenden: Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 187-191; Schorn-Schütte, Louise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984; Chickering, Roger: Karl Lamprecht. A Ger-
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Weil deutlich wurde, daß die traditionelle historistische Geschichtsschreibung mit ihrer weitgehenden Konzentration auf politisch einflußreiche Individuen nicht mehr imstande war, den problematischen sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Deutschland zu erklären, trat Lamprecht dafür ein, kollektive Einheiten als Forschungsobjekt heranzuziehen und die deskriptive Methode der Geschichtswissenschaft durch eine genetische Anschauungsweise ersetzen. Das Hauptziel von Lamprechts „Deutscher Geschichte“ war „...to produce a general history of the German people that incorporated all aspects of their cultural and social development over time within a framework that afforded comparison with other peoples throughout the world and that also permitted the uncovering of laws of historical change.“55 Dabei folgte der Historiker einem holistischen Kulturkonzept, womit nun nicht mehr allein die ideelle Kultur (Kunst, Wissenschaft, Religion) als Forschungsobjekt der Kulturgeschichte aufgefaßt wurde, sondern durchaus auch die materielle Kultur (Wirtschaft, Staat) kulturgeschichtlicher Analyse unterworfen wurde. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Wechselwirkungen zwischen ideeller und materieller Kultur in ihrem Einfluß auf die Weiterentwicklung eines Volkes. Da Lamprecht von einer parallelen Entwicklung psychischer und physischer Erscheinungen bzw. der Einheit von Geist und Natur ausging, lehnte er folgerichtig die methodische Unterscheidung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften ab. Kulturzustände werden in seinen Augen von geistiger und körperlicher Veranlagungen ausgebildet, wobei die Kulturzustände wiederum steuernd auf die menschliche Tätigkeit wirken sollen. In diesem Zusammenhang müsse auch die Wirkung räumlicher Faktoren berücksichtigt werden, da diese konstant seien und eine Anpassung der menschlichen Aktivitäten an sie erfordern. Natur- und Geistesgeschichte wurden in Lamprechts Kulturgeschichte somit parallelisiert. Lamprecht verarbeitete in seinem kulturgeschichtlichen Konzept Methoden und Theorien zahlreicher Ansätze aus den verschiedensten wissenschaftlichen Fachrichtungen. In methodischer Hinsicht ist sein Werk vor allem von der positivistischen Geschichtsschreibung nach dem Beispiel Auguste Comtes oder Henry Thomas Buckles geprägt – so wird etwa historische Kausalität bei Lamprecht mit statistischer Regelmäßigkeit gleichgesetzt –, aber auch der romantischen Natur- und Staatsphilosophie mit ihren biologistisch-organischen Geschichtstheorien verpflichtet. Zudem baute der Historiker auf Traditionen der Rechts- und Wirtschaftsgeschichtsschreibung auf, rückte in die Nähe der jungen Nationalökonomie —————— 55
man Academic Life (1856-1915). New Jersey: Humanities Press 1993; Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Smith: Politics and Sciences of Culture, S. 188.
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und übernahm Aspekte der Theorien Friedrich Ratzels und des Psychologen Wilhelm Wundt, vor allem in Hinblick auf dessen Anschauungen von der Volksseele. Doch auch seitens soziologischer Forscher wurden Theorien vom Gesellschaftskörper als geistig-soziale Einheit in Analogie zum biologischen Organismus entwickelt, welche Lamprechts Kulturgeschichte beeinflußten, etwa Otto von Gierkes Theorie der realen Verbandspersönlichkeit. Lamprechts Konzept der Kollektivpersönlichkeiten wird beherrscht von der Vorstellung eines „Nationalbewußtseins“, das den Gesamtwillen eines Volkes ausdrücke und damit die Einheit von ideeller und materieller Kultur versinnbildliche. Dieses Nationalbewußtsein und dessen Wandlung in fünf Stufen wurde zum einheitsstiftenden Prinzip der Lamprechtschen Kulturgeschichte, wobei dessen Anwachsen als entscheidender Indikator für den kulturellen Entwicklungsstand einer Gesellschaft anzusehen sei. Eine organische Entwicklung des Nationalbewußtseins werde schließlich dazu führen, daß die Nation als höchste Naturgemeinschaft und der Staat als höchste Kulturgemeinschaft zusammenfallen.56 Jede der fünf Entwicklungsstufen57 wiederum sei von einer anderen sozialen Trägergruppe des Nationalbewußtseins geprägt, wie auch jede dieser Epochen überdies durch spezifisches Seelenleben gekennzeichnet sei (dieser Ausdruck wurde von Wundt übernommen), das sich aus Neuerungen qua fortschreitender Rationalisierung und Individualisierung/Verbürgerung, aber auch aus der Fortwirkung jener in der Geschichte abgelagerten Zustände zusammensetze. Ziel der Kulturgeschichte ist letzten Endes die Darstellung der Lebensformen vergesellschafteter Menschen in der Zeit, also die Analyse der Bedingungen und Bauprinzipien historischer Gemeinschaftsbildung. Lamprecht löste mit seinem Entwurf einer Kulturgeschichtsschreibung unter den deutschen Historikern eine heftige Kontroverse aus, da er in mehrfacher Hinsicht von jenen Vorgaben abwich, auf welchen die Etablierung der Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin erfolgt war. Zunächst entfernte Lamprecht sich mit seiner Betonung der Wirtschaftsgeschichte von der Sichtweise, der Staat als höchste sittliche Kraft habe in Form der politischen Geschichte alleiniger Gegenstand der Historiographie zu sein. Weiters stand die Darstellung von Kollektiven, deren Handeln auf gesetzmäßige oder zumindest statistisch festzustellende Kausalitäten zurückginge, im Gegensatz zur bisher maßgeblichen Annahme, die Geschichte werde vom freien Willen bedeutender Individuen gestaltet. Aus diesem Grund sahen viele Historiker die Kulturgeschichtsschreibung —————— 56 57
Zur deutschen Nation gehörten für Lamprecht auch Österreich, die Schweiz und die Niederlande. In Deutschland Symbolismus, Typismus, Konventionalismus, Individualismus, Subjektivismus.
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als Gefährdung für die Eigenständigkeit ihrer Disziplin an, was durch die interdisziplinäre Grundlegung des Lamprechtschen Ansatzes noch gefördert wurde. Doch auch politische Facetten spielten hier eine Rolle. Denn die politische Geschichte, die mit Roger Chickering durchaus als „Normalwissenschaft“ im Sinne Thomas Kuhns gelten kann ...offered compelling assurances for a group of scholars who were anxious to legitimize the constitutional settlement of 1871 and to defend a social and confessional order beset by a variety of challenges. The paradigm [die politische Geschichte] enabled them as well to justify the leading role that members of the academy played in this order and to define the distinctiveness of the academic discipline that they themselves practiced. 58
Im beinahe die gesamten 1890er Jahre anhaltenden „Methodenstreit“ wurde Lamprecht dementsprechend hart angegriffen. Dabei traten Fragen der Methodik auf beiden Seiten über weite Strecken hinter ideologische Aspekte und Detailkritik an Irrtümern und Ungenauigkeiten zurück – Lamprecht wurden in erster Linie materialistische Sichtweise und unzureichende Quellenkritik bzw. zu wenig originale Forschungsarbeit vorgeworfen. Die beiden zuletzt angeführten Punkte weisen deutlich darauf hin, daß innerhalb der traditionellen Geschichtswissenschaft aufgrund deren Konzentration auf die schriftlichen Quellen philologische Standards ebensolche Geltung besaßen wie in der Germanistik. Zwischen Lamprechts Antwort auf immer stärker als unzureichend empfundene Aspekte der Geschichtswissenschaft in Deutschland und Nadlers Entwurf einer Literaturgeschichtsschreibung in Auseinandersetzung mit literaturhistorischen Problemfeldern sowie der jeweiligen Rezeption beider Werke lassen sich einige Parallelen ziehen. Auch dem Literaturhistoriker sollte zunächst Kritik an seinem Umgang mit Quellen und bezüglich mangelnder eigener Forschungsarbeit zuteil werden, die jedoch im Laufe der Zeit an Bedeutung verlor. Weiters wurde sowohl die Lamprechtsche Kulturgeschichtsschreibung als auch die Nadlersche „Literaturgeschichte“ anfangs vor allem von nicht zu den akademischen Vertretern der Disziplin Geschichte bzw. Germanistik gehörenden Rezipienten positiv aufgenommen – im Falle Lamprechts besonders seitens der Nationalökonomie –, wie auch beide ihren frühen Zuspruch vor allem aus den südlichen, katholischen Gebieten des deutschen Sprachraums erhielten (vgl. zur Rezeption Nadlers Abschnitt 5.2. und 7.1.). Nadler durfte allerdings anders als Lamprecht die Durchsetzung seines Ansatzes auch in der eigenen Disziplin erleben. Die oft als „Lamprecht-Streit“ bezeichneten innerdisziplinären Konflikte endeten mit der —————— 58
Chickering: Karl Lamprecht, S. 213.
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völligen Marginalisierung Lamprechts unter den deutschen Historikern und mit der Beibehaltung der bisherigen theoretischen Prämissen der politischen Geschichtsschreibung. Kulturgeschichtliche Fragestellungen wurden nur akzeptiert, solange das Primat der politischen Geschichte unangetastet blieb und ihrer Methodik Folge geleistet wurde. Eine umfassende Änderung dieser Verhältnisse fand erst nach dem ersten Weltkrieg und damit nach Lamprechts Tod statt. 3.2.2. Genealogie/Familiengeschichte Die Familiengeschichte, die Nadler in seiner „Wissenschaftslehre“ hervorhob, scheint in Woodruff D. Smiths Analyse nomothetischer Kulturwissenschaften nicht auf. Als Hilfswissenschaft der Geschichtsschreibung, wo sie vor allem zur Erstellung der Stammbäume oder Ahnentafeln von Herrschern und Adelsgeschlechtern diente, kann sie auch nicht dazu gezählt werden. Die Richtung der Familiengeschichtsschreibung, welche Sauer und Nadler als wichtige Grundlage für die Literaturgeschichtsschreibung erachteten, ist zumindest in einigen Aspekten dennoch in diese Kategorie einzuordnen. Beide beziehen sich nämlich auf die Genealogie nach dem Beispiel von Ottokar Lorenz.59 In Übereinstimmung mit diesem Wissenschafter ist bei Nadler die Familiengeschichte „...diejenige Wissenschaft, die den Einzelnen in seiner besonderen Stellung als Bewirktes zugleich und als Bewirkendes betrachtet, [...] die Wissenschaft vom körperlichen Sein und Werden, die Wissenschaft vom Quell des körperlichen und vielleicht auch seelischen Lebens.“60 Demnach wäre die Genealogie auch nach Lorenz’ Lehre insofern nicht in die Reihe der nomothetischen Kulturwissenschaften einzuordnen, da sie bei der Analyse stets bei Einzelpersonen bzw. den historischen Menschen und deren Eigenschaften ansetzt, und überdies ihr Gegenstand nicht Kultur, sondern die Weitergabe von körperlichen und geistigen Eigenschaften ist.61 Doch wie die Kulturwissenschaften zeichnet sich die Lorenzsche Familiengeschichte durch ihre Zwischenstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aus, indem sie als Hilfswissenschaft —————— 59 60 61
Ottokar Lorenz, 1832-1904 (Deutschböhme), nach Privatdozentur 1861 Ordinarius für österreichische und allgemeine Geschichte an der Universität Wien, 1865 an der Universität in Jena. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 47. „Die Genealogie ist [...] mithin die Wissenschaft von der Fortpflanzung des Geschlechtes in seinen individuellen Erscheinungen.“ Lorenz, Ottokar: Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie. Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung. Berlin: Hertz 1898, S. 6.
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gleichermaßen für „harte“ wie für „weiche“ Wissenschaften präsentiert wird: die Erkenntnisse der Genealogie könnten demnach Grundlagen für Geschichte, Gesellschafts- und Staatswissenschaft, Biologie, Anthropologie, Physiologie und Psychologie bereitstellen, deren Fachvertreter laut Lorenz imstande sein würden, daraus Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.62 Denn nur die Familiengeschichte hätte etwa die Möglichkeit, den formalen Generationenbegriff mit Inhalten zu füllen und die Bevölkerungsverhältnisse früherer Zeiten festzustellen. In letzter Konsequenz ist also auch die betreffende Richtung der Genealogie mit der Suche nach Gesetzmäßigkeiten anhand von individuellen Erscheinungen zu verbinden. Denn obwohl Lorenz betont, daß die Aufgabe seiner Wissenschaft die Erstellung von Stammbäumen und Ahnentafeln und nicht die Feststellung von Gesetzen sei, hindert ihn dies nicht daran, breite Perspektiven für die Verwertung dieser Ergebnisse zu eröffnen. Die Betonung des Einzelnen wird zurückgenommen, indem nicht das Individuum selbst, sondern die Zusammenhänge zwischen den Individuen als wichtigstes Moment erscheinen; Entwicklungen könnten folglich nur im kollektiven Sinn verstanden werden. Denn der Mensch sei in physischen, psychischen und gesellschaftlichen Eigenschaften Veränderungen unterworfen, deren Analyse sich mit anderen Wissenschaften schneidet, aber durchaus auch der Genealogie zuzuordnen seien. So heißt es beispielsweise: „In dem Fortschreiten und im Rückgang der Bevölkerungszahlen, in dem Auf- und Niedergang von Nationalitäten, in der Ausgleichung von Rassenunterschieden stecken wesentlich genealogische Probleme.“63 Möglicherweise könne die Genealogie in Zukunft sogar die Frage nach dem Ursprung der Völker beantworten. Besonders werden die Verbindungen der Genealogie mit der Geschichte herausgestellt, weil Erscheinungen des geschichtlichen Verlaufs in Staat, Gesellschaft und Kunst nach Lorenzschen Thesen nicht Wirkungen von Einzelpersonen, sondern Ergebnis der Tätigkeit mehrerer Generationen seien. Der klare Begriff des geschichtlichen Werdens ergibt sich aus dem, was durch die sich fortpflanzenden und erneuernden Geschlechtsreihen hervorgebracht worden ist, was von dem einen erworben und erlangt, von den andern übernommen und an’s Ende geführt worden ist. Keine geschichtliche Betrachtung kann von dem Zusammenwirken der in Familie, Stamm und Volk verbundenen und in gewissen genealogisch festzustellenden Verbindungen thätigen Persönlichkeiten absehen; alle Geschichte ist Familien-, Stamm- oder Volksgeschichte und kann als solche den Begriff der Generation nicht entbehren. 64
—————— 62 63 64
Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 10. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 23f. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 12.
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Doch darüber hinaus zieht der Genealoge Querverbindungen zu mehreren Wissenschaften. Berührungspunkte mit der Rechtswissenschaft ergäben sich beispielsweise hinsichtlich des Eigentums- und Erbschaftsrechts und auch in der Frage der Rechtmäßigkeit ständischer Gliederungen, die Lorenz selbst jedoch auf das Naturgesetz der Abstammung abstellt. Dieser Ansicht nach entscheidet nicht der soziale Stand der Eltern über den Stand ihrer Nachkommen, sondern determinieren die ererbten Eigenschaften einen Menschen zu seiner Position innerhalb der sozialen Hierarchie. Da jedoch bereits die Eltern ihren sozialen Stand aufgrund ihrer ererbten Eigenschaften einnähmen, die sie ihrerseits an die Nachkommen weitergeben, gehörten die Kinder dem Stand ihrer Eltern an, da sie wiederum Träger derselben Eigenschaften seien. Die Bevölkerungsstatistik bedürfe ebenfalls der Genealogie, um ihre Theorien zu bestätigen. Und auch die Brücke zwischen Geschichte und Naturwissenschaften werde durch die Familiengeschichte hergestellt, wenn diese auch selbst keine naturwissenschaftlichen Methoden verwende, denn die Geschichtswissenschaft habe auch den Handlungszwang des Menschen zu berücksichtigen. Zudem entstamme die Betrachtung der Menschheit unter einem Entwicklungsgedanken ohnehin der Historiographie, weshalb ein entwicklungsgeschichtlicher Ansatz keine naturwissenschaftliche Methodik in der Geschichtswissenschaft sei: die Naturwissenschaft hätte in diesem Punkt Anleihe an der Geschichtswissenschaft genommen.65 Ohne Genealogie könne die Biologie überdies die Vererbung von physischen und psychischen Eigenschaften lediglich an den lebenden Generationen – also maximal drei – verfolgen, erst durch die Zusammenarbeit werde das Forschungsobjekt erweitert. Nicht zuletzt sei ausschließlich die Familiengeschichte imstande, die Frage nach etwaigem Fortschritt der Menschheit, der sich nur über Veränderung der ererbten Eigenschaften manifestieren könne, zu klären. Lorenz selbst ist diesbezüglich allerdings ein Skeptiker und meint, nur die Kenntnisse der Menschheit würden wachsen, kaum aber die Qualität oder Quantität seiner Eigenschaften. Überdies seien viele geschichtliche Erscheinungen, wie etwa die „soziale Frage“ der Bauern und Arbeiter oder die Bestrebungen der Frauen nach Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, keineswegs neu, sondern sie kehrten mit einer Regelmäßigkeit wieder, die sie Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen zu verdanken hätten.66 Im weiteren Verlauf seines Lehrbuchs der Genealogie verdeutlicht Lorenz seine Theorien zur Entstehung von Familiencharakteren, Stäm—————— 65 66
Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 26f und S. 30. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 54-57.
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men und Nationen. So geht der Genealoge unter Ablehnung einer zeitgenössischen und der heute noch gängigen Vorstellung von Inzucht davon aus, daß der Mensch eine gesetzmäßige Neigung zur Befolgung des „Ebenbürtigkeitsprinzips“ in sich trage (wie es sich in Eheverboten ausdrücke), welche die größere Gleichartigkeit der einer Gruppe zugehörigen Individuen zum Ziel habe. Durch die bevorzugte Verbindung gleichartiger Menschen komme es zum Ahnenverlust durch Verwandtenehen,67 der die Gleichartigkeit innerhalb einer Gruppe erhalte und fördere. Aufgrund dieses Ebenbürtigkeitsprinzips sei es auch im Laufe der Geschichte zu viel geringerer Mischung zwischen Völkern, Stämmen und Ständen gekommen als gemeinhin angenommen. Im Gegenteil, solche Mischungen seien politisch und gesellschaftlich bedenklich: Völker- und Stammesmischung ist die Grundlage der großen Revolutionen auf gesellschaftlichen und staatlichen Gebieten. Man darf daraus den Schluß ziehen, daß es gewisse Grenzen gebe, wo Ahnenvermehrung schädlich und auflösend für Staat und Gesellschaft zu werden droht, Zunahme der Ahnenve r l u st e dagegen als ein rettendes Moment der Verbesserung der Staats- und Gesellschaftszustände erscheinen müßte.68
Die Kultur eines Volkes oder Stammes baue sich nämlich auf der Gleichartigkeit bzw. Ebenbürtigkeit der dem Volk oder dem Stamm zugehörigen Individuen auf, da die Vervollkommnung von Eigenschaften nur bei der Nachkommenschaft von zwei sehr ähnlichen Individuen möglich sei. 69 Ein wichtiges Problem bei Lorenz ist die Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften. Er stellt sich dabei auf den salomonischen Standpunkt, daß der Mensch nur Eigenschaften erwerben könne, für welche er die Anlagen ererbt habe und führt überdies den Willensaspekt ein: der Mensch müsse auch die Absicht haben, eine bestimmte Anlage nützen zu wollen.70 Die Anpassung einer Menschengruppe an einen neuen Lebensraum hingegen erfolge weniger durch veränderte Umwelteinflüsse (Klima etc.), deren Auswirkungen sich erst nach einem langen Zeitraum zeigen könn—————— 67
68 69
70
Bei Aufstellung der Ahnentafel hat ein Individuum etwa in der Ururgroßelterngeneration 16, in sechster zurückliegender Generation 64 Ahnen. Diese Zahl vermindert sich, wenn unter den Ahnen Verwandtenehen geschlossen wurden, was bei Lorenz als Ahnenverlust bezeichnet wird. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 331. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 467. Lorenz erweckt hier den Eindruck, als erhöhten nicht einfach gleiche Eigenschaften der Eltern die Wahrscheinlichkeit, daß die Nachkommen diese Eigenschaft – etwa künstlerische Begabung – ebenfalls hätten, sondern als ergäben möglichst gleiche Eigenschaften eine Potenzierung derselben in den Kindern. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 384. Den „Willenszwang“ des Menschen führt Lorenz auch ein, um das Forschungsobjekt Mensch in einen „naturwissenschaftlichen“ und einen „geschichtlichen“ Aspekt trennen zu können. Ebd. S. 28.
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ten, sondern durch Vermischungen mit Einheimischen.71 Doch die Genealogie müsse darauf verzichten, ererbte und erworbene Eigenschaften unterscheiden zu wollen. Im großen und ganzen konzentriert Lorenz sich, obwohl er immer von der Vererbung körperlicher und geistiger Merkmale spricht, auf die Weitergabe psychischer Eigenschaften, wie er auch dementsprechend den Naturwissenschaften die Untersuchung von Veränderungen der sichtbaren bzw. äußeren Merkmale in der Geschlechterabfolge zuordnet.72 Die Umrisse von Nadlers wissenschaftstheoretischer Positionierung sind somit abgesteckt. Es bleibt zu analysieren, ob die praktische Umsetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ab 1909 seiner Programmatik von 1914 entspricht bzw. wie im Laufe der praktischen Arbeit der theoretische Rahmen seine Form gewann.
—————— 71 72
Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 379. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 34 und 72.
4. Die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ 1909-1918 4.1. Vorgeschichte Die Darstellung von Nadlers wissenschaftstheoretischer Grundlegung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aus dem Jahr 1914 wurde der Analyse vorangestellt, da sie am besten die Positionierung, welche der Literaturhistoriker im Wissenschaftskontext seiner Zeit vornahm, dokumentiert. Seine „Wissenschaftslehre“ ist letztlich eine Programmschrift, wobei Nadler sich rühmen konnte, bereits erste Ergebnisse der praktischen Umsetzung des Konzepts vorgelegt zu haben. Der erste Band seines Hauptwerks, die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, erschien im Herbst 1911. Der Band wurde vom Verleger auf 1912 vordatiert und wird in der Folge mit der vom Verlag vergebenen Jahreszahl zitiert werden. Zu diesem Zeitpunkt war Nadler als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1884 mit siebenundzwanzig Jahren recht jung, um sich in einer Zeit der Neuverhandlung innerdisziplinärer Grundlagen mit einer Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte vorzuwagen. Josef Nadler hatte 1908 an der Deutschen Universität Prag unter der Betreuung von August Sauer mit der Arbeit „Eichendorffs Lyrik. Ihre Technik und ihre Geschichte“1 dissertiert. Nach Absolvierung seines Militärdienstes als Einjährig Freiwilliger in Innsbruck und Trient nahm er eine durch Wilhelm Kosch – ebenfalls Sauer-Schüler und zu dieser Zeit Professor für deutsche Literatur in Fribourg/Schweiz – vermittelte Stelle beim stark katholisch geprägten Verlag Josef Habbel in Regensburg an. Über seinen Aufgabenbereich teilte Nadler seinem Lehrer mit: Habbel plant eine größere Literaturgeschichte u. eine übersichtliche Sammlung der Literatur ungefähr in der Art Kürschners[.] Für dieses Unternehmen hätte ich zu arbeiten. Als Wohnsitz ist München in Aussicht genommen.2
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Erschienen als: Prager deutsche Studien Bd. 10, 1908. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 414/4-35, Trient, 14. 9. 1909. Der Vertrag mit Habbel wurde am 23. 9. 1909 abgeschlossen und enthält die Verpflichtung Nadlers, als literarischer Verlagsredakteur auf zwei Jahre bei einem Monatsgehalt von 200 Mark „...die ihm während dieser Zeit von der Verlagshandlung J. Habbel übertragenen literarischen Arbeiten auszu-
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Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften
Der Auftrag eines Verlegers an einen Germanisten zur Abfassung einer Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte scheint zu diesem Zeitpunkt nichts Ungewöhnliches gewesen zu sein. Wolfgang Adam berichtet beispielsweise, daß die Initiative zum Projekt einer mehrbändigen „Geschichte der Deutschen Literatur“ 1906 vom Heidelberger Verleger Otto Winter ausging und auch die „Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte“ ist der Anregung des Verlegers Otto Fromme in Wien geschuldet.3 Die Ursache dafür ist mit Sicherheit im Status solcher Gesamtdarstellungen zu suchen: während sie vom interessierten Laienpublikum gerne gekauft und gelesen wurden, gab es unter den Vertretern der Disziplin aufgrund der bereits dargestellten philologischen Arbeitsweise starke Vorbehalte gegen dieses Genre. So mußten die Verleger selbst Impulse zur Abfassung von Literaturgeschichten geben und in Habbels Fall eben einen entsprechenden Autor – bezeichnenderweise keinen Universitätsdozenten – einstellen. Zunächst erhielt Nadler jedoch vor allem Aufträge zur Erledigung von Werkausgaben, etwa zwei Bände „Romantische Novellen“. Unabhängig von seiner Tätigkeit für Habbel arbeitete er zudem an einer „Geschichte der romantischen Lyrik“ und für dieses Vorhaben orientierte er sich bereits an zwei seiner auch weiterhin wichtigsten wissenschaftlichen Vorbilder: Vor allem richte ich mich nach den Ideen von Lorenz die drei Generationen von Sturm und Drang, Romantik und jüngeres Deutschland historisch miteinander zu verknüpfen. Ich gehe von einer Dichtungsgattung aus, den Ergebnissen meiner Dissertation folgend. Dann spüre ich nach Lamprecht dem typischen historischen Geschehen nach...4
Der Plan zu diesem nicht realisierten Werk enthält trotz der angestrebten Gliederung der Romantik in „Kreise“ (Berliner, Frankfurter, Heidelberger etc.) noch keine Reflexion auf landschaftliche Gegebenheiten und übernimmt – ganz im Gegensatz zu Nadlers späterer Konzeption – noch die gängige Zuordnung von Dichtern zur Romantik, die etwa auch Clemens Brentano einschließen sollte. ——————
3
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führen, insbesondere eine deutsche Literaturgeschichte in zwei Halbbänden abzufassen und druckfertig zu stellen, mindest 6 Bände Literaturausgaben nach Angaben der Verlagshandlung druckfertig herauszugeben, und die Redaktion und Durchsicht der Unternehmungen des Verlages zu besorgen. / Die Urheberrechte an allen diesen Werken und Arbeiten geht in den Besitz der Verlagshandlung J. Habbel über.“ Herder-Institut Marburg, Sammlung 100 Nadler 3 (e). Vgl. Adam, Wolfgang: Literaturgeschichte als Gemeinschaftsprojekt. Neue Quellen zur Fachgeschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Euphorion 95 (2001), S. 358. Von diesem Werk, das für jeden Band des chronologisch aufgebauten Werks einen einzelnen Autor vorsah, erschien jedoch nur ein Band. Zu Fromme vgl. Renner: Die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, S. 860. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 414/4-42, München 19. 6. 1910; Hervorhebungen im Original.
Vorgeschichte
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Das Thema des Dichters in seiner Verbundenheit mit der Landschaft griff Nadler erstmals etwa zur gleichen Zeit im Rahmen seiner Arbeit für eine von Habbel gewünschte Broschüre über den Dichter Anton Schott auf: „Sie soll wissenschaftlichen Wert haben, da ich den Versuch machen will aus Ihrer Rektoratsrede praktische Konsequenzen ziehen, die Literatur einer Landschaft in ihren tieferen Charakterzügen zu erfassen u. an einem einzelnen Dichter darzustellen.“5 Auch das Manuskript dieser Broschüre, das sich schließlich zu einer Darstellung der Literatur des Böhmerwaldes auszuwachsen begann, wurde zwar auf Aufforderung Josef Habbels von Nadler an den Verlag weitergegeben, aber nie in der beabsichtigten Form gedruckt.6 Im Oktober 1910 konnte Nadler seinem Lehrer endlich mitteilen, daß Habbel nun die Literaturgeschichte haben wolle, für welche er bereits Vorarbeiten geleistet habe. Das betreffende Schreiben enthält die ersten genaueren Angaben zur geplanten Ausführung dieses Werks, das als „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ zunächst auf drei und schließlich auf vier Bände anwachsen sollte: Ich schreibe das Buch nach landschaftlichen Gesichtspunkten, u. stelle innerhalb der Landschaften auch Gattungen dar, dem Charakter jeden Stammes entsprechend. Die Landschaft wird aber nicht durchs ganze Werk fortgeführt, sondern in jeder Hauptperiode von neuem angeknüpft, der große Zusammenhang immer gewahrt. [...] Mein Anschluß ist Scherer, meine kulturhistorische Grundlage Lamprechts großes Geschichtswerk. Ich weiß, wie vorlaut es ist, mit 27 Jahren eine Literaturgeschichte zu schreiben, aber wenn die Allgewalt von Ideen Flügel sind, wo sonst nur lahme Füße aushelfen müßten, so vertraue ich dieser Idee, die ja die Ihre ist, ich vertraue ihr eben deshalb.7
Von diesem Zeitpunkt an gibt Nadler seinem verehrten Lehrer Sauer oft und ausführlich Nachricht vom Fortschritt seiner Arbeiten, laufend finden sich in seinen Briefen kommentierte Exposés zu Aufbau und Inhalt des Werks sowie Reflexionen über sein Konzept und seine Vorgehensweise. Diese werden laufend in die Analyse der ersten Auflage seines großen Hauptwerks einzuarbeiten sein, dessen Grundzüge vorab zu skizzieren sind.
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 414/4-43, München 19. 7. 1910. Laut Nadlers Angaben hatte er Habbel das Manuskript im September 1910 zugehen lassen. 1917 wurden Überlegungen angestellt, ob dieses zum Vorwort einer Werkausgabe des Böhmerwalder Dichters Josef Rank umgearbeitet werden solle. Aus dem Briefwechsel geht nicht hervor, ob dieses Vorhaben umgesetzt wurde; da es nicht mehr erwähnt wird, halte ich es für unwahrscheinlich. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-57, München 16. 5. 1911, 415/1-285 Aussig 20. 8. 1917. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-46, München 17. 10. 1910.
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Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften
4.2. Grundzüge und Erscheinungsverlauf 1911-1918 Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Analyse der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ ist es notwendig, einen Überblick über den inhaltlichen Aufbau des Werks zu geben. In diesem Rahmen soll in erster Linie Nadlers Standpunkt referiert werden, wobei auf die problematischen Aspekte seiner Konzepte, die bereits bei der unkommentierten Wiedergabe hervortreten werden, erst ab dem folgenden Abschnitt analysierend eingegangen wird. Aus welcher/n Quelle(n) der Literaturhistoriker das geschichtliche Grundgerüst von Daten oder Entwicklungen entnimmt, bleibt weithin unklar. Vermutlich ist ihr Großteil aus Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ übernommen, aber Nadler reflektiert auf seine historischen Grundlagen oder Geschichtsschreibung im allgemeinen nicht. Es entsteht der Eindruck, als würde er geschichtliches Material aus den unzähligen in seine Bibliographie aufgenommenen Bänden zu einem eigenen Bild zusammensetzen. In jenen den ersten Band der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ einleitenden „Worten der Rechtfertigung und des Danks“8 finden sich an erster Stelle der Name August Sauers und das Bekenntnis zu dessen Anregung, eine landschaftlich gegliederte Literaturgeschichte zu schreiben, die zwischen das Individuum und das Volk das Zwischenglied des Stammes einführe. Sofort im Anschluß daran rückt Nadler die Literaturgeschichte in die Nähe der jungen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Literatur und Kunst, als ein Überschuß wirtschaftlicher Kräfte, mitbewegt von den Erträgnissen materieller Arbeit, können nur dort erklärt und begriffen werden, wo der Mensch mit tausend Fasern an einem bestimmten Erdfleck festgewachsen ist, wieder nur aus der Gesamtheit aller Wirkungen, die zwischen Heimat und Abkunft spielen.9
Die Natur habe, so Nadler, indem Angehörige eines Stammes in verschiedene Landschaften „hineinwuchsen“ und Teile verschiedener Stämme sich in gleichgebaute Landschaften einlebten, gewissermaßen ein Experiment vorgenommen, das es dem Literaturhistoriker ermögliche, aus der Beobachtung von Ursachen und Wirkungen Gesetze und Typen der Literaturentwicklung abzuleiten. In Übereinstimmung damit solle nicht weniger philologische Forschung getrieben werden, doch müsse man sie zu angewandter Form bringen, zum Nutzen der Stammeskunde, Dialektforschung, Anthropologie und Literaturgeographie. Als einzige seiner Ar—————— 8 9
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. V-IX. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. VI. Die Wirtschaftsgeschichte spielt bei Nadler vor allem für das Mittelalter eine größere Rolle und wird für die spätere Zeit weniger berücksichtigt.
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beitsweise entsprechenden Vorarbeiten ließ Nadler lokale Zeitschriften und einige landschaftliche (regionale) Literaturgeschichten gelten. Damit betont er seinen Anspruch auf die Erneuerung der Literaturgeschichtsschreibung, was wohl nicht nur mit einem generellen Willen zur Überbietung bisheriger Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte zusammenhängt, sondern auch die Absetzung von den in weiten Kreisen der Germanistik als dilettantisch angesehenen populären Werken bedeutet. Die folgenden Abschnitte der „Literaturgeschichte“ schildern Nadlers Vorstellung vom Seßhaftwerden der Germanenstämme der Sachsen, Franken (mit Hessen und Thüringern), Alamannen und Baiern aus dem Zwang heraus, die Römer abzuwehren. Obwohl diese Abwehrkämpfe der entscheidende Beitrag zur Festigung und endgültigen Ansiedlung dieser als „Altstämme“ bezeichneten germanischen Stämme gewesen seien, hätten sich die Germanen später dort, wo es den Römern dennoch gelungen war, Provinzen einzurichten, als Erben und Nachfolger des römischen Imperiums gefühlt. Bei der Bezeichnung „Altstämme“, welcher ab dem zweiten Band die „Neustämme“ korrespondieren, handelt es sich wohl um eine Neuerung Nadlers. Zumindest konnte eine entsprechende Benennung in seinen Quellen nicht gefunden werden. Die zu germanischen bzw. deutschen Stämmen forschenden Germanisten erachteten zudem nur die anhand antiker Texte erfaßbaren Gruppen als ihr Untersuchungsgebiet – also die Nadlerschen „Altstämme“. In Übereinstimmung damit sind auch alle Konsequenzen, die der Literaturhistoriker aus seiner spezifischen Definition der Alt- und Neustämme für die deutsche Dichtung zieht, seine eigene Entwicklung.10 Unter der Herrschaft der Karlinge und Ottonen als Ausdruck des „gemeingermanischen Dranges“11 zur Nachfolge am römischen Imperium seien in der „deutschen Renaissance“ des 10. und 11. Jahrhunderts klassische Kunst und Literatur mit dem Christentum verbunden worden, und dies immer mehr in verschriftlichter Form. Eine neuerliche Blütezeit setzt Nadler zwischen 911 und 1024 an, nachdem das „deutsche Volk“ sich durch die gemeinsame Sprache thiodisk von den Romanen im bisherigen gemeinsamen großfränkischen Reich gelöst habe. Dadurch hätten auch die Stämme, deren Differenzierung sich im „deutschen Wiedererwachen“12 des 12. Jahrhunderts fortsetzte, wieder politische Gewalt erhalten. Es sei etwa die Trennung der österreichischen Landschaften von Altbai—————— 10 11 12
Wenn auch eine Sonderrolle des deutschen Ostens schon bei Lamprecht vorgezeichnet war. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 24. Trotz der Wortwahl gilt jener „gemeingermanische Drang“ bei Nadler zwar für Franken, Alamannen und Baiern, aber nicht für den Stamm der Sachsen. 3. Kapitel des 1. Buches. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 41-65.
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ern erfolgt, die Alamannen hätten sich in ihre Teilstämme Neckarschwaben, Elsässer und Schweizer entwickelt, während die Sachsen sich generell von der Gesamtbewegung der übrigen Stämme entfernten.13 Diese Periode war nach Ansicht des Literaturhistorikers gekennzeichnet durch die nunmehr vollständige Ergriffenheit des deutschen Volkes durch das Christentum, wobei in der Literatur die wachsende stammliche Differenzierung mitvollzogen worden sei. Nadler zieht hier eine Analogie zwischen der Umwandlung des Bodens vom Allgemeinbesitz zum Privatbesitz und seiner Beobachtung, daß literarische Stoffe von nun an kein Gemeingut mehr seien. Auch die Dichtung habe materiellen Wert erhalten und das Dichten sei so zum Beruf geworden. Die Darstellung der Blütezeit um 1200 wird durch „...grundlegenden Wandel aller sozialen und politischen Mächte...“14 gekennzeichnet, da nun der Großgrundbesitz über entscheidenden Einfluß verfügte und mit dem Bürgertum ein neuer sozialer Typus entstand. Unter der Herrschaft eines Landesherrn habe sich die Differenzierung der Stämme ungebremst fortgesetzt; der bindende Einfluß gemeinsamer Abstammung sei mehr und mehr durch den persönlichen Willen des herrschenden Dynasten zerrissen und ersetzt worden: indem das von einem Landesherren regierte Territorium nicht mehr nur von einem einzelnen Stamm besiedelte Gebiete umfaßte, so Nadler, verloren ethnographische Gegensätze verhältnismäßig an Bedeutung, während landschaftliche (wirtschaftliche, soziale, politische) sich aufbauten.15 In östlichen Kolonisationsgebieten hätten sich allerdings Siedler unterschiedlicher Stammesherkunft zu neuen ethnographischen Einheiten gemischt – unter Einführung neuer demokratischer Mächte, da ehemals Unfreie nun Grund und Boden erhielten. Die Literatur sei jedoch durch die gemeinsamen, nach französisch-romanischem Vorbild gestalte—————— 13
14 15
„Im 12 u. 13. Jahrh. wird aus dem bisherigen Stammesganzen, wo sich ethnographische, landschaftliche u. politische Einheit noch deckten, eine andere Welt. Einmal zerfallen ethnographische u. landschaftliche Einheiten unter der Blüte des Lehenswesens u. mit Beginn der Städteentwicklung u. der Fürsten in neue Einheiten. Auf dem Boden der alten Stämme entwickeln sich Sondereinheiten, ja diese schließen sogar Elemente verschiedener Stämme zusammen (das heutige Württemberg u. Baiern, das Franken u. Altbaiern umfaßt).“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 27. 11. 1910. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 69. Der entsprechende Grundlagenabschnitt umfaßt die Seiten 69-73. Vgl. in einem Schreiben an August Sauer: „Bis ins 11. Jahrhundert bilden die Stämme unter mannigfachem Wechsel die politischen und ethnologischen „Untereinheiten“ der Nation. Erst im 12. und 13. Jahrh. vollzieht sich unter Umstürzung aller bisherigen sozialen, staatsrechtlichen, kommerziellen ect. Verhältnisse die Differenzierung der alten Einheiten zu neuen, zu „landschaftlichen“, die zugleich auch politische werden. Aber auch hat das ‚Volk’, das eigentliche Objekt der Volksstämme so gut wie keinen Anteil an der Literatur. Bis 1150 sind es die Geistlichen, dann die Ritter, die eine einseitige Standesliteratur kultivieren.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-50, München 10. 12. 1910.
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ten rittertümlichen Ideale der höfischen Literatur zu vergleichsweise großer Einheitlichkeit und einer Gesamtblüte geführt worden. Auch die Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, die literarisch vor allem von Frauen beherrscht worden sei, führt Nadler gestützt auf seine Sekundärliteratur auf französische Einflüsse zurück. Sie habe ihren Weg rheinaufwärts genommen, um vor allem Ostfranken, Thüringen, die alamannischen Landschaften und das (vornehmlich fränkische) Erzgebirge zu umfassen.16 Die dem Adel entsprechende höfische Lyrik sei in Franken durch sozialen Wandel zu ihrem Ende geführt worden; die österreichischen Landschaften hätten sich im dramatischen (Volks)Spiel ausgelebt. Eine neuerliche, allerdings kurze Blütezeit der Literatur um 1500 wird den Alamannen und Franken zugeschrieben.17 Sie macht sich in Nadlers Konzept aber auch dort bemerkbar, wo fränkische Anteile in einen anderen Stamm verschmolzen worden seien, etwa im Falle der (Ost)Baiern; generell seien alle Führer der humanistischen und reformatorischen Strömungen Franken gewesen. Die Wendung zum Diesseitigen, ein neuer, offener Sinn für Antike und Individualismus prägten laut der „Literaturgeschichte“ diese Zeit, doch diese Bewegungen seien bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgrund sozialer und religiöser Unruhen sowie wegen intellektueller Streitigkeiten abgebrochen. Die ersten Abschnitte des 1913 erschienenen zweiten Bandes widmet Nadler den „Neustämmen“. So benennt er jene ethnographischen Einheiten, die in den östlichen Kolonisationsgebieten aus unterschiedlichsten Mischungen deutscher Stämme mit slavischen Völkern in den Landschaften Schlesien, Preußen/Mark Brandenburg, Meißen und Lausitz entstanden seien. Diese Kolonistenvölker hätten im Zuge ihrer Entwicklung zu einheitlichen Stämmen erkannt, daß sie die geistige Bahn der Altstämme durchlaufen müßten, um kulturell zu diesen aufschließen zu können. Ihre ersten literarischen Entwicklungen folgen in der „Literaturgeschichte“ dementsprechend der höfischen Zeit der Altstämme mit vorwiegend adeligen Dichtern und der Mystik, was gleichzeitig die Ausrichtung auf französische bzw. romanische Einflüsse bedeutet. Die Altstämme im Westen, in deren Reihen es durch nunmehrige Führerschaft der Alamannen zu einem Ausgleich der alamannisch-fränkischen Gegensätze gekommen sei, hätten indessen ihre Bemühungen um die Antike erneuert und seien demnach klassisch geworden, während der Osten in seinem Nachvollziehen der Geschichte der Altstämme eine romantische Entwicklung genommen habe.18 Die Sachsen als kaum von römischem Erbe berührter Stamm ord—————— 16 17 18
Kapitel 4 „Zwischen den Jahrhunderten“, Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 162-193. 3. Buch: „Fränkische und alamannische Stammesblüte“, Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 197-325. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 3-8.
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net Nadler unter ähnlicher Entwicklung wie die Neustämme wieder in die Gesamtbewegung ein, während er den lange Zeit kulturell führenden Niederfranken der Niederlande umgekehrt eine gegensätzliche Stellung zur deutschen Völkereinheit zuschreibt. Der ursprüngliche Plan einer zweibändigen Literaturgeschichte – Nadler hatte Anfang 1911 noch beabsichtigt, Band eins mit Lessing abzuschließen19 – war inzwischen beträchtlich ausgeweitet worden. Noch im Mai desselben Jahres beschloß Nadler, den ersten Band bereits mit etwa 1600 enden zu lassen, während er Habbel dazu zu bewegen suchte, den Vertrag auf einen dritten Band für die Zeit ab 1835 zu erweitern.20 Darauf erhielt er zunächst nur stillschweigendes Einverständnis seitens seines Verlegers, scheint aber diesbezüglich kein Problem gehabt zu haben – auch nicht mit seinem Vorhaben, für diesen dritten Band kein Redakteurs, sondern ein Buchhonorar zu erhalten.21 Große Teile des Manuskripts für Band 2 lagen indessen schon im Dezember 1911 abgeschlossen vor, der Druck verzögerte sich allerdings um etwa ein Jahr wegen der seit Anfang 1912 bestehenden Lehrverpflichtungen Nadlers an der Universität Fribourg. Ungefähr zur selben Zeit äußerte Nadler den Plan, den dritten Band bis zum Einsetzen des Naturalismus reichen zu lassen.22 Doch schon das Vorhaben, den zweiten Band mit Schillers Tod zu beenden, konnte Nadler aufgrund des zu stark anwachsenden stofflichen Umfangs nicht verwirklichen. Anfang Mai 1913 versandte Nadler schließlich die ersten Freiexemplare von Band 2 der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ und nahm die Arbeit an Band 3 auf, der nunmehr bis 1870 reichen sollte. Band 3 des groß angelegten Werks erschien trotz mehrerer bereits 1914 fertiggestellter Teile23 wegen Nadlers Armeedienst im Ersten Weltkrieg erst 1918, wobei das Manuskript noch vor Friedensschluß vollendet worden war.24 Im Vorwort äußerte Nadler den Wunsch, in einer Neuauf—————— 19 20 21 22 23
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 7. 1. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-58, München 29. 5. 1911 und ebd. 414/4-62, München 19. 7. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-92, München 10. 12. 1911 und ebd. 414/4-101, Freiburg 22. 1. 1912. Bisher waren seine Leistungen für die „Literaturgeschichte“ in seinem allgemeinen Gehalt inkludiert gewesen. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-123, München 29. 8. 1912. Im November 1913 bezeichnete Nadler die Kapitel „Grundlagen“, „Wien“, „München“, „Die bairischen Landschaften“ und „Thüringen“ als druckreif. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-164, Freiburg 14. 11. 1913. Weiters waren die Kapitel „Brandenburg“, „Weimar, Halle und Jena“ Mitte 1914 an den Verlag abgeliefert worden. Ebd. 415/1-197, Freiburg 11. 6. 1914. Nadler war im Juli 1914 zum Kriegsdienst einberufen worden und zunächst für die Ausbildung von Rekruten zuständig. Aus gesundheitlichen Gründen wurde ihm im Oktober 1915 die militärische Leitung einer Fabrik in Pürstein bei Karlsbad übertragen, wo er die Arbeit
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lage den Stoff der nun vorliegenden drei Bände neu einteilen zu können. Dies wird verständlich, wenn man die Modifikationen von Nadlers Konzept zu Klassik und Romantik verfolgt. Jene beiden Epochen werden nun in aller Deutlichkeit Alt- bzw. Neustämmen zugeordnet, doch wird als Neuerung ein germanisch-weströmisch geprägter Westen als Gegenpol zu einem slavisch-griechisch/oströmisch geformten Osten eingeführt, die in letzter Konsequenz als Gegensatz zwischen Morgenland und Abendland gefaßt werden.25 Da es allerdings nur den Germanen gelungen sei, die Rechtsnachfolge des weströmischen Imperiums anzutreten, nicht aber den Slaven für Ostrom, sei es nur bei den deutschen Altstämmen zu klassischen Renaissancebewegungen gekommen, die in der Klassik um 1800 gipfelten. Eine Ausnahme bilden in der „Literaturgeschichte“ hierbei die Sachsen, die römischem Einfluß kaum ausgesetzt gewesen seien und sich in ihrer Entwicklung den Neustämmen angeschlossen hätten. Durch das „deutsche Siedelwerk im Osten“ habe schließlich auch dort das weströmisch geprägte Kulturerbe gesiegt, womit die Neustämme die Entwicklung der Altstämme ab deren Blütezeit um 1200 als gleichmäßigste Verbindung des Nationalen, Antiken und Christlichen nachzuvollziehen begonnen hätten. Den Höhepunkt dieser Vorgänge setzt Nadler mit der Romantik um 1800 an, zeitgleich mit einer neuerlichen Hochblüte der Altstämme: Klassik und Romantik stehen gleichartig und inhaltsverschieden nebeneinander als die Neugeburt der Antike für die Altstämme und als Neugeburt der Kultur der Altstämme für die Neustämme.26
1800 ist aber bei Nadler auch noch die Zeit des Höhepunkts einer dritten Kultur im deutschen Sprachraum, diesmal nur durch einen einzigen Stamm vertreten: die Baiern. Aufgrund der geographischen Lage an der Donau und der wechselhaften Geschichte ihres Stammesgebiets fänden sich hier sowohl weströmische als auch oströmisch-griechische Einflüsse, was diesen Stamm für die Vermittlerrolle zwischen Morgen- und Abend——————
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an Band drei wieder aufnahm. Im November 1916 wechselte er als Lehrer an die KadettenOberschule in Fischau (Niederösterreich), von wo er August Sauer im Mai 1917 mitteilen konnte, daß der 3. Band in kürzerer Fassung als geplant, aber zur Gänze in der Druckerei bei Habbel sei, nachdem man sich darauf geeinigt hatte, die „Literaturgeschichte“ auf vier Bände zu erweitern. Im September 1917 – kurz bevor er mit seiner ursprünglichen Kompagnie hätte ins Feld ziehen müssen – wurde Nadler aufgrund eines Gesuchs vom Militärdienst enthoben, um seine Lehrverpflichtungen in Fribourg wieder aufnehmen zu können. Vgl. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer der Jahre 1914-1917. Vgl. Grundlagenabschnitt zu Buch 6: Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 3-12. Die von ihm verwendete Schreibweise „slavisch“ wird hier und im folgenden beibehalten, um zu betonen, daß es sich bei den Konzepten zu den betreffenden Völkern/Stämmen um Konstrukte Nadlers handelt. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 9.
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land, aber auch für eine eigenständige geistig-literarische Entwicklung prädestiniert habe. Der Band schließt mit einem Ausblick auf die Zeit der gemeinsamen Arbeit der Stämme für die deutsche Nation, nachdem die Romantik das „ostdeutsche Siedelwerk“ kulturell und literarisch abgeschlossen und die westdeutsche Restauration die geistige Erneuerung des Mutterlandes eingeleitet habe.
4.3. Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung Mit der vorangegangenen Skizzierung der inhaltlichen Umrisse der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ sind nun die Grundsteine für die systematische Analyse der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1909 und 1918 gelegt. Sie setzt bei der Klärung von Nadlers Konzepten zu Stamm und Landschaft an, um anschließend zum inneren Aufbau des Werks und dessen wissenschaftliche und politische Implikationen vorzuschreiten. 4.3.1. Stamm und Landschaft Das Verhältnis jener zentralen, schon durch den Titel des Werks herausgestellten Bezugspunkte Stamm und Landschaft zueinander ist zunächst unklar, es wird auch in der „Literaturgeschichte“ an keiner Stelle explizit thematisiert. Doch allein der Blick in die Inhaltsverzeichnisse der Bände läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese beiden Elemente die Stützpfeiler von Nadlers Konzeption bilden. Die literaturhistorische Darstellung einzelner Stämme bzw. Teilstämme und Landschaften folgt allerdings innerhalb der einzelnen Bände bzw. Bücher der „Literaturgeschichte“ keiner starren Ordnung, wie Nadler August Sauer bereits zur Beginn seiner Arbeit ankündigte: „Die Reihenfolge der Landschaften ändert sich stetig; ich bilde Gruppen aus ihnen, wie sie zusammengehören.“27 Manchmal tragen Kapitel oder Abschnitte die Bezeichnung von Stämmen, manchmal von Landschaften. Ab Band 2 fungieren immer stärker einzelne Städte als Repräsentanten ihrer Landschaft, manchmal flankiert von der —————— 27
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 27. 11. 1910. Dazu gehört auch, wie Nadler, ebd. in 414/4-52 München 7. 1. 1911, betont, daß man den landschaftlichen Betrachtungen nicht die gegenwärtigen, sondern historische politische Grenzen zugrundelegen müsse.
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Darstellung der unterschiedlichen Entwicklung des ihnen zugehörigen ländlichen Gebiets. Doch während die Gliederung somit ebensogut geographischen wie territorialen Kriterien folgen kann,28 ist die Darstellung generell von ethnographischen, also stammlichen Gesichtspunkten bestimmt: Das landschaftliche (besser stammesgeschichtliche) Moment ist in jeder Beziehung dem nationalen Gesichtspunkt an die Seite zu stellen, unter dem wir die Weltliteratur betrachten. [...] Aber wie wir es eben vorziehen eine bestimmte ethnographische Einheit, differenziert durch politische und landschaftliche Momente, als die eigentliche Trägerin der Literatur zu betrachten, u. dem großen allgemein menschlichen Zusammenhang durch „vergleichende Lit[eratur]-Gesch. [ichte]“ Rechnung zu tragen, so mit unserer Nationalliteratur. Was dort die Völker sind, das sind hier die Stämme. Die Landschaft an sich u. von Kraus u. Hegel treffen eigentlich nicht auf den Kern. Träger gewisser lit.[erarischer] Einheiten ist der Stamm, die natio die aus gemeinsamer Quelle durch Fortpflanzung entstandene ethnographische Einheit. Daß ihr fremde ethnische Elemente oft bis zu 50 % u. mehr beigemischt sind, verschlägt nichts. Die ethnographische Einheit läßt sich etwa vergleichen der chemischen Verbindung. Die Elemente werden aufgelöst u. bilden ein neues Ganzes. Anders die politische u. zum Teil landschaftliche Einheit [...]. Das sind unorganische, „mechanische“ Verbindungen...29
Daraus folgt, daß in Nadlers Konzept unterschiedliche Einflußebenen auf die Literaturgeschichte existieren, die jedoch nicht gleich stark gewichtet werden. Die größte Bedeutung wird der Ethnographie zugeschrieben, das heißt in letzter Konsequenz der stammlichen Herkunft eines Dichters.30 Dementsprechend ist das Vorhandensein einer ethnographischen Einheit Voraussetzung für die Entstehung landschaftlicher Einheiten, wie aus einem Brief an Sauer hervorgeht: ...der ethnologische Aufbau [der deutschen Stämme] dehnt sich bis ins 13. Jahrh. u. darüber aus: Kolonisierung u. Germanisierung der Ostfranken, Schlesiens, der Landschaften jenseits der Elbe. Und dann dauert es noch bis die Bestandteile all der Stämme, die diese Bewegung durchführten, zusammenwachsen, eine landschaftliche „volkskundliche“ Einheit werden. Solange diese verschiedenen Stammestrümmer in jeder Landschaft nur beisammenwohnen, aber durch Heimat noch nicht ein neues Ganzes geworden sind, können sie in dieser Landschaft auch nicht eigene neue, durch die neue Heimat u. ihre Verhältnisse beeinflußten Sitten, Gebräuche ect. entwickeln. [...] Das sind die Gründe, warum ich mich in
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Das zweite Buch ordnete Nadler etwa nach den deutschen Hauptströmen, ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-51, München 17. 12. 1910. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-49, [o.O.] 30. 11. 1910. Nadler dazu noch 1910: „Für das 19. Jahrh. bereits od. bereits früher würde zu erwägen sein, ob dieser [ein einzelner, kein bestimmter] Dichter in seiner Geburtsheimat oder Arbeitsheimat zu lokalisieren ist.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 17. 10. 1910. Doch diese Überlegung gewinnt in der „Literaturgeschichte“ kein Gewicht, da letztendlich weder die eine noch die andere „Heimat“ entscheidet, sondern die Abstammung.
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diesen ersten Zeiten mehr an das Ethnographische halte, wie Sie aus meinen Andeutungen so überraschend fein herausempfunden haben. Aber etwa vom Ende des 15. Jahrh. an, so die Struktur Nation endlich ziemlich einheitlich ist, wird auch die landschaftliche, „volkskundliche“ Einheit beherrschend.31
An diesem Zitat wird deutlich, daß bei Nadler der Begriff „Landschaft“ nicht unbedingt eine geographische Einheit (etwa im Sinne der Landschaftskunde als durch Geofaktoren und Topographie bestimmte einheitliche Region) bezeichnet, sondern vor allem eine kulturell verstandene Einheit meint, deren Grenzen durch volkskundliche Forschungen festzulegen sind. Das Volkstum ist zwar von der geographisch gefaßten Landschaft, also Umweltfaktoren keineswegs unabhängig, sondern wird von jenen entscheidend geprägt (vgl. Abschnitt 4.3.4.), doch kann es auch von anderen Faktoren, wie politischen Grenzen, beeinflußt werden. Das Primat liegt jedenfalls beim Stamm. Die Landschaften als „natürliche Teileinheiten der Erde“, also im geographischen Sinne, erhalten ihre Wirksamkeit dementsprechend nicht während der genealogisch bestimmten Bildung eines Stammes, sondern durch ihren differenzierenden Einfluß auf eine bereits bestehende ethnographische Einheit, wie noch deutlich werden wird. „Volkstum“ und „Stammestum“ sind somit nicht deckungsgleich, weil das Volkstum nicht kultureller Ausdruck eines gesamten Stammes sein muß, sondern in den meisten Fällen den landschaftlich differenzierten kulturellen Ausdruck eines Stammesteils darstellt.32 An dieser Stelle findet sich wohl die entscheidendste Abweichung Nadlers von seinem Lehrer August Sauer, da letzterer eine Gliederung der Literaturgeschichte nach dem Volkstum und nicht hauptsächlich nach der Ethnographie entworfen hatte, wie vor allem die Reaktion seines Schülers im oben zitierten Brief zeigt. Denn Nadler hält an den ethnographischen Kriterien, anders als seinem Lehrer angekündigt, auch nach der Herausbildung landschaftlicher Einheiten vom Ende des 15. Jahrhunderts ab fest, während für Sauer die volkskundliche Forschung das Primat hatte – erst von ihr aus solle auf die Charakterologie der Stämme geschlossen werden.33 —————— 31 32
33
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-50, München 10. 12. 1910. August Sauer scheint nach Nadlers Brief zu schließen der Ansicht gewesen zu sein, daß Nadler das ethnographische Element vor dem landschaftlich-volkskundlichen zu stark betone. Aus diesem Konstrukt ergibt sich auch der „Wechsel zwischen Regionalkategorie und Stammeskategorie“, den Wolfgang Neuber Nadler zum Vorwurf macht. Den von ihm geforderten Nachweis, daß „ ,Stamm’ und ,Landschaft’ in historischer Hinsicht über längere Zeit in Deckung zu bringen sind“ hat Nadler gar nicht angestrebt, da er das Volkstum zwischenschaltet, das auch auf historische Ereignisse wie Herrschaftswechsel reagiert. Vgl. Neuber: Nationalismus als Raumkonzept, S. 177f. Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 17.
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Der Eindruck, Nadler kopple den Stamm und nicht in erster Linie das Volkstum an die geographische Landschaft, entsteht nicht nur aufgrund seiner Betonung des Einflusses der Erde auf den Aufbau des Menschen in der „Wissenschaftslehre“ 1914, sondern auch bei der Lektüre der ersten Abschnitte der „Literaturgeschichte“. Da die Altstämme noch relativ kleine Verbände mit entsprechend beschränkten Siedelräumen darstellen, sind der kulturelle Ausdruck des Stammestums und das Volkstum zu Anfang durchaus noch als deckungsgleich zu fassen – wie auch aus oben zitierter Erklärung zur späten Berücksichtigung der Volkstümer hervorgeht. Doch spätestens im „deutschen Wiedererwachen“ differenzieren sich in der „Literaturgeschichte“ die Stämme durch die Ausweitung ihrer Siedelgebiete in neue landschaftliche Verhältnisse in unterschiedliche Volkstümer aus. Allerdings basieren die Volkstümer im Nadlerschen Konzept immer auch auf dem Stammescharakter ihrer Vertreter, der Einfluß der geographischen Landschaft wird jeweils durch den vorgeordneten Stammescharakter modifiziert. Nadlers stärkere Konzentration auf die Ethnographie anstelle der Volkskunde hat weitreichende Folgen. Der Großteil dieser Konsequenzen resultiert aus der spezifischen Lehre, auf welche der Literaturhistoriker seine Vorstellungen vom Stamm als ethnographische Einheit gründet. 4.3.2. Der Stamm als genealogische Einheit Die Wissenschaft der Genealogie, wie Ottokar Lorenz sie in seinem Lehrbuch beschrieben hatte, bot Nadler zahlreiche Ausgangspunkte und oft baute er mit der größten Überzeugung seine Ansichten direkt auf Lorenz’ Lehrmeinungen auf. Daß der Literaturhistoriker etwa seine Vorstellungen von der Entstehung eines Stammes allein von Lorenz übernimmt, betont er öfters in seinen Schreiben an August Sauer, beispielsweise in einer seiner zahlreichen Beschwerden über seine Rezensenten: Ist es nur einem dieser Kritiker eingefallen sich ein wenig [...] bei Lorenz (Lehrbuch der Genealogie) ect. umzusehen. Sie haben gar keine Vorstellung, wie durch Ahnenverlust ect. geschlossene Stämme entstehen.34
Nadler schöpft also seine Ansichten zur Genese eines Stammes mit eigenem Stammescharakter aus Lorenz’ entsprechender Theorie, die letztlich auf dem Gedanken einer positiv zu wertenden Inzucht aufbaut: der Charakter von Stämmen entstünde somit aus jener von Lorenz postulierten gesetzmäßigen Neigung der Menschen zum Ebenbürtigkeitsprinzip. —————— 34
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-141, München 2. 4. 1913.
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Die nach diesen Ansichten durch Kreuzung möglichst ähnlicher Individuen entstandene und mittels selbiger aufrechtzuerhaltende Gleichartigkeit einer Menschengruppe – bei Nadler eines Stammes – gewinnt vor allem in psychischer Hinsicht Bedeutung, da der Literaturhistoriker in Übereinstimmung mit Lorenz physische Merkmale kaum in seine Ausführungen einbezieht. Zudem vertrat Nadler die Überzeugung, jene an Gesetzmäßigkeit grenzende Gleichartigkeit bestimme auch das Verhalten der Angehörigen dieser Menschengruppe: Ein Mensch, der „Charakter“ hat, verhält sich gleichen Bedingungen gegenüber immer gleich, so stark, daß man voraussagen kann, in solcher Lage wird er sich so verhalten. Für Völker u. Stämme bestreitet die ältere historische Richtung, mit der Lamprecht so zu kämpfen hatte, die Geltung analoger Gesetze. Aber es ist kein Zweifel, daß Stämme und Völker, die „Charakter“ haben, d. h. reinrassig sind (cum grano salis, denn ungemischte Völker gibt es nicht) sich analogen Bedingungen analog verhalten, daraus fließen Gesetze, wie etwa, daß Bewegungen an der Peripherie entstehen ect. Träger dieses Verhaltens ist das Ethnographische u. das geht alle Disziplinen an, die sich mit dem Geistesleben befassen und bildet auch für uns die Grundlagen. 35
Die Bindung eines Stammes- oder Volkscharakters an mehr oder weniger „reinrassige“ (im Sinne von: aus einander ebenbürtigen, ähnlichen Individuen zusammengesetzte) Menschengruppen wird von Ottokar Lorenz in dieser Weise nicht explizit vorgenommen. Nadler lehnt sich hier wohl auch an die Ethnographie nach dem Bespiel Bremers an und koppelt dessen Ansichten zum Vorhandensein eines Volkscharakters an Lorenz’ Vorstellung von der Entstehung einer einheitlichen Menschengruppe durch die Kreuzung von Gleichartigen. Da allerdings auch Lorenz Kultur an jene nach dem Ebenbürtigkeitsprinzip entstandenen Menschengruppen bindet,36 ist er von Nadlers Konzept einer Stammeskultur, die sich auf den Stammescharakter gründet, nicht weit entfernt. In der „Literaturgeschichte“ gilt also: je ungemischter eine Menschengruppe, desto deutlicher tritt ihre Eigenart hervor und desto vorhersagbarer sind ihre Taten und kulturellen Erzeugnisse. Die weitgehende Ablehnung eines Fortschrittsgedankens durch Lorenz übernimmt Nadler insofern, als er zwar die Entwicklung der Literatur verfolgt, aber keine Möglichkeit einer Wandlung der psychischen Merkmale eines Stammes, also des Stammescharakters, in seinem Konzept
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-51, München 17. 12. 1910. Vgl. dazu die Vergleiche von Völkern mit Einzelpersonen im Lauftext, z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 74 und 99. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 334.
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vorsieht.37 Dadurch sind Dichter, die bzw. deren Vorfahren aus derselben Landschaft abstammen, automatisch miteinander „verwandt“, auch wenn keine direkte Verbindung zwischen ihren Familien nachzuweisen ist und unabhängig davon, ob es sich um Zeitgenossen handelt oder nicht.38 Das Postulat, daß ungemischte Menschengruppen stabiler seien, gewinnt seine Bedeutung jedoch vor allem im gegenteiligen Fall, nämlich dort, wo Mischungen als Element der Instabilität auftreten – im kolonisierten Neuland. In diesem Zusammenhang entsteht etwa das Konstrukt, daß das „junge Königsberg“ „...kein Stammestum im Sinne längerer Inzucht auf Grund annähernd gleicher Elemente...“39 habe gewinnen können, was traditionsloses Denken und Schaffen in dieser Stadt zur Folge gehabt habe. Außerdem lag laut Nadler die Ursache für das „überspannte Seelenleben“ der Romantiker „...im Blute dieses vielgemischten, widerspruchsvollen und gegensätzlich gemischten Volkes“ und seiner somit „künstlichen Rasse“.40 An dieser Stelle findet sich Nadlers Ansatzpunkt für die Geschichte der Neustämme und ihrem Weg in die Romantik, der in genealogischer Hinsicht als Weg der „Eindeutschung“ gezeichnet wird (vgl. Abschnitt 4.3.3.). Weitgehend konform mit Lorenz geht Nadler auch in der Frage der Bedeutung der Generationen für Blüte und Niedergang, die in der „Literaturgeschichte“ verfolgt werden. Denn der Genealoge vertritt die Ansicht, daß einerseits die Zeugungskraft der Männer der namengebenden Linie einer Familie nach einer Verstärkung, die sich in deutlicher Ausprägung eines Familiencharakter auswirke, nach einiger Zeit abnähme und daß andererseits höhere geistige Tätigkeit geringere Fortpflanzungsfähigkeit mit sich bringe.41 Dieser Mechanismus erklärt in den Augen Lorenz’ nicht nur den Niedergang einzelner ehemals bedeutender Familien, sondern auch den historischen Verfall von Völkern und Staaten. Da Nadler den Begriff der Generation durchgehend verwendet, darf angenommen wer—————— 37 38
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Die einzige Möglichkeit für einen solchen Wandel wäre die Einmischung neuer Merkmale durch Kreuzungen mit unähnlichen Individuen; wenn diese überhand nimmt, entsteht in Nadlers Ansatz jedoch ein neuer Stammescharakter und keine Modifikation des bisherigen. So bilden etwa Jakob Böhme (1575-1624), Johann Georg Hamann (1730-1788) und Johann Gottfried Herder (1744-1803) eine Entwicklungsreihe, „...die durch landschaftliche Verwandtschaft, stoffliche Überlieferungen, ähnliche Denkformen vermittelt wird.“, Böhme und Hamann seien überdies „Stammesbrüder“. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 384. Wolfgang Müller-Funk bezeichnet dieses Verhältnis als „Raumgenossenschaft“. Vgl. Müller-Funk: Josef Nadler – Kulturwissenschaft in nationalsozialistischen Zeiten?, S. 101. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 271. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 180. Auch abseits des Ostens wirken sich Blutmischungen in Nadlers Konzept in dieser Art aus, z. B. wird Clemens Brentanos „Zerrissenheit“ der Mischung von französischem und italienischem Blut zugeschrieben, ebd. S. 268. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 410 und 478.
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den, daß auch er die unterschiedlichen Blütezeiten der deutschen Stämme, sowie den Beginn und Ausklang von literarischen Bewegungen in Übereinstimmung mit Lorenz an die Generationenfolge bindet. Faßbar wird diese Anlehnung an den Genealogen in den Ausführungen zur als stark ausgeprägt und einheitlich dargestellten Kultur der Stadt Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Es ist der Prozeß einer Volksseele durch drei Generationen: Die Großväter schaffen klug, nüchtern, in weiser Beschränkung geistigen Wohlstand und geistige Erbgüter; die Söhne haben Begabung noch und Frische, steigen nirgends über das Maß ihrer Väter, sinken aber auch unter den Spiegel nicht und haben vieles vor den Alten voraus, die Übung, die Tradition [...]; der Enkel sind zweierlei Typen, der eine ist bloß noch Handwerker, der Geist ist verflogen, er hat nur noch Tradition und Übung, er ist unter das Maß des Großvaters gesunken, er ist Erbe im Sinne der Alltäglichkeit, im anderen Enkel hat sich Begabung und Übung der vorausgehenden Generation zum höchsten gespannt, er steigt über das Maß des Großvaters und geht an der Überernährung des Überlieferten zugrunde wie sein Bruder an Unterernährung.42
Ein weiteres Mal tritt hier die Betonung der psychischen vor der physischen Seite hervor und die Nähe Nadlers zu Ottokar Lorenz auch hinsichtlich dessen Vorstellungen zu Generationenfolgen, Aufstieg und Niedergang wird an diesem einzelnen Zitat deutlich genug. Ein besonderer Vorteil der Lorenzschen Lehre der Genealogie liegt für Nadler darin, daß sie ihm nicht nur die Theorie zur Entstehung eines Stammes oder Volkes bereitstellt, sondern auch Ansätze für die Einordnung des Individuums in seine Abstammungsverhältnisse bietet. Das zentrale Vorhaben des Literaturhistorikers, den Dichter nicht nach seiner Geburtslandschaft, sondern nach der Abstammung seiner Ahnen einzuordnen – „Der Standort der Wiege allein macht es nicht aus.“43 –, kann allerdings aus Gründen der Quellenlage erst für jüngere Zeitalter annähernd Nadlers Anspruch gemäß erfüllt werden. Im ersten Band seiner „Literaturgeschichte“ wird diesem Thema deshalb verständlicherweise weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet als in späteren, wobei sich an diesem Punkt Nadlers Ambition, unbedeutende Dichter in gleicher Weise wie ihre kanonisierten Kollegen zu behandeln, kaum durchhalten läßt. Denn (kaum verwunderlich) stehen dem Literaturhistoriker genealogische Vorarbeiten vor allem für „große“ Dichter zur Verfügung, auf welche sich ausführliche Reflexionen über Abstammungsverhältnisse notwendigerweise beschränken müssen. —————— 42 43
Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 243. Das Konzept eines drei Generationen umfassenden Ablaufs verfolgt Nadler öfters, etwa im Kapitel „Franken und Frankenbürtige“, Literaturgeschichte 1912, S. 197-245, siehe bes. Einleitung S. 197. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 228.
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Eine volle Ausarbeitung der genealogischen Verhältnisse einer Landschaft, wie Nadler sie wohl für die gesamte „Literaturgeschichte“ gewünscht hätte, war ihm allerdings für einen einzelnen Abschnitt über die Schweiz – seinem damaligen Arbeitsort – möglich.44 Anhand dieser Ausführungen lassen sich Nadlers Theorien zu genealogischen Einflüssen auf die Dichtung genauer nachvollziehen. Zunächst erfolgt ein weiterer direkter Bezug auf den Ahnenverlust, der vor allem in Bern aufgrund der scharf voneinander abgegrenzten Stände und der Bindung aller Rechte an Geburt und Heirat ausgesprochen groß gewesen sei. Damit seien jedoch immer die gleichen Eigenschaften vererbt und keine neuen zugeführt worden, was zwar als Voraussetzung zur Ausbildung einer charakteristischen Kultur eingeführt worden ist, aber auch negative Auswirkungen haben kann: „Es läßt sich leicht denken, wie wenig literarische Ergebnisse aus diesem Milieu zu erwarten waren, falls unter den Ahnen dieser Generationen keine literarische, keine künstlerische Begabung von Anfang an vorhanden war, denn neues Künstlerblut konnte dieser mächtigen Gesellschaft ja von außen nicht zugeführt werden.“45 Anders in Zürich, wo die Stände weniger scharf voneinander abgegrenzt gewesen seien und mehrere künstlerisch begabte Familien ihre Eigenschaften sozusagen durch die ganze Stadt verstreuen konnten. Aus dieser Konstellation ergibt sich für Nadler letztlich – da Blutaustausch nur dann wirklich fruchtbar sei, wenn er zwischen zwei begabten Familien stattfinde46 – eine gleichmäßige Begabung der Zürcher Familien. Denn so hatte jeder besser situierte Stadtbürger Künstler und Gelehrte unter seinen Ahnen, meist eine Frau aus der Familie Hirzel.47 Die Sippe der Hirzel habe, so Nadler, einen scharfen Familiencharakter ausgeprägt, über 15 Generationen hinweg erhalten und ihre Eigenschaften durch ihre Töchter in praktisch alle bedeutenden Zürcher Familien getragen. Mit dieser Darstellung scheint Nadler schließlich etwas von Lorenz abzuweichen, nämlich was dessen Vorstellungen vom Charakter einer einzelnen Familie betrifft. Obwohl Lorenz mehrfach betont, daß der Genealoge bei der Erstellung einer Ahnentafel nicht nur die männliche Abstammungslinie verfolgen dürfe, sondern die Herkunft mütterlicherseits ebenso wichtig sei, ist bei ihm dennoch für die Ausbildung eines Familiencharakters die väterliche Linie ausschlaggebend. Mütter könnten allenfalls einen zweiten Familientypus, eine „Nebenform“, einbringen oder durch Atavismen ein—————— 44 45 46 47
Kapitel „Die Schweiz“, Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 211-256. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 218. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 231. Zur Familie Hirzel vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 244-246.
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zelner ihrer Nachkommen größere Geltung erlangen.48 Somit könnte nach Lorenz’ Ansichten zwar beispielsweise eine Frau aus der Sippe Hirzel Trägerin des Familiencharakters sein, sie wird diesen jedoch kaum ihren Kindern weitergeben können. Bei Nadler allerdings werden die Eigenschaften von Dichtern nicht selten auf weibliche Vorfahren zurückgeführt. Prominentestes Beispiel hierfür ist Goethe, dessen Begabungen als von seiner Großmutter mütterlicherseits, geborene Lindheimer und verheiratete Textor, kommendes Erbe dargestellt werden. In diesem Fall wird in Nadlers Ausführungen der „ausgeprägte physische und geistige Familiencharakter“49 der Lindheimer zweifach mütterlicherseits auf Goethe übertragen – eine deutliche Abweichung von Lorenz. Die betreffende Textstelle ist insgesamt ausgesprochen verräterisch: nicht nur, daß Nadler hier von seinem genealogischen Vorbild abweicht und zugeben muß, genealogisch-wissenschaftliche Überlieferungen allein von der mütterlichen Seite der mütterlichen Großmutter zur Verfügung zu haben, ist sein wichtigstes Anliegen, festhalten zu können, daß diese Sippe allesamt aus Hessen und Franken bestünde. Denn nur dadurch kann die Thüringer Herkunft der Familie Goethe als bedeutungslos dargestellt werden. In Nadlers Programm der gegensätzlichen Pole (vgl. Abschnitt 4.4.1.) muß Goethe seinem alamannischen Gegenpart Schiller ein Franke sein und kein Thüringer. Nadler hat in der Untersuchung väterlicher und mütterlicher Abstammungslinien somit ein modifizierendes Werkzeug für die seinem Konzept günstige Einordnung einzelner Dichter eingeführt.50 Das Vorbild Lorenz spielt dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. —————— 48
49 50
Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 347 und 392-399. Die einzige „Begründung“ hierfür lautet: „Würde man eine große Zahl von Stammbäumen systematisch und unbefangen untersuchen, so würde man wahrscheinlich auf lauter relative Majoritäten der von väterlicher Seite herkommenden Erblichkeiten stoßen.“, ebd. S. 399. Die Abhandlung von Goethes Abstammung nimmt ganze fünf Seiten ein: Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 388-392, Zitat von S. 390. Modifikationen dieser Art lauten etwa: „Die Geschichte der deutschen Stämme weiß viel zu erzählen von Stammesfremden, die in einem neuen Milieu untertauchten, in denen sich kein Tropfen des eigentlich ererbten Blutes regte, die durch irgend eine Mutter der Sippe, die wir nicht immer nennen können, aus dem Geiste des fremden Stammes geboren wurden.“ Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 188. Vor allem im „blutgemischten Osten“ seien Dichter oft mehr die Kinder ihrer Mütter als ihrer Väter, ebd. S. 86. Ein ähnliches Beispiel wie zu Goethe findet sich bei Zinzendorf, der nach Veranlagung seiner mütterlichen Sippe, den Gersdorf, zugeschrieben wird. Die Gersdorf weisen mehrere, vor allem weibliche Künstler in ihrer Ahnentafel auf, als bedeutendste unter ihnen findet sich Zinzendorfs Großmutter, die allerdings nach Nadlers eigenen Angaben eine den Gersdorf angeheiratete Friesin war und somit unmöglich Trägerin eines Gersdorfschen Familiencharakters sein konnte, ebd. S. 86.
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Ähnliche Möglichkeiten zur Modifikation des Abstammungskonzepts mit dem Ziel, jeden Dichter in die passende – nämlich in Nadlers Konzept passende – Landschaft einordnen zu können, bieten Fälle mit nicht vollständig geklärter Abkunft. Dieselben dokumentieren Nadlers häufige Willkür in solchen Belangen. Des öfteren reicht der Name eines Dichters als unfehlbarer Hinweis auf dessen Abstammung und Stammeszugehörigkeit aus,51 dann wiederum werden Ortsnamen zur Klärung der Stammeszugehörigkeit herangezogen,52 und schließlich muß manchmal das Werk eines Dichters herhalten, um ihn der „richtigen“ Sippe gleichen Namens zuordnen zu können. Während Johann Joachim Winckelmanns Werk noch lediglich Anlaß gibt, einen fränkischen Ursprung der Sippen dieses Namens vermuten zu müssen,53 braucht es bei Friedrich Schiller schon Wappenvergleiche, eine angenommene Urkundenlücke und die Heraufbeschwörung eines verwilderten Sohnes aus dem Geschlecht der („offiziell“ im Jahr 1643 erloschenen) Schiller von Herdern, um dem Dichter eine alamannische Abstammung und künstlerisch begabte Vorfahren zu sichern.54 Daran ist zu erkennen, daß die Genealogie eine willkommene Grundlage als wissenschaftliche Untermauerung der „großen Konzepte“ Nadlers darstellt, der Literaturhistoriker sich jedoch in den Details beträchtliche Freiheiten von dieser Grundlage nimmt. Wer nicht in seine Geburts- oder die Herkunftslandschaft der Eltern bzw. eines Elternteils paßt, muß durch irgendwelche Ahnen, bekannt oder unbekannt, eine andere Stammeszugehörigkeit haben. Weitere Inkonsequenzen im Vorgehen Nadlers erweitern ihm zusätzlich das Spektrum an Möglichkeiten, seine Theorien konsistent wirken zu lassen. Diese bewegen sich allerdings im Verhältnis zu Lorenz’ Genealogie im freien Raum, da sie die Mechanismen der Vererbung von Eigenschaften betreffen. Jenes Problem rechnete der Genealoge einerseits nicht sei—————— 51
52 53
54
So würden die ostfälischen Dichter Johann Gottfried Schnabel und Johann Christian Günther aufgrund ihrer hochdeutschen Namen nicht zum sächsischen Element Ostfalens gehören – ungeachtet der Möglichkeit anderer Beimischungen von nicht namengebenden Linien, auf die Nadler sonst oft großen Wert legt, Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 359. Johann Fischarts Vater beispielsweise hieß Mentzer und „...war also ohne Zweifel ein Mainzer...“, Nadler: 1912, S. 320. Obwohl es Sippen dieses Namens in Franken, Hessen und im thüringisch-sächsischniederfränkisch gemischten Ostfalen gibt. Hier macht laut Nadler der genealogischen Forschung überdies die Abstammung Winckelmanns aus „sozialen Tiefen“ Probleme, aber sein „wie ein Irrblock“ in der Umgebung Ostfalens liegendes Werk „zwingt“ den Literaturhistoriker „zu schärfsten Fragen nach seiner Stammeszugehörigkeit.“ Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 261f. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 439f. Bezeichnenderweise ist hier das häufige Vorkommen von Sippen des Namens Schiller auf bairischem Gebiet kein Nachweis dafür, „...daß all diese Familien wirklich bairisch sind.“ und bisher hätten einfach „vorgefaßte Meinungen und Mangel an Sachkenntnis die klaren Tatsachen verwirrt.“ Ebd. S. 439.
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ner Wissenschaft zu, andererseits gehörte es noch allgemein zu den wissenschaftlichen Desideraten dieser Zeit. Möglicherweise war Nadler aus diesem Grund umso freier in seinen Ausführungen, etwa im bezüglich seiner Sichtweise auf die Mischung von Stammes- und Völkerelementen: so kann in der „Literaturgeschichte“ ein Dichter mit Ahnen aus zwei unterschiedlichen Stämmen ebenso Repräsentant nur einer dieser Stammescharaktere sein, wie es Fälle gibt, wo beide Elemente in der künstlerischen Arbeit verbunden werden und nachzuweisen sein sollen.55 Jenseits aller Abstammungsfragen kann im Nadlerschen Konzept allerdings ein Angehöriger eines Stammes in eine andere Landschaft „hinein-“ oder darin „festwachsen“. Hier kommt die Kraft einzelner Landschaft ins Spiel (vgl. Abschnitt 4.3.4.). Hervorragende Beispiele hierzu sind der „alamannisierte Rheinfranke“ Johann Fischart und der Hesse Grimmelshausen, der laut „Literaturgeschichte“ ebenso wie Fischart einen „Sieg des Elsässer Stammestums“ darstellte.56 Für all diese Vorgänge gibt es jedoch ganz im Gegensatz zu Nadlers sonstiger Vorliebe für Gesetzmäßigkeiten keine Regeln oder Richtlinien, doch Das ist kein Beweis gegen die zwingende Gewalt des Stammestums. Daß Wasser Feuer löscht und Öl es hoch entzündet, beweist doch nur, daß Wasser stärker als Feuer ist, daß Feuer seine beste Kraft gefunden hat, daß Öl und Wasser sich gar nicht mischen. Die letzten Gründe für diese Binsenwahrheit kann uns auch die einfachste chemische Formel nicht geben.57
Der Vergleich mit Öl und Wasser trifft auch auf Nadlers Vorstellungen zum Judentum im deutschen Sprachraum zu. „Der Jude“ trete nie in eine ethnographisch reine Gesellschaft ein, die Angehörigen dieses Volkes seien nicht als Stammesvertreter, sondern im Rahmen jener Landschaft zu behandeln, von welcher sie am meisten angenommen hätten – Heinrich Heine etwa von der rheinfränkischen.58 Die Juden seien zwar im Zuge der Aufklärung aus ihrer nationalen Abgeschlossenheit herausgegangen und hätten zumindest geistigen Anschluß an die deutsche Kultur gesucht, 59 doch die „Tragik des Judentums“, wie Nadler das Problemfeld später in Band 4 (1928) bezeichnen wird, bestehe darin, daß eine Eindeutschung im Geiste eben nicht ausreiche und es für eine körperliche Eindeutschung —————— 55
56 57 58 59
z. B. sind Johann Christian Günther und Johann Gottfried Schnabel Repräsentanten des Thüringer Elements in Ostfalen, während Johann Georg Hamann und Johann Gottlieb Klopstock aufgrund ihrer Eltern mitteldeutsch-sächsische bzw. thüringisch-sächsische Mischungen vertreten. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 310, 359 und 175. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 320 und Literaturgeschichte 1913, S. 188. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 188. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-49, 30. 11. 1910 und Literaturgeschichte 1913, S. 189. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 168 und 175. Den Berliner Juden wird allerdings durchaus Verdienst um die romantische Bewegung zugeschrieben.
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praktisch zu spät gewesen sei. Die Juden gehörten für Nadler einer anderen Nation an, womit sie dem Gefüge der germanischen Stämme denkbar fern standen (vgl. zu diesem Themenkomplex Abschnitt 6.2.4.). 4.3.3. Stamm und Nation Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nation, Volk und Stamm in der „Literaturgeschichte“ ist problematisch, da Nadler in dieser Hinsicht keine reine Begriffstrennung durchführt. Die Angehörigen eines Stammes wie jene eines Teilstammes können ebenso als „Stamm“ wie auch als „Volk“ tituliert werden, in gleicher Weise kann von einer „schwäbischen Nation“ und dem „Rassenvolk“ der Sachsen die Rede sein.60 Umso schwieriger gestaltet sich auch der Versuch, Nadlers Vorstellungen zum Verhältnis zwischen den einzelnen deutschen Stämmen und der aus ihnen zusammengesetzten deutschen Nation festzustellen. Selbst die Frage, wann und wie ein germanischer Stamm zu einem deutschen wird (und nicht etwa zu einem eigenen Volk wie die Angelsachsen in England oder zu einem Teil Frankreichs), ist bei Nadler nicht explizit behandelt. Die größte Rolle bei der Absetzung deutscher Stämme von den Nachbarstämmen dürfte allerdings der Sprache zuzuschreiben sein, da etwa die Lösung des „deutschen Volkes“ aus dem „großfränkischen Reich“ dem gemeinsamen, im Gegensatz zu den Romanen stehenden thiodisk zu verdanken sei.61 Die Bedeutung der Sprache als entscheidender Faktor unterstreicht auch folgendes Zitat aus dem Vorwort des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“: Aus Einzelstämmen verschiedener ethnographischer Struktur, die kaum zur Hälfte rein germanisch waren, erwuchs das deutsche Volk, wurde zunächst ein äußerlich politisches Gefüge; die einzelnen Elemente drangen stets von neuem hartnäckig nach eigener Sonderentwicklung in Sprache und Literatur, in Glaube und Kultur. Dann werden sie wieder durch eine künstlich geschaffene Schriftsprache gesammelt und erst nach vielen Menschenaltern von neuem politisch geeinigt. Der Einheitsbegriff des deutschen Volkes ist eine angenommene Größe, die nur für grobe Schätzungen genügen kann. 62
Diese Sätze geben zu verstehen, daß das „deutsche Volk“ in seinen Anfängen unter dem stammeskundlichen Ansatz einerseits nicht als ethnographische Einheit begriffen werden kann, und andererseits zunächst auch politische Einigung die einzelnen Elemente nicht nachhaltig zu binden —————— 60 61 62
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 107 und S. 5. Auch die Neustämme werden mit Ende ihrer Verdeutschung als „einheitliche Rasse“ bezeichnet, ebd. 1918, S. 9. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 27. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. VI.
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imstande gewesen sei. Somit bleibt als einigender Faktor letztlich nur die Sprache und hierin zeigt sich eine Übereinstimmung Nadlers mit dem Stammeskundler Otto Bremer, der ebenfalls die Zuordnung von Stämmen von ihrer Sprache abhängig machte. Im allgemeinen scheint Nadler von Bremer und weiteren Stammeskundlern jedoch vor allem die Siedlungsgeschichte der deutschen Stämme, wie sie aus antiken Quellen erschlossen wurde, entnommen zu haben. Denn spätestens bei der Behandlung der Neustämme ist das Attribut „deutsch“ in der „Literaturgeschichte“ nicht mehr allein von der Sprache abhängig. Auch die Neustämme werden von Nadler zwar erst ab dem Zeitpunkt als deutsche Stämme bezeichnet, von dem an sie deutsche Literatur hervorzubringen begannen, doch für die Möglichkeit des Entstehens dieser Dichtung in deutscher Sprache werden strenge Voraussetzungen genannt: Zwischen Elbe und Niemen waren langsam Stämme deutsch geworden, die sich zäh und lange gegen den Wandel ihres Wesens gewehrt hatten, eine kaum übersehbare Völkermasse, die den nationalen Besitz verdoppelte. [...] Es war ein allmähliches Aufzehren zunächst der Sprache, des Glaubens, der Sitte, des Rechts; ein Umprägen der äußeren Typen; ein Aufheiraten und Vermischen.63
Verschiedene slavische Stämme seien durch verschiedene deutsche Stämme in dieser Weise – durch Mischung – „eingedeutscht“ worden, was Nadler an anderer Stelle auch als „friedliche Durchdringung“ bezeichnet.64 Der Prozeß der „Eindeutschung“ beginnt hier mit der Sprache, bleibt aber nicht bei ihr stehen. Diese Ansicht wird in Band 3 noch radikaler ausgedrückt, denn im Rahmen der Darstellung einer „Eindeutschung der Slavenwelt“ in zwei notwendigen Stufen erhält das Kriterium der Sprache praktisch keine Bedeutung mehr: Deutsch mußten zunächst die Körper werden, ein physiologischer Verlauf, über den fast das ganze fünfzehnte Jahrhundert hinging, und dann waren, wegen der geringen Mengen deutschen Blutes, die hier einströmten, der Typen noch immer genug, in denen sich die alte Rasse offenbarte. Die Seelen aber konnten in langsamem Flusse erst deutsch werden, als es die Körper waren, wie man erst sehen kann, wenn man Augen hat.65
„Deutsch-Sein“ ist demnach in der „Literaturgeschichte“ endgültig eine Sache der Abstammung von deutschen Ahnen geworden, deren Auswirkung sich in der Dichtung bzw. den literarischen Bewegungen erst dann zeigt, wenn jene von den deutschen Ahnen vererbten Anlagen in den betreffenden Menschengruppen stark genug geworden sind. Zurück zur Frage nach der gesamten deutschen Nation. Angesichts von Nadlers genereller Schwerpunktsetzung auf Abstammung ist es nahe—————— 63 64 65
Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 3. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 67, zur „Germanisierung“ der Lausitz. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 8.
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liegend, daß in seiner Auffassung auch die „Nation“ gemäß der lateinischen Wurzel des Wortes Menschen gemeinsamer Abstammung umfaßt. Die deutsche Nation würde sich demnach eben aus Menschen mit Abstammung aus deutschen Stämmen zusammensetzen, bzw. aus den Nachkommen ehemals germanischer, thiodisk und später Deutsch sprechender Menschengruppen. Trotz Nadlers Betonung der Eigenart jeden (Teil) Stammes ist sein Konzept letztlich eines der gesamten deutschen Literaturgeschichte, die Entwicklungen der Stammesliteraturen werden nicht einfach nebeneinandergestellt, sondern ständig aufeinander bezogen. Wie bereits bei der Ausführung der Grundzüge deutlich geworden sein dürfte, bilden die Stammesliteraturen ein System, das stark dialektisch geprägt ist, indem zwei einander widersprüchliche, meist von unterschiedlichen Teilstämmen, Stämmen oder Stammesverbänden getragene Bewegungen schließlich durch eine dritte Bewegung ausgeglichen und zusammengeführt werden.66 Die Stämme würden somit gemeinsam, teilweise mit unterschiedlichen Blütezeiten, teilweise im Rahmen gesamtdeutscher Hochblüten (um 1200 und um 1800) an der Entwicklung der deutschen Dichtung mitwirken, deren Ziel zwar keine einheitliche Nationalliteratur ohne weitere stammliche Differenzierung sein kann – denn die Stammescharaktere können nicht aufgehoben werden –, aber dennoch ein einheitliches Nationalgefühl.67 Ohne Zweifel folgt Nadler hier dem Konzept Karl Lamprechts von der aufsteigenden Entwicklung des Nationalbewußtseins, wobei in der „Literaturgeschichte“ eben hauptsächlich deren Ausdruck in der Dichtung verfolgt wird.68 Indem die Entwicklung der deutschen Literatur als Ausdruck eines wachsenden Nationalbewußtseins verfolgt wird, wohnt dem Konzept eine Teleologie inne. Daraus ist auch zu erklären, was den Maßstab für „richtige“ Verläufe bzw. Störeinflüsse in Nadlers „Literaturgeschichte“ darstellt. Der richtige Verlauf erscheint bei Nadler stets als eine „natürliche“ und auf Traditionen aufbauende Entwicklung, während als Störeinflüsse soziale Umwälzungen, geistige Umbrüche, Revolutionen oder willkürliche Ein—————— 66 67
68
So wird beispielsweise der Pietismus im Westen des deutschen Sprachraums als Ausgleich des fränkisch-alamannischen Gegensatzes beschrieben (vgl. 4.4.1.); Romantik und Klassik werden schließlich durch die Restauration zusammengeführt (vgl. 4.4.2.4.). So wird schon Wolfram von Eschenbach, als „erster Deutscher“ und „Prüfstein der Nation“ bezeichnet, weil er in seinem „Parzifal“ für sämtliche Stämme gesprochen und die Kultur seiner Zeit gestaltet habe. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 80. An anderer Stelle bezeichnet Nadler das Nationalgefühl als „eigentlichen Lebensinhalt“ der deutschen Poesie. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 341. Vgl. folgende Briefstelle: „Lamprecht stellt als Einleitung seiner Deutschen Geschichte dar, wie langsam u. differiert sich das deutsche Nationalgefühl entwickelte. Daher macht das 16. Jahrh. einen so tiefen Riß in die Literatur.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-50, München 10. 12. 1910.
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griffe von Herrschern bezeichnet werden (vgl. Abschnitt 4.3.5.). Eine Ausgewogenheit im Zusammenspiel der Stämme entsteht in Nadlers Werk neben der jeweils unterschiedlichen Aufnahme von Bewegungen aufgrund des Stammescharakters oder teilweise aufgrund der sozialen Gliederung auch dadurch, daß jedem Stamm oder jeder Landschaft innerhalb eines Zeitabschnittes nur ein bestimmtes Maß an Kraft zur Verfügung stehen soll. Politische und religiöse Konflikte oder auch Abwehrkämpfe nach außen gingen demnach stets auf Kosten der schöpferischen Kräfte und somit auf Kosten der Dichtung.69 Auch aus diesem Grund wird in Nadlers Konzept eine gleichmäßige Entwicklung ohne gewaltsame Einbrüche als der literarischen Entfaltung bzw. Entfaltung des Nationalbewußtseins besonders dienlich erachtet. Eine solche gleichmäßige Entwicklung trägt bei Nadler das Prädikat „natürlich“, was wohl „der Natur des Stammescharakters entsprechend“ bedeutet. Wie gestaltet sich jedoch der Einfluß der Natur im Sinne von Umwelt auf die Literatur? 4.3.4. Die Landschaft als natürliche Einheit Die Landschaft ist bei Nadler laut seiner „Wissenschaftslehre“ als natürliche Teileinheit der Erde in geographischem Sinne aufzufassen,70 während er der Geographie gleichzeitig die Aufgabe zuschreibt, der Literaturgeschichtsschreibung Aufschlüsse über den Einfluß der Umwelt auf den Aufbau des Menschen zu liefern. In der „Literaturgeschichte“ ergeben sich bezüglich Nadlers Ansichten zu eben diesem Einfluß Diskrepanzen mit seinem Postulat der körperlichen Determiniertheit des Menschen durch seine Abstammung. Vor allem die Beschreibung des Ansässigwerdens der deutschen Stämme in ihren Stammlandschaften spiegelt diese Problematik wider. Dazu heißt es in der „Literaturgeschichte“: „...die Landschaft, so charakteristisch jede und nur für einen ganz bestimmten —————— 69
70
So hätten Bern und Zürich um 1500 ihre Kraft zu künstlerischem Schaffen in Glaubenskämpfen verbraucht. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 305. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. seien wiederum in Bern die Gedanken der Menschen durch politische Ziele und Zwecke gebunden gewesen, ebd. 1913, S. 219; und die Schwaben hätten in ihrem Kampf gegen die Gewaltherrschaft des Fürsten keine Zeit gehabt „rein Menschliches ruhig austönen zu lassen“, ebd. S. 455. Österreich hingegen sei im 17. Jahrhundert in der „Türkennot“ verstummt, weil „ein Häuflein Kulturträger“ „den letzten Mann einzusetzen“ gehabt habe, ebd. 1912, S. 148. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 58. Im folgenden wird der Begriff „Landschaft“ dementsprechend eine geographisch zu bestimmende Einheit benennen, während Nadlers zweite Bedeutung von „Landschaft“ als volkstümlich-territoriale Einheit dementsprechend gekennzeichnet oder als „Volkstum“ wiedergegeben wird.
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Stammestypus geschaffen, hat nun ihren Menschen erhalten, der durch Jahrhunderte mit seiner Seele fest an dieser Scholle festwachsen sollte.“71 Somit wird nicht die Landschaft als primärer Faktor für die Herausbildung eines Stammescharakters benannt, sondern der Stammestypus von ihr abgekoppelt – nicht sie bringt einen Stammestypus hervor, sie selbst ist für einen solchen geschaffen. Nun verfügt Nadler mit der Lorenzschen Lehre der Genealogie zwar über eine Theorie, wie ein Stammescharakter sich herausbilde, doch es bleibt unklar, wodurch dieser seine spezifischen Züge erhalte bzw. wie und weshalb Menschen gewisse Eigenschaften ausbilden würden, die dann über das Ebenbürtigkeitsprinzip in einem Stammescharakter aufgingen. Doch auch in Hinsicht auf die Ausbildung der Stammescharaktere erlangen Geofaktoren in der „Literaturgeschichte“ keine Bedeutung. Daß die Charaktere der germanischen Stämme nicht durch bestimmte Landschaften geprägt worden sein können, geht bei Nadler jedenfalls aus der Darstellung der Wanderbewegungen der deutschen Stämme vor 400 n. Chr. hervor: aufgrund mangelnder Seßhaftigkeit wäre wohl keine Landschaft nachhaltigen Einfluß auf den Stammescharakter auszuüben imstande gewesen. Auch Nadler selbst trifft letztlich keine Entscheidung zur Frage, wie die Landschaft zum passenden Stammestypus „kam“. So bemerkt er etwa, es sei schwer zu entscheiden, ob das Rheintal den Volkscharakter der Franken gebildet oder ob ein „empfänglicher Wandertrieb“ den Stamm dorthin gelenkt habe.72 An anderer Stelle wird der Einfluß der Landschaft höher angesetzt: „Wenn überhaupt jemals die Landschaft den Sinn eines Volkes gewandelt hat, waren es die Alamannen...“73 Die Formulierung „überhaupt jemals“ weist allerdings darauf hin, daß dieser Einfluß als zweifelhaft aufgefaßt wird, umso mehr als die Alamannen bereits mit dem „Sinn eines Volkes“ in ihren Landschaften seßhaft geworden sein müssen, da dieser sonst nicht hätte „gewandelt“ werden können. Doch auch ein Hinweis auf die Annahme einer gegenseitigen Beeinflussung von Mensch und Landschaft läßt sich im Abschnitt „Grundlagen“ für das 11. und 12. Jahrhundert finden: „...der Mensch und seine Erde durchdringen sich, eins prägt das andere.“74 Generell tendiert Nadler in der „Literaturgeschichte“ dazu, etwaige Einflüsse der Umwelt, respektive der betreffenden Landschaften, auf den Aufbau des Menschen erst bei etwas bereits Gegebenem, Fertigem einset—————— 71 72 73 74
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 3. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 7. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 9. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 43.
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zen zu lassen.75 Nachdem der Landschaft keine Rolle bei der Entstehung eines Stammescharakters zugeschrieben wird, ist das entscheidende Moment nicht der Einfluß der Landschaft auf den Menschen, sondern letztlich seine Anpassung an sie, das „Hineinwachsen“ eines Stammes in seine Landschaft. Diese Figur des Hinein- oder Festwachsens begegnet dem Leser im ersten Buch des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“ häufig, auch vom Ineinanderweben der Seele des Germanen und seinen Landschaften ist die Rede. An dieser Stelle tritt auch erstmals die Literatur ins Blickfeld. Denn der Moment des Festwachsens eines Stammes in einer Landschaft und des Verwebens der germanischen Seele mit ihr erscheint bei Nadler praktisch als Initialzündung für die Entstehung von Dichtung, dh. zunächst der Sage. Denn durch dieses Verweben „...wurde das Volk zum Dichter, schuf sich Symbole für das Drängen im Herzen und ließ mit schaffender Fantasie lebendigen Geist in die Natur strömen.“76 Das „gemeinsame Erbe“ der germanischen Mythen sei stammlich differenziert worden, indem jeweils die für eine bestimmte Landschaft typischen Naturerscheinungen in Stammessagen mythologisiert wurden.77 Dadurch seien Stamm und Landschaft zur Einheit gelangt. „So hatte sich der Germane seine neue Heimat und sein neues [seßhaftes] Leben in Symbol und Dichtung geistig gewonnen. Wir stehen am Urquell jeder Dichtung und jeden Stoffes.“78 Der Einfluß der Landschaft macht sich also nicht oder kaum hinsichtlich des „Aufbaus des Menschen“ geltend, die Landschaft erhält ihre Bedeutung erst durch ihre Wirkung auf die Dichtung eines Stammes, zu deren „Urquell“ sie im Vorgang des Festwachsens wird. Angesichts von Nadlers „Wissenschaftslehre“ wäre davon auszugehen, daß diese geistige Aufnahme der neuen Heimat körperliche Änderungen zur Voraussetzung haben müßte, doch im Zusammenhang mit der Seßhaftwerdung und dem Ursprung von Dichtung wird eine solche Abhängigkeit des Seelischen —————— 75 76 77
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Dies unterscheidet Nadler vom Entwurf seines Lehrers in der Rektoratsrede, da bei August Sauer der Einfluß der Landschaft schon bei der Herausbildung von Stammesmerkmalen einsetzt. Vgl. Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 4f. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 10. Gemeingermanische Mythen sind demnach bei Nadler von der Landschaft unabhängig, Sagen erscheinen als stammlich differenzierte Mythen, auf welche die Landschaft bereits wirkt. An August Sauer schreibt Nadler, er stelle im betreffenden Abschnitt „Die Sage“ (Literaturgeschichte 1912, S. 10-18) die Heldensage nach Stämmen dar, er behandle aber auch „...kurz jene Mythen, die die Germanen erst in seiner neuen Heimat an der Elbe, am Rhein u. in den Alpen entwickelt haben kann, also das ,Einwachsen der Seele in die neue Heimat.’“ ÖNB Nachlaß Nadler 414/4-48, 27. 11. 1910. Unklar bleibt das Verhältnis zwischen „Mythos“ und „Dichtung“. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 18. Der durch die Landschaft beeinflußte Stoff scheint generell am Anfang von Dichtung zu stehen: alles Neue werde zuerst als Stoff genossen, ebd. S. 200.
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vom Körperlichen in der „Literaturgeschichte“ nicht thematisiert. Jedenfalls ist bezeichnend, daß die Landschaft ihre Rolle just in dem Moment zu spielen beginnt, in welchem aus dem gemeinsamen Erbe der germanischen Mythen stammlich differenzierte Dichtungen werden. Umso mehr, als nur vom geistigen Gewinnen der Landschaft gesprochen wird und nicht von etwaigem Einfluß der Landschaft auf die Physis des Menschen. Es scheint, als habe man sich das Hineinwachsen eines Stammes in seine Landschaft maßgeblich über das Medium der Dichtung erfolgend vorzustellen, da schließlich die geistige Aneignung derselben Landschaft über das Medium der Dichtung verläuft oder sich zumindest darin äußert.79 Für diese Deutung des stammeskundlichen Konzepts spricht auch Nadlers Befund: „In alten Landschaften, wo der Mensch schon festgewurzelt ist, färbt der Boden nur mehr in blässeren Tinten ab.“80 In solchen Fällen wären Traditionen bereits stärker als der Einfluß des Bodens, da derselbe auch in geistiger Hinsicht keine „Kolonialisierungsarbeit“ mehr abverlangt. Die Frage, inwieweit jene Traditionen in ihren Anfängen von Geofaktoren abhingen, in deren Umfeld sie entstanden sind, bleibt ungeklärt. Doch es überrascht angesichts dessen nicht, daß die Bedeutung der Landschaft in der fortschreitenden Darstellung der „Literaturgeschichte“ tendenziell abnimmt. Wenn „der Germane“ „sich sein neues Leben in der Dichtung gewinnt“ und das Hineinwachsen in die Landschaft als Urquell aller Dichtung angesehen wird, so läßt sich der Schluß ziehen, daß das Einwurzeln einer Menschengruppe in eine Landschaft bei Nadler letztlich generelle Bedingung für die Entstehung von Dichtung ist. Zwar ergibt sich auch hier ein Widerspruch, da von gemeingermanischen Mythen der noch nicht seßhaften Stämme (deren Entstehung unbehandelt bleibt) ausgegangen wird – es sei denn, der Literaturhistoriker erachtet Mythen nicht als Dichtungen. Nach Nadlers Worten zu schließen bildet jedenfalls das Verwachsen von Stamm und Landschaft die Voraussetzung für das Vorhandensein von Dichtung. Somit behauptet der Literaturhistoriker zwar keinen Einfluß der Landschaft auf die Ausbildung eines Stammescharakters, aber sehr wohl eine Abhängigkeit der geistigen Erzeugnisse eines Stammes von seiner Umwelt. Dieser Befund stimmt zudem mit Nadlers Umgang mit den Begriffen Volkstum und Landschaft überein (vgl. Abschnitt 4.3.1.). —————— 79
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Tatsächlich schreibt Nadler die gesetzmäßige Entwicklung der Literatur dem Stamm, ihren Inhalt aber einem anderen Element zu: „Träger dieses Verhaltens ist das Ethnographische u. das geht alle Disziplinen an, die sich mit dem Geistesleben befassen und bildet auch für uns die Grundlagen. Das ist die Form in der literarischen Entwicklung. Den Inhalt vermittelt das Volkstum (Volkskundliches).“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-51, München, 17. 12. 1910, Hervorhebungen im Original. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 219.
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Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften
Was er in den betreffenden Textpassagen zum Einwachsen der Stämme in ihre Landschaften und der sich daraus entwickelnden Literatur ausführt, gilt in gleicher Weise für Stammesteile, die durch die Beschaffenheit ihrer neuen Siedelgebiete eine vom ursprünglichen Stammestum differenzierte, aber davon nicht völlig unabhängige volkstümliche Kultur ausprägen. Anders als die Entstehung des Stammescharakters werden die unterschiedlichen kulturellen Hervorbringungen des Volkstums somit direkt an geographische Faktoren gebunden, da landschaftliche Unterschiede von Siedelgebieten explizit als Grund für die unterschiedliche kulturelle Entwicklung der Glieder einer ethnographischen Einheit genannt werden. Nadlers prominentestes Beispiel sind hierbei stets die Alamannen mit ihren Siedlungen von der (Hoch)Ebene (Elsaß, Schwaben) über das Hügelland bis ins Hochgebirge der Schweiz.81 Hierbei deckt Nadler sich in seinen Ansichten mit dem Volkskundler Alfred Kirchhoff, dessen Arbeiten er zumindest mit Vorbehalten zu seinen Vorbildern zählt (vgl. Abschnitt 3.2.1.2.). Kirchhoff leitete das Volkstum einer Landschaft vor allem aus Topographie, Bodenbeschaffenheit und Klima ab, die bestimmte Wirtschafts- und gleichzeitig spezifische Hausformen hervorbrächten.82 Im Gegensatz zu Nadler geht Kirchhoff jedoch vom Primat der Geofaktoren und nicht der gemeinsamen Abstammung aus und schreibt etwa dem Hochgebirge der Alpen zu, alle Stammesunterschiede zu verwischen. Kulturelle Hervorbringungen eines Volkstums, materiell oder immateriell, hängen nach der Ansicht des Volkskundlers eng mit den geographischen Gegebenheiten der unmittelbaren Umwelt zusammen. Diese Ansicht teilt der Literaturhistoriker, doch er schaltet mit seinem Konzept des Stammescharakters eine weitere Ebene zwischen Umwelt und Volkstum. Noch ein weiteres Beispiel läßt sich dafür anführen, daß in der „Literaturgeschichte“ der Einfluß der Landschaft vor allem die Dichtung betrifft: Nadlers Postulat, die Berge stünden in gesetzmäßiger Beziehung mit dem Werden des Dramas.83 Schon die Begründung, daß in den Bergen durch die weiten Entfernungen der Menschen voneinander über Zurufe Wechselreden und Dialoge sowie schließlich das Drama entstanden seien, erscheint merkwürdig, doch warum „...der Germane der Naturbühne zustrebte...“84 und gerade die Berge eine ideale Kulisse darstellten, ist unein—————— 81 82 83 84
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 9. Allerdings würde auch in bairischen Landschaften „...der bairische Volkscharakter umgeprägt durch die verschiedene Gestalt des heimischen Bodens....“, Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 81. Kirchhoff, Alfred: Die deutschen Landschaften und Stämme. Leipzig: Bibliographisches Institut 1923 (= Erneuter Abdruck aus Hans Meyer „Das deutsche Volkstum“, 2. Auflage 1903). Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 193. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 298.
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sichtig. Warum allein die Berge als Naturbühne in Frage kommen, wird nicht begründet – was umso fragwürdiger ist, als zuvor die Entstehung von Wechselreden auf die Einsamkeit in den Bergen zurückgeführt wurde und Vereinzelung kaum gute Voraussetzungen für dramatische Aufführungstätigkeit mit sich bringt. Ausführungen wie diese verstärken jedenfalls den Eindruck, als würde die Landschaft selbst den Menschen dichten lehren, da nach Nadlers Ansichten schließlich Dichtung erst mit dem Hineinwachsen des Menschen in die Umwelt hervorgebracht wird: „Nur das Gebirge konnte den Sinn entwickeln, den Blick dafür, eine Handlung von sich wegzurücken...“, die Ebene hingegen „...lehrt den Menschen nie gruppieren.“85 Wie in diesem Fall drückt Nadler generell den Einfluß der Landschaft ausgesprochen gerne in personifizierter Form aus. Nicht nur, daß die Landschaft „ihren Menschen erhielt“, sie kann sich auch „besinnen“86 und „sich denken“,87 Nadler kann sich fragen, wie eine Landschaft einen Dichter „erlebt“ habe88 und sie – nicht die siedelnden Menschen! – kann sogar „Erbe von Völkergedanken verschollener Stämme“ sein.89 Unter solchen Voraussetzungen verwundert es kaum noch, daß verschiedene Landschaften über verschieden große Kräfte zur Beeinflussung ihrer Einwohner verfügen sollen. In einigen Fällen ist sogar trotz des wiederholt behaupteten Primats des Ethnographischen die Landschaft am mächtigsten: Daß ich Joachimstal von Böhmen trennte, habe ich wohl genügend begründet. [...] Hier ist eben die Landschaft stärker gewesen als der Mensch, der ja eben erst zugewandert war. Man darf eben nicht schematisieren. Ein anderesmal ist das Ethnographische stärker.90
Der eben erwähnte Einfluß der Berglandschaft scheint dabei besonders mächtig zu sein, da er sogar in der alamannischen Schweiz das Drama hervorgebracht habe, obwohl der Alamanne laut Nadler nicht der eigentliche Träger des Spieltriebs unter den deutschen Stämmen sei.91 Neben den Alpen als Heimat des Dramas – denn der Bezug zwischen Drama und Gebirge wird allein für die Alpen und für keine andere Region hergestellt 92 —————— 85 86 87 88 89 90 91 92
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 297. Es war „...als besänne sich die [österreichische] Landschaft auf ihre uralten Verbindungen mit Schwaben.“ Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 142. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 11. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 145. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 157 (vgl. 4.4.3.2.). ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-55, München 4. 5. 1911. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 297. Zwar findet etwa das Erzgebirge Betonung als landschaftliche, ethnographische und wirtschaftliche Einheit, und als Landschaft, die den Menschen bezwungen hätte, doch eine besondere Beziehung zum Drama wird ihm nicht zugeschrieben. Das Erzgebirge erscheint vor allem als Landschaft der Mystik und der Naturwissenschaften. Nadler: Literaturge-
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– findet sich unter den besonders mächtigen Landschaften das Donautal. Damit wird explizit den beiden großteils von Ostbaiern, also Österreichern, besiedelten Landschaften besonders große Kraft zugeschrieben (vgl. Abschnitt 4.4.3.2.). Bedeutung erhält die geographische Beschaffenheit des Siedelgebiets eines Stammes in der „Literaturgeschichte“ auch durch die natürlichen Grenzen einer Landschaft. Denn je deutlicher eine Landschaft durch Gebirgszüge, Hochebenen oder Flußtäler von anderen abgegrenzt werde, umso niedriger sei die Vermischung von deutschen Stämmen untereinander oder auch mit nichtdeutschen Stämmen anzusetzen. Die Berücksichtigung dieses Aspektes der Landschaft bei Nadler kann mit entsprechenden Ansichten der zeitgenössischen Dialektgeographie in Verbindung gebracht werden. Diese berücksichtigte allerdings nicht nur natürliche Grenzen, sondern durchaus auch politische. Doch der Terminus „Landschaft“ trägt bei Josef Nadler ebenfalls eine doppelte Bedeutung. Neben der Verwendung des Begriffs im geographischen Sinne, als Bezeichnung für eine Region mit einheitlichen Geofaktoren, kann „Landschaft“ bei Nadler ebensogut ein politisches Territorium bezeichnen. In diesem Sinne wird „Landschaft“ vor allem dann gebraucht, wenn Angehörige eines deutschen Stammes nicht in einem einzelnen, sondern mehreren staatlichen Verbänden leben, wie etwa die Alamannen. In diesen Fällen meint „Landschaft“ die volkstümliche Einheit, die zwar auf geographische Einheiten zurückgeht, aber in ihrer Beschaffenheit als kulturelle Einheit auch politische Verhältnisse widerspiegeln kann. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Landschaft bei Nadler ihre Bedeutung nicht durch den Einfluß von Geofaktoren auf die physischen Eigenschaften der Menschen gewinnt, die wiederum die Psyche beeinflussen, sondern ihre Wirkung aufgrund der geistigen Aneignung der Landschaft durch die Menschen auf der Ebene kulturellen Ausdrucks – besonders der Dichtung – verbleibt. 4.3.5. Soziale Gliederungen In Fragen der sozialen Gliederung stützte Josef Nadler sich ein weiteres Mal vor allem auf seine von Ottokar Lorenz stammende genealogische Grundlage. Denn im Lehrbuch des Genealogen findet sich unter expliziter Ablehnung sozialistisch-demokratischen Gedankenguts unter anderem die bereits referierte These, daß die Angehörigkeit eines Individuums zu einem bestimmten Stand nicht durch den Stand der Eltern bestimmt werde, —————— schichte 1912, S. 203 und 219 und 1918, S. 204 sowie ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-70, München 3. 8. 1911.
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sondern durch die von den Vorfahren ererbten Eigenschaften. Diese Ansicht beruht allerdings auf dem Postulat, daß stets die Menschen mit den besten Eigenschaften an der Spitze einer Gesellschaft stünden. Diese würden ihre ausgezeichneten Qualitäten an ihre Kinder vererben, welche aufgrund ihrer Trägerschaft dieser Qualitäten wiederum an der Spitze der Gesellschaft zu stehen kämen. Angehörige niedrigerer Stände werden damit „getröstet“, daß sich nach diesem Prinzip der Vererbung adäquater Eigenschaften jede Art von Aristokratie begründen lasse, also auch eine militärische, handwerkszünftige, landwirtschaftliche, geistige, künstlerische etc.93 Kurz gesagt: wie sich durch die Kreuzung gleichartiger Individuen Stämme herausbilden sollen, so erzeugen auch Stände durch die Befolgung des Ebenbürtigkeitsprinzips Nachfahren, die am besten für die Weiterführung der Profession der Eltern geeignet seien. Daß Mischungen zwischen den Ständen durch Heiraten stets stattgefunden hätten, räumt Lorenz als weiteres Argument gegen eine Einteilung der Stände aus sozialen Gründen ein (gemeint ist wohl aufgrund materieller Besitzverhältnisse).94 Aus diesen Ansichten resultiert allerdings, daß Ambitionen auf sozialen Aufstieg notwendigerweise scheitern müssen, da im Zuge dessen eine Profession angestrebt würde, die den ererbten Eigenschaften nicht entspreche. Dem Naturgesetz der Abstammung sei nicht zu entkommen.95 Nadler arbeitet zweifelsohne mit dem Konzept einer geistigen, durch ererbte literarisch-künstlerische Eigenschaften ausgezeichneten Elite. Diese literarisch-künstlerische Elite gehört in der „Literaturgeschichte“ jedoch nicht in jedem Stamm und zu jeder Zeit dem gleichen sozialen Stand an. Dies erweist sich bereits an der Darstellung des Mittelalters, wie Nadler sie in einem an August Sauer gerichteten Entwurf Anfang 1911 ausführte: Ich habe jetzt als Ganzen den westdeutschen (rheinischen) Minnesang fertig. Zunächst folgende Tatsachen. 1. Die neue lyrische Bewegung geht von Rheinfranken (Pfalz) aus; die Lyriker sind alle Freiherrn [...] kein einziger Ministeriale, kein Dienstmann, kein Bürgerlicher. 2. Übergreifen auf Elsass. Die Landschaft ist demokratisch bürgerlich; ein kleiner Ritter u. Dienstmann Reinmar [von Hagenau] nimmt das Ergebnis hocharistokratischer Gesellschaftskultur auf, die Landschaft mit ihrer bürgerlichen Kultur bietet keinen Boden, er geht nach Österreich.
—————— 93 94 95
Vgl. zum Konzept der sozialen Gliederung durch Vererbung entsprechender Eigenschaften Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 18-21. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 314-316. Daran wird nicht nur die antisozialistische Einstellung Lorenz’ deutlich (die ähnliche Ansichten Nadlers ankündigt), sondern auch die Begründung für die weitgehende Ablehnung des Fortschrittsgedankens des Genealogen: ließe er die Möglichkeit von Fortschritt zu, wäre damit auch die Eventualität des Aufstiegs eines Individuums oder eines sozialen Standes eingeräumt.
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3. Unter der Masse schwäbischer Lyriker kein Freiherr, alles Reichsdienstmannen, den Staufern ergeben, kein Bürgerlicher, die Freiherren werden politisch niedergehalten. Weil die Schwaben keine Hocharistokraten sondern nobilitierte Dienstleute sind, darum hier Zusammenhang mit dem Volk. 4. Der alemannische Breisgau zwischen dem bürgerlichen Elsaß u. dem Nobilitatsadel Schwabens ist die Landschaft zwischen Gegensätzen. Ein mächtiges Herrschergeschlecht die Zähringer, [...] und die zwei Reichsstädte Freiburg und Breisach, die Lyrik ist hier zerrissen ohne Einheit wie bürgerliche Schulmeister u. kleine Dienstleute sie pflegen. 5. Bodenseelandschaft (dazu Kanton Thüringen) die einzige Landschaft, die sich mit ihrer Natur abspiegelt in der Lyrik. Sozialer Typus: bischöflich Konstanzer u. äbtlich Gallenerdienstleute. Thüringen u. Stainz nur hohe u. höchste Aristokratie, Freiherrn. Daraus ergibt sich mir: als Ausfluß einer bestimmten Gesellschaft, die Pfälzer Aristokratie, hängt die Entwicklung der Lyrik in allen Landschaften vom damaligen sozialen Stande ab. Danach differenziert sie sich vollständig und überraschend. Die Lyrik entartete nicht, wurde nicht deshalb Manier und Mode, weil 190-200 Dichter sich ihr annahmen, sondern sie entartete nur dort, wo sie auf ganz fremde soziale Grundlagen aufgepfropft wurde. Ferner die Aufarbeitung der Lyrik von Heidelberg her folgt einer sozialen Rangstufe. In jeder Landschaft ergreift die Welle um 1190 zuerst immer die „höchste“ soziale Stufe der Landschaft: im Elsaß den Ritter Reinmar, weil kein Höherer da war, die Landschaft war ja bischöflich reichsstädtisch; in Schwaben, wo die hohen Ministerialen herrschten die beiden staufischen Burgmannen: Rugge u. Schwangau. In der Schweiz den Grafen von Neuenburg genannt Fenis, im Bodensee den hohen Ministerialen Berger v. Horhein, dann Burkart v. Hohenfels. 96
Die höfische Lyrik um 1200 erlebt demnach als Sache des Adels ihre schönste Blüte in besonders stark aristokratisch bestimmten Landschaften, während diese Form der Dichtung in stärker bürgerlich geprägten Landschaften oft „leeres Gefühl“ oder „Manier“ bleiben mußte und dort der Roman die adäquatere Literaturgattung darstellt.97 Ist die Literatur einer Landschaft von der sozialen Gliederung abhängig, oder besser gesagt: vom Stand der Trägerschicht der künstlerisch-dichterischen Eigenschaften, so wird diese Literatur von sozialen Umwälzungen in ihrem Bestand gefährdet. Dementsprechend sei etwa der Literatur der Franken um 1400 „literarisches Unheil“ zuteil geworden, als „demokratische Mächte“ in der adeligen Pfalz die bodenständige (höfische) Literatur „töte—————— 96 97
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 7. 1. 1911. Hervorhebungen im Original. Nadler: Literaturgeschichte 1912, Kapitel II: Die Rheinlandschaften, S. 99-128. Ein weiteres Mal findet sich hier jedoch eine von Nadlers „sowohl-als-auch-Regelungen“, so sei es etwa den Schwaben um 1200 gelungen, eine den Pfälzern ähnliche innere Welt in ihrer Literatur aus anderen sozialen und politischen Bedingungen heraus zu entwickeln; ebd. S. 107.
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ten“.98 Dies wird zwar als Voraussetzung dafür beschrieben, daß die bürgerliche Literatur in diesen Landschaften zur Zeit der Mystik zu blühen beginnen konnte, doch besteht bei der Lektüre von Nadlers Ausführungen schon allein durch die Wortwahl nie ein Zweifel darüber, daß er langsamer Entwicklung den Vorzug vor plötzlichen Umstürzen gab. Hier folgt der Literaturhistoriker wiederum Ottokar Lorenz in seiner Vorstellung einer Ordnung, in welcher jedes Individuum aufgrund seiner ererbten Eigenschaften einen festen Platz als unentrinnbares Schicksal zugewiesen bekommt. Daraus läßt sich wohl auch Nadlers Ablehnung von Revolutionen und gewaltsamen Umstürzen in der „Literaturgeschichte“ ableiten, welche unter diesem Licht als ungerechtfertigte, in jedem Fall zum Scheitern verurteilte Auflehnung gegen die ererbten Eigenschaften einer Menschengruppe bzw. eines Standes erscheinen müssen. Die unterschiedliche soziale Gliederung einzelner Landschaften wird von Nadler für keine weitere Epoche mit ebensolcher Bedeutung versehen wie im Rahmen der Darstellung der Zeit um 1200. Möglicherweise dient die Einbeziehung jener sozialen Komponente der Einführung einer weiteren Differenzierungskategorie, wie rein stammliche Kriterien sie in der relativ einheitlichen Zeit der höfischen Dichtung – für Nadler eine Periode des nationalen Gesamtlebens, wie sie erst 1800 wieder in ähnlicher Form verwirklicht worden sei –nur schwer geboten hätten. Soziale Gründe werden in Bezug auf diese Zeitspanne sogar dafür verantwortlich gemacht, daß Dichter, die wegen ihres sozialen Ranges in ihrer Heimatlandschaft keine Geltung erlangen konnten, in einer anderen Landschaft mit entsprechender sozialer Gliederung erfolgreich wurden, ohne daß in diesen Fällen wie sonst üblich von einem „Einwachsen“ in andere landschaftliche Verhältnisse gesprochen werden müßte.99 Auch wenn Nadler im zugehörigen Grundlagenabschnitt die höfische Epoche als einen Zeitraum der Abnahme ethnographischer Gegensätze bei gleichzeitiger Verstärkung der landschaftlichen (im Sinne von wirtschaftlichen, sozialen und politischen) Differenzen darstellt,100 sind diese Fälle als Ausnahmen zu bezeichnen. Für spätere Zeiten mit noch stärkerer Durchmischung wird in der „Literaturgeschichte“ kein Dichter mehr derart kommentarlos zum —————— 98 99
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 183f. Wie etwa das bereits zitierte Beispiel des „Ritters aus bürgerlichem Gau“, Reinmar von Hagenau (Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 104 und 136), oder des bürgerlichen Ostfranken Konrads von Würzburg, der in den bürgerlich geprägten Bodenseelandschaften wirkte; ebd. S. 128. Diese Wechsel der Landschaft seien allerdings nicht unbedingt freiwillig erfolgt, denn „Rheinfranken, Elsässer, Ostfranken, die nach Anlage oder sozialer Herkunft in das Literaturmilieu ihrer Landschaft nicht paßten“ seien von dort „verstoßen“ worden; ebd. S. 127. 100 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 69-73. Auf S. 70 findet sich aber die Versicherung, daß „...die Stimme gemeinsamen Blutes nicht zu ersticken war.“
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Repräsentanten einer anderen als seiner Herkunftslandschaft gemacht – schon gar nicht aus Gründen des sozialen Standes. Zur Frage der abnehmenden Bedeutung der sozialen Abstufung bei Nadler muß allerdings spätestens für die Behandlung der Zeit ab 1600 festgehalten werden, daß die Literatur generell immer stärker Angelegenheit des Bürgertums wurde, dem somit die bestimmende Rolle für die Entwicklung der Literatur zuzuschreiben ist. Die Entstehung des Bürgertums als „neuen sozialen Typus“ legt Nadler in die Zeit und die Städte um 1200, zählt jedoch für diese Epoche teilweise auch aufgestiegene Ministeriale und niedrigen Adel zur bürgerlichen Schicht, über welcher schließlich nur der Hochadel steht. Dezidiert an das Bürgertum gebunden werden jene Bewegungen, welche „die Vermählung des deutschen und antiken Wesens“101 zum Ziel gehabt hätten: Renaissance und Klassik (der Altstämme). Zu deren vorbestimmten Trägern erklärt Nadler das Bürgertum der freien Städte des 16. Jahrhunderts. Seines Erachtens hätte sich überdies die Renaissance im Westen des deutschen Sprachraums direkt und weit früher in den Klassizismus weiterentwickelt, wie er in der Zeit um 1800 schließlich Realität wurde, wäre nicht die Macht der Fürsten durch die Konflikte im Gefolge der Reformation gestärkt und das städtische Bürgertum in seinen Freiheiten beschnitten worden.102 Nadlers Kritik trifft jedoch in erster Linie die Anhänger der Reformation und nicht den Adel (vgl. Abschnitt 4.4.3.3.). Denn obwohl der Humanismus dem Bürgertum zugeschrieben und seiner Entwicklung große Fürstenmacht als nicht zuträglich gewertet wird, sind generell keine Tendenzen auszumachen, welche die Dichtung des Adels oder den adeligen Stand selbst als Negativpol zum Bürgertum setzen würden – solange keine gewaltsamen Eingriffe zu verzeichnen sind, wie eben der Abbruch einer literarischen Bewegung.103 So wie dem Bürgertum eine gesamte literarische Bewegung zugeschrieben wird und wie in jeder Landschaft auch aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Struktur eine spezifische Aufnahme bzw. Ablehnung einer Bewegung erfolgt, so können dem Nadlerschen Konzept gemäß innerhalb einer stammlich gemischten Landschaft die Repräsentanten sozialer Stände unterschiedlichen Stämmen zugehörig sein. In diesem Fall ist es in der „Literaturgeschichte“ sogar möglich, daß die Stände unterschiedliche literarische Bewegungen vertreten, da ihre Herkunftsstämme —————— 101 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 213. 102 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 148 und 212. 103 Nadler erwähnt etwa die verwandte Rezeption des Humanismus in Städten mit humanistenfreundlichen Fürsten (Literaturgeschichte 1912, S. 283), kritisiert aber wiederholt Landesfürsten, welche die geistige Arbeit der Bürger unterdrückten; ebd. 1913, S. 284, 431 und 1918, S. 149.
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Träger verschiedener künstlerischer Begabungen sind. Als Beispiel kann etwa Nürnberg um 1500 angeführt werden, wo Nadler das fränkische Teilelement der seines Erachtens fränkisch-bairisch gemischten Stadt dem Adel und der humanistischen Literatur zuordnet, während die bürgerlichen Zünfte mit ihren Festen, Umzügen und dem Meistersang den bairischen Spieltrieb aufweisen würden.104 In ähnlicher Weise unterscheiden sich in der „Literaturgeschichte“ die sozialen Schichten in Brandenburg im 14. und 15. Jahrhundert, wo der Adel überwiegend niedersächsischer Abkunft gewesen sei, während die bürgerliche Siedelbevölkerung neben dem wendischen Landvolk vor allem durch Niederfranken vertreten wurde.105 Neben dem Adel und dem Bürgertum erscheint bei Josef Nadler allerdings auch das davon unabhängige „Volk“. Welche Menschen oder Menschengruppe damit gemeint sind bzw. ist, geht aus Nadlers undifferenzierter Begriffsverwendung nicht eindeutig hervor. Zum einen trifft der Literaturhistoriker eine Unterscheidung zwischen der künstlichen Dichtung des Hofes und jener des Volkes,106 wobei letzterer als Gegensatz zur höfischen Lyrik Natürlichkeit zugeschrieben wird. In Übereinstimmung damit läßt sich an einigen Stellen ablesen, daß volkstümliche Dichtung vor allem durch Mündlichkeit und Gemeinbesitz geprägt zu denken sei. So bezeichnet Nadler die Mundart als sichtbarstes Zeichen des Volkstums und die schriftlich nicht festgehaltene „Kunst der Urstämme“ als volkstümlich.107 Allerdings kann Volksdichtung ebensogut dem Volk entsprechende Dichtung meinen, da andernfalls das (zum Teil verschriftlichte) Volksstück nicht im Rahmen der von Nadler beschriebenen sozialen Bewegung vom Bürger zum Bauern hätte übergehen können.108 Diese Deutung der Volksdichtung als dem Volk entsprechend – was durchaus auch —————— 104 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 260f. In einem Schreiben an August Sauer begründet Nadler dies damit, daß die gesamte Nürnberger Volksliteratur auf dramatische Elemente zurückgehe „...und so folgere ich, daß alles ist der Ausdruck des bairischen Elements.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-56, München 12. 5. 1911. Hier wird also nicht aus dem Vorhandensein eines Stammes auf die diesem Stamm gemäße Literatur geschlossen, sondern das Vorhandensein gewisser Literaturelemente auf die Herkunft der Vertreter der Literatur zurückgeführt. 105 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 147. Die Literatur sei hier vor allem vom Bürgertum getragen, worden, etwa in Form von Reimchroniken und historischen Liedern. 106 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 35. Ebd. auf S. 73 beklagt Nadler überdies, daß durch die Exklusivität der höfischen Dichtung des Rittertums die Literatur „aus dem Herzen der Nation gerissen“ worden sei, also aus dem Volk. 107 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 76 sowie 1913, S. 350 und 1912, S. 201. Außerdem wird etwa das Nibelungenlied in einem eigenen Abschnitt dezidiert dem „österreichischen Volk“ zugeordnet; ebd. 1912, S. 151-161. 108 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 190. „Volksdichtung“ ist damit bei Nadler nicht einzig an den Bauernstand gebunden.
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impliziert, daß unterschiedlichen Stammesvölkern unterschiedliche Dichtung entspricht – kommt Nadlers Intentionen wohl am nächsten, da sie zusätzlich die Unterscheidung zwischen Kunst- und Volksdichtung einschließt. Diese Unterscheidung kann in der „Literaturgeschichte“ solche Bedeutung erlangen, daß sie sogar den Beginn einer neuer Bewegung auszulösen imstande ist, wie etwa in Schwaben aus Abwehr gegen den alles umgreifenden Klassizismus die schwäbische Restauration dem Volk und der ihm gemäßen Dichtung wieder zu ihrem Recht verholfen habe. 109 Obwohl Nadler die Volksdichtung vor der Kunstdichtung favorisiert und das Prädikat „echter Dichter“ nur jenen Literaten verleiht, die seinem Empfinden nach auch volksgemäß dichten konnten,110 wird jedoch die Aneignung einer Bewegung durch das Volk nicht in jedem Fall als positiv empfunden. Bezeichnenderweise wird dann allerdings nicht mehr von „Volk“, sondern von „Masse“ gesprochen,111 die generell in Nadlers Konzept für die Verminderung geistiger und künstlerischer Qualitäten steht. Denn beispielsweise beklagt der Literaturhistoriker gleichzeitig mit der Bestätigung der demokratischen Implikationen der Einführung des Buchdrucks und des folglich gestiegenen Einflusses des Schrifttums die damit verbundene Abnahme der Qualität der Bücher wegen der zunehmenden Ausrichtung auf das Publikum und den Handel.112 Nadler verfolgt demnach soziale Entwicklungen und die damit verbundenen Veränderungen der Literatur nicht nur, sondern er verbindet damit stets auch Wertungen: eine Dichtung ist dann am besten, wenn sie volksgemäß ist. Die Beschreibung der landschaftlichen Differenzierung der höfischen Dichtung um 1200 nach sozialem Aufbau legt es überdies nahe, auch das Kriterium der Standesgemäßheit hinter Nadlers Ausführungen zu vermuten. Ein Dichter hätte demgemäß seinem durch die ererbten Eigenschaften festgelegten sozialen Stand entsprechend zu handeln und zu schreiben. Es sei an dieser Stelle nochmals an die Darstellung der Auswanderung von Dichtern erinnert, deren sozialer Status von jenem der übrigen Dichter innerhalb einer Landschaft abwich. In einem solchen biodeterministischen Ansatz bleibt für die Berücksichtigung soziologischer Faktoren letztlich nur wenig Platz – das „Litera—————— 109 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 288. Zudem sei dieser Vorgang Hand in Hand mit einer Hinwendung zur Mundart gegangen. 110 z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 168 et passim. 111 Vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 176 zur mystischen Geißelbewegung. Vgl. auch 4.4.3.2. 112 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 201f. Dasselbe wird der „Großstadtliteratur“ in Hamburg im 18. Jh. attestiert, die, „stark von wirtschaftlichen Begierden getrieben“, „künstlerische Bemühungen oft zuschanden“ gemacht habe; ebd. 1913, S. 344.
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turmilieu“ wird bei Nadler gleichermaßen vom Stamm (der „Anlage“) wie vom sozialen Aufbau der Landschaft bestimmt,113 wobei beides auf vererbte Eigenschaften zurückgeführt wird. Nadler beschreibt zwar in Grundlagenkapiteln oft auch sozialen Wandel, aber dies bleibt meist ohne Konsequenzen auf die Darstellung der Literaturentwicklung und der Dichter. Faktoren des literarischen Lebens wie Mäzenatentum, Austausch zwischen Höfen, Buch- und Zeitschriftenwesen, werden zwar immer angeführt, erlangen aber keine konzeptuelle Bedeutung. Der soziale Aufbau einer Landschaft ist für Nadler in erster Linie ein weiteres Differenzierungskriterium, das einerseits die unterschiedliche Entwicklung von ethnographisch gleich besiedelten Gebieten oder Städten erklären kann und andererseits als ausschlaggebend für ähnliche Vorgänge in einander stammlich fremden Landschaften genannt wird.114 Wo der soziale Rang an ererbte Eigenschaften gebunden wird, können Facetten des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen und soziale Aspekte der Literaturgeschichte nicht in den Blick kommen. Nadlers Ansatz ist in keiner Weise sozialwissenschaftlich, er arbeitet mit den Konzept von Kollektivindividuen mit überzeitlichen Eigenschaften. 4.3.6. Bewegungen, Typen, Analogien Der überwiegende Großteil der von Nadler in die „Literaturgeschichte“ eingeführten „Gesetzmäßigkeiten“ hat seine Grundlage im Stamm als Abstammungseinheit, dessen Stammescharakter sich wie bei einem Einzelmenschen in vorhersagbarem Verhalten in gewissen Situationen äußern soll. Auf diesem Postulat beruht Nadlers These, daß Volkstümer mit gleicher ethnographischer Zusammensetzung gleiche Entwicklungen erwarten ließen.115 Auch die geistigen Bewegungen, welche in Nadlers Konzept die Entwicklung der Literatur als Ausdruck des wachsenden Nationalbewußtseins tragen und denen größere Bedeutung zugemessen wird als Fragen —————— 113 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 127. 114 So entwickeln sich in Nadlers Darstellung die Landschaft Meißen und ihre Hauptstadt Dresden trotz gleicher völkischer Grundlage unterschiedlich, weil das Land „vom Pfarrhaus beherrscht“ wurde; Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 62. Dagegen konstatiert er allen großen Städten mit zünftigem Meistersang gleichen sozialen Aufbau (ebd. 1918, S. 100) sowie verwandte Entwicklung der Schweizer Städte und Hamburg im 17. und 18. Jh. aufgrund ähnlichem gesellschaftlichem Aufbau; ebd. 1913, S. 211. 115 z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 127 und 296.
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der Ästhetik,116 werden von jenen erbbedingten und Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Stammescharakteren abgeleitet.117 Schon das erste Gesetz, das Nadler in der Geschichte der deutschen Literatur wirken sieht, steht in enger Verbindung mit den genealogischen Lehren Ottokar Lorenz’: es besagt, daß neue geistig-literarische Bewegungen stets „an den Grenzen des deutschen Volkes“ ausgelöst würden, „...wo fremde Wesen und eigenes Leben zusammenflossen oder in stetem Kampfe brandeten, auf erobertem Boden, wo sich Glieder aller Stämme zu gemeinsamer Arbeit einigten.“118 Diese Passage erinnert deutlich an die in Anlehnung an Lorenz formulierte These, daß Menschen(gruppen) mit gemischter Abstammung zu raschen Stimmungsumschlägen neigen würden. Für die „Literaturgeschichte“ läßt sich daraus schließen: nur dort, wo durch Mischungen gewissermaßen neue Eigenschaften in die geistigen Anlagen der Menschen eingebracht werden, oder dort, wo auf neu erobertem Boden neue Volkstümer entstehen, können neue Impulse für die Dichtung hervorgebracht werden. Daß die auf diese Weise entstandenen Bewegungen ungeachtet der Mischung mit nichtdeutschen Menschengruppen zur Weiterentwicklung des deutschen Nationalbewußtseins beitragen, bedeutet keinen Widerspruch. Denn aufgrund der Wahrnehmung von Differenzen zu anderen Völkern sei an den Grenzen das Nationalgefühl besonders stark119 – wobei freilich für die Herausbildung des entsprechenden Nationalgefühls in der stammeskundlichen Literaturgeschichte zumindest ab 1918 das „Eindeutschen“ unbedingte Voraussetzung ist. In stammestümlicher Hinsicht werden literarisch-geistige Bewegungen in Nadlers Konzept immer nach ihrem ursprünglichen Ausgangspunkt charakterisiert,120 doch sie sind keineswegs an ihre Ausgangslandschaft gebunden, sondern wirken der stammlichen und sozialen Zusammensetzung jeder Landschaft entsprechend fort. Für diesen Vorgang verwendet Nadler besonders gerne die Metapher einer Wellen- oder Strömungsbe—————— 116 Es müsse Geschichte dargestellt werden, wer die besseren Verse geschrieben habe, sei für die Geschichte eine „interessante Gleichgültigkeit“. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 12. 117 „Wenn sich das Seelenleben des Einzelnen gesetzmäßig vollzieht, was kein vernünftiger Mensch leugnet, warum nicht die geistigen Bewegungen der Völker und Stämme?“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 7. 1. 1911. 118 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 44. Schon in einem Schreiben an August Sauer nennt Nadler dieses Gesetz und fügt hinzu: „Das obige Gesetz [...] haben Sie oft in Ihren Vorlesungen ausgesprochen.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 27. 11. 1910. Damit stellt selbiges keine eigenständige Entwicklung Nadlers dar, wenn er es auch in neuer Weise begründete. 119 Vgl. z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 191: die Baiern hätten „an den Grenzen des nationalen Lebens“ ihren literarischen Drang, der bereits um 1500 zur Entwicklung eines nationalen Lustspiels führen zu wollen schien, besonders betont. 120 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 265.
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wegung, die nach und nach zur Ruhe gelangt, aufgesogen wird oder austrocknen kann, solange sie nicht von kreuzenden Einflüssen zerrissen wird.121 Derartige Verläufe werden allerdings nicht in erster Linie mit der abnehmenden Kraft einer Bewegung auf ihrem Weg durch die Landschaften erklärt – es ist durchaus möglich, daß eine Bewegung anderswo ebensolche Durchschlagskraft erreicht wie in ihrer Ursprungslandschaft –, sondern sind mit der die Vorstellung verknüpft, daß alles, was seinen Höhepunkt erreicht hat, aus der Bewegung ausscheidet.122 Das Ende einer Bewegung gehe in folgender Weise vor sich: die reine Bewegung entarte und teile sich in ihrer Entartung in zwei Stränge. Einer von ihnen führe zur Auflösung der Bewegung durch Übertreibung ihrer Merkmale, der zweite zu ihrer Regeneration, meist über den Ausgleich mit einer jüngeren Bewegung oder die Erneuerung der Grundlage der reinen Bewegung.123 Beide Stränge dieses Entartungsvorgang werden jeweils durch Dichtertypen repräsentiert,124 wie Nadler generell Bewegungen über Typen charakterisiert. Beispielsweise fungiert H.J.C. Grimmelshausen als Repräsentant des fränkisch-alamannischen Stammesausgleichs,125 der nach dem 30jährigen Krieg die Bewegung der Franken und Alamannen auf die Klassik zu erneuert habe. Weit häufiger werden allerdings Dichter als Typus nicht einer Bewegung, sondern ihres Stammes oder ihrer Landschaft erachtet126 und —————— 121 Speziell der Abschnitt „Neuland“ in Band 1 weist zahlreiche dieser Metaphern auf. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 89-98. Ein Beispiel für eine zerrissene Bewegung findet sich ebd. S. 106. 122 Nadler bezeichnet es als „geschichtliche Notwendigkeit“, durch künstlerische Gestaltung eine „...seelische Ablaufsweise mit ihrem Inhalt zur höchsten Frucht zu bringen und damit aus der fließenden Bewegung auszuscheiden.“ Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 409; ähnlich S. 422: Stoffe und Gestalten leben nur so lange, bis sie endgültig gestaltet seien. 123 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 7. 1. 1911. Zugehörig zu zweiterem Fall bemerkt Nadler, alte Quellen würden dort aufrauschen, wo die Geschlechter müde geworden seien. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 128. 124 Im Falle der Mystik z. B. stehen Johannes Tauler für den Ausgleich und Heinrich Seuse für das „Übermaß“, also die Auflösung durch Übertreibung. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 179. Die alamannische Empfindsamkeit hingegen „heilte sich“ in dem Zürcher Johann Kaspar Schweizer „zu Tode“; ebd. 1913, S. 256. Und Friedrich Nicolai „...war die ewigtypische Erscheinung im Gefolge alles Großen, die Aftervernunft...“; ebd. 1918, S. 166. 125 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 192-195 und S. 197. 126 Walther von der Vogelweide etwa war „ganz sein Land, sein Stamm, seine Zeit“ Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 141. Johann Fischart, dem sogar ein eigener Abschnitt gewidmet wird, ist Repräsentant der Widersprüchlichkeit des Elsaß; ebd. S. 320-325. Die Brüder Jacobi seien sogar „[s]o ausgeprägte Rheinfranken, daß sie uns den Schlüssel bieten, um aus Brentano, dem Volksfremden und aus Heine, dem Rassenfremden das Rheinfränkische herauszulesen.“; ebd. 1913, S. 416.. An Josef Görres’ Bildungsgang als „typischen, allgemeingültigen Einzelfall“ wird wiederum die Abkehr des gesamten Rheintals von der französischen Revolution festgemacht; ebd. 1918, S. 251.
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auch im Falle Grimmelshausens sind letztlich seine fränkische Abstammung und sein Festwurzeln im Alamannischen ausschlaggebend dafür, daß er die Ausgleichsbewegung zwischen diesen beiden Stämmen voranzubringen imstande war. Durch diese Typisierungen innerhalb der „Literaturgeschichte“ besteht jedoch die Gefahr von Umkehrschlüssen, denn an keiner Stelle findet sich eine von einzelnen Personen unabhängige Analyse zur Feststellung eines solchen Typus. Im Endeffekt werden die Züge der Stammescharaktere ebenso wie jene der Bewegungen ohne Grundlage vorausgesetzt. Symptomatisch dafür sind die Ausführungen Nadlers zum von ihm angenommenen niedersächsischen Element der Faust-Gestaltungen, die aus der Sage von Thedel geflossen seien. Diese niedersächsische Sage erzählt von einem Wissenschafter, der einen Teufelspakt schließt, den Teufel aber prellen kann und in seinem Leben große Verdienste um das Christentum erwirbt. Nadler bemerkt zu dieser Gestaltung des Stoffes: „Wie echt niedersächsisch, wenn Annette Droste-Hülshoff ein Typus ist!“127 Der niedersächsische Typus wird hier von einer Dichterin „abgeleitet“, die weit nach der Zeit um 1550 und noch länger nach der erstmaligen dichterischen Gestaltung der betreffenden Sage (um 1350) gelebt hat und dennoch wäre die Sage nur echt niedersächsisch wenn Droste-Hülshoff einen solchen Typus verkörpert. Daran wird die Beliebigkeit des Nadlerschen Typusbegriff deutlich und die Annahme, Charakterzüge von Bewegungen und Stämmen würden von einzelnen Dichtern gewonnen und nicht die Charakterzüge einzelner Dichter gemeinsamer Abstammung oder gar ihrer Werke würden zu einem Stammescharakter destilliert, gestärkt. Einzige Gewährleistung für die „Wirklichkeit“ oder „Echtheit“ eines Typus ist in Nadlers Konzept die Abstammung von entsprechenden Ahnen128 – wobei schon den Ahnen ihr Charakter zugeschrieben und nicht analytisch abgewonnen wird. Mit der Feststellung von Typen folgt Nadler einer innerhalb der Germanistik seiner Zeit recht verbreiteten Vorgehensweise – man denke an Oskar Walzel – und in einem weiteren Punkt schließt er sogar an die Philologie an, indem er auf ihre Weise mit Analogieschlüssen zu arbeiten beginnt. Besonders hilfreich erscheinen ihm diese für die älteren Zeiten mit spärlichen Quellen: Ich denke mir, man sollte für die Probleme des 9. – 13. Jahrh. analoge Probleme in bekannten lichterfüllten Zeiträumen suchen, im 19, 18, 17. Jahrh. u. sie so zu lösen suchen. Analogieschlüsse bleiben es doch, u. anders können auch die Philologen nicht arbeiten. Auch das hat ja alles Scherer schon gedacht; aber sie reden
—————— 127 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 245, Hervorhebung IR. 128 Albrecht Friedrich Mellemann etwa ist ein „wirklicher Berliner“, da er aus einer Berliner Familie stammt. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 154.
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immer von ihm u. auch denkt keiner dieser Philologen seine Gedanken zu Ende.129
Die Anspielung auf Scherer betrifft dessen Ansetzung von Blütezeiten der deutschen Literatur um 1200 und 1800, die Nadler in sein Konzept mit dem Zusatz übernimmt, daß sich zu diesen Zeiten die Literatur in den gleichen Landschaften bewegt habe bzw. daß die gleichen literarischen Kräftespiele in Deutschland geherrscht hätten.130 Nadler nähert sich den literarischen Entwicklungen der älteren Zeiten zwar in Form von Analogieschlüssen, doch wenn bei deren Anwendung eine Anbindung an Karl Lamprecht und Ottokar Lorenz erfolgen kann, ist der Literaturhistoriker rasch geneigt, anstelle von Analogien von Gesetzen zu sprechen: Ich glaube [...], daß die Analogie die uns bisher zur Feststellung von Einflüssen diente, nicht mehr diese Rolle spielen wird. Wir werden dem Gesetzmäßigen einen ungleich größeren Anteil zuweisen müssen u. also sagen, dieser hat dieses Motiv, diese Lösung etc. von anderen nicht deswegen, weil er sie bei ihm kennen lernte, sondern er kam von selber darauf, weil bei b die gleichen inneren, landschaftlichen, stammestümlichen Bedingungen vorlagen wie bei a.131
Nadler meinte offensichtlich, mit der Lorenzschen Genealogie gleichen Erscheinungen zu unterschiedlichen Zeiten gewissermaßen eine empirische Grundlage gegeben zu haben, die den wissenschaftlichen Wert seiner Beobachtungen über jenen von reinen, auf Ähnlichkeiten gegründeten Analogieschlüssen hinaushebe. Eine spezifische Verbindung von Scherers analogischem Blütezeitkonzept, Lamprechts Entwicklung des Nationalgefühls in Stufen und Ottokar Lorenz’ Abstammungskonzepten nimmt Nadler in seinem Romantik-Konzept vor (vgl. Abschnitt 4.4.2.2.). Als zentraler, ebenfalls gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegender Mechanismus, der sowohl Typen als auch Bewegungen, (Teil)Stämme und Orte (bzw. die durch sie repräsentierten Landschaften) umfassen kann, erscheint in der „Literaturgeschichte“ die Wechselwirkung zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Diese bleibt jeweils einige Zeit lang bestehen, bis die Differenzen in einer neuen Bewegung ausgeglichen werden. Der gesamte stammeskundliche Ansatz wird von solchen Antagonismen beherrscht. Sie strukturieren nicht nur den Text, sondern lassen auch ihre über die Darstellung der Literatur hinausgehenden Implikationen erkennen. Und so lassen sich anhand der Analyse dieser Antagonismen weitere wichtige Facetten von Nadlers Werk erfassen. —————— 129 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-53, München 26. 1. 1911. 130 Zentrum ist jeweils Thüringen. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 87 und S. 143. 131 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-60, München 13. 7. 1911.
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4.4. Antagonismen Schon bei der Niederschrift des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“ war Nadler davon überzeugt, daß ein Gesetz der Literaturgeschichte „die Duplicität der deutschen Literatur“ sei.132 Als Beispiele führte Nadler in der entsprechenden an August Sauer gerichteten Briefstelle zwar anders als später im Lauftext der „Literaturgeschichte“ nur Dichterpaare an (die wichtigsten sind Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach, Wieland und Klopstock, Goethe und Schiller); mit Duplizität meint Nadler jedoch keineswegs doppelte Erscheinungen von ein und demselben Typus. Vielmehr repräsentieren ihm die jeweils Genannten gegensätzliche Pole, entweder als ausgeprägteste Varianten an den beiden Spektralenden einer Bewegung oder als Repräsentanten zweier gegenläufiger Bewegungen. In der „Literaturgeschichte“ formuliert Nadler, die deutsche Literatur „fließe“ immer „zwischen zwei Polen“.133 Eine solche Typisierung zweier gegensätzlicher Pole kann auch auf Orte angewandt werden, etwa: „Kassel und Köthen sind das ewige deutsche Paar von Sammelpunkten, das um 1600 nur ein augenblicklich landschaftlich bestimmter Ausdruck der beiden wechselnden fränkischswebischen Pole ist...“.134 An diesem Zitat wird wiederum deutlich, daß es sich in letzter Instanz immer um stammliche Gegensätze handelt. Allerdings ist im Laufe der einzelnen Bände der „Literaturgeschichte“ zu verfolgen, daß diese Gegensätze nach dem Ausgleich kleinerer „Duplicitäten“ immer größere Räume umfassen: im ersten Band wirkt sich der Antagonismus zwischen Franken und Alamannen bestimmend aus, im zweiten der Gegensatz zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des deutschen Sprachraums und im dritten sind letztlich die Pole Abend- und Morgenland von maßgeblicher Bedeutung. Die Antagonismen beginnen jedenfalls schon im relativ überschaubaren System der Altstämme bestimmend zu werden. 4.4.1. Das System der Altstämme Unter Einschluß diverser Teilstämme wird die Entwicklung der deutschen Literatur nach dem stammeskundlichen Konzept in ihren Anfängen von vier Altstämmen bzw. deren Stammesverbänden getragen: Franken, Ala—————— 132 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-49, München 30. 11. 1910. 133 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 40. 134 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 150. Ein weiteres Beispiel hierzu ist etwa der „mystische Rollentausch“ der Stadt Heidelberg als wichtiger Ort für den Beginn des östlichen Geisteslebens mit Königsberg, wo wiederum die Klassik eingeleitet wurde; ebd. S. 372.
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mannen, Sachsen und Baiern. Letzteren beiden wird insofern ein Sonderstatus eingeräumt, als sie als „selbstbewegt“ bezeichnet werden.135 Im Erscheinungsverlauf der „Literaturgeschichte“ wird die Sonderrolle dieser beiden Stämme entscheidend vertieft und schließlich im Falle der Sachsen auf ihrer Ungebundenheit durch antikes Erbe begründet,136 während die Baiern durch ihre Teilhabe sowohl an römisch-abendländischen als auch griechisch-morgenländischen Überlieferungen herausgehoben werden. Diese beiden Stämme bilden gewissermaßen den nördlichen und südlichen Pol des deutschen Sprachraums und tragen den Status von besonders ausgeprägten Stammeskulturen. Sie sind allerdings nicht in erster Linie Gegenspieler, sondern voneinander wie von den anderen deutschen Stämmen relativ unabhängige Kräfte, wodurch sie spezifische Leistungen für das wachsende Nationalbewußtsein der Deutschen zu erbringen imstande sind. Dennoch ist diese Konstellation auch in Hinblick auf einen potentiellen Antagonismus zwischen deutschem Süden und Norden in der „Literaturgeschichte“ im Auge zu behalten. Den Hinweis auf eine ähnliche Divergenz zwischen westlichen und östlichen Kräften im deutschen Sprachraum gibt die Darstellung von Franken und Alamannen. Diese beiden Altstämme bzw. ihre Teilstämme liegen zwar geographisch zueinander nicht auf einer West-Ost-Achse, doch ist dieser vor allem im ersten und zweiten Band bedeutende Antagonismus durchaus in jenes größere Schema einzuordnen. Denn laut Nadler wurde erst im Gebiet der östlichen Neustämme „ausgefochten“, was seit dem 13. Jahrhundert „...als gegensätzliche fränkisch-alamannische Sonderentwicklung einer Entscheidung entgegentrieb.“137 Die Stammescharaktere der Franken und Alamannen erscheinen bei Nadler in praktisch jeder Hinsicht als völlig gegensätzlich. Während „dem Franken“ Formgenie und Lyrik zugeschrieben werden, ist „der Alamanne“ Träger des Sprachgenies, des Inhalts und des Romans. Die Franken seien das „Herrenvolk“, Adelige, die allerdings nie ein einigendes Staatsgebilde (dh. mit einem nur aus Franken zusammengesetzten Staatsvolk) zustande gebracht hätten; die Alamannen seien bürgerlich und demokratisch sowie berufene Staatsbildner, wie sich an der Schweiz, in Schwaben und Württemberg zeige.138 Jene Gegensätze werden auch auf die von Nadler zu den wichtigsten Vertre—————— 135 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 148. Der „sächsische Sonderwille“ wird mehrmals betont (ebd. 1912, S. 38) und auch als „Sachsentrotz“ bezeichnet; ebd. 1918, S. 147. 136 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 319f; die Sachsen seien unter den deutschen Stämmen damit die Bewahrer des rein Germanischen, wie es sich etwa im Sturm und Drang ausdrückte. 137 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 8. 138 Siehe zu Form/Inhalt z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 200, 294, 320; 1913, S. 7, 193f, 251, 299; zu aristokratischem Franken/bürgerlichem Alamannen ebd. 1912, S. 103; zu Staatsbildung ebd. 1912, S. 288f; 1913, S. 420, 434, 441.
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tern der beiden Stämme stilisierten Dichter Goethe und Schiller übertragen. Diese aus dem Stamm heraus verglichen geben für Nadler die reinen Typen des Franken oder des Alamannen: Goethe als hochaufragender Einzelmensch und Patriziersohn mit Formgenie, der kühl durch die politischen Wirren seiner Zeit schritt und Schiller als Kind des tüchtigen Bürgertums, als Gedankenarbeiter mit politischen Idealen.139 Mit der Hochblüte der Altstämme im Klassizismus wird der Gegensatz zwischen Franken und Alamannen zwar als aufgehoben bezeichnet, aber für die Darstellung der vorhergehenden Zeitspannen galt ihr Gegeneinanderwirken jedoch generell als das bestimmende Prinzip der „Literaturgeschichte“, wie für Nadler schon Mitte 1911 feststand: Die Auffassung von zwei getrennten Literaturstämmen im 16. Jahrh. wird sich rechtfertigen u. vertiefen. Faust für den Franken u. die Grotesken – Fischart, der Gargantua [–] für den Alamannen sind die symbolischen Kontraste. [...] Das setzt sich fort. Im 17. Jahrhundert „fränkisiert“ sich die Literatur weiter in den fränkischen Kolonisationsgebieten: Schlesien beherrschend, Hamburg, Ostpreußen. Daneben blühen rein fränkische Landschaften nach: Heidelberg u. Hessen. Ausgleich in Anhalt u. Obersachsen. Im 18. Jahrh. konzentriert sich der Stamm dann auf Meißen, der Alamannische auf die Schweiz u. es kommt zur Entscheidung. Das ist die letzte Wirkung aus dem 16. Jahrh. Um 1800 völliger Ausgleich. Jede Sonderliteratur erhält ihre Großen: die Alamannen Klopstock Wieland, Schiller, die Ostpreußen Herder, die Kolonieseite den gemischten Franken-Thüringer Lessing u. wie immer der führende alles verbindende Rheinfranke Goethe. In Schiller und Goethe nebeneinander mag man den freundlichen Abschluß der fränkisch-alamannischen Sonderentwicklung sehen. [...] So ergibt sich seit 1450 als Grundgedanke der Literatur der Kampf zwischen Franken u. Alamannen, während Baiern-Österreich neutral u. nur von beiden beeinflußt sich selbständig entwickelt. Sollte dran wirklich nur die Politik schuld sein? So glaube ich, bin ich wirklich zu historischen Entwicklungszügen gekommen, die in denkbar Realsten wurzeln, in der Erde und im Menschen. Wer mir die Darstellung nicht glaubt, daß im 16. Jahrh. der Franke führt, dem werde ichs statistisch beweisen.140
Wenig überraschend läuft bei Nadler der Ausgleich dieser Gegensätze über stammlich-landschaftlichen Ausgleich. So sei der Pfälzer als Bewohner einer ursprünglich alamannisch besiedelten, aber durch fränkischen Zuzug gewandelten Landschaft zum „fränkisch-alamannischen Doppelwesen“ und somit zum prädestinierten Vermittler zwischen Franken und Alamannen geworden. Außerdem seien der Aufenthalt des Alamannen Schiller in der fränkischen Pfalz sowie des Franken Goethes Zeit im ala—————— 139 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 236-238. 140 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-55, München 4. 5. 1911. Die letzte Bemerkung bezieht sich auf die Tatsache, daß Nadler um 1500 eine fränkische Stammesblüte ansetzt, durch welche der Franke allgemein die Literatur dominiert (bevor der Alamanne verzögert mit seiner Blüte nachfolgt), vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 198.
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mannischen Straßburg einem Ausgleich zuträglich gewesen, bevor die beiden einander in Thüringen (Weimar) begegneten.141 Noch bevor Franken und Alamannen in der Klassik schließlich einen gemeinsamen Weg beschritten hätten, habe sich im Neusiedelland im Osten insofern ein Gleichgewicht zwischen den beiden Stämmen ergeben, als zwar die Franken unter den Kolonisten überwogen, die Alamannen jedoch mit den Sprachgesellschaften über Organisationen zur geistig-literarischen Durchsetzung verfügten, was sich auch im Osten auswirkte. Umso mehr, als sie der Formalität der Franken pietistische Innerlichkeit entgegenhalten konnten.142 Der endgültige Ausgleich der Gegensätze zwischen den beiden Altstämmen sei jedoch – wiederum im Gegensatz zu den Neustämmen im Osten – über die einheitsstiftende Kraft des Rheintals mit seinem (west) römischen Erbe erfolgt.143 Jedenfalls spannt sich auch der Ausgleich zwischen den alamannisch-fränkischen Polen in Nadlers zentrales Konzept eines West-Ost-Antagonismus ein. 4.4.2. West – Ost 4.4.2.1. Altstämme und Neustämme Der Gegensatz zwischen Franken und Alamannen wird bei Nadler also auf einander widersprechenden Stammescharakteren begründet, wobei eine Analyse zur Entstehung ihrer jeweiligen Charakterzüge nicht stattfindet, sondern diese letztlich stillschweigend vorausgesetzt werden. Die Grundlage für die kulturell-geistige Absetzung der Neustämme von den Altstämmen ist in Nadlers Konzept weniger undeutlich, wenn auch ebenso fragwürdig, da der Literaturhistoriker diese Differenzierung auf unterschiedliche Stammesmischungen zurückführt (sowohl mehrerer deutscher Stämme untereinander als auch deutscher mit verschiedenen slavischen Stämmen). Die Darstellung der ethnographischen Zusammensetzung der einzelnen Neustämme nimmt in Band 2 großen Raum ein und schreitet in manchen Fällen bis zur Auszählung von zugezogenen Familien nach deren Herkunft fort.144 Woher die Angaben über die Herkunft der Familien —————— 141 142 143 144
Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 444. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 7. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 239. In der „Literaturgeschichte“ schlüsselt Nadler etwa für die Lausitz und Schlesien die Herkunft von 200 Familien auf (1913, S. 68), für Preußen 100 Familien; ebd. S. 34. Für Preußen folgt Nadler einer Aufstellung, die er für August Sauer noch genauer ausgeführt hatte. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-67, München 28. 6. 1911. Eine gekürzte Fassung dieser Vorgänge ist auch schon in Band 1 zu finden. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 71f.
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stammen, bleibt wiederum unklar. Zudem gilt auch hier, daß Nadler nicht von der nachweisbaren Zusammensetzung der Bevölkerung und deren kultureller Entwicklung Schlüsse auf die „Stammescharaktere“ zieht, sondern die schon zuvor postulierten speziellen Eigenschaften auch in den neuen Siedelgebieten aufzuweisen sucht. In der „Literaturgeschichte“ wird das Bild einer thüringisch-ostfränkischen Besiedlung der Landschaften Lausitz, Meißen und Schlesien gezeichnet, die sich überdies durch ihre geographischen Eigenschaften als Tiefebenen zu relativer literarischer Einheitlichkeit schlössen. Eine Differenzierung dieser Landschaften erfolgt in Nadlers Konzept dennoch, nämlich durch die Vermischung mit unterschiedlichen slavischen Stämmen.145 Altpreußen sei wiederum bereits von den älteren Kolonisationsgebieten Schlesien und Meißen her besiedelt worden und teile damit die fränkisch-thüringische Prägung mit den beiden, während die Mark Brandenburg im Landesinneren vor allem als niederfränkisch und nur an der Küste als stärker niedersächsisch bestimmt beschrieben wird.146 Mehr Wert als auf die Zusammensetzung der neuen Verbände aus Elementen der deutschen (Alt)Stämme legte Nadler bei der Betrachtung der Neustämme auf die beträchtliche Beimischung slavischer Elemente, die er als zentralen Aspekt der spezifischen literarischen Entwicklung des deutschen Ostens auffaßte. Jenes starke slavische Element wird nicht bedauert oder im Vergleich zum deutschen Beitrag abgewertet, sondern vehement als bedeutend hervorgehoben: „Man kann die Ahnentafeln nicht verbessern. Ich halte eine Klärung all der Einflüsse des Blutes, der Umgebung und der Literatur an unserer Ostgrenze für ungleich wichtiger als die Frage, was uns alles über den Rhein und über die Nordsee zugekommen ist.“147 Auch wenn ein Volk, hier die Slaven, in einem anderen Stamm aufgingen, so „...muß ihr Wesen sich in der neuen Verbindung äußern mit derselben Sicherheit, wie versteckte gebundene chemische Elemente...“.148 Die Genese der Neustämme hat man sich aufgrund von Nadlers genealogischer Grundlagenlehre als einen Vorgang vorzustellen, welcher durch die Mischung der deutschen Kolonisten eben nicht nur untereinander, sondern auch mit slavischen Stämmen zunächst eine immense Zu—————— 145 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 3f, 6-8, 67. Schlesien etwa sei polnisch bestimmt, die Lausitz sorbisch-wendisch. 146 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 4, 7, 32. Nadler legte Wert darauf, daß die Preußen Meißner und Schlesier mit sächsischem und niederfränkischem Einschlag seien und richtete sich damit gegen die von manchen preußischen Wissenschaftern praktizierte Betonung der sächsischen Abstammung der Preußen (vgl. 4.4.3.2.). 147 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. IV. Ebd. S. 5f bemerkt Nadler, die Einflüsse des slavischen Grundelementes sollten den Deutschen nicht peinlich sein, wo doch französische Einflüsse ohne weiteres zugegeben würden. 148 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 5.
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nahme an Ahnen bzw. Abnahme des Ahnenverlusts bedeutete. Die Ausbildung neuer Stämme hingegen gründet sich wiederum auf das „Aufheiraten“, also eine auf die Phase der Mischung folgende Beschränkung der Eheschließung auf Bewohner der engeren Landschaft zwecks Verringerung der Ahnenzahl.149 Wie Ottokar Lorenz in einer zu großen Anzahl von Ahnen eine potentielle Gefahr bis hin zum möglichen Auslöser von Revolutionen erblickt, tragen auch in der „Literaturgeschichte“ die ersten Beiträge der Neustämme zur Entwicklung der deutschen Literatur instabile Züge. Die von Nadler auf die spezifischen genealogischen Verhältnisse der Neustämme zurückgeführten Problemfelder entstehen allerdings keineswegs aus der Frage nach der Qualität der ererbten Eigenschaften, sondern aus eher aus ihrer Quantität, sprich der Zahl der Ahnen. Postulierte „slavische“ Züge werden „deutschen“ Eigenschaften nicht untergeordnet, sie seien in Repräsentanten der Neustämme mit slavischen Vorfahren immer nachzuweisen und der „naturgemäßen“ Entwicklung der Literatur nicht eigentlich hinderlich. Doch durch die hohe Anzahl von Ahnen mit verschiedensten Eigenschaften seien der Prozeß der Stammwerdung und die Ausbildung eines Stammescharakters erschwert worden, was auf Kosten der Ausbildung jener für die Dichtung so ausschlaggebenden Stammestraditionen gegangen sei. So entsteht bei der Lektüre von Nadlers Ausführungen der Eindruck, als sei das zeitverzögerte Nachholen der Entwicklung der Altstämme durch die Neustämme in den typischen Kulturstufen nach Lamprecht (vgl. Abschnitt 4.4.2.2.) von weitaus größerer Bedeutung als ein Gegenspiel bzw. Zusammenwirken der in Entstehung begriffenen östlichen Stämme. Die unausgegorenen Stammescharaktere der einzelnen Neustämme finden ihren Ausdruck konzeptuell folgerichtig weniger in einer spezifischen und einheitlichen Stammesliteratur, sondern allenfalls in ihrer besonderen Art und Weise des Nachholens jener von den Altstämmen bereits durchlaufenen Kulturstufen. Generell bleiben in der „Literaturgeschichte“ die Charaktere der einzelnen östlichen Stämme im Vergleich mit den explizit festgeschriebenen Zügen der Altstämme und in ihrem Verhältnis zur gemeinsamen Charakterisierung aller Neustämme blaß. Dies ist jedoch auch darauf zurückzuführen, daß Nadler bei der Darstellung der Dichter in den Kolonisationsgebieten weit mehr Wert darauf legt, Literaten aufgrund ihrer individuellen Abstammungsverhältnisse einzuordnen, als die gemeinsamen Charakterzüge der Dichter einer Landschaft zu destillieren. Letztlich beruht die charakterliche Erfassung der Neustämme allein auf der Tatsache ihrer gemischten Abstammung, wodurch allerdings —————— 149 Vgl. etwa zu Schlesien: „...das neue Volk war deutsch geworden, ein neues Volk mit so viel Ahnen, dem keines im Süden und Westen glich.“ Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 21. Zum „Aufheiraten“ siehe ebd. S. 3.
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eher die fehlende Einheitlichkeit erklärt als eine einheitliche Sicht auf die Neustämme geschaffen wird. Die Darstellung ihrer literarischen Entwicklung muß sich in der „Literaturgeschichte“ also auf die Besonderheiten des neuerlichen Ablaufs der typischen Kulturstufen unter den deutschen Stämmen beschränken. Das Postulat eines zeitverzögerten, durch neue Mischungen und neue Siedellandschaften modifizierten Durchlaufs der geistigen Bahn der Altstämme durch die Neustämme impliziert einen uneinholbaren Vorsprung des Westens in der literarischen Entwicklung bis zur gesamtdeutschen Hochblüte um 1800. Vor 1800 können somit in Nadlers Konzept unmöglich aus dem Osten des deutschen Sprachraums dichterische Innovationen und neue Äußerungen eines wachsenden Nationalbewußtseins kommen. Jeder aus den Neustämmen hervorgehende Literat ist somit bis in die Zeit der Romantik praktisch zum Epigonentum verdammt. Unter dieses Urteil fallen keineswegs nur die Verfasser der ersten literarischen Schritte der Neustämme, sondern mehrere Größen des zeitgenössischen und teilweise auch noch heutigen Kanons der deutschen Literatur sowie in letzter Konsequenz eine ganze geistige Epoche. Zunächst ist Martin Opitz zu nennen, sonst als Schlüsselfigur auf dem Weg zu einem der deutschen Sprache entsprechendem Versmaß gesehen; weiters deutet die Ablehnung Johann Christoph Gottscheds und Gotthold Ephraim Lessings durch Nadler auf seine am wenigsten geschätzte Epoche hin: die Aufklärung. Die Geltung des Schlesiers Martin Opitz wird in der „Literaturgeschichte“ auf den „erwachenden“ Osten beschränkt – konzeptuell folgerichtig, da sich demnach ein neustammlicher Dichter im 17. Jahrhundert auf einer früheren Kulturstufe befand und nichts hervorbringen konnte, was dem Westen nicht bereits bekannt gewesen wäre. Sein hoher Bekanntheitsgrad im ganzen deutschen Sprachraum gründe sich laut Nadler lediglich darauf, daß sein „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624) Aspekte bearbeitete, welche auch im Westen zeitgleich wieder (!) fruchtbar geworden seien. In Straßburg etwa sei man schon um 1500 so weit wie Opitz gewesen und besonders die Alamannen hätten im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts wiederum an diese Traditionen angeknüpft.150 Gottsched mit seiner ostpreußischen Herkunft wiederum wird zur Negativfigur eines „Literaturkampfs“ zwischen Alt- und Neustämmen, der vor allem in den Rahmen eines Gegensatzes zwischen Norden und Süden des deutschen Sprachraums eingespannt wird und deshalb auch an geeigneter Stelle behandelt werden soll (vgl. Abschnitt 4.4.3.1.). Für Gott—————— 150 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 14-17 und 25-27. Ebd. auf S. 167 wird Opitz zudem als „Phantom“ bezeichnet, das „zur Not in Preußen und Schlesien“ „gilt“. Im Gegenzug dazu wird für Dichter der Altstämme öfters die Unabhängigkeit von Opitz betont, z. B. ebd. S. 186 für Rudolf Weckherlin.
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sched gilt in der „Literaturgeschichte“ ebenso wie für Opitz, daß er nur noch eine im Westen bereits vorhandene Bewegung zu ihrer Höhe geführt habe. Lessing wird wie Gottsched zuvor zu einem weiteren Doppelgänger Opitz’ erklärt, nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung von slavischen Ahnen.151 Er [Lessing] gleicht keinem der Großen unseres Volkes [...] nur mit einem Kleineren teilt er so manches, die nüchterne Theorie, das Gefühl, daß mit ihm erst die neue Zeit anbreche, das Aufgehen im Formalen, den Mangel an Empfindung, an hinreißender Unmittelbarkeit, das Kleine und Kleinliche im Urteil über Dichter und Dichtungen, das Philologische und Haften am Wort, das Silbenstechen, das Volkstum, germanisierte Slaven: mit Opitz. Er hat das deutsche Mitteilungsbedürfnis nicht, ihm fehlt jeder Nerv für geschichtliches Empfinden. Daher sein Niederwälzen der Tatsachen durch die Idee. [...] Das sind die Grundlinien im Denken jenes Volkes, das bei seinem Erwachen die Geschichte schon vergeben fand, vor allem des Slaven, der historisch nur mit Auswahl denkt und zum Fanatiker der Geschichte nur dort wird, wo sie ihm scheinbar recht gibt, des Slaven, der unter dem Zwange seiner Idee Wirklichkeiten, Gesetze und Zahlen brutalisiert, wo er kann. 152
Einer der in diesem Zitat angeführten Punkte – das fehlende geschichtliche Verständnis – macht Nadler auch Gottsched und generell den Vertretern der Aufklärung zum Vorwurf. Diese Geisteshaltung wird in der „Literaturgeschichte“ gänzlich auf den Osten des deutschen Sprachraums beschränkt, sie sei eine Lebensform der Neustämme als Reaktion des Verstandes gegen das zuvor überhandnehmende mystische Seelenleben
—————— 151 In dieser Hinsicht ist Nadler weit weniger penibel als in der Trennung der deutschen Stämme, werden doch Opitz polnische und Lessing böhmische Vorfahren zugeschrieben, ohne daß dieser Unterschied Konsequenzen mit sich brächte. 152 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 318. Auf den Nachweis, daß Opitz und Lessing aus slavischen Sippen stammen, verwendete Nadler viel Arbeit; zu Opitz z. B. in ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-59, München 10. 7. 1911. Seine Darstellung Lessings, die sich stark auf eine Abstammung von einer böhmischen Hussitenfamilie konzentrierte, wurde auf Sauers Kritik geändert: „Sofort erbitte ich mir von Habbel die betreffenden Fahnen zurück, um zu retten, was zu retten ist. Es wäre mir furchtbar, wenn ich Lessing verzeichnet hätte. Ich bin ihm zu jeder Genugtuung bereit. Aber es steht alles so sicher vor mir, was ich über ihn schrieb. Ich sah ihn neben Winckelmann u. Herder u. es schien mir wenig, was von ihm auf die Jugend überging, die ihm nie zugejubelt hat. [...] Aber ich wage kein Wort des Widerspruchs. Ich will mildern, will ihm reichlicher zuteilen, was ich ihm vielleicht unter dem Einfluß von Mayr R. „Beiträge zur Beurteilung Lessings“ u. aus Widerspruch gegen E. Schmidt vergötterndes Buch versagte. [...] Ich wollte mit meiner Darstellung Lessings keine Ideale zerstören, aber er war mir seit meiner Gymnasialzeit ohne Wirkungen, während mich von je z. B. von Herder jede Zeile ergriff. Ich bin mir bewußt, daß ich Lessing wohl nie so verstehen kann, wie es möglich ist, wenn man ihn für sich nimmt. Aber innerhalb einer strengen, rein historischen Betrachtung kann er kaum seinen Platz halten.“ Ebd. 414/4-127, München 15. 10. 1912.
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der Siedelgebiete im Osten.153 In Königsberg allerdings hätte die Denkform der Aufklärung durchaus dem dortigen Volkscharakter entsprochen und nach dieser ostpreußischen Stadt sei die Bewegung auch stammestümlich zu charakterisieren und nicht etwa nach Berlin oder Wien. Daß die aufklärerische Bewegung in den Siedelgebieten entstehen konnte obwohl die Altstämme zuvor keine ähnliche Entwicklung durchlaufen hatten, kann in Nadlers Ansatz einer „naturgemäßen“ und „typischen“ Kulturund Literaturentwicklung nun nicht als Leistung gelten, sondern ist vielmehr Zeichen für ein Defizit der Neustämme. Und dasselbe läßt sich als mißlungene Stammwerdung auffassen. Da in Ostpreußen und speziell in Königsberg nicht nur deutsche und slavische, sondern auch baltische, französische und britische Einwanderer aufeinandergetroffen seien und dies zusätzlich in Wellen zu unterschiedlichen Zeiten, hätten die deutschen Siedler „...nie als Stammesgenossen gleichen Blutes die großen Zeiten mythenreicher, sagenhafter Vorgeschichte durchlebt.“154 Dem Volk sei im Gegenteil dazu keine gemeinsame Vergangenheit zuteil geworden und auf diesen stammestümlichen und ethnographischen Verhältnissen des Ostens begründe sich das „traditionsfeindliche, theoretisierende Schaffen aus dem Nichts“, das sich an Gottsched und Lessing zeige. Den Mischungen im Osten, obwohl sie laut Nadler in ihren literarischen Äußerungen in deutscher Sprache ihre vollzogene Stammwerdung gezeigt hätten, wird somit das Fehlen von Tradition attestiert, die in der „Literaturgeschichte“ von so großer Bedeutung ist. Lessing sei „entwurzelt“ und „geschlechtslos“ in allen stammlichen Belangen; Gottsched sei ein „stammloses“ und „unhistorisches“ Wesen; Opitz’ Bedeutung sei „eher Glück“ gewesen und der Osten hätte sich trotz Opitz naturgemäß zu entwickeln begonnen.155 Diese zugeschriebene Geschichtsund Traditionslosigkeit aufgrund der starken Mischung und hohen Ahnenzahl der Neustämme ist bei Nadler wohl auch als Hauptgrund für das letztlich völlige Einschwenken auf die Traditionen der Altstämme in der romantischen Bewegung anzusehen.156 Die Begründung von Tradition erfolgte hier kaum im Zuge der Stammwerdung, sondern sogleich im Zu—————— 153 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 266 und 284. Auch Lessing erscheint als „aus dieser Doppelseele des Ostens geboren; ebd. S. 318. Bis 1650 hätten überdies die östlichen Generationen das 13. und 14. Jahrhundert der Altstämme nachgeholt und der Zusammenbruch der Mystik sei gleich wie im 14. Jahrhundert erfolgt; ebd. S. 85f. 154 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 271. Folgendes direktes Zitat ebd. S. 272. 155 Nadler: Literaturgeschichte 1913, zu Lessing S. 318, zu Gottsched S. 270, zu Opitz S. 27 und 20. 156 Besonders deutlich wird dies an Wendungen wie etwa, daß in Lessing sich alle unromantischen Kulturelemente des Ostens gesammelt hätten und mit ihm gestorben seien. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 356.
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ge einer „Verdeutschung“ als Nacherleben der Völkerjugend der Altstämme, nachdem den Neustämmen eine solche nicht zuteil geworden sei. 4.4.2.2. Klassik und Romantik Nadlers Romantik-Konzept gehört zu den am stärksten rezipierten Aspekten seiner „Literaturgeschichte“, und an ihm treten auch viele der Prinzipien, welchen er in seiner Darstellung folgt, besonders deutlich zu Tage. Gerade bezüglich dieses Antagonismus zwischen Klassik und Romantik ist bisher kaum beachtet worden, daß derselbe sich erst während der Niederschrift des Werks entwickelte und nicht von Anfang an feststand. Dafür lassen sich aus den Briefen an August Sauer wichtige Hinweise gewinnen. So äußert Nadler Ende 1910, als er am Anfang der Niederschrift des ersten Bandes stand: „Der Romantik muß man folgen, wie sie tief landschaftlich differenziert, wie sie in Jena, Heidelberg, Dresden, Frankfurt ([Karoline von] Günderode u. Bettina [von Arnim]) u. in Wien eine andere wird.“157 In Band 3, wo weite Teile der Romantik behandelt werden, findet sich sehr wohl jede dieser Städte in Abschnittsüberschriften, womit der Plan dieser landschaftlichen Differenzierung durchgehalten wurde. Allerdings ergab sich bis zur Niederschrift der entsprechenden Kapitel die Trennung von ostdeutscher Romantik und westdeutscher Restauration: Heidelberg und Frankfurt werden nicht zur Romantik, sondern zur Restauration gerechnet, während Bettina von Arnim als geborene Brentano letztlich ebenfalls nicht der Romantik zugeordnet wird.158 Weitere Hinweise lassen sich aus Nadlers nicht verwirklichtem Plan zu einer „Geschichte der romantischen Lyrik“ gewinnen. Nadler hatte sich bereits in seiner Dissertation mit einem Vertreter der romantischen Lyrik – Eichendorff – beschäftigt und war, bevor Habbel die Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte einforderte, auf die Poesie eben dieser Epoche konzentriert gewesen. Doch in diesen frühen Arbeiten hatte er die Romantik gewissermaßen isoliert als einzelne Epoche behandelt, ohne sie in den größeren Entwicklungszusammenhang der gesamten deutschen Literaturgeschichte zu stellen. Angesichts dieser frühen Spezialisierung darf es allerdings nicht überraschen, daß Nadler zeitlich vorgelagerte Entwicklungen der deutschen Literatur gewissermaßen mit der Romantik im Hinterkopf betrachtete. Dies äußert sich vor allem im ersten Band der „Literaturgeschichte“ in häufigen Vergleichen mittelal—————— 157 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 27. 11. 1910. 158 Auch ihr Bruder Clemens Brentano wird 1910 noch als „Formgenie der Romantik“ bezeichnet (ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-49, München 30. 11. 1910) und im dritten Band der „Literaturgeschichte“ dezidiert aus der Romantik ausgeschieden.
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terlicher Dichter mit Literaten der Romantik bzw. mittelalterlicher Dichtung mit romantischer.159 Letztlich ist davon auszugehen, daß Nadler – der vor dem Beginn der „Literaturgeschichte“ die Romantik schon für sein früheres Vorhaben durchgearbeitet hatte160 – Analogien zwischen dem höfischen Minnesang um 1200 und der romantischen Lyrik nicht vom 13. Jahrhundert aufwärts feststellte, sondern sie von 1800 auf 1200 zurückprojizierte. Jedenfalls stellt Nadler diese Analogie im gleichen Brief dar, in welchem er August Sauer seine Sicht auf die höfische Literatur um 1200 mitteilt: Ferner: die einzige analoge Bewegung zum Minnesang ist die romantische Lyrik. Beide gingen aus einem Kreise ganz gleichartiger Menschen aus, beide trieben eminenten Stimmungsgenuß [...]. Während nun der Pfälzer das künstliche Ergebnis adliger Zucht ist, also gesellschaftlich u. seelisch künstlich gleicherzogene Menschen waren, waren die Romantiker (die älteren) Naturprodukte, zur selben Zeit gleichgestimmt geboren, doch aus verschiedenen Landschaften u. verschiedenen sozialen Sphären. Damit komme ich zur Hauptsache. Die Lyrik des Mittelalters drängt sich in zwei Jahrzehnte: 1190 u. 1250, dazwischen liegen sogut wie keine Dichter. Ihrem Wesen nach stellt sie sich dar als eine ursprüngliche Bewegung, dann Entartung um 1250 u. fast gleichzeitig 1.) Umbiegen (Neidhart, Tannhäuser, Winterstetten, Neisen) 2.) Regeneration mit Walther anhebend Neisens andere Hälfte u. einige Schwaben, Bodenseedichter. Das Schema: Reine Bewegung – Entartung Auflösung: Parodie auf Grund des Volksliedes Regeneration auf Grund des Volksliedes ist ein Typus, ein Gesetz. So stellt sich die romantische Lyrik dar: Frühromantik – Pseudoromantik: Heine Eichendorff Ganz analoge Entwicklung der romantischen Novellen Tieck – Arnim – Hoffmann – die Dresdner ect. der alte Tieck: parodistisch der alte Tieck positiv u. Eichendorff161
In der „Literaturgeschichte“ wird es in Übereinstimmung damit ausgeführt: „Die Frühromantiker waren ein natürlicher Typus, ein Wunder der Natur, ein Kreis von Menschen, zur selben Stunde herangewachsen, im Innersten gleich organisiert und doch Kinder verschiedener Landschaften, sozialer Schichten, Blüten, deren Keim ein Rätsel bleibt.“162 Der Stim—————— 159 z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 79, 100f, 117, 128, 130, 147, 149, 165, 182, 227. 160 „Die Romantik hatte ich für mein geplantes Buch ‚Geschichte der romantischen Lyrik’ vollständig durchgearbeitet, vieles reif zur Niederschrift, das kostet mich nicht viel Arbeit.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-66, München 26. 7. 1911. 161 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-52, München 7. 1. 1911. 162 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 100.
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mungsmensch des späten 12. Jahrhunderts sei hingegen ein Kunstprodukt gewesen, Ergebnis langer adeliger Zucht, Söhne desselben Stammes und derselben Landschaft. Entscheidend ist hier, daß Nadler das „Rätsel“ des gemeinsamen Keimes der Frühromantiker bis zum Druck des ersten Bandes, also Mitte 1911, nicht gelöst zu haben angab. Im Juli 1911 allerdings kam Nadler seiner späteren Lösung bereits sehr nahe, bezeichnenderweise bei der Bearbeitung jenes Dichters, den er als ersten Träger romantischen Gedankenguts erachtete: Jakob Böhme.163 Nadler lehnte es ab, die Grundlagen der Romantik allein in geistiger Hinsicht auf Plotin und die Neuplatoniker zurückzuführen und ergänzt: Es gibt Grundideen, die allgemein sind wie Licht u. Luft, wie das Einmaleins, die unmittelbar aus der Natur heraus von gleich gestimmten Geistern der verschiedensten Zeiten u. Länder in gleicher Weise erkannt werden müssen, weil wir alle auf einer Erde leben, eines Fleisches sind u. eines Geistes. [...] Lamprecht glaubt u. ich auch, daß jedes Volk eine typische Stufenleiter im Verhalten seines Geistes zur Welt durchmachen muß (Konventionelles Seelenleben ect.). Daraus folgt, daß die Neustämme des Ostens, da sie erst seit c. 1550 in das gemeinschaftliche Leben erwachen so beginnen müßten, wie die Altstämme, Böhme also wie die Mystiker. 164
Ende desselben Monats sind schließlich die wichtigsten Punkte des Romantik-Konzepts ausformuliert: Gerade die Romantik läßt sich restlos aus den Stämmen ableiten, nur muß man stets bedenken, daß die stammestümlichen Zusammenhänge aus den ersten Ursprüngen einer Bewegung bewiesen werden müssen, nicht aber, wenn der Verlauf schon weiter gediehen ist. Zur Erklärung dieses romantischen Ursprungs aus gewissen Stämmen folgendes: 1.) Seit Lamprecht ist es klar, daß jedes Volk gewisse typische Stufen seines Seelenlebens, seiner Stellung zur Welt durchmachen muß, wie jeder Greis einmal Kind, Knabe, Jüngling u. reifer Mann war. Daraus ergibt sich, daß kein Volk eine dieser Stufen völlig überspringen kann. 2.) Folgende Tatsachen. Die ersten Träger romantischer Ideen u. Stimmungen waren: Jacob Böhme, der seinen Namen nach wohl aus Böhmen stammte ebenso wie die Nürnberger Behaim. In den Braunsberger Ratsakten wird 1391 ein Jakob Böhme aus Böhmen genannt. Angelus Silesius war der Sohn eines Polen. Hamann kommt aus Schlesien, Mohrungen, Herders Heimat liegt in der schlesischen Landschaft Ostpreußens, die im Süden durch die Sprachgrenze, im Westen durch die Marienburg (Eichendorff!), im Osten durch Hindenburg eingeschlossen wird u. im Norden fast bis an die Küste reicht. Schenkendorfs Ahne war in Schlesien begütert (darüber muß ich mich noch orientieren) die Schlegel kamen
—————— 163 Schon hier werden diese romantischen Gedanken an das Erzgebirge als erst kurz besiedeltes Gebiet gebunden: was die Nation später romantisch genannt habe, das magische Bangen, sei von hier ausgegangen. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 219. 164 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-60, München 13. 7. 1911. Hervorhebungen im Original. Böhme ist auch als Erbe des 14. Jh. in die „Literaturgeschichte“ eingegangen: 1913, S. 79.
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aus Meißen (daß sie aus Ungarn stammen ist wohl nur ein dictum?). Wie es mit den Hardenberg ist, das ist mir noch nicht klar. Soviel ist aber schon jetzt sicher, daß die Urbewegung der Romantik von den kolonisierten Landschaften des Ostens (Meißnisch + ostfränkisch + thüringisch) ausging. Das waren aber Stämme, die die höfisch-ritterliche Zeit, die „Konventionelle Dichtung“ nach Lamprecht nicht miterlebt hatten, da sie erst im 15. u. 16. Jh. voll entwickelt waren. Sie holten also die erste Klassische Zeit nach u. zweifellos spielte das slawische Temperament mit. Es ist doch auffallend, daß keine Romantische Gruppe aus den Alten Stämmen kam (Franken, Alamannien) Die Schwaben sind keine eigentlichen Romantiker, Brentano ist ein Spätling u. zudem Italiener. Schelling ist ein einzelner u. Hölderlin ist der schlagende Beweis dafür, wie den Altstämmen Romantik mit der eigentlichen Stammestradition dem humanistisch-klassischen Ideal verschmolz. Tieck u. Arnim stammen gleichfalls aus kolonisierten Landschaften. Der Franke u. Alamanne hatte seine Jugend (die Ritterzeit) ausgeschöpft, er strebte in Schiller u. Goethe der Vollendung des humanistischen Ideals zu.165
Die Romantik ist demnach eine Bewegung, die das Nachholen einer für die kulturelle Entwicklung eines Volkes typischen Stufe durch neu entstandene Stammesverbände darstellt. An diesem Punkt findet die lückenlose Zusammenführung der wichtigsten wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers statt: die Kulturstufentheorie Lamprechts wird mit jenem aus den Lorenzschen genealogischen Lehren übernommenen ethnographischen Standpunkt verbunden und die Entwicklung der deutschen Nation zum einheitlichen Nationalgefühl gewissermaßen in zwei Stränge geteilt. Die Genealogie erhält ihre Bedeutung durch den Vorgang der „Eindeutschung“ der Neustämme im Osten, die sich nicht nur aus Kolonisten unterschiedlicher deutscher Stämme zusammengesetzt, sondern zusätzlich unterschiedliche slavische Elemente aufgenommen und in sich verschmolzen hätten. In Band 2 spricht Nadler noch schlicht von einem „Aufgehen“ der Slaven in den deutschen Kolonistenvölkern und die Frage, warum es zu einer „Eindeutschung“ slavischer Elemente und nicht zu einer Slavisierung deutscher Elemente kam, wird nicht ausgeführt.166 Implizit folgt Nadler hier wohl der Ansicht, daß ein kulturell höher stehendes Volk in einem solchen Mischungsprozeß die Oberhand behält, da er den „Fremden im Osten“ attestiert, sie hätten in ihrer Muttersprache noch gar nicht —————— 165 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-67, München 28. 7. 1911. Nadler selbst schreibt „Juni“ als Datumsangabe, was angesichts des Inhalts der vorhergehenden Briefe ein Schreibfehler sein muß – Nadler gibt etwa in diesem Brief an, das Kapitel über Preußen abgeschlossen zu haben, über dessen Niederschrift er in Briefen von Anfang Juli Überlegungen angestellt hatte. Ich folge hier weiters der Numerierung der Nachlaßsammlung der ÖNB, die ebenfalls eine Einordnung für Juli vornimmt. 166 Dieser Ausgang der Vorgänge wird nicht automatisch vorausgesetzt, in Westpreußen etwa habe es starke Tendenzen dazu gegeben, daß „...das Deutschtum willig im Polnischen untergegangen...“ wäre. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 56.
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denken und dichten können und erst nach vollzogener Verschmelzung mit deutschen Siedlern erkannt, daß sie dieselbe Bahn der deutschen Altstämme durchlaufen müßten, um diese kulturell einzuholen. Gleichzeitig gelten in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung jedoch die Kultur der höfischen Zeit und der Mystik als typische Äußerungen jeden neu gesteigerten Völkerlebens, und damit steht der typische Ablauf des Seelenlebens in Stufen nach Lamprecht hier stärker im Vordergrund als eine bewußte Orientierung der Neustämme an der vergangenen Hochblüte der Altstämme.167 Dies wird dadurch unterstrichen, daß in Nadlers Darstellung die ersten nationalen Regungen der Neustämme nicht von deutscher Seite, sondern vom um 1550 auf dem Höhepunkt seiner Macht stehenden Polen her eingeleitet werden, das selbst gerade begonnen habe, diese typischen Stufen zu durchlaufen.168 Besonders deutlich ist in jedem Fall die ethnographische Begründung der Romantik, die letzten Endes auf der spezifischen Mischung deutscher Stämme untereinander unter Einbeziehung anderer, vor allem slavischer Elemente beruht. Die Klassik bleibt in Band 2 im Vergleich zu den Ausführungen zur Romantik in ihrer Entwicklungsgeschichte relativ blaß. Ihre Darstellung scheint Nadler auch keinerlei Probleme bereitet zu haben: „Die Klassik ist, weil wenig Personen einfacher und leichter zu übersehen u. braucht aus der alamannisch-fränkischen Entwicklung nur abgeleitet zu werden.“169 Die Erklärung des Klassizismus der Altstämme lag überdies schon bei der Niederschrift des ersten Bandes für Nadler auf der Hand: er wird als Folge des Erbes des römischen Imperatorentums durch die Germanen aufgefaßt, welches sich immer wieder in Renaissance-Bewegungen äußere. So sei in der (ersten) deutschen Renaissance des 10. und 11. Jahrhunderts die klassische Grundlage der germanischen Kultur mit dem Christentum verbunden worden.170 Ihr sei nach Phasen der Dominanz von Religion, romanischem (französischem) Einfluß, sozialen und politischen Konflikten sowie der fränkisch-alamannischen Gegensätze die „Erfüllung des humanistischen Kulturtraums“171 in der Klassik als dritte Renaissance gefolgt, nachdem die zweite Renaissance im 16. Jahrhundert durch die Reformation abgebrochen worden sei. —————— 167 Vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 92: im Osten ließe sich beobachten „...ein Ablauf des Seelenlebens, der typisch die Ausgangspunkte neuer Völker und neuer Stammeskulturen bezeichnet.“ 168 Die Möglichkeit für eine solche Impulsgebung wird nicht zuletzt an das polnische Element der Schlesier gebunden, doch setzte sich laut Nadler zu dieser Zeit sogar die polnische Nationalliteratur gegen die humanistische Literatur durch – wobei erstere die kulturellen Formen der deutschen Altstämme nachvollzog. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 5. 169 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 414/4-66, München 26. 7. 1911. 170 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 25. 171 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 212.
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Angesichts der Entwicklungslinie der Franken und Alamannen vom 8. über das 12. und 16. bis ins 18. Jahrhundert sei deutlich „...daß eine harmonische Durchbildung antiker und germanischer Kulturelemente das nächste große Lebensziel der Altstämme sein mußte.“172 Die schließlich gelungene Verbindung deutschen und antiken Wesens habe den Weg für eine neue Kultur freigemacht, wodurch die Renaissancebewegungen der Altstämme zu einem Abschluß kommen konnten: Klassik hieß schließlich „...nicht mehr, ein Grieche sein zu wollen, wie es die Griechen waren, das hieß als Deutscher so Mensch sein zu wollen, wie die Griechen in ihrer Art Menschen waren.“173 Die angenommene Prägung der Altstämme durch ihr römisches Erbe war demnach seit dem Beginn der „Literaturgeschichte“ ein grundlegender Aspekt in Nadlers Arbeit, wobei sich die schließliche Beschränkung der Klassik auf den Westen und die Altstämme wohl automatisch aus der Zuschreibung der Romantik an den Osten ergab.174 Die Aufteilung des deutschen Sprachraums nicht nur in Alt- und Neustämme, sondern gleichzeitig in einen weströmisch-germanisch und einen oströmisch-griechisch-slavisch geprägten Teil erfolgte allerdings erst in Band drei – verbunden mit einer konzeptuellen Ausweitung dieser Aufteilung auf Abend- und Morgenland. 4.4.2.3. Abendland und Morgenland Bis zum Erscheinen des dritten Bandes der „Literaturgeschichte“ herrschte in Nadlers Konzept somit die Anschauung, die Neustämme seien durch Mischungen entstandene neue Völkerverbände, die mehr durch ihre Abstammung und die Kulturstufen nach Lamprechts Vorstellung als durch etwaige kulturelle Prägungen ihrer Siedellandschaften bestimmt schienen. So tritt auch in Nadlers brieflichen Äußerungen der Aspekt der Mischung entscheidend für das Romantikertum hervor, wie folgendes Zitat aus dem Frühjahr 1913 belegt: Meine neue Bestimmung der Romantik als der höchsten Kulturform des slavischdeutschen Ostens, als etwas der Klassik historisch paralleles doch etwas Verschiedenes, meine Auffassung der romantischen Heroine als das Ergebnis vielfa-
—————— 172 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 428. 173 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 226. 174 In der „Literaturgeschichte“ findet sich die Zuschreibung Osten – romantisch und Westen – klassisch erstmals im Vorwort zu Band 2; Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 6. Im vorhergehenden Band 1 verbindet Nadler das Konzept der Germanen als legitime Nachfolger des römischen Imperiums zwar mit griechisch-römischen Renaissancebewegungen, aber nicht spezifisch mit den Altstämmen; ebd. 1912, S. 26.
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cher Volksmischung (Brentano = italienisch-deutsch) All die Widersprüche ect. erkläre ich einzig aus der ungeheuren Blutmischung im Osten. 175
Im dritten Band ist zwar die Mischung immer noch von ungeminderter Bedeutung, doch werden zusätzlich weitere Aspekte eingeführt. Zunächst faßte Nadler die Romantik nunmehr als Vorgang der „Verdeutschung der Seele“. Hierbei wird zwar eine „körperliche Eindeutschung“ noch expliziter als zuvor zur Voraussetzung für denselben seelischen Vorgang erklärt, doch die seelische Eindeutschung ist dennoch nicht als automatische Folge der körperlichen zu fassen: Romantik heiße deutsch sein wollen als freie Willenstat.176 Dieser Punkt erinnert an Lorenz’ Ansichten zur Erblichkeit von Anlagen, die erst dann völlig in Eigenschaften umgesetzt würden, wenn das Individuum auch den Willen habe, sie sich anzueignen.177 Bezüglich der Frage, warum sich (zusätzlich zur vorgeblich höheren Kultur der deutschen Kolonisten) in deutschslavischen Mischungen das deutsche Element durchsetzte, könnte demnach das Eindeutschen der Körper gedacht werden als Vererbung der Anlagen zum Deutsch-Werden (wie auch Anlagen zum Slavisch-Werden weitergegeben würden), welche erst durch den Willen, tatsächlich deutsch zu werden, zur Auswirkung gekommen seien. Nadlers weitere Worte lassen die „freie Willenstat“ allerdings rasch verblassen, denn diese wird beschrieben als „...Weihestimmung des Gemüts nach dem Zwange des Bodens und des Blutes“, die zu Recht gemacht hätte, was zuvor die Gewalt des Schwertes und des Pfluges gewesen sei.178 Letztlich erscheint die Romantik als seelisches Nachvollziehen der physischen Verdeutschung, nachdem aus den Neustämmen eine Einheit geworden und das gemischte Blut zur Ruhe gekommen sei. Die „seelische Verdeutschung“ der Neustämme läßt sich damit als das eigene Bewußtwerden ihrer Deutschheit begreifen, was wiederum auf Lamprechts Konzept vom wachsenden Nationalbewußtsein hinweist, wenn auch die „Deutschheit“ bei Nadler untrennbar an Abstammung gebunden wird. Obwohl die Vorstellung des Nachvollziehens typischer Stufen des Völkerlebens immer noch präsent ist, wird nun der Aspekt, daß spezifisch die deutsche Vergangenheit nachvollzogen werden müsse, insofern massiv verstärkt, als nicht der automatische Ablauf der gleichen Kulturstufen angenommen wird, sondern die Romantiker sich nun dezidiert an der —————— 175 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-145, Freiburg 10. 5. 1913. Wie zentral der Mischungsaspekt für Romantikertum tatsächlich ist, zeigt sich an der Nennung Brentanos, der in Band 3 1918, unter dem Abendland/Morgenland-Konzept schließlich der Restauration zugeordnet wird. 176 Zu den „neuen“ Grundlagen der Romantik vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 8f. 177 Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 385. 178 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 9.
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Hochblüte der Deutschen bzw. der deutschen Altstämme orientiert hätten: an der „hohen Zeit der Altstämme“ um 1200 als „höchster Lebensausdruck der Deutschen“, als die „drei Urelemente“ des Nationalen, Klassischen und Christlichen „...in reinster gleichmäßigster Verbindung leuchteten.“179 Das „Projekt“ Romantik habe also durchaus eine Hochblüte bzw. deren Erneuerung zum Ziel, wie auch die Altstämme zur gleichen Zeit im nun ausgereiften Klassizismus zu ihrem geistig-kulturellen Höhepunkt gelangt seien. Ihre Verwandtschaft schöpfen die Bewegungen der Klassik und der Romantik daraus, daß in Nadlers Konzept erstere die Neugeburt der Antike für die Altstämme und zweitere die Neugeburt der Kultur der Altstämme für die Neustämme darstellt. Die Durchsetzung der deutschen Kultur in den Siedelgebieten des Ostens wird im dritten Band außerdem in ein größeres Konzept eingebettet, in welchem die Bewegungen Klassik und Romantik zusätzlich aus ihren „Kulturflächen“ heraus erklärt werden.180 Neben die Erklärung der Differenz zwischen Alt- und Neustämmen aufgrund ihrer unterschiedlichen Stammwerdung bzw. der gemischten Abstammung der Neustämme tritt die Anbindung an abweichende kulturell-geistige Prägungen der Landschaften, die von Alt- bzw. Neustämmen bewohnt werden. Nadler schlägt hierbei einen weiten Bogen über eine Doppelheit der lateinischen und hellenischen Halbinseln, welchen jeweils von Afrika bzw. Asien sowohl Kulturelemente als auch kriegerische Auseinandersetzungen zuteil geworden wären und die nach der Zusammenfassung zu einer einheitliche Kultur wiederum in die Hälften West- und Ostrom zerfallen seien, was zur Herausbildung von Abend- und Morgenland geführt habe. Während es nun nach dem Zerfall der beiden römischen Imperien den Germanen gelungen sei, das Erbe Westroms anzutreten, wären die Slaven daran, eine legitime Nachfolge für Ostrom zu begründen, gescheitert – doch sie blieben in einer griechischen Einflußsphäre. Im Deutsch-Werden der deutsch-slavisch gemischten Gebiete habe letztlich das Abendland über das Morgenland gesiegt und auch die Neustämme erhielten dadurch eine lateinische Prägung. Und erst dieses Umschalten nach Westen habe eine Bewegung zur Erneuerung der Hochblüte der Altstämme um 1200, die Romantik, gebracht. Die politischen Implikationen sind hier allzu deutlich: die Herrschaft der Germanen in legitimer Nachfolge der weströmischen Imperatoren gegenüber den vergeblich nach derselben Legitimität für Ostrom strebenden Slaven hebt unter den beiden „nordischen Völkersippen“181 eindeutig —————— 179 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 9. 180 Zu diesem Entwurf vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 3-7, Zitat von S. 3. 181 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 3. Nadler folgt in der Terminologie hier Kaspar Zeuß, welcher unter „nördliche“ oder „nordische“ Stämme Kelten, Germanen, und Wenden
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die Germanen heraus. Der Grundstein für den Erfolg der deutschen Kolonisten in den Siedelgebieten im Osten sei dementsprechend bereits weit vor dem Beginn der dortigen deutsch-slavischen Konkurrenzverhältnisse gelegt worden. Denn während die Germanen die römische Kaiserkrone erlangt und die Elemente Antike, Christentum und Nationales sich in Westrom in wechselndem Kräftespiel bewegt hätten, anstatt im Gleichgewicht zu erstarren, sei den Slaven lediglich der Wille bzw. das Gefühl geblieben, Rechtsnachfolger Ostroms zu sein. Die „mächtigen Siedeltaten“ der Germanen an der Elbe (die überdies eine Einbindung der Sachsen in den griechischen Kulturkreis verhindert habe), sei somit kein deutsches oder germanisches, sondern ein Weltproblem gewesen, „...ein Würfeln um die Weltherrschaft zwischen Morgenland und Abendland.“182 Nachdem die deutschen Stämme durch ihr „Siedelwerk im Osten“ die Vorherrschaft des Abendlandes durchgesetzt hätten und sie in diesem Konzept als Repräsentanten des Abendlandes gehandelt werden, scheint zwischen der Weltherrschaft des Abendlandes und jener der Deutschen nur noch ein kleiner Schritt zu bleiben – umso mehr, als die nicht deutschsprachigen, aber romanisch geprägten westlichen und südlichen Nachbarn der deutschen Stämme durch ihre Nichterwähnung ausgeklammert bleiben. Die deutschen Stämme entscheiden das „Würfeln“, ihnen kommt in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung somit die Vorherrschaft zu. Umso mehr, als sie durch ihren Territorialbesitz an der Kulturgrenze zwischen lateinisch-deutschem Westen und griechisch-slavischem Osten beide Sphären entscheidend beeinflussen und auch zwischen ihnen vermitteln können sollen. Die Romantik als kulturell-geistiger Ausdruck jenes Sieges des Abendlandes über das Morgenland in den nunmehr unbestritten deutschen Kolonisationsgebieten und die Klassik als nochmalige Bekräftigung der Legitimität des weströmischen Erbes bilden nun die Argumentationsgrundlage für die gemeinsame Hochblüte der Neu- und Altstämme. Dem Nadlerschen Konzept gemäß, daß Bewegungen mit ihrer Hochblüte praktisch beendet sind, bedeutet dies auch das Ende der in zwei Stränge geteilten Entwicklung der deutschen Stämme. Damit entfernt Nadler sich letztlich von Lamprechts Theorie der typischen Stufen, die ein Volk durchlaufen müsse, da die Neustämme zwar die Hochblüte der Altstämme um 1200 —————— [=Slawen] zählt, unter die „südlichen Stämme“ Iberer, Ligurer, Etrusker, Illyrier, Thraker, Makedonier, Griechen, Römer. Die Bezeichnung „nördliche Stämme“ ist allerdings von deren Siedelgebieten in Europa abgeleitet und nicht von deren etwaiger nordischer Abstammung, da Zeuß den ursprünglichen Wohnort dieser Völker „an den vorderen Abhängen Hochasiens“ vermutet. Zeuß: Die Deutschen und die Nachbarstämme, S. III und 52. 182 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 7.
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erneuern, aber die folgenden Stufen der westlichen Stämme bis 1800 überspringen. Dem Literaturhistoriker war also daran gelegen, eine Kultureinheit der deutschen Stämme einführen zu können. Und an dieser Stelle erhält wiederum die Abstammung das Primat vor der Landschaft, denn die unterschiedlichen west- bzw. oströmischen „Kulturflächen“ werden sozusagen durch die Verdeutschung der Kolonisationsgebiete verschoben oder aufgehoben, indem die physische Verdeutschung sich gegenüber der kulturellen Prägung der Landschaft bzw. den konkurrierenden Slaven weitgehend durchgesetzt habe. Allein die vielfältigen Mischungen erhalten den oströmischen Einfluß aufrecht – zumindest latent, da nicht jeder Repräsentant der Neustämme slavische Vorfahren haben muß. Doch für beide Mischungen, unterschiedlicher deutscher Stämme oder deutscher und slavischer Stämme, gilt: aus den Mischungen mußten sich erst neue Stammestümer herausbilden, welche die bisher versäumten Entwicklungen der Altstämme nachzuvollziehen hätten. Aus diesem Grund wendet Nadler sich vehement gegen die Etablierung eines philosophisch begründeten Romantikbegriffs. Indem er gemeinsame geistige Grundlagen („gemeinsamen deutschen Gedankenbesitz“) für Klassik und Romantik postuliert, bleibt seinem Konzept entsprechend nur der Weg, das Wesen der romantischen Kultur entwicklungsgeschichtlich und ethnographisch festzustellen.183 4.4.2.4. Romantik und Restauration Mit der Einführung der Romantik als Hochblüte und endgültige „Verdeutschung“ der Neustämme des Ostens stand Nadler vor dem Problem, wie er jene gemeinhin zur romantischen Bewegung gezählten Dichter in sein Konzept einordnen könne, die aufgrund ihrer Abstammung den Altstämmen zuzurechnen wären, aber nicht als Vertreter der Klassik gelten können. Seine Lösung sieht zwei verschiedene Bewegungsrichtungen vor, nämlich einerseits die Aneignung bisher fremden Geistesguts durch die Neustämme im Rahmen einer auf die Altstämme gerichteten Renaissancebewegung und eine andererseits eine Restaurationsbewegung der Altstämme im Sinne einer Erneuerung eigener, bereits vorhanden gewesener Denkweisen.184 Die westliche, rheinische Restauration stellt somit ein —————— 183 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 196-200. 184 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 5f. Demgemäß sind die auf den Klassizismus gerichteten Bewegungen der Altstämme als Renaissancen zu verstehen, weil diese auf die Kultur eines anderen Volkes zielten; hingegen gilt die Renaissance in Italien bei Nadler als Restauration, weil sie auf die eigene Vergangenheit der Italiener gerichtet gewesen sei.
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Wiedergewinnen der altdeutschen Vergangenheit dar und ist der Romantik somit in ihrer Gerichtetheit auf die Hochblüte der deutschen Stämme um 1200 ähnlich. In Heidelberg schließlich sollten laut der „Literaturgeschichte“ Romantik und Restauration aufeinander einwirken und zusammenfinden, doch begrifflich und historisch stünden Romantik und Klassik einander näher als Romantik und Restauration.185 Denn während in Nadlers Konzept die Romantik eine Aneignung darstellte, die mit Schwärmen und Sehnen nach der deutschen Vergangenheit verbunden war, hätten die Vertreter der Restauration aufgrund ihrer stammlichen Traditionen bereits die geistigen Güter besessen, welche die Romantiker noch erwerben mußten. Aber jene geistigen Güter der deutschen Vergangenheit hätten durch jene Restaurationsbewegung gesammelt, neu geordnet und erforscht werden müssen und aus diesem Grund sei die Restauration schließlich trotz ihrer völlig unterschiedlichen Entwicklung imstande gewesen, der Romantik den Stoff für ihre literarischen Formen zu liefern. Als Initialzündung für die Suche nach der deutschen Vergangenheit durch die Altstämme im Westen werden in der „Literaturgeschichte“ die Kriege im Gefolge der französischen Revolution und die napoleonische Besatzung besonders des Rheintals angesehen. In Verbindung mit der Restauration erhält nun wiederum die Landschaft, deren Einfluß im Laufe der „Literaturgeschichte“ tendenziell abgenommen hatte, einen bedeutenden Anteil am Gang der Entwicklung. In ähnlicher Weise wie die Kulturflächen des Abend- und Morgenlandes wird auch das Rheintal als eine solche von Römern und Kelten geprägte kulturelle Einheit dargestellt, in welche die Rheingermanen eingewachsen wären und die über stammliche Übergänge hinweg ein einheitsstiftendes Element darstelle. Aus dieser Geschichte heraus sei auch die Anteilnahme der Rheinfranken an der französischen Revolution zu erklären. Trotz des wechselnden deutschfranzösischen Einflusses wird das Rheintal in der „Literaturgeschichte“ für die Deutschen vereinnahmt, da dessen landschaftliche Schönheit und volkserhaltende Kraft sich „...jedesmal zur rechten Stunde in Augenbli ken [zeigte], da der Rhein für die deutsche Geschichte ein beziehungsreicher Kraftspender wurde.“186 Diese „Vereinnahmung“ des Rheins für die deutschen Stämme ist umso bemerkenswerter, als die gemeinsame fränkische Vergangenheit des Rheintals an anderer Stelle zur Rechtfertigung Josef Görres’ dienen muß. Görres, einer der wichtigsten Vertreter der Restauration in der „Literaturgeschichte“, trat nämlich 1797 als Mitglied des Jakobiner-Klubs in Ko—————— 185 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 266 und 300. 186 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 239f.
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blenz für ein französisches Rheintal im Verband mit dem Elsaß, Holland und der Schweiz ein.187 Nadler entschuldigt diese seinen Konzepten widersprechende und von Görres später selbst aufgegebene profranzösische Haltung damit, daß ein solcher Länderverband die „Wiederherstellung einer historischen Wirklichkeit“, nämlich der Grenzen Lotharingiens nach 843 bedeutet hätte. Weiters hätte Görres sich nur vorübergehend an Frankreich halten wollen, um anschließend einen eigenen Rheinstaat der Franken herauszulösen. Allein aus dem Argument der Wiederherstellung eines früheren historischen Zustandes erhält Görres Nadlers Zustimmung – gegen die eigene, französische Einflüsse ablehnende Haltung des Literaturhistorikers. Hingegen hätten die „revolutionären Träume“ Georg Forsters seines Erachtens die alte deutsche Kultur des Rheintals zerschlagen, da er als „Sohn des Ostens“ kein Gefühl für dieselbe hätte haben können.188 Im Gegensatz dazu habe Görres richtig erkannt, daß zum Neuaufbau des rheinfränkischen Volkes eine Erneuerung der Vergangenheit notwendig sei. Damit wird in der „Literaturgeschichte“ zur Lösung sozialer Unruhen implizit die (kulturell-geistige) Erneuerung eines früheren, „goldenen“ Zeitalters empfohlen, als würden die Probleme durch die Beschwörung einer Epoche, in welcher eben jene Schwierigkeiten noch nicht vorhanden gewesen waren, verschwinden. In Nadlers Konzept ist dieses „goldene Zeitalter“ zusätzlich konfessionell geprägt (vgl. Abschnitt 4.4.3.3.). Nadlers Konzept der rheinischen Restauration ruht auf relativ dünnen personellen Grundlagen. Zwar bildet er gemäß seiner Vorliebe für „Duplicitäten“ drei Städtepaare der Restauration (Mainz und Koblenz als geistliche Fürstensitze und Brandstätten der Revolution, Düsseldorf und Köln als Ausgangspunkt der katholischen Restauration, Frankfurt und Kassel als Heimstatt der wissenschaftlichen Führer der Restauration), doch die Zahl Vertreter der Restauration ist gering. Aufgrund einer „geheimnisvollen, vieldeutigen Tatsache“ seien allerdings „...die drei bewegenden Schöpfer der rheinischen Restauration, Görres, Brentano und Boisserée, Träger fremdvölkischer Namen alle drei, durch Väter oder Mütter romanischen Blutes.“189 Durch die „gemischte“ Abstammung der Vertreter der Restauration wird diese wiederum in die Nähe der Romantik geschoben, obwohl Nadler selbst in diesem Fall – wohl aus seiner Bemühung heraus, die Restauration von der Romantik abzugrenzen – keine Parallelverbindung zieht. Das personelle Problem löst Nadler, indem er stärker als in anderen —————— 187 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 248. 188 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 241f und 251; Forster war der Sohn nach Preußen geflüchteter Schotten und gehörte der Jakobinerregierung in Mainz an. Nadler kreidet ihm seine Ansicht, Deutschland könnte sich nur mit Frankreichs Hilfe erneuern, an. 189 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 259.
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Partien seines Werks auch Wissenschafter oder Politiker mit einbezieht. Als prominenteste Beispiele hierfür sind die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm oder Karl von Savigny anzuführen.190 Trotz der Bemühungen Nadlers, eine Restaurationsbewegung von der Romantik abzugrenzen, ist die Restauration in seinem Konzept jene Bewegung, in welcher die Alt- und Neustämme schließlich zusammenfinden. Räumlich wird selbige in Heidelberg verankert, wo die Bewegungen aus dem Rheintal und dem Osten aufeinander getroffen seien und in die gemeinsame Arbeit für die geistige Befreiung der Nation mündeten.191 Damit seien die Kämpfe zwischen Romantik und Restauration einerseits sowie zwischen Klassizismus und Aufklärung andererseits letztlich obsolet geworden, weil alle Kräfte sich auf ein Ziel konzentrierten und die Entscheidung darüber längst gefallen gewesen sei. Jener Teil der Romantik, welcher nicht in die Bahnen der Restauration überging, entartete laut Nadler in der überspannten, künstlichen Schwärmerei der Afterromantik. Der Klassizismus der Altstämme habe schließlich in jener Landschaft mit der stärksten klassischen Durchdringung zu einer weiteren Wurzel der Restaurationsbewegung geführt, da in Schwaben in Abwehr des überhandnehmenden Drucks der antiken Kräfte die Hinwendung zu schwäbischer Geschichte und Mundart erfolgt sei.192 Nachdem die Altstämme die Erneuerung der weströmischen Kultur in ihren Renaissancebemühungen vollendet und mit der Romantik die Neustämme in ihrer Hochblüte kulturell an den Westen Anschluß gefunden hätten, zielten alle Bewegungen nun auf die geistige Erneuerung des deutschen Mutterlandes. Der Antagonismus zwischen Westen und Osten ist damit aufgehoben – zumindest für die erste Auflage der „Literaturgeschichte“. 4.4.3. Nord – Süd Neben den ausführlich beschriebenen, in ständiger räumlicher Ausweitung begriffenen Gegensätzen zwischen Osten und Westen lassen sich bei der Lektüre der „Literaturgeschichte“ mehrere Antagonismen in nordsüdlicher Richtung feststellen, die bisher weit weniger Aufmerksamkeit erregt haben als die zentrale Trennung der Alt- und Neustämme in Klassik und Romantik. Jene Antagonismen unter nord-südlicher Spannung resul—————— 190 Diese Vorgehensweise ist zwar durch Nadlers weiten Literaturbegriff gedeckt; dennoch läßt sich der Eindruck nicht verwischen, daß der Germanist sich in manchen Abschnitten mangels dichtender Repräsentanten einer Landschaft den Vertretern der Wissenschaft und Kunst zuwendet. 191 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 296-308. 192 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 288-295.
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tieren vor allem aus Nadlers Bemühungen, den süddeutschen Raum und ganz besonders Österreich im Rahmen einer Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur nachhaltig aufzuwerten. Ein zentraler Teil der Begründungsarbeit wird freilich wiederum über die stammeskundliche Linie geleistet. 4.4.3.1. Süddeutschland und Norddeutschland Der Gegensatz zwischen Alt- und Neustämmen trägt trotz der Betonung der „Siedelgebiete im Osten“ auch eine Wertung zwischen Norden und Süden in sich. Da den Sachsen als nördlichster deutscher Stamm ein Sondertrieb und aufgrund dessen eine Entwicklung in Übereinstimmung nicht mit den Alt-, sondern mit den Neustämmen zugeschrieben wird, tritt ein deutliches Süd-Nord-Gefälle ein. Dasselbe gründet sich auf die implizierte Uneinholbarkeit der kulturellen Entfaltung der Franken, Alamannen und Baiern bis 1800 wegen der verzögerten und erschwerten Stammwerdung der Neustämme. Nadler hält dem politischen und wissenschaftlichen Gewicht Norddeutschlands seiner Zeit auf der Grundlage seines stammeskundlichen Ansatzes einen kulturell überlegenen, aber unterdrückten deutschsprachigen Süden entgegen. Man muß es den Leuten immer wieder mit Keulen auf die Köpfe klopfen, daß wir, die Altstämme, wir Süd- u. Mitteldeutsche die alten Kulturträger sind, daß Deutschland von Stammesfremden, von einem künstlichen, charakterlosen Mischvolk beherrscht werden [sic].193
In der „Literaturgeschichte“ findet dieses postulierte Verhältnis, das sich vor allem auf sprachlich-theoretische Aspekte konzentriert, seinen Ausdruck in der Darstellung der „Leipziger Literaturkämpfe“ Mitte des 18. Jahrhunderts.194 Seine Protagonisten sind die Schweizer in ihrer Konzentration auf eigene Stammestraditionen (wie etwa durch Gründung der „Helvetischen Gesellschaft“ für das Studium der Geschichte der Schweiz zu ethischen Zwecken) sowie Johann Christoph Gottsched mit seinen Anhängern im Bemühen um eine deutsche Nationalliteratur. Prinzipiell wäre von einem Konzept wie dem Nadlerschen, das dem anwachsenden Nationalgefühl zu folgen beabsichtigt, eine positive Wer—————— 193 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-119, München 4. 8. 1912. 194 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 275-295. Überdies verzeichnet Nadler stets, welcher Dichter Süddeutschland positiv oder negativ gezeichnet hätte, z. B. Nicolai habe mit einer zwölfbändigen Beschreibung seiner Reise durch den Süden ein hochmütiges und ungeschichtliches Buch geschrieben, das die (negativen) Legenden über die „tausendjährige Kultur zwischen Rhein und Donau“ einläutete; ebd. 1918, S. 167. Lob des deutschen Nordens bzw. Nordostens wird hingegen oft als übertrieben kritisiert (vgl. 4.4.3.2.).
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tung der Bemühungen Gottscheds um die Vereinheitlichung der deutschen Sprache und des deutschen Theaters zu erwarten. Daß Gottsched in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als Negativfigur gezeichnet wird, ist jedoch bereits in Abschnitt 4.4.2.1. deutlich geworden. Die Ursache dafür ist die Zuschreibung fehlender Stammestradition an die Vertreter der Neustämme (vor 1800), woraus geschichtswidriges Handeln resultiere. Nur als „Sproß einer stammlosen Heimat“, deren Abkömmlinge „...die Tradition wegwarfen, weil sie keine hatten...“,195 habe Gottsched mit seiner „Deutschübenden Gesellschaft“ den Versuch unternehmen können, die Mundarten zugunsten einer (neustammlich-thüringisch geprägten) Gemeinsprache und die nationalen Besonderheiten des Theaters zurückzudrängen. Seine gesamte Poetik sei „ein Verneinen der Hälfte der Nation“ und ein Eroberungszug gewesen, welcher die Altstämme unter den „fremden Geist und Sprachzwang“ der Neustämme hätte bringen sollen.196 Gottscheds „Versuch einer kritischen Dichtkunst“ (1730) wird den Poetiken der Zürcher Johann Jakob Bodmer („Charakter der Teutschen Gedichte“, 1734) und Johann Jakob Breitinger („Kritische Dichtkunst“, 1740) gegenübergestellt. Die Schweizer seien für das Primat des Inhalts vor der Form eingetreten, für den Gebrauch der Phantasie in der Dichtung, die das Wesentliche allerdings aus der Natur zu nehmen habe, und für die Orientierung an englischen Vorbildern. Gottsched habe den Verstand vor der Phantasie bevorzugt, lehrhafte Dichtung, Schönheit aus Ordnung und Harmonie, während vor allem das Theater einem strengen Regelwerk nach dem Beispiel der französischen Klassik unterworfen werden sollte.197 Abseits eines Konzepts der Alt- und Neustämme läßt sich Nadlers Vorliebe für die Poetik der Schweizer kaum argumentieren, da nur der stammliche Untergrund, den der Germanist voraussetzt, eine Wertung der unterschiedlichen literaturtheoretischen Ansätze in seiner Intention möglich macht. Die Schweizer sind in der „Literaturgeschichte“ als Bergalamannen Vertreter der kulturell-geistig bereits höher entwickelten Altstämme, die sich dadurch auszeichnen, auf Traditionen aufbauen zu können, weil sie– in letzter Konsequenz durch Ahnenverluste – bereits über solche verfügen. Gottscheds Ansichten werden als traditionslos dargestellt, weil die Neustämme aufgrund ihrer problematischen Stammeswerdung keine Traditionen hätten, da sie dieselben erst mit Abschluß ihrer Aneignung der altstammlichen Entwicklungen erwerben würden. Dies alles dient Nadler dazu, eine geistige Überlegenheit der Altstämme zu —————— 195 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 272. 196 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 267-269. 197 Zu Bodmer und Breitinger Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 237f, zu Gottsched 268f.
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behaupten, welcher die „politische Wirklichkeit“, daß die Neustämme mit ihren 300 Jahren Bestand und 100 Jahren eigener Kultur die Altstämme mit ihrer tausendjährigen Tradition an die Wand drücken würden, schließlich als Unrecht erscheinen lassen.198 Gottscheds Bemühungen um allgemein verbindliche Normen für deutsche Sprache und deutsche Dichtung werden durch den Vorwurf des Übergehens stammlicher Traditionen als versuchter Bruch mit der naturgemäßen Entwicklung abgewertet.199 Nadler verfolgt allerdings nicht nur das Argument der fehlenden Tradition der Neustämme bzw. ihres Vertreters Gottsched, sondern kritisiert zusätzlich das Anknüpfen an „fremde“ Traditionen – im konkreten Fall an französische. Denn nicht zuletzt wird die Auseinandersetzung zwischen Gottsched und den Schweizern auch im Rahmen der Frage nach französischen und englischen Einflüssen gezeichnet. In der „Literaturgeschichte“ läßt sich verfolgen, daß zumindest ab dem 2. Band der englische Einfluß favorisiert wird, während eine Orientierung an Frankreich zunehmend negative Bedeutung erhält. Bei der Behandlung der mittelalterlichen Literatur waren entscheidende literarische Impulse aus französischen Bewegungen noch relativ neutral behandelt und besonders die Rolle des Rheintals als kultureller Verkehrsweg hervorgehoben worden.200 Später häufen sich allerdings Ressentiments gegen alles Französische, während die Aufnahme englischer Einflüsse stets Lob erfährt. So auch die Schweizer, die (gemeinsam mit den gesellschaftlich ähnlich strukturierten Bewohnern Hamburgs) „natürlichen Anschluß“ an jenes Volk suchten, „...das in England, ein kleines Häuflein, aus gegensätzlichen Elementen eine große germanische Rasse geschaffen“ habe.201 Der Osten hingegen habe unter französischer Führung die Zukunft der deutschen Literatur sichern wollen, an anderer Stelle spricht Nadler sogar von einem „slavisch begründeten Zusammenhalten“ der Neustämme mit den Franzosen.202 Worin die besondere Affinität der Slaven zu den Franzosen bestehen soll, wird nicht ausgeführt; doch die besondere Betonung der Slaven läßt jedenfalls nicht den an sich naheliegenden Schluß zu, die Orientierung des Ostens an den Franzosen sei eine Folge des Nachvollziehens jener Kul—————— 198 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 274. 199 Ähnlich ist die Lage mit Lessing und seinem Versuch, in Hamburg ein deutsches Nationaltheater zu etablieren. Dies sei höchstens ein Stammestheater gewesen, da Lessing die reiche bairische Theatertradition mißachtet habe. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 341. 200 Die höfische Lyrik und die Mystik werden auf französische Vorbilder zurückgeführt, wenn Nadler auch betonte, daß deutsche Dichtungen nach französischen Vorlagen stets eigene Ideen und eigenes Leben hätten und die französische Art somit nur oberflächlich blieb. Vgl. z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 73, 77, 121. 201 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 212. 202 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 212 und 203.
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turstufen der Altstämme, welche noch von größerem französischen Einfluß gekennzeichnet gewesen waren. Die Gründe für Nadlers Ablehnung der Franzosen bleiben undeutlich, da sich auch eine über einen „germanischen Zusammenhalt“ der Angelsachsen mit den übrigen deutschen Stämmen laufende Erklärung nicht annehmen läßt, weil in Frankreich ebenso Teile eines erst später deutschen Stammesverbandes, nämlich der Franken, aufgingen.203 Angesichts der Tatsache, daß dieser Themenbereich in den Abschnitten zur Schweiz und dem daraus resultierenden Literaturkampf mit Gottsched eingeführt wird, liegt als Grundmotiv der Konflikt zwischen französischem und deutschem Nationalismus in der Schweiz nahe. Mit Ausblick auf den weiteren Verlauf der „Literaturgeschichte“ scheint die Ablehnung der Franzosen allerdings in erster Linie auf deren Vorreiterrolle im Denken der Aufklärung zu beruhen, das in der französischen Revolution gipfelte, also im gewaltsamen Umsturz einer aus Traditionen und Geschichte gewachsenen Gesellschafts- und Staatsform. Interessanterweise werden auch die von unterschiedlichen Seiten beeinflußten Poetiken der „Leipziger Literaturkämpfe“ nach moralischen Maßstäben beurteilt: während Gottsched mit den Franzosen die Meinung vertrat, der Mensch werde sittlicher, wenn es die Kunst sei, hätten sich die Schweizer die englische Ansicht zu eigen gemacht, Dichtung sei dann sittlich, wenn der Dichter es wäre.204 Insgesamt wird deutlich, daß Nadler eine seinen Vorstellungen entsprechende Literaturtheorie über stammeskundliche Argumentation, nämlich die vermeintliche Traditionslosigkeit der Neustämme bzw. der Preisgabe der Traditionen in der Aufklärung durch die Franzosen, zu propagieren versucht. Der Antagonismus zwischen Nord- und Süddeutschland in der „Literaturgeschichte“ ist ein Versuch der Aufwertung des deutschsprachigen Südens über höhere Kultur, größeres Traditionsbewußtsein und moralische Ansprüche, welcher über das Konzept von Alt- und Neustämmen den Status empirischer Nachweisbarkeit erhalten soll. 4.4.3.2. Österreich und Preußen Im November 1910, als Nadler August Sauer über die ersten Arbeitsschritte zur „Literaturgeschichte“ berichtete, schrieb er an seinen Lehrer: „Das Recht und die Ehre Österreichs wahre ich überall energisch, es ist —————— 203 Vgl. etwa in 4.4.2.4. das von Nadler gutgeheißene Ziel Josef Görres’ zur Errichtung eines Rheinstaates unter Vereinigung aller Franken. 204 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 223. In Zürich habe man sich überdies aus (nicht näher ausgeführten) „moralischen Gründen“ den Engländern zugewandt; ebd. S. 233.
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empörend, wie brutal diese Landschaft, die durch Jahrhunderte als Grenzwächter auf geistige Blüte verzichten mußte, von den Preußen behandelt wurde.“205 Und tatsächlich läßt sich auf weiten Strecken der „Literaturgeschichte“ Nadlers Ziel verfolgen, die österreichische Literatur und auch den Staat in seiner wechselhaften Geschichte aufzuwerten. In den Briefen an August Sauer finden sich bis 1918 häufig teils glühende Bekenntnisse zum Österreich der Habsburger; Nadler betonte wiederholt seine „schwarzgelbe Kulör“ und bezeichnete sich als „fanatischer Österreicher“.206 Noch 1915, während seines Kriegsdienstes, war er überzeugt: Je mehr wir Österreicher des Guten u. Annehmbaren [aus dem deutschen Reich] uns aneignen, je rascher wir es uns aneignen, desto stärker u. unabhängiger wird die Monarchie werden. Gewiß sollen sie uns nur helfen System, Methode, Zusammenfassung in dieses an gebundenen Kräften so unermeßlich reiche Staatsgebilde zu bringen u. in einem Jahrzehnt wird der Donaustaat als der gewaltigste Völkergedanke aufragen, der seit den Tagen Alexanders des Großen gedacht wurde. Die Erben Rußlands an unermeßlicher Völkerfülle, an unfaßbaren Aussichten nach Asien u. Afrika werden wir sein, Österreich, u. so stark geworden, werden wir die Welt beherrschen, die beherrschen zu können der Deutsche sich heute einbildet. Denn wir sind die Völkerschwelle nach Asien u. Afrika, wir liegen zwischen den Deutschen u. dem Morgenlande. Das deutsche Reich als Volksgebilde wird ebenso an übersatter Kultur sterben wie Rom u. Frankreich u. Dank seines Anteiles an den östlichen unverbrauchten Völkerkräften wird Österreich erst seiner Mittagshöhe zuschreiten. Sollen sie uns nur unterweisen, wir haben dafür zu sorgen, daß es zu unserem Segen ausschlägt. Wir sind glücklicher als sie, denn sie haben allein den Haß der Welt zu tragen, je stärker dieser Haß ausdauern wird umso umworbener wird die Monarchie werden u. so hoch der Bundesgedanke auch fürderhin gehalten werden muß, aus dem Haß, den der Deutsche rings aufgestört hat u. aus unserer wachsende Stärke werden uns tausend Vorteile kommen. 207
An anderer Stelle, ebenfalls noch während des ersten Weltkriegs bekannte Nadler sich ausdrücklich zu der Idee eines Vielvölkerstaates: Seit Jahr u. Tag verfechte ich den Gedanken, daß es jetzt ebenso ein Überrest uralter Barbarei ist, sich unter dem Schlagwort des Nationalismus die Schädel einzuschlagen, wie man einst Kriege um ein Bibelwort führte. Die allerjüngste Debatte im preußischen Abgeordnetenhause beweist es nur neuerdings, daß der Kulturstaat, der Idealstaat der Zukunft nicht der Volksstaat sondern der Völkerstaat sein wird. 208
Sein Stolz auf die Donaumonarchie war allerdings auch mit großen Ansprüchen an ihre Bevölkerung, vor allem die deutschsprachige, verbunden. —————— 205 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-48, München 27. 11. 1910. 206 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-324, Freiburg 14. 6. 1918; 415/1-270, Fischau 21. 1. 1917, weiters 414/4-64, München 23. 7. 1911 und 414/4-119, München 4. 8. 1912. 207 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-243, Pürstein 1. 12. 1915. 208 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-270, Fischau 21. 1. 1917.
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So sparte er nicht an Kritik am österreichischen Volk, dem durchaus auch die Deutschen als leuchtendes Beispiel vorgehalten wurden: O, es ist ein elendes, schwächliches, charakterloses Volk. Dieses fast 70 Jahre Regime hat sie in Grund und Boden verdorben. Ich lasse vor keinem Fremden etwas auf dieses Staatswesen kommen. [...] Aber zu Landsleuten, untereinander kann man es sagen, daß dieses Volk keinen Musketenschuß wert ist. Man fühlt sich in den Staub gedrückt durch die eherne Ruhe u. Größe, mit der im Reiche hier das Volk, wirklich u. wahrhaftig das Volk stumm u. furchtbar entschlossen Armeen aus dem Boden tritt u. Milliardenopfer bringt. Aber denen daheim steigt das Wasser wirklich an die Gurgel u. wie sie das so ertragen.209
Meistenteils betraf die Kritik Nadlers allerdings die seines Erachtens große Neigung der deutschsprachigen Österreicher, sich in allem zu sehr an das Deutsche Reich anzulehnen, anstatt an einer gewissen Eigenständigkeit zu arbeiten. Ein Brief aus dem Jahr 1917, in welchem Nadler Sauer sein Herz ausschüttete, gibt eine ausführliche, aber prägnante Zusammenfassung seiner Ansichten zu Deutschland, Österreich und der Schweiz zu diesem Zeitpunkt wieder. Nadler bezieht sich hier auf Probleme, die er mit dem Herausgeber der in Planung befindlichen Zeitschrift „Österreich“, Wilhelm Bauer, bezüglich der Annahme eines Beitrags hatte, und fährt fort: Aber vielleicht stößt er [Bauer] sich an die eine oder andere Stelle, wo ich durchaus ruhig u. besonnen – ich glaube Sie wissen, daß ich kein Skandalmacher bin – darauf hinwies, daß die norddeutsche Forschung die bairisch-österreichische Entwicklung ganz außer Acht gelassen habe. Nun weiß ich ja, daß in Österreich alles erlaubt ist: man darf die Armee beschimpfen, den Staat herabsetzen, darf alle Einrichtungen lächerlich machen, alles Einheimische prostituieren, aber man darf keine Silbe schreiben oder sprechen, die in Berlin mißfallen könnte. Hierin bin ich nun freilich nicht gesonnen, mir den Mund verbinden zu lassen. Ich habe einen Einblick, wie diese norddeutschen Gaukler durch 200 Jahre unsere Geschichte mißhandelt, verleumdet u. vergewaltigt haben. Und wenn das unsere Deutschen nicht mehr haben wollen, so beweisen sie nur aufs neue, daß sie kein Selbstgefühl haben u. reif für den Untergang sind. Die Deutschen bei uns sind schlaff u. müde. Sie wiederholen bis zum Überdruß das schale Hobellied von der gewaltigen Herrlichkeit alles Preußentums u. sie haben das verloren, was jedes Volk erst reif zum Leben macht, den Respekt vor sich selber. Ich glaube diese Stellen haben Bauer mißfallen u. er will den leichtesten Anschein vermeiden, als ob irgendetwas gegen die künstlich konstruierte norddeutsche Vortrefflichkeit unternommen werden sollte [...] Sie wollen in Wien nicht einsehen, daß ich dem österreichischen Deutschtum mit meiner Literaturgeschichte Dienste geleistet habe, obwohl mir zunächst nur das rein sachliche, wissenschaftliche Interesse
—————— 209 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-141, München 2. 4. 1913. Diese Kritik Nadlers erfolgte ohne Zusammenhang mit dem ihr voranstehenden Brieftext, in welchem Nadler sich über mangelndes Verständnis für seine „Literaturgeschichte“ beklagt. Unmittelbarer Anlaß für die Klage sind „Taktlosigkeiten“, die Sauer in Wien erfahren hat – wohl im Zusammenhang mit der Nachfolge Jakob Minors, um die Sauer sich vergeblich bemühte.
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vorschwebte. Ich gehe nach dem Kriege, wenn ich überlebe, wieder meine Wege. Sie betrachten dort alles, was man zur Stärkung des deutschösterreichischen Selbstgefühls unternimmt, als Verrat an ihren nebelhaften alldeutschen Vorstellungen. Man muß sie ihrem Schicksal überlassen. [...] Wenn ich bedenke, wie kerndeutsch der Westschweizer fühlt, wie schroff er alles eidgenössisch-deutsche betont u. dankbar für jede Förderung dieser Stimmung ist, wie er sich zielbewußt nur soweit im gemeindeutschen Zusammenhang begriffen fühlt, als sein eigenmächtiges Wesen darin mit eingeht, so begreift man, warum das Deutschtum in Österreich so rasch dem politischen Bankbruche zueilt. Und ähnlich wie in der Schweiz liegen die Verhältnisse in Baiern. Die Drohung mit dem großen Bruder in Berlin u. der ewige Ruf nach dem Polizeibüttel, darin erschöpft sich die politische Fantasie des Deutschen in Österreich. Und immer wieder steigt die peinliche Frage in einem auf, ob es sich wohl lohne, für dieses Volk sich in Unkosten zu stürzen, das alles verloren hat, was ein Volk nie verlieren darf, so wenig als der Einzelne, das Selbstgefühl [...], immer der Beste zu sein u. über alle anderen hervorragen. Es ist doch reiner Wahnwitz, was wir erleben. Österreich hat alles erreicht, aber der Krieg geht in gesteigerter Wildheit weiter, nur darum, weil der Ostdeutsche Klüngel das deutsche Volk nicht aus den Klauen lassen will, die Deutschen Österreichs müssen fortbluten für Zwecklosigkeit u. Widersinn u. unsere freie Presse rechtfertigt jeden Tag aufs neue den preußischen Standpunkt, für den draußen nur ein Häuflein tollgewordener Desperados eintritt. Ja, ist denn ein solches Volk reif fürs Leben? Wenn ich damit immer wieder den stahlharten Eigennutz der Schweiz vergleiche u. dieses arme, unmündige, ausgeblutete, willenlose deutsche Volk Österreichs dagegenhalte. Es ist doch ein Jammer u. verzweifelte Hoffnungslosigkeit. 210
In diesem Schreiben kristallisiert sich heraus, was sich durch den gesamten Briefwechsel verfolgen läßt: die Ressentiments Nadlers gegen das Deutsche Reich richten sich vor allem gegen Preußen.211 Bei dieser Haltung blieb der Germanist zunächst auch nach Kriegsende, als die Frage eines Anschlusses Österreichs an Deutschland Aktualität bekam: Ludo Hartmann hatte in einer Wahlversammlung erklärt: Deutschland werde Österreich Arbeitskraft u. Intelligenz zur Verfügung stellen. Also darauf läuft alles hinaus? Noch weitere Sendungen von Brecht herein? Dann werde ich Schweizer Bürger. Es muß übel stehen, wenn die eigene österreichische Intelligenz nicht mehr ausreicht u. man den Massen offen sagen darf: Ihr seid ein Objekt für jene Ausbeutung die anderswo mißlungen ist. Wir im Ausland sehen diese Dinge mit anderen Augen an. Einem Staate, in dem Preußen noch immer führt, werde ich
—————— 210 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-287, Pürstein 2. 9. 1917. 211 Ausfälle gegen Preußen lassen sich laufend in den Schreiben Nadlers finden, etwa die Beschwerde, daß Österreich immer mehr preußische Wissenschafter „importiere“. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-146, Freiburg 13. 5. 1913. Und die Überzeugung, das deutsche Volk sei durch Preußen „in Grund und Boden ruiniert“ worden; ebd. 415/1-354, Freiburg 22. 8. 1919.
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nicht angehören. Ich trenne die deutsche Sache sauber u. reinlich von der Preußens. 212
Die Erlangung der Schweizer Staatsbürgerschaft scheint Nadler schon im Sommer desselben Jahres ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben, 213 führte diesen Schritt jedoch nie durch. Hingegen schien er sich mit der Zeit mit der Möglichkeit einer Vereinigung Österreichs mit Deutschlands angefreundet haben, wenn auch dies in seinen Augen nicht die erstrebenswerteste Lösung für Österreich war. Im Zuge der Überlegungen zur fraglichen (nicht zustandegekommenen) Berufung aus der Schweiz nach Innsbruck (vgl. Abschnitt 7.2.2.) äußert er Sauer gegenüber: „Kommt früher oder später der Anschluß, so bin ich [in Innsbruck] in Deutschland, kommen die Habsburger, umso besser.“214 Nadler rechnete demnach durchaus mit einem Zusammenschluß Deutschlands und Österreichs, und wenn er ihn auch nicht ausdrücklich befürwortete,215 ist angesichts harscher Kritiken an den deutschsprachigen Österreichern nicht auszuschließen, daß sich sein Österreich-Patriotismus mit dem Ende der Habsburgermonarchie abgekühlt haben wird. Doch auch die ablehnende Haltung gegen Preußen begann sich aufzuweichen, spätestens ab dem Zeitpunkt von Nadlers Berufung ins preußische Königsberg Anfang 1925, mit welcher ihm von preußischer Seite mehr Wertschätzung entgegengebracht wurde als von österreichischer, was der Germanist außerordentlich übel nahm: „Es ist wahrhaft ein groteskes Schauspiel, daß ich mit der ganzen austrophilen u. alles eher denn preußenfreundlichen —————— 212 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-346, Freiburg 27. 2. 1919; Walther Brecht, gebürtiger Berliner und zuvor an der preußischen Universität Posen lehrend, war 1914 als Ordinarius für Deutsche Philologie an die Universität Wien berufen worden. Eine ähnliche Bemerkung findet sich in 415/1-363, 8. 12. 1919: „Der ganze Einigkeitsrummel ist nichts anderes als preußische Freßlust mit vorgehaltener nationaler Serviette.“ 213 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-354,22. 8. 1919. „Das Bürgerrecht kostet hier 3000 Fr., das wären gegen 1600 Kr. Prager Währung, etwas viel für die Ehre hier den Dorfschulzen wählen zu dürfen. Wenn der Kurs sich gebessert hat, werde ich den Schritt tun. Hier trifft man die deutsche Spezies wenigstens noch bei Verstand an...“ 214 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-381, Pürstein 29. 12. 1920. 215 Noch 1915 war Nadler dagegen: „Ich fürchte bei allzu andauernder Betonung der Zusammengehörigkeit mit den Volksgenossen draußen werden die Deutschen Österreichs vergessen, zu welchem Staate sie den Grundstock bildeten. Das deutsche Geschrei erfüllt die Welt u. wenn Sie einmal ein Franz., englisches oder Schweizer Blatt in die Hand nehmen, werden Sie mit Schrecken sehen, daß Österreich gar nicht auf der Welt ist. [...] Deutsch u. österreichisch dürfen keine Synonyme werden. Ein deutscher Volkswirtschafter schlug unlängst eine gemeinsame Währung vor u. meinte am Schlusse, ‚natürlich’ müsse das die Mark sein. Nächstens wird man eine gemeinsame Dynastie vorschlagen u. am Schlusse meinen ‚natürlich’ müßten das die Hohenzollern sein. Ob ich wohl der einzige in Österreich bin, der die ganze Bitternis dieses von der reichsdeutschen Presse inszenierten Taschenspielerkunststückes empfindet.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1- 231, Pürstein 23. 10. 1915.
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Richtung meiner Arbeiten für Österreich zu schlecht aber für Preußen gut genug war.“216 Die Berufung nach Königsberg bedeutet insgesamt eine neue Ära für Nadler (vgl. Abschnitt 7.2.5.). Das letzte Zitat verdeutlicht, daß Nadler seine antipreußische Haltung nicht zuletzt auch in sein Werk mit einbrachte. Dazu stand er Sauer gegenüber schon weit früher und auch zu dieser Zeit beschwerte er sich über die Wiener Germanisten: Wie sie mich in Wien totschweigen, ist demütigend. Ich schlage mich hier mit bornierten Schweizern, Redakteuren u. Demagogen herum um ihnen eine blasse Ahnung von den unschätzbaren Kräften, Herrlichkeiten u. Möglichkeiten dieses Staatswesens zu geben, mein Buch ist eine Verherrlichung des bairisch-österr. Volkes, mein Buch ist seinem Wesen nach ein Widerspruch gegen das volkstumfressende Preußen. 217
Die „Literaturgeschichte“ stellt also eine Verherrlichung der Baiern,218 besonders Österreichs und Widerspruch gegen Preußen dar. Explizit ausgesprochen wird die Absicht der Aufwertung der bairisch-österreichischen Literatur in der „Literaturgeschichte“ allerdings erst 1918, nachdem die Darstellung der gesamten bairischen Entwicklung von 1500 bis 1800 in den dritten Band verlegt worden war.219 Schon im Vorwort dieses Bandes betonte Nadler die entscheidende Rolle, welche Österreich in seiner Literaturgeschichte zukomme: Ich hoffe nicht mit den Allzuvielen verwechselt zu werden, die heute arg verspätet, freilich immer noch früh genug, Österreich erst entdecken zu müssen meinen. Diese Abschnitte des Buches sind gearbeitet und geschrieben worden, als das Geschlecht von zeitgemäßen Entdeckern und plötzlichen Lobpreisern noch auf breitgetretenen Heerwegen zu fremden Göttern wallfahrtete. Der deutsche Klassikerkanon, diese Geschichtsklitterung aus Eitelkeit, Bequemlichkeit und einem Quentchen Fälschergeschick, hätte gern aus den Deutschen ein wohlverteiltes Ganzes von Königen und Bettlern gemacht. Und so mußte doch endlich einmal der wunderliche Widerspruch zu näherm Beschauen locken, daß ein Volk wie das bairische auf beiden Ufern des Inns durch reichlich dreihundert Jahre die Schlachten um den Bestand deutschen Volkstums schlug, daß es zwischen Siegen
—————— 216 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-487, Königsberg 28. 6. 1926. 217 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-145, Freiburg 10. 5. 1913. 218 Nadler verwendet in seiner „Literaturgeschichte“ stets die Schreibung „Baiern“, egal ob es sich um den Staat Bayern und seine Bewohner (bei Nadler allenfalls als „Altbaiern“ spezifiziert), um Bewohner des österreichischen Staatsgebildes (auch „Ostbaiern“) oder um den gesamten Stamm handelt. Um Unklarheiten zu vermeiden soll hier Baiern/bairisch den Stamm und Bayern/bayrisch das „altbairische“ Staatsgebilde bezeichnen. Weiters steht Österreich/österreichisch im aktuellen Abschnitt für die deutschsprachigen Besitzungen der Babenberger und die österreichischen Erblande der Habsburger (mit Salzburg). 219 Allerdings findet sich in einem Schreiben an August Sauer bereits der Gedanke einer ungebrochenen Entwicklung der österreichischen, von dramatischen Elementen beherrschten Literatur vom 13. Jh. aufwärts bis ins 18. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-70, München 3. 8. 1911.
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und Niederlagen aus undeutschen Völkern eine Großmacht aufbaute und mit deutschem Geiste sättigte und doch selber, gleich dem Holzblock um eine köstliche Quelle, ein Barbar und Rohling der Lettern und Künste geblieben sei.220
Daß, obwohl vom bairischen Volk an beiden Ufern des Inn gesprochen wird, das Schwergewicht eben auf Österreich liegt, wird an dem Bezug auf eine Großmacht, die sich aus „undeutschen Völkern“ zusammensetzte, deutlich. Dieser Satz ist keineswegs der einzige Hinweis darauf, daß die entscheidende Rolle, welche „dem Baiern“ in Nadlers Literaturgeschichte zugeschrieben wird, in erster Linie dessen österreichischem Teilstamm zukommt, wie im Laufe dieses Abschnitts noch deutlich werden wird. Nichtsdestotrotz wird die Entwicklung Österreichs in der „Literaturgeschichte“ durch „den Baiern“ geprägt gezeichnet, dessen Stammescharakter sich wiederum an bestimmten Eigenschaften manifestiert, bzw. dem durch Nadler eben jene Eigenschaften zugeschrieben werden. Maßgeblich für das Gesamtkonzept der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ist die Setzung der Baiern als selbstbewegter Stamm, eine Bezeichnung, die neben ihnen nur noch den Sachsen zuteil wird, während die übrigen deutschen Stämme hinsichtlich der Zuteilung von literarischen Epochen unter Alt- und Neustämme subsumiert werden.221 Zunächst erscheint der Baier als Meister der Volksdichtung,222 wobei im Nadlerschen Ansatz dies nicht nur an sich ein positiver Zug ist, sondern zusätzlich als Erklärung dafür herangezogen wird, weshalb die bairischen Landschaften im Vergleich mit anderen Regionen literarisch leer wirken würden: ihre Dichtung sei unliterarisch, dh. mündlich und als solche zwar in Hülle und Fülle vorhanden, aber für vergangene Zeiten eben nicht mehr faßbar. Dasselbe gelte auch für die frühe Wiener Theaterkunst, die durch ihren Stegreifcharakter nicht schriftlich festgehalten worden sei und selbst das Barocktheater als wichtigste Kunstform der Baiern wird aufgrund seines wichtigsten Elements, der Anschauung, als unliterarisch be—————— 220 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. III. Ähnlich auf S. 83: „Hundert Offenbarungen [...] erwarten einen noch aus dem Schrifttum des bairischen Volkes, sobald man anfangen wird auch das für Literatur zu halten, was nicht zum Ruhme des preußischen Staates beitrug.“ Vgl. dazu auch Nadlers Bemerkung an August Sauer: „Daß diese wahren Verhältnisse in den großen Literatur-Geschichten gar nicht erkannt werden, liegt zum Teil in der unlogischen Gliederung. Man behandelte die Entwicklung im Reich als etwas Ganzes u. für sich Abgeschlossenes u. hängte die „Österreicher“ so nebenbei an.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-411, Düdingen 5. 2. 1922. 221 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 149. 222 So soll das Volkslied ureigenster Ausdruck des bairischen Volkes sein. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 48. Volksepos und Volksspiel seien wie die Predigt Formen des bairischen Wesens (1912, S. 167); sogar von „Trägern geweihter Volksdichtung“ ist die Rede (1912, S. 152) weiters ist der Baier Meister der Volkskunst, etwa der Volksrede; 1918, S. 32 und S. 81 et passim.
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zeichnet, weil das Wort nur einen kleinen Teil des Gesamtkunstwerks ausmache.223 In Zusammenhang damit wird „dem Baiern“ auch zugeschrieben, nach sinnlicher Anschauung zu lechzen, wie er überhaupt den Urtrieb zum (Theater)Spiel in sich trage und der Austausch zwischen Sprecher und Zuhörer die literarische Entwicklung der Baiern bestimme. Tatsächlich sei die Literaturgeschichte des Baiern seit dem 16. Jahrhundert im wesentlichen Theatergeschichte.224 Hier kommt wiederum Nadlers Verbindung des Gebirges bzw. der Alpen mit dem Theater ins Spiel, obwohl auch hier letztlich nicht das Gebirge den Urtrieb zum Spiel schafft (denn der alpenbewohnende Alamanne hat diesen Drang laut Nadler nicht, bei ihm entsteht das Drama rein durch den Einfluß des Gebirges), aber diesem mit Sicherheit zur Hochblüte verhilft.225 Ein Widerspruch in Nadlers Ausführungen scheint sich durch seine Koppelung des bairischen Theaters an die Alpen und die gleichzeitige Verlegung des Zentrums der bairischen Stammeskultur ins Donautal, nach Wien, zu ergeben. Dem geht der Germanist durch die allgemeine Zuschreibung des Spieltriebs an die Baiern aus dem Weg, obwohl er mittels der doppelten – landschaftlichen und stammlichen – Absicherung die Heimat des Dramas im Süden des deutschen Sprachraums ansiedeln kann. Und auf der angeblichen natürlichen Begabung für Theater und Drama gründet sich nicht zuletzt die Aufwertung des bairischen Stammesverbandes in Nadlers Konzept. Die Sonderstellung Österreichs findet bereits im ersten Band der „Literaturgeschichte“ breiten Niederschlag. Die Trennung der „Ostmark“ von Bayern wird zwar zeitlich in einen Kontext der generellen landschaftlichen Ausdifferenzierung gestellt, aber schon hier wird die größere Bedeutung der österreichischen Regionen vor jenen Bayerns vorbereitet. Durch die Kolonisation bzw. Besiedlung der Landschaften östlich Bayerns wurde dem bairischen Stamm in seiner Gesamtheit zwar größere Bedeutung unter den deutschen Stämmen zuteil, aber in dem Moment als sich – zusammengeschweißt durch die Verteidigung der neuen Gebiete gegen Gegner im Osten – ein neuer bairischer Teilstamm herauszubilden be—————— 223 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 20 und 25. 224 Zum Spiel- und Theatertrieb des Baiern siehe besonders Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 13, 18 und 99, und 1912, S. 63. Den Gedanken, daß die bairische Literaturgeschichte in erster Linie Theatergeschichte sei, faßte Nadler schon früh bei der Abfassung des 3. Bandes, vgl. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-162, München 23. 10. 1913. 225 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 193 und 297: „Die Erfahrung zeigt nun einmal das Drama in den Alpen zusammengedrängt...“; sowie 1918, S. 17, wo sich am Anfang der Abhandlung zum bairischen Barocktheater der Hinweis findet, daß die Heimat des Volkes „die Massen gewaltiger Berge“ waren. Bezeichnend ist auch der Hinweis, daß „...nur der Ostpreuße Gottsched, der nie Berge gesehen hatte...“, den Versuch machen konnte, den Deutschen französische Formen aufzudrängen; ebd. 1912, S. 198.
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gann, sei der Großteil an Entwicklungsfähigkeit ebenfalls auf die Ostbaiern übergegangen. Denn das „Ostvolk“ habe durch die eigene Expansion den Altbaiern jede Entwicklungsmöglichkeit gesperrt.226 Weiters wird den bairischen Kolonisationsgebieten, also dem späteren Österreich, eine „reichere Stammesgrundlage“ zugeschrieben, da auch Franken, Flamländer, Alamannen und Sachsen im neuen bairischen Teilstamm aufgegangen seien.227 Diese breitere Grundlage erfährt seitens Nadler eine durchaus positive Einschätzung, so sichere dem Ostbaiern etwa der fränkische Einfluß die Gabe zur Erzählung, die dem Altbaiern abgesprochen wird.228 Die Dominanz der Baiern scheint für Nadler allerdings unbestritten zu sein und im Gegensatz zu den östlichen Neustämmen ist nichts davon zu spüren, daß die „breitere Stammesgrundlage“ der Baiern und die damit verbundene Neigung zu raschen Stimmungsumschwüngen nachteilige Aspekte mit sich brächte.229 Ein bedeutender Beitrag zu der von Nadler beschriebenen kulturellen Einheitlichkeit des neuen ostbairischen Stammes kommt allerdings auch der Landschaft zu. Tatsächlich scheint Nadler in seinen Abschnitten zu Österreich die Kräfte der Landschaft an erste Stelle zu setzen, was freilich auch einen Erklärungsansatz dafür bieten kann, wie die breitere Stammesgrundlage zu einer Einheit amalgamiert worden sei. Die besonderen Kräfte des Donautals äußern sich in der „Literaturgeschichte“ etwa darin, daß diese Landschaft imstande sei, Dichter unterschiedlicher, auch nicht-bairischer Herkunft einander in ihrem literarischen Schaffen gleichzumachen.230 Und es entsteht der Eindruck, daß sich hauptsächlich die neuen Siedellandschaften der (Ost)Baiern und erst in zweiter Linie ihr Stammescharakter als richtungsweisend für die „welthistorische Sendung des Donaubaiern“231 herausstellt. Denn nicht der Stamm mit seinem spezifischen Charakter, —————— 226 227 228 229
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 136. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 135. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 188. Zwar spricht Nadler auch für Österreich aufgrund der stärkeren Blutmischung von rascheren Stimmungsumschlägen, verbindet damit jedoch keine nachteiligen Bewertungen. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 142. 230 In einem konkreten Beispiel etwa Reinmar von Hagenau aus dem Elsaß, einer zu seiner Zeit bürgerlichen Landschaft, und Reinmar von Zweter, der Rheinpfälzer Ministeriale aus hochfeudaler Umgebung. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 136. Eine weitere Rolle spielte hier allerdings die Tatsache, daß diese beiden in sozialer Hinsicht nicht in die Landschaften ihrer Herkunft passen, im „sozial nivellierten“ Österreich aber Wurzeln schlagen konnten. Vgl. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-53, München 26. 1. 1911 und 4.3.5. 231 Nadler: Literaturgeschichte 1912,S. 152. Ebensolche welthistorische Sendung wird außerdem den Franken und den „Mischlingen im Spreelande“ zugeschrieben. Die Vorstellung einer historischen Sendung Österreichs (konkret zur „Türkenbelagerung“ 1683) findet sich nochmals in Band 3; ebd. 1918, S. 27f.
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sondern die Landschaft selbst sei „Erbe von Völkergedanken verschollener Stämme“ geworden.232 Ausdruck dessen ist für Nadler das Nibelungenlied, das der Literaturhistoriker als Verschmelzung der Sagen von Rheinfranken, Sachsen, Langobarden und Goten durch das österreichische Volk versteht – denn letzterem wird die Nibelungendichtung per Abschnittstitel zugeschrieben, wobei die Kriterien für diese Zuschreibung nicht thematisiert werden und sie implizit aus dem Inhalt des Epos abgeleitet wird.233 Da in Nadlers Darstellung von den ostgermanischen Stämmen der Langobarden und Goten weder zum bairischen Mutterstamm noch zum österreichischen Tochterstamm abstammungsmäßig beigetragen wurde, und dennoch deren Gedanke eines großen Donaureiches auf die Ostbaiern übergegangen sein soll, muß notwendigerweise die Landschaft als Träger dieser Idee fungieren. Von Beginn an. So „konnte und mußte“ in den Ostgoten, die außerhalb des Verbandes der Altstämme geblieben waren, „...der Sondertrieb der Landschaft Stütze und Ausdruck finden, sie sind das österreichische und staatsbildende Element im Gewirr der Völkerwanderung.“234 Und aus der Landschaft ergebe sich ebenso der „...geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Sage und Dichtung der kleinen hunnischen Mark bis zur Monarchie des 16. Jahrhunderts.“235 Im Nibelungenlied drücke sich diesem Ansatz gemäß der Gegensatz des Donautals zu den übrigen Altstämmen und die Macht des neuen Stammestums aus, indem es die Welt eines urgermanischen Österreichs spiegle. Mittels dieser Darstellung wird die Grundlage, wenn nicht der Ursprung eines Donau- und Vielvölkerstaats im späteren östlichen deutschen Sprachraum praktisch in die Urgeschichte verlegt und bereits für damals eine Sonderrolle Österreichs neben Deutschland behauptet. Denn mit den Sagen der Goten und Langobarden habe der Alpen- und Ostmarkbaier „...das Ahnen und Träumen von Größe, das dieser Heimat bestimmt war...“ übernommen und „...so wurde sich in der Heldensage das österreichische Volk als neue, weltgeschichtliche Einheit gegenwärtig, mit anderer Zukunft, mit anderen Zielen als das ganze Vaterland.“236 —————— 232 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 157. 233 Am greifbarsten wird diese Zuordnung an „Der Nibelunge Not“ als das „eigentlich österreichische Epos“ aufgrund des Orts der Handlung (Donautal) und des ebendort herrschenden Markgrafs Rüdiger von Bechelaren. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 154. Festzuhalten ist jedenfalls, daß nicht die handschriftlichen Überlieferungen des Epos zum Anknüpfungspunkt für seine landschaftliche Einordnung werden. Vgl. zu Nadlers Auslegung des Nibelungenliedes: Literaturgeschichte 1912, S. 152-157. 234 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 155f. 235 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 152. 236 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 161.
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Im dritten Band wird die Eigenständigkeit des Donautals – auch hier liegt der Schwerpunkt der entsprechenden Formulierungen wiederum auf der Landschaft – weiter untermauert. Dies erfolgt nun dezidiert unter dem Ziel, neben die Klassik als Hochblüte der Altstämme und die Romantik als Hochblüte der Neustämme eine ebenbürtige Hochblüte der Baiern zu stellen, die überdies noch als unabhängige Stammeskultur ausgezeichnet wird.237 Neu ist in dem betreffenden Abschnitt die erst im Laufe der Niederschrift der „Literaturgeschichte“ entwickelte Einordnung Österreichs/des Donautals in die zwei Traditionsstränge West- und Ostroms. Die Zuordnung der Baiern zu einem dieser Überlieferungszusammenhänge würde die Behauptung einer eigenständigen bairischen Hochblüte unmöglich machen und so wird postuliert, daß „...das Donautal sich als Nachfolgerin beider Rom denken“238 konnte. Damit wird nicht nur die Sonderstellung der Baiern und besonders Österreichs abgesichert, sondern überdies ein Herrschaftsanspruch gestellt, denn Österreich bzw. die Habsburger als seine Herrscher erscheinen somit als berufene Vermittler zwischen Abendland und Morgenland, was im Kontext der „Literaturgeschichte“ mit ihrem Ost-West-Gegensatz einer Setzung Habsburger als prädestinierte Einiger der deutschen Stämme nahe kommt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die enge Bindung des künstlerischen Ausdrucks der Hochblüte der Baiern, nämlich des Barock, an die Habsburger als Erben des zuvor beschriebenen historischen Triebs der Landschaft. Der Anbruch der „neuen Kunst“ wird anläßlich der Wiener Doppelhochzeit im Jahr 1515 explizit an die Habsburger gekoppelt, wobei eben diese Barockkunst die Bezeichnung „entscheidende Tat des Hauses Habsburg“239 erhält. Der Staat der Habsburger wird als politischer Ausdruck dessen verstanden, was im Barock als Kunst gestaltet wurde und damit umgekehrt der Barock als künstlerischer Ausdruck des Habsburgerstaates aufgefaßt. Durch diese Konstruktion steht wiederum Österreich im Mittelpunkt und Bayern am Rande, wobei der Abschnitt „München“ folgerichtig nach den glänzenden Abhandlungen zu Wien etwas blaß bleibt und bestenfalls durch Parallelerscheinungen den Wiener Typus bestätigen darf. So geht etwa auch in Bayern die Barockkunst maßgeblich vom Fürstenhaus aus, hier eben jenem der Wittelsbacher. Der Barock ist nach Nadlers Ausführungen zu schließen wohl deshalb die Kunst der Habsburger, weil —————— 237 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 11f. 238 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 11, 13. Wien sei bis 427 weströmisch und danach durch die ostgermanische Herrschaft der Hunnen, Goten und Langobarden oströmisch gewesen. 239 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 13. Die Abhandlung der Barockkunst erstreckt sich über das gesamte erste Kapitel des sechsten Buches, S. 3-109.
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diese ihr Reich aus ebensovielen Elementen zusammen„bauten“, wie die Barockkunst Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Gedanken und Formen zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen habe. Sicher nicht zufällig wird diese Blüte der bairischen Barockkultur an den Zeitraum der größten Machtentfaltung der Habsburger gekoppelt und folgerichtig endet dieselbe – wenn auch nur vorübergehend mit einem „Zwischenspiel“ – gemeinsam mit der Herrschaft Karls IV. Dieser wird praktisch in Übereinstimmung mit den Lorenzschen Ansichten zum Familiencharakter als letzter Habsburger tituliert, was Nadler allerdings nicht daran hindert, auch noch im 19. Jahrhundert die österreichische Dynastie Haus Habsburg zu nennen und überdies für 1800 eine weitere Kulturhöhe der bairischen Stammeskultur zu konstatieren. Nadlers Bindung des Barock an das Herrscherhaus bzw. die Herrscherhäuser Österreichs und Bayerns überdeckt einige Probleme, obwohl oder gerade weil außer dem Zusammenfallen der politischen und künstlerischen Hochblüte kaum eine Verbindung der Kunst und Literatur mit den Dynastien besteht. Ein Zusammenhang wird allerdings über das Theater hergestellt. Denn das Barocktheater, die ureigene Kunstform des Baiern in seinem ureigenen Kunststil, sei Hoftheater und somit Hof- und Reichskunst,240 was es nicht daran hindert, gleichzeitig Volkskunst zu sein, wie es dem Baiern geziemt.241 Denn die bunt zusammengewürfelte Barockkunst hätte tiefsten Sinn am Hof der Krone des deutschen Reiches gehabt, dessen Herrscher gleichzeitig mehrere Völker Folge leisteten. Diese Ansicht erklärt möglicherweise auch, warum Nadler, während er für andere Landschaften meist minutiös fremde Einflüsse herausarbeitet, ohne Konsequenzen von italienischen („wälschen“) und französischen Einflüssen242 auf die Oper berichtet und Künstler aus zahlreichen deutschen Landschaften ohne weiteren Kommentar als vollgültige Vertreter des Barock einreiht. Anscheinend sind in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung am Hof der deutschen Krone und eines Vielvölkerstaats jene Einflüsse, die anderswo als fremd ausgewiesen werden, naturgegeben und – so meine These – zumindest zum Teil durch entsprechenden Territorialbesitz der Habsburger (etwa in Italien) gedeckt, wenn nicht sogar legitimiert (vgl. Abschnitt 4.5.2.). Allerdings ist der Einfluß Italiens wohl auch über die ungebrochen gedachte Reihenfolge Antike – —————— 240 Siehe zum Barocktheater als Hofkunst: Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 17 und 24f. 241 Nadler hat auch in Abschnitten zu Österreich immer wieder den geringen sozialen Abstand zwischen den Ständen sowie zwischen dem Herrscher und dem Volk betont, vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 136 und 190; zum Barock als Volkskunst siehe auch ebd. 1918, S. 88. 242 Siehe z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 24 und 43.
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Humanismus/Renaissance – Barock in Baiern konzeptuell gewissermaßen mit Recht eingebracht. Denn obwohl der Humanismus als dem Baier wesensfremd bezeichnet wird, da es ihm stammescharakterlich nicht gemäß sei, in einer fremden Sprache zu denken und zu dichten, wird dem Baier im Gegensatz zu den übrigen Altstämmen zugeschrieben, sich humanistische Denkformen nicht über den alten Kulturweg des Rheins angeeignet, sondern sie direkt von Italien zu übernehmen versucht zu haben.243 Daß dieses Unterfangen am Stammescharakter habe scheitern müssen, ändert nichts an Nadlers Ansicht, mit dem Barocktheater ginge die wichtigste bairische Kunstform zum Teil aus dem humanistischen Schultheater hervor.244 Möglicherweise soll die Behauptung der Wesensfremdheit des Humanismus für die Baiern die Tatsache verdecken, daß es keine bedeutenden bairischen Humanisten gegeben hat und in den betreffenden Landschaften meist Franken die bedeutenden Träger dieser Denkform waren – die wegen der Vermittlung über den Rhein allerdings einen „deutschen“ Humanismus vertreten hätten.245 Weitere Vorbildwirkung für das Barocktheater wird der italienischen Renaissancebühne zugeschrieben, die wiederum direkt auf das antike Vorbild zurückgehen soll. Die Renaissance ist in der „Literaturgeschichte“ jene Epoche, in welcher die Antike verchristlicht worden sei, während nun das bairische Barocktheater in Nachfolge der Renaissance die Verbindung der Formen und Anschauungsweisen der Antike mit dem Gehalt und den unanschaulichen Gedanken der römischen Kirche geleistet habe. Dies bedeute die Verarbeitung moderner Gedanken in antiken Formen. Gerade jene Aufnahme moderner Gedanken und ihre Integration in antike Formen erscheint nun als wichtigste Leistung der bairisch(-österreichischen) Stammeskultur, die ohne Unterbrechung vom Ostfranken Konrad Celtis als wichtigstem Vertreter des Humanismus in den bairischen Landschaften bis zu Franz Grillparzer verlaufe und somit eine lückenlose Reihe von der Antike über Humanismus und Barock bis zur Klassik darstelle.246 Angesichts von Nadlers Vorliebe für ungebrochene Entwicklungen ist diese Feststellung ohne Zweifel als sehr positives Urteil für die Baiern aufzufassen. Dabei ist aber zusätzlich herauszuheben, mit welchen Anschauungen die Baiern diesem Konzept nach ebenfalls nicht brachen: mit der katholischen Konfession. Wie bereits erwähnt, denkt Nadler die Barockkunst aufgrund ihres Anschaulichmachens des Christentums in anti—————— 243 244 245 246
Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 207 und 211. Siehe zum Barocktheater: Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 14-25. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 214. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 12 und 232f.
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ken Formen als Vereinigung der Antike mit der römisch(-katholisch)en Kirche. Das Barocktheater ist somit katholische Kunst und sie blüht nicht zufällig im Zeitalter der Glaubenskämpfe des 30jährigen Kriegs. Die ungebrochene Entwicklung, die Nadler der bairisch-österreichischen Stammeskunst zuschreibt, verdankt sich demnach zu einem guten Teil der bairischen Treue zum „alten Glauben“ (vgl. Abschnitt 4.4.3.3.). Im großen und ganzen werden die Baiern damit als jener Stamm bzw. aus Alt- und Ostbaiern bestehender Stammesverband dargestellt, der im Rahmen der deutschen Literaturgeschichte vor allem sich selbst und einmal gewählten Linien treu blieb. Auch die Aufklärung, für Österreich in Josef II. personifiziert, sei letztlich nur ein „Zwischenspiel“ nach dem „Niederbruch des Barock“ wegen dessen Stillstand geblieben.247 Die Aufklärung im Sinne einer bestimmten Geisteshaltung wäre überdies für die Baiern nicht notwendig, so Nadler, da sie im Sinne einer ständigen Erneuerung und ständigen Fortschritts durch die gesamte Entwicklung hindurch vorhanden gewesen sei – immer dann, wenn ein neuer Bewegungsstoß vonnöten gewesen sei.248 Bezeichnenderweise werden für das gemeinte Jahrzehnt 1780-1790 Einflüsse von außen wiederum weit strenger herausgerechnet als zuvor, wohl weil diese sich im konkreten Fall gegen die bisherigen Entwicklungslinien, etwa gegen die Wiener Volksbühne, richteten.249 Als positiv wird jedoch festgestellt, daß das Burgtheater in dieser Zeit eine völlig deutsche Kunstanstalt für alle Stämme und Landschaften geworden sei, doch darüber hinaus ist die Betonung der linearen Entwicklung der Wiener Volksbühnen zentral, wo schon Mitte der 1780er Jahre wieder alle Zeichen auf Barockkunst gestanden seien. Und somit kommt Nadler zu seinem Fazit, die Literaturgeschichte des bairischen Stammes zwischen 1500 und 1800 stehe „...in wunderbarer Geschlossenheit ebenbürtig und selbständig neben dem Schrifttum der drei westdeutschen Stämme und dem Schrifttum der neuen Völker des Ostens.“250 Zu Nadlers großem Bedauern habe sich diese große Kulturarbeit des bairischen Volkes jedoch nicht auf das Staatswesen ausgewirkt und wegen der „unseligen“ bayrischen Politik – Nadler meint hier wohl die Annäherung an Frankreich – seien die Baiern nicht zum führenden Kulturträger Mitteleuropas geworden.251 —————— 247 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 36-47 zu Wien und S. 70 zu München. 248 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 60. 249 Wichtigstes Beispiel ist hier Josef von Sonnenfels, dessen Großvater in Berlin Rabbiner war. Zusätzlich wird nun auch der Versuch einer Ausrichtung des Theaters nach französischem Vorbild kritisiert. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 42-47. 250 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 109. 251 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 81.
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Ganz im Gegensatz kem der Part des führenden Kulturträgers zumindest im deutschen Sprachraum Nadlers liebstem Feindbild zu: Preußen. Des Literaturhistorikers Strategie bei der Behandlung der Anfänge Preußens scheint zunächst von einer Form seiner vielgeliebten Parallelisierungen geprägt zu sein. Denn obwohl eigentlich zu den im zweiten Band behandelten Neustämmen gehörig, wird die Darstellung der Mark Brandenburg mit Berlin in gleicher Weise wie die Abschnitte zu den Baiern mit Wien bereits per Vorwort von 1913 in den dritten Band verlegt, weil sich beider Entwicklung von größtem Wert erwiesen habe.252 Somit zeichnet sich in der „Literaturgeschichte“ schon früh ein besonderes Verhältnis zwischen Berlin und Wien ab, das sich im Laufe der Niederschrift der „Literaturgeschichte“ immer mehr als Antagonismus erweist. Die Parallelisierung, mit welcher der Literaturhistoriker arbeitet, wird vor allem angewandt, um Brandenburg mit Berlin, die in der Darstellung letztlich ganz Preußen verkörpern, zunächst ein negatives Zeugnis auszustellen. Denn nur vorerst sind die Parallelen neutral: die Mark Brandenburg sei ebenso wie die Donaumark ursprünglich eine Schutzmark gewesen, beider politische und soziale Gestalt hätten einander geähnelt und wie die Habsburger seien die Hohenzollern ein alamannisches Geschlecht.253 Damit ist der neutrale Standpunkt allerdings bereits ausgeschöpft, denn der alamannischen Abstammung der herrschenden Dynastie wird sogleich das Verdienst um eine vielzitierte und gerühmte preußische Eigenschaft zugeschrieben: Zucht – „Süddeutsche Art, so wenig es der Brandenburger hören mag.“254 Auch für die Vorzüge Preußens war also dieser Ansicht nach süddeutscher Einfluß entscheidend. Noch weitere „Legenden“ zum Ruhme Preußens versucht Nadler zugunsten des Südens abzuschwächen, wobei ihm vor allem an daran gelegen ist, die Entstehung eines deutschen Nationalgefühls von den Siegen Preußens, besonders Friedrichs II., abzulösen. Mit diesen sei nur preußisches Nationalgefühl entstanden, wußten doch der „...Rheinfranke, Alamanne und Baier [...] schon erheblich länger, daß er eigentlich auch ein Deutscher sei, damals schon, als er mit dem Sachsen über die Elbe ging und die Donau abwärts.“255 Kurz gefaßt: Preußen wird praktisch jedes Primat, speziell vor dem Süden des deutschen Sprachraums, abgesprochen. Nadler scheint in der „Literaturgeschichte“ auch sehr an einer Abschwächung der zeitgenössische Sicht auf Preußen als sächsisch dominiert zu liegen. Allein die Küste sei von Niedersachsen besiedelt gewesen, das —————— 252 253 254 255
Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. III und 1918, S. III. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 146, 147, 159. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 149. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 298f.
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Binnenland und damit die überwiegende Mehrheit der preußischen Bevölkerung setze sich aus (nieder)fränkisch-thüringischer Mischung zusammen.256 Die Preußen seien letztlich Meißner und Schlesier mit sächsischem und niederfränkischem Einschlag. Nadler stellt sich mit dieser Ansicht bewußt „...gegen Treitschke u. eine Reihe anderer Preußen...“,257 welche das niedersächsische Element zu sehr betont hätten und für die es peinlich wäre, „...daß die Kraft des preußischen Ostens aus Mitteldeutschland erwuchs.“258 Weshalb Nadler auf seine Klarstellung der ethnographischen Verhältnisse Preußens so viel Wert legt – er argumentiert ausführlich mittels einer Auszählung von Soldlisten bezüglich der Herkunft und schlüsselt auch die Ritter des Deutschen Ordens nach ihrer Stammeszugehörigkeit auf – bleibt unausgesprochen. Es ist allerdings anzunehmen, daß es ihm darauf ankam, Preußen möglichst viel von seinem Anspruch auf einen Sonderstatus zu nehmen. Und gerade in Nadlers eigenem Konzept mit den Sachsen als selbstbewegtem und nicht von antiker, sondern rein germanischer Überlieferung geprägtem Stamm, hätte ein sächsisch dominiertes Preußen eine Sonderrolle zugeschrieben bekommen. Eine fränkisch-mitteldeutsche Grundlage hingegen bringt das Kolonistenland Preußen wiederum in die „Schuld“ der kulturell weiter entwickelten Altstämme, da sich der Ruhm des Staats letztlich auf diese gründet. Somit wäre der Status Preußens in letzter Konsequenz jenen Stämmen zu verdanken, die später vom neuen Staat im Nordosten des deutschen Sprachraums politisch dominiert werden sollten.259 Allerdings wird Brandenburg an den Beginn der Geschichte der Neustämme und damit an den Beginn der Geschichte der Romantik gestellt. Folglich sind die Preußen zwar nicht Vertreter einer eigenständigen und „selbstbewegten“ Stammeskultur wie die Baiern, aber immerhin gewissermaßen erste Instanz für die Kultur der Neustämme. Der linearen Entwicklung der Literatur und Kultur der Baiern wird eine von politischen, wirtschaftlichen und völkischen Umstürzen gebrochene entgegengestellt, die vor allem die Hohenzollern zu verantworten hätten. Zentral sind in —————— 256 257 258 259
Vgl. zur Ethnographie Preußens Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 32-42. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-59, München 10. 7. 1911. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 35. Vgl. ÖNB, Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-119, München 4. 8. 1912: „Es wird uns sehr schaden, daß wir den Berliner Uniformgeist an seiner empfindlichsten Stelle treffen. Aber kann ich denn anders. Ich bin von Geburt Österreicher u. zwar ein so fanatischer als es je einen gegeben hat, bin in Baiern festgewurzelt u. wirke in der Schweiz. Wo ist da überall Preußen? Unser Problem ist ein Kulturproblem kein rein literarisches [...]. Man muß es den Leuten immer wieder mit Keulen auf die Köpfe klopfen, daß wir, die Altstämme, wir Süd- u. Mitteldeutsche die alten Kulturträger sind, daß Deutschland von Stammesfremden, von einem künstlichen, charakterlosen Mischvolk beherrscht werden.“
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diesem Zusammenhang die Vernichtung des niederfränkischen Stadtbürgertums von Berlin, wodurch die Stadt landfremd in der niederfränkischen Mark gelegen sei, die Einwanderung von Fremden bzw. die Bevorzugung von Fremden am Fürstenhof und nicht zuletzt der starke französische Zuzug und Einfluß.260 Es dürfte inzwischen deutlich geworden sein, daß fehlender stammlicher Zusammenhalt zwischen Stadt und Landschaft und das „Umschaffen des Volkscharakters“ Berlins durch Franzosen und Juden nicht zu Nadlers bevorzugten Aspekten einer kulturellen Entwicklung gehören. Dementsprechend genau rechnet er für Preußen auch jeglichen fremden Einfluß penibel auf, bis hin zur Nennung der Zahl französischer und jüdischer Einwohner Berlins. Allerdings schlägt sich dies nicht explizit in negativen Urteilen nieder, die erwähnten Verhältnisse werden in neutralem Ton berichtet. Nur im Kontext von Nadlers allgemeinen Konzepten wird spürbar, daß er der seiner Ansicht nach idealisierten Sicht auf Preußen den Kampf ansagt – um gleichzeitig eine idealisierte Sicht auf Österreich zu installieren. Die Schicksale Österreichs und Preußens verknüpfen sich in Nadlers Ausführungen erst relativ spät, aber die Zusammenschau ihrer beider Entwicklung wird (wenig überraschend im stammeskundlichen Konzept der Literaturgeschichtsschreibung) an den Besitz einer Landschaft gebunden, nämlich Schlesien.261 Als führende Landschaft östlich der Elbe sei Schlesien für die Kulturkraft der Großmacht, zu welcher es jeweils gehörte, von entscheidender Bedeutung gewesen, „...ohne das die Kaiserkrone wahrhaftig nicht des Tragens wert war“,262 wie Nadler den Verlust Schlesiens unter Maria Theresia kommentiert. Die Vorherrschaft über die deutschen Stämme wird selbstverständlich nicht allein auf den Besitz Schlesiens gegründet; auch in dieser Hinsicht wird Preußen in einen größeren Zusammenhang eingebunden. Der preußische Staat wird in der „Literaturgeschichte“ schließlich zum wichtigsten Vertreter der Romantik erklärt. Zunächst weise die Mark Brandenburg mit niederfränkischem Bürgertum, wendischer Landbevölkerung und niedersächsischem Adel Anteile an allen drei ethnischen Elementen auf, welche die Völkergrundlage der romantischen Kultur darstellen sollen.263 Weiters impliziert die Zugehörigkeit Preußens zur Romantik als Teil der Neustämme politische Aspekte, indem der deutsche Osten nicht wie die Altstämme die Legitimität einer weströmischen Kaiserkrone trügen. Demnach habe es mit dem Ende des römischen Kaisertums deut—————— 260 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 150, 155f. 261 Zur Rolle Schlesiens zwischen Österreich und Preußen siehe: Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 21; 1918, S. 26, 34 und 176. 262 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 34. 263 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 147f.
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scher Nation und dem Aufstieg einer neuen, aus dem deutschen Siedelwerk im Osten entstandenen und auf Ideen der Romantik gegründeten Macht nur ein Kaisertum der Neustämme – der Hohenzollern – geben können. Romantisch sein hieße deshalb automatisch kleindeutsch sein. 264 An diesem Gedankengang zeichnen sich bereits die für den Aufbau des vierten Bandes (1928) maßgeblichen Konflikte zwischen Preußen und Österreich um die deutsche Einheit ab. Gerade am Beispiel Schlesien wird deutlich, wie sehr in Nadlers Konzept die (Kultur)Macht eines Staats von den seinem Territorium zugehörigen Gebieten abhängig gemacht wird. Die Ausführungen des Literaturhistorikers erwecken den Eindruck, als habe der von den Habsburgern beherrschte Staat mit dem Verlust einer deutschsprachigen Landschaft östlich der Elbe den Anspruch auf Teilhabe an der Romantik als „Wiedergeburt“ der deutschen Gesamtblüte von 1200 verspielt. Preußen hingegen, das sich als wichtigster Vertreter der Neustämme nach und nach Gebiete der Altstämme und damit auch deren Kultur aneignet habe, 265 erhielt durch seine Gebietsgewinne gewissermaßen die Möglichkeit, über das geistige Erbe des Westens und des Ostens zu verfügen. Erst durch deren Zusammenführung und Ausgleich ist in Nadlers Konstrukt die Einigung Deutschlands zu erwirken und die Legitimation als dessen Herrscher geglückt. Bezeichnenderweise beanstandet Nadler, während er die unter preußischer Führung vollzogene politische Einigung der Neustämme gutheißt,266 die Territorialgewinne der Preußen im Westen: sie hätten dem deutschen Kulturraum besser die Baltenländer sichern sollen, anstatt sich die Territorien anderer deutschen Stämme anzueignen. In Nadlers Wortlaut klingt dies natürlich eleganter, wodurch die Kritik an Preußen unterschwellig bleibt: „Das Baltenland wäre der Kraft des preußischen Staates würdig gewesen, einer Kraft, die sich an deutschen Stämmen vergeudete.“267 Anhand dieser Stilprobe wird wohl begreiflich, daß einem Leser mit positiver Einstellung zu Preußen die antipreußische Tendenz Nadlers nicht zwingend zur Kenntnisnahme kommt. Diese wird erst dann deutlich, wenn die Darstellung der Literaturgeschichte Preußens zu jener des verherrlichten Österreichs in Beziehung gesetzt wird.
—————— 264 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 10. 265 Vgl. dazu etwa Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 278: „Geist und Leben der alten Landschaften und ihre tausendjährige Kultur richteten Preußen zu neuer Stärke auf.“ 266 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 156. 267 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 376.
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4.4.3.3. Katholizismus und Protestantismus Das zentrale Moment der Nadlerschen Konstruktion eines nord-südlichen Gegensatzes zwischen Katholizismus und Protestantismus ist jene soeben beschriebene bairisch-österreichische Stammesblüte in der katholischen Barockkunst. Da Nadler die „Selbstbewegtheit“ des bairischen Stammesverbandes letztlich an dessen von der Entwicklung des übrigen deutschen Sprachraums losgelösten eigenständigen Stammeskultur festmacht und diese Stammeskultur von einer wesenhaft katholischen Kunst lebt, wird der (bairische) Süden in deutlicher Weise nicht nur zusätzlich, sondern vor allem durch seine Konfession hervorgehoben. Dem entspricht die Repräsentation des Protestantismus durch die bedeutendste Kraft der deutschen Stämme im Norden, die Preußen. In den Briefen an August Sauer finden sich kaum Bemerkungen Nadlers zur Behandlung konfessioneller Aspekte innerhalb seiner „Literaturgeschichte“, wenn auch Bekenntnisfragen öfter im Zusammenhang mit Lehrstuhlbesetzungen oder der Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aufgerollt werden. In diesem Zusammenhang fühlte Nadler sich als bekennender Katholik und Autor eines dezidiert katholischen Verlags meist benachteiligt. Jedenfalls wird allein an diesen nicht direkt auf sein Werk bezogenen Bemerkungen offensichtlich, daß Nadler den Protestantismus in erster Linie an Preußen koppelt. So spricht er etwa von einer „historischen protestantisch-preußischen Frage“, wie sich insgesamt sein Bild vom akademischen Leben zwischen den Polen Süden/Katholizismus und Norden/Protestantismus einspannt.268 Dementsprechend ist bei der Lektüre der „Literaturgeschichte“ damit zu rechnen, daß Nadler der Reformation und ihren Auswirkungen kaum positive Wirkung zuschreibt. Überraschend ist allerdings, in welcher Weise Nadler die Reformation – er selbst wendet diesen Begriff fast nie an und spricht von „Kirchenbewegung“ – an soziale Unruhen koppelt. Denn durch die Formulierungen des Literaturhistorikers wird den Beteiligten die Berechtigung zu sozialen Umstürzen gewissermaßen abgesprochen. Nadler spannt die Vorgänge der Reformation räumlich in das Dreieck Erfurt – Erzgebirge – Wittenberg ein. Und bereits in den einleitenden Worten zum —————— 268 Zitat aus: ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-435, Düdingen 30. 11. 1923; Nadler bezieht sich hier auf die nationalsozialistische Bewegung. Weiters schreibt Nadler einmal: „Dieser wahnwitzige, unsäglich nüchterne unfruchtbare, fade norddeutsche Protestantengeist.“; 415/1-162, München 23. 10. 1913. Anläßlich der Berufung Rudolf Ungers an die Universität Zürich 1920 höhnt er, man müsse „Schwiegersohn und Protestant“ sein, um zum Zug zu kommen und meint, daran hätte man ein Musterbeispiel des „freien Protestantengeistes“; 415/1-371, Freiburg 5. 7. 1920; vgl. 7.2.1.
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Abschnitt „Zwickau und Joachimstal“269 als Repräsentanten des Erzgebirges werden dieser Landschaft mit ihrer vergleichweise kurzen Besiedlungsgeschichte aufgelöste Gesetze, Neid, Haß und Rache zugeschrieben. Beruf (zunftlose Bergmänner) und Abstammung (vor allem fränkisch, teilweise mit slavischem Einschlag) hätten die Mystik begünstigt, die als Ursache und Grundstimmung für „soziale Träume“ benannt wird. Der Mystik allerdings wurde an früherer Stelle zugeschrieben, vom süßen Rausch des einzelnen zum Wahnsinn zu werden, wenn sie durch die Massen verzerrt würde.270 Mit einer beträchtlichen Portion Anachronismus konstatiert Nadler dann auch, im Erzgebirge habe ebensolcher Wahnsinn die „anarchistischen Arbeitermassen“ hingerissen und die „sozialistischen Stimmungen“ Mitte des 16. Jahrhunderts erfahren somit eine alles andere als zusprechende Darstellung.271 An Nadlers Ausführungen zur Reformation wird ein weiteres Mal deutlich, daß in der „Literaturgeschichte“ Umstürze und Revolutionen negativ bewertet und „wesensgemäße“, an Traditionen orientierte Entwicklungen ohne gewaltsame Brüche favorisiert werden. Der „Kirchenbewegung“ als traditionsfeindlichem Umsturz alter Ordnungen wird in der Folge anstelle des 30jährigen Kriegs zugeschrieben, der eigentliche „Kulturmörder“ gewesen zu sein und die Schuld am Niedergang der Dichtung zu tragen. Die Reformation habe eine nationale und die Klassik vorwegnehmende Blüte verhindert, indem sie den Niederbruch des Humanismus verursacht habe. Während allerdings den „Arbeitermassen“ – nicht explizit, aber konzeptuell – die Verantwortung für diese Umbrüche zugeschoben wird, trägt das Bürgertum zweifachen Schaden: einerseits sei mit dem Humanismus eine bürgerliche Bewegung zum Zusammenbruch gebracht und andererseits durch die Glaubenskämpfe die Fürstengewalt zuungunsten des Bürgertums gestärkt worden.272 Nadler argumentiert seine Ansicht von den schädlichen Auswirkungen der Reformation somit nicht aus konfessioneller, sondern aus sozialpolitischer Sicht und dies in einer Weise, die sich aufgrund der Wortwahl („Arbeitermassen“, „sozialistische Stimmungen“, „soziale Träume“) unschwer auf die Gegenwart des Literaturhistorikers übertragen lassen. Ressentiments gegen die Arbeiterklasse werden dem Leser bei der Behandlung der französischen Revolution und des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder begegnen (vgl. Abschnitt 6.2.). Die Ausrichtung der Literaturgeschichte an der Geschichte des deutschen Bürgertums erweist wiederum Nadlers Nähe zu Lamprecht. —————— 269 Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 219-230. 270 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 176. 271 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 223 und 230. Nadler ortet überdies bereits in den cluniazensischen Reformen „kommunistische Ideen“; ebd. S. 51. 272 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 197, 259, 298 sowie 1913, S. 148, 155, 161, 173, 196.
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Neben diesen sozialen, im stammeskundlichen Konzept wesentlich genealogisch unterlegten Aspekten argumentiert Nadler ein weiteres Mal stammlich und versetzt die Thematik der Kirchenbewegung in ihren Anfängen vor allem in die Stammesgebiete der Franken. Schon die Mystik habe in Franken, vor allem in Ostfranken als Landschaft der religiösen Probleme ihren Ausgang genommen und Luther selbst habe zu allererst auf fränkische Landschaften gewirkt.273 Auf den Nachweis, daß auch Martin Luther selbst Franke und nicht Thüringer gewesen sei, verwendet Nadler ziemlich viel Mühe und führt ihn über den fränkischen Namen und die fränkische Mutter Luthers; seine thüringische Heimat Henneberg sei überdies nur von Thüringern eroberter, aber von Franken, Alamannen und Thüringern besiedelter Boden, wobei erst bewiesen werden müsse, daß die dortige Mundart thüringisch sei.274 Prekär wird diese Zuschreibung der Reformation an die Franken aber wegen des Humanismus, der als Blüte der Franken und „Frankenbürtigen“275 somit von Franken selbst zu seinem Zusammenbruch gebracht würde. Die anfängliche Beschränkung von Luthers Einfluß auf fränkische und mitteldeutsche Landschaften (etwa das mehrheitlich fränkisch besiedelte Erzgebirge) dient möglicherweise zur Unterstreichung des von Nadler so oft strapazierten Gegensatzes zwischen Franken und Alamannen,276 kann aber auch in dieser Weise betont worden sein, um die Bedeutung Luthers allgemein zu schmälern, wie es an anderen Stellen spürbar wird. So vermindert der Literaturhistoriker Luthers Verdienste um eine einheitliche deutsche Schriftsprache durch die Ausführung, die neuhochdeutsche Schriftsprache sei bereits aus älteren Strömungen, nämlich der Kanzleisprache des 13. und 14. Jahrhunderts erwachsen, deren Schöpfer weit größer gewesen seien als Luther, weil sie auf keinerlei philologische Vorarbeiten hätten zurückgreifen können.277 Da die Kaiser „zunächst“ und „zum Glück“ im mitteldeutschen Prag residiert hätten, ging „...die ausgeglichene Umgangssprache der Stadt [...] durch die kaiserliche Kanzlei in —————— 273 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 230. 274 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 231. Die Frage der Mundart dieser Landschaft bezeichnet Nadler als Streitpunkt zweier Wissenschafter, die er allerdings nicht namentlich nennt. Außerdem meint er ebd.: „Die Sprache allein ist aber kein Beweis für entsprechende ethnologische Grundlagen.“ und „...die Mundart kann ebensowohl durch den [thüringischen] Eroberer als durch die Lage jenseits des Flusses die lebhafte fränkische Färbung verloren haben.“ 275 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 198. 276 Den alamannischen Landschaften wird zugeschrieben, sie hätten in Zwingli ihren eigenen Weg gehen wollen. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 303. 277 Dies gilt bei Nadler auch für Übersetzungen ins Deutsche, womit gleichzeitig die Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung geschmälert wird.
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die Thüringer und Sächsische und selbst in die Wiener über...“278 Der Ort der Initialzündung für eine einheitliche deutsche Schriftsprache wird somit wiederum auf das spätere (und für Nadler zeitgenössische) Gebiet der Habsburgermonarchie verlegt. Luther hingegen wird jegliche Begründung von Tradition abgesprochen, er habe lediglich auf älteren Traditionen aufgebaut und zu guter Letzt auch noch das Volksstück zerstört sowie die dramatische Gestaltung des Fauststoffes um zwei Jahrhunderte verschoben.279 Faust wird bei Nadler regelrecht zur literarischen Personifikation der negativen Auswirkung der Reformation: Luther und Faust seien wie „Ursache und letzte Wirkung“ da Faust die reine Vernunft verkörpere, die volle Freiheit des Christenmenschen genieße und sich damit ins Verderben stürze.280 Mit dieser Auslegung des Fauststoffes – obwohl Nadler auch hier landschaftlich differenziert281 – bezichtigt der Literaturhistoriker letztlich die Anhänger der Reformation, Menschen zur Gottlosigkeit zu verleiten. In eben dieser Weise steht der bekennende Katholik Nadler in der „Literaturgeschichte“ auch Einflüssen der (französischen) Aufklärung ablehnend gegenüber. Bezeichnend ist auch, an welcher Stelle der „Literaturgeschichte“ die katholische Konfession neben ihrer Rolle für die Barockkunst besonderen Bedeutungszuwachs erhält. Innerhalb der von Nadler aufgrund seiner Trennung von Altstämmen und Neustämmen eingeführten Unterscheidung zwischen Romantik und „katholischer und deutscher“ Restauration wird letzterer besonderes Verdienst bei der Befreiung Deutschlands von französischer Besetzung und französischem Einfluß auf das Geistesleben zugeschrieben.282 Nicht nur, daß die Restauration ihren Ausgang teilweise in geistlichen Fürstensitzen (Mainz, Koblenz) nahm, ist sie nach Nadlers Ansicht im Dom zu Köln, einer Stadt mit besonders starker altkirchlicher Überlieferung, symbolisch verkörpert.283 Somit erscheint das Festhalten von oder Rückbesinnen auf katholische Traditionen als entscheidender —————— 278 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 234. 279 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 235f. An August Sauer ging dieser Gedanke in folgender Formulierung: „Freilich vom literarischen Standpunkt ist Luthers Revolution aufs tiefste zu bedauern. Er hat den Humanismus aus seiner Bahn geworfen, das alte Drama, das so unvergleichliche Ansätze hatte, brutal niedergebrochen u. alles so eng u. ärmlich konfessionell gemacht...“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-57, München 16. 5. 1911. Ähnlich ebd. 414/4-55, München 4. 5. 1911. 280 Vgl. Abschnitt „Faust und seine Landschaften“, Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 241245, Zitat von S. 242. 281 In Erfurt etwa sei Faust vor Beginn der Kirchenbewegung noch als Humanistenidol verehrt worden, während später er in Wittenberg als warnendes Beispiel gesehen worden sei: dort hätten die Menschen alles, was sie als Folgen ihrer Hinwendung zur Reformation spürten, auf die Faustgestalt übertragen. Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 242 und 244. 282 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 240. 283 Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 259.
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Wendepunkt für die deutschen Befreiungskriege und das daraus hervorgehende gestärkte Nationalgefühl. Nicht zuletzt bedeutet Restauration auch Hinwendung zu einer vor der Reformation liegenden Epoche, was zusätzlich die Heilung des Bruches, welchen die Kirchenspaltung in der geistig-kulturellen Entwicklung der deutschen Stämme hinterlassen habe, impliziert – schließlich wirkte die Restauration in katholisch und protestantisch geprägten Landschaften gleichermaßen. Doch auch für den Antagonismus zwischen Katholizismus und Protestantismus gilt, was zur Darstellung Preußens gesagt wurde: mit Ausnahme der recht deutlichen Kritik an Luther bleibt die Aufwertung des Katholizismus zuungunsten des Protestantismus weitgehend implizit. Nadler wollte sich wohl als bekennender Katholik und Autor eines katholischen Verlags in dieser Hinsicht nicht zusätzlich exponieren: „Daß die kirchlichen Zusammenhänge so knapp ausfallen, liegt an meiner Stellung. Schweigen ist Silber.“ 284
4.5. Konsequenzen der stammeskundlichen Literaturbetrachtung 4.5.1. Natur und Kultur Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung ist sowohl in ihrem inneren Aufbau wie in der wissenschaftstheoretischen Begründung als auch in ihren über die wissenschaftliche Forschung hinausreichenden politischen Implikationen von den darin verarbeiteten spezifischen Ansichten zur Genese von Stamm und Volkstum abhängig. Die Kombination eines abstammungsgebundenen Stammescharakters mit einem zum Teil auf diesem und zum Teil auf der Landschaft basierenden Volkstum ist das Kernstück von Nadlers Konzept, das in der bisherigen Sekundärliteratur kaum auf seine wissenschaftlichen Grundlagen hinterfragt worden ist. In mancher Hinsicht hat wohl in diesem Zusammenhang die weitgehende Konzentration auf die stark formalisierte „Wissenschaftslehre“ von 1914 und auf die einführenden Abschnitte im ersten Band der „Literaturgeschichte“ die Analyse dieses spezifischen Verhältnisses blockiert. In jedem Fall muß der Lorenzschen Genealogie als wichtigste Grundlage der —————— 284 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-57, München 16. 5. 1911. Es geht aus dem Brief nicht eindeutig hervor, ob sich diese Bemerkung auf die geplante Broschüre über Anton Schott bezieht, die Nadler zuvor erwähnt, oder die „Literaturgeschichte“ betrifft. Da Nadler sich mit letzterer allerdings weit stärker exponierte, hat das Zitat mit Sicherheit auch für das vierbändige Werk Geltung.
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Nadlerschen Stammeskunde größeres Augenmerk als bisher zuteil werden. Die Stammeskunde wurde von Nadlers einschlägigen Vorbildern als Teil der Germanistik aufgefaßt und als solche philologischer Arbeitsweise unterworfen. Schon der Gedanke von der Existenz deutscher Stämme in der Vergangenheit und deren Fortwirken bis in die Gegenwart wurde aus philologischen Quellen genährt, ausgehend von antiken Berichten über die Germanen bis hin zur Mundartenforschung. Kaspar Zeuß als Autor der frühesten einschlägigen Monographie und Otto Bremer als wichtigster stammeskundlicher Bezugspunkt Nadlers gingen in ihrem Stammesbegriff von Sprachfamilien und kulturellen Einheiten aus, die in prähistorischer Zeit möglicherweise auch auf eine anthropologische Einheit zurückgingen, dieselbe jedoch durch Mischungen und die Übernahme ihrer Sprache durch andere Stämme mit großer Wahrscheinlichkeit verloren hätten. 285 Die Frage nach der Beweisbarkeit der Existenz von Stämmen mit naturwissenschaftlichen Mitteln stellte sich unter einem solchen Ansatz nicht, denn kulturelle Einheiten sind nur über ihre dementsprechenden kulturellen Äußerungen zu erfassen, die nichts über darüber hinausgehende Einheitlichkeit aussagen können.286 Nadlers Vorhaben, die Stämme zum Grundelement einer Darstellung der deutschen Literaturgeschichte zu machen, erforderte allerdings ein fester fundiertes Stammeskonzept. Denn zur Formulierung seines Konzepts genügte es nicht, die Existenz von Stämmen in der germanischen Frühzeit und ihr kulturelles Nachwirken bis in die Gegenwart anhand philologischer oder auch archäologischer Forschungen zu verfolgen. Differenzen zwischen den Stämmen müssen, um sie als bewegendes Element der deutschen Literaturentwicklung darstellen zu können, nicht aus ihren kulturellen Hervorbringungen abgeleitet, sondern zuvor wissenschaftlich begründet werden, um daraus das Vorhandensein der Differenzen erklären zu können. Denn bei Nadler weist nicht die unterschiedliche volkstümliche Kultur oder Mundart auf das Vorhandensein von Stämmen, sondern umgekehrt werden auf dem Vorhandensein von Stämmen die Unterschiede zwischen den Kulturen begründet. Die entscheidende Neuerung, die Nadler in die Stammeskunde einbringt, ist der Aufbau seiner Ansichten auf der Lorenzschen Genealogie. Mit der „gesetzmäßigen Neigung zum Ebenbürtigkeitsprinzip“, so frag—————— 285 Zeuß schreibt konkret den „Nordvölkern“ Germanen, Kelten und Wenden gleiche Körperbildung und Lebensweise, aber unterschiedliche Sprache und Götterglauben zu. Zeuß: Die Deutschen und ihre Nachbarstämme, S. 17. Zu Bremer vgl. 3.2.1.3. 286 Erst etwa zeitgleich mit der Entwicklung der Nadlerschen Ansätze verstärkte sich in der germanischen Prähistorie die Tendenz, von einheitlichem Fundmaterial innerhalb eines Gebiets auf einheitliche mentale Eigenschaften der Bewohner zu schließen (vgl. 3.2.1.3.).
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würdig diese grundlegende Annahme heute auch erscheint, wird erstmals ein Konzept der Stammesgenese in die Forschung zu den deutschen Stämmen eingeführt, das über die Vorstellung von Sprachverbänden hinausgeht und nicht als Vermutung, sondern als wissenschaftlich nachzuvollziehende Tatsache behandelt wird. Unter Berufung auf die nachweisliche Vererbung von Eigenschaften von Generation zu Generation erscheint die Erfassung von Stammesmerkmalen auf wissenschaftlichem Wege – die für August Sauer noch zweifelhaft war287 – durch die genealogische Forschung zumindest als möglich. Das Kriterium der gemeinsamen Sprache oder Kultur für den Nachweis einer Stammeseinheit kann auf diese Weise gegen jenes der gemeinsamen Abstammung eingetauscht werden. Auf dieser Grundlage kann schließlich auch die Vorstellung eines „Stammescharakters“ eingeführt werden, weil nach Lorenz’ Konzepten innerhalb einer Abstammungseinheit jedem ihrer Vertreter die Trägerschaft gleicher Eigenschaften zugeschrieben werden kann. Da innerhalb des Verbandes auch im Laufe der Zeit immer dieselben Eigenschaften weitergegeben würden, gewinnt diese Konstruktion von „Stammescharakter“ Stabilität und Kontinuität von der Urzeit bis in die Gegenwart und erhält eine „wissenschaftliche“ Basis, ohne daß jeglicher Gedanke an etwaige Mischungen ausgeschlossen werden müßte – auch bei Kreuzungen würden die Eigenschaften erhalten bleiben, wenn auch in neuer Kombination. Der Stammescharakter und die darauf aufbauende Kultur und Literatur sind in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung eine Folge der Existenz von Abstammungseinheiten. Die rein kulturelle Differenzierungsmöglichkeit von Stammestümern ist damit gegen eine „natürliche“ Grundlage ausgetauscht. Der Stamm als eine Abstammungseinheit, die gleiche Eigenschaften ihrer Angehörigen hervorbringt und gewährleistet, kann aufgrund der empirisch beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Vererbung als natürlicher Verband aufgefaßt werden. Allerdings fällt auf, daß dieser Verband in Nadlers Schriften zwar auf physisch-anthropologischen Voraussetzungen begründet, aber nie eine Analyse desselben mit naturwissenschaftlichen Mitteln in Betracht gezogen wird. Diesbezüglich erweist sich die Übernahme der genealogischen Begründung der Stämme als besonders vorteil—————— 287 „Diese Stammesmerkmale bilden die älteste und festeste Schicht, auf welcher alle anderen Einflüsse und Eindrücke [...] sich aufbauen und wären uns diese Stammesmerkmale bekannt, wären sie wissenschaftlich erfaßbar, so gäben sie uns ein ausgezeichnetes Kriterium zu einer gewissermaßen natürlichen Gruppierung auch der Literaten und Dichter eines Volkes.“ Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 5, Hervorhebungen IR. Zwar gibt auch Sauer einen Hinweis auf Lorenz, bezieht die Genealogie jedoch nur auf die Erstellung von Stammbäumen einzelner Dichter; ebd. S. 19.
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haft, da die Lorenzsche Genealogie sich zwar auf biologische Gesetzmäßigkeiten der Vererbung gründet, aber umgekehrt durch ihre (zumindest konzeptuelle) Ausrichtung auf das Individuum die Frage nach der Nachweisbarkeit der Existenz von Stämmen mit Mitteln der physischen Anthropologie gar nicht erst in den Blick rückt. Die individuelle Vererbung von Eigenschaften von den Eltern auf ihre Kinder wird als so offensichtlich präsentiert, daß eine wissenschaftliche Erklärung des eigentlichen Vererbungsvorgangs zur Anerkennung des Faktums der Weitergabe von Eigenschaften nicht erforderlich scheint. Ungeklärte Fragen wie jene nach den Mechanismen der Vererbung von Eigenschaften werden durch diese Darstellungsweise ausgeblendet und durch die alltägliche Feststellung von Familienähnlichkeiten überdeckt. Die Familie bildet somit eine natürliche, dh. biologische Einheit, deren Existenz auch ohne den Nachweis gemeinsamer Merkmale mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht abzustreiten ist. In Nadlers genealogischem Argumentationsrahmen von durch das Ebenbürtigkeitsprinzip entstehenden Menschengruppen kann nun ein Stamm aufgrund des Ahnenverlustes durchaus als vielfach verkreuzter Sippenverband verstanden werden. 288 Aufgrund der nahen Verwandtschaft der Stammesangehörigen untereinander kann der Literaturhistoriker sich im Endeffekt auf die jederzeit beobachtbare Vererbung von Familienähnlichkeiten berufen, während sein Stammescharakter sich auf diese Weise als eine Art Familiencharakter ansehen läßt. In Lorenz’ eigener Terminologie wird der Begriff „Familiencharakter“ nur auf einzelne Familien angewandt und deutlich von einem anthropologisch zu fassenden und zu erforschenden „Volkscharakter“ abgegrenzt.289 Als Beispiel wissenschaftlicher Vorgehensweise, von welcher Lorenz sich in diesem Zusammenhang abgrenzen möchte, werden die Forschungen Rudolf Virchows genannt; genauer gesagt dessen Versuche, Völker und Stämme anhand der Messung anthropologischer Merkmale zu charakterisieren. Durch Forschung dieser Art, so der Genealoge, sei die physische und vor allem psychische Gleichartigkeit des Familiencharakters nicht zu erklären, denn der Familiencharakter könne eben nicht „anthropologisch“ erfaßt werden. Die Analogsetzung, die Nadler nun praktisch zwischen dem Lorenzschen „Familiencharakter“ und seinem eigenen „Stammescharakter“ vornimmt, ist in hohem Maße dazu geeignet, ihm nichts weniger als die Frage nach der Beweisbarkeit der Existenz eines Stammes mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu ersparen. Jene Frage stellt sich nicht, wenn die Erforschung des Familiencharakters aus dem Kompetenzbereich der phy—————— 288 Man denke etwa an Nadlers Beispiel Zürich, das in 4.3.2. wiedergegeben wurde. 289 Vgl. Kapitel „Vererbung und Familie“ in Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 392-411.
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sischen Anthropologie ausgegrenzt wird – auch wenn schon bei Lorenz selbst eine schlüssige Begründung hierfür fehlt. Dennoch bleibt über die Familie als biologische, Vererbungsgesetzen unterliegende Einheit eine prinzipiell naturwissenschaftlich zu fassende (wenn auch nach Lorenz’ Ansicht nicht naturwissenschaftlich zu erfassende) Grundlage für den Stamm in Nadlers Konzept erhalten. Der genealogische Ansatz vereinfacht es Nadler zusätzlich, in seiner „Wissenschaftslehre“ 1914 die Abhängigkeit psychischer von physischen Merkmalen bzw. den unmittelbaren Zusammenhang zwischen beiden zu postulieren. Zunächst setzt er die Vererbung geistiger Eigenschaften mit jener körperlicher Merkmale analog, indem er im Übergang vom „Urheber als Bewirkendes“ der Texte zum „Urheber als Bewirktes“ körperliche Verwandtschaft als Ursache für die Ähnlichkeit geistiger Hervorbringungen behauptet. Von der beobachtbaren Vererbung äußerlicher Familienmerkmale (ohne daß diese meßbar wären) ist es zur Annahme desselben Vererbungsvorgangs für geistige Eigenschaften nur ein kleiner Schritt. Und das Postulat, daß ohne Körperliches nichts Seelisches gegeben sei, legt die Koppelung psychischer an physische Merkmale nahe. In der „Literaturgeschichte“ allerdings ergeben sich Widersprüche zwischen dieser 1914 mehr oder weniger deutlich formulierten Bestimmung der geistigen Merkmale durch die körperlichen. Würde man diesen Grundsatz auf Nadlers Hauptwerk anwenden, so könnte ein Teilstamm kein neues Volkstum hervorbringen, ohne neue körperliche Eigenschaften aufzuweisen. Wiese ein solcher Teilstamm jedoch neue körperliche und dadurch geistige Merkmale auf, so wäre der ursprüngliche Stammescharakter verändert und die Verwandtschaft mit dem Ursprungsstamm zumindest entfernter, wenn nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage könnte es keine Teilstämme und Volkstümer, sondern nur neue Stämme geben. Umgekehrt müßten die Geofaktoren der unterschiedlichen Landschaften, um Auswirkungen auf die kulturellen Ausdrücke einer Menschengruppe hervorzurufen, auch auf den Körper wirken, was sie in Nadlers Konzept mit dem Primat des Stammescharakters nicht tun. Denn kultureller Ausdruck hängt zwar in der „Literaturgeschichte“ über das Volkstum sehr wohl eng mit der Landschaft zusammen, aber dennoch ist dem Einfluß der Landschaft der Stammescharakter vorgeschaltet. Zumindest hat sich dieses Primat des Stammescharakters im Rahmen der Analyse des Verhältnisses zwischen Stamm und Landschaft erwiesen, wo die Landschaft als volkskundliche Einheit der Abstammungseinheit
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des Stammes nachgeordnet wird.290 Die Geofaktoren der Landschaft wirken sich in der „Literaturgeschichte“, wie gezeigt wurde, vor allem in den kulturellen Hervorbringungen und besonders der Dichtung der Teilstämme, in den Volkstümern, aus. Die Termini, die Nadler in diesem Zusammenhang verwendet, vom „Hineinwachsen“ in eine Landschaft bis zum „Aneignen“ derselben im Medium der Dichtung, rücken ihn in die Nähe Friedrich Ratzels und dessen Ansicht, der aktive Umgang von Menschengruppen mit den Gegebenheiten der Umwelt strukturiere Geschichte. Denn in der „Literaturgeschichte“ entsteht ein Volkstum aus einer Entwicklung der geistigen Kräfte an den Gegebenheiten einer natürlichen Einheit und nicht zuletzt durch die aktive Aneignung der Natur im Medium der Dichtung. Der Anschluß Nadlers an die geographischen Ansätze Friedrich Ratzels ist in der „Literaturgeschichte“ somit weit deutlicher als die theoretische Grundlegung in der „Wissenschaftslehre“ vermuten ließe. Bei Ratzel wie bei Nadler ist die geistige Aneignung der Umwelt durch die in eine Landschaft eingewanderte Menschengruppe zentral, wenn auch diese Auseinandersetzung mit äußeren Gegebenheiten in Ratzels Konzept sich zunächst in der Wirtschaftsweise und erst auf dieser Grundlage in anderen kulturellen Hervorbringungen auswirkt, während Nadler die Auseinandersetzung mit der Natur gemäß seinem Gegenstandsgebiet vornehmlich auf die Dichtung verschiebt. Seine anfänglichen Bezüge auf die Wirtschaftsgeschichte, die auch auf das Vorbild Lamprecht zurückgehen, verlieren mit Abschluß des ersten Bandes rasch an Bedeutung, da in der „Literaturgeschichte“ nach und nach geistige Traditionen der einzelnen Stämme bzw. Volkstümer wichtiger werden als der Einfluß der natürlichen Einheit auf die Kultur und auf die Dichtung im besonderen.291 Die „Literaturgeschichte“ führt also zwei Faktoren für die Entstehung einer spezifischen Kultur ein: Einerseits den abstammungsgebundenen Stammescharakter, der in seiner Ausbildung sowie in seinem Fortbestand im wesentlichen von Umweltfaktoren unabhängig ist.292 Und andererseits die Geofaktoren der Landschaft als natürliche Einheit, die ihre Bedeutung —————— 290 Es sei etwa an folgendes Zitat erinnert: „Literatur und Kunst [...] können nur dort erklärt und begriffen werden, wo der Mensch mit tausend Fasern an einem bestimmten Erdfleck festgewachsen ist, wieder nur aus der Gesamtheit aller Wirkungen, die zwischen Heimat und Abkunft spielen.“ Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. VI; Hervorhebung IR. 291 Dadurch können wohl auch politische Einheiten schließlich auf Volkstümer wirken. 292 Bei Ottokar Lorenz werden Umwelteinflüsse auf die Eigenschaften einer Menschengruppe zwar nicht ausgeschlossen, doch führt er veränderte Eigenschaften weit stärker auf Kreuzungen zurück, also auf die Einmischung neuer Eigenschaften, anstelle auf Modifikationen bestehender oder dem Erwerb neuer Merkmale; vgl. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, bes. S. 378-381. Daraus ergibt sich, daß aufgrund von Mischungen eingekreuzte und durch Umwelteinflüsse erworbene Eigenschaften nicht unterschieden werden können.
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allerdings erst über die geistige Aneignung der jeweiligen Landschaft durch die in ihr siedelnden Menschen erhält, wobei jedoch die Art der Aneignung von Stammescharakter zu Stammescharakter differiert. Beide Kulturfaktoren gründen sich gleichermaßen auf „Natur“, ob auf die Vererbungskette des Menschen als natürliches Wesen, auf dem seine „Menschennatur“ beruht, oder auf die Beschaffenheit von Erdoberfläche, Klima etc. Das Volkstum wird damit zweifach in der Natur verankert, die Kultur wird zu einer Folge der natürlichen Voraussetzungen. Eine solche Konstruktion ist für Nadlers Zeit weder neu noch ungewöhnlich und doch erhält sie im wissenschaftlichen Gefüge nach 1900 eine Sonderstellung. Diese Sonderstellung beruht allerdings in erster Linie auf der genealogischen Grundlage, die sich nämlich auch auf den volkskundlichen Anteil der „Literaturgeschichte“ erstreckt. Nicht nur, daß eine von Nadlers Vorstellungen von Volkstum bestimmte Volkskunde weitgehend von der philologisch arbeitenden Germanistik abgekoppelt wird und stärker geographisch ausgerichteten Zweigen wie den Arbeiten Alfred Kirchhoffs oder Adolf Hauffens folgt, wird insgesamt ihr Gegenstandsbereich erweitert: volkskundliche Forschung, auch jene der Dichtung gewidmete, ist nicht mehr allein auf die ländlich-bäuerliche Schicht beschränkt, weil jeder Mensch auf genealogisch-geographischer Grundlage ein Produkt seines Volkstums ist, dem er aufgrund seiner ererbten Eigenschaften unentrinnbar verpflichtet ist. Die Dichter werden aus ihrem bisherigen Geniestatus sozusagen in die Reihen der durch ihre erblichen Anlagen determinierten Menschen eingeordnet. Allerdings ohne ihnen ihren herausragenden Status zu nehmen, denn sie können eben als Träger hervorragender Eigenschaften erscheinen – in besonders hoher Ausprägung eben jener Merkmale die sie mit jedem ihrer Stammesgenossen teilen. Indem das Volkstum maßgeblich an erbliche Eigenschaften – geistige wie körperliche – gebunden wird, gewinnen so schwammige Begriffe wie Stammes- oder auch Volksgeist durch ihre Festlegung auf gemeinsame geistige Merkmale einer aufgrund des Ebenbürtigkeitsprinzips entstandenen Menschengruppe zumindest einen Anspruch auf empirische Erfaßbarkeit. Im Rahmen der Analyse der „Literaturgeschichte“ dürfte deutlich geworden sein, in welcher Hinsicht sich die „Wissenschaftslehre“ von der praktischen Durchführung des mehrbändigen Werks unterscheidet. Der Versuch einer erkenntnistheoretischen Begründung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung entsteht vor allem aus der Bestrebung, den Anforderungen der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Debatten entsprechen zu wollen und ein möglichst unanfechtbares Konzept zu entwickeln. So ist bereits der Gedanke, die dem Bewußtsein gegebenen schriftlichen Denkmäler in ihrer Gesamtheit nach ähnlichen Merkmalen
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zu ordnen, reine Hypothese, da eine solche Vorgehensweise aufgrund der Masse an Texten in realiter nicht leistbar wäre. Am ehesten ließe sich eine solche Vorgehensweise für die relativ überschaubare Zahl an alt- und mittelhochdeutschen Texten durchführen, die tatsächlich nach mundartlichen Besonderheiten in Einheiten zusammenzufassen wären.293 In seinen die „Literaturgeschichte“ vorbereitenden Forschungen ordnet Nadler jedenfalls keineswegs Denkmäler nach der Ähnlichkeit ihrer Merkmale, sondern er sammelt für jede Landschaft ihr entstammende Dichter und untersucht deren Werke auf Übereinstimmungen. Der in der „Wissenschaftslehre“ vorgestellte Ausgangspunkt der Analyse von den Denkmälern suggeriert dem Leser, daß diese tatsächlich aufgrund ihrer Ähnlichkeiten zu Einheiten zusammengefaßt werden könnten. Der Beweis, daß dies möglich sei, wird jedoch an keiner Stelle erbracht; der Bezug auf die anerkannte wissenschaftliche Operation der fortschreitenden Begriffsbildung wird hier von Nadler als ausreichend erachtet. Doch erst die Argumentation über die Ähnlichkeit der Denkmäler, dh. über die Voraussetzung, daß sich solche Ähnlichkeiten in den Denkmälern finden ließen, ermöglicht es dem Literaturhistoriker, diese Ähnlichkeiten auf gleiche oder zumindest „verwandt organisierte“ Ahnen zurückzuführen. Eine Verwurzelung der Dichtung im Volkstum kann nur so postuliert werden, da allein auf diese Weise das Volkstum bzw. abstammungsgebundene Stammestum als der Dichterpersönlichkeit vorgeschaltet erscheint. Nur auf diesem Weg kann der Urheber der Werke als etwas „Bewirktes“ erscheinen und auf dem Konzept des Urhebers als Bewirktes beruht letztlich Nadlers Möglichkeit, Kausalgesetze in die Literaturgeschichtsschreibung einzuführen. Die Vererbungsgesetzen unterliegende Menschennatur soll eine objektive, weil (prinzipiell) naturwissenschaftlich zu erforschende Grundlage für Nadlers Konzept schaffen.294 Indem Volkstum und Dichtung immer auch auf dem Stammestum der Dichter beruhen, kann Nadler den Zwang der Abstammung auch für literarische Werke behaupten. Damit ist festzuhalten, daß der Literaturhistoriker den Objektivitätsanspruch seiner Konzepte auf naturwissenschaftliche Aspekte gründet. Nadler bindet sein Gesamtkonzept untrennbar an die Lorenzsche Lehre der Genealogie. Worauf er die notwendige wissenschaftliche Begründung aufbaut, wird ihm jedoch in anderer Hinsicht zum Problem. —————— 293 Wobei die Mundart ihrer Überlieferung nicht unbedingt der Mundart ihrer Entstehung entsprechen muß! 294 Wichtige Hinweise darauf geben etwa die häufigen Vergleiche Nadlers von „Abstammungselementen“ und chemischen Elementen. Vgl. Nadler: Wissenschaftslehre, S. 53 und z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 5. Siehe zu diesem Aspekt va. Meissl: Wiener Neugermanistik, bes. S. 136f.
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Nicht nur, daß jener genealogische Ansatz im wissenschaftlichen Gefüge eine untergeordnete Rolle spielte, konnte er die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nicht so umfassend begründen, wie es Nadler wohl erhoffte. Das zentrale Moment der „Wissenschaftslehre“ ist Nadlers Absicht, Gleichwertigkeit für die Ergebnisse seiner Literaturgeschichtsschreibung mit den Erkenntnissen der „harten“ Naturwissenschaften zu behaupten. Die Begründung der Darstellungsmöglichkeit von Literaturgeschichte auf der Natur bzw. auf den „natürlichen Teileinheiten“ des abstammungsgebundenen Stammes und des landschaftsgebundenen Volkstums unterstützt ihn in diesem Vorhaben, kann seine Ansprüche aber nicht restlos erfüllen. Denn selbst wenn die Vorstellung des Ebenbürtigkeitsprinzips, das schon bei Lorenz keine wissenschaftliche Begründung erfährt und ein Postulat darstellt, aus der an diesem Konzept zu leistenden Kritik ausgespart wird, lassen sich aus den durch dieses Prinzip „gewährleisteten“ gleichen Eigenschaften der Repräsentanten einer Menschengruppe noch keineswegs ihre spezifischen Eigenschaften ableiten. Nadler bleibt jegliche Erklärung, welchen Mechanismen die Stammescharaktere ihre spezifischen Zügen zu verdanken hätten, schuldig. Einen solchen Dienst können ihm selbst seine zahlreichen Grundlagen- und Hilfswissenschaften nicht leisten und an dieser Stelle bleibt somit ein blinder Fleck – den Nadler durch seine Vorgehensweise im theoretischen Aufsatz von 1914 zu verdecken versuchte.295 4.5.2. Politische Implikationen Die doppelte Grundlage für die Ausprägung einzelner volkstümlicher Kulturen ist in Nadlers Konzept der Literaturgeschichtsschreibung von unschätzbarem Vorteil: der Literaturhistoriker sichert sich durch die Abkoppelung des Stammescharakters von der Landschaft und der Bindung der Kultur an die Landschaft eine beträchtliche Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten zur Herausbildung spezifischer Volkstümer. Er kann somit einem Stamm bestimmte Züge zuschreiben, die auch bei der Kolonialisierung eines neuen Territoriums mit anderen landschaftlichen Gegebenheiten ihre Geltung behalten und nicht durch die neue Umwelt bis zur Unkenntlichkeit des Ausgangsstammes verändert werden. In dieser Weise entgeht Nadler einer Gefährdung seines Konzepts des abstammungsge—————— 295 Daß Nadlers Stammesbegriff nicht auf induktiven Weg gewonnen werden kann, wie der Literaturhistoriker in der „Wissenschaftslehre“ behauptete, sondern nur deduktiv, ist wiederholt bemerkt worden; va. Meissl: Wiener Neugermanistik, S. 132. In Berücksichtigung von Nadlers (fragwürdiger) genealogischer Grundlage trifft meines Erachtens dieses Urteil weniger den Begriff des Stammes selbst als jenen des Stammescharakters.
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bundenen Stammescharakters, denn die ererbten Eigenschaften erscheinen unter diesen Voraussetzungen als weitgehend resistent gegenüber den Einflüssen der Landschaft. Umgekehrt entkommt er einem zu starren Determinismus durch den Stammescharakter, indem der Landschaft im geographischen Sinne über die Notwendigkeit ihrer geistigen Aneignung modifizierende Wirkung auf die entsprechende Menschengruppe zugeschrieben wird. Hätte umgekehrt ausschließlich die Landschaft Einfluß auf die Kultur einer Menschengruppe, so wären wichtige Aspekte von Nadlers Konzept nicht zu leisten, etwa die Trennung einer bairischen von einer alamannischen Stammeskultur in ihrem zum Teil gemeinsamen Siedelraum der Alpen. Die Kombinationsmöglichkeiten zur Ausbildung immer neuer Volkstümer sind durch die doppelte Grundlegung somit entscheidend ausgeweitet. Und jedem einzelnen Volkstum können spezifische Beiträge zum Anwachsen des deutschen Nationalbewußtseins zugeschrieben werden, womit Nadler bedeutenden Bewegungsspielraum in Richtung seiner grundlegenden Teleologie gewinnt. Durch die zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten von genealogisch „vorgefertigten“ Stammescharakteren und unterschiedliche Volkstümer hervorbringenden Landschaften eröffnet sich für Nadler ein breites Spektrum an möglichen Ausprägungen von Volkstümern und damit natürlich auch entsprechender Literaturen. Doch jede dieser möglichen volkstümlichen Ausprägungen ist aufgrund der Vorstellungen zu ihrer Genese untrennbar an einen bestimmten Stamm bzw. Teilstamm und an eine spezifische Landschaft gebunden. Daraus folgt: müßte eine Menschengruppe jene Landschaft verlassen, die sie sich – nicht zuletzt in ihrer Dichtung – geistig angeeignet hat, so würde unweigerlich ihr spezifisches Volkstum mitsamt der zugehörigen Literatur verlorengehen. Damit stimmt Wolfgang Neubers Feststellung überein, daß bei Nadler eine Entkoppelung der literarischen Epochen von der Zeit stattfinde und dieselben als zeitlos und als typische Stilformen eines Raums verstanden würden.296 Doch auch hier erweist sich das Konzept der doppelten Bindung als ausschlaggebend, denn Epochen werden letztlich stärker an den Stammescharakter gebunden.297 Wäre für die Ausprägung einer Kultur allein die Landschaft maßgeblich, bzw. der Raum mit einer möglichen zusätzlichen kulturellen „Vorprägung“, so würden auch im Falle der Verdrängung der Bevölkerung durch eine andere Menschengruppe die Geo—————— 296 Neuber: Nationalismus als Raumkonzept, S. 177f. Siehe dazu auch Meissl: Wiener Neugermanistik, S. 140. 297 So etwa der Barock nicht an ein österreichisches Volkstum, sondern an den gesamten bairischen Stamm oder die Romantik auf den gemeinsamen Charakterzügen der Neustämme.
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faktoren neuerlich jene den äußeren Bedingungen entsprechende Kultur hervorbringen. Erst in der Verbindung mit dem abstammungsgebundenen Stammescharakter, der bereits die geistige Aneignung einer Landschaft mitbestimmt, ist ein Volkstum an eine einzelne Menschengruppe und an eine bestimmte natürliche Einheit geschweißt. Um die Erhaltung eines auf dieser Grundlage ausgeprägten Volkstums zu gewährleisten bleibt somit nur eine Möglichkeit: die Sicherung des entsprechenden Territorialbesitzes in den Händen des betreffenden Stammes unter weiterer Berücksichtigung des Ebenbürtigkeitsprinzips. Die bereits bei August Sauer vorgegebene kulturpolitische Zielrichtung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung, nämlich die Propagierung der Pflege des Volkstums, erhält durch dieses Konstrukt besondere Vehemenz. Auf der eben beschriebenen Basis sind die einzigen Mittel zur Pflege eines Volkstums im Sinne seiner Erhaltung die Verteidigung von Territorialbesitz und die Verhinderung einer „Umschaffung des Stammescharakters“ durch zu großen Zuzug stammesfremder Menschen. Der Wille zur Erhaltung eines Volkstums mit seiner Literatur als zentralem Kulturgut kommt letztlich einem Gebietsanspruch gleich. Und da die einzelnen Volkstümer in der „Literaturgeschichte“ ihren jeweiligen Anteil an der Entwicklung der Nation zu ihrem wachsenden Nationalbewußtsein leisten, muß es dieser Denkweise entsprechend in jedem Fall im Interesse der gesamten deutschen Nation liegen, von deutschen Stämmen besiedelte Territorien zu halten. An diesem Punkt vollzieht sich die Wandlung der Kulturgeographie zum politischen Programm. Die Bedeutung des Raums ist bei Nadler also keineswegs, wie man es bei der Lektüre der „Wissenschaftslehre“ vermuten könnte, auf den Einfluß der Landschaft als natürliche Teileinheit der Erde auf den Aufbau der Menschen beschränkt. Wie sich gezeigt hat, wird der Raum als Landschaft erst Kulturfaktor durch die geistige Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Lebensraum. Auch an der Herausbildung neuer volkstümlicher Kulturen gewinnt der räumliche Aspekt maßgeblichen Anteil, stets in Zusammenhang mit der Kolonialisierung neuer Gebiete. In der „Literaturgeschichte“ läßt sich dies etwa an Nadlers Darstellung der Blockierung der Entwicklung der Altbaiern durch die Ostbaiern zeigen. Konkret heißt es, indem die Ostbaiern selbst vorwärts wollten, hätten sie die Bewegung anderer gehemmt.298 Dies ist ein eindeutiger Hinweis darauf, daß in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung die Möglichkeit zur Weiterentwicklung eines Stammes an territoriale Zugewinne gebunden ist. Umgelegt auf die ganze Nation knüpfen an dieses Konstrukt der Bindung —————— 298 Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 136. In Übereinstimmung damit ist auch Nadlers Bemerkung, eine Literatur mit engen lokalen Grundlagen sei nicht von Dauer; ebd. 1913, S. 135.
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kultureller Weiterentwicklung an Kolonisation weitreichende politische Implikationen an, da somit der ständigen Erweiterung des Territorialbesitzes einer Nation und letztlich dem Imperialismus das Wort gesprochen wird. Als bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang, wie der „Aktionskreis“ der Deutschen im Laufe der Bände der „Literaturgeschichte“ sukzessive ausgeweitet wird299 und wie oftmals der Eindruck entsteht, daß literarische Blütezeiten eines Stammes mit dessen besonderer territorialer Machtentfaltung zusammenfallen.300 Nadlers literarisch-geistige „Bewegungen“ als „natürliche Einheiten der Ereignisfolgen“ und kulturelle Weiterentwicklung im allgemeinen haben demnach tatsächlich etwas mit Bewegung im Sinne von Wanderung zu tun.301 Das erinnert an wiederum an Ratzel, in dessen Konzept die Wanderung von Menschengruppen und die Kolonisation von Landstrichen das entscheidende strukturbildende Element von Geschichte sind und der laut Woodruff Smith den Darwinschen Wettbewerb ums Dasein auf den Wettbewerb um Raum konzentrierte.302 In diesen Rahmen gehört auch jenes grundlegende Gesetz Nadlers, daß neue Bewegungen immer von der Grenze des deutschen Sprachraums ausgehen würden. An den Grenzen hat man sich offenbar noch so viel Bewegungsspielraum vorzustellen, daß dort neue kulturelle Entwicklungen durch die neue, auch geistige Aneignung von Gebieten ihren Anfang nehmen können. Allerdings lassen sich die geistigen Bewegungen in der „Literaturgeschichte“ keineswegs allein von Territorialgewinnen abhängig machen. Auch in dieser Hinsicht wird wiederum die doppelte Begründung aus Genealogie und geographischer Einheit wirksam. So werden etwa die Bewegungen des von den Alamannen ausgehenden Pietismus und die rheinische Restauration nicht auf der Besiedlung neuer Regionen zurückgeführt, allerdings entstehen sie beide in Grenzräumen und die Restaura—————— 299 Nicht nur durch die Kolonisationsgebiete im Osten, sondern auch durch die Einbeziehung von Kopenhagen oder Rom (Nadler: „Literaturgeschichte“ 1913, S. 319-331 bzw. 1918, S. 130-146), die in Band 4 mit dem Dreieck Paris – Rom – Petersburg und der Berücksichtigung deutschsprachiger Auswanderer in den USA überboten wird. 300 Beispiele hierfür sind eine alamannische Blüte zur Zeit der Herrschaft der Staufer (Nadler: Literaturgeschichte 1912, S. 51) und besonders Nadlers Bindung der Barockkunst an das Haus Habsburg. Doch auch die Herrschaft innerhalb des deutschen Sprachraums scheint auf Territorialfragen zu basieren; vgl. 4.4.3.2. zur Konkurrenz zweier Großmächte, besonders im Hinblick auf Schlesien. Dieser Eindruck wird allerdings auch dadurch verstärkt, daß Literaturblüten besonders dann zu erwarten seien, wenn keine geistigen Kräfte durch politische Arbeit gebunden werden – am Punkt hoher Machentfaltung wären die geistigen Kräfte frei, sich in der Dichtung zu äußern (vgl. 4.3.3.). 301 Auch innerhalb der „Literaturgeschichte“ kann die Wanderung sogar eines einzelnen Menschen strukturelle Bedeutung erhalten: in Literaturgeschichte 1913, 5. Buch, Kapitel 4 und 1918, 6. Buch, Kapitel 2 folgt Nadler den Wanderwegen Goethes und Schillers. 302 Smith: Politics and the Sciences of Culture, S. 142.
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tion überdies zu Zeiten von Nationalitäten- und auch Territorialkonflikten. Und gerade in Grenzräumen ist damit zu rechnen, daß Mischungen mit nicht den deutschen Stämmen zugehörigen Menschen stattfinden, wodurch nach Nadlers Konzepten neue, eingekreuzte Eigenschaften neue Bewegungen zur Folge haben können.303 Die Statik, die in Nadlers Konzept durch die Bindung eines Volkstums an die geographische Landschaft und die Annahme weitgehend unwandelbarer Stammescharaktere entsteht, läßt sich eben nur durch die Einführung dieser beiden Vorgänge dynamisieren: Zugewinn von Gebieten mit neu anzueignenden äußeren Bedingungen und/oder die Einmischung neuer Eigenschaften von außen. Auch in dieser Hinsicht wird jedenfalls ein Muster deutlich, das sich durch die gesamte „Literaturgeschichte“ zieht: die Option Nadlers, zwischen zwei möglichen Ursachen als Erklärung für eine Erscheinung zu wählen. Schon die zentrale doppelte Bindung einer volkstümlichen Kultur an den Stamm als Abstammungs- und die Landschaft als geographische Einheit läßt für Nadler trotz des von ihm postulierten Primats des Stammescharakters unterschiedliche Gewichtungen beider Aspekte zu. Deutlich hat sich dies etwa in Fällen gezeigt, wo der Literaturhistoriker nicht allein auf Stammesfragen beruhende Aufwertungen bestimmter Volkstümer vornimmt – etwa die Begründung der Sonderstellung Österreichs über das Donautal als Träger von Völkergedanken untergegangener Stämme. Oder die weströmisch-klassische „Kulturfläche“, die es Nadler einerseits ermöglicht, die unterschiedlichen Charaktere der Altstämme, die zuvor die Dynamik der Literaturgeschichte bestimmt hatten, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Andererseits wertet er auf dieser Grundlage über die Frage der Legitimität von Herrschaft die Deutschen vor den Slaven und die Altstämme vor den Neustämmen auf. Das Verhältnis zwischen Stamm und Landschaft, das viele Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung trägt, dient demnach nicht nur einer bestmöglichen Absicherung des Gesamtkonzepts, sondern bedeutet auch eine größtmögliche Flexibilität innerhalb desselben Konzepts.304 Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Flexibilität, die sich durchaus auch in Form von Unklarheit über die Gewichtung der Aspekte Stamm und Landschaft innerhalb der „Literaturgeschichte“ äußert, Nadler in Hinsicht auf die Rezeption seines Werks nicht letztlich schadete (vgl. Abschnitt 7.1.). Die generelle politische Zielrichtung von Nadlers Konzept der „Literaturgeschichte“ ist im Vergleich dazu deutlich genug. Der entsprechende —————— 303 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang etwa Nadlers Hervorhebung der teilweise romanischen Abstammung der wichtigsten Begründer der rheinischen Restauration Görres, Brentano und Boisserée. 304 Eine Flexibilität, die sich Nadler auch bei der Anwendung seiner wissenschaftlichen Grundlagen herausnimmt, vgl. in Hinsicht auf die Genealogie 4.3.2.
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Gebietsbesitz als Bedingung für die Erhaltung eines Volkstums und die Ausweitung des Territorialbesitzes als Impuls für die kulturelle Weiterentwicklung einer Nation im Rahmen eines anwachsenden Nationalbewußtseins tragen klare imperialistische Züge. Die Festschreibung der Zugehörigkeit der Menschen zu sozialen Klassen aufgrund der ererbten Eigenschaften bringt Nadlers antisozialistischen Impetus zum Ausdruck, der sich auf den Protestantismus und aufklärerische Strömungen erstreckt. Derselbe blockiert wohl auch eine Berücksichtigung sozialer Faktoren der Literaturentwicklung, denn die Ansätze zu einer „Sozialgeschichte“ der Literatur verlieren sich in der Stammeskonzeption als Kollektivpersönlichkeit auf der Grundlage der Trägerschaft gemeinsamer Eigenschaften. Die Bevorzugung des Katholizismus und der Versuch einer Aufwertung des deutschsprachigen Südens, vor allem Österreichs, haben sich bei der Analyse entsprechender Kapitel nachweisen lassen und müssen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Allerdings soll die Aufwertung Süddeutschlands an dieser Stelle noch deutlicher vom Konzept der Altstämme abgehoben werden, die als ältere, traditionsreichere Verbände im Vergleich zu den Neustämmen gezeichnet werden. Denn die Schweiz und Österreich werden in der „Literaturgeschichte“ nicht nur gemeinsam mit den anderen Altstämmen vom deutschen Osten und seinen (bis 1800) wichtigsten Repräsentanten Opitz, Gottsched und Lessing abgehoben, sondern durchaus auch im Hinblick auf die übrigen Alamannen und die Franken besonders herausgestellt.305 Dies stellt eine dezidiert proösterreichische und proschweizerische Revision des zeitgenössischen Kanons der deutschen Literaturgeschichte dar. Die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ war also in ihren ersten drei Bänden als genealogisch-ethnographische und kulturgeographische Darstellung der deutschen Literatur erschienen, welche die Vorherrschaft der deutschen Nation in Europa unterstreichen und das Ungleichgewicht des literarischen Kanons wie der politischen Bedeutung der deutschsprachigen Länder zugunsten des Südens verschieben wollte.
—————— 305 Zentral ist hier etwa Nadlers Bemühung, Franz Grillparzer auf eine Stufe mit Goethe und Schiller zu stellen; vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 232-234. Doch wird zudem z. B. Gottscheds Bemühung um eine deutsche Gemeinsprache mit thüringischer (also altstammlicher!) Prägung auch deswegen abgelehnt, weil sie Baiern und Alamannen nicht zugute komme; ebd. S. 267.
5. Der Status der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1912-1920 Nachdem die von Nadler vorgenommene wissenschaftliche Positionierung seines Ansatzes und der Inhalt der ersten Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ analysiert sind, ist in einem nächsten Schritt zur Aufnahme seines Werks innerhalb der akademischen und journalistischen Sphäre, aber auch zur Dokumentation seiner akademischen Karriere überzugehen. Die Aufarbeitung der Rezeption der „Literaturgeschichte“ und Nadlers Rolle im Kreis der Universitätsgermanisten wird Aufschluß darüber geben, ob sein Werk seinen Intentionen entsprechend aufgenommen wurde bzw. worin die Ursache für gegensätzliche Aufnahmen lag. Die Periodisierung in diesem Abschnitt wird bestimmt durch das Erscheinen des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“ und Nadlers Berufung nach Fribourg sowie durch den Abschluß der Entwicklungsphase des Hauptwerks durch das Erscheinen der „Berliner Romantik“ 1921, die in Abschnitt 7. zu analysieren sein wird.
5.1. Die Berufung nach Fribourg 1912 Die Stellung als Redakteur und Autor einer Geschichte der deutschen Literatur beim Regensburger Verlag Josef Habbel hatte Nadler zunächst eine Lebensgrundlage verschafft, doch sein Ziel blieb die Habilitation bzw. eine Professur. Schon im Sommer 1910 scheint unter Beteiligung August Sauers die Überlegung Gestalt angenommen zu haben, Nadler solle Nachfolger Wilhelm Koschs in Fribourg werden.1 Kosch zählt ebenfalls zu den Schülern Sauers und er unterstützte das Vorhaben seines Lehrers, im Interesse der Bildung einer literaturwissenschaftlichen Schule den —————— 1
Nadler selbst schrieb in seinen Briefen stets „Freiburg“; die französische Schreibung soll im Lauftext allerdings durchgehalten werden, um Verwechslungen mit Freiburg im Breisgau von vornherein auszuschließen. Die Berufung nach Fribourg wird, so nicht anders angeben, anhand von Nadlers Briefen an August Sauer dokumentiert. An weiterem Aktenmaterial konnte allein Nadlers Personalakt aus dem Kantonsarchiv Fribourg herangezogen werden; weder im Archiv der Universität Fribourg noch im Archiv der dortigen philosophischen Fakultät sind nach Auskunft der Archivare Dokumente zu diesem Berufungsverfahren vorhanden.
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Fribourger Lehrstuhl einem entsprechenden Kandidaten zu sichern – umso mehr, als er Nadler zunächst noch freundschaftlich verbunden war. Allerdings bestand zu diesem Zeitpunkt Unklarheit darüber, wann die Berufung Koschs auf eine andere Universität erfolgen würde und außerdem konnte Nadler sich keineswegs auf das Gelingen dieses Plans verlassen. Eine Habilitation bei Kosch, die den Vorteil einer frühen Einführung Nadlers in Fribourg gehabt hätte, schloß Nadler selbst aus, „...da die Freiburger Regierung wohl Doktoren [ohne Habilitation] auf erledigte Lehrkanzeln beruft, aber die eigenen Privatdozenten nicht fixiert.“2 Abwägungen zur Auswahl einer anderen Universität für die Habilitation führten vorerst zu nichts und auch die Option, die Lehramtsprüfung in Österreich abzulegen, verfolgte Nadler nach ihrer Erwähnung nicht weiter. Erst 1911 wurde mit der Berufung Koschs nach Czernowitz die Frage der Nachfolge in Fribourg aktuell. Nadler bewarb sich um den Fribourger Lehrstuhl und reichte Mitte desselben Jahres zusätzlich auf Koschs Drängen um Habilitation in Czernowitz ein. In beiderlei Hinsicht erwies sich als problematisch, daß Nadler kaum Publikationen vorlegen konnte. Der erste Band der „Literaturgeschichte“ lag erst zum Teil in Druckform vor und neben einigen Vorworten zu bei Habbel erschienenen Literaturausgaben konnte er nur seine Dissertation über Eichendorffs Lyrik vorweisen. Die Kontakte in Fribourg liefen neben Kosch selbst über ein Fräulein Speyer, zu deren Identität aus Nadlers Briefen nichts Näheres hervorgeht.3 Sie stellte eine Verbindung zum Fribourger Ordinarius für mittelalterliche Geschichte her, Gustav Schnürer, den Nadler während seines Besuchs in Fribourg persönlich kennenlernte. Schnürer erhielt schließlich von Nadler Ende Juli 1911 Druckbogen des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“ mit Partien über die Schweiz, womit er als erster in Fribourg mit dem in Entstehung begriffenen opus magnum des Literaturhistorikers bekannt wurde. Nach einem Zerwürfnis mit Nadler hatte Kosch allerdings schon Anfang 1911 dessen Bewerbung um die Nachfolge in Fribourg wieder ohne dessen Wissen zurückgezogen. Und auf diesen Vorgang berief sich Schnürer, als Nadler ihn in der Berufungsangelegenheit kontaktierte. Zusätzlich verkomplifiziert wurde die Situation durch nicht näher faßbare Konflikte, in welche Kosch mit seinen Fribourger Kollegen geraten war. In diesem Zusammenhang entsteht der Eindruck, der Streit zwischen Kosch und Nadler ging nicht zuletzt darauf zurück, daß Nadler trotz dieser Probleme —————— 2 3
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-44, München 18. 8. 1910. Nadler bemerkt nur einmal sie in ihrer „Pensionatshäuslichkeit“ erlebt zu haben; ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-64, München 23. 7. 1911. Sie muß auch Sauer bekannt gewesen sein, da Nadler seinem Lehrer schreibt: „Da Sie auf Frl. Speyer so große Stücke halten...“; ebd. 414/4-65, München 24. 7. 1911.
Berufung nach Fribourg 1912
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innerhalb der Universität Fribourg Kosch auf dessen Lehrstuhl nachfolgen wollte, während dieser eine solche Haltung als unsolidarisch ihm gegenüber empfand. Dies läßt sich zumindest aus einem Brief ableiten, den Nadler bereits nach seiner Berufung nach Fribourg an Sauer schrieb: Da ich bis zum 20. d. M. hier in Freiburg noch keine Zeile von ihm [Kosch] hatte, war ich der festen Meinung, er habe seine häufigen Drohungen wahr gemacht u. weil ich hierhergegangen sei, mit mir gebrochen. Ich schrieb ihm also dieser Tage einen etwas gesalzenen Brief, bat aber darin um weitere Beziehungen, nicht aus persönlichen Gründen, sondern im Interesse unserer gemeinsamen Sache. Und weil ich der festen Meinung war, er hätte es mir sehr verübelt, daß ich nicht von vornherein als Feind seiner hiesigen Gegner auftrat, setzte ich ihm die Schwierigkeiten meines Hierherkommens auseinander, zog eine wirklich harmlose Parallele zwischen seinem Weg u. dem meinen, nur um ihm plausibel zu machen, daß ich Rücksichten zu nehmen hätte.4
Kosch habe ihm daraufhin Undankbarkeit vorgeworfen. Er behauptet, er hätte mir den Weg hierher geebnet. Das stimmt bis 10. Dez. 1910. Aber dann durch den Krach? Dadurch, daß er Schnürer ohne mein Wissen meine Kandidatur abmeldete?5
Nadler konnte Schnürer davon überzeugen, daß er selbst seine Kandidatur niemals abgemeldet habe. Der Historiker unterstützte allerdings in der Besetzungsangelegenheit den Wiener Wilhelm Oehl und versuchte anscheinend, Kosch und Nadler gegeneinander auszuspielen, um seinem Favoriten eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Nadler vermutete, Schnürer habe mit seinem Bericht über die Zurücknahme seiner Kandidatur durch Kosch entweder ihn selbst zu einer Stellungnahme für Kosch provozieren wollen (die seinen Aussichten in Fribourg nach dessen konfliktgeladenem Abgang geschadet hätte) oder von ihm hören wollen, daß er sich von Kosch lossage.6 In diesem Zusammenhang ist überraschend, wie weite Kreise die Besetzung eines Lehrstuhls für deutsche Literatur an einer kleinen Schweizer, dezidiert katholischen Universität zog. Vor allem in Wien schien man an den Vorgängen in Fribourg sehr interessiert gewesen zu sein und dies nicht nur wegen Oehl. Auch dort scheint Kosch sich Feinde gemacht zu haben, wie in Nadlers Bericht an Sauer anklingt: Natürlich teile ich Ihnen mit, daß vor dem Vorschlag [Besetzungsvorschlag in Fribourg] die Wiener Kleriker, zu denen ich keine Beziehungen habe, an die ich mich nie gewendet habe durch Zwischenmänner an mich herantraten mit der
—————— 4 5 6
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-104, Freiburg, 27. 1. 1912; vgl. außerdem 414/4-69, München 2. 8. 1911, 414/4-70, München 3. 8. 1911, 414/4-71, München 8. 8. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-104, Freiburg, 27. 1. 1912. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-69, München 2. 8. 1911, 414/4-70, München 3. 8. 1911.
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Status der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung
Zumutung: wenn ich mich schriftlich verpflichte von K.[osch] abzurücken, würden sie meine Berufung fördern. Ich habe damals K. sofort Mitteilung von dieser mich direkt beleidigenden Zumutung gemacht u. darauf auch jenen Zwischenanfragern nicht geantwortet. Der Brief läuft nur darauf hinaus von mir eine Äußerung über K. zu erpressen u. Mißtrauen zu erwecken.7
Noch in einem weiteren Brief werden die Zusammenhänge zwischen Fribourg und Wien thematisiert: Heute ein paar sehr pikante Neuigkeiten, die ich das Stück mit 20 Franken bezahlt hätte, wenn sie mir zum Kauf angeboten worden wären. Aber vielleicht habe Sie schon Kenntnis davon. Prof. Kirsch, einer von Koschs konservativen Freunden [in Fribourg], hat in Wien mit Kralik eine einstündige Unterredung gehabt. Kralik sei voll des Lobes über mich gewesen u. habe sich aufs wärmste für mich eingelegt. Kirsch will dieser Tage auch zu Python gehen. Jener schlimme Brief [Schnürers] gewinnt jetzt Relief. Er sollte mir sicher eine unwillige Bemerkung über Kosch ablocken; diese wäre Prof. Kirsch zugetragen worden. Ich habe aber ganz so geschrieben wie mir geraten wurde u. selbst wenn sie Kosch zu Ohren kommt, kann er mir nicht das Geringste vorwerfen. Ich habe einfach u. kurz die Tatsachen richtig gestellt. Es war mein letztes Wort in dieser Sache nach Frb. Ich glaube gerade diese Zurückhaltung meinerseits hat mir genutzt, denn ich weiß wie stark sich andere Kandidaten besonders der Wiener persönlich [Oehl] dort bemühen. Nur eine Vermutung von mir, die viel für sich hat. Lessiak kommt auf jeden Fall [aus Fribourg] weg. Oehl ist von Jellinek einem Freunde von mir gegenüber in einem Wiener Kaffeehaus vor Monaten bereits lobend beurteilt worden Sollten sich die Wiener Protektoren Oehls nicht denken: für neuere Lit. ist er schwer anzubringen; sie sammeln diese ihre Stimmen auf mich, kommt Lessiak weg, so präsentieren sie ihn [Oehl] nochmals für das ältere Fach (Lob Jellineks!); sie denken, ich sei ihnen für ihre loyale Haltung verpflichtet u. werde Oehl keine Schwierigkeiten machen. Diese Rechnung wäre so schlecht nicht. Denn es wäre doch sonderbar, daß Kralik so ins Feuer geht. Ich habe seit meinem Militärjahr keine Zeile mehr mit ihm gewechselt. Oehls Einladung zur Mitarbeit im Gral voriges Jahr habe ich abgelehnt. Eine ganze Reihe Bemühungen der Österr.[eicher] dieser Art sind an meiner brieflichen Weigerung gescheitert. Wenn sie sich also trotzdem für mich einsetzen, so müssen sie andere Hoffnungen hegen oder Gegendienste erwarten. Doch das sind nur Vermutungen meinerseits.8
Richard Kralik von Meyerswalden war der Gründer des katholischen, kulturkonservativen „Gralbundes“, dem auch Oehl angehörte. Die Konkurrenz zwischen Nadler und Oehl entwickelte sich zum zentralen Aspekt der Nachfolge Koschs. Dies ist insofern bemerkenswert, als Nadler nach eigener Aussage von der Fakultät einstimmig vorgeschlagen —————— 7 8
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-70, München 3. 8. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-72, München 6. 8. 1911. Johann Peter Kirsch: seit 1890 Professor der Patrologie in Fribourg. Georges Python: Staatsrat des Kanton Fribourg. Primus Lessiak: bis Ende 1911 Professor für ältere deutsche Sprache und Literatur in Fribourg. Max Hermann Jellinek: Extraordinarius am Proseminar für deutsche Philologie an der Universität Wien.
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worden war, während Oehl gar nicht in der Liste des Besetzungsvorschlags genannt worden sei.9 In Nadlers Personalakt des Kantonsarchiv Fribourg ist kein solcher Besetzungsvorschlag enthalten, aber es läßt sich indirekt erschließen, daß Ferdinand Josef Schneider (damals Privatdozent in Prag) primo loco genannt10 und auch der Wiener Privatdozent Eduard Castle darin aufgenommen worden war.11 Schnürer rechnete schließlich mit der Berufung Oehls, stellte Nadler allerdings in Aussicht, daß beim Abgang Lessiaks Oehl als Spezialist für ältere Literatur an dessen Stelle rücken und Nadler Oehls Nachfolger am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur werden würde.12 Nadler war über diese mögliche Lösung empört und stellte Sauer gegenüber sogar seine neuerliche Kandidatur im Rahmen einer solchen Rochade um den Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur in Zweifel. Die Berufung Oehls als Professor für das neuere Fach scheint tatsächlich nur mehr durch ein Minoritätsvotum seitens der philosophischen Fakultät verhindert worden zu sein, das wiederum nicht erhalten ist und nur indirekt über Nadlers Briefe erschlossen werden kann, der allerdings erst 1913 von Sauer Näheres darüber erfuhr: Ich hatte beim Lesen dieser Stelle Ihres letzten Briefes auf den Tisch geschlagen [...] so überraschend waren mir die Beziehungen von Kraus – Schneider, zu jenem Minoritätsvotum gegen Oehl, das Lessiak Python bis nach Bern in die Bundesversammlung nachgetragen hatte. Aber die wahren Gründe u. letzten Ursachen dieses Votums konnte ich hier nie etwas Genaueres erfahren u. das schien mir immer verdächtig. So entrüstet Sie mit Recht darüber sind, daß der Privatdozent, den Sie gemacht haben [Schneider], hinter Ihrem Rücken mit Ihrem Gegner Kraus paktierte, einen so lustigen Beigeschmack hat die Sache für mich. Ich erzähle sie, schicke aber voraus, daß das Minoritätsvotum für mein Hierherkommen entscheidend war, denn ohne diese Erklärung der Fakultät, daß Oehl absolut nicht geeignet sei, wäre er ernannt worden, das sagt hier jeder. Also, die Sache war so. Einer meiner hiesigen Freunde, den ich schon damals kannte, ein Österreicher, hatte in der Kommission in meinem Interesse für ein solches Votum Stimmung zu machen gesucht. Er war dabei auf Ablehnung gestoßen. Ein paar Tage später war auf einmal ein führendes Mitglied der Kommission, nach dem der Betreffende mit Lessiak gesprochen hatte, mit ganzer Seele dafür. Offenbar war unterdessen ein Brief von Kraus an Lessiak eingelaufen, u. nun wurde das Votum im Interesse Schneiders abgegeben, das man in meinem Interesse nicht abgeben wollte. So kombiniere ich Ihre Mitteilung mit dem, was ich schon wußte.
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-74, München 9. 8. 1911. Universitätsarchiv Innsbruck, Akten der Philosophischen Fakultät Nr. 170 1920/21 Nachfolge J.E. Wackernell, Besetzungsvorschlag. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-46, München 17. 10. 1910; 414/4-85, München 4. 10. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-72, München 8. 8. 1911; 414/4-83, München 27. 8. 1911.
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Tragikomisch ist es nun, daß Kraus, indem er wohl Ihnen einen Tort antun wollte, u. unbewußt mir die Wege ebnete. „Die Kraft, die stets das Böse will...“13
Am 12. Jänner 1912 erfolgte jedenfalls die gleichzeitige Ernennung Oehls zum Extraordinarius für ältere deutsche Literatur und jene Nadlers zum Extraordinarius für neuere deutsche Literatur. Die Ernennung Nadlers zum Ordinarius fand am 30. 6. 1914 statt.14 Die Ernennung von Professoren oblag dem Staatsrat des Kantons Fribourg unter seinem Direktor Georges Python und auf diesen hatte die Haltung einzelner Mitglieder der philosophischen Fakultät bestimmten Kandidaten gegenüber nicht zwingend ausschlaggebenden Einfluß. Und so zeigt sich, daß ungeachtet aller Vorgänge an der Fakultät vor allem eines entscheidend zur Berufung Nadlers beigetragen hatte: der Kontakt August Sauers zu Python. Noch bevor Schnürer von Nadler ein Gutachten eines Professors verlangte zur Bestätigung, daß Nadler ein für eine Habilitation ausreichendes Werk vorgelegt habe, hatte Sauer ein Empfehlungsschreiben für seinen Schüler an Python persönlich geschickt.15 Nadler bat seinen Lehrer, zusätzlich das geforderte Gutachten oder auch Teile der „Literaturgeschichte“ an den Direktor des Staatsrats zu senden. Ob Sauer dieser Bitte Folge leistete, ist nicht eindeutig festzustellen,16 jedenfalls steht in einem Brief Pythons an Sauer, der die Ernennung Nadlers anzeigt, folgende Bemerkung: „Notre gourvernement s’est inspiré dans son choix des recommendations que vous avez bien voulu m’adresser.“17 August Sauer kam noch in anderer Hinsicht beträchtlicher Einfluß zu. Die gleichzeitige Berufung Oehls und Nadlers nach Fribourg war nämlich zuletzt durch Lessiaks Abgang von der Schweizer Universität möglich geworden und dieser ist wiederum seiner Berufung an die Deutsche Universität in Prag – also an die Wirkungsstätte Sauers – zu verdanken. Sauers Eintreten für die Berufung Lessiaks nach Prag, die Nadler später als „er—————— 13 14 15 16
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-149, Freiburg 6. 6. 1913. Carl von Kraus war 1904-1911 Ordinarius an der für das ältere Fach in Prag gewesen, 1911 wechselte er nach Bonn, 1913 nach Wien. KF, Instruction publique. Josef Nadler, Professeur à la Faculté des lettres, 77, Extrait du protocole du conseil d'ètat, Séance du 30 juin 1914 (fol. 55). ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-72, München 8. 8. 1911. Nadlers in einem Folgebrief vorgebrachte Bitte um Entschuldigung für dieses Ersuchen, das unbescheiden und wohl im Ton nicht richtig gewesen sei, läßt darauf schließen, daß diese zusätzliche Empfehlung nicht geschrieben wurde. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-74, München 9. 8. 1911. Allerdings dankt Nadler Mitte Dezember, also wenige Wochen vor seiner Berufung, Sauer für dessen „neue Intervention“, die nicht näher spezifiziert wird. 414/4-93, München 16. 12. 1911. KF Instruction publique. Josef Nadler, Professeur à la Faculté des lettres, 77, Schreiben Georges Pythons an August Sauer, Fribourg 22. 1. 1912.
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fochtenen Sieg“ bezeichnete,18 hatte somit doppelten Nutzen für den Mentor der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung: einen Kandidaten nach seinen Vorstellungen in Prag und einen freien Lehrstuhl in Fribourg für einen weiteren seiner Schüler. Von der im oben zitierten Brief offensichtlich gewordenen Verbindung zwischen von Kraus und Lessiak wußte Sauer zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht. Aus dieser Sicht läßt sich nur schwer beurteilen, welche Rolle die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung in dieser Berufungsangelegenheit spielte und ob der erste Band der „Literaturgeschichte“ tatsächlich Grundlage für die Berufung nach Fribourg gewesen ist, wie Sebastian Meissl und Friedrich Nemec meinen.19 Schnürer hatte, wie bereits erwähnt, Druckfahnen der „Literaturgeschichte“ erhalten und er scheint sich auch sehr intensiv mit deren Inhalt auseinandergesetzt zu haben, wie Nadler weitergab: Herzlich gefreut hat es mich, daß Schnürer nichts „Verdächtiges“ in meinem Buch entdeckt hat – das Exemplar mit seinen sehr ausführlichen Randglossen habe ich als Curiosum wohl verwahrt – u. noch viel behaglicher ist mir, da ich sehe, daß er sich nach gefährlichen Stellen förmlich abgequält hat. Bei Erzbischof Christian v. Mainz, dem Staatsmann Barbarossas, der für Weiber mehr ausgab als der Kaiser für seinen Hofstaat, spreche ich von den „leuchtenden“ Zügen seines Bildes. Schnürer machte am Rande „schneidende“ daraus. Bei Peutinger, Pirkheimer spreche ich dann, daß ihnen die Gewalt des religiösen Erlebnisses abging u. der Inquisitor sagt am Rande: „Will Verfasser dem religiösen Subjektivismus das Wort reden?“ Bei Niklas Manuel sage ich: „Ein Kind der Liebe wie seine Mutter, wer mag ergründen, woher diese überreiche Begabung strömte“ u. er merkt an: „Ein Ohrenschmaus für die Verkünder der freien Liebe.“ Das sind die drei einzigen Stellen. Er hat gesucht u. da er nichts fand, argwöhnisch gedeutet. 20
Tatsächlich scheint der Ton der an Nadler gerichteten Briefe Schnürers seit seiner Lektüre der „Literaturgeschichte“ freundlicher geworden zu sein, was jedoch auch damit zusammenhängen kann, daß es zu diesem Zeitpunkt bereits hieß, Python habe Verhandlungen mit Oehl über die Bedingungen von dessen Berufung aufgenommen.21 Nachdem Schnürer —————— 18
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Zur Frage der Besetzung der nach Jakob Minors Tod erledigten Lehrkanzel an der Universität Wien erinnert Nadler: „Wenn Sie da einen ähnlichen Sieg erfechten, wie mit Lessiak, als er nach Prag kam, so haben Sie doch halb gewonnen.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-118, Freiburg 19. 6. 1912. Meissl, Sebastian; Nemec, Friedrich: Josef Nadler. In: Neue deutsche Biographie. Hrsg.: Historische Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Duncker und Humblot Bd. 18 1997, S. 690. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-83, München 27. 8. 1911. Diese Nachricht hatte Schnürer Nadler etwa eine Woche vor dem oben zitierten Brief Nadlers an Sauer zukommen lassen; ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-80, München 22. 8. 1911.
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seinen Wunschkandidaten durchgesetzt sah, konnte er wohl nun auch Nadler entsprechend der von ihm zuvor in Aussicht gestellten Rochade Lessiak-Oehl unterstützen. Unklar bleibt allerdings nach wie vor, ob Python vor der Berufung Nadlers Teile oder auch den gesamten ersten Band der „Literaturgeschichte“ erhalten und gelesen hatte. Eine Briefstelle gibt den Hinweis darauf, daß Nadler möglicherweise dem Direktor des Staatsrats Druckfahnen zukommen ließ. Den Bericht, Schnürer habe ihm, Nadler, für die Aufnahme ins Vorwort der „Literaturgeschichte“ gedankt, setzt Nadler nämlich fort: Letztes mußte ich tun, weil er die Bogen wirklich sehr genau durchgelesen hat u. mich auf einige Schweizer historische Punkte aufmerksam machte. Ich habe heute noch seinen Rat bezüglich Python befolgt. Da die Sache sehr dringlich scheint u. ich wohl voraussetzen darf, daß Sie diesen Schritt billigen. Wenn der Schritt für franz. Verhältnisse, wie Schnürer schreibt nichts ungewöhnliches ist, warum nicht. 22
Noch von anderer Seite spielte die „Literaturgeschichte“ eine Rolle: als Anfang Dezember 1911 der erste Band der „Literaturgeschichte“ schließlich erschienen war, hatte Sauer seinem Schüler geraten, ein Exemplar an den Minister für Unterricht und Kultus in Wien, Max Hussarek, zu senden. Und bereits in Fribourg erfuhr Nadler: „Meiner Ernennung ist unmittelbar ein Gedankenaustausch zwischen Hussarek u. Python vorangegangen. Ihr Rat, Hussarek mein Buch zu senden, war wieder einmal ausgezeichnet.“23 Die Publikation des fertiggestellten Bandes der „Literaturgeschichte“ als erste umfangreichere Buchveröffentlichung nach der Dissertation verbesserte mit Sicherheit Nadlers Chancen auf die Berufung nach Fribourg. Doch wie weit inhaltliche Fragen der stammeskundlichen Richtung innerhalb der Fakultät und außerhalb der Universität (im Staatsrat) ins Gewicht fielen, läßt sich kaum feststellen. Tatsächlich war die Zeitspanne zwischen dem Erscheinen des Buches und der Ernennung Nadlers ziemlich kurz, nur etwas mehr als ein Monat, und vor der Veröffentlichung des gesamten Bandes hatte nur Schnürer Teile davon gelesen. Selbst wenn davon auszugehen ist, daß er dem Professorenkollegium der Fakultät sein Urteil darüber mitgeteilt haben wird, fand letztlich alle Auseinandersetzung mit dieser Schrift erst nach dem Fakultätsvorschlag statt, womit die Entscheidung über die Besetzung zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des Inhalts der „Literaturgeschichte“ bereits dem Staatsrat oblag. —————— 22 23
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-91, München 9. 11. 1911. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-99, Freiburg 18. 1. 1912.
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Bezüglich der Auseinandersetzung mit dem Inhalt der „Literaturgeschichte“ ist außerdem festzuhalten, daß alle Urteile, die seitens der Fakultät zumindest indirekt zu erschließen sind – Schnürers Bemerkungen zu Einzelheiten, Lob durch den klassischen Philologen Anton Piccardt, die anfängliche Ablehnung und spätere Befürwortung durch den Historiker Albert Büchi24 – nicht von Germanisten stammen. Kosch hatte noch vor der Absendung der ersten Druckfahnen nach Fribourg durch Nadler die Universität verlassen, doch von seinem Urteil hätten sich die Professoren nach den Konflikten um seine Person wohl kaum leiten lassen. Lessiak als der zweite Fribourger Germanist war 1906 in Prag habilitiert worden und wird, nachdem seine Berufung nach Prag zur selben Zeit von August Sauer gefördert wurde, kaum gegen die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung aufgetreten sein – selbst wenn er in erster Linie Ferdinand Josef Schneider unterstützte. Am nachdrücklichsten zeichnet sich im Zusammenhang mit der Berufung Nadlers nach Fribourg der Einfluß Sauers ab und dies in mehrfacher Hinsicht: mit Wilhelm Kosch sollte Nadler bereits einem weiteren Schüler des Prager Professors nachfolgen, mit Primus Lessiak folgte der Autor der „Literaturgeschichte“ indirekt (durch die Rochade mit Oehl) einem Sauer bekannten und von ihm geschätzten Germanisten nach. Schon in personeller Hinsicht war also die Stellung einer Literaturwissenschaft nach Sauers Konzepten in der konkreten Konstellation eine ziemlich starke. Sie reichte schon innerhalb der Fakultät aus, um einen Schüler, der kaum Publikationen vorzuweisen hatte, in einem Besetzungsvorschlag unterzubringen (an welchem Kosch wohl noch vor seinen Konflikten maßgeblichen Anteil gehabt hatte). Hinzu kommt der offensichtlich gute Kontakt zu Python – der möglicherweise bereits auf frühere Berufungsverfahren, die Kosch oder Lessiak betrafen, zurückgeht und die Kenntnis des Einflusses, den der österreichische Minister Hussarek auf den Fribourger Staatsrat auszuüben imstande war. Pythons eigene Aussage, die der Empfehlung Sauers den größten Stellenwert für seine Entscheidung einräumt, spricht die deutlichste Sprache. Die Berufung Nadlers an die Universität
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„Büchi hat mir gestern mit einer Karte, die etwas mürrisch von obenher war, auf mein Buch geantwortet. Sein Urteil wolle er mir mündlich sagen. Piccardt soll es sehr gelobt haben.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-98, München 15. 1. 1912. „Piccardt lobte mein Buch sehr.“ 414/4-100, Freiburg 20. 1. 1912. Büchi wurde ein wichtiger Unterstützer Nadlers, der anläßlich seiner Bemühungen um die Ernennung zum Ordinarius berichtete „Der eifrigste Förderer dieses Planes ist der Schweizer Historiker Büchi, der sich so gegen meine Ernennung gewehrt hat. Er verteidigt die Idee meines Buches interessierter als ich es könnte.“ 414/4-116, Freiburg 4. 6. 1912.
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Fribourg war also vor allem ein Etappensieg Sauers auf seinem Weg zur Etablierung einer eigenen Schule der Literaturwissenschaft.25
5.2. Befürworter und Gegner der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ wurde zu Anfang vor allem in Tageszeitungen und nicht germanistischen Fachzeitschriften rezensiert, die Autoren der ersten Buchkritiken scheinen dementsprechend auch Journalisten gewesen zu sein26 (mit Ausnahme Richard Moritz Meyers, worauf gleich zurückzukommen sein wird). Sie loben recht einhellig Nadlers lebendigen Stil und die Tatsache, daß er neue Anhaltspunkte in die Literaturgeschichtsschreibung gebracht habe.27 Noch 1919 werden in einer anonymen, vor allem referierenden und kaum eigenständige Beurteilung enthaltenden Rezension als allgemein anerkannte Züge der Nadlerschen Literaturgeschichte genannt: die Originalität der Auffassung, die Weite des Blicks, die Lebendigkeit der Darstellung und die Durchdringung des Stoffes – das heißt wohl die Gliederung der Literaturgeschichte nach einem einheitsstiftenden Prinzip.28 Dies zeigt, daß Nadler einige der als krisenhaft empfundenen Aspekte der Literaturgeschichtsschreibung zumindest in den Augen des Publikums außerhalb der Disziplin Germanistik durchaus abzudecken imstande war. Man begrüßte das Fehlen trockener Gelehrsamkeit und die Einführung eines neuen Ansatzes, selbst wenn dieser nicht ohne kritische Betrachtung aufgenommen wurde. —————— 25
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Von einer „Prager Schule“ oder zumindest dem Bemühen um die Etablierung einer solchen ist in den Briefen an Sauer öfter die Rede. Zunächst überlegte Nadler, seine „Literaturgeschichte“ „August Sauer und seiner Prager Schule“ zu widmen; ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 414/4-64, München 23. 7. 1911. Dann scheint er sich mit Kosch darum konkurriert zu haben, der legitime Vertreter einer solchen Schule zu sein; 415/1-134, München 10. 1. 1913, 415/1-145, Freiburg 10. 5. 1913. Ihre Namen sind großteils weder in biographischen Enzyklopädien, in Kürschners deutschem Literaturkalender noch Kürschners deutschem Gelehrtenkalender (der allerdings erst 1925 einsetzt) verzeichnet. Schierbaum, Heinrich: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Kölnische Volkszeitung, Literarische Beilage Nr. 20 (16. 5. 1912), S. 153f; Herbert, M.: Eine neue Literaturgeschichte. In: Katholische Kirchenzeitung für Deutschland „Die Wahrheit.“ Nr. 21, (1. 8. 1912), S. 338f; Schmid, Karl: Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Literarische Beilage zur Augsburger Postzeitung Nr. 38 (14. 8. 1912), S. 297f. v. Matt, Franz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Alte und neue Welt 47/23 (1912/13), S. 926. [o.N.]: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Alte und neue Welt 54/8 (1919/20).
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Besonders hervorgehoben wird in einigen Fällen die Darstellung von bisher nicht oder zu wenig berücksichtigten Epochen oder Räumen der Literaturgeschichte. Dabei spielen Lokalpatriotismen oder andere Parteistellungen eine beträchtliche Rolle. Herbert etwa, dessen Kritik in einer katholischen Kirchenzeitung erschien, lobt überschwenglich Nadlers Kapitel zur Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts. Es ist festzuhalten, daß in einem katholischen Organ Nadlers wissenschaftlicher Ansatz, aus welchem die „wirtschaftliche Betrachtung“ gesonderte Betonung erfährt, ohne Vorbehalte akzeptiert und als „glänzend durchgeführt“ bezeichnet wird. Tatsächlich liefert Herbert eine Beschreibung der „Literaturgeschichte“ in einem einzelnen Satz, die den Intentionen Nadlers näher steht als manche Beurteilung durch germanistische Fachkollegen: „Die Aufgabe des Buches ist es also, aus der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, den Daseinsbedingungen und Eigentümlichkeiten deutscher Stämme und Landschaften die Strömungen unseren geistigen Fortschritts, wie er im nationalen Schrifttum niedergelegt ist, zu erklären und zu beweisen.“29 Auf die Darstellung der Reformation, die im ersten Band bereits enthalten ist, geht die Rezension mit keinem Wort ein, aber es wird dennoch deutlich, daß die Heraushebung der katholisch-mystischen Literatur eine positive Bewertung erfuhr. Daß die Mystik „...mit sicherer Hand in die Geschichte der deutschen Literatur...“30 gestellt worden sei, erachtet auch Schmid als ein besonderes Verdienst der „Literaturgeschichte“, doch er stellt auch das Kapitel zu Augsburg zusätzlich heraus. Dies ist in einer Veröffentlichung der „Augsburger Postzeitung“ nicht überraschend, doch läßt sich an weiteren Rezensionen feststellen, daß in der Fokussierung auf einzelne Regionen statt auf große Dichterpersönlichkeiten beträchtliche Anziehungskraft der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung lag. Speziell in kürzeren Rezensionen aus Zeitungen, die ihren Bezug auf eine begrenzte Region nicht nur im Titel ausdrücken, finden derartige Lokalpatriotismen Ausdruck.31 In diesem Zusammenhang kommt es sogar zu ersten Versuchen, dem Nadlerschen Vorbild entsprechend weitere literaturgeschichtliche Forschung zu betreiben. Theodor Rensing setzt sich etwa die Aufgabe, den —————— 29 30 31
Herbert: Eine neue Literatur-Geschichte, S. 338. Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 298. z. B.: Oestering, W.E.: Badische Bücherschau. In: Die Pyramide Nr. 11 (1919), S. 43f; Löffler, Klemens: Zur älteren Literaturgeschichte Westfalens. In: Münsterischer Anzeiger und Münsterische Volkszeitung Jg. 67, Nr. 293 (1. 6. 1918). Der Bibliothekar und Historiker Löffler beschränkt seine Rezension auf die Kapitel zu Westfalen, begrüßt die Einführung des Stammes als mittlere Instanz und lobt die erstmalige Behandlung der Landschaft in größerem Zusammenhang. Durch den fokussierten Blick kann er Nadler jedoch auch zahlreiche Ungenauigkeiten und mangelnde Kenntnis der Sekundärliteratur vorwerfen.
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jeweiligen Anteil der deutschen Landschaften am deutschen Schrifttum seit Goethes Tod zu erfassen.32 Dieses Vorhaben scheint allerdings ein weiteres Mal vor allem der Aufwertung der eigenen Landschaft zu dienen, wird doch das Rheinland (die Rezension erschien in der „Kölnischen Volkszeitung“) mit 25 Dichtern unter die produktivsten Regionen gerechnet und plakativ an den Anfang der Auflistung gestellt.33 Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, daß Rensing sich des „Notbaus“, den er aufstellt, bewußt ist. Mangels der notwendigen Familienforschung habe er seine Aufstellung nicht auf stammesgeschichtliche Grundlagen stellen können und die Dichter nach ihrem Geburtsort einordnen müssen. Er läßt also die Nadlerschen wissenschaftlichen Grundlagen, obwohl er sie nach dem übrigen Text zu schließen weitgehend erfaßt, noch in einer weiteren Hinsicht unberücksichtigt: indem er die gezählten Dichter aus der Literaturgeschichte Oskar Walzels und damit dessen literarischen Kanon übernimmt, anstatt der stammeskundlichen Literaturgeschichte gemäß das gesamte Schrifttum zu berücksichtigen. Angesichts der in ihren Augen positiv zu bewertenden Aspekte sind die nicht der akademischen Germanistik zugehörenden Rezensenten meist bereit, an Nadlers Werk wahrzunehmende Ungenauigkeiten in einzelnen Fragen oder tendenziöses Schreiben nachzusehen. Denn die manchmal gezwungene Einordnung einzelner Dichter in bestimmte Landschaften, Subjektivismen und konfessionelle Tendenzen haben auch die meisten der wohlwollenden Kritiker eingestanden.34 Der Autor der oben erwähnten anonymen Rezension von 1919 betont aber auch, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung entweder auf vehemente Ablehnung stoße oder begeistert anerkannt werde. Ausschlaggebend dafür ist nicht zuletzt, wie Nadlers Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgenommen wurde. Die Bereitschaft dazu scheint in journalistischen Kreisen größer gewesen zu sein als unter den Angehörigen der akademischen Germanistik; das Bewußtsein für aktuelle wissenschaftliche Diskussionen ist aber auch außerhalb der Disziplin deutlich spürbar. Der Bezug auf Karl Lamprecht oder zumindest die Einbeziehung wirtschaftlicher Gesichtspunkte wird —————— 32 33 34
Rensing, Theodor: Literaturgeographie. In: Kölnische Volkszeitung und Handelsblatt, 3. 12. 1919, S. 3. Mehr Dichter werden nur für Österreich (43) angeführt, die Schweiz kommt mit 24 Literaten am nächsten, auf die Rheinlande folgen Bayern mit 20, Hessen, Brandenburg, Schlesien und Württemberg mit je 19. Rensing: Literaturgeographie. z. B. Schierbaum: Rezension, S. 153, der allerdings dadurch relativiert, daß Subjektivismen in allen wissenschaftlichen Werken vorhanden seien; Karl Schmid spricht von einigen anfechtbaren Konstruktionen; Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 298. Julius Stern verzeichnet ein „leises Anklingen“ der katholisierenden Weltanschauung; Stern, Julius: Literaturberichte 1913. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 28 (1914), S. 223.
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praktisch überall festgestellt, wobei dies entweder neutral-referierend oder wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber an keiner Stelle dezidiert abgelehnt wird. Heinrich Schierbaum etwa leitet Nadlers Richtung der Literaturgeschichtsschreibung aus aktuellen Problemen ab, nämlich aus der Heimatkunstbewegung und der gleichzeitigen sozial-wirtschaftlichen Lage des Arbeiterstandes. Die Vorstellung der Existenz von Stämmen, die über einen jeweils spezifischen Charakter verfügen, wird an keiner Stelle und von keinem der Rezensenten in Frage gestellt. Offensichtlich konnte Nadler in dieser Hinsicht auf festem Resonanzboden aufbauen – der Gedanke von mehreren deutschen Stämmen mit unterschiedlichen Eigenschaften wurde keineswegs als Neuerung empfunden, sondern scheint vielmehr allgemeiner Konsens gewesen zu sein. Neu war nur die Vorgehensweise, den stammlichen Aufbau als Grundlage für die Literaturgeschichtsschreibung heranzuziehen. Während unter Nadlers wissenschaftlichen Grundlagen Lamprechts kulturgeschichtlicher Ansatz fast immer erfaßt und oft erwähnt wird, bleiben die beiden weiteren zentralen, der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zugrundeliegenden Lehren von Lorenz und Ratzel meist unerkannt. Die Genealogie wird höchstens einbezogen, wenn auf die Rolle der Familiengeschichte in Nadlers Werk verwiesen wird, wobei Ottokar Lorenz’ Name kein einziges Mal fällt. Die anthropogeographischen Grundlagen werden ebensowenig verzeichnet, bis auf eine Ausnahme: Karl Schmid führt aus, wie bei Nadler neben die chronologische Betrachtungsweise von Literatur auch die räumliche tritt und fährt fort: „Es wird also der Ratzelsche Gedanke von der Bodenbedingtheit jeglicher Menschenansiedlung resolut auf ein neues Gebiet übertragen, und auf diesen Mann, einen Bahnbrecher auch auf dem Gebiete der Geschichte hätte sich Verfasser [Nadler] in seinem mit wohltuender Offenheit geschriebenen ,Worte der Rechtfertigung und des Dankes’ mit vollem Recht berufen können.“35 Diesem Befund kann auf der Grundlage der Analyse der ersten Auflage der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ freilich zugestimmt werden. Allerdings bleibt Schmid mit dieser klaren Herausstellung des Bezugs der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung auf die Ratzelsche Anthropogeographie eine Einzelerscheinung. In den aus den Fachkreisen der Disziplin stammenden Rezensionen zum ersten und zweiten Band sind noch sehr stark die Ansprüche der „positivistischen“ Philologie spürbar. So erkennt etwa Richard Moritz Meyer, außerordentlicher Professor der Germanistik in Berlin, im Frühjahr 1912 zwar die in Nadlers Werk vertretene Individualität der Stam—————— 35
Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 297.
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mescharaktere an,36 hält es aber für verfrüht, diese Stammescharaktere in einzelnen Dichtern bzw. Dichtungen nachweisen zu wollen. Sein Schluß daraus ist, es müsse mehr philologische Forschung zu Kunst, Brauch und Sprache in den einzelnen Landschaften geleistet werden, um den individuellen Gehalt eines Stammes nachweisen zu können. Ohne Gewaltsamkeiten würden einzelne Dichter allerdings nie unter einen Stammescharakter gefaßt werden können. In ähnlicher Weise hält Franz Schultz, Ordinarius in Straßburg, die wissenschaftlichen Grundlagen für eine Darstellung der Literaturgeschichte nach Nadlers Vorgehensweise weder in der Germanistik noch in der Volkskunde bereits für gegeben.37 Damit lehnt Schultz die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nicht dezidiert ab, verschiebt aber die Möglichkeit für eine solche Darstellung in die Zukunft. Dies weist darauf hin, daß er noch dem philologischen Erkenntnisfortschritt vertraut und dem Philologenethos entsprechend Nadler Ungenauigkeiten, fehlende Voruntersuchungen, mangelnde Detailgenauigkeit und Vorschnelligkeit vorwirft. Wenig überraschend folgert Schultz, Nadlers Literaturgeschichte würde dem wissenschaftlichen Publikum nicht entsprechen. Hier finden sich demnach die gesammelten Vorwürfe des Philologen an den dilettantischen Verfasser einer verfrühten Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte und darüber hinaus der Vorwurf der katholisch-konfessionellen Tendenz. Zudem fällt Schultz’ starke Konzentration auf die ideelle Seite der Stammescharaktere auf, die Hand in Hand mit der Zuordnung ihrer Erforschung zur Volkskunde geht – zur stärker germanistisch als ethnographisch orientierten. Doch etwa bei Meyer, aus dessen Feder gleich drei Rezensionen der „Literaturgeschichte“ stammen, ist eine Entwicklung von sehr geringer zu größerer Akzeptanz von Nadlers Ansatz spürbar. War die erste Kritik noch weitgehend ablehnend gehalten, so zeichnet sich die zweite durch die Strategie aus, jeder negativen Seite des Werks auch eine positive abzugewinnen. Die 1912 geäußerte Meinung zum Gesamtaufbau wird zwar nicht gänzlich zurückgenommen, doch die Ergebnisse des zweiten Bandes begrüßt. Nadlers „anschauender Phantasie“, mit der er Stammescharaktere „in Dichter hineinsieht“ – von seiten eines Philologen ein fragwürdiges Kompliment – wird sein „deutlich eindringender Blick“ für Einzelerscheinungen zur Seite gestellt; der Vorwurf der Subjektivität wird nun verkleidet durch die Bemerkung, Nadlers Sympathie für oder Abneigung gegen einen Dichter mache dessen Charakterisierung „noch glücklicher“ und —————— 36 37
Meyer, Richard Moritz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Neue Freie Presse 17. 3. 1912, S. 36. Schultz, Franz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 29 (1914), S. 357-363.
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gemildert durch das Zugeständnis, Nadler kämpfe tapfer gegen seine Subjektivität an.38 Abschließend bemerkt Meyer, die neuere Literaturgeschichte könne angesichts von Nadlers Buch ihre Klage über mangelnde große Gesichtspunkte nicht aufrecht erhalten. In der dritten Rezension akzeptiert Meyer schließlich Nadlers Ansatz, daß der Nationalcharakter von seinen Unterformen, den Stammescharakteren, ausgemacht werde und er erkennt den Stamm als mittlere Instanz zwischen der kollektivistischen und individualistischen Geschichtsauffassung an.39 Nach wie vor skeptisch gegenüber der Idee von unveränderlichen Stammescharakteren hebt Meyer aber hervor, wie in Nadlers Beschreibung von Städten „historisch und klimatisch Bedingtes“ viel mehr für die Darstellung von Dauerndem und Überpersönlichem leiste als der Stammescharakter. Trotz theoretischer Berührung mit Rassentheorien wird Nadler von seinem Rezensenten aufgrund der Betonung von Mischungen in der „Literaturgeschichte“ aus dem Kreis der Rassenkundler ausgenommen. Und in überraschender Weise erscheint Nadler nun praktisch als Retter der Philologie, da er trotz großer Gesichtspunkte auch auf Fragen der Technik, Metrik und Sprache eingehe und sich auf Erich Schmidt und Wilhelm Scherer berufe – „...im Gegensatz zu modernster Undankbarkeit...“,40 womit Meyer wohl auf die zunehmende Ablehnung der „positivistischen“ Philologie innerhalb der Germanistik abzielte. Die Wendung von der Konzentration auf die Einhaltung der Standards der Philologie in die Richtung des Methodenpluralismus innerhalb der Germanistik vollzieht sich erst um 1920. Zwar betont auch noch Josef Körner 191941 die Bedeutung der philologischen Detailarbeit als Voraussetzung für Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte und kritisiert die mangelnde eigene Quellenarbeit Nadlers, doch ist in seiner Kritik die Orientierung am durch die Neukantianer formulierten neuen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften deutlich spürbar. Dies äußert sich vor allem in der auf Rickert begründeten Ablehnung von Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung und der Betonung der weltliterarischen Zusammenhänge von Klassik und Romantik, etwa von maßgeblichen Wurzeln der Romantik in England. Körner hatte auch massive Vorbehalte gegen Nadlers Konstrukte, wie noch präziser auszuführen sein wird. —————— 38 39 40 41
Meyer, Richard Moritz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Neue Freie Presse 7. 9. 1913, S. 34. Meyer, Richard Moritz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Die Geisteswissenschaften 1 (1913/14), S. 75-77. Meyer: Rezension 1913/14, S. 76. Körner, Josef: Metahistorik des deutschen Schrifttums. In: Deutsche Rundschau (1919), S. 464-468.
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Eine weitere Rezension der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aus sozusagen geistesgeschichtlicher Perspektive wurde ein Jahr später von Hermann August Korff publiziert.42 Besonders bemerkenswert ist Korffs Ansicht, daß die nationale Literaturgeschichtsschreibung als Glied der allgemeinen europäischen Geistesgeschichte zu einer vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung aufzusteigen habe. Diese Auffassung ist zwar nicht neu – eine solche vergleichende Literaturgeschichte war bereits in August Sauers Rektoratsrede eine Selbstverständlichkeit – doch es scheint, als hätten manche Vertreter der germanistischen Geistesgeschichte zumindest um 1920 durchaus einen über die deutsche Nationalliteratur hinausreichenden wissenschaftlichen Standpunkt vertreten. Ganz im Gegensatz zu Nadler, der aufgrund seines spezifischen Ansatzes mit der doppelten Bindung an Stamm und Landschaft die Entwicklungsfaktoren für die deutsche Literatur allein auf deutschsprachige Gebiete beschränkte. Die Auseinandersetzung mit der Streitfrage nach individueller oder kollektiver Behandlung von Dichtern läßt sich aus den noch stärker von den philologischen Anforderungen gefärbten Kritiken in die geistesgeschichtlich orientierten weiterverfolgen, wobei sowohl „positivistische“ Philologie als auch die Geistesgeschichte vor allem auf Individuen gerichtet blieben. Allerdings ist auch bei den germanistischen Fachkollegen die weitgehende Akzeptanz von stammlichen Einflüssen auf die Literatur feststellbar; mehrmals wird zusätzlich darauf hingewiesen, daß schon bisher in der Literaturgeschichtsschreibung die Stammestümer berücksichtigt worden seien.43 Als eigentliche Problemstellung wurde die Frage gefaßt, ob auf dem stammeskundlichen Prinzip die Darstellung von Literaturgeschichte begründet werden könne. Darin, daß dies nicht möglich sei, waren sich die Germanisten ziemlich einig. Schon Meyer lehnt in seiner frühesten Rezension Nadlers Anspruch ab, die von ihm gewählte Methode sei die einzig mögliche der Literaturgeschichtsschreibung. Weiters hält Meyer Nadlers Vorstellung von Stammesliteratur den Zusammenhang einer gesamten Nationalliteratur durch die gemeinsame Schriftsprache entgegen, der viel enger sei als der Zusammenhang innerhalb einer Stammesliteratur sein könnte.44 Korffs Auseinandersetzung mit Nadlers Werk ist wiederum ein ausgezeichnetes Beispiel für das strategische Vorgehen eines Vertreters einer konkurrierenden Richtung der Germanistik, den wissenschaftlichen An—————— 42 43 44
Korff, Hermann August: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920), S. 401-408. Korff: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 401, 403; Schultz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 360. Meyer: Rezension 1912.
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spruch eines Fachkollegen zugunsten des eigenen Ansatzes zu schmälern. Im Zuge dessen bewegt Korff sich bezeichnenderweise wiederum an der für die Begründung der „neuen Geisteswissenschaften“ so zentrale Grenzlinie zwischen Geist und Natur. Der Geistesgeschichtler Korff faßt den Geist als das entwicklungsgeschichtliche, einheitsstiftende Moment auf, die Natur hingegen als das ungeschichtliche, unveränderliche und vielheitliche Element. Auf diese Weise besteht zwar Akzeptanz für den Gedanken möglicher stammlicher Einflüsse auf die Literatur, doch in seinen Augen enthalte eine auf dem natürlichen Volks- und Stammescharakter gegründete Literaturgeschichte keinerlei entwicklungsgeschichtliche Aspekte. Resultat einer solchen Darstellungsweise sei unweigerlich die Aneinanderreihung „innerlich fast unverbundener Stammes- und Lokalchroniken“.45 Damit spricht Korff dem Nadlerschen Werk letztlich ab, eine synthetische Darstellung der deutschen Literaturgeschichte im Sinne einer „Überbietung der Philologie“ zu sein. Nadlers Ziel sei weniger die Erforschung der Literarhistorie, sondern die Erkenntnis von Stammescharakteren. Der unveränderliche Stammes- oder Volkscharakter als „Natur“ gewährleistet in Korffs Augen die unveränderlichen Momente der deutschen Literatur, während der „Geist“ als entwicklungsgeschichtliches Moment die Abfolge von Epochen mit sich brächte. Da bei Nadler die Epochen in überzeitlicher Weise einzelnen Stämmen zugeordnet werden, spricht Korff der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung jedes entwicklungsgeschichtliche Moment ab. Dies kann als Hinweis darauf aufgefaßt werden, daß Korff mit jenen Grundlagen- und Hilfswissenschaften, die in der „Literaturgeschichte“ für eine Dynamisierung sorgen, nämlich die Lamprechtsche Kulturgeschichtsschreibung mit ihrem Konzept des anwachsenden Nationalbewußtseins und Ratzels Anthropogeographie mit dem Aspekt der Aneignung einer Landschaft, nicht genügend vertraut war bzw. ihre spezifische Verbindung durch Nadler nicht erfaßte. Denn letztlich würde ein stets anwachsendes Nationalbewußtsein durchaus ein entwicklungsgeschichtliches Moment in sich tragen, wie auch die in Nadlers Konzept angelegte Entwicklung des deutschen Volkes durch die Entstehung immer neuer Volkstümer nicht statisch bleibt. Allerdings kann diese mangelnde Beachtung der wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers auch Teil einer Strategie sein. Denn es scheint Korff in seiner Kritik vor allem daran gelegen zu sein, die stammeskundliche Literaturbetrachtung nicht gänzlich abzulehnen, aber sie mit Bestimmtheit der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise unterzuordnen. Nadler wird —————— 45
Korff: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 407. Den Vorwurf an Nadler, nur eine Reihe von Monographien geliefert zu haben, hatte bereits Meyer geäußert. Meyer: Rezension 1912.
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keinesfalls Wissenschaftlichkeit abgesprochen, Korff akzeptiert etwa den „Wahrheitsgehalt“ von Nadlers Definition der Romantik als Renaissance der altdeutschen Dichtung in den Neustämme.46 Nicht akzeptiert wird allerdings sein Anspruch, die bestmögliche Darstellungsart für Literaturgeschichtsschreibung entwickelt zu haben. Der Stammescharakter wird als ein Teil der deutschen Literaturgeschichte gefaßt, aber individuelle Momente der Entwicklung eines Dichters und des „Geistes“ zählen in Korffs Konzept mehr. In dieser Auffassung findet sich wiederum die von den Vertretern der Geistesgeschichte so oft gemachte Unterscheidung zwischen dem Genie mit individueller Entwicklung und dem bodenständigen Volk als beharrende Kraft, das sich aus kollektiv wirkenden Einflüssen (Umwelt, Stammescharakter) nicht durch eigene Geistestätigkeit zu lösen vermag. Da die Annahme stammestümlicher Einflüsse von den meisten Rezensenten aus akademischen Kreisen akzeptiert wurde und Protest vor allem der Überbewertung stammlicher Einflüsse für große Dichterpersönlichkeiten bzw. deren „Zwang“ unter den Stammescharakter galt, gerieten weder Nadlers spezifischer anthropogeographisch-kulturgeschichtlichgenealogischer Ansatz noch die Problematik seiner grundlegenden Konzepte nachhaltig in den Blick der Kritik. Die große Ausnahme bildet diesbezüglich Josef Körner. Er prangert gezielt die Willkürlichkeit an, mit der Nadler Charakterzüge einzelner großer Persönlichkeiten auf Stämme überträgt und spricht ihm auch angesichts seiner „Wissenschaftslehre“ jeglichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ab. Nadler habe eine „Metahistorik“ und „Geschichtsontologie“ geliefert.47 Der Wert von Körners scharfsinniger Kritik wird jedoch dadurch geschmälert, daß er seine Ablehnung Nadlers, die gleichzeitig eine Ablehnung Lamprechts ist, vor allem auf das neue Selbstverständnis der Geisteswissenschaften gründet. Auf diese Weise behält er zwar mit seinem Blick auf die Konstruktion der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung recht, doch indem er Ansätzen der nomothetischen Kulturwissenschaften allgemein den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abspricht, behält Körners Kritik ihre Gültigkeit nur für Geisteswissenschafter, die seine Auffassung von Wissenschaftlichkeit teilen. Entlang dieser Grenzlinien kann die Problematik der Nadlerschen Grundlagen- und Hilfswissenschaften, die vielfach nicht in der Methodik, sondern in ihren Prämissen liegt – dies trifft in erster Linie auf die Lorenzsche Genealogie zu – nicht in den Blick geraten. Die Begründung der Trennung zwischen Geistesund Naturwissenschaften auf der Grundlage der Methodik drohte sich in —————— 46 47
Korff: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 407. Körner: Metahistorik des deutschen Schrifttums, S. 468.
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einer Kritik an der Anwendung „naturwissenschaftlicher“ Methodik anstelle einer Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers auszuwirken. Das im Zuge der Analyse der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ herausgestellte zentrale Element der doppelten Bindung durch Abstammung und Landschaft ist allerdings von keinem der Rezensenten aus journalistischer oder universitärer Sphäre in seinem vollen Umfang erkannt worden. Tatsächlich läßt sich vielmehr die jeweils unterschiedliche Gewichtung eines dieser Aspekte verfolgen. Bei Karl Schmid etwa dominiert klar die Rolle der Landschaft, Nadler habe die Literaturgeschichte „auf den Boden der Heimat“ zurückgeholt.48 Richard Moritz Meyer und Max Pirker betonen wiederum die Abstammung bzw. den unveränderlichen Stammescharakter stärker.49 Daran zeigt sich, daß die zweifache Begründung der stammeskundlichen Literaturgeschichte wohl bereits durch die jeweilige Präsupposition der Rezensenten für einen der beiden Aspekte verdeckt wurde und daß deshalb die sehr komplexe Begründung des Werks auf mehreren Grundlagen- und Hilfswissenschaften kaum in ihrem Gesamtumfang erkannt wurde. Seitens der Germanisten ist dies wenig erstaunlich, da in ihren Kreisen vor allem die Beibehaltung der philologischen Standards bzw. die Durchsetzung der eigenen „geisteswissenschaftlichen“ Ansätze zählte. Auf diese Weise war eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Nadlerschen Theorien obsolet, nachdem auf den ersten Blick feststand, daß es sich um keine geisteswissenschaftlichen Grundlagen handelte. Die nicht der Disziplin angehörenden Rezensenten verhielten sich den Nadlerschen Grundlagen- und Hilfswissenschaften gegenüber offener. Denn ganz im Gegensatz zu Körners Vorwürfen oder Schultz’ Diktum von Nadlers „leidenschaftlichem Subjektivismus“50 schreibt etwa Julius Stern, nachdem er die breiten ethnologischen und geistesgeschichtlichen Kenntnisse des Literaturhistorikers gelobt hat, dieser verfolge ein „wohltuendes Streben nach Objektivität“ und dabei zwinge ihn „...sein wissenschaftliches Gewissen, Hypothese und sicheres Ergebnis immer sorgsam zu kennzeichnen.“51 Hier verdeutlicht sich, daß im Falle der Akzeptanz von Nadlers aus anderen Wissenschaften stammenden Grundlagen der spezifische wissenschaftliche Aufbau der stammeskundlichen Literaturge—————— 48 49 50 51
Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 298. Auch bei Rensing steht im Vordergrund, daß Nadler die Dichter ihrem „Heimatboden“ „entwachsen“ lasse, Rensing: Literaturgeographie, S. 3. Pirker, Max: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Grazer Tagespost Nr. 141, 25. 5. 1913, 12. Bogen. Schultz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 362. Stern: Literaturberichte 1913, S. 223.
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schichtsschreibung erst recht nicht kritisch hinterfragt wurde. Eine Ausnahme bildet hierbei Karl Schmid, der Nadlers Aufnahme von Aspekten der Ratzelschen Anthropogeographie erkannte und begrüßte, aber dennoch der Auffindung von Typen und Gesetzen in der Geschichtsschreibung selbst unter Berücksichtigung von Stämmen als Zwischenglieder zwischen individueller und kollektivistischer Betrachtung skeptisch gegenüber stand und befand, Nadler schreibe oft mehr intuitiv als wissenschaftlich.52 Was für einen entscheidenden Unterschied die Haltung zur Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften in der Bewertung des Nadlerschen Ansatzes ausmacht, illustriert ein Beispiel aus dem angloamerikanischen Raum: 1920 publizierte O.E. Lessing seine Übersetzung von Sauers 1907 gehaltener Rektoratsrede ins Englische.53 Im Vorwort dazu bezog er sich auch auf Nadlers Literaturgeschichte (von der er allerdings nur Band 1 und 2 kannte), die er als Umsetzung der Sauerschen Prinzipien in der Tradition Taines und Lamprechts auffaßte: Nadler’s method is genetic, experimental, and inductive; it is extensive in scope, intensive in its conclusions. He set himself to the task of investigating the very sources of literary expression. It is not merely a part of the milieu but all of it that he presses into service. By „Stamm and Landschaft“ he means political, social, economic history; mythology, folklore, religion, race, nation, tribe, family, heredity, climate, geography, topography, immigration and emigration – in short all the factors that shape and determinate the soul of an individual and of a people. 54
Nadlers wissenschaftlicher Anspruch wird hier also in seinem ganzen Umfang akzeptiert, obwohl sein Ansatz keineswegs als problemlos angesehen wird. Lessing schlägt in der Folge vor, bei der Erforschung der USamerikanischen Literatur stärker darauf einzugehen, von wo ihre Vertreter stammen bzw. von wem sie abstammen. Die Akzeptanz von Nadlers „Literaturgeschichte“ scheint also nicht allein von der Beurteilung der seinem Ansatz zugrundeliegenden nomothetischen Kulturwissenschaften abzuhängen, sondern auch davon, wie weit die Rezipienten bereit waren, die Unterschiedlichkeiten innerhalb einer „Nationalliteratur“ vor deren Einheitlichkeit zu betonen. Die Bereitschaft dazu war vor allem bei jenen Rezipienten vorhanden, die in der einen oder anderen Weise an der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ die Betonung bisher vernachlässigter Räume oder auch Epochen begrüßten. In diesem Zusammenhang zeichnet sich auch eine starke Befürwortung der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung in ihrem —————— 52 53 54
Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 297f. Lessing, O.E.: August Sauer’s principles of literary historiography. In: The Journal of English and Germanic Philology 19/2 (1920), S. 1-17. Lessing: August Sauer’s principles, S. 2.
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Bezug auf die zentrale Stellung Österreichs ab. Sogar der Ansatz einer landschaftlich orientierten Literaturgeschichtsschreibung wird mehrere Male mit den Ansprüchen an eine spezifische Behandlung jener außerhalb des Deutschen Reiches entstehenden Literatur in Verbindung gebracht. So meint Karl Schmid: Zu der Aufgabe, die einzelnen Bächlein und Flüsse der Literatur nach ihrem lokalen Ursprung und Verlauf bis zu ihrer Mündung in den Gesamtstrom zu verfolgen, locken heutzutage vor allem zwei deutsche Landschaften, die außerhalb des Nationalstaates stehen. Ich meine die Schweiz und Österreich. 55
Auch Franz Schultz hält es für „...begreiflich, dass gerade dem Österreicher die völkischen und stammesgeschichtlichen Gesichtspunkte am Herzen liegen...“.56 Selbst Richard Moritz Meyer spricht von der „...Aufgabe, die Geschichte der deutschen Literatur in die deutschen Literaturen aufzulösen...“, die einmal habe unternommen werden müssen.57 Über diese einzelnen Bemerkungen hinaus ist festzustellen, daß die Aufnahme der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ in Österreich im allgemeinen wohlwollend war und dies nicht nur von journalistischer, sondern durchaus auch von disziplinärer Seite. Abgesehen von August Sauers Eintreten für das Werk seines Schülers58 nahm der an der Universität Wien lehrende Extraordinarius Robert Franz Arnold 1913 die „Literaturgeschichte“ zum Anlaß, einen bibliographischen Versuch zur Auflistung territorialer Literaturgeschichten zu publizieren.59 Arnold bemerkt darin die weitgehende Vernachlässigung der stammhaften und landschaftlichen Momente in der Literaturhistorie, die erst in Folge der Mahnung in Sauers Rektoratsrede tendenziell aufgehoben worden sei. Am „augenfälligsten und anziehendsten“ sei dies durch Nadler geschehen, der in seinem „...gutfundierten und schwungvoll geschriebenen, in jeder Hinsicht, auch im Irrtum mutigen Werke...“60 Sauers Forderung nach einem Abriß der deutschen Literaturgeschichte nach stammheitlichen und volkstümlichen Kriterien „begeistert und gewissenhaft verwirklicht“ habe. Im folgenden wendet Arnold sich allerdings dem Stand von Sauers Forderung nach der Erstellung einzelner Provinziallite—————— 55 56 57 58
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Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 297. Schultz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 362. Meyer: Rezension 1912. Noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“ kümmerte Sauer sich um einen Vorabdruck eines Kapitels, zu dem er eine Einführung schrieb, 1914 verfaßte er eine Rezension des zweiten Bandes: Sauer, August: Einleitung zu „Die Vorgeschichte des Wiener Dramas“. In: Österreichische Rundschau 1911, S. 298-300; Ders.: Literaturgeschichte [Sammelrezension]. In: Ebd. 38 (1914), S. 60-66, zu Nadler S. 60f. Arnold, Franz Robert: Territoriale Literaturgeschichten. Ein bibliographischer Versuch. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 27 (1913), S. 225-233. Arnold: Territoriale Literaturgeschichten, S. 225.
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raturgeschichten zu. In dieser Kategorie gebe noch wenige Werke, die als „wissenschaftlich“ einzuschätzen seien – als Kriterien nennt Arnold Sachkenntnis, Gründlichkeit und Urteilsvermögen – und so würde man „...das wunderliche Schauspiel erleben, wie die großzügige Arbeit Nadlers die Vorarbeiten, auf denen sie hätte aufbauen sollen, tatsächlich erst ins Leben rufen wird.“61 Trotz dieser zuletzt zitierten Bemerkung, welche Ansätze einer Kritik an der mangelnden Berücksichtigung der philologischen Arbeitsweise durch Nadler enthält, spricht Arnold der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ keineswegs Wissenschaftlichkeit ab. Tatsächlich unterstreicht er mit seinem „bibliographischen Versuch“ die Bedeutung der stammheitlichen und landschaftlichen Gliederung für die deutsche Literaturgeschichte. Auch der Germanist und Literaturhistoriker Max Pirker akzeptierte Nadlers Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ohne Einschränkung und stellte ihn sogar mit großer Betonung in die Nachfolge Wilhelm Scherers als möglicherweise bald „führender Genius der Literaturhistorie“, der dazu berufen scheine, „...den durch den Tod Erich Schmidts freigewordenen Marschallstab zu ergreifen.“62 Nun handelte es sich zwar bei Pirker um keinen an einer Universität wirkenden Gelehrten,63 doch möglicherweise ist gerade für die jüngere Generation von Germanisten (Pirker war zwei Jahre jünger als Nadler) bezeichnend, wie manche „Philologendünkel“ abgelegt und neue wissenschaftliche Ansätze weit weniger skeptisch aufgenommen werden. Denn der Rezensent hat keine Vorbehalte, auch die „Großen“ als „...umgeben, beeinflußt, geformt vom unsichtbaren, magisch im Blute weitwirkenden [sic] Gefolge ihrer Sippe...“ zu akzeptieren und die Bindung von Ideen an die Landschaft zu begrüßen – dies sehr blumig und überschwenglich, aber immer im Rahmen von Nadlers eigener Auffassung seiner Grundlagen.64 Ein Österreich-Bezug ist insofern vorhanden, als in Pirkers Rezension implizit die Freude eines im „alten“ Süden des deutschen Sprachraum Lebenden über Nadlers Darstellung der jüngeren Neustämme und speziell Gottscheds als „Mann ohne völkische Traditionen“ anklingt.65 In einem späteren Artikel Pirkers, wo die „Literaturgeschichte“ nur kurz erwähnt wird, ist überdies spürbar, wie sehr er Nadlers Vorgehensweise, auch ver—————— 61 62 63 64 65
Arnold: Territoriale Literaturgeschichten, S. 226. Pirker: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Pirkers Spezialgebiet war die Theatergeschichte, zu der er auch Monographien publizierte. Daneben war er journalistisch tätig, ab 1914 arbeitete er an der Wiener Hofbibliothek. Pirker: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bei der Darstellung Lessing habe allerdings „...das stammesgeschichtliche Moment ein wenig den Blick für Individualitäten getrübt.“ Pirker: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften.
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gleichsweise unbedeutende Dichter in seine Darstellung aufzunehmen, schätzt.66 In Österreich scheint also ein guter Resonanzboden für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung vorhanden gewesen zu sein (mit Ausnahme maßgeblicher Gelehrter an der Universität Wien, vgl. die Abschnitte 7.2.7. und 7.2.9.). Dies ist jedoch nicht unbedingt als von einer deutschen Identität oder Nationalität unabhängiger Österreich-Patriotismus zu verstehen, sondern in den meisten Fällen als die Betonung einer spezifischen Ausprägung der deutschen Nationalität. Max Pirker hebt beispielsweise 1919 den bairischen Stammeszusammenhang innerhalb Österreichs hervor, um eine festere Bindung der Alpenländer an Wien und eine stärkere kulturelle Orientierung Wiens an den österreichischen Bundesländern zu propagieren, doch stellt er diese Forderungen aus weiter ausgreifenden Motiven: „Die Deutschen Oesterreichs wurden nur durch den Zwang der Ereignisse dem Bunde deutscher Staaten ferngehalten und gerade in den Alpenländern lebte das lebendige, nicht zu unterdrückende Gefühl der inneren Zugehörigkeit zum deutschen Volke viel stärker als in Wien.“67 Auch in außerhalb Österreichs geschriebenen Rezensionen wird zwar ein Sonderstatus der österreichischen Landschaften angenommen und akzeptiert, aber weder explizit noch implizit eine eigenständige österreichische „Nationalliteratur“ thematisiert. Meyer, obwohl offenen Auges für Nadlers Vorliebe für die südlichen Altstämme und den Katholizismus, hält sogar fest, der Literaturhistoriker dürfe „...sich mit Recht dagegen wehren, ein Partikularist genannt zu werden...“.68 Schmid unterstreicht gleichermaßen das Stammes- wie auch völkische Bewußtsein der „Deutsch-Österreicher“, wobei das Stammesbewußtsein auf den Zusammenhang der deutschsprachigen Bürger der Habsburgermonarchie bezogen ist (im Sinne von Nadlers „Volkstum“ als kulturelle Ausprägung eines Teilstammes) und das völkische Bewußtsein auf die deutsche Nation.69 Aus diesem Blickwinkel scheint Nadlers Intention, das österreichische Schrifttum als kulturelles Erzeugnis eines bairischen Teilstammes sowohl herauszuheben als auch in die deutsche Nationalliteratur zu integrieren, erkannt und gutgeheißen worden zu sein. Das in Abschnitt 2.5.2. erwähnte Bedürfnis nach einer Aufwertung der eigenen, österreichischen Literatur gegenüber der „reichsdeutschen“ vor allem seitens der Dichter wird in der Aufnahme der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ durch einige österreichische Schriftsteller bestätigt. Es —————— 66 67 68 69
Pirker, Max: Wien und die Alpenländer. In: Fremden-Blatt Nr. 32 (2. 2. 1919). Pirker: Wien und die Alpenländer. Meyer: Rezension 1913/14, S. 76. Schmid: Nadlers Literaturgeschichte, S. 297.
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ist bezeichnend, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung in Österreich nicht nur von publizistischer und wissenschaftlicher Seite im allgemeinen positive Aufnahme fand, sondern sich gerade Dichter, die selbst um eine Aufwertung der österreichischen Literatur oder auch einer „österreichischen Idee“ bemüht waren, dem Nadlerschen Ansatz zuwandten. Eine zentrale Rolle spielen hierbei Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal, deren Auffassung der Schriften Josef Nadlers und deren Korrespondenzen mit dem Literaturhistoriker gut aufgearbeitet sind und deswegen hier nur kurz erwähnt werden sollen.70 Initialzündung für Bahrs und Hofmannsthals Begeisterung für die „Literaturgeschichte“ war Nadlers im dritten Band 1918 ausformuliertes Barockkonzept, auf welchem die Sonderrolle der „Ostbaiern“ in diesem Werk maßgeblich beruht. Bezeichnend für das hohe Maß an Flexibilität von Nadlers Theorien ist in diesem Zusammenhang, daß seine Ansichten zum Barock trotz deren fester Anbindung an die Dynastie der Habsburger auch nach dem Ende der Donaumonarchie beträchtlichen Einfluß erlangten. Die geographische Heraushebung Österreichs als an einem Schnittpunkt zwischen Ost und West sowie Süd und Nord liegend, verbunden mit dem Konzept der deutschen Stämme ermöglichte es etwa Hermann Bahr, sein Thema der nationalen Einigkeit in allen Facetten zusammenzufassen: als „...Einigkeit zwischen Österreichern und Deutschen, Österreichern und Slawen, und vor allem Einigkeit zwischen den Österreichern unter sich.“71 Nadlers Konstrukt hielt praktisch alle Auffassungen offen: Österreich als Teil der deutschen Nation, Österreich als „europäischer“ Vielvölkerstaat unter Dominanz der deutschsprachigen Bevölkerung, Österreich als eigenständiges Territorium der Ostbaiern. In jeder dieser Konstellationen ist in der stammeskundlichen Literaturgeschichte die Sonderstellung Österreichs durch den Barock als kultureller Ausdruck des Alpen- und Donauraums gewährleistet. Auch Hofmannsthal fand in dem Konzept einer spezifischen Kunstform des bairischen Stammes Unterstützung in seiner Suche nach einer von staatlichen Veränderungen unangetasteten „österreichischen Idee“.72 Nadlers Bild einer stammlich und landschaftlich gebundenen, überzeitlichen kulturellen Ausdrucksform suggerierte ungebrochene Bedeutung des nunmehrigen Kleinstaats Österreich, die sich auch (kultur)politisch verwerten ließ: Nadlers Theorien trugen wesentlich zur Einrichtung der Salzburger Festspiele durch Hofmannsthal und Max Reinhardt bei. —————— 70 71 72
König: Hofmannsthal, bes. Kap. 4; Hopf: Hermann Bahr und Josef Nadler; Daviau: Hermann Bahr, Josef Nadler und das Barock; Schoolfield: Nadler, Hofmannsthal und „Barock“; Volke: Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen. Daviau: Hermann Bahr, Josef Nadler und das Barock, S. 179. Volke: Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen, S. 44.
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Abschließend sind für die Rezeption der ersten Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ festzuhalten: Eine weitgehend positive Aufnahme des Werks durch Rezensenten außerhalb der Disziplin Germanistik, die nicht zuletzt auf die größere Bereitschaft zurückzuführen ist, die Lamprechtsche Kulturgeschichtsschreibung und weitere nicht geisteswissenschaftliche Grundlagen von Nadlers Ansatz zu akzeptieren. Weiters eine überwiegend ablehnende Haltung seitens der Fachkollegen, zunächst mit der Begründung mangelnder Einhaltung der philologischen Standards, um 1920 schließlich auch aus dezidiert „geisteswissenschaftlichem“ Selbstverständnis heraus. Überdies muß die Unumstrittenheit der Vorstellung der Existenz von Stammescharakteren sowohl in journalistischer als auch in wissenschaftlicher Sphäre betont werden – selbst wenn über das Maß der Bedeutung dieser Stammescharaktere für die Literatur Uneinigkeit bestand. Und zuletzt das Bestehen eines soliden Resonanzbodens für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung in den deutschsprachigen Ländern der Donaumonarchie und der aus ihnen hervorgehenden jungen Republik Österreich.
6. Stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung 1921-1928 Die erste Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ blieb mit ihren drei Bänden letztlich unabgeschlossen. Der vierte Band des Werks erschien zwar gleichzeitig für die erste und zweite Auflage, doch er ist in konzeptueller Hinsicht aus mehreren Gründen der zweiten Auflage zuzurechnen, in deren Zusammenhang er hier auch vorgestellt wird. Daß der 1928 erschienene vierte Band, welcher die Darstellung bis nahe an die unmittelbare Gegenwart Nadlers heranführte, erst in Anschluß an die Neuauflage der ersten Bände fertiggestellt wurde, ist in erster Linie auf das Vorhaben des Literaturhistorikers zurückzuführen, seine stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung aufgrund seiner bisher gewonnenen Ergebnisse neu zu ordnen. Auf welchen Grundlagen Nadler diese Neuordnung vornahm und wie sich das Erscheinungsbild des stammeskundlichen Ansatzes dadurch veränderte, ist anhand der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ zu verfolgen. Im Zuge der Analyse der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ ist deutlich geworden, daß Nadlers zentrales Konzept der Zuschreibung von Klassik und Romantik an die Alt- bzw. Neustämme sich erst während der Arbeit herauskristallisierte. Übereinstimmend damit befaßte sich der Literaturhistoriker noch vor dem Erscheinen des dritten Bandes mit dem Plan einer Neuauflage: Bei einer Neuauflage, die ich heiß ersehne, wird [...] der ganze Stoff einheitlich u. straff umgruppiert werden. Das Bisherige ist ja fast nur eine Art Notbau, wie es mit fortschreitender Erkenntnis u. Arbeit möglich wurde. Schon jetzt überblicke ich den ganzen Aufbau einheitlicher. Ein Schema für die Neuverteilung des Stoffes habe ich mir bereits gemacht. 1
Schon zwei Jahre zuvor erwähnte Nadler Sauer gegenüber im Rahmen einer Überlegung, den Verlag zu wechseln, er habe sich die Neuverteilung der Kapitel für eine Neuauflage bereits vor dem Krieg schriftlich zurecht gelegt. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings noch rein chronologische Aspekte ausschlaggebend für den Wunsch nach einer Umgruppierung.2 —————— 1 2
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-283, Pürstein 12. 8. 1917. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-228, Pürstein 15. 10. 1915.
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Mit der Umsetzung dieser Pläne mußte Nadler allerdings warten, bis die erste Auflage der „Literaturgeschichte“ zum Großteil verkauft war, was sein Verleger Josef Habbel erst Anfang 1920 bekanntgeben konnte.3 Noch bevor eine Neuauflage tatsächlich spruchreif wurde, hatte Nadler im Rahmen seiner Arbeit an jenen zeitlich an Band 3 1918 anzuschließenden Kapiteln einen umfassenden Abschnitt zur Berliner Romantik fertiggestellt und als Sonderausgabe an den Berliner Verleger Erich Reiss verkauft.4 Auffallend ist in diesem Zusammenhang, daß Nadler August Sauer von diesem gesonderten Buch erst berichtete, als der Verkauf bereits beschlossen war und er seinem Lehrer im Vergleich zur ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ fast nichts Inhaltliches vorab mitteilte – mit Ausnahme des polemischen Vorworts. Als Grund für das gesonderte Erscheinen des Abschnitts nannte Nadler dessen Wichtigkeit und Umfang, das Vorhaben einer Abrechnung mit seinen Kritikern, allen voran Oskar Walzel, sowie die Möglichkeit, seine Begründung der Romantik in Einleitung und Nachwort ausführlich darstellen zu können.5 Und gerade an diesem Aspekt wird die Verstärkung mehrerer Tendenzen deutlich, die sich in Band 3 bereits angekündigt hatte. So wird Nadlers Auffassung der Romantik in ihrer Ausführung von 1918 verdeutlicht, aber vor allem auch die Klassik einer neu akzentuierten Deutung unterworfen. Nach seinen stark kulturgeographisch geprägten Anfängen nimmt Nadler nun eine Wendung zu einer stärker völkisch gefärbten Literaturgeschichtsschreibung vor. Diese soll wegen der weitgehend erhaltenen Grundlagen der ersten Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ und in Absetzung von anderen völkisch(-rassenkundlich)en Ansätzen etwa jenem Adolf Bartels als stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet werden. Wie gering die Auswirkungen der geänderten konzeptionellen Begründung auf Nadler Werk letztlich waren, wird vor allem die Analyse der zweiten Fassung der mehrbändigen Ausgabe verdeutlichen (vgl. Abschnitt 6.2.), während der Sonderdruck über die „Berliner Romantik“ ganz im Zeichen der Weiterentwicklung des stammeskundlichen Ansatzes steht.
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-365, Freiburg 12. 1. 1920 u. 415/1-369, Freiburg 16. 6. 1920. Die erste Auflage umfaßte 3000 Exemplare, wovon Habbel im Herbst 1917 die Hälfte als verkauft meldete. Nadler argwöhnte, sein Verleger habe vor der kriegsbedingten Einschmelzung der Druckplatten „vorsichtshalber“ noch einige hundert Exemplare gedruckt. ebd. 415/1-354, Freiburg 9. 8. 1919. Nadler, Josef: Die Berliner Romantik 1800-1814. Ein Beitrag zur gemeinvölkischen Frage: Renaissance, Romantik, Restauration. Berlin: Reiss 1921. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-369, Freiburg 6. 5. 1920.
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6.1. Die Berliner Romantik 6.1.1. Polemik und Konsolidierungsbemühungen Das polemische Vorwort der „Berliner Romantik“ richtete sich in erster Linie gegen Oskar Walzel, den Nadler für seinen hartnäckigsten Gegner hielt und dessen Einfluß er hinter jedem Kritiker vermutete. Nadler äußerte sich hierzu Sauer gegenüber: Was nun Ihre Sorge anlangt. Ich glaube nicht, daß man Angriffe auf den ganzen Stand herauslesen kann. Ich polemisiere doch mit einem ganz engen Klüngel. Das Vorwort, das ich Ihnen dieser Tage zusende, wird keinen Zweifel lassen.6
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieses Vorwort oder zumindest Teile davon auf Nadlers Empörung über Josef Körners ablehnende Rezension der „Literaturgeschichte“7 zurückgehen, da der Literaturhistoriker kurz nach dem Erscheinen dieser Besprechung und nachdem die „Deutsche Rundschau“ es abgelehnt hatte, seine Entgegnung zu drucken, eine Broschüre zur Auseinandersetzung mit seinen Gegnern plante: Die Deutsche Rundschau lehnt glattweg jede Einsendung von mir [...] ab. Ich greife jetzt zu dem Ausweg einer Broschüre bei Habbel, in der ich mich rücksichtslos mit W.[alzel] auseinandersetzen werde u. auch mit andern Kritikern alte Rechnungen begleichen werde.8
Der Plan einer solchen Broschüre wird von Nadler nicht mehr erwähnt, doch angesichts seines Inhalts und Nadlers eigenem Urteil entspricht das Vorwort der „Berliner Romantik“ diesem Vorhaben.9 Ein Kernstück von Körners Auseinandersetzung mit Nadlers Werk betraf dessen neuartige Romantik-Konzeption. Möglicherweise liegt auch darin ein Grund für die gesonderte und vorgezogene Publikation zentraler Abschnitte der „Literaturgeschichte“ zur Romantik außerhalb des mehrbändigen Werks. Wohl um seinen Kritikern aus gestärkter Position entgegentreten zu können, findet sich im Vorwort der „Berliner Romantik“ neben umfassender Polemik der Versuch Nadlers, seine Konzeption die—————— 6 7 8 9
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-379, Pürstein 10. 12. 1920. Körner: Metahistorik des deutschen Schrifttums, vgl. 5.2. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-360, Freiburg, 28. 10. 1919. Vgl. 5.2. „Eben habe ich das Vorwort zu meinem Berliner Buch abgeschickt, das ohnedies polemisch genug ist. Was soll ich mit Angriffen machen, die jetzt nach 10 Jahren der 1. Auflage gelten, wo bereits die neue Ausgabe im Gange ist? Soll ich mich in allen möglichen Repliken zersetzen? [...] Wem kann ich helfen, wenn ihm der erstbeste Artikel die Meinung umwirft? Unser Streben wird sich von Jahr zu Jahr modifizieren u. vervollkommnen u. diese Leute kommen mir vor, als schössen sie auf den Platz, wo ich längst nicht mehr stehe. Wir arbeiten nicht für heute u. morgen sondern für die Zukunft.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-377, Pürstein 10. 11. 1920.
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ser Epoche durch Bezüge auf germanistische Vorarbeiten10 und ähnlich gerichtete Strömungen in den Sprachwissenschaften stärker zu untermauern. Doch bei genauerer Analyse der von Nadler genannten Schriften wird deutlich, daß der Literaturhistoriker aus diesen erst unter Voraussetzungen, die nicht den von ihm angeführten Quellen, sondern bereits den eigenen Ansichten entsprechen, eine Bestätigung seines Standpunktes ableiten kann. Zur Unterstützung der für seine Konzeption von Klassizismus, Romantik und Restauration maßgeblichen Unterscheidung zwischen zwei Arten von Erneuerungsbewegungen – eine auf die Kultur eines fremden Volkes gerichtete und eine auf die eigene, vergangene Kultur zielende – zitiert Nadler seinen Germanistenkollegen Konrad Burdach. Die betreffende Textstelle stammt zwar aus einer erst nach den ersten drei Bänden der „Literaturgeschichte“ veröffentlichten Schrift,11 enthält aber ebenfalls den Hinweis auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Differenzierung von Bewegungen. Allerdings ist jener Hinweis, dem Nadler durch seine Hervorhebung große Bedeutung zumißt, ein einzelner Satz und bereits alles, was Burdach zu dieser speziellen Frage mitteilt. Das Hauptinteresse in Burdachs ideengeschichtlich gerichtetem Buch gilt der „...lebendigen Anschauung des Wesens und Werdens der Renaissance...“;12 die Untersuchung verbleibt sowohl bezüglich der Quellen als auch in Hinblick auf das Erkenntnisinteresse auf einer geistigen Bezugsebene. Berührungen mit Nadler ergeben sich allenfalls aus Burdachs Erklärung, bei der Forschung auch überpersönliche Aspekte berücksichtigen zu wollen, wobei jedoch künstlerische Form und Individuum im Vordergrund bleiben.13 —————— 10
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Nadler schreibt das Einsetzen der wissenschaftlichen, entwicklungsgeschichtlichen Erforschung der romantischen Bewegung Reinhold Steig, Ferdinand Josef Schneider und Rudolf Unger zu, (Nadler: Berliner Romantik, S. VIII.) die allerdings auf geistesgeschichtlicher Ebene verbleiben. Burdach, Konrad: Reformation, Renaissance, Humanismus. Berlin: 1918. Das Buch faßt zwei Vorträge im Druck zusammen; die von Nadler herangezogenen Gedanken gehen damit bereits auf 1913 zurück, als Burdach auf der Philologenversammlung in Marburg den Vortrag „Über den Ursprung des Humanismus“ hielt. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 5. Burdach spricht von überpersönlichen Fäden, „...die sich von Dichter zu Dichter, von Künstler zu Künstler, von Landschaft zu Landschaft zwischen Künstler und Publikum, Schriftsteller und Leser fortspinnen und von g e w i s s e n E n t w i c k l u n g s g e s e t z e n d e r k ü n s t l e r i s c h e n F o r m gezogen werden, weil ja j e d e p o e t i s c h e u n d k ü n s t l e r i sche Rich tung ihre Bedeutung erhält d urch die Wir kun g auf ei n bes t i m m t e s P u b l i k u m [...] und diese notwendig bestimmt ist durch einen i n n e r e n Z u stand der Vorbereit ung, der Emp fä nglich kei t eben dieses Publi ku ms. Immer noch sehe ich jedes dichterische, jedes künstlerische Erzeugnis an als Summe von dem, was eine im Publikum vorhandene Spannung löst, eine wenn auch unbewußte Bedürftigkeit aufhebt, und dem, was aus der eigentümlichen Beschaffenheit des dichtenden,
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Der von Nadler zur Festigung seiner Ansichten angeführten Textstelle kommt in Burdachs Schrift somit keinerlei konstitutive Bedeutung zu und bezeichnenderweise befindet sie sich auch nicht im Lauftext, sondern in einer Anmerkung: im Zusammenhang mit seiner Bestimmung von „Renaissance“ nicht als intellektuell gerichtete Wiederbelebung bzw. Nachahmung antiker Literatur und Kunst, sondern als Erneuerungsbewegung einer alternden, nach Jugend strebenden Zeit, bezieht Burdach sich in einer Endnote auf Jacob Burckhardt.14 Diese Anmerkung setzt sich in erster Linie mit Burckhardts Definition von „Renaissance“ als Aneignung der antiken Kultur und Restauration als politisch-religiös gerichtete Bewegung auseinander. Burckhardt hätte entgegen seiner sonst von ihm selbst vertretenen Annahme, Renaissance- und Restaurationsbestrebungen würden sich teilweise überschneiden, in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ gerade die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts als „reine“ (nicht politisch gerichtete) Renaissance aufgefaßt, was Burdach zurückweist. Er hält dieser Ansicht die politisch-religiösen Aspekte in den Werken Francesco Petrarcas, Cola di Rienzos und Dante Alighieris entgegen.15 Zu Beginn seiner diesbezüglichen Ausführungen in der Endnote fügt der Germanist durch ein direktes Zitat des Kulturhistorikers den Beleg ein, daß Burckhardt die eben von ihm, Burdach, im Lauftext abgelehnte Auffassung der Renaissance als Wiederbelebung antiker Kultur teile: Eine Eigentümlichkeit höherer Kulturen ist ihre Fähigkeit zu Renaissancen. Entweder ein und dasselbe oder ein später gekommenes Volk nimmt mit einer Art von Erbrecht oder mit dem Recht der Bewunderung eine vergangene Kultur teilweise zu der seinigen an. 16
Und es ist eine Nebenbemerkung Burdachs dazu, die Nadler schließlich – zum Teil, denn das sogleich kursiv wiederzugebende Ende des Satzes übernimmt er nicht – zur Unterstützung seiner Ansichten anführt: „Seltsam auch, wie Burckhardt hier über den fundamentalen geschichtlichen Gegensatz, ob die ‚angenommene vergangene Kultur’ dem eigenen oder dem fremden Volk gehört, nationales Gewächs oder Auslandsimport ist, hinweggleitet mit der willkürlichen Konstruktion „Erbrecht“ oder „Recht der Bewunderung“.“17 —————— 14 15 16 17
schaffenden Individuums entspringt. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 7. Hervorhebungen im Original. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 138f. Die zugehörige Anmerkung befindet sich auf S. 216. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 216. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Berlin, Stuttgart: Spemann 2. Auflage 1905, S. 67. Hier nach: Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 216. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus, S. 216 bzw. Nadler: Berliner Romantik, S. X. Nadler läßt die Anführungszeichen innerhalb des Satzes und den hier kursiv gesetzten Teil aus.
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Nadler versucht also, sein Konzept von Renaissance, Romantik und Restauration mit einer Nebenbemerkung innerhalb einer Endnote zu stützen. Zusätzlich reißt er dieselbe aus dem Zusammenhang der Anmerkung heraus, indem er die darin maßgebliche und von seinen Ansichten abweichende Definition der Begriffe „Renaissance“ und „Restauration“ durch Burckhardt unterschlägt und mit dem (ungekennzeichneten) Abbruch des zitierten Satzes einen für ihn nicht unproblematischen Aspekt tilgt. Denn eine „willkürliche Konstruktion von Erbrecht“ könnte man durchaus Nadler selbst vorwerfen, ist doch der Gedanke der südwestdeutschen Stämme als legitime Erben des römischen Imperiums bei ihm ebenso zu finden wie jener des Erbes von Völkergedanken in der Landschaft, wobei beide keineswegs auf einwandfreien Grundlagen stehen. Dieser Befund macht es mehr als fraglich, ob Kenner oder Nachleser der Schrift Burdachs dieselbe tatsächlich als Festigung des Nadlerschen Standpunktes in der Unterscheidung von Renaissance- und Restaurationsbewegungen aufgenommen haben. Nadlers anschließend an die Auseinandersetzung mit Burckhardt und Burdach nicht ohne Ironie vorgebrachter Bezug auf die „...drei Klangtypen von Rutz und das, was Sievers und Saran betreiben...“18 ist ebenfalls nur bedingt geeignet, seine Konzeption der Literaturgeschichtsschreibung zu stützen. Diese Gelehrten werden vor allem als Vertreter von Forschungsansätzen vorgestellt, die überpersönlich, gesellschaftlich wirkende Kräfte voraussetzen und die körperliche Determiniertheit des Geistes annehmen. Als Untermauerung der entsprechenden Ansichten Nadlers können die Arbeiten Otmar Rutz’ (in der Nachfolge seines Vaters Josef), Eduard Sievers’ und Franz Sarans wiederum nur dann dienen, wenn nicht nachgelesen wird. Vollzieht man die jeweiligen Argumentationen im Detail nach, werden die Divergenzen zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung offensichtlich. Die von Nadler zitierte, auf Rutz und Sievers aufbauende Arbeit Franz Sarans stellt im einschlägigen Abschnitt eine neue Methode zur Klärung des Forschungsproblems vor, ob das Hildebrandslied von einem oder zwei Personen niedergeschrieben worden sei: die Untersuchung nach Klangtypen.19 Vater und Sohn Rutz vertraten als Ergebnis ihrer stimmphysiologischen Forschungen die Ansicht, daß jedes Gesangstück nur dann in voller Schönheit und ohne Anstrengung für den Sänger erklinge, wenn es seinem Klangtypus entsprechend vorgetragen werde. Der Klangtypus werde dem Stück vom Komponisten zwar eingeschrieben, doch könne jeder Klangtypus von jedem Sänger wieder—————— 18 19
Nadler: Berliner Romantik, S. X. Saran, Franz: Das Hildebrandslied. Halle: Niemeyer 1915, S. 7-18. Saran bezieht sich hier auf die einzige Handschrift, die das Hildebrandslied überliefert (Codex Theol. Fol. 54, Landesbibliothek Kassel).
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gegeben werden, wenn dieser beim Vortrag die dem Klangtypus zugeordnete bzw. ihn hervorbringende Körperhaltung einnehme, das heißt: die richtigen Muskelbewegungen ausführe. Saran übertrug dieses von Sievers weiterentwickelte Typensystem auf den Vortrag von Texten und die Betrachtung von Schriftarten und Kunstwerken.20 Wenn Nadler nun diese Theorien als Unterstützung für seine spezifischen Überzeugungen von der Determination des Geistes durch den Körper heranziehen möchte, ergeben sich Probleme: zunächst wird der Klangtypus einzelner Menschen in Sarans Buch21 mit keinem Wort auf physische Grundlagen oder gar auf Abstammung bzw. Vererbung zurückgeführt. Die drei von Rutz eingeführten Klangtypen, der italienische, deutsche und französische, tragen ihre Bezeichnungen, weil sie jeweils mehrheitlich von italienischen, deutschen und französischen Komponisten bevorzugt worden seien – bzw. von deren Schülern, wie etwa Mozart und Händel eine Zuordnung zum italienischen Typus erfahren. Die drei Klangtypen werden als ästhetisch gleichwertig gefaßt und das Vorkommen aller drei Typen in jedem Volk unterstrichen. Und auch wenn Saran Rutz referiert, daß ein Komponist nur Werke eines dieser drei Klangtypen hervorbringe, so wird doch die Möglichkeit eingeräumt „...daß der übermächtige Einfluß eines Stückes von anderem Typus den ursprünglichen des Komponisten verdrängt...“.22 Im Gegensatz dazu ist in der „Literaturgeschichte“ die Möglichkeit für einen Dichter, Werke eines beliebigen Typus hervorzubringen, nicht vorgesehen. In Nadlers Konzeption kann höchstens bei gemischter Abstammung entweder der eine, der andere oder allenfalls eine Mischung dieser Stammestypen im Werk verkörpert werden, jedoch ohne z. B. alamannische Ahnen keine dem Stammescharakter der Alamannen entsprechende Dichtung entstehen. Und selbst wenn die Option des „Hineinwachsens“ in eine fremde Landschaft berücksichtigt wird, lehnte Nadler gerade die Möglichkeit der Beeinflussung eines Werks durch eine frühere Schöpfung —————— 20
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Der Typus eines Gesangstückes oder Textes kann laut Saran mit mehreren Methoden festgestellt werden: etwa durch Vortrag desselben unter Beachtung der Muskelreaktionen bzw. der Körperhaltung, die der Vortragende unter der Wirkung des Stückes einnimmt (motorische Methode) oder über das Durchprobieren der Körperhaltungen, bis Klang, Reinheit und subjektives motorisches Gefühl zeigen, daß der richtige Klangtypus gefunden wurde. Für diese letztere „Probiermethode“ hatte Sievers die von Nadler im Vorwort der „Berliner Romantik“ (S. XI) bespöttelten Drahtfiguren als Richtlinien für die einem Typus entsprechende Haltung angefertigt. Vgl. Saran: Hildebrandslied, S. 13f. Die Annahme, daß jeder einzelne Mensch einem bestimmten Klangtypus zuzuordnen ist, geht möglicherweise erst auf Saran und nicht auf Rutz zurück. Jedenfalls wird der Begriff „Klangtypus“, solange Saran dezidiert Rutz referiert, nur auf Werke und nicht auf Komponisten bezogen. Saran: Hildebrandslied, S. 8-12. Saran: Hildebrandslied, S. 9.
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dezidiert ab. Denn in seinem Konzept gehen Ähnlichkeiten zwischen zeitlich auseinanderliegenden Werken immer auf gemeinsame oder ähnliche Ahnen der Künstler zurück – was auch beim „Hineinwachsen“ gilt, nur in diesem Fall eben aufgrund unbekannter Ahnen. Vor allem bei Rutz, aber auch bei Sievers und Saran ist der Klangtypus weit stärker auf der Werkebene verankert als auf der Ebene der Künstler oder gar deren Abstammung – umso mehr, als das Werk seinen Vortrag im ihm eingeschriebenen Klangtypus verlangt, der von jedem Interpreten bei entsprechender Körperhaltung reproduziert werden könne. Ein Zusammenhang zwischen Geist und Körper wird bei Saran in expliziter Weise allein zwischen Köperhaltung und Wiedergabe bzw. Betrachtung eines Liedes, Textes oder Kunstwerks hergestellt. Dabei wirken Geist und Körper zwar wechselweise aufeinander ein,23 aber es wird nicht bestimmten körperlichen Eigenschaften zugeschrieben, einen bestimmten Typus auszuprägen, der wiederum im eigenen Schaffen nur den ihm entsprechenden Klangtypus hervorbringen oder beim Vortrag wiedergeben könne. Als Unterstützung für seine Konzepte kann Nadler Sarans Schrift aber nur dann heranziehen, wenn er in eben dieser Weise den italienischen, deutschen und französischen Klangtypus in seinem Sinne an Menschengruppen gemeinsamer Abstammung und deren körperliche Disposition bindet. Für eine solche Deutung findet sich in Sarans Schrift jedoch kein Anhaltspunkt. Die bisher näher analysierten Beispiele, welche Nadler als Gegenargumente gegen die Ansicht anführt, daß sein Werk „verbindungslos in der Luft“24 hänge, boten dem Literaturhistoriker nur für einzelne Aspekte seiner Arbeit Rückhalt, und selbst dieser wird bei Detailbetrachtung fragwürdig. Von sprachwissenschaftlicher Seite konnte der Literaturhistoriker allerdings zwei Ansätze anführen, die tatsächlich eine ähnliche Richtung wie er selbst einzuschlagen schienen: Friedrich Kauffmanns und Sigmund Feists Deutungen der deutschen Lautverschiebungen, die jeweils die Wanderung und Mischung von Völkern in ihre Theorien miteinbezogen. Kauffmann baute seinen soziologisch-anthropogeographisch orientierten Aufsatz25 auf der Ansicht auf, daß sprachliche Neuerungen sich nie im Mutterland einer Sprachgemeinschaft ausbilden würden, sondern stets in Kolonisationsgebieten erstmals aufträten und erst von dort auf das Mut—————— 23
24 25
Indem sowohl bewußt der Köper in die richtige Stellung gebracht werden kann, um einen bestimmten Klangtypus wiederzugeben, als auch der Körper durch die Einnahme der dem Gehörten/ Gelesenen/ Betrachteten entsprechenden Haltung, den Klangtypus des Aufgenommenen bewußt zu machen imstande ist. Nadler: Berliner Romantik, S. X. Kauffmann, Friedrich: Das Problem der hochdeutschen Lautverschiebung. In: ZSfdPh 46 (1915), S. 333-393.
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terland zurückwirkten. Demnach lägen die Ursachen für die zweite, auch ober- oder hochdeutsche genannte Lautverschiebung in der Bewegung jener durch die Völkerwanderung neu geschaffenen deutschen „Volksstämme“ (Kauffmann führt diese Bezeichnung selbst in Anführungszeichen) der Franken, Alemannen und Baiern in Gebiete mit provinzialrömischer bzw. rätoromanischer Bevölkerung. Für die im Zuge dieser Vorgänge auftretende neue deutsche Sprachform, die Kauffmann als „Völkerwanderungs-“ oder „Kolonialstil“ der Sprache des altgermanischen Mutterlandes bezeichnet, sei nicht die Ortsveränderung, also der Wechsel der natürlichen Landschaft ausschlaggebend gewesen, sondern die Gesellschaft innerhalb dieser Landschaft ...weil der sprachgebrauch das unentbehrliche verkehrsmittel der bevölkerung und erfahrungsgemäss von der zusammensetzung derselben abhängig ist. Gerieten deutsche auswanderergruppen in den römischen provinzen Süddeutschlands in eine ihnen bisher nicht vertraute rätoromanische landsmannschaft, so konnten der veränderten verkehrsgemeinschaft nicht mehr die altgewohnten sprachlichen ausdrucksmittel ihrer heimat genügen. Es wurden deshalb lehnwörter und fremdwörter aufgenommen. Es musste aus einer veränderten völkischen zusammensetzung der neuen verkehrsgesellschaft als einer werdenden sprachgenossenschaft, aus einer neuen soziologischen Struktur ein neuer deutscher s p r a ch s ti l entstehen, war doch mit der völkerwanderung die geburtsstunde für neue völkerschaftliche bildungen [...] gekommen...26
Der Schwerpunkt liegt bei Kauffmann somit auf dem soziologischen Faktor der Verkehrsgesellschaft, denn als entscheidend für die Änderung der Sprache wird der tägliche Umgang mit anderssprachigen Menschengruppen angeführt, mit welchen es sich zu verständigen galt. Die neue Verkehrsgesellschaft bildet sich zwar aufgrund der „veränderten völkischen Zusammensetzung“ heraus, ihr Entstehen wird aber nicht zwingend auf die körperliche Mischung von Völkern gegründet – eine Verkehrsgesellschaft ist zunächst eine im selben Raum siedelnde Kommunikationsgemeinschaft. Teilweise scheint Kauffmann die Sprache von allen physischen, aber auch anderen kulturellen Merkmalen geradezu abkoppeln zu wollen und ihr den Charakter einer eigenständigen Einheit zuzuschreiben, die zwar die zwar den gleichen Einflüssen ausgesetzt ist wie Physis und Psyche, aber keine sekundäre Folge von Einflüssen auf Körper und Geist darstellt. Sprach- und Volkscharakter werden tendenziell getrennt: Gerade so wie neue blutsäfte und lebenskräfte umgestaltend eingewirkt haben auf diese werdenden volksgenossenschaften, auf ihre körper und auf ihre geister, auf ihre sitten und ihre gebräuche, ergieng [sic] es auch ihrem sprachgebrauch. Der
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Kauffmann: Das Problem der hochdeutschen Lautverschiebung, S. 337. Hervorhebung im Original.
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romanisierung der lebensgewohnheiten ganzer deutscher völkerschaften folgte auf dem fusse die romanisierung ihrer sprache [...] Ein neuartiges deutsches, volkstümliches wesen konnten die sprachen der an der völkerwanderung beteiligten germanischen Stämme aber nur dann annehmen, wenn die auswanderer in hinlänglich großer zahl beisammen blieben...27
Letztlich bleibt jedoch der Zusammenhang zwischen Volkstum bzw. Völkerschaft und Sprache einerseits sowie zwischen Physis und Sprache andererseits bei Kauffmann unklar. Denn obwohl in seiner Arbeit vor allem von soziologischen Faktoren ausgegangen wird und sprachliche Veränderungen nur auf sprachliche Einflüsse zurückgeführt werden, finden sich auch hier Ansätze, die es zulassen, Sprache als Ausdruck einer physisch gedachten Einheit fassen: „Der neue sprachstil [des Altfranzösischen im Norden Frankreichs] ist der adäquate ausdruck der neuen rasse, beziehungsweise der neuen gesellschaft, die aus den völkischen mischungen der völkerwanderung hervorgegangen ist.“28 In der nach „rasse“ eingefügten Fußnote findet sich der Hinweis, die „sprachliche ausgleichung“ habe ihr Gegenstück gefunden „...in der mischung der somatischen eigenschaften, die aus dem zusammenleben galloromanischer kurz- und dunkelköpfe und germanischer lang- und blondköpfe in Nordfrankreich sich ergab“. 29 Wenn auch ein „Gegenstück“ nicht mit einer unmittelbaren Folgewirkung gleichzusetzen ist, so ist mit der Zuschreibung des Sprachstils an eine neue Rasse die Bindung einer Sprachform an eine bestimmte Körperform zumindest vorbereitet. Ruth Römer hat gezeigt, daß die Verbindung der Sprachwissenschaft mit Rassentheorien schon früh, nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erfolgte.30 Im Falle Kauffmanns ist diese Bindung allerdings relativ locker, in seinen Ausführungen hat nicht die Rasse das Primat, sondern die Gesellschaft. Sprachmischung sowie –änderung wird zwar von der Mischung von Völkern oder Rassen begleitet, doch sind diese Vorgänge durch die Hervorhebung der Verkehrsgemeinschaft prinzipiell auch auf reiner Sprachebene denkbar. Körperliche Umbildung ist bei Kauffmann keine Bedingung für sprachliche Umbildung, aber gerade die Bezugnahme auf Rassen, wo diese für die Stimmigkeit einer Theorie nicht notwendig wäre, verdeutlicht die Selbstverständlichkeit von Nennungen rassischer Kategorien in sprachwissenschaftlichen Texten. —————— 27 28 29 30
Kauffmann: Das Problem der hochdeutschen Lautverschiebung S. 338f. Hervorhebung IR. Kauffmann: Das Problem der hochdeutschen Lautverschiebung, S. 351f. Kauffmann: Das Problem der hochdeutschen Lautverschiebung, S. 352. Römer, Ruth: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München: Fink 2. Auflage 1989, va. Kapitel 8 und 9.
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Ein ähnliches Bild bietet die Schrift Sigmund Feists, auf die Nadler sich beruft. Feist baute seine Ansichten zu den Ursachen der germanischen Lautverschiebungen auf der Substrattheorie auf. Diese führt Sprachunterschiede innerhalb einer Sprachfamilie auf regional unterschiedliche Einflüsse von jeweils anderen Familien zugehörigen, überlagerten Sprachen (Substrate) zurück,31 wobei die Artikulationsweise der Substrate beibehalten würde. Laut Feist geht die erste Lautverschiebung demnach auf die sprachliche „Indogermanisierung“ der Prägermanen in Nordeuropa durch ein untergegangenes indogermanisches oder seinerseits indogermanisiertes Volk zurück; die zweite auf die sprachliche „Germanisierung“ einer Bevölkerung, die sich aus von keltischer und romanischer Oberschicht überlagerten vorindogermanischen Menschengruppen zusammensetzte.32 Wie bei Kauffmann wird die Mischung der zugewanderten mit den bereits ansässigen Menschengruppen als gegeben angenommen, doch der Zusammenhang zwischen sprachlicher und körperlicher Mischung scheint bei Feist unmittelbarer gedacht zu sein als bei seinem Kollegen. Teilweise erwecken seine Ausführungen den Eindruck, daß er die körperliche Mischung von Völkern als Ursache für sprachliche Veränderung auffaßt. Etwa durch den Ausdruck, eine Sprache könne dem „Organ“ einer Bevölkerung „liegen“,33 was die Interpretation erlaubt, daß ein bestimmter körperlicher Aufbau nur eine bestimmte Artikulationsweise zuließe oder zumindest bevorzuge. Weiters argumentiert der Germanist auch mit anthropologisch-rassischen Überlegungen zur Stützung seiner Ansicht. So führt er beispielsweise zur zweiten, hochdeutschen Lautverschiebung an, daß das Verbreitungsgebiet der betreffenden sprachlichen Eigenheiten mit dem Verbreitungsgebiet der „alpinen Rasse“ zusammenfalle.34 Diese „alpine Rasse“ wird somit gewissermaßen zum körperlichen Substrat erklärt und soll als Beweis für ein nur in Einzelaspekten rekonstruierbares sprachliches Substrat dienen. Es sprechen jedoch auch mehrere Indizien gegen die Annahme, Feist vertrete die Gebundenheit einer Sprache an einen bestimmten körperlichen Typus oder gar an eine Rasse. Zunächst hält er körperliche und sprachliche Aspekte sehr wohl auseinander. So heißt es wiederum zur zweiten Lautverschiebung, es sei wahrscheinlich, daß die entsprechenden „...Lauteigentümlichkeiten auf die Sprachgewohnheiten dieser uralteuro—————— 31 32 33 34
Römer, Ruth: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 59, 91. Feist, Sigmund: Indogermanen und Germanen. Halle: Niemeyer 1914, bes. S. 20-34. Vgl. dazu auch: Römer, Ruth: Sigmund Feist. In: Muttersprache 91 (1981), bes. S. 258-266. Feist: Indogermanen und Germanen, S. 23, 27. Feist: Indogermanen und Germanen, S. 24. Auch die erste Lautverschiebung geht bei Feist möglicherweise auf Angehörige der alpinen Rasse zurück, ebd. S. 33.
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päischen Bevölkerung zurückgehen, die sich also somatisch und linguistisch-artikulatorisch über die verschiedenen Schichtungen der Indogermanisierung hinaus zu behaupten gewußt haben.“35 Damit wäre ein Wandel des körperlichen Typus auch ohne gleichzeitige Sprachänderung denkbar und umgekehrt. Weiters werden die Änderungen einer Sprache im Zuge ihrer Übernahme durch eine Menschengruppe ausdrücklich auf „frühere Artikulationsgewohnheiten“36 zurückgeführt, während selbst angesichts der Annahme von bestimmte Laute favorisierenden bzw. ablehnenden „Organen“ an keiner Stelle mit einer Unmöglichkeit der Wiedergabe einzelner Laute gerechnet wird. Außerdem läßt schon das Hauptziel des Textes keinen Zweifel über seine Richtung: Feists wichtigstes Anliegen ist die Zurückweisung der Versuche mancher zeitgenössischer Sprachwissenschafter und Prähistoriker, das Urvolk der Indogermanen mit den Germanen als ident und deren ursprünglichen Wohnsitz als in Nordeuropa liegend zu erweisen. Auch die Argumentation mit Rassen und Schädelindices dient letztlich diesem Ziel, da Feist zur Untermauerung seiner Ansichten anthropologische und sprachliche Kriterien kombiniert: die mit Mitteln der physischen Anthropologie zu unterscheidenden Typen und ihre Verteilung innerhalb Europas hätten sich über die Zeit der „Indogermanisierung“ hinaus nicht verändert. Die Sprache der Germanen habe hingegen eine alles andere als ungebrochene Entwicklung genommen, was sich nicht zuletzt an den Lautverschiebungen festmachen ließe. Feist schließt aus seinen Befunden „...daß die Prägermanen, die seit den ältesten erkennbaren Zeiten in ihrem Gebiet ansässig waren, in irgend einer für uns noch vorgeschichtlichen Epoche von Südosten oder Süden her in sprachlicher Hinsicht indogermanisiert worden sind...“37 Wenn die gebrochene Entwicklung der germanischen Sprache(n) auf die Überlagerung sprachlicher Substrate und damit auf die Bewegung von Völkern weist, aber immer dieselben somatischen Typen in den Entstehungsgebieten des Germanischen ansässig waren, können jene Typen nicht die ursprünglichen Träger einer indogermanischen Sprache und die späteren Germanen auch nicht die ursprünglichen Indogermanen in ihren Ursitzen gewesen sein. —————— 35
36 37
Feist: Indogermanen und Germanen, S. 24f. Hervorhebung IR. Ähnlich werden körperliche und sprachliche Mischung ebd. S. 19 getrennt: „In Afrika haben wir bekanntlich mit umfänglichen Völkermischungen und der Aufsaugung älterer Idiome durch die großen Sprachfamilien der Sudan- und Bantugruppen zu rechnen.“ Hier wird der Sprachwechsel auf allein sprachlicher Ebene beschrieben. Feist: Indogermanen und Germanen, S. 34. Vgl. dazu auch Römer: Sigmund Feist, S. 274 und Dies.: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 149. Feist: Indogermanen und Germanen, S. 64. Da die Bevölkerung Mittel- und Nordeuropas ihren Typus nicht wechselte, könnten die Germanen auch nicht eingewandert sein.
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Dies sind die Hauptargumente Feists zur Ablehnung der die Germanen zum indogermanischen Urvolk erklärenden Theorien und ein ausreichender Anhaltspunkt dafür, daß in seinem Ansatz zwar Völkerbewegung die Ursache für Sprachänderung darstellt, aber dieser Vorgang von Rassen- oder Völkermischung nur begleitet und nicht von einer Änderung des somatischen Typus bedingt wird. Nicht umsonst beginnt Feist seine Ausführungen mit dem Hinweis auf das Indogermanische als sprachliche Rekonstruktion, die nicht automatisch zur Annahme eines einheitlichen – und schon gar nicht rassisch einheitlichen – Urvolks berechtige.38 Die Sprache bleibt im Vordergrund; physische Anthropologie und Prähistorie mögen sprachwissenschaftliche Befunde und Theorien stützen, vermögen sie aber nicht zu beweisen. Angesichts von Feists Überzeugung, man solle das Indogermanische nur als das sprachliche Konstrukt behandeln, das es darstellt, mag seine Argumentation mit anthropologisch-rassischen Kategorien unstimmig und seiner Intention sogar abträglich scheinen. Seine Schrift ist wiederum ein Beweis dafür, wie selbstverständlich die Aufnahme anthropologisch-rassenkundlicher Aspekte in sprachwissenschaftliche Forschungen selbst bei diesen Theorien skeptisch und kritisch gegenüberstehenden Wissenschaftern war. Eine solche Vorgehensweise hat jedoch den Vorteil, den Vertretern rassentheoretisch gestützter germanophiler Lehren gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen entgegenzutreten. Die von Nadler in seinem Bezug auf Feist vorgenommene Gleichsetzung von „Völkerverschiebung“ und „Völkermischung“ im Sinne von Blutmischung39 ist jedenfalls nicht im Sinne seiner Quelle, da nur bei Nadler die körperliche Mischung Grundlage für geistig-kulturelle Neuerung darstellt, während bei Feist die Übernahme einer neuen Sprache durch eine Menschengruppe ohne Änderung ihres körperlichen Typus vor sich gehen kann. Zwar geht auch Nadler nicht von einem Wandel des somatischen Typus aus – er löst schließlich zumindest in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ die Stämme tendenziell aus der Sphäre der physischen Anthropologie heraus –, doch bei ihm ist die körperliche „Eindeutschung“ spätestens ab 1918 Voraussetzung für die Romantik (wenn auch nicht für die Übernahme der deutschen Sprache), während körperliche Argumente bei Feist von sprachlich-kulturellen zumindest tendenziell getrennt werden. Nadler ging jedoch keineswegs in allen Aspekten mit den —————— 38 39
Feist: Indogermanen und Germanen, S. 10-15. „Seine [Feists] ganze Schrift [...] baut sich auf dem Problem der Völkerverschiebung auf. Die Annahme des Indogermanischen durch die Vorgermanen, die hochdeutsche Lautverschiebung, die Bildung der hochdeutschen Schriftsprache führt er auf die entsprechenden Völkermischungen zurück.“ Nadler: Berliner Romantik, S. XI. In einem Brief an Sauer, in welchem er sich zu Kauffmann und Feist äußert, ist allein von Völkermischung die Rede. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-377, Pürstein 10. 11. 1920.
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genannten germanistischen und sprachwissenschaftlichen Ansätzen konform und wollte ihre Nennung auch nicht als Überzeugung von deren Richtigkeit verstanden wissen. Sie dienen ihm als Beispiele einer in den letzten Jahren aufkommenden Bewegung, in welcher ähnliche Gedanken wirksam würden wie in seiner eigenen „Literaturgeschichte“.40 Die betreffenden Theorien sind hier dennoch in solcher Ausführlichkeit behandelt worden, um einerseits beurteilen zu können, wie groß die Ähnlichkeit der Gedanken ihrer Vertreter mit Nadlers eigenen tatsächlich ist und andererseits, um aufzuweisen, wie sehr der Literaturhistoriker dazu neigte, eigene Ansichten anderen Wissenschaftern in einer Weise zuzuschreiben, wie diese sie in ihren Werken nicht niedergelegt hatten. Zusammenfassend ist die Ausbeute an ähnlichen Gedanken recht gering. Weder lassen sich die Klangtypen der Stimmphysiologie mit Stammescharakteren vergleichen, da der Klangtypus nicht an Vererbung oder ausschließlich an eine bestimmte Menschengruppe gebunden wird, noch wird in den genannten Ansätzen der auf der Grundlage von Völkerbewegungen arbeitenden Sprachwissenschaft die Sprache in gleicher Weise vom Körper abhängig gemacht wie bei Nadler der Geist bzw. der Charakter. Die Berührungspunkte zwischen Kauffmann, Feist und Nadler liegen allein in ihrer jeweiligen Nähe zur Anthropogeographie und ihrer Konzentration auf die Bewegung von Menschengruppen. Ein Hauptkriterium, auf das sich die „Literaturgeschichte“ gründet, spielt in den von Nadler herangezogenen Theorien kaum eine Rolle: die sowohl den Körper als auch den Geist determinierende Abstammung. Die Lehre von den Klangtypen baut auf der direkten Wechselwirkung zwischen Physis und Psyche auf. Dies stellt keine Neuerung dar, gründete sich doch die ihren Fachbereich dominierende experimentelle Psychologie schon lange auf die Erforschung dieser Zusammenhänge, wie auch die Klangtypenforschung in Ausrichtung auf das Individuum und nicht auf Kollektive.41 Und selbst wenn sich innerhalb der Sprachwissenschaft die Tendenz bemerkbar machte, über Rassentheorien eine auch an Abstammung gebundene Determiniertheit des Geistes durch den Körper einzuführen, ist gerade bei Kauffmann und Feist die unlösbare Bindung einer Sprache an eine Rasse bzw. einen körperlichen Typus nicht vollzogen. An Nadlers Konsolidierungsversuchen fällt auf, wie stark seine Argumentation allein auf ein germanistisches Publikum ausgerichtet ist. Anstelle ausführlicher als bisher auf die Theorien jener Wissenschafter hinzuweisen, auf welche er sich bei der Abfassung der „Literaturgeschichte“ vor —————— 40 41
Nadler: Berliner Romantik, S. XII. Das Beispiel der Klangtypen erinnert nicht zuletzt an die Formtypologie Fritz Strichs, der ebenfalls von künstlerischen Menschentypen ausging, wobei auch hier der körperliche Typus keine Rolle spielt, vgl. 2.3.3.
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allem gestützt hatte, wie etwa Lorenz’ oder Ratzels, nennt Nadler jüngere, in den Gegenstandsbereich der Germanistik gehörende Schriften. Daß der Literaturhistoriker sich veranlaßt fühlte, den Vorwurf der Voraussetzungslosigkeit seiner Arbeit allein mit dem Hinweis auf dem Gegenstandsbereich der Germanistik zugehörigen Ansätzen zurückzuweisen, ist nicht zuletzt auf die Rezeption seiner „Literaturgeschichte“ durch die Fachgenossen zurückzuführen (vgl. Abschnitt 5.2.). Angesichts der Konzentration der deutschen Philologie auf einen engen Gegenstandsbereich, deren Ursache im weitgehenden Selbstverständnis vor allem der Neugermanisten als Geisteswissenschafter liegt, wurden von den Fachkollegen eben nur germanistische Grundlagen akzeptiert und die Aufnahme von Theorien aus anderen Wissenschaften – wenigstens von natur- oder sozialwissenschaftlichen Ansätzen – abgelehnt. Nachdem der Großteil der Germanisten seine wissenschaftliche Grundlegung nicht zu akzeptieren bereit war, sah Nadler sich veranlaßt, auf seinen Gedanken ähnliche Strömungen innerhalb des Fachverbands hinzuweisen. Und schließlich hebt der Literaturhistoriker gerade über das Individuum hinausgreifende Richtungen als ebenfalls in der Germanistik verankert heraus. Er verfolgt also die Strategie, das Vorhandensein ähnlicher Ansätze wie die seinen innerhalb der Germanistik nachzuweisen, wobei deren Aufnahme in den theoretischen Kanon der Disziplin einen Ausschluß seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aus demselben unmöglich erscheinen lassen soll. Diese Vorgehensweise bedeutet aber auch, daß Nadler in der Absicht der Durchsetzung seiner Konzepte innerhalb seiner Disziplin die weitgehende Abschottung zumindest der Literaturwissenschaft gegen Einflüsse von natur- und sozialwissenschaftlicher Seite hin zumindest tendenziell reproduzierte, indem er seine Argumente allein aus der innerdisziplinären Sphäre bezog. Das Vorwort schließt mit der Klage Nadlers über Rezensenten, die seine „Literaturgeschichte“ nicht nach allgemeinen wissenschaftlichen Maßstäben beurteilen würden, sondern nach der Richtschnur des von ihnen vertretenen „-ismus“, also ihres eigenen Ansatzes (womit nicht zuletzt Walzel und seine tatsächlichen oder vermeintlichen Schüler gemeint sind). An diesen Ausführungen wird ein weiteres Mal deutlich, daß Nadler seine eigene Konzeption nicht als eine Strömung unter mehreren, ebenfalls ihre Prämissen verfolgende, betrachtete, sondern von der Voraussetzungslosigkeit bzw. Wissenschaftlichkeit seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung überzeugt war. Besonders prangerte Nadler den Nationalismus an – im Sinne der Gleichförmigkeit aller Deutschen ohne die Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Stämmen.
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6.1.2. Völkermischung als Grundprinzip Die „Berliner Romantik“ führt vor allem zur Begründung des Nadlerschen Konzepts von Renaissance/Klassik, Romantik und Restauration eine entscheidende Neuerung ein, die auf der Erweiterung der Bedeutung von Völkerbewegungen beruht. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang das Motto, das der Literaturhistoriker seinem Buch voranstellt, da es von Joseph Arthur de Gobineau stammt: „Lassen wir also diese Kindereien und vergleichen wir nicht die Menschen, sondern die Menschengruppen.“ Dies mag heute einen weit stärkeren Eindruck hinterlassen als zu Nadlers Zeit, und der Literaturhistoriker will seinen Bezug auf Gobineau auch nur auf die Frage von individueller oder kollektiver Behandlung von wissenschaftlichen Problemen und nicht auf „das Rassenproblem“ bezogen wissen.42 Gobineaus Theorien wären letztlich schwer mit der stammeskundlichen Literaturgeschichte vereinbar gewesen – mit der „Berliner Romantik“ womöglich noch schwerer als mit der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ – da die völlig ablehnende, kulturpessimistische Haltung Gobineaus zu jeglicher Rassenmischung43 in Widerspruch zu Nadlers Konzepten steht. Völkermischungen bilden inzwischen das konstitutive Element der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung, doch sie werden keineswegs negativ aufgefaßt. Eine entscheidende Rolle spielt es allerdings auch für Nadler, welche Völker sich mischen würden und in welchem Verhältnis sie zueinander bezüglich ihrer Kulturhöhe stünden. Im Rahmen seiner Ansichten zu Völkermischungen und deren Folgen für die Literatur führt der Literaturhistoriker nämlich die Unterscheidung von Kultur- und Naturvölkern sowie von Wirt und Gast ein. Auf diesen Grundlagen könnten, so Nadler, die Wanderungen von Völkern und deren geistig-literarische Auswirkungen zum eigentlichen Gegenstand der vergleichenden Literaturgeschichtsforschung werden. Entscheidend sei für eine solchermaßen aufgebaute Literaturhistorie die Beantwortung folgender Fragen: Wandert ein Kulturoder ein Naturvolk? Wandern einzelne Gruppen oder die gesamte Masse eines Volkes? Siegt der Wirt oder der Gast? Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Natur- und Kulturvölkern dient in diesem Zusammenhang der Grad der Verbundenheit des gesamten Menschenverbandes mit einer geographischen Region sowie der Angehörigen eines Volkes untereinander. Ein Kulturvolk habe sich durch die jahrhundertelange Arbeit —————— 42 43
Nadler: Berliner Romantik, S. 235. Vgl. Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, S. 29-31.
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...seinen Körper mit einem wundervollen Netzwerk durchsponnen [...], Fäden, deren jeder einzelne wenig bedeutet, die aber alle zusammen den stärksten Riesen wehrlos mit der Erde verbinden. Dieses Gewebe von staatlichen und wirtschaftlichen, geselligen, geistigen, künstlerischen Einrichtungen sind die andere Wesenshälfte jedes Kulturvolkes. Das Volk kann nicht mehr plötzlich daraus gelöst werden...44
Diese Ausführungen beinhalten Altbekanntes: die an Ratzels Kulturgeographie angelehnte Aneignung einer Landschaft durch wirtschaftliche Bearbeitung und geistige Auseinandersetzung mit derselben; die Abstellung geistig-kultureller Aspekte auf eben diese Aneignung, während die „andere Wesenshälfte“ – die nur mehr die „Natur“ eines Volkes im Sinne des abstammungsgebundenen Volkscharakters sein kann – von Umwelteinflüssen nicht berührt wird; und die Gebundenheit einer Kultur an ihren Entstehungsraum. Folgerichtig führt Nadler weiter aus, daß Kulturvölker in ihrer Gesamtheit ihre Räume nicht wechseln könnten. Anders als bei den Naturvölkern, die im Falle einer Wanderung in bewohntes Gebiet nur als Masse nicht aufgesogen oder vernichtet würden, würden aus dem Verband der Kulturvölker nur Einzelwesen ausscheiden, aus welchen bei genügender Dauer und Stärke dieses Vorgang ein neues Volk entstehen könne – unter Verschmelzung mit dem Wirt. Über den Sieg von Wirt oder Gast entscheiden nach den Ausführungen in der „Berliner Romantik“ zu schließen folgende Faktoren: die jeweilige Kopfanzahl, Art und Dauer der Besiedlung sowie die Kulturhöhe. Auskunft über den Sieg soll die Herkunft bzw. Abstammung der geistigen Schöpfer aus dem fraglichen Raum geben. Nadlers Ausführungen hierzu sind etwas unklar, da er sowohl die Möglichkeit eines geistigen, als auch eines körperlichen sowie eines beides umfassenden Sieges annimmt. Unklar insofern, als sonst bei Nadler der Geist vom Körper determiniert wird, womit ein körperlicher Sieg Voraussetzung für einen geistigen wäre – man denke etwa an die schon 1918 als Grundlage der Romantik dargestellte körperliche „Eindeutschung“. Doch erfährt das Kulturgefälle in der „Berliner Romantik“ durch die Differenzierung von Kultur- und Naturvölkern größere Bedeutung, wie in den folgenden Ausführungen sogleich zu verdeutlichen sein wird. Dabei ist im Auge zu behalten, daß die Kulturhöhe nicht zuletzt von der Verbundenheit mit dem Raum abhängig gemacht wird und diese Unstimmigkeiten in Nadlers Ausführungen somit ein weiteres Mal auf die sein Konzept beherrschende doppelte Bindung an Abstammung und Raum zurückzuführen sind. Der Raumwechsel von Völkern steht demnach bei Nadler immer auch mit Blutmischungen in Verbindung. Und während die Blutmischung ein Resultat von Völkerbewegungen ist, stellt die Mischung wiederum die —————— 44
Nadler: Berliner Romantik, S. 2.
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Ursache für auf geistige Wiedergeburt drängende Bewegungen dar. In seinem System von räumlich gebundenen Kulturvölkern und ungebundenen Naturvölkern sowie Gast und Wirt unterscheidet Nadler zwei mögliche Vorgänge, die zu Bewegungen der geistigen Erneuerung führen: Erstens: die Masse eines Naturvolks lege sich über ein Kulturvolk. In diesem Fall werde das Naturvolk als Gast aufgrund der höheren Kulturwerte aus dem Geist des Wirts wiedergeboren. Sei der Vorgang der Blutmischung abgeschlossen, schreibt und dichtet der Gast in der Sprache des Wirts. In dieser Weise muß wohl ein geistiger Sieg durch das Wirtsvolk im Nadlerschen Sinn aufgefaßt werden, denn schon die Wortwahl (der Gast schreibt in der Sprache des Wirts) weist auf den körperlichen Sieg des Gastes hin, da dieser im Falle eines körperliches Sieges des Wirtsvolks mit demselben verschmolzen und nicht mehr als Gast zu bezeichnen wäre. Dennoch eifere der Gast geistig der Kultur des Wirts nach. Daraus ergibt sich jedoch, daß der geistige Sieg des Wirts immer gleichzeitig den körperlichen Sieg des Gastes bedeutet. Da als Bewertungskriterium über den Sieg des einen oder des anderen allerdings die Abstammung der schöpferischen Kräfte dient, hat in letzter Konsequenz der körperliche Sieg das Primat, worauf noch zurückzukommen sein wird. Diese Variante für das Zustandekommen einer geistigen Erneuerungsbewegung liege beispielsweise beim Naturvolk der Germanen vor, das sich über die römischen Provinzen gelegt und in jahrhundertelanger römisch-deutscher Lebenseinheit nach der Aneignung der antiken Bildungsmasse gestrebt habe: die im Klassizismus gipfelnde, in mehreren Wellen verlaufende deutsche Renaissance. Zweitens: wenn Gruppen eines Kulturvolks unter Gruppen eines Naturvolks zögen, so hole die Mischung zwischen Wirt und Gast, sobald sie eine im Blutaufbau neue völkische Einheit geworden sei, die Kultur des Mutterlandes des Gastes nach. Obwohl Nadler das Nachholen der Kultur des Mutterlandes als Nachholen einer fremden Kultur bezeichnet, da das Siedelvolk eine völlig neue Einheit sei, bedeutet dies einen körperlichen und geistigen Sieg des Gastes, da anders nicht erklärbar wäre, weshalb diese neue Einheit sich der Kultur des Gastes zuwendet. Entscheidend ist hierbei, daß die Gäste bei der Abwanderung den Zusammenhang mit dem Mutterland verlieren und die dortige Kultur nicht mit weiterentwickeln würden, weil Volksleben Gemeinschaftsleben sei.45 Angesichts der Tatsache, daß Nadler nur Kulturvölkern einen solchen engen Zusammenhang untereinander zuschreibt und nur Kulturvölker durch ihre feste Bindung —————— 45
Nadler: Berliner Romantik, S. 6. Daß die Angehörigen eines Kulturvolks wandern, ändert im übrigen nichts an deren Status als Kulturvolk, entscheidend ist, daß deren Muttervolk zuvor fest mit einem Siedelgebiet verwachsen und damit zum Kulturvolk geworden ist.
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an ihr Siedelgebiet bestimmt werden, spielt hier freilich auch die Lösung vom angestammten Kulturboden eine Rolle. Diese Möglichkeit sei etwa vom Kulturvolk der Deutschen verwirklicht worden, das sich in Einzelgruppen östlich der Elbe unter das Naturvolk der Slaven geschoben habe,46 mit diesem zu neuer blutmäßiger Einheit mit deutscher Sprache verschmolzen sei und nach Abschluß jenes völkischen Vorgang (der nicht vor dem 17. Jahrhunderts anzusetzen sei), das geistige Erbe des Mutterlandes nachzuerleben suchte: die ostdeutsche Romantik. Im Hauptteil der „Berliner Romantik“ trennt Nadler landschaftlich differenziert in mehrere romantische „Reihen“ (z. B. ostpreußische Reihe mit Herder, der für das geschichtliche Bewußtsein steht), die jeweils zunächst nach der persönlichen religiös-sittlichen Erneuerung des Menschen strebten, dann künstlerisch auf den altdeutschen Kulturbesitz zielten und zuletzt – in Berlin – politische Dimensionen in die Bewegung trugen, die kulturell gerichtet die christlich-deutsche Lebensgemeinschaft des Mittelalters erneuert wissen wollten. Daß romantische Bewegungen in anderen Ländern auf ein ähnliches Kräftespiel von alten Blutmischungen zurückzuführen sei, hält Nadler für möglich, scheidet dieses Problem aber am Ende desselben Satzes sogleich aus dem Gebiet der Germanistik aus.47 In den beiden genannten Fällen eignen sich Völker fremde Kulturen an. Bewegungen, die auf die Erneuerung der eigenen Vergangenheit abzielen, bezeichnet Nadler hingegen als Restauration. Als solche sei die „Renaissance“ in Italien zu verstehen, wo ein Kulturvolk als besiegte Unterschicht die eigene nationale Vergangenheit geistig erneuern wollte, sowie —————— 46
47
Die kulturelle Überlegenheit der Deutschen über das „Naturvolk“ der Slaven gründet Nadler für die Zeit 800-1000 n. Chr. auf die politische Einigung der Altstämme, ihre räumliche und staatliche Verknüpfung mit den römischen Landschaften und das Christentum, ohne dies für die spätere Zeit der deutschen Kolonisierung des Ostens in Frage zu stellen. Nadler: Berliner Romantik, S. 33f. Nadler: Berliner Romantik, S. 43f. In einem Brief an August Sauer machte Nadler sich darüber schon einige Jahre früher Gedanken: „Da ich von deutschen Verhältnissen ausgehe, so darf man uns doch nicht mit Argumenten aus französischen oder italienischen Verhältnissen kommen, umso weniger, als die deutsche Romantik zeitlich das Primäre ist. [...] Man müßte untersuchen, wie sich die fremden Volkselemente in Italien (das wäre im Wesentlichen die germanisch durchsetzten Norditaliener) u. in Frankreich (im Wesentlichen die germanisch durchsetzten Teile) literarisch geäußert haben. Und die weitere Frage wäre dann die: war in Frankreich u. Italien das gallisch-romanische u. das romanische Urelement Träger der nationalen Blüte im Mittelalter oder ging diese Blüte geradezu von den germanendurchsetzten Landschaften aus? Darnach bestimmen sich dann die Verhältnisse. Allgemein gesprochen: in Deutschland war das Urelement zuerst Träger u. das Fremdelement wuchs später hinzu. War auch in Frankreich u. Italien zuerst das Urelement da u. dann das Fremdelement, oder war es umgekehrt. Aber dem Problem Urelement u. nationalisierten Fremdelement kann man auch dort nicht ausweichen, wobei natürlich Urelement u. Fremdelement immer relativ zu nehmen sind.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1310, Fribourg 6. 2. 1918.
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selbstverständlich die rheinische Restauration.48 Das von Nadler selbst verwendete Wort „besiegt“ ist im Zusammenhang der italienischen (restaurativ aufzufassenden) „Renaissance“ insofern irreführend, als es sich hier um einen rein politischen Sieg handelt, der Teile Italiens unter die Herrschaft einer deutschen Oberschicht brachte, die sich aber weder körperlich noch geistig hätte durchsetzen können.49 Restaurative Erneuerungsbewegungen seien somit nicht zwingend auf Blutmischung, sondern rein geistig auf die Beherrschung durch eine fremde politische oder Bildungsmacht zurückzuführen. Die Möglichkeit vom körperlichen Sieg eines Volkes über ein anderes, die in Nadlers Konzept von Völkerbewegungen prinzipiell vorgesehen ist, wird in der „Berliner Romantik“ nicht thematisiert, wohl weil ein solcher nie zu geistigen Erneuerungsbewegungen im Sinne der stammeskundlichvölkischen Literaturgeschichtsschreibung führen kann: siegt das Naturvolk als Wirt durch das Aufsaugen einzelner Gruppen eines Kulturvolks, so bleibt der Status eines Naturvolks erhalten, das keine Kultur erneuern, sondern höchstes eine solche entwickeln kann. Siegt das Kulturvolk als Wirt ebenso über das Naturvolk als Gast, bleibt das kulturelle Level gleich hoch, womit eine Erneuerung der Kultur obsolet ist. Die Kulturhöhe ist in Nadlers Konzept somit ein nicht zu unterschätzender Faktor geworden. Es kann allerdings nicht oft genug betont werden, daß die Kulturhöhe nicht etwa an bessere oder schlechtere körperliche Voraussetzungen oder besondere Völker und Stämme gebunden wird, sondern der wichtigste Gradmesser die Verbundenheit mit der Landschaft und der Verbundenheit untereinander ist.50 Denn nur auf der Grundlage der Bindung an die Landschaft ist der geistige Sieg eines Kulturvolks in der Art der deutschen Renaissance denkbar, da dieser, wie bereits bemerkt wurde, immer den gleichzeitigen körperlichen Sieg des Naturvolks bedeutet. Verfolgt man diesen Gedankengang bis zum Ende, so kann demnach die Kulturstufe des körperlich besiegten Wirts vom Gast erst dann endgültig erreicht werden, wenn das vormalige Naturvolk sich nicht nur die geistigen Erzeugnisse des Kulturvolks aneignet, sondern in gleicher Weise wie der Wirt zuvor mit der Landschaft verwächst. Bezeichnenderweise führt Nadler etwa die altdeutsche Restauration nicht zuletzt auf das bewußte Erleben der rheinischen Landschaft zurück, aus der nur dann das altdeutsche Leben neu geschöpft werden kann, wenn im Laufe der Zeit eine Bindung an die Landschaft eingetreten ist. —————— 48 49 50
Vgl. Nadler: Berliner Romantik, S. 44f. Dies präzisierte Nadler an einer früheren Stelle: Nadler: Berliner Romantik, S. 15-18. Dies steht nicht zuletzt in Zusammenhang mit Nadlers Konzept vom anwachsenden Nationalbewußtsein – je größer dieses im Sinne engeren Zusammenhalts ist, desto höher ist auch der Kulturstatus des betreffenden Menschenverbandes zu denken.
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Der geistige Sieg des Wirts kann nur über die Hilfskonstruktion der Verbundenheit mit der Landschaft stimmig sein. Diese Konzeption verlangt die neuerliche Aneignung der Landschaft durch das einwandernde Naturvolk nicht rein aus dem Geist des Kulturvolks, sondern auch seinem eigenen „Charakter“ (nach Nadlerscher Auffassung) entsprechend. Denn nur auf dieser Basis kann überhaupt eine „deutsche“ im Sinne einer von der römisch-deutschen Bildungseinheit unabhängige Kultur entstehen, die sowohl Voraussetzung für die Auswanderung eines „deutschen Kulturvolks“ in den Osten als auch grundlegende Bedingung für die rheinische Restauration als Erneuerung des altdeutschen, nationalen Erbes darstellt. Zur Präzision: während für die ostdeutsche Romantik die Entstehung einer neuen körperlichen Einheit angenommen werden kann, die aufgrund der höheren Kulturstufe der siegenden deutschen Gäste letztendlich die deutsche Kultur nachzuleben strebt, ist für den Vorgang der südwestdeutschen Stämme die Annahme der Entstehung einer neuen Mischung in derselben Weise unmöglich. Denn diese hätte sich dann endgültig an die höhere antik-romanische Kultur angeschlossen, ohne eine neue Kultur – also keine „deutsche“ Kultur – hervorzubringen. Nadler muß also den Einfluß des romanischen Kulturvolks auf einen geistigen Sieg reduzieren. Einer möglichen Auseinandersetzung über das Problem, warum im Osten eine neue körperliche Einheit entstand und in den ehemals römischen Provinzen trotz der Mischung mit Romanen nur geistige Einflüsse übrig blieben, geht Nadler aus dem Weg, indem er schon die Bevölkerung der römischen Provinzen als Mischung von Gruppen des Kulturvolks der Romanen und dem Naturvolk der Germanen beschreibt, womit das körperliche Übergewicht in jedem Fall bei den Germanen liegen muß. Dem setzt Nadler die gallischen Franken – die späteren Franzosen – entgegen, bei diesen „strömte“ die Lebenseinheit mit den Romanen „auch im Blut weiter“.51 Das ändert allerdings nichts daran, daß ein „geistiger Sieg“ des überlagerten und körperlich besiegten Kulturvolks letztlich nur mehr über die (Kultur)Landschaft zu rechtfertigen ist – als einzige Instanz, auf welche die römisch-deutsche Lebenseinheit übertragen werden kann, ohne daß das gesamte Konzept ins Wanken gerät.52 Angesichts des Befundes, daß Nadlers Konzept trotz der Neueinführung der Völkermischung als eigentlich strukturierendes Element der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung immer noch auf einer doppelten Bindung des Ansatzes an Abstammungs- und Bodengebundenheit beruht, verwundert das Fehlen einer neuen wissenschaftstheoreti—————— 51 52
Nadler: Berliner Romantik, S. 28. An dieser Stelle sei auch an die „Kulturflächen“ des Abend- und Morgenlandes erinnert, die Nadler 1918 in die „Literaturgeschichte“ einführte und die ihre Geltung auch in der zweiten Auflage des mehrbändigen Werks behalten.
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schen Begründung wenig. Der Literaturhistoriker bezeichnet die Romantik als ein Problem, das zwar von der Literaturgeschichtsschreibung erkannt worden sei, aber von mehreren Wissenschaften zu bearbeiten wäre: von Völkerkunde, Familiengeschichte und Sprachwissenschaft.53 Damit bleibt Nadler genau in demselben wissenschaftlichen Bereich, aus welchem die erste Auflage entstanden ist und die größere Betonung von Völkermischungen hat keineswegs die Einbeziehung anthropometrisch arbeitender Fachbereiche zur Folge. Die Geographie erfährt hier zwar keine gesonderte Nennung, doch mit der Vorstellung der Entstehung eines Kulturvolks durch ein Verwachsen mit dem Boden bleibt Nadler so nahe an Ratzels Anthropogeographie wie noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes der „Literaturgeschichte“. Ein wenig anders verhält es sich mit Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung, deren Vorbildwirkung für das Nadlersche Werk sukzessive zurücktritt. Ihre Bedeutung für die Gesamtkonzeption geht weitgehend verloren, während sie in Einzelzügen durchaus noch deutlich vorhanden sein kann. Ein Beispiel hierfür ist die Beschreibung der märkischen Junker als eigene gesellschaftliche und wirtschaftliche Einheit im preußischen Staat, wobei ihr Verband jedoch überdies an „Blut und Boden“ gebunden wird.54 Am deutlichsten tritt die Absetzung von der Lamprechtschen „Deutschen Geschichte“ durch die Aufgabe der Vorstellung von Kulturstufen zutage: während in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ den neu entstandenen bzw. in Ausbildung begriffenen Neustämmen zugeschrieben wird, jene Stufenfolge nachholen zu müssen, die nicht nur die Altstämme absolviert hätten, sondern jedes Volk zu durchlaufen habe, wird nun keine in dieser Form zeitversetzte Entwicklung mehr angenommen. Auch das durch völkische Mischung im Osten entstandene Siedelvolk wird als etwas Neues aufgefaßt, doch mangels eigener Grundlagen habe dieses gleich an der laufenden Bewegung des Mutterlandes teilgenommen.55 Gleichzeitig gilt die Romantik um 1800 nicht mehr als nachgeholte Hochblüte der Zeit um 1200, sondern als Hochblüte des seit 1200 körperlich und seit etwa 1500 geistig laufenden romantischen Vorgangs, der bewußt auf eine Erneuerung der deutschen Kultur abziele und keine Folge allgemeingültiger Kulturstufen darstellt. Dies bedeutet eine implizite Aufwertung der Romantik, da sie auf diese Weise weit mehr als eine „Ei—————— 53 54 55
Nadler: Berliner Romantik, S. 46. Nadler: Berliner Romantik, S. 149f. „Es ist sehr bezeichnend, daß das Siedelgebiet sofort die Bewegung mitmacht, die im Mutterland gerade im Gange war. Genau so verfuhren die Germanen im römischen Kulturbereich.“ Nadler: Berliner Romantik, S. 39. Dies bedeutet allerdings eine Übermittlung aus zweiter Hand, wie bei der Analyse der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ deutlich werden wird.
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genleistung“ und Willensleistung des deutschen Ostens gelten kann anstelle eines Nachzüglertums im Vergleich zu den südwestdeutschen Stämmen. Ein Aspekt der Lamprechtschen Kulturgeschichte, den Nadler beibehält, ist das Prinzip des wachsenden Nationalbewußtseins. So sei die Romantik aus ihrer wichtigsten Grundlage heraus, der altdeutschen Mystik bzw. dem aus ihr hervorgegangenen Pietismus, und in ihrem Bemühen um deren Erneuerung immer noch auf Aneignung der „nationalsten Bildung“ des Mutterlandes ausgerichtet.56 Und dem preußischen Staat um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird ebenso nur Staats- statt Nationalgefühl bzw. statt gleichmäßiger nationaler Kultur zugesprochen,57 wohl unter dem Gedanken, daß nationale Kultur in Deutschland nur aus der Einigung der südwestdeutschen mit den östlichen Stämmen möglich wäre. In keiner Weise weicht Nadler von seiner genealogischen Grundlage ab, die Begründung von geistigen Bewegungen durch Völkermischungen ist schließlich in Lorenz’ Lehrbuch festgelegt. Inwieweit Lorenz mit Nadlers Ansichten bezüglich der Dauer des Vorgangs übereinstimmte, in welchem nach Mischungen durch die Kreuzung ebenbürtiger bzw. ähnlicher Individuen aus der Mischung wiederum eine Einheit werde, ist nicht nachzuvollziehen, aber daß es sich bei der romantischen Bewegung aufgrund der deutsch-slavischen Mischung um ein „Blutproblem“ handle,58 steht in keinerlei Widerspruch zu den Lorenzschen Theorien. Wie Nadler letztlich dazu gelangte, die Mischung von Völkern zum eigentlich strukturierenden Prinzip der Differenzen zwischen Alt- und Neustämmen und damit der „Literaturgeschichte“ zu machen, ist anhand der persönlichen Quellen nicht nachzuvollziehen. Diese Umakzentuierung der „Literaturgeschichte“ wurde auch August Sauer weder angekündigt noch detailliert auseinandergesetzt. Freilich hat sie sich bereits im 1918 erschienenen dritten Band durch die Rede von der „körperlichen Eindeutschung“ des Siedelvolks im Osten angekündigt. Angesichts von Nadlers Vorlieben für Parallelismen und die bereits dem Stammeskonzept immanente Betonung der Abstammung war weiters die Festlegung der südwestdeutschen Stämme auf die Mischung mit romanisch-germanischer Bevölkerung für den Literaturhistoriker wohl kein großer Schritt, umso mehr als dieser durch die Konstruktion eines Erbes der Germanen am römischen Imperium sozusagen vorbereitet war. Die Bedeutung der auf sehr ähnlichen Prinzipien aufbauenden Theorien Kauffmanns oder Feists liegt wohl mehr in ihrer Gleichzeitigkeit zu Nadlers Ansätzen als in einem etwaigen Einfluß derselben auf den Litera—————— 56 57 58
Nadler: Berliner Romantik, S. 41. Nadler: Berliner Romantik, S. 48. Nadler: Berliner Romantik, S. 55. Dies sei sogar den Romantikern selbst bewußt gewesen, da etwa Arnim, Chamisso und Fouqué in ihren Werken diese Problematik aufgriffen.
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turhistoriker. Zum einen bezeichnet Nadler selbst sie als Parallelerscheinung,59 zum anderen gründete bereits August Sauer in seiner Rektoratsrede die Unterschiede zwischen den Stammescharakteren unter anderem auf die unterschiedliche Mischung von Ur- und Wandervölkern.60 Das neue Grundprinzip der Völkermischung scheint also eine von Nadler selbst stammende Weiterentwicklung des Konzepts der „Literaturgeschichte“ und nicht die Anwendung neuer Theorien anderer Wissenschafter zu sein. Dieser Befund wird zusätzlich gestützt, wenn in Betracht gezogen wird, daß die Einführung dieses Aspektes vor allem zur Untermauerung von Thesen geeignet war, die von Nadler selbst in seiner „Literaturgeschichte“ neu entwickelt worden waren: eben die Trennung der deutschen Nationalliteratur in zwei unterschiedliche Sphären. Dasselbe läßt sich zur zusätzlichen Aufnahme des Konzepts von Natur- und Kulturvölkern sagen: dieses baut nicht nur auf den Voraussetzungen auf, die bei Nadler schon für die kleinräumigeren Stammestümer gelten (doppelte Bindung durch Abstammung und Verwurzelung in der Landschaft), es begründet zusätzlich zu den völkischen Argumenten auch noch die gegenläufigen geistigen Bewegungen des deutschen Westens und Ostens sowie nicht zuletzt der zuvor problematischen altdeutschen Restauration. Nimmt man jene Ansätze, die Nadler darüber hinaus zur Unterstützung seiner Theorien innerhalb der Disziplin der Germanistik anführt, ist bemerkenswert, daß Nadler sich auf wenig bedeutende und teilweise heftig umstrittene Ansichten zu stützen versuchte. Die Schallanalyse, die von Eduard Sievers entwickelt wurde und in dessen Richtung Saran sich einordnet, hat schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur wenige Vertreter gefunden. Sie nahm eine so marginale Stellung ein, daß sie in Darstellungen zur Geschichte der Sprachwissenschaft meist keine Erwähnung findet.61 Letztlich ironisierte auch Nadler selbst diesen Forschungszweig und bezog ihn vor allem aufgrund der Arbeit mit (vermeintlich) nationalen Typen in sein Vorwort ein. Bezeichnend ist allerdings, daß der Literaturhistoriker sich gerade auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft mit ihrer laufend selbstverständlicher werdenden Einbeziehung von Rassen—————— 59
60 61
„Ich weiß nicht ob sie diese ganz moderne sprachwissenschaftliche Auffassung, die unseren Gedanken ganz parallel läuft, voll ermessen, da Sie die Umarbeitung meiner Lit. Gesch. u. die einleitenden Abschnitte meines Berliner Buches noch nicht kennen.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer, 415/1-377, Pürstein 10. 12. 1920. Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, S. 4. Sie findet beispielsweise auch unter ideengeschichtlichem Ansatz keine Erwähnung, vgl. Seuren, Pieter A.M.: Sprachwissenschaft des Abendlandes. Eine Ideengeschichte von der Antike zur Gegenwart. Baltmannsweiler: Schneider 2001. Finden Sievers’ lautphysiologische und schallanalytische Ansätze Erwähnung, wird ihre untergeordnete, hilfswissenschaftliche Rolle betont, vgl. Arens, Hans: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike zur Gegenwart. Freiberg/München 2. Auflage 1969, S. 317, 508.
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theorien auf einen Außenseiter stützte: Sigmund Feist wurde nämlich zum Feindbild jener Germanisten und Prähistoriker, welche die Germanen als ursprüngliches und damit unverändertes, weit zurückzudatierendes Indogermanenvolk sehen wollten, allen voran Rudolf Much und Gustav Kossinna. In erster Linie wurde Feist „Keltomanie“ vorgeworfen, da er die Zugehörigkeit mancher in antiken Quellen den Germanen zugeordneten Stämmen zu den Kelten sowie kulturelle und teils politische Vorherrschaft der Kelten über die Germanen annahm.62 Zwar setzte die zunehmend von Antisemitismus geprägte publizistische Hetze auf Feist erst im Laufe der 1920er Jahre ein, doch kündigt sich gerade hier nachhaltig ein Gegensatz von Nadlers Auffassung zu den Ansichten mehrerer Fachkollegen an. Denn die seinem Konzept zugrundeliegende Mischung von Deutschen und Slaven und nunmehr auch Deutschen und Romanen ist mit dem Dogma eines unveränderten (Indo)Germanenvolks nicht vereinbar. Zusätzlich ist Nadlers immer noch maßgebliche Instanz der Stammeskunde, Otto Bremer, zu den Vertretern der sogenannten Asien-These zu zählen, welche im Gegensatz zur Skandinavien-These die Herkunft und Einwanderung der Indogermanen aus dem Osten annahmen.63 Das heißt, daß Nadler sich in vielerlei Hinsicht in Gegensatz zur immer einflußreicher werdenden Schule Rudolf Muchs stellte – eine Opposition, die sich möglicherweise negativ auf Nadlers Chancen auf eine Berufung an die Universität Wien auswirkte (vgl. Abschnitt 7.2.9.).
6.2. Die zweite Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ 1923-1928 Am Ende des Jahres 1920 beklagte Nadler sich in einem Brief an August Sauer zum wiederholten Mal über seinen Verleger Josef Habbel und nahm einen Verlagswechsel in Aussicht. An Interessenten für die „Literaturgeschichte“ hätte es seiner Ansicht nach nicht gemangelt: Erich Reiss hatte bereits die „Berliner Romantik“ übernommen; der Münchner Verleger Hugo Bruckmann war auf Initiative Hugo von Hofmannsthals mit dem Angebot an Nadler herangetreten, seine Werke zu publizieren.64 Habbel hatte es jedoch abgelehnt, die Rechte an der „Literaturgeschichte“ zu ver—————— 62 63 64
Vgl. Römer: Sigmund Feist, bes. S. 278-293. Vgl. Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, Kap. 5; Bremer war überdies Gegner der Ansicht, die Indogermanen seien eine einheitliche Rasse gewesen. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-361, Freiburg 7. 11. 1919 und 415/1-365, Freiburg 12. 1. 1920.
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kaufen und so überlegte Nadler, unter welchen Voraussetzungen er die Neuauflage dennoch in einem anderen Verlag veröffentlichen könnte: Ich will nun unter allen Umständen von Habbel los u. habe ihm heute [...] geschrieben, daß er das Verlagsrecht verkaufen soll. Käufer sind da. (Reiss u. Bruckmann). Ich habe ihm wiederholt vorgehalten, daß ich nun 10 Jahre das odium als Freiburger Professor u. Autor eines katholischen Verlags getragen habe ohne Gegenleistungen von Seiten jener Kreise zu sehen, an die sich der Verlag in erster Linie richtet. Habbels vertragliches Verlagsrecht bezieht sich auf die drei Bände wie sie vorliegen. Die Neuauflage hat ein ganz neues Werk geschaffen, das mit dem alten nur den Titel u. die allgemeine Grundidee gemeinsam hat. Findet sich ein Liebhaber für die Neuauflage, der einen Prozeß durchfechten will, so lasse ich es auch darauf ankommen. So weit wird es aber nicht gehen. Wenn Habbel meinen Ernst sieht, wird er nachgeben u. gutwillig verkaufen. Schlimmstenfalls stoße ich noch ein paar Kapitel um u. bestehe darauf, daß dieses Werk mit dem alten nichts mehr zu tun hat. 65
Die Einschätzung, die Nadler selbst für die zweite Auflage seines Hauptwerks abgibt, läßt größere Eingriffe vermuten, als tatsächlich vorgenommen wurden. Zwar sind die Änderungen, die der Literaturhistoriker vornahm, extrem augenfällig – das Prinzip der Völkermischung begründet das Verhältnis zwischen Klassik und Romantik neu und wirkt sich auf die Strukturierung der „Literaturgeschichte“ aus – doch bleiben durch die Übernahme umfassender Teile des Textes der ersten Auflage die älteren, noch allein auf Anthropogeographie, Kulturgeschichte und Genealogie aufbauenden Schichten erhalten. Sie verlieren durch das neue Grundprinzip zwar stark an Vordergründigkeit, aber keineswegs ihre Gültigkeit für den Aufbau der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Der Neuauflage ist deutlich anzumerken, daß im Gegensatz zur Entwicklung des Aufbaus der ersten Fassung im Zuge ihrer Niederschrift nunmehr der gesamte Stoff nach einem bereits feststehenden Konzept geordnet wurde. Aspekte, die sich aus der fortschreitenden Arbeit an der „Literaturgeschichte“ ergeben hatten, werden nunmehr von Anfang an berücksichtigt.66 Am eindrücklichsten zeigt sich dies wohl an der Verlagerung jener die bairische Barockkunst betreffenden Kapitel von 1918 in den ersten Band der Neuauflage; an der einheitlichen Behandlung der Alt- und Neustämme sowie der Zusammenfassung der Hochblüten von Klassik und Romantik in einem Band. Die Eingriffe, die Nadler am Text der ersten Auflage vornimmt, gestalten sich von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich. August Sauer gegen—————— 65 66
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-381, Pürstein 29. 12. 1920. Dies hatte Nadler schon 1917 angestrebt: „Bei einer Neuauflage, die ich heiß ersehne, wird ja ohnedies der ganze Stoff einheitlich u. straff umgruppiert werden. Das Bisherige ist ja fast nur eine Art Notbau, wie es mit fortschreitender Erkenntnis u. Arbeit möglich wurde.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-283, Pürstein 12. 8. 1917.
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über gab er zu seiner Arbeitsweise an, er habe zwei Exemplare der alten Auflage zerschnitten und würde diese nun neu zusammenkleben.67 Dementsprechend sind tatsächlich aus allen Teilen der ersten Auflage Textabschnitte in die zweite Ausgabe der „Literaturgeschichte“ eingegangen, deren Umfang von einzelnen Sätzen bis zu ganzen Unterkapiteln variiert. Ein Vergleich der beiden Auflagen gestaltet sich aus diesem Grund wie ein Puzzlespiel; alte und neue Textteile verzahnen sich sehr eng miteinander und eine genaue Aufrechnung des übernommenen alten Textes gegen den neuen ist unmöglich im Detail auszuführen. Einige grundlegende Tendenzen lassen sich allerdings rasch feststellen. Die direkt aus der ersten Auflage übernommenen Textabschnitte erfahren kaum eine Änderung ihres Wortlauts, doch auf der begrifflichen Ebene erweist sich für die gesamte „Literaturgeschichte“ die Tilgung von Fremd- bzw. Lehnwörtern und ihre Ersetzung durch deutsche Ausdrücke als augenfällig, was nicht zuletzt auch wissenschaftliche Termini betrifft. Durchgehend getilgt und ersetzt wurden beispielsweise folgende zentrale Wörter: ethnographisch – völkisch/völkerkundlich; sozial – gesellschaftlich; individuell – eigenhaft; politisch – staatlich; Element/Charakter – Wesen; ethisch/moralisch – sittlich; Geographie – Erdbau. Die tiefgreifendste Änderung ist in diesem Zusammenhang der generelle Wechsel von „national“ zu „völkisch“ bzw. von „Nation“ zu „Volk“, wobei die „Nation“ allenfalls im „Nationaltheater“ erhalten bleibt. Dies ist freilich eine Folge des sich bereits in der „Berliner Romantik“ ankündigenden Schwenks zur Literaturgeschichtsschreibung auf das Grundkonzept von Völkermischungen, das weite Teile der Analyse der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ beherrschen wird. Für völlig neu in die „Literaturgeschichte“ eingebrachte Abschnitte mit Ausnahme der Vorworte und der einzelne Bücher einleitenden Unterkapitel gilt, daß diese in erster Linie stoffliche Zuwächse darstellen. Sie verarbeiten vor allem in der ersten Auflage noch nicht berücksichtigtes Material – so haben etwa die Abschnitte zur Schweizer Eidgenossenschaft deutlich an Umfang und Inhalt gewonnen, was ohne Zweifel auf Nadlers Arbeitsort Fribourg zurückzuführen ist68 – und füllen Lücken, wenn in der ersten Auflage eine Landschaft innerhalb eines bestimmten Zeitraums —————— 67 68
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-366, Freiburg 24. 3. 1920. z. B. der völlig neue Abschnitt „Die eidgenössischen Städte“; Literaturgeschichte 1923/1, S. 298-317. Nadler war vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund der Verhältnisse im Buchhandel gezwungen gewesen, auf in der Schweiz vorhandene Quellen- und Bücherbestände zurückzugreifen. Da sowohl der erste als auch der zweite Band der Neuauflage im Jahr 1923 erschienen, werden diese künftig aus Gründen der Klarheit mit 1923/1 und 1923/2 zitiert.
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nicht oder zu wenig berücksichtigt wurde.69 Auf den Aufbau des Grundkonzepts haben diese neuen Kapitel keinen modifizierenden Einfluß. Buch 14 in Band 3 1924 umfaßt schließlich in der ersten Auflage noch nicht behandelte Zeitabschnitte, wenn der Text des Abschnitts „Berlin“ 70 auch inhaltlich und teilweise wörtlich mit den Ausführungen der „Berliner Romantik“ übereinstimmt. Die umfassendsten Änderungen betreffen wenig überraschend die Vorworte der einzelnen Bände sowie die jeweils mit „Grundlagen“ betitelten Einführungskapitel der Bücher. So bringen etwa die Leitgedanken des ersten Bandes 192371 in zusammengefaßter Form die schon aus der „Berliner Romantik“ bekannten Ausführungen zum sich über das Kulturvolk der Romanen legenden Naturvolk der Germanen und der sich daraus ergebenden Geschichte der deutschen Altstämme. Diese Änderungen sind weitgehend durch die Einführung der Völkermischung als grundlegendes Prinzip der „Literaturgeschichte“ bedingt. Speziell für die Altstämme, die Nadler nun bevorzugt als „südwestdeutsche Stämme“ oder als „Mutterland“ bezeichnet, waren durch diese Neuerung größere Umarbeiten notwendig, bedeutete die Rückführung der deutschen klassizistischen Bewegung(en) auf eine romanisch-germanische Völkermischung und die daraus entstandene „römisch-deutsche Lebenseinheit“ doch einen entscheidenden Unterschied zum staatlich-politischen Argument, die Germanen seien Erben der römischen Kaiserkrone gewesen. In der Folge wurde etwa das gesamte Kapitel II aus dem ersten Buch der ersten Auflage neu formuliert und mit „Das antike Erbe“ betitelt.72 Doch auch in derart neu gestalteten Abschnitten sind die Beschreibungen und Urteile zu einzelnen Dichtern in den meisten Fällen aus der ersten Auflage übernommen, oftmals wörtlich. Ebenfalls auf völkische Mischungsverhältnisse wird nunmehr die stammliche „Führerschaft“ während der einzelnen auf die Wiedergeburt aus dem antiken Vorbesitz gerichteten Stufen zurückgeführt: nachdem die Franken größere Anteile romanischer Bevölkerung aufgenommen hätten, führten sie unter Karl dem Großen die erste Stufe dieser Bewegung, während den Alamannen aufgrund eines späteren und geringeren „leiblichen Ausgleichs“ mit der Vorbevölkerung das „abermalige Anschwellen der römisch-deutschen Kulturnahme“, also die hauptsächliche Trägerschaft des Humanismus um 1500 zugeschrieben wird.73 Dies bedeutet insofern —————— 69 70 71 72 73
z. B. die neuen Unterkapitel „Rheinfranken“ in Literaturgeschichte 1923/1, S. 364-370; sämtliche Abschnitte zu Mecklenburg und Pommern sowie zur Hansa; ebd. 1923/2, S. 5260; 60-65; 192-199; 202-209; und der Abschnitt „Ostfranken“, ebd. 1924, S. 368-394. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 454-506. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 1-10. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 34-61. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 48 und S. 254.
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eine Aufwertung der Alamannen, als in der ersten Auflage auch die Zeit um 1500 noch als Blüte der Franken und Frankenbürtigen dargestellt wurde. Zwischen diesen beiden Stufen fügt sich die Zeit der Mystik und Scholastik ein, die dadurch gekennzeichnet wird, daß sich „...aus der einheitlichen Masse des lateinischen Abendlandes selbständige, ihrer selbst bewußte Volkskörper abzusondern begannen, indem hier der Germane der romanischen Unterschicht vollends Herr wurde und der Romane dort [in Italien] die germanische Oberschicht vollends verzehrte...“74 Auch der Barock wird in die römisch-deutsche Lebenseinheit eingegliedert, nämlich als Kulturwille, ...das gesamte römisch-deutsche Erlebnis mit Einschluß der Scholastik und Mystik, des Humanismus und der Kirchenbewegung in geläufigen und flüssigen Stilformen ausgleichend und sammelnd zu bewältigen, in Stilformen, die jedem fortschreitenden modernen Zuwachs geöffnet waren. Der Barock war der einzige wahrhaft zeitgemäße und volksgerechte Ausdruck, den die römisch-deutsche Lebenseinheit jemals finden konnte. [...] Hauptträger und Führer des Vorganges war der Baier. So wie die drei Stämme der Reihe nach den alten Römerboden überlagert hatten, griffen sie, einander ablösend, den laufenden Vorgang auf und führten ihn weiter, nicht ohne Mitarbeit der andern, aber als einflußreichste Anreger und Führer. 75
Hier wird wiederum eine besondere Aufwertung des Barock vorgenommen, nicht nur durch dessen zusammenfassenden Charakter, sondern vor allem durch die ihm zugeschriebene Fähigkeit, sich als einzige aus der römisch-deutschen Lebenseinheit entstandene Stilform über deren Abschluß um 1800 hinaus weiterentwickeln zu können. Auf diese Weise bleibt der Sonderstatus der Baiern trotz ihrer Einbindung in die romanisch-deutsche Völkermischung – von der die Sachsen als ebenso eine Sonderstellung tragender Stamm im Norden ausgenommen sind – erhalten. Auf diesen Sonderstatus legten Nadler und auch Sauer großen Wert, so versichert der Schüler, daß trotz der Verlagerung der Barockkapitel aus Band 3 in den ersten Band der zweiten Auflage die Selbständigkeit der Baiern gewahrt bliebe, er hätte nur die Bandeinteilung nicht darauf aufbauen können.76 Die Aufwertung der Baiern gründet Nadler weiters auf ihre eigentümliche geschlossene Entwicklung und auf ihrem Festhalten an der katholischen Kirche.77 Die Sonderstellung der Baiern wird allerdings nach dem Prinzip der unterschiedlichen Mischung von Kulturvölkern und Naturvölkern zusätzlich untermauert, da diesem Stamm aufgrund seiner Siedelgeschichte von —————— 74 75 76 77
Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 180. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 403. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-366, Freiburg 24. 3. 1920. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 450, 524 und 1924, S. 145.
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Anfang an ein „Doppelschicksal“ zugedacht wird. „Der Baier“ habe sich nämlich nicht nur unter Romanen angesiedelt und sei von der römischdeutschen Lebenseinheit „umwachsen“ gewesen, sondern habe auch in unmittelbarer Nähe der „romfreien Masse slavischer Völker“ Wohnraum genommen.78 Damit seien ihm zwei gegensätzliche Siedelaufgaben zugekommen, nämlich die Aufnahme von Kultur aus dem Süden und die Weitergabe von Kultur nach Osten. In diesem Konzept ist die bereits von 1918 bekannte Auffassung der bairischen Gebiete als Kreuzungspunkt abend- und morgenländischer Einflüsse inbegriffen. Umfaßt der erste Band der zweiten Auflage nun in einheitlichem Aufbau die südwestdeutschen Stämme in ihrer römisch-deutschen Lebenseinheit bis 1740, so findet er sein Pendant im ebenfalls 1923 erschienenen zweiten Band, der in gleichermaßen abgeschlossener Form die Sachsen und das Neusiedelland, also die durch deutsch-slavische Mischung bestimmten (bzw. im Falle der Sachsen: beeinflußten) Stämme bis 1786 behandelt. Dargestellt wird der Weg der östlichen Stämme in die Romantik, die zunächst in der gleichen Weise wie die südwestdeutschen Stämme eine römisch-deutsche Bildung entwickelt hätten, und dann in ihrem Bemühen, aus der Kultur des Muttervolks wiedergeboren zu werden, eine deutschslavische Bildung geschaffen hätten. Die Sachsen werden aufgrund ihrer Unvermischtheit in ihren angestammten, nicht zuvor romanisch besiedelten Sitzen nicht zur römisch-deutschen Lebenseinheit gezählt, sondern als Führer des ostdeutschen Siedelwerks angesehen. Die Kapitel zu Böhmen, die sich in der ersten Auflage noch im die Altstämme behandelnden ersten Band befanden, sind nun einheitlich in die Darstellung der neuen ostdeutschen Stämme eingegliedert worden, wodurch der Gegensatz zwischen dem mitteldeutsch besiedelten südlichen Bereich der Kolonistenländer und dem niederdeutsch besiedelten nördlichen Bereich größere Geltung erhält. Nördliches und südliches Kolonistengebiet würden sich nicht nur dadurch unterscheiden, daß im mitteldeutschen Bereich der Anteil an deutscher Bevölkerung geringer gewesen sei als in den niederdeutschen, sondern auch wegen der Teilhabe der Mitteldeutschen an der oberdeutschen höfischen Literatur und Mystik, die sie in ihren auslaufenden Stadien noch miterleben konnten.79 Daraus ergibt sich im Verlauf der „Literaturgeschichte“ zunächst eine Vorherrschaft der Mitteldeutschen in Böhmen, die in für Nadlers Darstellung charakteristischer Weise zusammenfällt mit der Herrschaft der nie—————— 78 79
Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 55. Diese Differenzierung zwischen Mittel- und Niederdeutschen im ostdeutschen Siedelraum spielt auch im abschließenden vierten Band eine Rolle (z. B. zur besonderen Rolle des Ostmitteldeutschen vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 16, 715) und ist mit dem fränkisch-alamannischen Verhältnis zu vergleichen.
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derfränkisch-romanischen Luxemburger als römisch-deutsche Kaiser mit ihrer Hauptstadt Prag. Um 1450 habe sich nach dem Niedergang Böhmens, das nun seine Vermittlerstellung zwischen ober- und niederdeutscher Bildung nicht mehr aufrecht erhalten konnte, eine sächsischniederfränkische Sonderkultur herausgebildet. Einigende Tendenzen für das östliche Siedelland habe die in Absetzung vom südwestdeutschen Humanismus zu verstehende „neulateinische Bildung“ der Kirchenbewegung gebracht, wobei die Reformation allerdings gleichzeitig die Kluft zu den südwestdeutschen Stämmen vertieft haben soll. Obwohl der Pietismus, der Einfluß der Gemeinschaft der Brüderherren und die neue Mystik aus der Sehnsucht nach Wiedergeburt den Ausgleich mit dem altdeutschen Mutterland einzuleiten begannen, sei dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung die staatliche zunächst zuwidergelaufen, da Preußen die politische Einigung des Siedellandes vorantrieb. Die weitere geistige Entwicklung des Ostens sei deshalb einerseits geprägt von Versuchen, aus eigener Kraft eine neue (überlieferungslose) Kultur zu schaffen und andererseits von Bemühungen, aus der Kultur des Mutterlandes wiedergeboren zu werden.80 Dieser zweite Weg münde schließlich in den romantischen Abschluß und zweifelsohne ist für Nadler dieser Weg der richtige. Aus diesem Grund ändert sich auch nichts an seinen Wertungen der „ungeschichtlichen“ Kunstlehren von Opitz und Gottsched. Band 3 der zweiten Auflage, 1924 erschienen, bringt weite Teile des gleichen Bandes der ersten Auflage,81 bzw. der „Berliner Romantik“, aus welcher Nadler in der selben Weise wie aus den ersten Bänden der „Literaturgeschichte“ ganze Abschnitte entnimmt, teilweise inhaltlich, teilweise wörtlich. Abgehandelt wird der Band zunächst an der Leitlinie des Gegensatzpaares Klassik und Romantik bzw. den so benannten Abschlüssen der dementsprechenden Vorgänge, wobei Nadler betont, daß die Kluft zwischen den beiden Kulturkreisen des Mutter- und des Neusiedellandes auf diesem zweifachen Gipfelpunkt besonders tief gewesen sei.82 Erst die altdeutsche Restauration als „deutschvölkische Gegenkraft“ zum Klassizismus und gegen die Romanen83 habe trotz ihrer Eigenschaft als der Romantik wesensverschiedener Vorgang wieder die Möglichkeit einer Annäherung gebracht, während mit der neudeutschen Hochromantik den Willen zur Wiedergeburt aus der Kultur des Mutterlandes endgültig mani—————— 80 81
82 83
Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 286. Vgl. dazu Nadler an Sauer „Die schwierigste Partie bei der Umarbeitung des 2. Bandes, das 1. Drittel, ist nun fast überwunden: damit habe ich gewonnen, denn am weiteren u. am 3. Band wird nichts Wesentliches geändert.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-388 Pürstein 28. 2. 1921. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 6. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 280-282.
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festiert worden sei. Am Ende des Bandes steht der geistige Ausgleich zwischen dem ehemals römischen und dem ehemals slavischen Deutschland, was allerdings nicht bedeutet, daß die Gegensätze zwischen beiden deutschen Sphären nicht auch noch im vierten Band eine Rolle spielen würden. Die sukzessive Ausweitung des Stoffes der „Literaturgeschichte“, die sich schon bei der Niederschrift der ersten Auflage ergeben hatte, setzte sich bis zur Fertigstellung des vierten Bandes fort,84 der schließlich 1928 in der Stärke von über tausend Seiten erschien. Die Arbeit daran hatte Nadler 1917 unmittelbar nach dem Abschluß des dritten Bandes der ersten Auflage aufgenommen, der auf Wunsch des Verlegers verfrüht erschienen war,85 wodurch das Werk sozusagen automatisch auf einen vierten Band erweitert wurde. Dessen Publikation erfolgte allerdings erst im Anschluß an die Neuauflage der ersten drei Bände, verzögert durch die Nachwirkungen des ersten Weltkriegs, Nadlers anwachsende Belastung in der Lehre, andere Projekte wie die „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“, die Neuauflage selbst und nicht zuletzt die Berufung des Literaturhistorikers nach Königsberg. Im Frühjahr 1923 erklärte Nadler die ersten 200 Seiten des Bandes für druckfertig,86 wobei ein Teil davon wohl schon in den dritten Band der Neuauflage und nicht erst in den vierten einging. Im Herbst desselben Jahres waren zusätzlich 300 Manuskriptseiten vorhanden und der Autor zeigte sich zufrieden mit dem Fortgang: Ich sehe jetzt, daß ich diesen Band vor noch 3 Jahren gar nicht hätte schreiben können, weil mir dazu damals einfach die Reife fehlte u. weil damals die geschichtliche Situation Europas nicht weit genug abgeklärt war. Jetzt kann ich den Band so fassen, daß ich für lange Zeit schwerlich von den Ereignissen desavouiert werden dürfte. Ich habe hier immer den Leuten, gegen den Strom schwimmend gepredigt, daß die Schweiz, Österreich, Böhmen drei deutsche Nester bleiben müssen, die dem Zugriff des Feindes entgegen sind, drei Nester in denen der deutsche Geist auf wirtschaftlich gesunder Grundlage überwintern u. gegebenen Falls das ganze Volk regenerieren kann. Ich scheine doch recht gerechnet zu haben.87
Im August 1926, wenige Wochen vor August Sauers Tod, war Nadler zur Niederschrift der letzten, die Zeit von 1870 bis 1914 umfassenden Ab—————— 84 85
86 87
Der Band sollte zunächst bis 1870 reichen, dann bis 1900 fortgesetzt werden, schließlich schloß er die Zeit bis 1914 ein. „Habbel hat mir dieser Tage geschrieben. Bei den gegenwärtigen Materialschwierigkeiten braucht er den Satz der Partie des 3. Bandes [dh. das darin gebundene Setzmaterial] u. fragt, ob ich den Band nicht provisorisch abschließen könnte.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-274, Fischau 26. 4. 1917. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-429, Düdingen 11. 3. 1923. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-434, Düdingen 28. 10. 1923.
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schnitte gelangt,88 danach läßt sich der Fortgang der Arbeit nicht mehr in derselben Weise verfolgen. Fest steht jedenfalls, daß der gesamte vierte Band unter völlig anderen politischen Bedingungen verfaßt wurde, als Nadler noch 1917 bei Abschluß des dritten Bandes vermutet haben mag. Wie der Titel des Bandes bereits unterstreicht, stellt Nadler darin die Entwicklung zum „deutschen Staat“ von 1871 und deren Folgen dar. Seine Tendenz, die in der „Literaturgeschichte“ behandelten Räume immer mehr auszuweiten, setzt sich ungebrochen fort. Zunächst spannt er die Entwicklung Deutschlands in ein Dreieck zwischen Paris, Moskau/St. Petersburg und Rom ein, in einem der letzten Abschnitte des Bandes behandelt er schließlich das Schrifttum deutscher Auswanderer in den USA. Innerhalb von Europa ist dabei immer noch der seit 1918 in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung maßgebliche Gegensatz zwischen Abend- und Morgenland bzw. zwischen romanischem und slavischem Europa bestimmend, dessen Trennlinie durch die deutschen Länder hindurch verlaufen soll.89 Mit dem Sieg gegen das napoleonische Frankreich habe das romantisch-slavische Europa über das romanisch-klassische gesiegt, was auch innerhalb der deutschen Länder gelte. Ausgedrückt wird dieser Sieg laut Nadler durch die Allianz zwischen Preußen, Österreich und Rußland. Dementsprechend führt er aus, wie die „Einheit des deutschen Geistes“ zum ersten Mal „Ereignis wurde“: „Die Synthese lautet freilich nicht Klassizismus und Romantik, sondern was sich in dem glückhaften Ringen um Leipzig kundtat, war der gemeinsame völkische Gewinn: durch Preußen aus der Romantik des Siedelraumes und durch Österreich aus der Restauration des Mutterlandes.“90 Nachdem die Romantik also im ostdeutschen Siedelraum einen Sieg des Abendlandes über das Morgenland bedeutet habe, wird nun eine allgemeine Wendung zur deutschen Kultur unter Ausscheidung des Klassizismus und gleichzeitiger Wendung zum Morgenland vorgezeichnet. Doch der Sieg der Romantik als „deutsche Renaissance“ trägt durchaus seine Schattenseiten, weckte diese Bewegung doch in Nadlers Augen das „völkische Bewußtsein“ in den nicht, respektive nicht mehrheitlich deutschsprachigen Ländern der Habsburgermonarchie.91 Dieses Bewußtsein sei zunächst rein geistig-literarisch gerichtet gewesen, wurde aber noch verstärkt durch die im romanischen Europa raumgreifenden Bemü—————— 88 89 90 91
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-489, Königsberg 22. 8. 1926. Sauer starb am 17. 9. 1926. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 1-5, direkte Zitate von S. 4, 5. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 427. Siehe dazu neben den „Leitgedanken“ auch Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 132.
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hungen um freie Volksstaaten (anstelle von Völkerstaaten wie Österreich). Dieser zuletzt erwähnte „Westgedanke“ wird wiederum an den vierten Stand gekoppelt: „...Bildungsgegenstand, Gärungsstoff, Machtmittel des radikalen Willens wurde der Arbeiter“,92 der allerdings nicht aus eigenem Urteil, sondern aus Not gehandelt habe. Obwohl der Literaturhistoriker somit durchaus Mißstände in den Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zugibt, drückt der vierte Band deutlicher als die ihm vorausgegangenen Teile des Werks Nadlers Ablehnung der Demokratie und Favorisierung von Monarchien aus (vgl. Abschnitt 6.2.1.). Beispielsweise verteidigt er die strenge Zensur des Vormärz in folgender Weise: Aber heute, da wir den deutschen Freistaat erlebt haben mit seiner ganzen Rüstung von Schutzgesetzen, da dieser Freistaat Schüsse auf einen seiner Machtträger nicht anders beantwortete als die heilige Allianz den Dolchstoß auf Kotzebue, heute rückt die vormärzliche Preßaufsicht dem Verständnis näher. Erzwungen durch das ungeschärfte Gewissen der neuen proletarischen Schreibermassen wie die Urteilsschwäche der proletarischen Leserschichten hat die Preßaufsicht im Antlitz des Schrifttums merkliche Spuren hinterlassen. 93
Die Zensur habe sich überdies nur auf den Stil, nicht auf den Inhalt ausgewirkt. In einem Brief an August Sauer heißt es weiters, nachdem Nadler sein wachsendes Unverständnis über den Deutschnationalismus in Böhmen beschrieben hatte: Ich passe unter die Deutschen nicht mehr u. bleibe daher am besten, wo ich bin, obwohl ich hier das ganze republikanische Drum u. Dran ziemlich kennen gelernt habe u. zwar an einem Werkel, das flott geht. Was soll da erst am dürren Holze geschehen. 94
Auch hier drückt sich also Nadlers Skepsis gegenüber der demokratischen Regierungsform aus, obwohl er die Verhältnisse in der Schweiz meist wohlwollend eingeschätzt hatte. Dies alles erhält allerdings in der „Literaturgeschichte“ selbst weniger Bedeutung hinsichtlich der Konzeption als in Bezug auf Nadlers persönliche Einstellung. Dasselbe gilt für seinen immer offener werdenden Antisemitismus, dem ein eigener Abschnitt gewidmet ist (vgl. Abschnitt 6.2.4.). Angesichts der in der „Literaturgeschichte“ immer noch bestehenden Differenzen zwischen dem Südwesten und dem Osten des deutschen Sprachraums gewinnt schließlich der Stamm der Sachsen, den Nadler schon in der ersten Auflage als besonders eigenbestimmt sowie von antikem Erbe ungebunden beschrieb und in der Neubearbeitung überdies als weitgehend frei von der Mischung mit anderen Völkern darstellt, seine eigentliche Bedeutung: alles Fremde in der deutschen Vergangenheit ab—————— 92 93 94
Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 5. Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 2. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-354, Freiburg 22. 8. 1919
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zuwehren und aus einer Neuschöpfung des deutschen Volkes den deutschen Staat zu schaffen.95 Nachdem dieser deutsche Staat jedoch nicht alle von Nadler in völkischer Hinsicht als „deutsch“ verstandenen Siedelgebiete umfaßt, erscheint die Verwirklichung dieses Ziels in der „Literaturgeschichte“ nicht als ungetrübt – sie schließt mit einer Auflistung der „preisgegebenen“ Länder und Regionen. Diese Wortwahl impliziert, daß der deutsche Staat von 1871 für Nadler keineswegs eine ideale Lösung darstellte und die Entwicklung der deutschen Literatur als Spiegel eines anwachsenden Nationalbewußtseins nicht als abgeschlossen angesehen werden könne. Und dieses Konzept des anwachsendes Nationalbewußtseins ist wie viele andere aus Nadlers Grundlagen- und Hilfswissenschaften stammende Aspekte auch in der zweiten Auflage des Hauptwerks der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung erhalten geblieben. 6.2.1. Die Geltung der Grundlagen- und Hilfswissenschaften Bei der Lektüre der neuen Auflage des ersten Bandes fällt auf, daß die zahlreichen Vergleiche mystischer Literaten des 14. Jahrhunderts mit Vertretern der Romantik getilgt wurden. Dies ist, obwohl die Mystik auch in der zweiten Auflage als wichtigstes Element des altdeutschen Erbes für die ostdeutschen Romantik gilt, aufgrund des neuen Aufbaus verständlich: mit der Annahme der beiden auf völkischer Grundlage getrennten Sphären einer römisch-deutschen und einer deutsch-slavischen Lebenseinheit ist es Nadler praktisch nicht mehr möglich, südwestdeutsche Dichtungen des 14. Jahrhunderts in zeitlichen Vorgriffen und ohne Berücksichtigung der räumlichen Differenzen mit ostdeutschen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts in eine so enge Beziehung zu setzen. Diese vergleichsweise geringfügigen Änderungen illustrieren somit eindrücklich, daß der allererste Band der „Literaturgeschichte“ aus dem Jahr 1912 erst den Versuch (eines Romantikexperten!) darstellt, die deutschen Stämme in ein Bezugssystem zu bringen, während die zweite Auflage auf einem von Anfang an feststehenden Konzept aufbaut. Darauf muß wiederholt hingewiesen werden, weil die Autoren der Sekundärliteratur zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ihre Ausführungen fast ausschließlich auf die erste Auflage stützen – erst für die Zeit des Nationalsozialismus wird schließlich die vierte Auflage herangezogen, wobei durch das Übersprin—————— 95
Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 6, 10, 501f. Nadler zählt die Sachsen außerdem zu den „nordischen Menschen“, (ebd. 1924, S. 432), wobei unklar ist, welche Verbände noch dazu zu zählen wären und ob es sich hier noch um die Terminologie Kaspar Zeuß’ handelt (vgl. 4.4.2.3.) oder nicht.
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gen der zweiten Ausgabe die Differenz zwischen der ersten und vierten Auflage weit größer erscheint. Dasselbe feststehende Konzept bringt nunmehr einen Wechsel vom Lamprechtschen Kulturstufensystem, das jedes neu entstandene Volk gleichermaßen zu durchlaufen habe, zu einem System der durch Völkermischung begründeten Renaissancebewegungen, wie die „Berliner Romantik“ sie eingeführt hat. Nadler tilgt folglich an allen Stellen seine Bezüge auf die Kulturstufen nach Karl Lamprecht, so verschwindet etwa der Terminus „konventionelle Literatur“, der in Band 2 1913 weite Teile der Literatur der Neustämme des 16. und 17. Jahrhundert bezeichnet hat, vollständig. Die Einführung des Prinzips der Völkermischung bringt Nadler einen entscheidenden Vorteil: der Literaturhistoriker gewinnt damit zwei voneinander weitgehend unabhängige Vorgänge, die auch nach der in der zweiten Auflage beibehaltenen „Hochblüte um 1800“ Differenzen erklären können, während das Kulturstufensystem für die beiden nach dieser Blüte auf gleicher kultureller Ebene stehenden Bereiche keine weiteren Unterscheidungskriterien mehr geboten hätte. Die Aufgabe des Bezugs auf die Kulturstufen und ihre Substitution durch völkisch begründete Renaissancebewegungen bedeutet allerdings nicht, daß alle Aspekte der Kulturgeschichtsschreibung nach Karl Lamprecht aus der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung getilgt wurden. Das zentrale Konzept des wachsenden Nationalbewußtseins oder –gefühls behält nach wie vor seine Gültigkeit, wie nicht zuletzt im vierten Band anhand der dort enthaltenen „Inventur“ der nicht in das Deutsche Reich eingeschlossenen deutschen Völkerschaften deutlich wird – wobei gerade dieser vierte Band im Falle einer weiteren Berücksichtigung des Lamprechtschen Kulturstufensystems aufgrund der eben skizzierten mangelnden Differenzierungskriterien innerhalb des deutschen Sprach- und Literaturraums hätte problematisch werden können. Weiters ist die Geschichte der deutschen Literatur bei Nadler auch weiterhin von wirtschaftlichen Aspekten beeinflußt96 und eine Geschichte der Verbürgerlichung dieser Literatur; wie auch die bereits aus der ersten Auflage bekannte Berücksichtigung der ständischen Gliederung und die daraus resultierende unterschiedliche Aufnahme bestimmter Literaturströmungen in einzelnen Landschaften erhalten bleibt.97 —————— 96
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Vgl. hierzu den Grundlagenabschnitt zu Buch 2, Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 8992, wo Änderungen der Literatur auf Änderungen wirtschaftlicher und staatlicher Mächte zurückgeführt werden (z. B. Lehenswesen, Übergang zur Geldwirtschaft). Auch die Siedelbewegung der Sachsen nach Osten ab 1140 führt Nadler auf wirtschaftliche Beweggründe zurück, vor allem auf den Neuerwerb von Ackerboden; ebd. 1923/2, S. 19. Obwohl die für diesen Aspekt zentralen Kapitel zur höfischen Literatur in der zweiten Auflage von Nadler neu formuliert wurden, sind die bei der Analyse der ersten Auflage
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Umso auffälliger ist allerdings, daß die für die Schaffung eines geeinten deutschen Staats als ausschlaggebend dargestellte „neudeutsche Hochromantik“ in der „Literaturgeschichte“ an den preußischen Junkerstand geknüpft wird, dessen „Seelenlage“ im Gegensatz zu jener des die älteren Stufen der Romantik tragenden Bürgerstandes durch sachliches Handeln geprägt gewesen sei.98 Es bleibt allerdings unklar, wie diese Abweichung Nadlers von der Lamprechtschen Linie, die bemerkenswerterweise in jenen für die zweite Auflage neu verfaßten Kapiteln zutage tritt, zu werten ist. Da der Literaturhistoriker diesen Übergang des romantischen Vorgangs auf den Junkerstand in keiner Weise negativ auffaßt und seine Vertreter wohlwollend behandelt, ist davon auszugehen, daß Nadler jene Entwicklung als in seinem Sinne „naturgemäß“ und nicht als Bruch auffaßte. Der Grundlagenabschnitt zum „Das Reich“ betitelten 19. Buch99 läßt aber nicht auf eine Aufgabe des Konzepts der Verbürgerlichung von Dichtung in der „Literaturgeschichte“ schließen. Darin bezichtigt Nadler nämlich das Bürgertum, sein Selbstbewußtsein an die Junker, sein geistiges Amt an die Juden und seine Zukunft an die Arbeiter verloren zu haben und darüber hinaus die Denkweise der Arbeiter über den bürgerlichen und junkerlichen Stand übernommen zu haben, wodurch letzterer als kriegerischer Verwirklicher des Staats das Vertrauen des Volkes und damit der Staat an Stabilität eingebüßt habe. Als Träger der deutschen Bildung und Literatur und letztlich der Verantwortung für den Staat erscheint damit immer noch der Bürgerstand. Deutlich tritt jedenfalls Nadlers bereits bei der Analyse der ersten Auflage festzustellende Ablehnung des Arbeiterstandes hervor. Nadlers Antisozialismus reicht bis zur Klage, das „literarische Proletariat“ – womit der Literaturhistoriker der politischen Linken zuzuordnende, meist in Zeitungen und Zeitschriften publizierende Schriftsteller bezeichnet – habe sich der „nationalen Idee“ „bemächtigt“.100 Damit bindet er die Berechtigung, für bestimmte Ideen einzutreten, an die seinen Vorstellungen gemäße politische Einstellung, wenn nicht gar die Berechtigung oder zumindest Befähigung, Literatur zu produzieren, auf den Stand zu—————— herausgestellten Bezüge erhalten geblieben – etwa die mißlingende Aufnahme der höfischen Literatur in bürgerlich geprägten Städten (Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 130f), die Auswanderung ständisch nicht in ihre Landschaft passender Dichter (ebd. S. 131, 134), wenn auch diese nicht mehr als Vertreibung beschrieben wird, und die „demokratischen Mächte“, welche die höfische Literatur „töten“; ebd. S. 202. Auch die Zuordnung einzelner Stände zu bestimmten Stämmen in gemischten Gebieten bleibt erhalten; ebd. S. 356, 1924, S. 68. 98 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 425-427, ähnlich 1928, S. 160. 99 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 631-633. 100 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 188.
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rückgeführt wird. So heißt es, der proletarische Redestil habe keine Literatur erzeugen können,101 während Nadler unmittelbar danach die „Prosakunst“ der Reden Reichskanzler Bismarcks lobt und zuvor die im Paulskirchenparlament gehaltenen „Staatsreden“ als Kunstform faßte, was es ihm ermöglichte, im Zuge ihrer Darstellung auch auf die geäußerten politischen Inhalte einzugehen.102 Allerdings wird in der „Literaturgeschichte“ nicht immer gleich gewertet, was den vierten Stand betrifft. Denn während Nadler einerseits die geistige Führung des Arbeiterstandes in erster Linie von Juden vertreten sieht und daraus eine negative Wertung ableitet, hebt er andererseits hervor, daß die hessische Jugend – und eben nicht „die Juden“ – als erste versucht hätten, die „verarmten Massen zu mobilisieren“ und beurteilt weiters Georg Büchners Werk trotz seiner sonstigen Ablehnung des Materialismus durchaus wohlwollend.103 Somit trägt Nadlers Antisozialismus deutliche antisemitische Züge (vgl. Abschnitt 6.2.4.). Die schon in die „Berliner Romantik“ einbezogenen sprachwissenschaftlichen Ansätze, die ebenfalls die Mischung von Völkern in ihren Theorien berücksichtigen, sind auch in die zweite Auflage der „Literaturgeschichte“ eingeflossen. Nadler übernimmt im Grundlagenkapitel zu Buch 2 des ersten Bandes104 Sigmund Feists Deutung der zweiten, oberdeutschen Lautverschiebung mitsamt der Annahme des Einflusses der als „alpiner Menschenschlag“ erhaltenen europäischen Vorbewohner. Weiters bezeichnet er ebendort in Übereinstimmung mit Friedrich Kauffmann das Althochdeutsche als „Kolonialstil“ der westgermanischen Stämme. Daß Nadler allerdings in seiner Bibliographie Feists Schrift „Germanen und Indogermanen“ nur für die „Leitgedanken“ des ersten Bandes und nicht für den erwähnten Abschnitt sowie Kauffmanns einschlägige Publikation gar nicht anführt, gibt einen Eindruck von den unsystematischen Quellenangaben des Literaturhistorikers, die wohl oft den Bezug auf Werke der Sekundärliteratur verdecken, wenn man mit deren Inhalt nicht vertraut ist. Ein weiterer Bezug auf Feist in den „Leitgedanken“ des zweiten Bandes, der dessen Ansicht von der (sprachlichen) Indogermanisierung von Vorgermanen durch ein unbekanntes Vermittlervolk aufnimmt, bleibt ebenfalls unausgewiesen, dafür findet sich in der entsprechenden Bibliographie Hans F.K. Günthers „Rassenkunde des deutschen Volkes“ von —————— 101 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 617. 102 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 362-373. Möglicherweise als Apologetik für diese in Band 4 über weite Strecken zu verfolgende Konzentration auf politische Prosa wendet Nadler wiederum das Argument der beschränkten schöpferischen Kräfte eines Stammes oder Volkes innerhalb eines Zeitraums an, die eben im 19. Jh. weitgehend durch Bemühungen um den deutschen Staat gebunden gewesen seien; ebd. S. 13f. 103 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 306 bzw. S. 271. Zur Ablehnung des Materialismus durch Nadler siehe z. B. ebd. S. 163. 104 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, Kapitel S. 34-39, folgende Zitate von S. 38 und S. 39.
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1922.105 Welche Aspekte von Günthers Schrift jedoch in die „Literaturgeschichte“ eingeflossen sein sollen, ist bei der Lektüre dieser „Leitgedanken“ nicht nachvollziehbar, enthalten sie doch schon ab der elften Zeile des Abschnitts Nadlers eigenes Konstrukt von der Mischung der südwestdeutschen Stämme mit der romanischen Bevölkerung mit anschließender Verdeutschung, um dann zur deutsch-slavischen Mischung überzugehen und ohne wörtlichen Bezug auf „Rasse“ völlig im von ihm selbst entwickelten Gedankengut zu verbleiben. Dennoch läßt sich feststellen, daß mit der Einführung des Grundprinzips der Völkermischung ein stärkerer Bezug auf die körperlichen Aspekte der von Nadler untersuchten Abstammungsverbände einher geht. Dies steht in keiner Weise in Widerspruch zu seinen Grundlagen, da in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung der Zusammenhang zwischen Körper und Geist von Anfang an sehr eng zu denken war. Doch ist damit die tendenzielle Ablösung von der Analogsetzung des Stammescharakters mit dem Lorenzschen Familiencharakter gegeben. Daraus läßt sich folgern, daß Nadler unter Umständen keinen Grund mehr sah, einer möglichen Klassifikation der Stämme nach anthropologischen Kriterien auszuweichen. Und er selbst stützte sich bei seiner Arbeit auf Werke, die auf der Ebene von Stämmen mit anthropologischen Aspekten arbeiteten, wie aus dem Briefwechsel mit Sauer hervorgeht: Wie ich die Literatur des deutschen Ostens unter dem Gesichtspunkte Muttervolk – Kolonistenvolk zu erfassen versuchte, so drängt sich mir in der Schweiz das gleiche Problem auf. Die Alamannen südlich des Rheins sind gegenüber den nordrheinischen Alamannen als ein solches abgezweigtes Kolonistenvolk zu betrachten. Das wäre bis zur Mitte des 13. Jahrh., dann wiederholt sich das gleiche Verhältnis auf dem Boden der Schweiz selber. Ein außerordentlich lesenswertes Buch Schwerz F. (Dozent in Bern) Die Völkerschaften der Schweiz Stuttgart 1915 kommt zu folgenden Ergebnissen. 1.) der Deutschschweizer von heute ist somatologisch kein Nachfahr der alten Alamannen auf Schweizer Boden. 2.) Vom Aargau ausgehend wurde das Land gegen die Hochalpen (Mittelschweiz) immer dünner u. dünner alamannisch besiedelt. 3.) In den Hochalpen hat sich der Urtyp, die Rüter, zunächst gehalten u. ist dann seinerseits wieder gegen Norden vorgebrochen u. hat den Schweizer Alamannen ethnografisch überflutet. Sprache u. Gewohnheiten sind alamannisch geblieben, aber der Volkstyp von heute ist rütisiertes Alamannentum. Mit diesen ethnografischen Ergebnissen stimmt die politische u. schrifttümliche Geschichte wunderbar. Ich fasse das so zusammen. 1.) reine alamannische Zeit. Herrschaft der alamannischen Habsburger fast in den ganzen Schweiz. 2.) Von den Bergen aus, mit dem Vorbrechen des Gebirgstypus gleichzeitig Bildung des habsburgerfeindlichen neuen Staatswesens, das als Republik ganz ungermanisch ist. 3.) So wie das dünn alamannisierte Gebirgselement (Rüter) das Alamannenvolk überflutet, so verschlingt dieser Freistaat nach u.
—————— 105 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, Leitgedanken S. 1, Bibliographie S. 566.
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nach gegen Norden vordringend den habsburgisch-alamannischen Herrschaftsstaat. Das ist nun literarisch zu verfolgen.106
Obwohl Nadler diese Untersuchungen immer noch als „ethnographisch“ bezeichnet, dokumentiert der Bezug auf den „Volkstyp“, daß der Literaturhistoriker nun nicht mehr „nur“ von einer zweigeteilten deutschen Entwicklung durch unterschiedliche Völkermischungen ausgeht, sondern auch innerhalb eines Stammes (bzw. eines Teilstammes, da es die Schweizer betrifft) die Mischung unterschiedlicher körperlicher Typen annimmt. Bezeichnenderweise baut Nadler seine Darstellung der Literatur der Schweiz auf den Befunden der Sekundärliteratur auf, ohne dabei zu merken, daß diese seinen eigenen Postulaten widersprechen. Denn bildet in der „Literaturgeschichte“ der ethnographisch als Abstammungseinheit zu fassende Stamm – der somit körperliche Einheitlichkeit voraussetzt, wenn diese auch als nicht anthropologisch-metrisch faßbar eingeführt wurde – mit dem Stammescharakter eine unlösbare Einheit, so kann plötzlich unter Einbeziehung von Schwerz ein „rütisiertes Volkstum“ „alamannische Sprache und Gewohnheiten“ als Ausdruck ihres Stammescharakters tragen. Hier gerät Nadler in Widerspruch zu seiner Ansicht, daß kein Geistiges ohne Körperliches vorhanden sei. In der den Abschnitten zur Eidgenossenschaft zugehörigen Bibliographie des ersten Bandes der zweiten Auflage hat die Schrift von Schwerz jedoch auch keinen Eingang gefunden. Zumindest hinsichtlich der Sprache hatte Nadler allerdings schon in der ersten Auflage zwischen der Übernahme der deutschen Sprache z. B. durch die Slaven und der „Eindeutschung“ der slavisch-deutschen Mischung im Osten unterschieden. Diese Trennung behält er auch in der zweiten Auflage bei,107 die Sprache als geistige Tätigkeit ist bei Nadler damit nicht an körperliche Eigenschaften gebunden – die „Gewohnheiten“ hingegen müßten in der stammeskundlichen Literaturgeschichte jedoch vom körperlich determinierten Stammescharakter abhängig sein. Auffällig sind weiters die immer wieder vorkommenden Bezugnahmen auf das Äußere von Dichtern, um sie hinsichtlich ihrer Herkunft bzw. ihrem Verhältnis zu Ahnen verschiedener Herkunft einzuordnen. Bei der Entscheidung etwa, ob der aus dem niedersächsisch-niederfränkisch besiedelten Magdeburg stammende Karl Immermann dem einen oder anderen Stammesteil zuzuordnen sei, soll der Befund helfen, daß Immermann körperlich nicht sächsischen Schlages gewesen sei; weiters ist Nad—————— 106 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-355, Kastanienbaum 17. 9. 1918. Nadler bezieht sich hier auf seine Arbeit an der „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“. Ohne Zweifel sind derartige Überlegungen aber auch in die vierbändige „Literaturgeschichte“ eingegangen. 107 z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 62.
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ler entschlossen, an Stefan Georges „Keltenschädel“ zu „glauben“, bis er eines besseres belehrt würde.108 Worauf die zunehmende Nähe der Darstellungen Nadlers zu Ansätzen zurückzuführen ist, die körperliche Kriterien stärker in ihre Forschungen einbeziehen als der Literaturhistoriker bisher oder sie sogar darauf gründen, bleibt weitgehend unklar. Maßgeblichen Einfluß auf diese Entwicklung scheinen immer wieder die Werke anderer Gelehrter gehabt zu haben, obwohl Nadler selbst etwa seine Vorreiterrolle vor Feist und Kauffmann betont.109 Somit ist nicht auszuschließen, daß Nadler sich im allgemeinen wissenschaftlichen Betrieb stärker werdenden Tendenzen zu anthropologisch-somatologischen Grundlegungen von Theorien anschloß (vgl. Abschnitt 7.). In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, daß Nadlers Grundkonzept schon aufgrund seines Postulats der Koppelung alles Geistigen an Körperliches einen fruchtbaren Boden für die Ausweitung der somatologischen Aspekte bietet. Die Einbeziehung dieser Aspekte macht jedoch Nadlers spätere Ablehnung der Rassenkunde als etwaige Grundlagenwissenschaft der Literaturgeschichte aufgrund der von ihm attestierten mangelnden Aussagekraft von Dichterbildnissen problematisch.110 Als maßgebliches Kriterium für Gesetzmäßigkeiten aller Art erscheinen in der „Literaturgeschichte“ nun die völkisch begründeten geistigen Renaissancebewegungen. Somit basiert die Begründung von Gesetzmäßigkeiten nach wie vor auf dem Aspekt der Abstammung: die Mischung von Völkern bringe nach dem „Sieg“ eines der Mischungselemente die gleiche körperliche und geistige Anlage für alle Angehörigen des Verbandes, woraus ein gesetzmäßiges Verhalten dieses Verbandes resultiere. Die einzelnen Stämme treten nunmehr konzeptuell stark in der Hintergrund, da sie in die großen Bewegungen der römisch-deutschen bzw. deutschslavischen Lebenseinheit eingespannt sind. Die einzelnen Stammescharaktere werden zwar nicht obsolet – nicht jeder Stamm muß in gleichem Ausmaß das fremde Element aufgenommen haben und die variablen Mischungsverhältnisse wirken sich bei Nadler auch geistig-literarisch aus – und immer noch wird einzelnen Landschaften ein jeweils spezifischer Beitrag zu den beiden großen Vorgängen zugeschrieben. Dennoch dominiert die Teilung in die beiden Lebenseinheiten den Gesamteindruck der „Literaturgeschichte“. Nadler ist etwa auch mit dem Begriff „Bewegung“ —————— 108 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 305, 795. 109 „Übrigens scheint sich die Sprachwissenschaft auf ähnliche Pfade zu begeben. Schon 1915 hat Kauffmann in der Zs. f. d. Philologie die hochdeutsche Lautentwicklung auf die Völkermischung zum Teil zurückgeführt [...]. Und nun kommt Sigmund Feist...“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-377, Pürstein 10. 11. 1920. 110 Dieses Argument gegen die Rassenkunde wendet Nadler an in: Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde; Vgl. 9.1.2.
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für literarische Strömungen im Vergleich zur ersten Auflage weit sparsamer geworden. Dieser Terminus kommt nur mehr den beiden großen auf Klassik und Romantik gerichteten Entwicklungen zu. Dies ändert allerdings wenig an der Weise, wie und wo der Literaturhistoriker das Auftreten von Gesetzmäßigkeiten annimmt. Denn auch unter dem Grundprinzip der Völkermischung gilt in der „Literaturgeschichte“, daß neue Impulse immer von den Grenzen ausgehen, wo Mischung eben vor allem stattfindet.111 Gleichermaßen werden analoge Erscheinungen nun auf Gesetzmäßigkeiten der Völkermischung und damit verbundene geistige Renaissancebewegungen statt auf Kulturstufen zurückgeführt. Auch in der zweiten Auflage finden sich zahlreiche Beispiele für die Darstellung einzelner Dichter als Typus einer Landschaft oder einer literarischen Strömung: Nikodemus Frischlin etwa verkörpert für Nadler den Übergang vom Humanismus zum Barock; Agrippa von Nettesheim sei das Abbild der niederrheinischen Entwicklung; Christian Gottfried Körner sei der verkörperte Dresdner Geist; Gerhart Hauptmann habe alle ostmitteldeutschen Züge.112 Dies alles geschieht unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der damit verbundenen, in Abschnitt. 4.3.6. beschriebenen Probleme. Nach wie vor kann die Erklärung einzelner Dichter zu Typen weder darüber hinwegtäuschen, daß diese Typen letztlich willkürliche Konstrukte Nadlers sind, noch vermag dadurch die Tatsache verdeckt zu werden, daß die Einordnung der Literaten in einzelne Landschaften keinen festen Prinzipien folgt. Zuschreibungen von Rollen an bestimmte Landschaften innerhalb eines Vorgang funktionieren oft nur dann, wenn vornehmlich Landschaftsfremde als Träger dieser Rollen vorgewiesen werden, weil heimische Kräfte nicht vorhanden sind oder keine Linie erkennen lassen. Meist wird in der „Literaturgeschichte“ nicht einmal darauf reflektiert, daß die innerhalb eines Abschnitts behandelten Dichter oft zum Großteil nicht aus der betreffenden Landschaft stammen und auch keine entsprechenden Ahnen vorweisen können. In einigen Fällen wählt Nadler Auswege, indem er beispielsweise Jena und Halle den „Ruhm des Versammelns“ großer Gelehrter und Dichter verleiht oder die „geistige und literarische Geschichte“ der Stadt Basel 1450-1550 schlicht mit „Gastfreundschaft“ beschreibt.113 Doch gerade Basel erklärt Nadler zum Einzelfall: —————— 111 Nadler drückt dies beispielsweise so aus: „Die Außenfläche völkischer Körper erzeugte von je die größte geistige Wärme.“ Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 31, vgl. auch ebd. 1923/1, S. 166. 112 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 521; S. 327; 1924, S. 249;. 1928, S. 715. 113 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 260 bzw. 1923/1, S. 283.
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Häufig genug strömen Stammesfremde zu bestimmten Zeiten in einer Stadt zusammen, etwa wie in Basel um 1500. Allein aus ihrer vielfältigen und eigenwüchsigen Arbeit baute sich erst die neue Eigenart des geistigen Stadtlebens auf. Die Einzelzüge dieser Einzelnen, zusammengezählt, ergeben das Ganze. Anders im Elsaß und sonst. Hier gliederten sich die Stammesfremden in eine laufende bodenständige Entwicklung ein.114
In einer solchen Verlegenheit wendet der Literaturhistoriker, nach dem letzten Satz zu schließen, sein bewährtes Rezept der doppelten Bindung an Abstammung und Raum an: die geistige und literarische Entwicklung einer Landschaft wird immer auch entscheidend durch ihre jeweilige kulturelle, „bodenständige“ Vorprägung bestimmt, wobei jene Vorprägung auf die Wechselwirkung des in der Landschaft festwachsenden (Teil) Stammes mit seinem fest ausgeprägten Charakter sowie seiner tätigen und geistigen Aneignung der spezifischen Umwelt zurückgeht. Ist diese Aneignung erst erfolgt, so wirkt sich ihr Ergebnis auf Neuankömmlinge aus, die zwar wiederum in der Landschaft festwachsen, aber in diesem Vorgang eben die entsprechenden Vorprägungen mit aufnehmen müssen. Eine Einheitlichkeit der in einer Landschaft wirkenden Dichter aufgrund ihrer Abstammung und damit auch eine Einheitlichkeit der dort entstandenen Literatur, die Nadler bei der beschränkten Anzahl von Literaten der älteren Zeiten noch zu konstruieren imstande war, läßt sich angesichts der stetigen Zunahme der literarischen Produktion kaum mehr überzeugend darstellen. Symptomatisch dafür ist Nadlers Arbeitsweise für den vierten Band. Immer weiter davon entfernt, in der praktischen Ausführung seiner Konzeption dem Kollektiv des Stammes die wichtigste Rolle zukommen zu lassen, war seine wichtigste Quelle hierfür schon in ihrem grundlegenden Aufbau rein auf Einzelpersonen bezogen: die Allgemeine Deutsche Biographie. Dazu berichtete er August Sauer: Bei der Arbeit an der Neuauflage habe ich gesehen, wie wertvoll es ist, eine vollständige Übersicht über den behandelten Stoff zu haben, sei es auch nur als Skizze. Ich bin nun leicht in der Lage an der Hand der Biografie ein Grundgerüst des ganzen 4. Bandes herzustellen. Das ist umso wichtiger, als ja in den 4. Band viele Namen nicht literarischer Natur hineinkommen.115 Gleichzeitig habe ich bereits die Hälfte der A.D.B. durchgearbeitet u. zwar Artikel zum 4. Band. Diese Taktik hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Ich habe ungeheure Stoffmassen in die Hand bekommen, aus denen ich alles mit Leichtigkeit ausscheiden kann, was ich brauche. Während man in den betreffenden Kompendien der Musik-, Theater- Kunst- Religionsgeschichte usw. den Stoff schon redigiert u. verarbeitet findet, wobei vieles unterdrückt ist, was gerade ich
—————— 114 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 506. 115 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-379, Pürstein 10. 12. 1920.
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brauche, tritt mir in der A.D.B. das Material gewissermaßen in seiner Rohgestalt entgegen.116
Die Landschaft bzw. die Nadlerschen „Lebenseinheiten“ werden damit immer mehr zum Rahmen für Persönlichkeiten, die im betreffenden Zeitraum an einem bestimmten Ort arbeiteten, während die Abstammungseinheit Stamm zusehends in ihre einzelnen Vertreter aufgelöst wird, denen dieselben Eigenschaften zugeschrieben werden, die schon ihre Ahnen getragen haben sollen und die nie von einer wissenschaftlichen Grundlage gewonnen wurden und werden konnten. Umso größere Bedeutung kommt der Rahmenkonstruktion Nadlers zu, welche zwei verschiedene Wege zum wachsenden deutschen Nationalbewußtsein verfolgt. Indem die Einordnung von Individuen in bestimmte Landschaften immer deutlicher keinen stimmigen oder auch nur konsequent verfolgten Kriterien unterliegt und somit meist der Entstehungs- oder auch Wirkungsort einzelner Schriften einzig entscheidend ist, gewinnen wiederum die Großräume der römisch-deutschen und deutsch-slavischen Lebenseinheit an Vordergründigkeit und Gewicht. Die Arbeit mit Gegensatzpaaren behält ihren Status als wesentlich strukturierendes Merkmal der „Literaturgeschichte“ – nicht allein durch den Aufbau auf die beiden durch unterschiedliche Völkermischung gekennzeichneten Kulturflächen „Klassik“ und „Romantik“, sondern auch innerhalb dieser beiden Sphären. Im Bereich der südwestdeutschen Stämme kommt es in der „Literaturgeschichte“ zu wechselnder Gewichtung von auf die antike Vergangenheit gerichteten und auf die eigene völkische Vergangenheit abzielenden geistigen Strömungen, während im Siedelland stets der auf den geistigen Besitz des Mutterlandes gerichtete romantische Vorgang mit dem Willen zu eigenständigen Kulturschöpfungen konkurriert. Über beide Kulturflächen spannt sich der Wechsel zwischen geschichtlichem und begrifflichem Denken in Philosophie und Wissenschaft. Besonders beherrschend ist dieses Thema bei der Behandlung von Scholastik und Mystik einerseits sowie Scholastik und Humanismus andererseits, weiters von Aufklärung und Romantik. In allen Fällen favorisiert Nadler deutlich das geschichtliche Denken. Dies geht nicht nur implizit aus der „Literaturgeschichte“ hervor, sondern auch aus einem Brief an August Sauer: Man spricht heute verächtlich von Historismus u. will ohne Geschichtskenntnis aus Geschichtshaß geschichtliche Erscheinungen erfassen. Das war vor 100 Jahren schon einmal da. Damals war man Arzt ohne ärztliche Kenntnisse, Chemiker ohne chemische Kenntnisse, Physiker ohne Empirie u. man nannte es Naturphilosophie. Heute gehts der Geschichte so. Man belächelt die Sprachwissenschaft, u. die geschichtliche Empirie, weil man das alles a priori besser weiß, intuitiv, aus
—————— 116 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-384, Pürstein 27. 1. 1921.
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Eingebung des Hl. Geistes. Was bin ich Freiburger Professor für ein Heide u. katholisch ist das Denken ringsum geworden. Und wie alt bin ich geworden! [...] Die junge Leute von heute sind vollendete katholische Scholastiker, Juden, Protestanten, was immer sie sein mögen. Und um die Scholastik los zu werden, hat das deutschen Volk vor 400 Jahren mit seiner Vergangenheit u. Einheit gebrochen. Dieser neueste Rausch wird von kurzer Dauer sein, aber was zerfährt man nicht alles im Rausch! Wozu textkritische Aussagen, wenn das alles überflüssig ist, was wir in unseren besseren Zeiten Philologie nannten. Man behandelt das 19. Jahrh., als wären vorher keine 1800 Jahre gewesen. Zuerst gingen germanische u. deutsche Philologie auseinander, dann deutsche Philologie u. deutsche Literaturgeschichte u. heute stecken wir glücklich in einer Literaturwissenschaft der letzten 30 Jahre. Es gibt keine gemeinsame wissenschaftliche Basis mehr u. wenn man unsere Hochschulen vor u. nach 1914 vergleicht, so kann einem weh ums Herz werden. Nun verschleudern die Deutschen auch das noch. Niemand will mehr lernen, Sachkenntnisse gewinnen, den Gebrauch von Werkzeugen sich aneignen. [...] Alles reflektiert sich nur als Mythus u. jeder macht sich seinen Mythus auf seine Art. 117
Diese Kritik Nadlers trifft nicht zuletzt die Fachkollegenschaft und unter diesen vor allem die dem George-Kreis nahe stehenden Vertreter der Geistesgeschichte wie Friedrich Gundolf oder Ernst Bertram. Aus heutiger Sicht fällt sie aber auch auf ihn selbst zurück. Nichtsdestotrotz lassen sich in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ durchaus Versuche erkennen, die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung als mit der Geistesgeschichte vereinbar zu präsentieren. Zunächst, indem Nadler schon im Vorwort des ersten Bandes der Neuauflage bei der Beschreibung der Vorgänge unter den südwestdeutschen Stämmen sowohl einen völkischen als auch einen geistesgeschichtlichen Vorgang erwähnt.118 Aus dem nachstehenden Text geht jedoch unmißverständlich hervor, daß der geistesgeschichtliche Vorgang eine Folge des völkischen, also der Völkermischung der Germanen mit den Romanen und den daraus sich ergebenden Renaissancebewegungen, darstellt.119 Nadler versucht auf diese Weise, die Geistesgeschichte seiner eigenen stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung auf der Grundlage von Völkermischung nachzuordnen. Alle geistesgeschichtliche Forschung würde nach Nadlers Konzept Entwicklungen aufgrund völkischer Vorgänge verfolgen – egal, ob diese Vorgänge mitreflektiert würden oder nicht. Folglich wäre geistesgeschichtliche Forschung immer automatisch —————— 117 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-411 Düdingen 5. 2. 1922. 118 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 2, 3. 119 Dies wird auch an einer Beschreibung von Klassik und Romantik deutlich: „Die lange Entwicklung durch Natur und Körper hin klärt sich ins Geistesgesetzmäßige ab und erhöht sich in zwei gegensätzliche Gipfelpunkte...“ Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 1, sa. ebd. 1923/2, S. 78.
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stammeskundliche Literaturforschung und zumindest in Nadlers Intention wird der „Geist“ der Geistesgeschichte an die Abstammung gebunden. 6.2.2. Volk und Raum Die zentralen Abschnitte, welche in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ das Verhältnis zwischen Dichtung und Landschaft im Rahmen des „Einwurzelns“ der Stämme in ihren Siedelraum behandeln, wurden von Nadler bis auf einzelne Termini unverändert in die zweite Auflage übernommen. Es gilt somit nach wie vor, daß sich die Stämme ihre Umwelt (auch) in ihrer Dichtung aneignen und Einflüsse der Topographie sich in der Dichtung ausdrücken. Zu den Nebentälern des Rheins heißt es beispielsweise: „Wie der erdräumliche Bau so die Literatur.“120 Auch in neu verfaßten Abschnitten wird diese Sichtweise bestätigt, indem etwa die Eidgenossenschaft als „jungbesiedelter alamannischer Neuboden“ beschrieben wird, der nicht nur gemäß der Nadlerschen stammeskundlichen Literaturgeschichte als ersten dichterischen Ausdruck Sagen ausformt, sondern auch ein junges Volk trage, das „...durch geschichtliche Erbmassen wenig beschwert...“ gewesen sei und neue volksfreie Gemeinwesen geschaffen habe.121 Nachdem die Eidgenossen dem alamannischen Stammesverband angehören, bestätigt dieses Beispiel auch die unveränderte Rolle der Landschaft als jene Instanz, die Stämme aufgrund der durchzuführenden Aneignung ihrer Umwelt in Volkstümer differenziert. In gleicher Weise wie das Verhältnis zwischen Landschaft und Dichtung hat Nadler die Personifizierungen der Landschaft und ihre Trägerschaft bestimmter staatlicher Gedanken beibehalten. Aufgegeben hat Nadler allerdings die Bindung des Dramas an das Gebirge und speziell die Alpen; alle diesbezüglichen Stellen wurden getilgt. Nachdem die räumlichlandschaftliche Festlegung des Dramas auf die Alpen in der ersten Auflage nicht zuletzt der literarischen und geistigen Aufwertung der Baiern gedient hatte und dieses Ziel ab Band 3 1918 durch die Zuschreibung des Barock an den bairischen Stammesverband nachhaltiger verwirklicht werden konnte, hat Nadler diese nur schwer auf akzeptable Grundlagen zu stellende Konstruktion möglicherweise als nicht mehr seinen Zwecken entsprechend betrachtet. Zudem waren bei der Ausfüllung landschaftlicher oder zeitlicher Lücken für die 2. Auflage auch Nachträge zur Theatergeschichte zu machen, wobei sich eine bairische Vorherrschaft kaum mehr vertreten ließ. Aber obwohl Nadler die Entwicklung des geistlichen Spiels —————— 120 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 775. 121 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 238.
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nun dem Rheintal zugesteht, bleibt der „Boden des bairischen Volkes“ der Raum des Theaters.122 Wie stark der „Erdbau“ der Landschaft, wie Nadler in der zweiten Auflage die topographische Beschaffenheit bezeichnet, nach wie vor in der stammeskundlichen Literaturgeschichte Literatur und Geist bestimmen, zeigt sich auch an den „Leitgedanken“ des dritten Bandes der zweiten Auflage.123 Hier führt Nadler die klassische bzw. romantische „Seelenlage“ von Mutterland und Siedelgebiet, die er mit „von der Idee aus“ und „zur Idee hin“ bezeichnet, zum Großteil auf die Siedelbewegungen und das Erleben der jeweiligen Landschaften zurück: während die südwestdeutschen Stämme in einen durch Berge und Hügel klar umgrenzten und in sich gegliederten Raum eingewachsen seien, der es erlaubt habe, eine Landschaft stets als abgeschlossene Einheit zu erfassen, hätten sich die östlichen Stämme von einem Mittelpunkt aus in die ungegliederte Fläche einer Ebene bewegt. Doch auch hier unterlegt Nadler seinem Konzept einen doppelten Boden, da er die Gerichtetheit der Altstämme auf einen Mittelpunkt auch auf ihr Einwachsen in die überlegene und damit als Ideal anzustrebende antike Kultur gründet, wobei umgekehrt die Neustämme sich „in Kulturleere verdünnt“124 hätten. In beiden Fällen wird auch Bezug auf die Völkermischung mit Romanen bzw. Slaven genommen, allerdings ohne die jeweiligen „Seelenlagen“ auf Charakterzüge dieser Völker zurückzuführen – ganz im Gegenteil, werden die Denkformen doch in beiden Fällen nicht auf Anlage, sondern ausdrücklich auf Erziehung aus der spezifischen Geschichte von Mutterland und Siedelgebiet zurückgeführt. Als grundlegender Faktor einer solchen „Erziehung“ kann zumindest bei den Neustämmen die Landschaft bzw. die Aneignung derselben gelten, da die neuen Verbände im Osten nicht in eine bestehende Kultur einwuchsen. Der Raum ist also aufgrund seiner topographischen Beschaffenheit der erste ausschlaggebende Faktor für die klassische und romantische Denkform – wie er in Hinblick auf seine Besiedlungsgeschichte auch der zweite Faktor ist.Nadlers schon in der ersten Fassung seines Hauptwerks entwickeltes Konzept der Bindung von Dichtung an die Aneignung der Landschaft fügt sich nahtlos in die erst seit der „Berliner Romantik“ eingeführte Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturvölkern ein.125 Gemäß Ratzels Anthropogeographie entsteht auch bei Nadler eine Kultur – und der literarische Ausdruck derselben – aus der aktiven Aneignung der Umwelt durch eine Menschen—————— 122 123 124 125
Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 209. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 1-11. Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 3. Vgl. dazu 6.1.2.
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gruppe. Daß dabei von einer Wechselwirkung zwischen Mensch und der natürlichen Einheit Landschaft auszugehen ist, wird in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ besonders deutlich, indem eine in einem bestimmten Raum entstandene Kultur auch dann fortwirkt, wenn neue Menschengruppen dort seßhaft werden. Diese eignen sich nun nicht mehr eine Landschaft, sondern bereits eine Kulturlandschaft an, was im Nadlerschen Konzept zwar immer mit Völkermischung einhergeht, doch ist die Völkermischung nur ein Aspekt der immer noch bestehenden doppelten Bindung der Literatur an Abstammung und Landschaft. Umgekehrt könne kein einheitliches Kulturleben aus stammlich und/oder kulturell differenzierten Räumen heraus entstehen, sondern allenfalls von Herrschern ins Land gebracht werden, wie Nadler zu Böhmen und dem Ordensland bemerkt: „Denn im Boden steckte es nicht.“126 Als Beispiel für einen von der Kulturüberlieferung älterer Bewohner eines Raums unbelasteten deutschen Stamm lassen sich bei Nadler die Sachsen anführen, deren Landschaft als „unbeirrt von römischer Bodenschwere“ und als „Ursache und Schauplatz einer neuen deutschen Geschichte“ beschrieben wird, die wiederum auf die Aneignung der Landschaft durch die Sachsen zurückzuführen ist.127 Es entsteht der Eindruck, als entscheide in der „Literaturgeschichte“ die Mischung von Völkern über das Recht, einen Raum zu besitzen und sich die darin entstandene Kultur anzueignen, sowie diese dem eigenen Charakter gemäß umzubilden und weiterzuführen – als eine Art „Erbrecht“, das durch blutsverwandtschaftlichen Zusammenhang gegeben ist. Doch die Völkermischung alleine ist keine ausreichende Grundlage für kulturelle Renaissancebewegungen im Nadlerschen Sinne. Denn anders als in völkischer Hinsicht, wo in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung durch das Aufrechnen von Kopfzahlen und die Möglichkeit einer körperlichen „Eindeutschung“128 ein Ende der Auswirkungen der Völkermischung zumindest denkbar ist,129 sieht der Ansatz keine Möglichkeit vor, der kulturellen Prägung eines Siedelraums zu entkommen. So ist mit den Hochblüten der Klassik und Romantik um 1800 und der nachfolgenden Annäherung von Restauration und Romantik die —————— 126 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 133. 127 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 11. 128 Ein solches „Deutsch-Werden“ schreibt Nadler nicht nur in Übernahme des Textes von 1918 den Neustämmen zu (Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 8 bzw. 1923/1, S. 6), sondern auch der „Hauptkraft der westgermanischen Stämme“, die „...über den ältern und jüngern Schichten der Vorbewohner, der Kelten und der Romanen sprachlich, körperlich und geistig zu Deutschen geworden...“ waren; Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 1. 129 Sonst hätten auch keine „Deutschen“ den Osten besiedeln können, sondern eine romanisch-deutsche Mischung, womit am Ende eine romanisch-deutsch-slavische Mischung hätte stehen müssen.
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gegensätzliche kulturelle Prägung des deutschen Westens und Ostens in der „Literaturgeschichte“ keineswegs gänzlich aufgehoben, sondern wirkt fort. Nadler attestiert beispielsweise zwischen 1814 und 1848 dem „Raumbereich Klassik“ „Umwälzungen der deutschen Seele“, während aus dem „Urboden der Romantik“ Schutz gegen die „geistigen Sprengungen“ aus Oberdeutschland erwachsen sei.130 Tatsächlich schließt Nadler aus dem räumlichen Kräftespiel zwischen deutschem Mutterland und östlichem Siedelraum, daß „...die Räume an sich, hier südwärts der Küste, dort nordwärts des Rheines und der obern Donau den geschichtlichen Willen in dauerhafter Stäte und gleichgerichtet bestimmen.“131 Und diesen geschichtlichen Willen führt Nadler nicht zuletzt auf die unterschiedlichen abend- und morgenländischen bzw. westund oströmischen kulturellen Prägungen der Räume zurück. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Nadler große Teile seines in Band 3 1918 erschienenen Grundlagenabschnitts zu Buch 6, der die Romantik erstmals als Deutsch-Werden des Siedelgebiets im Osten faßt, unter Auslassung nur zweier Bemerkungen in das Vorwort von 1923/1 zu übernehmen imstande war.132 Bezeichnend nicht nur, weil sich bereits in Band 3 1918 und damit noch vor der „Berliner Romantik“ mit ihrer Betonung des „Eindeutschens“ der Körper als Voraussetzung für ein Eindeutschen des Geistes die Wendung zur stärker völkisch gefärbten Literaturgeschichtsschreibung angekündigt hatte, sondern auch wegen der ungeminderten Bedeutung einer kulturräumlichen Prägung von Mutterland und Siedelgebiet durch Abend- und Morgenland neben dem Aspekt der Völkermischung. Daß die abend- und morgenländische Sphäre als kulturell begründet aufzufassen sind, erweist sich zunächst an Nadlers Annahme von oströmisch-griechischen Einflüssen auf die slavischen Stämme ohne jeglichen Bezug auf Völkermischung, die jene slavische Ausrichtung auf Ostrom auf eine völkische Grundlage stellen würde. Umso mehr gilt dies für den Stamm der Sachsen, der in seinen angestammten Siedelgebieten keinerlei Mischung mit Romanen oder Slaven erfahren habe, aber trotzdem durch die Opposition gegen die übrigen Altstämme seine Entwicklung mit den erst in der Romantik auf das Abendland „umschaltenden“ Neustämmen genommen habe. Die Prägung der östlichen Siedelgebiete durch Ostrom —————— 130 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 215. Selbst Stefan George und Friedrich Nietzsche werden in einem Vergleich noch in das Schema Klassik – Romantik eingespannt; ebd. S. 800. 131 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 1. 132 Die Seiten 1-10 1923/1 entsprechen S. 3-12 1918. In 1923/1 finden sich neue Einschübe von S. 2 unten bis S. 3 und ein Satz auf S. 8.
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in der „Literaturgeschichte“ ist somit vor allem kulturell und kaum auf völkischer Grundlage stehend zu denken. Anders erfährt die Legitimität des Erbes des weströmischen Imperiums durch die Germanen durch die Einführung des Kriteriums der Völkermischung im Rahmen des Nadlerschen Ansatzes einen festeren Untergrund. Zum rechtlichen Erbe als Sieger über Rom und Nachfolger der römischen Kaiser tritt zusätzlich eine „natürlich“ zu denkende Legitimität durch das Bluterbe jener mit den Germanen verschmolzenen romanischen Bevölkerungsanteile.133 Damit verbindet sich der völkische Ansatz nicht nur harmonisch mit Nadlers genealogischer Arbeitsweise, weil diese Auffassung von rechtmäßiger, natürlicher Nachfolge nicht zuletzt das Ahnenund Familienverbandskonzept weiter ausbaut, sondern auch mit seinem Ziel übereinstimmt, die Germanen den Slaven als überlegen darzustellen: ist schon 1918 den Slaven das legitime Erbe Ostroms aus politischrechtlichen Gründen abgesprochen worden, so haben sie in Nadlers Darstellung nunmehr auch keine völkische Grundlage für die Nachfolge Ostroms vorzuweisen. Dies bleibt allerdings implizit, weil der Literaturhistoriker auf die Frage nach etwaigen Mischungen der slavischen Stämme mit anderen Völkern mit keinem Wort eingeht. Angesichts von Nadlers konzeptueller Ausrichtung auf die Literaturgeschichte als Geschichte des geistigen Ausdrucks von abstammungsgebundenen Kollektiven und seiner Tendenz, in der zweiten Auflage alle Landschaften in jeder Periode gleichmäßig behandeln zu wollen, überrascht es zunächst, daß in einigen Fällen Herrscherhäuser eine vehemente Aufwertung in ihrer Rolle für die Literaturgeschichte erfahren. Die Tendenz, literarische und geistige Entwicklungen an bestimmte Dynastien zu binden, war zwar bereits in der ersten Auflage zu verfolgen – besonders deutlich ist dies an den Gegenspielern Österreich und Preußen geworden – doch wurde dieser Aspekt besonders im Bereich der ostdeutschen Stämme verstärkt. Die Ursache dafür ist allerdings leicht zu erkennen: da die früheste Literatur auch im Siedelgebiet großteils lateinisch, oder in Nadlers Diktion: stark von der römisch-deutschen Lebenseinheit geprägt war, wurde eine Erklärung notwendig, wie solche Schrifttümer in einem Raum entstehen konnten, der weder kulturell noch völkisch von weströmischer Überlieferung geprägt sein sollte. Der Bezug auf die (katholische) Kirche ist hier nicht ausreichend, da auch sie maßgeblich durch die römische Überlieferung geprägt war. Nadler wählt hier den Ausweg, literari—————— 133 „Die Germanen sickerten überall zwischen den Trümmern uralter und jüngerer Völkergeschiebe ein, die römische Art und Sprache im ganzen Raume einheitlich verkittet hatte, und saugten die Fülle römisch-keltischen Blutes in sich. Sie begannen damit, als echte Erben dem antiken Kulturbesitz einzuwohnen. Denn im Blute strömt das Recht des Besitzes von Geschlecht zu Geschlecht.“ Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 34.
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sche und geistige Erzeugnisse, deren Form und Sprache den südwestdeutschen Erzeugnissen entspricht ohne daß ihre Entstehungslandschaft die entsprechende Prägung durch die römisch-deutsche Lebenseinheit aufwiese, Fürstenhäusern zuzuschreiben, die entweder den Altstämmen entstammen oder durch entsprechenden Territorialbesitz im Südwesten gewissermaßen zur Übernahme solcher Einflüsse legitimiert sind. Gleich zwei Beispiele hierfür finden sich im zweiten Band der Neuauflage, wo die Literatur Ostfalens auf zwei Geschlechter zurückgeführt wird: „Der ostfälische Klassizismus war ein reines Sippenerlebnis der letzten Liudolfinge, die ritterliche Literatur Ostfalens nicht viel mehr als eine höfische Sache der [alamannisch-norditalienischen] Welfen.“134 Als weitere Beispiele sind die Wettiner in Meißen zu nennen, die durch oberdeutschen Gebietsbesitz zum Ausgleich zwischen Mittel- und Oberdeutsch hätten beitragen können, sowie der Luxemburger Karl IV., der aufgrund romanisch-fränkischen Hausbesitzes dementsprechende Bildung nach Prag und Böhmen zu vermitteln imstande gewesen sei, und nicht zuletzt die alamannischen Hohenzoller, die den Anschluß des Siedelgebiets an die altdeutsche Kultur gefördert hätten.135 Ähnliche Konstrukte finden sich jedoch auch für innerhalb des Mutterlandes, da Nadler etwa die bairische Restauration zu einem Gutteil auf den Herrschaftswechsel von den bairischen zu den rheinischen Wittelsbachern zurückführt, welche ostfränkische Gebietsgewinne, eine neue rheinische Oberschicht und in der Folge für das altbairische Volk „einen organischen Wandel seines Körpers“ mit sich gebracht hätten.136 Tatsächlich wird die in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ im Rahmen der Behandlung des Barock (vgl. Abschnitt 4.4.3.1.) geäußerte Vermutung bestätigt, geistige Einflüsse aus von anderen Stämmen oder anderssprachigen Völkern besiedelten Gebieten wären bei Nadler nur dann gerechtfertigt bzw. nicht als dem Stamm oder Volk ungemäße Einflüsse zu rechnen, wenn der betreffende Stamm das Territorium, aus dem die Einflüsse stammen, beherrscht. So lauten die einleitenden Sätze zum Abschnitt „Wien“ im den Barock behandelnden Buch der zweiten Auflage: Alle Länder, die durch Sonderart und Einfluß am deutschen Barocktheater zusammenwirkten, lagen dauernd oder vorübergehend unter Habsburgs Hand: blü-
—————— 134 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 44. Die Liudolfinge hätten sich überdies in „...tragischem Abfall des Hauses von seiner ursprünglichen Sendung...“, die sächsisch und damit auf das Morgenland gerichtet gewesen sein sollte, politisch Italien zugewandt und seien deshalb untergegangen; ebd. S. 32. 135 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, Wettiner: S. 105, 222, Luxemburger: S. 84-92; Hohenzoller S. 178. 136 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 322.
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hende Landschaften Italiens mit dem stärksten langobardischen Einschlage; Spanien mit seiner romanisch gewordenen Überschicht von Goten und Sweben, Burgund und Brabant. Das alamannische Kaisergeschlecht hatte seit den Tagen Karls des Großen zum erstenmal wieder den größten Teil des Bodens in gemeinsamer Herrschaft vereinigt, auf dem ganze germanische Völkerzüge das Blut der lateinischen Welt aufgefrischt hatten. [...] Als Nachfolger und Erben der Staufer, als Mitbesitzer eines romanischen Weltreiches hielten die Habsburger an ihrem Recht auf das Italien der Renaissance fest.137
Damit sind in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht nur die romanischen Einflüsse auf das Barocktheater legitimiert, sondern gleichzeitig und trotzdem der Barock gewissermaßen „germanisiert“ durch den Hinweis auf die Einmischung germanischer Anteile in die Bevölkerung der genannten Landstriche. Umgekehrt attestiert Nadler Österreich später, aufgrund des geschmälerten mitteldeutschen Territorialbesitzes, keine „Mitpflicht“ an der romantischen Schöpfung des Ostens gehabt zu haben.138 Von einem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus gesehen wäre eine Analyse der gegenseitigen geistigen und literarischen Beeinflussung der unter einer Herrschaft zusammengefaßten Länder zweifellos eine interessante Aufgabenstellung, doch Nadlers Vorgehensweise, nur durch Territorialbesitz gedeckte Einflüsse als „naturgemäß“ und somit nicht fremd zu bewerten, ist höchst problematisch. Denn damit impliziert er, daß größere räumliche Ausdehnung größere geistige und kulturelle Kapazität mit sich bringe. Unverändert, wenn nicht noch verstärkt, ist die bedeutende Rolle der Habsburger in der „Literaturgeschichte“. Dies zeigt sich bereits an einem eigenen Kapitel über „Die Habsburger Länder“ in jenem der Mystik und Scholastik gewidmeten Buch, wobei diese Unterordnung der Stammesgliederung unter die Einteilung nach einer Dynastie im Aufbau des Werks singulär ist.139 Weiters wird auch die vor allem von den Alamannen getragene zweite große Stufe in der Aneignung des antiken Erbes, der Humanismus, mit der „romanisch-kaiserlichen Weltmacht der Habsburger“ in Verbindung gebracht als Pendant zum früheren „römisch-deutschen Kaisertum der Karlinge“.140 Auch hier betont Nadler den romanischen Territorialbesitz der Habsburger, während er geistige Einflüsse der italienischen Renaissance nicht gelten lassen will und den Humanismus auf die rö—————— 137 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 404, Satz nach der Auslassung S. 406. 138 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 533. 139 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 227-246. Das Kapitel ist untergliedert in die Abschnitte „Habsburgisch Baiern“, „Habsburgisch Alamannien“ und „Die Eidgenossen“. In Band 4 1928 finden sich noch die im Titel auf Herrscher bezogenen Abschnitte „Das München Ludwigs I.“ (S. 380-408) und „Das München Maximilians II.“ (S. 447-464), die sich jedoch jeweils auf eine Stadt und eine Person beschränken. 140 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 254.
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misch-germanische Lebenseinheit im Siedelgebiet der deutschen Stämme zurückführt. Trotz aller Legitimierung von Einflüssen auf räumlicher Basis haben also die zentralen Geistesbewegungen auf völkischen Grundlagen zu ruhen – wenig überraschend, hat doch die Vorstellung von der je nach Menschengruppe unterschiedlichen geistigen Aneignung einer Landschaft nicht zuletzt die Funktion, differenzierende Einflüsse in die „Literaturgeschichte“ einzuführen, ohne das Konzept vom unwandelbaren, abstammungsgebundenen Stammes- oder Volkscharakter zu gefährden. 6.2.3. Volk und Genealogie Die Einführung der Völkermischung als neues Grundprinzip der „Literaturgeschichte“ hat auf die Vorstellungen Nadlers, wie ein Stamm entsteht und aufzufassen sei, offensichtlich keinen Einfluß. Die Bezüge auf den Ahnenverlust als positiv gefaßte Inzucht und auf die Instabilität im Falle der Mischung unähnlicher Verbände bleiben erhalten, meist sogar in unverändertem Wortlaut.141 Der zusätzliche Aspekt der Völkermischung hat somit keinerlei Einfluß auf Nadlers schon in der ersten Auflage verfolgtes Stammeskonzept und ein Stamm gilt immer noch als durch das Ebenbürtigkeitsprinzip entstandene Abstammungseinheit mit einem allen Mitgliedern gemeinsamen Charakter. Die Begriffe „Charakter/charakteristisch“ werden zwar in der zweiten Auflage immer, wenn sie sich auf einen Stammesverband beziehen, durch „Wesen/wesenhaft“ ersetzt, doch stimmt dies einerseits mit Nadlers allgemeiner Tendenz der Vermeidung von Fremdwörtern zusammen und ist andererseits möglicherweise ein weiteres, zumindest terminologisches Zugeständnis an die germanistische Geistesgeschichte. Dieser Wechsel der Termini ändert jedoch nichts an der vererbungsgebundenen Unwandelbarkeit der Eigenschaften eines Stammes in der „Literaturgeschichte“. Auch am Umgang des Literaturhistorikers mit der Abstammung einzelner Dichter hat sich nichts geändert. In Einzelfällen wurden zwar neue Kenntnisse über die Herkunft eines Dichters berücksichtigt, was durchaus auch eine geänderte Wertung dieser Gestalt zur Folge haben kann. Dies betrifft etwa Johann Joachim Winckelmann, den Nadler wegen seines Vaters nun als Schlesier werten muß. Da Winckelmann somit dem Osten entstammt, wählt Nadler den Ausweg, daß der Altertumsforscher als erster von der Kunstsammlung in Dresden zum Interesse an der Antike „erweckt“ worden sei, seine Entwicklung stamme aber eigentlich nicht aus —————— 141 Vgl. z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 271 und 1923/2 S. 412 sowie 1918, S. 180 und 1924 S. 219.
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seiner Geburtslandschaft.142 Doch die Willkür Nadlers hinsichtlich der Annahme des „Festwachsens“ in einer anderen als der Abstammungslandschaft und der Gewichtung einzelner Ahnen ist immer noch oftmals festzustellen.143 In seinen Formulierungen zum Aufgehen eines Dichters in einer anderen Landschaft ist der Literaturhistoriker allerdings moderater geworden.144 Auf die Ebene des Stammeskonzepts hat die Einführung des Grundprinzips der Völkermischung keinen Einfluß, die Theorien zu Herausbildung und Eigenschaften der deutschen Stämme behalten von der ersten zur zweiten Auflage ihre Gültigkeit. Verschärft wurde durch die Abstimmung der „Literaturgeschichte“ auf die Mischung von Völkern allerdings das Problem der unklaren Begriffsverwendung der Termini „Stamm“, „Volk“ und letztlich auch „Rasse“. Zunächst läßt sich feststellen, daß „Volk“ den Begriff der „Nation“ ersetzt hat und „Volk“ somit den Überbegriff für zusammengehörige Stämme darstellt.145 Wie schon zuvor in der ersten Auflage trennt Nadler im Lauftext nicht präzise zwischen „Stamm“ und „Volk“, auch einzelne Stämme werden mitunter als Volk bezeichnet.146 Zusätzliche Verwirrung entsteht in diesem Zusammenhang dadurch, daß etwa „sächsisches Volk“ sowohl den gesamten Stamm der Sachsen als auch eine „bodenständige“ Unterschicht in Absetzung von der gebildeten sächsischen Oberschicht benennen kann. Die Verwendung des Rassenbegriffs bei Nadler ist noch unklarer als jener des Volkes, denn er wird sowohl auf einzelne Familien angewendet,147 wie auch auf den —————— 142 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 486 und 488; zur abweichenden Wertung vgl. ebd. 1913, S. 361. 143 So schließt Nadler etwa bei der Herkunft Heinrich von Mügelns von dessen Bildung auf den Geburtsort: „Denn auch er wird seine gelehrte Bildung der Klosterschule St. Afra verdanken...“; Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 107. Den Humanisten Matthaeus Lupinius Calidomius siedelt er aufgrund dessen Verbindung mit anderen Humanisten im fränkisch-gallischen Grenzgebiet an; ebd. S. 214. Ein besonders bezeichnender Fall ist Rainer M. Rilke, an dessen Kärntner Adel Nadler nicht „glaubt“, dafür aber an „Tropfen slavischen Blutes“ und eine jüdische Mutter; ebd. 1928, S. 891. 144 So ändert Nadler etwa den in 4.3.2. zitierten Vergleich der Stammestümer mit Öl, Feuer und Wasser (Nadler: Literaturgeschichte 1913, S. 188) in ein schlichtes „Das ist kein Beweis gegen die Lebenskraft des Stammestums, sondern der beste, der sich für seine Wirkungen finden läßt.“; ebd. 1923/1, S. 506. 145 Dies läßt sich etwa dadurch illustrieren, daß Nadler beispielsweise zwischen einer „völkisch“ und einer „stammestümlich“ gerichteten Deutschkunde unterscheidet; Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 331. 146 So trennt Nadler vier sächsische Gaue aus landschaftlichen, aber auch „völkischen“ Gründen, also wegen der unterschiedlicher Mischung der Sachsen, die aber in nur germanische Stämme und keine anderen Völker umfaßte. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 12f. 147 Die Familie der Arndts sei eine „schöne Rasse“ gewesen; Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 436.
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Verband der Neustämme,148 auf Territorien149 und nicht zuletzt auf das Judentum. Damit bezeichnet auch „Rasse“ nichts anderes als eine Abstammungseinheit, allerdings unbestimmten Umfangs. An allen diesen Beispielen zeigt sich ein Dilemma der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in ihrer Begründung auf der Lorenzschen Genealogie: dasselbe Prinzip – jenes der gesetzmäßigen Neigung zur Ebenbürtigkeit und des Ahnenverlusts – das Nadler sein Ausgehen von überzeitlichen und unwandelbaren Stammeseigenschaften ermöglicht, läßt sich auf die Genese von Völkern und Rassen gleichermaßen anwenden. Und Nadler selbst tut dies zumindest auf der Ebene der Völker auch in expliziter Weise. Denn eine Absetzung der „deutschen“ Stämme bzw. eines deutschen Volkes von anderen Völkern mit germanischen Anteilen läuft in der „Literaturgeschichte“ nunmehr über unterschiedliche Mischungsverhältnisse und damit über das Aufrechnen von Ahnen bzw. Ahnenverlusten. So trennt der Literaturhistoriker den fränkischen Stammesverband in weniger stark mit Romanen durchsetzte, den deutschen Stämmen sich angliedernde Franken und stärker mit Romanen gemischte Gallofranken, die im folglich als romanisch aufzufassenden Frankreich aufgehen.150 Auch jene Angelsachsen, welche die britischen Inseln erobert hatten, werden aufgrund ihrer Mischung mit römisch gewordenen Kelten von den ungemischten Festlandsachsen differenziert, wenn auch hier die germanischen Anteile überwiegen sollen und der Austausch mit dem sächsischen (und letztlich deutschen) Festland somit auf gleicher – germanischer – völkischer Grundlage erfolgt sei.151 Dieses Postulat völkischer Mischungsverhältnisse ermöglicht es Nadler aber auch, eine mit seinem Grundkonzept im Einklang stehende „Erklärung“ für seine Favorisierung englischer und weitgehende Ablehnung französischer Einflüsse als „romanisch“ zu bieten, wobei letztere folglich mit germanisch-deutschem Denken und Handeln nicht vereinbar zu denken sein sollen. In ähnlicher Weise integriert Nadler die höfisch-ritterliche Dichtung, die im französischen Raum ihre Anfänge nahm, als Eigenbesitz in die geistigen Bestände der Deutschen: die höfische Dichtung sei aus der Provence hervorgegangen, wo „...eine Auslese der edelsten germanischen Stämme ihr Blut [...] einge—————— 148 Die Romantik sei das Zeugnis dafür, „daß die Neustämme eine Rasse geworden waren“; Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 7; gleichlautend 1918, S. 9. 149 In Estland habe alles „geschlossene Eigenart und Rasse“ gehabt; Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 43. 150 Vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 92 und 1923/2, S. 8. Diese Verhältnisse wirken in der „Literaturgeschichte“ bis in die Zeit der napoleonischen Kriege nach, wo Nadler den Rheinbund auf die alten gemeinfränkischen Zusammenhänge zurückführt. 151 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 13 und S. 16.
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mischt“152 hätte, womit auch diese Dichtung als den Deutschen auf völkischer Grundlage adäquat dargestellt wird. Der Literaturhistoriker stellt damit in der zweiten Auflage seines Hauptwerks das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der deutschen Stämme in ihrer Entwicklung zum immer höheren Nationalbewußtsein sowie zur Nationalliteratur und das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der europäischen Staaten auf die gleiche konzeptuelle Grundlage – nämlich Mischungs- und Abstammungsverhältnisse. Doch er zahlt damit den Preis einer relativen Aufweichung seines Stammeskonzepts. Relativ, weil die Einführung der völkischen Kategorien auf die Darstellung der Stammesgenese, -charaktere und der Epochenzuordnung keine Auswirkung hatten, aber durchaus eine Aufweichung, da der „Stamm“ mit dem „Volk“ zunehmend verschwimmt. Indem Nadler das Volk in genau derselben Weise als Abstammungseinheit faßt wie den Stamm – er bezeichnet sogar die Familie als „völkische Urzelle“153 –, entsteht ein Bild von den drei Ebenen Volk, Stamm und Familie, die sich jeweils über eine eingeschränkte Zahl von Ahnen definieren, aber letztlich untereinander kein anderes Differenzierungsmerkmal zulassen als die Größe ihres Verbandes bzw. die konkrete Zahl der zu berücksichtigenden Vorfahren (die bei den größeren Einheiten Stamm und Volk nicht in absoluten Zahlen festzuhalten ist). Unklar bleibt ihr Verhältnis zueinander hinsichtlich ihrer Eigenschaften: wegen der Begründung von Verbänden auf dem Ebenbürtigkeitsprinzip läßt sich kaum argumentieren, in welchem Verhältnis die spezifischen Eigenschaften eines Volkes, auf welche seine Einheit sich gründet, zu den spezifischen Eigenschaften eines Stammes oder einer Sippe eben dieses Volkes stehen sollen. Wird davon ausgegangen, daß das gesamte Volk einige wenige Eigenschaften teilt und die Stämme zusätzlich unterschiedliche „Sondereigenschaften“ tragen, die sie durch Mischung, also durch eine Vermehrung der Ahnenzahl erworben haben, gefährdet dieser Vorgang, selbst wenn er als vorübergehend und durch anschließende Ahnenverluste wieder auszugleichen gedacht wird, das Konzept der „Eindeutschung“. Denn fremde Zuschüsse an Blut – und charakterliche Eigenschaften werden bei Nadler ja immer an körperliche Eigenschaften gebunden – würden auf diese Weise nie ohne Rückstände der eingemischten Eigenschaften „eingedeutscht“ werden können. Damit gäbe es aber kein „Deutschtum“ sondern allenfalls „Deutschtümer“, was zwar Nadlers Stammeskonzept entsprechen würde, aber bei stetiger Fortführung des Vorgang (der in der „Literaturgeschich—————— 152 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 113. 153 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 832.
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te“ durchaus vorgesehen ist) zu immer stärkerer Ausdifferenzierung anstatt zu einem einheitlichen Nationalgefühl führen würde. Wird umgekehrt davon ausgegangen, daß jeder deutsche Stamm aufgrund des Ebenbürtigkeitsprinzips bestimmte Eigenschaften eines hypothetischen germanischen Urvolks in besonderer Ausprägung auf sich versammelt haben soll, die nun in ihrer Gesamtheit wieder die Eigenschaften des deutschen Volkes ausmachen, könnten die Grenzen um die „deutschen“ Stämme nicht mehr mit Hilfe von allen Stämmen gemeinsamen Eigenschaften gezogen werden, womit jedes Kriterium für die Feststellung einer Zusammengehörigkeit fehlen würde. Dieses Argument zählt vor allem angesichts der Tatsache, daß Nadler in der Anwendung des stammeskundlichen Prinzips schließlich mehr die Differenzen zwischen den Stämmen als ihre Gemeinsamkeiten betonen muß. Nicht zuletzt durch diese Unschärfen (die auch auf Nadlers Rassenbegriff zutreffen) treten die Stämme im Vergleich zu den völkischen Aspekten stark zurück. Ohne die aus der ersten Auflage gewonnene Analyse des Stammes als Abstammungseinheit im Hintergrund, dessen Grundkonzept im Vergleich als unverändert erkannt wurde, erscheint der Aspekt der Völkermischung als allein bestimmendes Prinzip. Dieser Eindruck wird zusätzlich gefördert durch die von Nadler nunmehr bevorzugten Bezeichnungen „Mutterland“ und „Siedelgebiet“154 anstelle von „Altstämme“ und „Neustämme“. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit wiederum stärker auf die beiden großen, in kultureller Prägung und Völkermischung unterschiedlichen Räume gerichtet als auf ihre einzelnen Glieder – obwohl die Gliederung des Textes der zweiten Auflage der stammlichen Gruppierung weit systematischer folgt als die zwischen 1912 und 1918 erschienene Fassung. So hat etwa vor allem der Raum der Altstämme im Vergleich zur ersten Auflage deutlich an Einheitlichkeit gewonnen. Der fränkischalamannische Antagonismus ist zwar nicht verschwunden, aber bei weitem nicht mehr so zentral, weil er in die „römisch-deutsche Lebenseinheit“ eingespannt wird. Diese Vordergründigkeit der Völkermischung hat aber nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Abgrenzung zwischen „Volk“ und „Stamm“ auf das Gesamtkonzept nur wenig Auswirkung. Sie wird aber in Bezug auf einen anderen Aspekt noch augenfälliger, nämlich hinsichtlich unerwünschter Völkermischung.
—————— 154 Möglicherweise zielt Nadler hier auf einen „Wiedererkennungseffekt“ aus den Sprachwissenschaften ab, da etwa Kauffmann dieselbe Terminologie verwendet.
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6.2.4. Antisemitismus In Nadlers Konzept der Literaturgeschichtsschreibung auf der Grundlage von Völkermischungen werden auch jene Menschen eingespannt, die der Literaturhistoriker ungeachtet seiner sonstigen unklaren Terminologie im semantischen Bereich von Volk und Rasse immer als eine von Germanen, Slaven und Romanen zu trennende Einheit betrachtete und bezeichnete: Angehörige der jüdischen Religion und deren konvertierte Nachkommen. Schon in der ersten Auflage, besonders in Band 3 1918 handelte Nadler die Frage der Judenemanzipation in einer Weise ab, die nicht daran zweifeln läßt, daß jüdisches Bekenntnis und Zugehörigkeit zum „jüdischen Volk“ oder zur „jüdischen Nation“ in der „Literaturgeschichte“ von Anfang an auseinandergehalten werden, wobei das Bekenntnis sich ablegen läßt – ganz im Gegensatz zur „völkischen“ Zugehörigkeit. Die Beteiligung von Juden an der romantischen Bewegung führt Nadler in diesem Zusammenhang darauf zurück, daß diese „wenigstens“ im Geiste deutsch werden wollten, wobei die Wortwahl bereits impliziert, daß ein darüber hinausgehendes „Deutsch-Werden“ unmöglich sei.155 Daraus folgt im Rahmen des Nadlerschen Konzepts logischerweise, daß ein „Eindeutschen“ der Juden nur durch Mischung mit Deutschen denkbar wäre. Und obwohl Nadler die geistige Aneignung deutschen Bildungsgutes durch Juden neutral bis positiv beurteilt,156 bedeutet dies für Einzelpersonen, daß selbst diese geistige Aneignung auf Grenzen stoßen müsse, die ihre Ursache in fehlenden körperlichen Grundlagen hätte. Das Postulat des Literaturhistorikers, daß im östlichen Siedelland erst die Körper hätten „deutsch“ werden müssen, damit auch der Geist es werden könnte, gilt schließlich immer auch für Individuen. Nicht umsonst rechnet Nadler für einzelne Dichter deren nicht aus deutschsprachigen Ländern stammende Ahnen heraus. Wo aufgrund der Ahnenverhältnisse der Körper eines Menschen als nicht „deutsch“ genug erachtet wird – wofür Nadler keinerlei Kriterien zur Verfügung hat – so wirkt sich dies in der „Literaturgeschichte“ immer auf die Dichtung des Betreffenden aus. Dieser werden immer auch Anteile anderer Nationalliteraturen zugeschrieben und sie soll inhaltlich nicht selten von ihrem Volkstum entwurzelten Menschen handeln. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Nadlers Darstellung des aus Frankreich stammenden Adalbert von Chamisso.157 —————— 155 Nadler: Literaturgeschichte 1918, z. B. S. 167f, Zitat S. 175. 156 Vgl. Nadlers Einschätzung von Moses Mendelsohn, dem zugeschrieben wird, daß sein Schrifttum „...den Juden, der in der romantischen Kultur deutsch werden wollte, wie die Siedelvölker wahrhaft deutsch wurden, für die Romantik vorbereitete.“ Nadler: Literaturgeschichte 1918, S. 167f und wörtlich ident 1923/2, S. 496f. 157 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 460-463.
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Nadler deutet den verlorenen Schatten in Chamissos „Peter Schlemihl“ als Verlust dessen, „was den stärksten Schatten wirft“ – Volkstum, Glaube, Familie – und als Gestaltung des eigenen Schicksals durch den Dichter. Da Chamisso aber „so glatt“ „im deutschen Geiste aufgehen“ konnte, vermutet Nadler germanische Ahnen, auch aufgrund seines Aussehens. Die Behandlung von Dichtern mit jüdischen Vorfahren unterschied sich in der ersten Auflage und in den ersten drei Bänden der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ letztlich nicht von Nadlers Einschätzung von Schriftstellern mit z. B. französischen oder slavischen Vorfahren. Je nach Sympathie mit den dargestellten Personen werden die Anteile der jeweiligen Ahnen eingeschätzt und bewertet. Dies gilt hinsichtlich der Darstellung von Individuen auch noch für Band 4 1928. So kann Nadler in diesem etwa die „Wahrheit“ der jüdischen Dorfgeschichten Julius Jakob Davids würdigen, in denen „...Seelenlage, Tonfall, Stimmung der geprüften und gemarterten Rasse naturgewaltig durchbrachen“; während Prag in Rilke und später in Werfel „...die schöne und tiefe, die würdige deutschjüdische Literatur hervorgebracht...“ habe.158 Doch wird in diesem abschließenden Band schließlich ein Antisemitismus Nadlers manifest, der sich eng mit der Ablehnung von Demokratie, Sozialismus und anderer dem Literaturhistoriker widerstrebenden Entwicklungen verbindet. Aus der in der „Literaturgeschichte“ geltenden Annahme, daß „Eindeutschung“ eines Volkes nur durch die Mischung mit Deutschen bzw. präziser: die Einmischung in deutsches Volk möglich sei, konstruiert Nadler aus geschichtlichen und völkischen Aspekten eine „Tragik des Judentums“. Zunächst skizziert der Literaturhistoriker neben dem römischdeutschen und dem deutsch-slavischen „Blutwechsel“ einen dritten, schon seit Jahrhunderten laufenden völkischen Vorgang, nämlich „Lebensvorgänge zwischen dem jüdischen Gast und dem deutschen Wirt.“159 Wie viel „jüdisches Blut“ in den „deutschen Körper“ eingegangen sei, ließe sich nicht feststellen, doch „[w]esentlich kann es nur dort sein, wo der Jude sich durch die Taufe der völkischen Aufsicht [!] entzog und staatsbürgerliche Rechte annahm.“160 Von einer religiösen und staatsbürgerlichen Frage zu einer völkischen und tragischen sei dieser Vorgang allerdings erst geworden, als einerseits die Juden den Willen entwickelt hätten, deutsch zu werden – was eben nur durch körperliche Einmischung in das deutsche Volk möglich gewesen wäre – und andererseits die Deutschen „mit dem Aufstieg des deutschvölkischen Selbstbewußtseins“ ihrem „Willen zur Reinheit“ Ausdruck zu verleihen begonnen hätten. Ohne „Störung ihres —————— 158 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 882 bzw. S. 895. 159 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 7-10, Zitat von S. 7. 160 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 7.
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Selbstgefühls“ hätten die Deutschen sich mit romanisch gewordenen Kelten und mit Slaven vermischt, [a]ber in beiden Fällen war der Deutsche stärker, in beiden Fällen war er auf Verwandte getroffen. [...] Erst dieses gesteigerte deutsche Volksgefühl empfand den Zusammenstoß des Willens zur Reinheit mit dem Schicksalszwange der Vermischung als tragisch.161
Nadler teilt offensichtlich die dem deutschen Volk ab 1814 zugeschriebene Ablehnung dieses Willens der Juden zum „Deutsch-Werden“. Seine Darstellung von jüdischen Schriftstellern – das Adelsprädikat „Dichter“ bekommen sie nur noch selten – wird zunehmend ablehnender. Bezeichnenderweise schlägt sich die von Nadler selbst in der „Literaturgeschichte“ beschriebene Tendenz der Deutschen zum Ausschluß der Juden sogar bezüglich der räumlichen Anordnung nieder. So werden die drei „rheinischen Juden“ Ludwig Börne, Heinrich Heine und Karl Marx nicht in den entsprechenden Abschnitten zum Rheinland behandelt, ja nicht einmal erwähnt, sondern nach Paris delogiert.162 Dieses Bild einer Delogierung ist gewählt worden, um gleichermaßen den erzwungenen Ortswechsel dieser drei Männer aus ihren zeitgenössischen Umständen heraus und ihre Ausgrenzung aus dem deutschen Sprach- und Literaturraum durch Nadler auszudrücken. Nadlers Tendenz, mit seinen Ansichten nicht konform gehende Personen in dieser Weise auszugrenzen, wird im besonderen Fall des Judentums noch durch seine Bezeichnung der Juden als „heimatlose Rasse“ verstärkt, die durch seine Darstellungsweise zusätzliche Berechtigung zu erhalten scheint.163 In der selben Weise, wie der Literaturhistoriker Dichter mit von seinen Ansichten abweichendem Gedankengut außerhalb des deutschen Sprachraums lokalisiert, verfährt er auch mit den Denkströmungen, für die jene Literaten in seinem Werk stehen. Die Stadt Paris der Jahre 18141848 ist in der „Literaturgeschichte“ Synonym für „Gesellschaftsumsturz“, der von der französischen Revolution 1789 abgekoppelt und durch die Namen Babeuf, Saint-Simon, Proudhon und nicht zuletzt Marx als sozialistisch bzw. kommunistisch konnotiert wird. Doch obwohl diese Bewegungen in Paris verortet werden, schreibt Nadler nur den in der „deutschen Binnenstadt von Paris“164 Lebenden Einfluß auf die Vorgänge in Deutschland zu – wohl gemäß seinem Motto, daß ein Raum nur von jenen Bedingnissen beeinflußt werden könne, die auf seinem Boden entstanden seien: „Alles, was in einem bestimmten Raum geschieht, hat seine —————— 161 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 9. 162 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 48-66. 163 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 57; vgl. dazu auch Nadlers Beschreibung von Paul Heyses Werken als „Kunst des Halbjuden“ „ohne innere Heimat“; ebd. S. 460. 164 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 55.
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Ursachen in den Bedingnissen desselben Raumes. [...] Einflüsse ähnlicher Ereignisse aufeinander sind nur dadurch möglich, daß sie ungleichzeitig aus ihren zugehörigen ähnlichen Ursachen aufschießen, das ältere Ereignis sonach das jüngere fördern kann.“165 Mit diesen Ausführungen lehnt Nadler englische und französische Einflüsse auf die ostdeutsche Aufklärung ab, diese Stellungnahme gilt aber auch für andere Bewegungen. Durch die Versammlung dreier jüdischer bzw. aus Familien mit jüdischem Bekenntnis stammender Literaten und Denker in Paris und die gleichzeitige Verortung sozialistischer und kommunistischer Strömungen ebendort erfolgt in der „Literaturgeschichte“ in letzter Konsequenz die implizite Gleichsetzung von Sozialismus und Judentum, wobei der Ort selbst gewissermaßen die Möglichkeit für diese Kombination gewährleistet, denn mit Paris „...sammeln sich die geistigen Führer des Judentums in jener Stadt, von der noch jeder Anschlag auf das Dasein des deutschen Volkes ausgegangen ist, und betreiben aus diesem sichern Versteck die Zerstörung der geschichtlichen Seelenlage ihres Wirtsvolkes...“166 Die französische Hauptstadt wird somit zum gegen das deutsche Volk gerichteten Raum, in dem sich jene sammeln, die aus völkischen Motiven den geschichtlichen Ablauf, wie er sich für Nadler gestalten soll, stören wollen.167 An dieser Stelle findet sich somit ein weiteres Mal die für die „Literaturgeschichte“ so charakteristische Verbindung von Raum und Abstammung zur Konstruktion einer geschichtlichen Lage, die bestimmte Konsequenzen impliziert – im konkreten Fall soll die Konstruktion den räumlichen Ausschluß der Juden aus dem „deutschen Volkskörper“ legitimieren, da sie diesem in Nadlers Augen zu schaden drohen sowie die Ablehnung des Sozialismus, der als nicht dem deutschen Volk entsprechende politische Theorie konnotiert wird. Diese konstruierte Tragik des Judentums unter den Deutschen wird allerdings unlogisch durch die ebenfalls im selben Band dargestellte „Renaissance des völkischen Judentums“: „Die von Europa gefährdeten Westjuden erneuern sich durch die Ostjuden am alten und mittelalterlichen Judentum.“168 Diese „Renaissance“ stellt Nadler zwar in den Zusammenhang einer allgemeinen Wendung zum Morgenland (unter sorgfältiger Trennung zwischen „arischem“ und „semitischem“ Morgenland),169 doch eine Klärung des Verhältnisses zwischen jener Bewegung des Juden—————— 165 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 388. 166 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 64. 167 In gleicher Weise bindet Nadler einen Großteil des gleichgerichteten Journalismus an Vertreter des Judentums, wie auch die Kommerzialisierung der Literatur. Nadler: Literaturgeschichte 1928, z. B. S. 156, 596f, 672, 675. 168 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 111, ähnlich S. 10. 169 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 10, 172.
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tums, welche die Juden im deutschen Volk aufgehen sehen wollte und jener der völkischen Erneuerung des Judentums bleibt die „Literaturgeschichte“ schuldig. Deutlich ist nur, daß beide Vorgänge in Nadlers Auffassung dem deutschen Volk schaden, womit hier ein weiteres Mal die innere Stimmigkeit des Werks den nichtwissenschaftlichen Intentionen und Ansichten des Literaturhistorikers preisgegeben wird. Neben der Gleichsetzung von Judentum und sozialistischen Bewegungen bedient sich Nadler weiterer gebräuchlicher antisemitischer Stereotype. So beschreibt er eine durch den „inneren Tonfall“ ausgedrückte „jüdische Geisteshaltung“, die das „rassische Antlitz“ deutlich als von Selbstgefühl, Eitelkeit und Hang zu Pathos geprägt zeige. An anderem Ort soll eine solche Geisteshaltung durch halbe Worte, gewaltsame Beziehungen und Widersprüche gekennzeichnet sein.170 Deutlich wird auch, daß Nadler Juden im allgemeinen des Opportunismus bezichtigt, da er sie etwa als Nutznießer und Verstärker der Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen in Prag zeichnet. Hier spielen wohl seine eigene Prager Erfahrungen zur Studentenzeit eine erhebliche Rolle.171 Ähnlich äußerte sich Nadler August Sauer gegenüber: Aber da die Deutschen in Böhmen der Meinung sind, die Menge, nicht die Qualität mache es aus u. da sie also für Wahlen u. Volkszählungen jede „deutsche“ Stimme brauchen, so wird die Judenfrage in Böhmen nie eine ehrliche Lösung finden.172
Auch in weiteren Briefen an August Sauer finden sich Bemerkungen, die Nadlers Antisemitismus dokumentieren. Werden Gelehrte, die dem jüdischen Bekenntnis angehören, von Nadler erwähnt, spielt stets auch die Frage ihres Glaubens – oder für den Literaturhistoriker eben: ihrer völkischen Zugehörigkeit – eine Rolle. Nadler fügt etwa an die Erzählung, der Dichter Leo Sternberg habe ihm seine Dichtungen angeboten, wenn er in den dritten Band der „Literaturgeschichte“ aufgenommen würde, die Bemerkung an: „Er ist allerdings Jude. Denn sein Bild in einem Aufsatz (Holografie) läßt darüber kaum einen Zweifel.“173 Josef Körner, um dessen Habilitation es Konflikte mit August Sauer an der Prager Deutschen Universität gegeben hatte und aus dessen Hand eine vernichtende Kritik an der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ stammt, wird generell als „Juden—————— 170 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 58, 135, 138, 205. 171 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 889. Vgl. auch 2.5.2. 172 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-388, Freiburg 28. 2. 1921. Cohen hat gezeigt, daß das deutsche Bürgertum in Prag in Rücksichtnahme auf ihre jüdischen Standesangehörigen antisemitische Strömungen zurückzudrängen suchte, die vor allem von aus den Grenzländern stammenden Deutschböhmen getragen wurden. Cohen: The Politics of Ethnic Survival, bes. S. 177. 173 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-148, Freiburg 24. 5. 1913.
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junge“ bezeichnet.174 Und auch an anderen Stellen ist die Tendenz Nadlers festzustellen, seine Kritiker dem Judentum zuordnen zu wollen: Heilborn hat mein Romantikbuch, das heißt mehr mich, im lit.[erarischen] Echo gemein verrissen. Ganz persönlich. Nicht die Spur eines sachlichen Einwandes. Ich wäre ein kranker Mann, schreibt er. Ist Heilborn ein Jude? Mir tuts gar nicht weh. 175
Nadler selbst sah sich allerdings nicht als Antisemit und wollte auch nicht mit dem Antisemitismus in Verbindung gebracht werden, obwohl er sich der Gefahr, aufgrund seiner Schriften in diese Reihen eingeordnet zu werden, offensichtlich bewußt war.176 Doch auch im Zusammenhang mit Nadlers Ablehnung des Judentums läßt sich feststellen, daß er sich in Sympathie und Antipathie weitgehend von persönlichen Motiven leiten ließ, nämlich letztlich von der Aufnahme seiner eigenen Arbeit. So ist das jüdische Bekenntnis von Sauers Schüler Georg Stefansky für Nadler kein Thema, wohl weil dieser aus der gleichen Richtung der Literaturwissenschaft kam wie er selbst. Nur an einer Stelle nimmt Nadler ausführlicher auf Stefanskys Zugehörigkeit zum Judentum Bezug, nämlich als dieser überlegte, sich im Rahmen seiner Bemühungen um Habilitation taufen zu lassen. Diese Sätze seien hier zitiert, da sie illustrieren, wie sehr Nadlers in der „Literaturgeschichte“ ausgeführten Anschauungen auch für seine Auffassung seiner unmittelbaren Gegenwart gelten: Nach meiner Meinung müßten Sie St.[Stefanskys] Habilitierungsangelegenheit in Prag bis zur klaren Entscheidung ausfechten. Sie sind das sich selber schuldig. Was die Habilitierung in Berlin oder anderswo im Reiche anbelangt, so glaube ich nicht, daß St. sich taufen lassen muß. Gewiß sind an den Hochschulen die Deutschnationalen in der Mehrheit. Aber im Allgemeinen ringen beide großen Gruppen Rechts u. Links so ziemlich in gleicher Stärke miteinander. Wenn St. die Sache mir selber erzählt hätte, so würde ich ihm folgendes sagen. Sie dürfen sich jetzt auf keinen Fall taufen lassen, wenn es nur aus Opportunität geschieht. Man muß die Folgen tragen. Ich habe sie auch getragen in Zeiten wo es gar nicht rentabel war, Katholik zu sein. Ich habe aus der Abwehr der anderen gegen mich die stärksten Antriebe geschöpft, mich nun justament in Respekt zu setzen. Sie dürfen das weder tragisch noch sentimental nehmen sondern als ein neutrales Faktum, das heute so wie morgen so gewertet wird. Eine andere Sache ist es, ob St. um diese Entscheidung überhaupt herumkommen wird. Die Judenfrage ist heute ganz etwas anderes als vor 20 Jahren. Die Juden selber haben heute diese Entscheidung über jeden der ihrigen, weil sie sich nun als Volk unter Völkern auch
—————— 174 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-317, Freiburg 25. 4. 1918, 415/1-363, Freiburg 8. 12. 1919. 175 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-397, Düdingen 8. 9. 1921. 176 „Es wäre mir das ärgste, wenn man mich irgendwie mit dem Antisemitismus in Beziehung setzte. Solche Gefahr wittere ich weniger von den Judenfreunden als vielmehr von den Judengegnern. Ich werde im 3. Band sehr feine Grenzen beachten müssen.“ ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-138, Freiburg 5. 2. 1913.
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nach außen hin fühlen. Mit dem Zwittertum ist es jetzt vorbei. Entweder muß man Jude oder Abendländer sein wollen. Im letzteren Falle ist eine religiöse Umstellung unerläßlich, weil das Israelitentum ein Hauptmoment des jüdischen Volkstums ist. Christ u. dabei nationaler Jude kann man ebensowenig mehr sein als Deutscher „mosaischen Bekenntnisses“. Niemals dürfte St. aber diese Frage unter dem Gesichtswinkel seiner Laufbahn sehen.177
Damit ist in aller Deutlichkeit nochmals festgehalten, daß die Religion zwar kulturelles „Hauptmoment“ des Judentums sei, aber Juden von Nadler als einer eigenen Abstammungseinheit zugehörig aufgefaßt werden. Umso interessanter sind die Ausführungen des Literaturhistorikers über die „drei möglichen Lösungen der Judenfrage“, die in Wien jeweils von Juden selbst gelebt oder vorgedacht worden seien.178 Dort ist der Ausdruck „Lösung“ zwar auf die Sicht der Juden auf sich selbst bezogen und nicht in erster Linie als Stellungnahme Nadlers dazu aufzufassen, doch im Gesamtkontext der „Literaturgeschichte“ bleibt kaum ein Zweifel daran, welchen Weg der Literaturhistoriker für den besten gehalten hätte. Denn den religiösen Weg, die Taufe und die Gründung der Literatur auf dem Religiösen, wie Siegfried Lipiner dies versucht habe, schließt Nadler als Lösung für das gesamte jüdische Volk als unmöglich aus, ebenso den (bildungs)bürgerlichen Weg zum deutschen Volk, den Jakob Wassermann beschritten habe. Zur „jüdisch-völkischen Lösung“ des Zionismus eines Theodor Herzl gibt Nadler keinen wertenden Kommentar ab, doch diese Möglichkeit ist als einzige nicht zuvor ausgeschlossen worden und würde die in der „Literaturgeschichte“ postulierte „Tragik“ des jüdischen Volkes sowohl für die Juden als auch für die Deutschen aufheben. Damit heißt Nadlers Lösung allerdings: Delogierung aller Juden aus dem von ihm als „deutsch“ gefaßten Siedelgebiet. 6.2.5. Kleindeutsche und großdeutsche Lösung Die in der ersten Auflage noch unbehandelte Zeit zwischen 1814 und 1914 umfaßt Band vier. Sein zentrales Thema ist der „deutsche Staat“, wie sein Titel bereits verdeutlicht. Dieser Band ist aus mehreren Gründen von besonderem Interesse: zunächst hat er eine lange, von politischen Umwälzungen geprägte Entstehungsgeschichte, in deren Zeitraum nicht zuletzt von die von Nadler so verehrte Großmacht Österreich-Ungarn zerfallen und Österreich als Kleinstaat zurückgeblieben war. Der Sonderrolle, die dem Land von Anfang an in der „Literaturgeschichte“ eingeräumt wurde, tut dies allerdings keinen Abbruch. Die Abschnitte, die Österreich über —————— 177 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-464, Königsberg 14. 6. 1925. 178 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 914-916.
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seine Landschaft schon seit der frühesten Besiedlung der „bairischen Ostmark“ die Sendung eines großen Oststaates zuschreiben, sind praktisch unverändert in die zweite Auflage eingegangen – etwa das hierfür zentrale Kapitel, das die Nadlersche Deutung des Nibelungenlieds enthält, nun umbenannt in „Das österreichische Volk“.179 Nicht zuletzt färbt auch die besondere Rolle der Habsburger, die bereits behandelt wurde, auf die Bedeutung ihres zentralen Territorialbesitzes ab und die teleologische Ausrichtung auf die zukünftige Größe dieses Staats wird auch bei der Beschreibung ihres Regierungsantrittes deutlich, da Nadlers Deutung der mit „Seifried Helbling“ betitelten Scheltgedichte über österreichische Zustände lautet: „Hier hadert der erste Kleinösterreicher mit dem künftigen Großstaat...“180 In den neuen Kapiteln des dritten und vierten Bandes der neuen Auflage wird allerdings Österreich in seiner Sonderrolle immer mehr zum heldenhaften Opfer der Politik der übrigen deutschen Länder stilisiert. So schreibt Nadler der Habsburgermonarchie das Hauptverdienst an der Abwehr der Franzosen in den Revolutionsjahren und napoleonischen Kriegen zu: Preußen war nicht stark genug für seine östlichen zugleich und seine westlichen Pflichten oder wollte es nicht sein. [...] Österreich mit seinem geringen Anteil am deutschen Volk und Land blieb als Sachwalter Deutschlands und Vorkämpfer Europas auf den Schlachtfeldern zurück.181
An anderer Stelle spricht Nadler vom „...verschacherten, verratenen, bei zwanzigjährigem Ringen im Stich gelassenen Österreich.“182 Die napoleonischen Kriege erscheinen insgesamt als entscheidender Wendepunkt im Verhältnis zwischen Habsburgermonarchie und den übrigen deutschen Ländern. So habe der „entfesselte Volksstaat Frankreich“ mit seinem „Grundsatz des sinnlosen Gleichmachens“ den deutschen Kaiser gezwungen, zugunsten einer steten Entwicklung seines „werdenden Völkerstaates“, der offensichtlich bei Nadler das „österreichische Selbst“ verkörpert, als Franz I. ein österreichisches Kaisertum auszurufen.183 Nachdem Napoleon sein Kaisertum mit der Eroberung Italiens wie vor ihm Karl der Große auf das germanische Oberitalien gestützt hätte, habe Franz die weströmische Kaiserkrone niederlegen müssen und als Konsequenz die „östliche Sendung Österreichs“ in den Vordergrund ge—————— 179 Nadler. Literaturgeschichte 1923/1, S. 165-174. 180 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 229. Die Dichtungen seien aus Klage darüber entstanden, daß unter den Habsburgern anders als zuvor unter den Babenbergern Österreich zunächst nur Zugabe zu alamannischem Hausbesitz gewesen sei. 181 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 191. 182 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 525. Der Satz bezieht sich auf das Jahr 1813. 183 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 532.
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stellt: „Napoleon zwang den Staat der Habsburger zu werden, was er seit 1526 war: eine außerdeutsche Großmacht.“184 Nadler gründet den Status des Habsburgerstaates als außerdeutsche Großmacht demnach auf den Besitz großer Gebiete mit mehrheitlich nicht deutschsprachiger Bevölkerung, ohne für andere deutsche Staaten entsprechenden Territorialbesitz in der gleichen Weise aufzurechnen – etwa die polnischen Territorien Preußens. Die Erklärung der Habsburgermonarchie zum außerdeutschen Staat in der „Literaturgeschichte“ ist insofern unlogisch, als Nadler diese Einschätzung nicht konsequent auf die Behandlung der groß- oder kleindeutschen Lösung überträgt. Zwar führt er einerseits aus, daß die geistige Auseinandersetzung des Mutterlandes mit dem Siedelgebiet durch den Ausschluß Österreichs vereinfacht worden sei,185 doch andererseits wird der Vielvölkerstaat keineswegs aus der das Gesamtkonzept umspannenden Teleologie des anwachsenden deutschen Nationalbewußtseins ausgenommen. Die Vorgänge in Österreich und den übrigen deutschen Ländern werden immer aufeinander bezogen und sogar für die gleiche Zeit, in die Nadler zuvor das Ausreifen des Habsburgerstaates zu einer außerdeutschen Großmacht gestellt hatte, wird Österreich als Klammer über die Fuge zwischen den zwar geistig ausgeglichenen, aber von unterschiedlichen politischen Kräften (Frankreich bzw. Rußland) beeinflußten beiden Sphären Deutschlands dargestellt.186 Ebenso inkonsequent ist es, wenn der Literaturhistoriker Österreich als Opfer sowohl des großdeutschen romantischen Staatsgedankens als auch der kleindeutschen Lösung darstellt. Im ersteren Fall war es laut Nadler das Verhängnis der Habsburgermonarchie, sich vom romantischen großdeutschen Staatsgedanken wieder von der eigenen, durch das österreichische Kaisertum Ausdruck gewordenen „Ostaufgabe“ ablenken zu lassen. Durch den Kampf an der Seite Preußens habe man zwar Deutschland gerettet, aber sich selbst vernichtet.187 In zweiterem Fall habe Deutschland Österreich preisgegeben, bzw. die kleindeutsche Lösung hätte Österreich die Rückendeckung genommen und zum Völkerstaat
—————— 184 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 532. Unter „außerdeutsche Staaten“ hatte Nadler Österreich schon bei der Darstellung Brandenburgs im 17. Jh. gereiht: Preußen hätte einen großen Teil des Siedelraums erst außerdeutschen Staaten abringen müssen, nämlich Polen, Schweden und den Habsburgern; ebd. 1923/2, S. 376. 185 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 11. 186 „Denn Österreich mit seiner römischen Vergangenheit und slavischen Zukunft in seinen slavischen Völkern war als Klammer über die Fuge gespannt.“ Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 570. 187 Nadler: Literaturgeschichte 1924, S. 538.
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gezwungen188 – was angesichts Nadlers früherer Ausführungen zur Habsburgermonarchie als außerdeutschen Völkerstaat in Widerspruch steht. Doch gerade für die Jahre von 1806 bis 1866 ist Nadlers Darstellung Österreichs in seinem Verhältnis zu den übrigen deutschen Staaten widersprüchlich. Für die Zeit des Habsburgerstaates als „außerdeutscher Großstaat“ bleiben, die Ausführungen des Literaturhistorikers zusammengenommen, lediglich die Jahre von 1806 bis 1813, denn zwischen 1814 und 1866 sei Österreich wiederum nach Nadlers Aussage deutsche Vormacht und Vorkämpfer des deutschen Bundesgedankens gewesen.189 Allerdings war Österreich in der „Literaturgeschichte“nach dem Wiener Kongreß gleichzeitig ein „...selbständiger Völkerstaat und ergriff Besitz von Recht und Siegespreis, Sachwalter und Sprecher Europas zu sein“,190 was kaum mit der zuvor behaupteten Vernichtung durch die Teilnahme an den Kriegen gegen Napoleon zusammenstimmt. An einer anderen Stelle führt Nadler wiederum aus, Österreich sei nach dem Verlust Schlesiens und dem Verzicht auf Bayern kein deutscher Staat mehr gewesen, da man gleichzeitig Einzelvölker durch die Aufarbeitung ihrer nationalen Vergangenheit zu erwecken und der deutschen Vormacht zu dienen suchte.191 In all diesen unterschiedlichen Stellungnahmen zu Österreich zeigt sich Nadlers Schwanken zwischen mehreren Intentionen: zunächst ist ihm daran gelegen, Österreich innerhalb des deutschen Gefüges einen Sonderstatus zuzuschreiben, um es von allen anderen deutschen Ländern bzw. Stämmen – so unterschiedlich diese wiederum sein mögen – abzusetzen. Gleichzeitig soll Österreich die führende Rolle über die übrigen deutschen Länder zugesprochen werden, was mit dem Sonderstatus als Staat mit eigenen Aufgaben und Zielen nur bedingt vereinbar ist. Und zuletzt wird trotz aller Betonung des österreichischen Sonderstatus vor allem im vierten Band deutlich, daß Nadler die kleindeutsche Lösung als fehlerhafte Entwicklung auffaßte. In diesem Zusammenhang ist es angesichts von Nadlers in Abschnitt 4.4.3.1. zitierten Bekenntnissen zur Habsburgermonarchie möglich, daß er das Zustandekommen der kleindeutschen Lösung im 19. Jahrhundert erst durch den Zerfall Österreich-Ungarns 1918 in dieser Weise negativ einschätzte und er, der einer Angliederung Österreichs an Deutschland nach Kriegsende nicht dezidiert ablehnend entgegenstand, aus der Sicht des nunmehrigen Kleinstaates rückblickend einen Einschluß ins Deutsche Reich im Rahmen der großdeutschen Lösung als wünschenswerter be—————— 188 Vgl. dazu den Grundlagenabschnitt von Buch 20 „Die Rechnung“: Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 803-805 und ebd. S. 869. 189 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 377. 190 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 409. 191 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 436.
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trachtete als zuvor aus der Sicht der österreichisch-ungarischen Großmacht. Weil die „Literaturgeschichte“ noch nicht so weit fortgeschritten war, ist leider nicht nachvollziehbar, wie Nadler die Frage der klein- oder großdeutschen Lösung vor 1918 dargestellt hätte. Freilich darf jedoch nicht das der „Literaturgeschichte“ zugrundeliegende Konzept des wachsenden deutschen Nationalbewußtseins vergessen werden, an dessen Ende idealerweise eine Einigung aller Deutschen in einem Staat stehen müßte. So kann nicht ausgeschlossen werden, daß Nadlers Idealbild eine großdeutsche Lösung unter Einschluß bzw. Führung Österreich-Ungarns gewesen wäre, doch begibt man sich hier in den Bereich der Spekulation. Allein Indizien dafür, daß der Literaturhistoriker in seinen persönlichen politischen Ansichten einen Staat unter Einschluß aller Deutschen zumindest nach 1918 begrüßt hätte, lassen sich finden. So kommentiert Nadler etwa das Eintreten des Braunschweigers Hermann von Orges für einen alle deutschen Stämme umschließenden, bis zur Donaumündung reichenden mitteleuropäischen Staat mit: „Aber wer konnte 1859 diese furchtbare Pflicht den deutschen Reichsapfelschälern klar machen.“192 Weiters läßt sich anhand von Nadlers Darstellung einzelner Redner vor dem Paulskirchenparlament die Tendenz feststellen, proösterreichisch eingestellten Abgeordneten größere Redekunst zuzugestehen als für die Vorherrschaft Preußens Plädierenden. Beispielsweise hebt Nadler das Eintreten Ludwig Uhlands für eine großdeutsche Lösung besonders hervor, während Karl Welcker, der für die Übertragung der erblichenen Kaiserwürde an die Hohenzollern sprach, attestiert wird, ein „schlechter Redner“ gewesen zu sein.193 Die Bewertung der literarischen Qualität dient Nadler hier letztlich als Vorwand für die Beurteilung der politischen Absichten. In einem Brief an Sauer, der von den Deutschen in Böhmen, das heißt nunmehr in der Tschechoslowakei handelt, schrieb Nadler weiters: Kein Volk kann vernichtet werden, das nicht vernichtet werden will. Machen sich denn Ihre Politiker nie klar, was das bedeutet: als deutsche Minderheit in einem volksfremden Staate wirken zu dürfen. Ich sehe die Dinge nicht vom Standpunkte der Deutschen in Böhmen sondern des Gesamtvolkes. Die Lehre einer 1000jährigen Geschichte können wir Eintagswesen nicht widerlegen. Hätte ich nur Zeit u. ein Blatt [Zeitung], ich wollte den Leuten das in den Kopf hämmern: eure Aufgabe ist es, diese Staaten, die ein Instrument gegen das deutschen Volk sein sollen, zu einem neuen Aufbau Mitteleuropas bereit zu machen. Wenn das Vaterhaus bankrott ist, darf man doch den Söhnen nicht raten: geht heim u. streckt die Füße unter den leeren Tisch des Vaters. Man muß ihnen sagen: raus in die Welt, tummelt euch, macht dem Vater Luft. Aus dem gleichen Grunde, aus dem ich sage: die deutschen Schüler dürfen nicht aus Prag fort, aus dem sagte ich,
—————— 192 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 627. 193 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 367f, 371.
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was in der Allgemeinen deutschen Zeitung stand. Gerade weil ich großdeutsch denke, rate ich so!194
Allerdings bleibt unklar, wie dieser neue Aufbau Mitteleuropas aussehen solle und weiters muß „großdeutsches Denken“ nicht zwingend einen einzelnen deutschen Nationalstaat zum Ziel haben. Dies gilt umso mehr, als an kaum einer Stelle in der „Literaturgeschichte“ oder in anderen Dokumenten ein Hinweis dafür gefunden werden kann, daß Nadler an einen möglichen staatlichen Zusammenschluß der Schweiz mit Deutschland gedacht hätte, obwohl er die Eidgenossenschaft sehr wohl in die gesamte geistig-literarische Entwicklung der Deutschen einordnet. Auch Österreich wird geistig-literarisch in den großen Zusammenhang einordnet, so schreibt Nadler an Sauer, er werde im vierten Band ...das Entstehen des Naturalismus im Bairischen seinem ganzen Umfange nach wenigstens andeuten. [...] Daß diese wahren Verhältnisse in den großen LiteraturGeschichten gar nicht erkannt werden, liegt zum Teil in der unlogischen Gliederung. Man behandelte die Entwicklung im Reich als etwas Ganzes u. für sich Abgeschlossenes u. hängte die „Österreicher“ so nebenbei an. Daher figurieren Rosegger u. Anzengruber hinter den Brüdern Hart usw. als „Österreicher“ statt vor den Berliner Naturalisten u. im Zusammenhange der Gesamtentwicklung.195
An diesem Problemkomplex zeigt sich jedenfalls, auf welche Weise das Zeitgeschehen politische Wertungen und Ansichten innerhalb der „Literaturgeschichte“ beeinflussen konnte. Die Darstellung von Österreichs Konkurrenten um die Vormacht unter den deutschen Ländern, Preußen, weicht von der ersten Auflage nicht ab. Die im Band von 1918 festzustellende Parallelisierung der Mark Brandenburg mit der Donaumark ist zwar in gleichem Wortlaut vorhanden,196 verliert jedoch durch die neue Anordnung der Abschnitte, die in der zweiten Auflage nicht mehr hintereinander, sondern in unterschiedlichen Bänden stehen, stark an Vordergründigkeit. Weiterhin deutlich ist allerdings Nadlers Intention, Preußen als mehr mitteldeutsch denn sächsisch geprägt darzustellen.197 Damit werden diesem Staat zwar immer noch die Einigung der Neustämme unter gemeinsame Herrschaft und der entscheidende Anteil an der romantischen Bewegung zugeschrieben, doch Preußen wird nach wie vor in die Sonderentwicklung der Sachsen, die schließlich zum geeinten (klein)deutschen Staat geführt habe, nur indirekt eingeschlossen. Für die Zeit vor dem romantischen Abschluß wird Preußen allerdings an mehreren Stellen als eher hinderlich für denselben beschrieben; so habe der Staat durch seine Stützung auf Aufklärung und seinen Willen zum —————— 194 195 196 197
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-440, Düdingen 25. 1. 1924. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-411, Düdingen 5. 2. 1922. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 66f. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 119-127 und 270f.
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Umsturz – was beides mit französischem Einfluß in Verbindung gebracht wird – den romantischen Vorgang aufgehalten.198 In demselben Zusammenhang finden sich auch die Bezüge auf die ständige Zuwanderung aus anderen Staaten und Landschaften nach Berlin, welcher die Stadt immer wieder „völkisch umgeschmolzen“ habe.199 Erst 1806 habe dieser Staat mit der Niederlage gegen Napoleon ein Ende gefunden und der romantische, auf die Wiedergeburt aus dem Mutterland gerichtete Staatsgedanke sei zur Auswirkung gekommen.200 Die kleindeutsche Lösung wird, obwohl laut „Literaturgeschichte“ den entscheidenden Schritt zur Staatsgründung nur der „unverbrauchte Stamm“ der Sachsen hätte machen können, gleichzeitig Preußen zugeschrieben. Nadler bezeichnet nämlich das Deutsche Reich von 1871 als „Gipfel und Umschwung Preußens“, aber gleichzeitig als „keine Schöpfung Deutschlands“, da sie gegen den Widerstand des bairischen Raums durchgeführt worden sei.201 Da der Literaturhistoriker Österreich als das Opfer der kleindeutschen Lösung darstellt, während dessen Gegenspieler Preußen als Hauptverantwortlicher für ein Deutsches Reich ohne die Habsburgermonarchie genannt wird, tritt Nadlers gleichbleibende Ablehnung der Vorherrschaft Preußens deutlich hervor: „Mit dem Machtgerät des [...] preußischen Staates verwirklichen sächsische Junker den deutschen Staatsgedanken des sächsisch-ostmitteldeutschen Bürgertums, in dem sie Dank der rheinischen Stellung Preußens die umgestimmte oberdeutsche Volksbewegung [Restauration] auffangen, die baierischösterreichische Reichsidee zerstören, den widerstrebenden baierischen Volkskörper spalten und seinen störenden Kulturbestand ausscheiden.“202 Tendenziell wird diese Ablehnung bereits in früheren Passagen vorbereitet, indem Nadler der Mark Brandenburg schon über die vor den Hohenzollern herrschenden Askaniern die Sendung der Einigung des ostdeutschen Siedellandes zuschreibt. Diesem „askanischen Urberuf“, dessen Sendung auf die preußische Krone übergegangen sei, ist es in der „Literaturgeschichte“ folgerichtig nicht entsprechend, wenn Preußen sich um Territorialbesitz im und um Einfluß auf den südwestdeutschen Raum —————— 198 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 446, 498. An anderer Stelle heißt es allerdings zu Preußen, das von allen Seiten in seinem „völkischen Wesen bedrängte“ ostdeutsche Siedelgebiet hätte „...keinen besseren Staat finden [können] als einen, der unbelastet von geschichtlichen Verhältnissen sich nur an das eine hielt: Not kennt kein Gebot.“ Ebd. 1923/2, S. 378. 199 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 178. 200 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 468f. 201 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 501, 504. 202 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 618, sa. 1924 S. 190.
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bemüht.203 Zwar habe sich der „Beruf Preußens“ im Laufe der Zeit auf die Schöpfung „des“ deutschen Staats ausgerichtet,204 doch Preußen hätte sich diesen Status erst durch die Aneignung von Kulturgehalten – nicht zuletzt durch den Einfluß des Territorialbesitzes im Rheinland – verdienen müssen.205 Er liege weder in der Landschaft noch in der „Sendung“ der Hohenzollern und somit in keiner der beiden von Nadler am wichtigsten erachteten Kriterien. Und auch diese Aneignung wird für Preußen nicht nur positiv gezeichnet, weil nach dem erreichten Ziel der deutschen Staatsgründung rheinisch-demokratische Einflüsse, die Nadler in vorangehenden Kapiteln keineswegs wohlwollend behandelt hatte, auf Berlin übergegriffen hätten.206 Nadlers aus der ersten Auflage bekannte Tendenz, Preußens Ansprüche auf die Vorherrschaft über die deutschen Länder zu relativieren, bleibt somit erhalten. 6.2.6. Konfessionen Nadlers Bewußtsein, als katholischer Autor in einem katholischen Verlag in konfessioneller Hinsicht äußerst exponiert zu sein, bewog ihn zu dem Vorhaben, die Darstellung des Verhältnisses zwischen Katholizismus und Protestantismus in den deutschen Stämmen und Landschaften den evangelischen Konfessionen annehmbarer zu gestalten. An August Sauer schrieb er etwa: „Mit der Neuauflage sind allen denen goldene Brücken gebaut, die es [das Werk, die „Literaturgeschichte“] aus konfessionellen Gründen ablehnten u. nun eine Sinnesänderung mit der verbesserten Gestalt begründen können.“207 Dies bedeutet allerdings keineswegs, daß Nadler nun eine Gleichstellung zwischen Katholizismus und Protestantismus vorgenommen hätte. Immer noch ist die ungebrochene Treue der Baiern zum Katholizismus sein Idealbild einer „naturgemäßen“ Entwicklung in religiöser und kultureller Hinsicht und nach wie vor werden in der „Literaturgeschichte“ Romantik und Restauration als Hin- bzw. Rückwendung zum deutschen Erbe mit der Hinwendung zum katholischen Bekenntnis verbunden.208 Und auch die Deutung des Protestantismus als —————— 203 Zu den Askaniern siehe Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 66f, weiters zur Sendung Brandenburgs bzw. Preußens ebd. S. 376, direktes Zitat ebd. 1924, S. 189. 204 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 80, 216f. 205 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 3, 282. 206 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 659f. 207 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-381, Pürstein 29. 12. 1920. Mit dieser Äußerung stehen auch Nadlers Überlegungen zu einem Verlegerwechsel in Zusammenhang, vgl. 6.2. 208 Vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 145, 366, 487, ebd. 1928, S. 73, 388.
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Bruch einer einheitlichen Entwicklung und damit als Ursache für den Verlust geistiger und literarischer Bestände wird kaum gemildert.209 Eine ausgewogenere Darstellung von Reformation und Protestantismus scheint sich in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ zunächst durch Ergänzungen zu ergeben. So schenkt Nadler nun nicht nur protestantischen Literaten aus den vornehmlich katholischen bairischen Gebieten seine Aufmerksamkeit,210 sondern hebt auch die einseitige Beschränkung der Kirchenbewegung auf das Luthertum auf, indem die neu eingeführten Abschnitte zur Eidgenossenschaft auch die Entstehung des helvetischen Bekenntnisses durch Zwingli abdecken.211 Dadurch löst sich auch tendenziell die in der ersten Auflage zu verzeichnende Festlegung der Reformation auf das Gebiet zwischen Erfurt, Erzgebirge und Wittenberg, womit gleichzeitig die Nahestellung der sozialen Umwälzungen im Erzgebirge zur Reformation gelockert wird, obwohl der einschlägige Abschnitt bis auf einzelne Ausdrücke unverändert in die zweite Auflage eingeht.212 Jedoch hat die moderatere Darstellung der zwinglischen Kirchenbewegung, der zwar Überlieferungsfeindlichkeit unterstellt und Konfliktpotential zwischen den eidgenössischen Städten angelastet wird, die aber keine nachhaltige Schädigung der geistigen Entwicklung zugeschrieben erhält, keineswegs eine Aufwertung des Luthertums im Vergleich zur ersten Auflage zur Folge. Neben den Leistungen der kaiserlichen Kanzleien für die deutsche Schriftsprache wird nun zusätzlich das zeitliche Primat der alamannischen Bibel vor Luthers Bibelübersetzung betont.213 Und während das zwinglische Bekenntnis aus dem „innersten Wesen humanistischer Denkweise“214 erwachsen sei – und also in der römisch-deutschen
—————— 209 So sei der „überlieferungsfeindliche Sinn der Kirchenbewegung“ schädlich für den Erhalt der alten dramatischen Spielformen gewesen. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 316. Vgl. auch ebd. S. 145. 210 z. B.: Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 439-446. In Band 4, im Abschnitt „Baierische Ostmark“, ist die diesbezügliche Darstellung nicht mehr so neutral, spricht Nadler doch von „nicht auszutilgendem Protestantentum“, das zu „meutern“ beginne und die Glaubenseinheit zersetze. Ebd. 1928, S. 896. 211 Vgl. Abschnitt „Die eidgenössischen Städte“, Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 298317. 212 „Zwickau und Joachimstal“ erscheint in der zweiten Auflage als „Das Erzgebirge“ in Band 2; Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 229-240. Auch Wittenberg wird mit dem großteils neu verfaßten Abschnitt „Wittenberg und Magdeburg“ (ebd. S. 161-177) dem Bereich der Neustämme zugeordnet. Die Aufhebung des Dreiecks Erfurt-Erzgebirge-Wittenberg drückt sich somit auch in der Bandeinteilung aus. 213 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 301. 214 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 278.
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Lebenseinheit wurzele – wäre Luther nicht vom Humanismus, sondern von der Scholastik ausgegangen.215 Der Gegensatz zwischen Scholastik und Humanismus ist in der „Literaturgeschichte“ nun jener zwischen denkmäßig-begrifflicher und sprachlich-geschichtlicher Arbeitsweise in der Wissenschaft.216 Wie bereits wiederholt zu dokumentieren war, favorisierte Nadler in der eigenen wissenschaftlichen Auffassung wie innerhalb seines Werks die sprachlichgeschichtliche Vorgehensweise und unter diesen Vorzeichen ist die Einordnung Luthers in scholastische Traditionen augenfällig. Die Scholastik wird in der „Literaturgeschichte“ zwar nicht generell als hemmende Kraft aufgefaßt und auch ausdrücklich als Fortsetzung des römisch-deutschen Zusammenhangs mit anderen Mitteln bezeichnet,217 doch zur Zeit des aufkommenden Humanismus verliert dieser auf das 14. Jahrhundert gemünzte Befund zweifach an Geltung. Zunächst hat die Scholastik nach Nadlers Auffassung zu diesem Zeitpunkt ihre „Aufgabe“ – die Gliederung der antiken Überlieferungsmasse – erfüllt und somit die Grundlagen für den nächsten Schritt, den Humanismus, geschaffen. Außerdem ist der Humanismus als weitere Stufe auf dem Weg zur Vollendung der römischdeutschen Lebenseinheit in der Klassik in Nadlers teleologischem Konzept eine Notwendigkeit, der sich kein Angehöriger der südwestdeutschen Stämme entziehen dürfte. Wenn Luther diesen Schritt nicht mitvollzieht und aus den scholastischen Wurzeln stattdessen eine neue Konfession generiert, so tritt er aus dem Entwicklungszusammenhang der Altstämme heraus und sein Bekenntnis wird als dem südwestdeutschen Raum nicht entsprechend, als „ungeschichtlich“ und überlieferungsfeindlich gekennzeichnet.218 Diese in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ eingeführte Einordnung Luthers in scholastische Traditionen hat somit auf den ersten Blick keine Auswirkung auf die bisherige Bewertung der Reformation. Allerdings gilt diese neu eingeführte Begründung der negativen Auffassung der lutherischen Kirchenbewegung in erster Linie für den südwestlichen Raum mit seiner Prägung durch die römisch-deutsche Lebenseinheit. Und tatsächlich findet sich in der „Literaturgeschichte“ ein für die östlichen Stämme positiver Aspekt der Reformation: sie habe eine Erleichte—————— 215 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 337. 216 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 181, 336; ebd. 1923/2 S. 165-169. 217 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 181. Überdies seien in die Kunstlehre des Barock auch scholastische Elemente eingegangen; ebd. S. 402. 218 Überlieferungsfeindlichkeit wirft Nadler explizit „der Kirchenbewegung“ vor (z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 316, 1923/2, S. 145) , aber nicht Luther selbst; zu ihm heißt es auch, er habe die Scholastik durch Mystik überwunden (ebd. 1923/2, S. 166), womit er sich in eine Tradition einordnet.
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rung des Zusammenschlusses der Neustämme zu einer einheitlichen Kultur bedeutet,219 was nicht zuletzt durch die Ausscheidung von dem Osten nicht entsprechenden römisch-antiken Elementen ermöglicht worden sei. Diese wohlwollende Einschätzung des Protestantismus wird jedoch umgehend dadurch relativiert, daß er – obwohl die Reformation gemeinsame Berührungspunkte zwischen Alt- und Neustämmen gebracht habe – durch die Preisgabe zentraler geistiger Bestände des 12. bis 14. Jahrhunderts den Nacherwerb jenes altdeutschen Erbes durch die östlichen Stämme beträchtlich verzögert habe. Nadler spannt nun also auch die Konfessionsfrage in die zweigeteilte deutsche Entwicklung zwischen römisch-deutscher und deutsch-slavischer Lebenseinheit ein. Auch die Einordnung Luthers in die Scholastik erhält ihren Sinn in diesem Rahmen. Durch jene Konstruktion gelingt es Nadler nämlich, das Luthertum auf den östlichen Stämmen entsprechende geistige Grundlagen zurückgehen zu lassen, da deren Einigung untereinander in der „Literaturgeschichte“ wesentlich auf „ungeschichtliche Neuschöpfungen“ zurückgeführt wird, wie sie aus denkmäßig-begrifflichen Denkweisen hervorgehen würden. Während also das Luthertum auf dem Gebiet der südwestdeutschen Stämme generell als jeder geschichtlichen Grundlage entbehrender und damit unadäquater geistiger Bestand mit rein negativen Auswirkungen gewissermaßen keinen Boden hat, wird es als den Neustämmen gemäß beschrieben. Doch neben ungeschichtlichen Neuschöpfungen der östlichen Stämme – als weitere Beispiele wären hier Gottscheds Entwurf einer Nationalliteratur und die gemeinsame mitteldeutsche Literatursprache des Siedelgebiets im Osten anzuführen – kennt die „Literaturgeschichte“ als Gegensatz dazu das Streben des Siedellandes nach dem Erbe des Mutterlandes. Und diese gegensätzliche Strömung ist Nadlers entscheidender Beweggrund dafür, den Neustämmen das Luthertum zuzuordnen. Denn im weiteren teleologischen Verlauf der „Literaturgeschichte“ wird dieses Bekenntnis zu einem jener geistigen Bestände stilisiert, die mit dem Nacherwerb des altdeutschen Erbes durch das Siedelgebiet im Osten obsolet werden. Indem Nadler Luthers Lehre auf denkmäßig-begriffliche Grundlagen zurückführt und ihren Geltungsbereich auf diese Weise räumlich auf die östlichen Stämme beschränkt, scheidet sie konzeptuell in dem Moment aus der deutschen Entwicklung aus, in welchem das Siedelland seine Neuschöpfungen zugunsten des geistigen Erbes der Altstämme, dem nur der Katholizismus entspricht, aufgibt. Die positivere Beurteilung der protestantischen Konfession(en) betrifft demnach allein Zwinglis Lehren wegen ihrer Wurzeln im Humanis—————— 219 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 143-148, 488.
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mus und auf die Eidgenossenschaft, worin sich die bereits beobachtete Aufwertung der Schweiz bzw. der Alamannen über die Zuschreibung des Humanismus an diesen (Teil)Stamm fortsetzt. Das Luthertum stellt in der „Literaturgeschichte“ nach wie vor einen Bruch für die Altstämme dar, der zwar für den Augenblick den Neustämmen Nutzen bringen konnte, aber in der Folge auf dem Weg zum einheitlichen Nationalbewußtsein der Deutschen zu überwinden gewesen sei. Im allgemeinen ist also wenig von einer „goldenen Brücke“ für Protestanten zur besseren Aufnahme der „Literaturgeschichte“ zu bemerken. Das Luthertum fügt sich jedoch in seiner Beurteilung als den Altstämmen keinesfalls gemäß und den Neustämmen mit zeitlicher Beschränkung entsprechend stimmig in Nadlers Konzept der beiden unterschiedlichen deutschen Lebenseinheiten ein. Er gibt dem lutherischen Protestantismus eine völkische Grundlage, da er der deutsch-slavischen Lebenseinheit als zumindest teilweise förderndes Element zugeordnet wird, und generiert auf diese Weise gleichzeitig ein Szenario zur Aufhebung der Kirchenspaltung, die durch die Reformation eingeleitet wurde. Denn zum deutschen Erbe, nach dessen Nacherwerb die östlichen Stämme in der Romantik nach ihrer „Eindeutschung“ streben würden, gehört eben nicht zuletzt das katholische Bekenntnis. Die Aufhebung der durch Völkermischung und kulturräumlich begründeten Differenzen zwischen den beiden Lebenseinheiten – die auch nach 1800 in der „Literaturgeschichte“ als laufender und nicht als abgeschlossener Vorgang zu denken ist – impliziert in der „Literaturgeschichte“ die gleichzeitige Aufhebung der konfessionellen Trennung, wobei am Endpunkt der Katholizismus steht.220 Die „goldene Brücke“, die Nadler den Protestanten tatsächlich baut, ist also eine zum katholischen Bekenntnis. Dasselbe Prinzip wendet Nadler auch bei seiner Propagierung der Verwendung der oberdeutschen, „alten Dichtersprache“ anstelle der „Arbeitssprache des Siedellandes“ – das dem Südwesten „aufgezwungene“ Neuhochdeutsch – an.221 Auch dieses Neuhochdeutsch ist ein geistiger Bestand des östlichen Siedellandes, dem mit Romantik und Restauration großer Bedeutungsverlust attestiert werden soll. So heißt es etwa zum Mundartdichter Johann Peter Hebel: „Jenes Alamannisch, Dichtersprache der höfischen Bildung des Mittelalters, Sprache der beredtesten und tiefsinnigsten Mystik, die Spra—————— 220 Hier ist wiederum auf Nadlers Tendenz, Restauration und Romantik auch als Rückkehr zum Katholizismus zu beschreiben, hinzuweisen, z. B. „Die katholische Kultur Altmünchens bis 1848 war eine Stufe in der rheinischen Erneuerung des religiösen Lebens.“ Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 388. Weiters sei in Rom eine neue (bildende) Kunst entstanden, die „...Kunst der völkischen Wiedererhebung und Rückkehr zum päpstlichen Rom.“ Ebd. S. 73. 221 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 729.
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che des kraftvoll handelnden städtischen Bürgertums, die Sprache der großen oberdeutschen Zeitbücher, die Sprache Zwinglis und der Sittenprediger beider Kirchen, die von der Schriftsprache enterbte, von Bodmer zu heilsamem Flusse jüngst aufgebohrte Mundart war wieder zur Sprache eines großen Dichters und so wahrhaftig wieder Dichtersprache geworden.“222 6.2.7. Konsequenzen der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung So prominent die Einführung der Völkermischung als strukturierendes Prinzip der „Literaturgeschichte“ in der zweiten Auflage auch erscheinen mag, sie hat kaum modifizierende Auswirkungen auf Inhalt und Implikationen des Werks. Ihre vornehmlichste Aufgabe ist es, konzeptuelle Schwächen der ersten Fassung mittels eines einzelnen durchgehenden Argumentationsstrangs in ein System zu bringen und über größere Geschlossenheit weniger angreifbar zu machen. Mit der Annahme von aus unterschiedlichen Völkermischungen hervorgegangenen geistigen Renaissancebewegungen stellt Nadler den bisher nur über das Konzept der „Kulturflächen“ zu begründenden Raum der Klassik auf eine einheitliche konzeptuelle Grundlage mit der schon in der ersten Auflage auf Völkermischung beruhenden Romantik. Wie bereits bemerkt, ermöglicht ihm dies zusätzlich eine Aufwertung der geistigen Vorgänge im östlichen Siedelgebiet, da diese nun nicht mehr zeitverschoben Kulturstufen nachholen, sondern sich ihren eigenen Bedingungen und ihrem eigenen Rhythmus gemäß entfalten können. Gleichzeitig bleibt Nadler die Möglichkeit, ihm ungeliebte Entwicklungen (wie etwa die Aufklärung oder das Luthertum) auf eine noch nicht weit genug gediehene körperliche wie geistige Eindeutschung zurückzuführen, die mit dem Abschluß des romantischen Vorgang obsolet werden. Das Postulat eines kulturellen Primats des Südwestens wird auf diese Weise ebenfalls nicht gefährdet und gründet sich statt allein auf abgeschlossene und gelungene Stammwerdungen auf die bereits abgeschlossene Eindeutschung einer germanisch-romanisch-keltischen Mischung unter Aneignung einer bzw. geistige Wiedergeburt aus einer hochentwickelten Kultur. Die praktisch ohne Brüche oder auch nur umfassende Änderungen erfolgte Ausrichtung der „Literaturgeschichte“ auf das Prinzip der Mischung und anschließenden Vereinheitlichung von Völkern verwundert insofern —————— 222 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 329; ähnlich S. 224, 482 zur Rückkehr zur „bairischen Sprache“, S. 538.
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nicht, als es sich nicht um einen neuen, von außen aufzupfropfenden Aspekt handelt, sondern die Möglichkeit zu dieser Entwicklung letztlich in den Grundlagen Nadlers bereits angelegt war. Die Anwendung des Konzepts vom Ahnenverlust auf Völker anstelle auf Stämme ist in der genealogischen Richtung nach Ottokar Lorenz von Anfang an enthalten gewesen. Nadlers Unterscheidung von Natur- und Kulturvölkern aufgrund ihrer unterschiedlichen Raumgebundenheit stellt eine widerspruchsfreie Weiterentwicklung aus Ratzels Anthropogeographie dar. Von keiner der beiden Seiten wird somit Nadlers Konzept des abstammungsgebundenen Stammescharakters, der raumgebundene Volkstümer ausbildet, gefährdet. Es wird nur auf eine höhere Ebene gehoben: auf die Höhe eines abstammungsgebundenen Volkscharakters, dessen Kontinuität trotz der Annahme von Mischungen über die „Eindeutschung“ sichergestellt wird und der dennoch durch die Aneignung von Landschaft und der Vorprägung dieser Siedelräume ausdifferenziert werden kann. Allein die Lamprechts Kulturgeschichte entnommene Teleologie einer Entwicklung zur höchsten Ausbildung eines Nationalbewußtseins erfährt in diesem Zusammenhang eine tiefergreifende Umdeutung: der Weg zum wachsenden Nationalbewußtsein wird tendenziell ein Weg der Aufgabe bzw. Verhinderung weiterer Mischung mit anderen Völkern, wenn nicht gar einer durch Ahnenverlust zu denkenden „Reinigung“ von nicht oder nicht genügend „eingedeutschten“ Menschen. Dies ist einerseits faßbar an Nadlers Konstrukt einer Tragik des Judentums. Allerdings gilt der in Verbindung damit beschriebene Wille zur Reinerhaltung allein für Europa; in seiner Darstellung der Auswanderung in die USA wird etwa die Mischung Deutscher mit „Angelsachsen“ nicht negativ gezeichnet. Nach der Feststellung, die deutschen Auswanderer der dritten Generation würden kaum mehr deutsch dichten, heißt es beispielsweise: „Aber umso kräftiger und höher wird das umgeleitete deutsche Blut in den Schöpfungen dieses englisch redenden angelsächsischdeutschen Volkes aufsteigen.“223 Andererseits finden sich sehr deutliche Ausführungen im Abschnitt „Deutsche Mitte“. Im Weimarer Raum seien etwa seit der Romantik Rasse, Blut, Familie und Landschaft als wirkende Kräfte des Daseins und die Lebensvorgänge der Entartung, Wiedergeburt und Züchtung Gegenstand der Kunst geworden, die sich dadurch zur Kulturpolitik gewandelt habe.224 In Meißen sei gleichzeitig wissenschaftlich erschlossen worden, was in Ostfranken und Thüringen als „Not der Zeit“ erkannt worden sei: Erneuerung natürlicher Lebensverbände, volkhaftes Dasein der Gesellschaft, raumgebundene Stäte der Geschlechter. —————— 223 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 860. 224 Nadler: Literaturgeschichte 1928, Kapitel „Deutsche Mitte“ S. 635-651, Beispiel S. 645.
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Als Vertreter dieser Wissenschaft werden Rudolf Hildebrandt, Wilhelm Wundt, aber in für Nadler bezeichnender Weise auch Karl Lamprecht und Friedrich Ratzel genannt.225 Für die größere Einheitlichkeit innerhalb der „Literaturgeschichte“ aufgrund der Argumentation über jene durch Völkermischung bedingten geistigen Renaissancevorgänge zahlt Nadler allerdings auch einen Preis. Die beiden Sphären der römisch-deutschen und deutsch-slavischen Lebenseinheit gewinnen als Garanten einer stimmigen Entwicklung von Südwesten und Osten in so hohem Maß an Vordergründigkeit, daß die individuelle Rolle der einzelnen Stämme – die eigentliche Innovation der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in ihren Anfängen – deutlich an Farbe verlieren muß. Bei der Lektüre des gesamten, über 2000 Seiten umfassenden vierbändigen Werks ist die Dominanz der beiden „Lebenseinheiten“ im Vergleich zur hier geleisteten Analyse zwar nicht ganz so erdrückend. Nadlers Darstellung ist differenziert genug, um jedem Stamm aufgrund spezifischer Mischungs-, Siedlungs- und Herrschaftsverhältnisse ein eigenes Gesicht zu verleihen. Doch wer die „Literaturgeschichte“ nicht mit Konzentration auf eine bestimmte Region oder Landschaft, sondern als Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte liest, wird in erster Linie die zweigeteilte Entwicklung und ihre völkische Begründung in Erinnerung behalten. Dazu trägt außerdem bei, daß in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ Dynamik nicht mehr in erster Linie durch die spezifischen Stammescharaktere bzw. durch deren Aneignung einer neuen Landschaft entsteht, sondern durch den Ablauf jener auf Völkermischungen zurückgeführten geistigen Renaissancebewegungen. Aus diesem Grund verliert auch die der ersten Auflage des Werks inhärente ständige Ausweitung des Siedelgebiets der Deutschen als Voraussetzung für deren kulturelle Weiterentwicklung an Bedeutung, obwohl die Grundlagen für Entstehung und Erhaltung eines deutschen Volkstums dieselben geblieben sind.226 Die beiden unterschiedlichen Renaissancebewegungen beschränken sich auf relativ fest umgrenzte Räume und wirken somit statischer als der lockerer gestaltete Stammesverband der ersten Fassung. Obwohl Nadlers Konzept in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ in sich stimmiger aufgebaut ist, trägt es die Schwächen der ersten Fassung weiter, weil diese vor allem auf den theoretischen Voraussetzungen der stammeskundlichen Literarhistorie beruhen, die sich eben nur etwas verschoben, aber nicht änderten. So bleibt nach wie vor ungeklärt, —————— 225 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 649. 226 Immer noch beruht das Volkstum auf der Aneignung einer Landschaft durch einen (möglicherweise auf Mischung beruhenden) Stammescharakter.
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wie die Züge von Stammescharakteren zu gewinnen seien, während ein Volkscharakter der Deutschen zwar implizit behauptet, aber weder dessen Eigenschaften angeführt werden noch sein Verhältnis zu den Stammescharakteren thematisiert wird. Dieser letzte Aspekt ist umso problematischer, als er mit dem Konzept der „Eindeutschung“ in Verbindung steht. Da die „Eindeutschung“ bei Nadler zunächst körperlich (durch Ahnenverluste) vor sich gehen muß, bevor sie sich geistig auswirken kann und in der „Literaturgeschichte“ keine Berücksichtigung körperlicher Kriterien für „Deutschtum“ eingeführt ist, wäre als Maßstab für „Deutschtum“ nur die geistige Produktion heranzuziehen. Dies bedeutet einen in der deutschsprachigen Germanistik des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig anzutreffenden Umkehrschluß: das Schrifttum ist gleichzeitig Quelle und Maßstab für „Deutschtum“. Die Frage nach einem Nachweis für die körperliche „Eindeutschung“, die Garant für die gemeinsamen geistigen Eigenschaften sein soll, bleibt ebenso weiterhin aus dem Bereich der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung ausgeklammert, wie der Maßstab für geistiges „Deutschtum“ im Dunklen bleibt. Verstärkt wird dieser Aspekt zusätzlich, indem Nadler etwa in der „Berliner Romantik“ das Siedelvolk im Osten als neue völkische Einheit bezeichnet, die sich mit der Kultur des Mutterlandes eine „fremde“ Kultur aneigne, aber andererseits die Romantik als Vorgang der „Eindeutschung“ beschreibt. Deutlich ist nur, daß der Erwerb der deutschen Sprache nicht mit „Eindeutschung“ gleichzusetzen ist. Dadurch ergeben sich Berührungspunkte mit den von Nadler als Parallelerscheinungen betrachteten sprachwissenschaftlichen Ansätzen Feists oder Kauffmanns, die nicht zuletzt auch auf anthropogeographischen Grundlagen beruhen. Die Problematik des „Deutschtums“ ergibt sich in der zweiten Auflage nicht erst in Zusammenhang mit der „Eindeutschung“ der deutschslavischen Mischung im östlichen Siedelgebiet, sondern bereits mit der Abgrenzung der „deutschen“ von „germanischen“ Stämmen. Denn einerseits spricht Nadler von westgermanischen Stämmen, „...die auf römischem Boden zu Deutschen wurden, wiedergeboren aus dem Blut, dem Geist und der Sprache ihrer Vorbewohner“.227 Damit könnte angenommen werden, daß „Deutschtum“ nur den in der römisch-deutschen Lebenseinheit aufgehenden germanischen Stämmen zuzugestehen ist. Doch andererseits hätten die Sachsen „...im wesentlichen alle romfreien deutschen Völker zu einem staatlichen Ganzen zusammengeschlossen“,228 was diese Deutung ausschließt. Damit bleibt als einziger Anhaltspunkt für die Ab—————— 227 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 39. 228 Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 12. Hervorhebung IR.
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grenzung deutscher von germanischen Stämmen das Einwachsen der südwestdeutschen Stämme sowie der Sachsen in ihre endgültigen Siedelgebiete, was im Rahmen des stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung nichts anderes als den Zeitpunkt des Übergangs von einem Natur- zu einem Kulturvolk bezeichnet. Dies läßt sich in der „Literaturgeschichte“ genau verfolgen: die Anwendung der Bezeichnung „deutsch“ statt „germanisch“ auf die Altstämme läßt sich erstmals bei der Behandlung der Regierungszeit Karls des Großen verzeichnen, bleibt hier jedoch noch vereinzelt. Die völlige Ablösung von „germanisch“ durch „deutsch“ erfolgt mit dem Kapitel „Das neue deutsche Schrifttum“ und somit der Zeit um 1100, nachdem die ersten Stufen der „deutschen Wiedergeburt aus dem antiken Erbe“ vollendet gewesen seien.229 Damit wären die Deutschen das aus Stämmen des Naturvolks der Germanen hervorgegangene Kulturvolk, das mit anderen Kulturvölkern auf germanischer Grundlage – etwa auf den britischen Inseln oder in Skandinavien – alte verwandtschaftliche Zusammenhänge besitzt. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ Symmetrie und gemeinsamer Argumentationszusammenhang hergestellt werden: die gemeinsame Sprache thiodisk, die in der ersten Auflage noch maßgebliches Kriterium für die Abgrenzung der deutschen von den germanischen Stämmen war, vermag diese Rolle nicht mehr zu erfüllen, wenn die Übernahme der deutschen Sprache in den östlichen Siedelgebieten nicht in gleicher Weise als Indikator für „Deutschtum“ gelten kann. Das Konzept der Natur- und Kulturvölker schafft hier Abhilfe, die in der ersten Auflage noch nicht in derselben Form vorhanden war, obwohl es stark an das Verhältnis zwischen der Aneignung einer Landschaft und der Entstehung von Dichtung erinnert (vgl. Abschnitt 4.3.4.). Am augenfälligsten an dieser Konstruktion ist die unlösbare Integration des (katholischen) Christentums in das deutsche Erbe: indem aus den südwestgermanischen Stämmen erst nach bzw. während deren Verwachsen mit der romanisch-keltischen Bevölkerung und der Aufnahme antiker geistiger Bestände deutsche Stämme geworden seien, wird das Christentum weit fester als Bestände germanischer Religion an das altdeutsche Erbe gebunden (dessen Aneignung auch den östlichen Stämmen im Rahmen ihrer endgültigen, auch geistig vollzogenen „Eindeutschung“ obliegt). Folgerichtig nennt Nadler explizit als Grundbestände „unserer“ Kultur —————— 229 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, Kapitel „Das deutsche Schrifttum“ S. 62-85, Zitat S. 65.
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und „unseres“ Schrifttums – also der/des deutschen – „...antikes Erbe, christliches Gut und das Volkstum.“230 Dieser Befund wird auch nicht durch die Zuschreibung der für die staatliche Einigung der Deutschen entscheidenden Leistung an die Sachsen verändert, obwohl diese in der „Literaturgeschichte“ stets als „romfrei“ und „ungemischt“ beschrieben werden. Denn auch mit der Übernahme der Führung der Deutschen durch die Sachsen wird das antike Erbe rasch durch Nadler in den geistigen Bestand zurückgeholt: durch einen „rationalen sächsisch-nordischen Neuerwerb des antiken Lebens“, der zwar das katholische Christentum nicht explizit einschließt, aber bezeichnend genug im Abschnitt „Rom“ abgehandelt wird.231 Nicht zuletzt hätten sich die Sachsen ohnehin gleichzeitig mit den Neustämmen in der Romantik gemeinsam mit dem altdeutschen Erbe automatisch das katholische Christentum angeeignet und so in die nationalen geistigen Bestände integriert. Nadlers Ablösung der „deutschen“ von jenen germanischen Stämmen, die als ihre Ahnen angesehen wurden, läuft also über die Abgrenzung zwischen Natur- und Kulturzustand. Damit wird die synonyme Gleichsetzung von „deutsch“ und „germanisch“ unter der Vorstellung einer ungebrochenen Entwicklung eines germanischen Urzustands in den deutschen Nationalstaat, die von vielen Germanisten und Germanenforschern angenommen und vertreten wurde, in der „Literaturgeschichte“ nicht vorgenommen. Zwar muß die Entwicklung eines Naturvolks zu einem Kulturvolk nicht unbedingt als Bruch zu verstehen sein, doch bei Nadler ist dieser Entwicklung zumindest eine deutliche Zäsur eingesetzt: die Mischung der südwestdeutschen Germanenstämme mit Romanen und Kelten. Im stammeskundlich-völkischen Konzept hat erst diese Mischung, selbst wenn die Germanenstämme körperlich als „Sieger“ dargestellt werden und ihre Eigenschaften somit im Kulturzustand dieselben bleiben wie im Naturzustand, die geistige Absetzung von Religion und Kult eines Naturvolks zum Christentum vollzogen. Deutsche sind für Nadler immer Christen und der „Urzustand“ der Germanenstämme kann im Rahmen der „Literaturgeschichte“ damit kein Ideal- und Vorbild für die Gegenwart des Literaturhistorikers sein. Sein Ideal ist das „altdeutsche Erbe“ des Mittelalters zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert. Die stammeskundlichvölkische Literaturgeschichtsschreibung steht damit zumindest bis zum in diesem Abschnitt verfolgten Zeitpunkt von 1928 abseits von Germano—————— 230 Nadler: Literaturgeschichte 1923/1, S. 81. Dasselbe gilt bereits in der ersten Auflage. 231 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 67-78, direktes Zitat S. 69. Selbst wenn Nadler auf S. 68 von einer Aufspaltung zwischen christlichem und antikem Rom spricht, wird diese in seinen Ausführungen nicht nachvollzogen und zudem von einer „Rückkehr zum päpstlichen Rom“ in der Kunst konterkariert; S. 73.
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manie – wenn auch mit der Darstellung der Sachsen ein ungemischter Germanenstamm zu „Deutschen“ wird und in einer stärkeren Betonung dieses Stammes ein „Ausweg“ zur Germanomanie prinzipiell offen steht. Da in der „Literaturgeschichte“ Kultur in Orientierung an Ratzel immer die Auseinandersetzung mit der Umwelt zur Voraussetzung hat, erhält auch Nadlers Tendenz, das Bauerntum bzw. untere Volksschichten als gesunden Gegensatz zur kranken und krankmachenden Stadt zu fassen, eine besondere Note. Speziell die Großstadt ist für Nadler ein Ort der „Schrecknisse“, wohl nicht zuletzt aufgrund der dort konzentrierten Arbeiterschaft,232 aber auch, weil in Städten immer mehr Mischung mit Zugewanderten erfolgt sei. Dementsprechend sei Mundartdichtung als volksnahste Literaturform immer „Volksverteidigungsdichtung“.233 Doch durch Nadlers Konzept der Deutschen als aus dem Naturvolk der Germanen hervorgehendes Kulturvolk kann die Lebensweise der Bauern, wo die bairischen Künstler ihre Heimat entdeckt hätten, nur bedingt „das Leben nahe seinen Ursprüngen“ sein und auch nicht „den Menschen im Zustande vor der Kultur“ zeigen, wie Nadler selbst behauptet.234 Gerade dem seßhaften Bauern, der den unmittelbarsten Umgang mit der Umwelt pflegt, müßte im Rahmen von Nadlers Grundkonzept der erste Schritt zur Kultur als praktische wie geistige Aneignung einer Landschaft zukommen. Das Bauerntum wäre damit zwar der Ursprung der Kultur, aber nicht Repräsentant eines Urzustandes, wie er einem Naturvolk zukommen würde. Auch Nadlers vor allem im vierten Band hervortretende Propagierung einer Hinwendung zum „gesunden“ Bauern- und Volkstum bedeutet somit die Rückkehr zu einem Idealzustand, der nicht mehr einem Naturvolk, sondern bereits einem Kulturvolk entspricht. Die Bindung von Kultur an die Natur, die Nadler schon in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ in seiner spezifischen Weise vorgenommen hat, ermöglicht dem Literaturhistoriker zwar eine physisch-anthropologische Begründung der unwandelbaren Stammes- und Volkscharaktere, doch gleichzeitig kann in seinem Konzept die Rückkehr zu einem Urzustand immer nur die Rückkehr zu einem frühen Kulturzustand sein, da das Merkmal eines Naturvolks bei Nadler sein Nomadentum ist, während Kultur Seßhaftigkeit voraussetzt. In jedem Fall läßt sich feststellen, daß die Einführung der Völkermischung und der daraus hervorgehenden Renaissancebewegungen als all—————— 232 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 669. 233 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 874. 234 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 378f. Hervorhebung IR. Aus den „unverbrauchten Kräften“ des bairischen Waldbauerntums sei überdies „die gemeindeutsche Kunst“ durch „Bauernblut“ „aufgefrischt“ worden und der Naturalismus entstanden; ebd. S. 379.
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gemein strukturierendes Prinzip der „Literaturgeschichte“ in erster Linie der größeren Geschlossenheit und Stimmigkeit des im Laufe der ersten Auflage entwickelten Konzepts dient. Die Änderungen von der ersten zur zweiten Auflage, mit welchen die Durchsetzungskraft des Werks innerhalb des germanistischen Fachbereichs gestärkt werden sollte, gehen großteils auf eine selbständigen Weiterentwicklung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung durch Nadler zurück. Zwar ist diese Weiterentwicklung nicht aus dem Kontext einer zunehmenden Zuwendung mancher Wissenschaftszweige zu einer physischen Basis geistig-kultureller Erscheinungen auszuscheiden, doch Nadlers Änderungen lassen sich problemlos auf den Bau der ersten Fassung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung setzen, sodaß die Möglichkeit, der Literaturhistoriker habe durch die Aufnahme von seinen Ansichten abweichenden, aber gute Konjunktur verheißenden Aspekten nur seinem Werk zu mehr Akzeptanz verhelfen wollen, ausgeschlossen werden kann. Dasselbe gilt auch in Hinblick auf seine Fachgenossen, an deren geistesgeschichtliche Ansätze Nadler sich nur insofern annähert, als er sie seinem eigenen Ansatz nachordnet. In der Gesamtheit präsentiert sich die „Literaturgeschichte“ allerdings keineswegs als weniger problematisch als zuvor. Denn die Vorstellung von durch Völkermischung hervorgerufenen geistigen Renaissancebewegungen, auf die Nadler nun sein gesamtes Werk gründet, beruht ebensowenig auf wissenschaftlichen Grundlagen wie sein Konzept eines unwandelbaren Stammes- oder Volkscharakters.
7. Aufschwung der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung 1921-1931 Nachdem analysiert wurde, in welcher Weise Nadler seine „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ von der ersten zur zweiten Auflage weiterentwickelt hatte, ist wiederum der Blick auf die Rezeption seines Werks zu legen. Dabei wird zu untersuchen sein, ob und in welcher Weise die Wendung zur stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung die weitere Aufnahme des Werks beeinflußte und in welcher Hinsicht Veränderungen des disziplinären und politischen Kontextes eine andere Bewertung der „Literaturgeschichte“ mit sich brachten. Diese beiden Komponenten sind ein weiteres Mal gleichermaßen an der Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk Nadlers wie anhand seiner akademischen Laufbahn zu verfolgen. Das Hauptaugenmerk bei der Analyse der weiteren Rezeption von Nadlers Ansatz wird aufgrund des Übergangs zur stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung der Frage zu gelten haben, wie stark diese nunmehr einheitliche Begründung des Konzepts seine Aufnahme beeinflußt hat. Angesichts der Mündung der Germanistik in den sogenannten „Methodenpluralismus“ als Folge der unterschiedlichen Strategien zur „Überbietung der Philologie“ ist wiederum zu untersuchen, ob sich Nuancenverschiebungen in den an die Literaturgeschichtsschreibung herangetragenen Erwartungen abzeichnen, die sich auf die Rezeption des stammeskundlich-völkischen Ansatzes auswirkten. Für die Rezeption der zweiten Auflage von Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ soll trotz der Publikation des ersten Bandes im Jahr 1923 die Zeit von 1921 aufwärts eingeschlossen werden. Dies ist mit Nadlers Übergang zur stammeskundlichvölkischen Literaturgeschichtsschreibung zu begründen, der schon die 1921 erschienene „Berliner Romantik“ kennzeichnet. Neben dem neuen Grundprinzip der Völkermischung ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß sich um 1920 innerhalb der Literaturwissenschaft die Höherbewertung von Synthesen gegenüber der strikten Einhaltung der rein positivistischphilologischen Forschungsweise durchzusetzen begann, wie die Analysen in Abschnitt 5.2. ergeben haben. Ebenso läßt sich eine zeitliche Schwelle um 1920 mit der zunehmenden Bedeutung Nadlers im Besetzungskarrus-
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Aufschwung
sel der germanistischen Lehrstühle begründen (vgl. Abschnitt 7.2.). Auch um die Entwicklung in diesem Bereich konzentriert verfolgen zu können, wird die Darstellung der Lehrstuhlbesetzungsverfahren in einem Kapitel gesammelt. Zu Beginn seien jedoch noch einige Bemerkungen zum kulturellen und politischen Rahmen der Weimarer Republik eingeflochten, da die maßgeblichen Wandlungen der Rezeption der „Literaturgeschichte“ in diesem Kontext stattfanden.1 Die prägenden Erfahrungen der Bevölkerung der Weimarer Republik waren zunächst der verlorene erste Weltkrieg, wobei am Frieden von Versailles die Grenzziehung im Osten angesichts der in anderen Ländern verbleibenden deutschen Minderheiten als besonders problematisch empfunden wurde. Weiters trugen die angespannte wirtschaftliche Lage und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit dazu bei, das ohnehin geringe Vertrauen in die demokratische Regierungsform immer mehr zu mindern. Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung verstärkten einerseits soeben auf den Arbeitsmarkt drängende geburtenstarke Jahrgänge und die steigende Lebenserwartung die mit den Gebietsverlusten zusammenhängende Vorstellung, ein „Volk ohne Raum“ zu sein. Andererseits entstand wegen der vielen im Krieg gefallenen Männer und sinkender Geburtenraten (vor allem in sozial höheren Schichten) die Angst vor einer Degeneration und dem Niedergang des deutschen Volkes. In Hinblick auf die stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung spielt unter den zahlreichen Aspekten der Krisenerfahrung in der Weimarer Republik speziell das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums – vor allem der Universitätsprofessoren und -dozenten – und deren Haltung zu den geänderten politischen Verhältnissen eine Rolle. Denn im Laufe der 1920er Jahre gewann Nadlers Werk nunmehr auch in der akademischen Sphäre, wo es zunächst auf breite Ablehnung gestoßen war, an Geltung. Die dem Bildungsbürgertum zugehörigen Universitätsprofessoren hatten in der Weimarer Republik im Vergleich mit der Zeit des Kaiserreichs stark an politischem Einfluß verloren und sahen sich angesichts von Massenbewegungen wie der Sozialdemokratie in ihrem elitären Status gefährdet. Dies führte nicht nur dazu, daß sie die Republik mehrheitlich ablehnten und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Deutschland reaktionär bzw. restaurativ zu lösen wünschten, sondern fand auch Aus—————— 1
Vgl. Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987; Schmölders, Claudia; Gilman, Sander (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln: Dumont 2000; Bialas, Wolfgang; Iggers, Georg G. (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt/M.: Lang 2. Auflage 1997; Ash, Mitchell: Krise der Moderne oder Modernität als Krise? In: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914-1945. Hrsg.: Wolfram Fischer. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 121-142.
Auseinandersetzung mit der Neuauflage
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wirkung auf die wissenschaftliche Tätigkeit. In diesem Zusammenhang erhielten vor allem Ansätze Auftrieb, welche implizit den Autoritätsanspruch des Bildungsbürgertums biologisch-rassisch zu untermauern beabsichtigten.2 Argumentationen dieser Ausrichtung hatten überdies durch die Wiederentdeckung und breite Rezeption der Mendelschen Vererbungslehren Auftrieb bekommen. Daß Publikationen mit dementsprechender Zielsetzung für ein breiteres Publikum bestimmt waren oder daß manche der betreffenden Ansätze ursprünglich nicht von Universitätsdozenten formuliert wurden,3 erzeugt hierzu keinen Widerspruch. Schließlich konnte auch eine sich als Elite empfindende Gruppe ihre Ziele im Rahmen einer Republik nur durch entsprechenden Erfolg in der Öffentlichkeit propagieren.
7.1. Die Auseinandersetzung mit der Neuauflage Im Vergleich zu den Buchkritiken zur ersten Auflage lassen sich mehrere Tendenzen feststellen. Am deutlichsten ist die oftmalige Auseinandersetzung mit der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr allein in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, sondern in umfassenderen Werken zu allgemeinen Problemen der Literaturwissenschaft.4 Das Anschwellen der Literatur zum Themenkomplex Methoden der Literaturwissenschaft ist zweifellos eine Folge der beginnenden Ordnung und gleichzeitigen Hierarchisierung der zahlreichen als Überbietung der Philologie entstandenen Ansätze. Daran zeichnet sich außerdem die immer stärker werdende Zurückdrängung jener Gelehrten ab, die das Bedürfnis nach größeren Synthesen der Einhaltung philologischer Standards unterordneten. Diese Entwicklung hat die Akzeptanz der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung innerhalb der Disziplin sicher gefördert, wobei diese nach wie —————— 2
3 4
Vgl. Hau, Michael; Ash, Mitchell G.: Der normale Körper, seelisch erblickt. In: Gesichter der Weimarer Republik. Hrsg.: Schmölders, Sander, S. 12-31 bes. S. 18-21; und mit besonderem Augenmerk auf Mediziner: Lösch, Niels: Zur Biologisierung rechtsintellektuellen Denkens in der Weimarer Republik. In: Intellektuelle in der Weimarer Republik. Hrsg.: Bialas, Iggers, S. 331-348. Als Beispiel wäre hier HFK Günther zu nennen, vgl. Hau, Ash: Der normale Körper, S. 19. z. B. Petersen, Julius: Das Wesen der Romantik. Leipzig: Quelle und Meyer 1926; Mahrholz, Werner: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. Leipzig: Kröner 1923 [hier bearbeitet in der zweiten Auflage von 1933, die sich wie die erste Ausgabe von 1923 auf die erste Auflage der „Literaturgeschichte“ bezieht]; Benda: Der gegenwärtige Stand; Gumbel, Hermann: Dichtung und Volkstum. In: Philosophie der Literaturwissenschaft. Hrsg.: Emil Ermatinger. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1930, S. 43-91; Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte.
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vor keineswegs als einzige Möglichkeit zur Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur angesehen wurde, aber den Status eines wissenschaftlichen Ansatzes unter mehreren anderen erhielt und durchaus nicht mehr das Odium des Dilettantismus trug. Ein deutliches Anzeichen dafür ist die nunmehrige Einreihung Nadlers in hinter August Sauers Rektoratsrede zurückreichende Traditionen der akademischen Literaturgeschichtsschreibung. Günther Müller stellt etwa einen Vergleich der stammeskundlichen „Literaturgeschichte“ mit der letzten innerhalb der Fachdisziplin als wissenschaftlich akzeptierten Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte her, nämlich mit jener Wilhelm Scherers.5 Diese Gegenüberstellung hat allerdings nicht die Ablöse des Schererschen Modells durch das „modernere“ Nadlers zum Ziel, sondern das Zustandekommen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung mit ihren zu verzeichnenden Schwächen soll aus den Defiziten von Scherers Werk erklärt werden. Nadlers Ansatz sei als Reaktion auf Scherers kunstgeschichtlich orientierte Konzentration auf die Klassik als Blütezeit der deutschen Literatur zu verstehen, die nicht nur in ästhetischer Hinsicht einem bestimmten Stil den Vorzug vor allen anderen gab, sondern auch die Räume abseits von Weimar wenig berücksichtigt hätte. Dieser ästhetischen Betrachtungsweise habe Nadler eine historische mit den Stützpunkten Stamm und Landschaft sowie drei gleichwertigen literarischen Grundtypen (Klassik, Romantik, Barock) gegenüber gestellt. Müller gibt keine grundsätzliche Bewertung dieser neuen Sichtweise auf die Literaturgeschichte ab, kritisiert aber etwa Nadlers zu weit gehende Mißachtung der Ästhetik, denn auch wenn dies mit Blick auf Scherer verständlich sei, hätte er ebenfalls die Entwicklung ästhetischer Maßstäbe historisieren müssen. In jedem Fall bedeutet bereits die Analyse der spezifischen Abhebung Nadlers von der Folie Scherer eine Anerkennung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als gleichwertiges Modell einer Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Literatur und ihre Einordnung in den Kontext der Germanistik als akademische Disziplin. Auch die Wiener Privatdozentin Marianne Thalmann verwendet die Literaturgeschichtsschreibung Scherers ungenannterweise als Kontrastfo-
—————— 5
Müller, Günther: Bemerkungen zu Nadlers Literaturgeschichte. In: Schönere Zukunft 3 (1927/28), S. 929-931. Da die „Literaturgeschichte“ zumeist als „stammeskundlich“ rezipiert wurde, wird in diesem Abschnitt diese Bezeichnung anstelle von „stammeskundlichvölkisch“ angewandt.
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lie zu Nadlers Modell.6 Sie stellt die „Literaturgeschichte“ den bisher städtisch ausgerichteten, auf chronologische Schulbegriffe zielenden, mit den Gegensätzen „schön“ und „häßlich“ arbeitenden herkömmlichen Darstellungen gegenüber und stellt fest, daß die Literaturgeschichtsschreibung nun den Schritt vom Nachschlagewerk zum System gemacht habe. Dies ist für sie auch der Grund dafür, daß Nadlers Werk angesichts der aktuellen Forderungen an die Darstellung von Literaturgeschichte trotz Vorbehalten nicht mehr „wegzuleugnen“ sein werde. Nadler wird hier also weniger wegen einer gänzlich überzeugenden wissenschaftlichen Leistung oder aufgrund der Einhaltung bestimmter methodischer Standards in die Reihen der zu kanonisierenden Literaturhistoriker aufgenommen, sondern aufgrund der mit von anderen Germanisten geäußerten Erwartungen an eine neue Weise der Literaturgeschichtsschreibung übereinstimmenden Aspekte seines Werks. Eine deutlichere Einreihung unter die kanonisierten Größen der germanistischen Zunft erfährt Nadler durch Walter Heynen,7 der erstmals Parallelbezüge zwischen der Wiener Antrittsrede Erich Schmidts aus dem Jahr 18808 und der „Literaturgeschichte“ herstellt. Damit wird Nadler in eine Linie mit einem der bedeutendsten Vertreter der Scherer-Schule gestellt, was angesichts seiner in der „Literaturgeschichte“ ausgedrückten antipreußischen Haltung umso bemerkenswerter ist, als Schmidt vor allem mit seinem letzten Wirkungsort Berlin verbunden wurde und die Rezension Heynens überdies in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschien. Diese Integration in die „Berliner Schule“, die neben Sauers Kritikern in Wien zu Nadlers liebsten Feindbildern zählte, wiegt umso schwerer, als Heynen den frühesten Ansatz zu einer stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nun nicht mehr mit 1907 (Sauers Rektoratsrede), sondern mit 1880 datiert und damit in eine Periode vor der breit gefächerten Methodendiskussion am Anfang des 20. Jahrhunderts verlegt. Dies kommt gewissermaßen einer nachträglichen „Philologisierung“ der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung gleich, die auch angesichts des generell stärker werdenden Zugs zur Synthese als Adelsprädikat angesehen werden kann – galt doch die Philologie nach wie vor als unentbehrliche Grundlagenarbeit.9 —————— 6 7 8 9
Thalmann, Marianne: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Neuauflage der Bände 1 und 2 (Rezension). In: Die neueren Sprachen 34 (1926), S. 462-464. Heynen, Walter: Weihnachtsrundschau. In: Preußische Jahrbücher 194 (1923), S. 306-320; zu Nadler S. 306-308. Schmidt, Erich: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte. In: Ders.: Charakteristiken Bd. 1. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1886, S. 480-498. Hier sei an Richard M. Meyer erinnert, der schon 1914 Nadler zum Retter der Philologie stilisierte, vgl. 5.2.
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Wie groß innerhalb der Germanistik das Bedürfnis nach einem Ordnungsprinzip für eine Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte nunmehr geworden war, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Kritik an Einzelheiten zunehmend hinter die Anerkennung der synthetischen Leistung von Nadlers Werk zurückgestellt wird. So heißt es etwa bei Müller: „Lob oder Tadel wollen einem solchen Werk gegenüber, das mit eherner Stimme für sich selbst spricht, wenig besagen, selbst wenn sie ausführlich begründet vorgetragen werden.“10 Und in Thalmanns Beitrag findet sich die Bemerkung: „Ob wir sie [die „Literaturgeschichte“] prinzipiell gut heißen oder nicht, liegt fast schon jenseits von rein theoretischer Einstellung.“11 Gleichzeitig läßt sich an diesen Sätzen jedoch auch die schwindende Bereitschaft zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Gesamtkonzept ablesen, das heißt: dieses vollständig zu erfassen und seine Schwachstellen herauszuarbeiten. Der bei der Auseinandersetzung mit der ersten Auflage innerhalb der Disziplin so deutlich spürbare Verlauf der Kritik entlang der Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften erhält zunehmend einen anderen Charakter. Zwar dient die auf der Methode begründete Auffassung von den Naturwissenschaften als Gegensatz zu den Geisteswissenschaften im Rahmen der Rezeption der „Literaturgeschichte“ nun nicht oder kaum mehr als Ablehnungskriterium, aber immer noch als Bezugsrahmen für die unterschiedlichen Versuche, der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung einen Platz im Rahmen der universitären Germanistik zuzuordnen. Diese Einordnung kann sowohl auf die Integration des Nadlerschen Ansatzes in einen Kreis mehrerer gleichwertiger Richtungen der geisteswissenschaftlichen Germanistik zielen als auch eine Über- oder Unterordnung der „Literaturgeschichte“ im Vergleich mit anderen literaturwissenschaftlichen Forschungsweisen beabsichtigen. Am kürzesten ist in diesem Zusammenhang der Schritt zur Anerkennung des Nadlerschen Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit seines Ansatzes über den Hinweis auf eine „naturwissenschaftliche Seite“ des Menschen und der Literatur. Nachdem schon bei der Rezeption der ersten Auflage der Gedanke von Stammeseigentümlichkeiten sowie natürlicher Einflüsse auf Physis und Psyche des Menschen weitgehend akzeptiert worden war, handelt es sich bei dem Zugeständnis, sich dieser Seite der Literatur mit naturwissenschaftlichen Mitteln nähern zu können, um einen relativ kleinen Schritt – zumindest zu einem Zeitpunkt, wo die methodische Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften bereits weit—————— 10 11
Müller, Günther: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4 (Rezension). In: Literarischer Handweiser 67 H 7 (1927/28), Sp. 531. Thalmann: Nadlers Literaturgeschichte, S. 464.
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gehend akzeptiert war. Dieser Schritt wird etwa von Julius Petersen vollzogen, der zwar Nadlers Romantik-Konzept ablehnt, aber mit Hinweis auf die naturwissenschaftlich-anthropologische Seite der Literatur eine „Erledigung“ der Nadlerschen Richtung durch den Vorwurf der Anwendung von Kausalbegriffen ausschließt.12 Von mehreren Befürwortern des Nadlerschen Werks wurden Versuche einer Einordnung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in die Reihe der geistesgeschichtlichen Ansätze vorgenommen. Ein Beispiel hierfür sind die Ausführungen Werner Mahrholz’ zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in seinem Überblick über die zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Richtungen, unter welchen die stammeskundliche einen prominenten Rang einnimmt. Das Nadlersche Werk ist für Mahrholz sogar der „revolutionärste Versuch“ der neueren Literaturgeschichte, wobei Nadler „durch die Grundzüge seines Wesens“ für diese Leistung „vorbestimmt“ sei: Er ist Österreicher, das bedeutet, er ist kulturpolitisch eingestellt und auf die Erfassung von Volkstum, Stammesart, nationaler und regionaler Eigenart hin gerichtet; er ist Katholik, das bedeutet, er ist korporativen und insbesondere ethischen und religiösen Vorstellungen mehr verpflichtet als individualistischen Erscheinungen; er ist romantischer Geschichtsphilosoph, das bedeutet, er ist grundsätzlich von der Realität geistiger Wesenheiten, wie Volk, Stamm, Landschaft, nicht als Naturgegebenheiten, sondern als geistigen, dynamisch wirkenden Einheiten überzeugt, ja er faßt Geschichte als Dynamik von geistigen und seelischen Kräfteeinheiten und nicht als Tat von Individuen auf.13
Die „naturwissenschaftliche Einkleidung“ sei dabei nur ein „schlechtes Erbteil der darwinistischen, positivistischen Philosophie- und der Wissenschaftslehre.“14 So zutreffend die Definition von Nadlers Geschichtsauffassung durch Mahrholz zum Teil ist – Geschichte beruht bei Nadler tatsächlich auf der Dynamik überindividueller Kräfteeinheiten – so mißverständlich ist die Einschätzung der Rolle der Naturwissenschaften in Nadlers Konzept. Denn in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung sind Volk, Stamm und Landschaft Naturgegebenheiten und sie sind es nicht zuletzt deshalb, weil darauf in Nadlers Auffassung eine wissenschaftliche Erfaßbarkeit der Literaturgeschichte als Stammesgeschichte aufgebaut werden kann. Ungeachtet der nicht bestreitbaren Ähnlichkeiten der Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung mit Zügen romantischer Geschichtsphilosophie (aufgrund des Konzepts eines Kollektivgeistes) nimmt Mahrholz dem Nadlerschen Ansatz nichts anderes als seinen ganz spezifischen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. —————— 12 13 14
Petersen: Das Wesen der Romantik, S. 20. Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 130. Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 136.
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Da gerade die spezifische wissenschaftliche Begründung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung durch Nadler innerhalb der Germanistenzunft Anlaß zu deren Ablehnung gegeben hatte, darf es jedoch nicht verwundern, daß Mahrholz’ grundsätzlich befürwortende Auffassung von Nadlers Ansatz dessen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit weniger in Frage stellt als zu stützen beabsichtigt. Es ist vor allem in Hinblick auf geistesgeschichtliche Strömungen bemerkenswert, wie die stammeskundliche Richtung aus gewisser Sichtweise auch ohne Wahrnehmung ihrer dezidiert naturwissenschaftlichen Aspekte „funktioniert“ im Sinne eines Orientierungs- und Syntheseangebot im Rahmen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. Weiters ist bezeichnend, daß das Nadlersche Konzept auf diesem Weg – also durch Ausklammerung der von Nadler angenommenen physischen Grundlagen für die geistigen Einheiten, die Mahrholz hervorhebt – letztlich selbst zur „reinen“ Geistesgeschichte werden kann. So hält Mahrholz selbst fest, das „Für -, Gegenund Miteinander“ der deutschen Stämme (als geistige Wesenheiten!) „...ist der Inhalt der deutschen Geistesgeschichte.“15 Selbst Nadler persönlich scheint dieser Darstellung Mahrholz’ nicht ablehnend gegenübergestanden zu sein. Er, der sonst gegen Rezensionen der „Literaturgeschichte“, die nicht seinen Intentionen und seinem Wissenschaftsverständnis entsprachen, regelrecht ausfällig werden konnte, bemerkte lapidar in einem Brief an Sauer über Mahrholz’ Schrift: Das Buch ist außerordentlich interessant, widmet uns S. 132-147 u. nennt meinen Namen immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen. Besser können wir es uns gar nicht von einem, der nicht mit Haut u. Haar unser ist, wünschen. Das Buch wird wegen seiner besonderen Brauchbarkeit gewiß viel verkauft werden u. ist besser als die längste Rezension, stellenweise wie eine Apologie.16
Umso bezeichnender ist Franz Kochs Stellungnahme zu Mahrholz’ Ausführungen in einem 1926 erschienenen Artikel, mit welchem der Privatdozent für eine Berufung Nadlers an die Universität Wien warb (vgl. Abschnitt 7.2.7.). Er weist die Bezeichnung Nadlers als einen „romantischen Geschichtsphilosophen“ zurück und vermutet die Ursache für diese Einschätzung in einer Überheblichkeit der Geisteswissenschaften als Resultat ihrer erfolgreichen methodischen Ablösung von den zuvor als überlegen empfundenen Naturwissenschaften. Nun würde jeder „...Zusatz naturwissenschaftlich kausaler Betrachtungsweise, jede Assimilierung naturwissenschaftlicher Methoden fast als etwas Entwürdigendes oder auch nur als —————— 15 16
Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 141. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-443, Düdingen, 8. 4. 1924. Die von den hier angegebenen abweichenden Seitenzahlen gehen auf die Nadler vorliegende erste Auflage von Mahrholz’ Buch zurück.
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leichtsinnige und sträfliche Ueberschreitung eben reinlich gezogener Grenzen betrachtet.“17 Bezeichnend ist diese Stellungsnahme Kochs zusätzlich insofern, als ihm ebenfalls daran gelegen war, den Nadlerschen Ansatz als mit geistesgeschichtlich orientierten Richtungen kompatibel darzustellen. Er wählt allerdings die Strategie, Nadlers Ergebnisse solcherart mit Erträgen der Geistesgeschichte in Verbindung zu setzen, daß beide entweder als gleichwertig und nur auf unterschiedlichem Weg erarbeitet erscheinen oder sie sich in wechselseitigem aufeinander Aufbauen jeweils bestätigen. 18 Auf diese Weise wird der Anspruch auf Zugehörigkeit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zum aktuellen Kanon der Universitätsgermanistik nachdrücklich unterstrichen. Zusätzlich attestiert Koch 1930 dem Nadlerschen Ansatz selbst in Hinblick auf den vierten Band zunehmend geistesgeschichtliche Züge. Diese Feststellung hat allerdings eine doppelte Bedeutung, denn obwohl dies die Propagierung einer Nahestellung Nadlers zur Geistesgeschichte erleichtert, gewinnt der jüngere Kollege dieser Entwicklung zumindest implizit nicht nur Gutes ab. Denn die Rezension von 1926 zeigt noch weit größeren Einsatz Kochs für Nadler, während der Ton 1930 zwar immer noch befürwortend, aber merklich kühler geworden ist. Dies hängt wohl mit der selbständigen wissenschaftlichen Entwicklung des Wiener Privatdozenten zusammen: Mitte der 1920er Jahre ist die Unterstützung Nadlers von Kochs Streben geprägt, eigenen biodeterministischen Ansichten durch Hinweis auf die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung Auftrieb zu geben. Für ihn bedeutet Nadlers Leistung „...eine merkwürdige historische und, was großzügige, fast künstlerische Gestaltung anlangt, intuitive Antizipation einer kaum je von der exakten Naturwissenschaft so eindeutig wie von Kolbenheyer ausgesprochenen Erkenntnis des Geistigen als einer biologischen Funktion.“19 Dementsprechend sei bei der Erforschung von Literatur von überindividuellen Einheiten auszugehen, wie Nadler es eben mit den Stämmen im Rahmen der Landschaften getan hätte. Seine biodeterministischen Vorstellungen entleiht Koch allerdings Erwin Guido Kolbenheyers „Die Bauhütte. Elemente einer Metaphysik der Gegenwart“ und dessen Konzept vom biologischen Verhältnis zwischen bereits angepaßtem zu noch anpassungsfähigem Keimplasma, das über das Schicksal —————— 17 18
19
Koch, Franz: Zur Begründung stammeskundlicher Literaturgeschichte. In: Preußische Jahrbücher 206 (1926), S. 148. Erstere Strategie ist bereits zu verfolgen in: Koch, Franz: Gundolf und Nadler. In: Euphorion. Ergänzungsheft 14 (1921), S. 122-129; ein späterer Artikel bezieht eine größere Zahl an Germanisten mit ein: Ders.: Stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung. In: DVJS 8 (1930), S. 143-197 Koch: Zur Begründung, S. 154.
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des jeweiligen Menschenverbandes als „Individuationsform“ entscheide – im Beispiel wird das „plasmatisch jüngere“ deutsche Volk dem „französischen Gegner“ entgegengestellt.20 Da in Kochs Augen vor allem die biodeterministische Seite der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung hervorhebenswert erscheint, ist es umso erstaunlicher, daß er seinerseits das Primat der Abstammung im Nadlerschen Werk nicht erkennt und von einer größeren Gewichtung der geographischen Seite, also der Landschaft, ausgeht. Diese von Koch angenommene maßgebende Rolle der Landschaft vor jener der Stammesanlage gewinnt im Artikel von 1930 zusätzlich an Bedeutung, denn er begründet damit eine nicht unerhebliche Kritik: „Nadler versteht unter Stammescharakter offenbar ein Produkt der Landschaft, eines geographischen Elements, während man dabei zunächst wohl an ein primäres, biologisches denkt, was praktisch dann auch Nadler tut, wodurch aber von vornherein die Methode etwas Unsicheres, Schwankendes bekommt.“ 21 Die willkürliche Gewichtung von Abstammung und landschaftlichem Einfluß bei der Darstellung einzelner Dichter stellt einen wichtigen Kritikpunkt dar, doch angesichts des grundlegenden Konzepts der „Literaturgeschichte“ – speziell der zweiten Auflage mit ihrem Prinzip der Völkermischung – ist diese unzutreffende Darstellung des Nadlerschen Ansatzes durch einen erklärten Anhänger biodeterministischer Ansichten aufschlußreich. Sie ist möglicherweise dadurch zu erklären, daß Koch Nadlers Annäherung an geistesgeschichtliche Gedanken speziell im vierten Band der „Literaturgeschichte“ bereits zu weit ging. Denn er bedauert die zunehmende Ablösung der darin dargestellten geistesgeschichtlichen Vorgänge von ihren ethnologischen Grundlagen, womit ihnen jegliche Begründung fehlen würde. Und er betont, daß die geistesgeschichtlichen Gewinne aus Nadlers Werk ohne deren ethnologische Grundlagen undenkbar gewesen wären. Der Versuch einer Integration der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in den Kreis der von der Mehrzahl der Fachvertreter akzeptierten wissenschaftlichen Ansätze der Germanistik dient Koch demnach in erster Linie der Durchsetzung biodeterministischer Sichtweisen in der Literaturwissenschaft, wie sich in seinem Beitrag von 1926 abgezeichnet hat. Der Nadlersche Ansatz soll nicht zur Geistesgeschichte erklärt werden, sondern biodeterministische Ansichten zu Grundlagen der Geistesgeschichte. —————— 20 21
Koch: Zur Begründung, S. 152. Hier sei an die Kapitel 7 einführenden Bemerkungen zum politisch-kulturellen Kontext der Weimarer Republik erinnert, in welchen Kolbenheyer und Koch sich hier deutlich einordnen. Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 148.
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Daß eine Einreihung Nadlers in die geistesgeschichtliche Richtung nicht zwingend Hand in Hand mit einer Befürwortung des stammeskundlichen Ansatzes geht, zeigt etwa der Beitrag Marianne Thalmanns. Sie steht Nadler zwar mit leider nicht ausformulierten Vorbehalten gegenüber, faßt seine „Literaturgeschichte“ jedoch als geistesgeschichtlich. Einerseits aufgrund von Nadlers eigenen Ausführungen, daß die völkischen Vorgänge (konkret zwischen römischem Wirtsvolk und germanischem Gastvolk) von den geistesgeschichtlichen nicht getrennt werden könnten, zum anderen weil er mit „geistesgeschichtlicher Selbstverständlichkeit“ vom „Strukturganzen“ ausgehe.22 Da Thalmann hervorhebt, daß die Literaturgeschichtsschreibung mit Nadlers Werk den Schritt ins Völkische getan habe, sind ihre Ausführungen ein weiterer Hinweis darauf, daß die Verknüpfung völkischer Aspekte mit geistesgeschichtlichen auch bei kritischen Betrachtern auf keinen unüberbrückbaren Widerwillen stoßen mußte, der eine völlige Ablehnung des Ansatzes zur Folge gehabt hätte. Gerade bei Thalmann ist der Terminus „völkisch“ jedoch besonders auf die ländliche Unterschicht im Gegensatz zur städtischen Bevölkerung bezogen und stärker mit dem Konzept einer „Literaturgeschichte von unten“ als mit dem Grundprinzip der Völkermischung in Beziehung zu setzen. Doch da sie das Nadlersche Konzept sehr genau erfaßt, kann aufgrund dieser graduell unterschiedlichen Begriffsverwendung nicht auf ein Mißverständnis durch Thalmann geschlossen werden. Zu den Bemühungen, Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung als Geistesgeschichte verstehen oder zumindest mit geistesgeschichtlichen Ansätzen vereinbaren wollen, gibt es freilich auch Gegenströmungen. Ihren Vertretern ist allerdings nicht mehr an einem generellen Ausschluß der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung aus dem Kreis der in ihrem Wissenschaftsanspruch akzeptierten germanistischen Forschungen gelegen. Vielmehr entsteht der Eindruck, daß sich manche Fachvertreter geradezu zu einer Verteidigung der geistesgeschichtlichen Arbeitsweisen gegenüber der an Akzeptanz und Einfluß gewinnenden stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung veranlaßt sahen. Am deutlichsten tritt dies bei Paul Böckmann zutage, der den Nadlerschen Ansatz zur Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte und das Konzept der Stämme und Landschaften im allgemeinen akzeptiert und sogar als „großen Weg“ bezeichnet.23 Da sich jedoch eine Darstellung von der Geschichte aus nach den Geschehnissen in der Politik —————— 22 23
Thalmann: Nadlers Literaturgeschichte, S. 462 bzw. 464. Böckmann, Paul: Der deutsche Staat 1814-1914 (Rezension). In: Zeitschrift für deutsche Bildung 5 (1929), S. 438-441, Zitat von S. 440.
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richten würde und somit die spezifischen Gesetze der ästhetischen und geisteswissenschaftlichen Interpretation von Kunstwerken vernachlässige, könne die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung jene geistesgeschichtlicher Ausrichtung keinesfalls ersetzen. In Böckmanns Rezension hält ein geistesgeschichtlich ausgerichteter Germanist der aufgrund ihrer geschichtlich-politischen Implikationen großen Anziehungskraft der „Literaturgeschichte“ den Kunstcharakter der Dichtung entgegen. Aber die Betonung dieses Kunstcharakters ist nicht mehr Ausschließungsgrund für eine Darstellung der deutschen Literaturgeschichte nach Nadlers Modell, sondern beinahe etwas, das vor der großen Leistung des stammeskundlichen Literaturhistorikers zu verblassen droht. Eine andere Färbung trägt die Auseinandersetzung Rudolf Ungers mit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Darin wiederholt sich ein bereits aus der frühen disziplininternen, „philologischen“ Rezeption der ersten Auflage bekanntes Muster, nämlich jene Feststellung, daß die Forschung für den Nadlerschen Ansatz noch nicht weit genug fortgeschritten sei. Allerdings bezieht sich diese Bemerkung nicht mehr allein auf die ungenügenden Kenntnisse der Volkskunde von den Eigenschaften der einzelnen Stämme, sondern beinhaltet in erster Linie die Forderung nach der wissenschaftlichen Klärung des Vorhandenseins verschiedener Stammestypen durch (physische) Anthropologie und Psychologie (besonders Stammes- und Rassenpsychologie). Unger kritisiert, daß bei Nadler „...ein anthropologisch-naturwissenschaftlicher und ein kulturhistorischgeisteswissenschaftlicher Begriff von Stamm und Stammestum ungeschieden nebeneinander herzugehen“24 scheinen und führt dies auf das Problem der aus der positivistischen Geschichtsschreibung hervorgehende Typenpsychologie zurück: es sei ungeklärt, ob diese Typen „...auf ethnographisch-anthropologisch begründete psychologische Verschiedenheiten innerhalb desselben Volksganzen, auf Stammes- und Landschaftsunterschiede wissenschaftlich übertragen werden“25 könnten. Die Einforderung wissenschaftlicher und vor allem auch naturwissenschaftlicher Beweise für das Vorhandensein von Stammestypen bzw. der Bestimmung ihres Geltungsbereichs ist im Rahmen der Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung eine Novität. Die Überzeugung von der spezifischen Eigenart jedes deutschen Stammes war bereits bei der Rezeption der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ —————— 24
25
Unger Rudolf: Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Betrachtungen zur stammeskundlichen Literaturgeschichte. In: Ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1929 (=Gesammelte Studien Bd. 1), S. 189. [Erstdruck in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 26 (1925)] Unger: Die Vorbereitung der Romantik, S. 190.
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weitgehend geteilt worden, allein die Frage, ob auf diesem Prinzip Literaturgeschichtsschreibung aufgebaut werden könne, war umstritten. Nun zeigt sich eine Verschiebung: die Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur auf dem Prinzip von Kollektiveinheiten und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Aspekte wird akzeptiert (auch von Unger), aber die Frage nach der naturwissenschaftlichen Feststellbarkeit der Stammestypen nach Nadlers Konzeption wird in den Raum gestellt. Daß diese Vorgehensweise wiederum die Vormachtstellung der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung gegenüber der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung stützen soll, ohne damit einen völligen Ausschluß letzterer aus der akademischen Germanistik zu beabsichtigten, zeigt zweierlei: zunächst trifft eine kollektivistische Betrachtungsweise der Literaturgeschichte Mitte der 1920er Jahre generell nicht mehr auf dieselbe Ablehnung innerhalb der Disziplin wie die ersten Bände der „Literaturgeschichte“. Weiters macht dies im konkreten Fall Ungers eine schärfere Abgrenzung der geistesgeschichtlichen Ansätze gegen Nadlers Konzept sowie eine Begründung ihrer größeren Geltung notwendig, die bei Unger eben über das Argument der noch nicht ausreichenden wissenschaftlichen Ausarbeitung der Nadlerschen Grundlagen läuft. Die endgültige Ausführung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung wird ein weiteres Mal in die Zukunft verschoben – doch nicht wegen mangelnder philologisch gewonnener Kenntnisse, sondern aus Mangel an naturwissenschaftlichen Beweisen. Daß Ungers Beitrag nicht zuletzt (rhetorische) Strategie zur Unterordnung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung unter die Geistesgeschichte darstellt, zeigt seine weit positivere Beurteilung des Nadlerschen Ansatzes in einem anderen Kontext – einem geschützteren als einer öffentlichen Stellungnahme in einem Zeitschriftenbeitrag. Im Rahmen der Lehrstuhlbesetzungsangelegenheit in Köln 1921 hält Unger der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ nämlich zugute, daß sie unter Besinnung auf die methodischen Prinzipien nun auf kulturgeschichtliche und kulturpsychologische Vertiefung setze und damit in Richtung der Geistesgeschichte einschwenke26 (vgl. Abschnitt 7.2.3.). Generell läßt sich weiterhin die umfassende Akzeptanz des Gedankens einer jeweiligen Eigenart der einzelnen deutschen Stämme und zunehmend auch des Aufbaus einer Literaturgeschichte auf der Grundlage der Stämme und Landschaften feststellen, die vor 1920 unter den Universitätsgermanisten noch weitgehend angezweifelt worden war. Müller etwa akzeptiert die Geltung von Stamm und Landschaft als heuristische Prinzipien, da diese ihre Fruchtbarkeit in der Forschung durch Nadlers Werk —————— 26
GStAPK, I HA Rep. 76, Sekt. 10 Tit. IV Nr. 5 Bd. 1, Blatt 181f (Minderheitsgutachten vom 4. 8. 1921).
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bewiesen hätten.27 Das Kriterium der Fruchtbarkeit dient mehreren Rezensenten als Argument für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung, so heißt es etwa bei Mahrholz: „Doch nicht auf Einzelheiten kommt es an, jede große Synthese hat ihre schwachen Punkte, wo sie aus Deutung des Lebens in Vergewaltigung des Lebens, in Dogmatik auszuarten droht; entscheidend ist immer nur, ob der Leitgedanke fruchtbar, ordnend, vereinheitlichend, anregend, weiterführend ist.“28 Dies weist auf eine beträchtliche Verschiebung der an einen wissenschaftlichen Ansatz gestellten Erwartungen innerhalb der germanistischen Disziplin hin. Denn während an die erste Auflage mehrmals der Vorwurf gerichtet worden war, verfrüht eine große Synthese gewagt zu haben, finden sich nun Bemerkungen, die ihrerseits eine Beurteilung des Nadlerschen Ansatzes in die Zukunft verschieben. Dies steht eben meist in Zusammenhang damit, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung als „kühner Wurf“ angesehen wird, der die Fruchtbarkeit seiner Methode schon durch seine Wirkung bewiesen habe, dessen endgültiger Rang jedoch erst durch die Klärung der von ihm aufgeworfenen Forschungsprobleme festzulegen sei. In diese Richtung äußern sich beispielsweise Gumbel und Müller, die beide der Ansicht sind, Nadlers Ergebnisse würde in weiteren Forschungen mehrerer Disziplinen nachzuprüfen sein.29 Gefragt sind nun also keine unanfechtbaren, objektiven Darstellungen von Literaturgeschichte, sondern neue Ausblicke auf eine solche, die den Weg für die zukünftige Forschung weisen oder sogar ein Programm für dieselbe sein sollen. Die Anfechtbarkeit von Einzelheiten fällt so weniger ins Gewicht als neue Ansatzpunkte für die Literaturwissenschaft – gewissermaßen als Preis für die prinzipielle Ermöglichung von Synthesen. Allerdings kristallisiert sich viel deutlicher als bei der Rezeption der ersten Auflage heraus, daß die Vorstellungen über Entstehung und Konstanz der allgemein als gegeben betrachteten Stammeseigenschaften vor allem unter den Kritikern Nadlers auseinandergehen. Nadlers Ansicht von einem erblich verankerten und unwandelbaren Stammescharakter teilen nicht alle Rezipienten. Eine „unanfechtbare erbtümliche Uranlage“ der Stämme wird neben ihm explizit nur noch von Franz Koch vertreten.30 In einigen die Ansichten Nadlers befürwortenden Rezensionen kann eine Akzeptanz dieses Gedankens zumindest vermutet werden, etwa bei Georg —————— 27 28
29 30
Müller: Nadlers Literaturgeschichte, Sp. 531. Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 144. Ähnlich Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 197; Stockmann, Alois: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Rezension). In: Stimmen der Zeit 116 H 1 (1928), S. 79. Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 72; Müller: Nadlers Literaturgeschichte, bes. Sp. 531. Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 148.
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Witkowski, der Nadlers Ansatz bemerkenswerterweise der „aprioristischen“ Ideengeschichte als Vorbild entgegenhält.31 Zu beweisen ist die gemeinsame Auffassung Nadlers und Witkowskis jedoch nicht, da der Befürwortung eines Stammesprinzips nicht unbedingt die Befürwortung des Nadlerschen Stammesprinzips zugrunde liegen muß. Tatsächlich machen sich mehrere voneinander abweichende Vorstellungen vom Stammescharakter bemerkbar. Denn während beispielsweise Oskar Benda in seiner weitgehend neutral formulierten Darstellung der „Literaturgeschichte“ implizit den Biodeterminismus von Stammes- und Rassenkonzepten ablehnt, sieht umgekehrt Friedrich Braig in Nadlers oevre die alles andere als starre „Spontaneität der Natur und des Lebens“ ausgedrückt.32 Oft läßt sich nicht feststellen – wie konkret bei Braig – wie umfassend die wissenschaftliche Grundlage bzw. mit welchen Schwerpunkten der Nadlersche Ansatz erfaßt wird, ob etwa der Rezipient mehr Betonung auf der Abstammung oder auf dem Einfluß der Landschaft liegen sieht. Heynen meint etwa, Nadler mache die Umwandlung deutschen Bodens zu deutschem Blut und deutschem Geist anschaulich und geht damit vom Primat der Landschaft aus.33 Müller und Gumbel lehnen den Nadlerschen Stammesbegriff als vor allem durch die Abstammung bestimmten ab. Beide weisen auf die Forschungen von Hermann Aubin, Theodor Frings und Ferdinand Wrede hin, die eine historische Gewordenheit und Wandelbarkeit der Stämme erwiesen hätten, dh. die bei der Feststellung von sozialen Einheiten tatsächlich von soziologischen Faktoren ausgingen (im Gegensatz zu Nadlers Biodeterminismus).34 Zumindest in Gumbels Fall heißt dies jedoch nicht, daß erbliche Einflüsse auf Volkstum und Dichtung ausgeschlossen wer—————— 31 32 33
34
Witkowski, Georg: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4: Der deutsche Staat (Rezension). In: Zeitschrift für Bücherfreunde 20 H 4 (1928), Sp. 174f. Benda: Der gegenwärtige Stand, S. 17; Braig, Friedrich: Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Hochland 26 (1928), S. 316. In seinen Augen verlangen überdies die Stämme und Landschaften nach der „Anerkennung ihres Daseinsrechts“. Heynen, Walter: Bücher und Menschen. In: Preußische Jahrbücher 217 (1929), S. 95. Mahrholz wiederum sieht den Stammescharakter bei Nadler gebildet aus „der Uranlage“ und der Einwirkung der Landschaft auf diese Uranlage, was nur bedingt zutrifft, da sich die Landschaft in der „Literaturgeschichte“ nur indirekt über die spezifische, von der Uranlage bestimmte geistige Aneignung auswirkt. Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 134. Müller: Bemerkungen, S. 931; Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 74. Vgl. Grober-Glück, Gerda: Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Hrsg.: Werner Besch u. a. Berlin, New York: de Gruyter, Bd. 1/1 1982, S. 92-113.
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den. Er stellt in erster Linie die Erfaßbarkeit dieser Einflüsse in Frage, da etwa Rassen sich nie rein erhalten hätten und generell die Forschungen zu Rassenkunde sowie zu Stammes- und Volkscharakter noch nicht umfassend genug seien.35 Den Kern seiner Kritik an Nadler bildet allerdings nicht dessen Annahme erblicher Einflüsse, sondern die willkürliche Zuschreibung von Eigenschaften an die Stämme bzw. die Rückprojektion deren gegenwärtiger Eigenschaften in die Vergangenheit. Auf die neue Grundlegung der „Literaturgeschichte“ auf dem Prinzip der Völkermischung wird von den Rezensenten kaum Bezug genommen. Zwar bilden das Konzept von Klassik und Romantik zentrale Bezugspunkte der Rezipienten, doch in der Auseinandersetzung mit demselben wird kaum ein Vergleich zwischen den Auflagen hergestellt. Positiv hervorgehoben wird allein, daß Nadler in der zweiten Auflage bereit gewesen sei, einzelne Ansichten aufzugeben oder zu verbessern. So hält etwa Heynen Nadler zugute, seine Position fester auszubauen, ohne dabei auf eine Neugruppierung von Landschaften zu verzichten, wo sie notwendig gewesen sei.36 Mit dieser Feststellung geht jedoch keine (Neu)Bewertung des gesamten Ansatzes einher und nur drei Rezensenten halten eine konzeptuelle Entwicklung von der ersten zur zweiten Auflage fest: Karl Essl, Hermann Gumbel und Julius Petersen. Essl lobt in seinem überschwenglichen Beitrag, wie sehr man von der ersten zur zweiten Auflage die Entwicklung des Forschers verfolgen könne.37 Seine nicht zuletzt den politischen Implikationen des Werks geltende Begeisterung gründet sich allerdings in lokalpatriotischer Weise vor allem auf Nadlers Behandlung des sudetendeutschen Schrifttums, dessen Darstellung eben vor allem im vierten Band im Rahmen der „Inventur“ Gewicht erhält. Die mit Nadler übereinstimmende Meinung des Rezensenten, daß die Deutschen in Böhmen von Deutschland „preisgegeben“ worden seien, wird hier deutlich. Die genaueste Beobachtung stammt von Hermann Gumbel, der einen Übergang vom stärker geographisch und politisch-wirtschaftlich beding—————— 35
36 37
Gumbel selbst veröffentlichte z. B. den Beitrag „Das Schwäbische in der schwäbischen Dichtung“ (DVJS 9 (1931), S. 504-533.), in welchem er „...statt eine mystische Einheit von Stamm und Landschaft zu beschwören, historische einheits- und kontinuitätsstiftende Bildungsfaktoren im Raum Württemberg ermittelte wie kirchliches Schulwesen, Pietismus, Familienverflechtung der Oberschichten, altbürgerlichen Antiabsolutismus, Entstehung eines Schwabenmythos.“ Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung?, S. 7. Heynen: Weihnachtsrundschau, S. 307. Auch Stockmann lobt, daß Nadler nicht davor zurückschrecke, Änderungen vorzunehmen: Stockmann, Alois: Deutsche Literatur. In: Stimmen der Zeit 107 H 11 (1924), S. 387. Essl, Karl: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 4 (Rezension). In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 67 (1929), S. 125-128.
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ten Entstehungsvorgang der deutschen Stämme in der ersten Auflage gegenüber der größeren Betonung von Blutmischung sowie der Einwirkung eines irrationalen Landschaftsgeists auf die Stämme in der Neuausgabe verzeichnet.38 Diese Sensibilität ist zweifellos Gumbels Überzeugung von einem historischen Gewordensein der Stämme anstelle eines erblich verankerten und überzeitlichen Stammescharakters zu verdanken, weil dadurch die Aufmerksamkeit für Verschärfungen der Nadlerschen Vorstellungen von diesen überzeitlichen Stammeseigenschaften geweckt wird. In anderer Hinsicht beweist Gumbel jedoch weniger Scharfblick: in seiner „Dichtung und Volkskunde“ betitelten Übersicht über Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte findet sich auch ein Abschnitt über „Dichtung und Familie“.39 Darin wird Bezug genommen auf Theorien, die Talent als das Ergebnis von Inzucht und Genie als Resultat der Kreuzung von Rassen, Nationen und Stämmen verstehen. Weiters wird das Konzept des Ahnenverlustes referiert, aufgrund dessen Stämme entstünden. Während Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nun zuvor in den Abschnitten „Dichtung und Landschaft“ sowie „Dichtung und Stammestum“ umfassende Behandlung erfahren hatte, findet sein Konzept in den Ausführungen zum Einfluß der Familie auf die Dichtung keine Erwähnung. Zudem nennt Gumbel nicht Ottokar Lorenz als Quelle für das referierte Konzept zur Entstehung von Stämmen, sondern Robert Sommers „Familienforschung, Vererbungs- und Rassenlehre“. Dieses von Gumbel in dritter Auflage von 1927 zitierte und erstmals 1907 (noch unter dem Titel „Familienforschung und Vererbungslehre“) erschienene Buch beruhte allerdings maßgeblich auf Lorenz’ Theorien. Gumbel hält diesem genealogisch begründeten Konzept der Stammwerdung ein weiteres Mal soziologische Einflüsse wie den Verkehr entgegen und stellt die Vererbungsbiologie in erster Linie in Verbindung mit der „alten Auffassung der Stammestheorie“.40 Umso bemerkenswerter ist es, daß Nadler in diesen Ausführungen keine Rolle spielt. Allerdings muß in Erinnerung gerufen werden, wie bereits bei der Rezeption der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ die genealogischen Konzepte Nadlers kaum in den Blick geraten waren. In der Neuausgabe wird die Nadlersche Vorstellung zur Stammwerdung noch zusätzlich von den Konzepten der Völkermischung gewissermaßen überwuchert, sodaß die Grundlegung in der Lorenzschen Genealogie ohne vorherige Analyse der früheren Bände kaum faßbar ist. Allerdings wäre das Urteil Gumbels wohl auch durch eine eingehendere Auseinandersetzung mit den genealogischen Grundlagen der —————— 38 39 40
Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 73. Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 76-78. Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 77.
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stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht beeinflußt worden, da er die Vorstellung eines an die Vererbung gebundenen Stammestums generell ablehnte. Julius Petersen erfaßt im Vergleich der ersten mit der zweiten Auflage, daß sich Nadlers Romantik-Konzept erst im Laufe der Zeit entwickelt hatte.41 Möglicherweise ist aber gerade anhand der Behandlung von Klassik und Romantik zu erklären, weshalb die neue Grundlegung der „Literaturgeschichte“ so wenig thematisiert wurde. Denn Franz Koch hielt in einem seiner Beiträge fest, daß gegen Nadlers Klassik-Konzept anders als gegen seine Ansichten zur Romantik keine Einwände aus den Fachkreisen erhoben worden seien.42 Da aber gerade die Rückführung der Romantik auf die Mischung zwischen Deutschen und Slaven im ostdeutschen Siedelgebiet bereits in der ersten Auflage – wenn auch erst im dritten Band – entwickelt war und in der zweiten Auflage nur mehr die Einführung dieses Vorgangs als geistige Wiedergeburt einer neuen völkischen Einheit zur höheren Kultur der geistigen und körperlichen Sieger hinzu kam, ist die neue Konzeption bei einer hauptsächlichen Auseinandersetzung mit der Romantik unter Umständen weniger in den Blick geraten als es umgekehrt bei einer Umstrittenheit der Klassik der Fall gewesen wäre.43 Denn in diesem Fall wäre die neue Konzeption der Klassik viel stärker thematisiert worden. Nadlers Vorstellung der Romantik als ethnologische Bewegung anstelle einer (rein) geistesgeschichtlich zu verstehenden Entwicklung konnte sich vor allem unter den Vertretern der Ideen- und Problemgeschichte nicht durchsetzen, an deren Spitze Rudolf Unger und Julius Petersen standen. Zusammenhänge der Entstehung der Romantik in Deutschland mit den spezifischen Verhältnissen des ostdeutschen Siedellandes werden zwar auch von ihnen in ihre Betrachtungen mit einbezogen, aber der Gedanke, daß nur dem östlichen Siedelvolk entstammende Dichter als „Romantiker“ zu bezeichnen seien, wird stets mit dem Hinweis auf die gemeineuropäischen Erscheinungen der Romantik und ihre Vertreter im Westen Deutschlands zurückgewiesen. Deren Charakterisierung im Rahmen einer „Restauration“ bezeichnet Rudolf Unger (nicht zu unrecht) als „Hilfskonstrukt“.44 —————— 41 42 43 44
Petersen: Das Wesen der Romantik, S. 11. Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 174. Zur Rezeption von Nadlers Romantik-Konzeption vgl. auch Klausnitzer: Krönung des ostdeutschen Siedelwerks?, S. 99-110. Unger: Die Vorbereitung der Romantik, S. 191. Die rein ethnologische Grundlegung der Romantik wird auch von Petersen abgelehnt; Petersen: Das Wesen der Romantik, bes. S. 21f und S. 28. Selbst Nadlers Schüler Karl Lusser, der sich noch auf die erste Auflage der „Literaturgeschichte“ bezieht, bezweifelt den rein völkischen Ursprung der Romantik
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Ein weiterer, auch von Befürwortern des stammeskundlichen Ansatzes angeführter Kritikpunkt ist, wie bereits angeschnitten wurde, die fehlende Gewichtung von Stamm bzw. Abstammung und dem Einfluß der Landschaft sowie die ungleichmäßige Wertung des Einflusses väterlicher und mütterlicher Ahnen.45 Dies ist insofern bemerkenswert, als das Erkennen dieser Schwäche der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ frühere Klagen über die Determiniertheit der Dichter durch Abstammung und/oder Landschaft weitgehend ersetzt. Es scheint, als gäbe die größere Akzeptanz für den stammeskundlichen Ansatz den Blick auf die bei seiner Anwendung entstehenden einzelnen Probleme frei, die zuvor durch die breite Ablehnung des kollektivistischen Aspekts verdeckt worden waren. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, daß das immer größer werdende Bedürfnis nach Synthesen in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, durch das schließlich auch der Nadlersche Ansatz mehr Akzeptanz gewann, einen anderen Umgang mit den vorliegenden synthetischen Entwürfen erforderte und mit sich brachte. Nicht mehr die Verfrühtheit einer Synthese oder ihre Verkürzungen und die teilweise gezwungene Einordnung von Dichtern standen so im Vordergrund der Rezeption, sondern die Qualität des synthetischen Ansatzes, die Stimmigkeit zwischen der gewählten Methode und ihrer Anwendung auf den Gegenstand. Jedoch wird das Argument der Vorschnelligkeit nicht gänzlich fallen gelassen. Es gilt nun weniger der Vorwegnahme noch fehlender Kenntnisse als der Anwendung einer noch zu wenig ausgereiften Methode auf den Gegenstand,46 wie es bei Unger der Fall gewesen war und wie sich auch bei Petersen zeigt: Eine besonnenere Methode hätte vielleicht erst einmal grundsätzlich die Grenzen festzustellen gesucht, innerhalb deren jedes der in Betracht kommenden Elemente sich auszuwirken vermag: das Blut der Ahnen, die geopsychische Einwirkung der Landschaft und des Klimas oder die geistige Bedeutung des genius loci, falls Angehörige verschiedener Stämme in einem literarischen Zentrum sich unter gleichen Bildungsbedingungen zusammengefunden haben. [...] Nadler vermag [...] für jeden Dichter den Ursprung seines Wertes genau zu bestimmen. Das gelingt nur, indem zwischen den drei genannten Gesichtspunkten ohne Abmessung der Tragweite spielend gewechselt wird, so daß bei einem Dichter, der seinem Stammsitz entrückt ist, je nach Bedarf das Blut eines seiner vier Urgroßväter oder sein eigener Geburtsort oder der neugewählte Wohnsitz als das Ausschlaggebende für Weltanschauung, Persönlichkeit und Stil erscheinen muß. So ist die Grup-
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Lusser, Karl Emanuel: Josef Nadlers Neubegründung der Literaturgeschichte. In: Hochland 2 (1924), S. 161-183, hier S. 177. z. B. Unger: Die Vorbereitung der Romantik, S. 183. Wurde zuvor kritisiert, daß noch nicht genug Detailkenntnisse auf der Grundlage philologischer Arbeitsweise gewonnen wurden, so ist nun ausschlaggebend, ob für das auf die Kenntnisse angewandte Ordnungsprinzip bereits genügend Forschungsergebnisse vorliegen.
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pierung in vielen Fällen nicht naturgegeben, sondern improvisiert, so oft auch [...] die Kausalität als eine unerbittliche dargestellt wird.47
Auf diese Bemerkung Petersens bezieht sich auch Koch, der einen „systematischen Unterbau der gesamten Methode“ einfordert, der nach seinen Vorstellungen wohl mit stärkerer Betonung der Abstammung zu geschehen hätte, nachdem er die wachsende Rolle der geographischen Faktoren in Nadlers Werk kritisiert hatte.48 Die mangelnde Gewichtung von Geographie und Biologie in Nadlers Stammeskonzept spielt auch in der Rezension des österreichischen Sozialdemokraten Fritz Brügel eine wichtige Rolle.49 Sein Artikel ist vor allem angesichts seiner Kritik an den politischen Implikationen von Nadlers Werk bedeutsam, zeichnet sich jedoch noch in anderer Hinsicht aus: Brügel betont die Zusammenhänge der „Literaturgeschichte“ mit der von Nadler abgelehnten materialistischen Geschichtsauffassung aufgrund deren jeweiliger teilweiser Begründung auf Herder. Somit weise Nadlers Werk einen neuen Weg der Literaturgeschichtsschreibung, wenn auch die Wandelbarkeit von Stämmen und Landschaften sowie viel stärker der Einfluß der Wirtschaft auf die Entwicklung der Literatur zur berücksichtigen seien. Doch Nadler selbst ist in Brügels Auffassung nicht derjenige, der die durch seine Methode neu eröffneten Möglichkeiten für die Literaturwissenschaft zu erfüllen imstande wäre, denn seine Darstellung bleibe weit hinter seiner Philosophie und Methode zurück. Die Hauptpunkte der Kritik des Sozialdemokraten betreffen allerdings die unzulässige Vereinfachung des Problems der geistigen und politischen Opposition durch Nadler aufgrund ihrer Beschreibung als „Werk der Juden“ sowie die völlig unzutreffenden, mit Fehlern und Auslassungen behafteten Ausführungen zur Geschichte der sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegung. Brügels Rezension ist der einzige für diese Analyse vorliegende Text, in welchem diese Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung hervorgehoben und kritisiert werden. Dies weist darauf hin, daß das Kritikpotential von sozialistischer Seite wohl höher war als aus bürgerlicher Sichtweise, was nicht zuletzt durch die auf den Bürgerstand konzentrierte Darstellung in der „Literaturgeschichte“ bedingt ist. Dieses Kritikpotential ist umso beachtlicher, weil gleichzeitig die Offenheit für kollektivistische Ansätze der (Literatur-) Geschichtsschreibung unter den Vertretern sozialistischer Anschauungen größer war und dennoch der Nadlersche Ansatz verworfen wurde. Allerdings können sich diese Ausführungen nur auf eine einzelne Rezension stützen und in —————— 47 48 49
Petersen: Das Wesen der Romantik, S. 9f. Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 158. Brügel, Fritz: Zu Nadlers Literaturgeschichte. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 24 (1931), S. 505-510, bes. S. 505.
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diesem Zusammenhang ist zusätzlich zu erwähnen, daß Brügel sich aufgrund seines jüdischen Bekenntnisses 1938 zur Emigration gezwungen sah. Zur Darstellung der „Judenfrage“ in der „Literaturgeschichte“ äußert sich in wertender Form neben Brügel noch Franz Koch, der allerdings Nadlers Darstellung lobt – nicht zuletzt wegen der „ruhigen und sachlichen“ Behandlung dieses Bereichs, den Koch als „biologisches, naturgesetzliches Geschehen“ wertet.50 Nadlers Versuch der Einführung von „Naturgesetzlichkeiten“ in die Literaturgeschichtsschreibung wird nicht von allen Rezensenten in dieser Ausdrücklichkeit thematisiert. Die weitgehende Akzeptanz der Vorstellung von stammlichen Einflüssen auf die Literatur, die über den Einfluß der Umwelt und die Rolle der Abstammung als „natürlich“ gedacht werden, schließt zwar die Annahme von darauf beruhenden Gesetzmäßigkeiten mit ein, doch daß daraus in der „Literaturgeschichte“ eine „Naturnotwendigkeit“ der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Regionen zu einer Einheit resultiert, wie Nadler sie zeichnet, wird kaum erkannt oder zumindest nicht zum Thema der Auseinandersetzungen gemacht. Etwa Hermann Gumbel weist auf diese Art der „Teleologie“ hin, die er nicht als ausdrücklich vorausgesetzt, aber in Betrachtungsweise und Sprachgebrauch gegeben sieht.51 Selbst die politische Interpretation dieser von Nadler im vierten Band der „Literaturgeschichte“ implizierten „Naturnotwendigkeiten“ in Hinblick auf die staatliche Einheit aller Deutschen wird in der Auseinandersetzung mit Nadlers Werk kaum thematisiert. Allein Franz Koch lobte die großdeutsche Perspektive auf die Literatur: „Aus der großartigen Bilanz über Soll und Haben des kleindeutschen Staates ergibt sich der letzte Umblick über das deutsche Schrifttum. Es ist das erstemal, daß der Begriff der deutschen Literatur in wahrhaft großdeutschem Sinne gehandhabt und demgemäß die deutsche Literatur der Balten, der Amerikaner, der Karpathen-Deutschen solchem Zusammenhang einbezogen wird.“52 Doch außer ihm äußerte sich kein an einer Universität lehrender Germanist zu den politischen Implikationen des Nadlerschen Werks. Dieses allgemeine Abstandnehmen von politischen Äußerungen durch Universitätsprofessoren und -dozenten ist möglicherweise ihrem Selbstverständnis als von anderen Sphären unabhängigen, objektiven Wissenschaftern geschuldet. Denn es ist kaum anzunehmen, daß die großdeutschen Anklänge in Nadlers Werk von seinen Fachkollegen nicht wahrgenommen wurden. Inwieweit gemeinsam mit der wachsenden Akzeptanz für die stammeskundliche —————— 50 51 52
Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 179. Gumbel: Dichtung und Volkstum, S. 72. Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 191:
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Literaturgeschichtsschreibung und ihre Methoden auch die Akzeptanz der politischen Ansichten Nadlers einherging, läßt sich jedoch auf dieser Grundlage nicht beurteilen. Doch auch in Rezensionen außerhalb der Universitätsgermanistik finden sich kaum Stellungnahmen der Autoren zu Nadlers Darstellung des kleindeutschen Staats und der unter die „Inventur“ gefaßten deutschsprachigen Menschen außerhalb desselben. Aus Alois Stockmanns Buchkritik53 wird etwa nur anhand seiner starken Betonung von Nadlers ablehnender Haltung zum kleindeutschen Staat sichtbar, daß diese nicht geteilt wird. In vollem Umfang äußert allein Friedrich Braig seine Übereinstimmung mit Nadlers politischen Linien. Die „Literaturgeschichte“ ist für ihn „...die warnende, mit gewaltigen Beweismassen anrückende und eine Umkehr fordernde Stimme des Volkes, der Not gegenüber einer unerträglich gewordenen Verengung der herrschenden Geisteslage.“54 Und Nadlers „Inventur“ im vierten Band sei „...eine Anklage gegen den politischen und metaphysischen Egoismus, der den mitteleuropäischen Beruf des deutschen Volkes verkannte und die Katastrophe herbeiführte.“55 Bemerkenswerterweise reiht Braig die „Literaturgeschichte“ wegen ihrer sprachgeschichtlichen und volkskundlichen Ausrichtung in eine Sonderstellung „...gegenüber der üblichen, vorwiegend protestantisch, positivistisch und naturalistisch gerichteten Literaturgeschichtsschreibung“56 ein. Dies erstaunt angesichts der zahlreichen Bezüge auf Nadlers positivistische Wurzeln in anderen Rezensionen,57 ist aber eine weitere Illustration der schwankenden Einschätzungen, welche die „Literaturgeschichte“ aufgrund ihrer spezifischen und facettenreichen Grundlegung erfahren konnte. Die naheliegende Verbindung von Braigs katholischem Bekenntnis mit seiner Zustimmung zu Nadlers impliziter Propagierung eines einheitlichen großdeutschen Staats, die durch des Rezensenten Absetzung von einer „protestantischen“ Literaturgeschichtsschreibung gestützt wird, kann hier nur vermutet werden. Denn auch Stockmanns Artikel mit seiner kühlen Haltung den Nadlerschen Ausführungen gegenüber erschien in einer katholischen Zeitschrift (die „Stimmen der Zeit“ waren das Organ der —————— 53 54 55 56 57
Stockmann: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, S. 78f. Braig: Nadlers Literaturgeschichte, S. 316. Braig: Nadlers Literaturgeschichte, S. 317. Braig: Nadlers Literaturgeschichte, S. 316. z. B. Benda: Der gegenwärtige Stand, S. 17; Koch: Stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung, S. 189; Unger: Die Vorbereitung der Romantik, S. 176. Bei Unger heißt es, Nadler vollziehe eine Synthese aus „soziologischem Positivismus“ und „volkhafter Romantik“.
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Jesuiten in Maria Laach), womit hier über die subjektiven Meinungen der einzelnen Autoren hinaus keine mehrheitliche Zustimmung oder Ablehnung der Nadlerschen Darstellung in protestantischen bzw. katholischen Kreisen festgestellt werden kann. Auch eine größere Akzeptanz gegenüber dem Nadlerschen Ansatz innerhalb Österreichs im Gegensatz zu „Reichsdeutschland“ ist nicht mehr zu verzeichnen, da etwa der österreichische Landesschulinspektor Oskar Benda dem Biodeterminismus Nadlers und seiner Darstellung der Stämme als handelnde Persönlichkeiten nicht vorbehaltlos gegenüber stand und auch der vehementeste Fürsprecher der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in Wien, Franz Koch, sich im Laufe der Zeit stärker von Nadlers Ansichten abgrenzte – wenn auch in im Vergleich zu Benda umgekehrter Richtung. Die katholische und österreichische Tendenz, die Nadler in Rezensionen zur ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ oft und zu recht attestiert wurde, scheint im Rahmen der generellen Hinwendung zu größeren Synthesen insofern an Bedeutung zu verlieren, als das Bewußtsein für die Subjektivität und Standortgebundenheit dieser Synthesen zumindest bei einigen Rezensenten gewachsen war. Dies ist besonders bei Werner Mahrholz zu bemerken, der sich gegen eine Bewertung des Nadlerschen Werks mit politischen anstatt mit wissenschaftlichen Maßstäben äußerte und auf die Notwendigkeit hinwies, der „...überwiegend protestantischen und liberalen Literaturgeschichte eine wirklich fundierte katholische Geschichtsbetrachtung, welche nicht propagandistischen, sondern wissenschaftlichen Charakter hat, gegenüberzustellen.“58 Denn vor allem ein katholischer Autor habe Kenntnis der und Gefühl für die katholische Literatur und: „Wissenschaft ist schließlich kein Gebilde, das in der blauen Luft steht, ohne Voraussetzungen und Hintergründe, und so geht irgendwie der letzte Lebensgrund des Forschers, auch wenn er selber noch so ‚voraussetzungslos’ zu sein glaubt und sich müht, in sein Werk und seine Leistung über; diese Bemerkung gilt ebenso für die Natur- wie für die Geisteswissenschaften.“59 Ansätze zu einer entsprechenden Sichtweise finden sich auch bei jenen Autoren, die Nadlers Richtung als eine unter mehreren möglichen Weisen der Darstellung von Literaturgeschichte fassen. Doch eine so klare Sicht auf die Präsupposition der Wissenschafter ihrem Forschungsgegenstand gegenüber wie jene von Mahrholz stellt noch —————— 58
59
Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 133. Mahrholz kritisiert hier jene, die Nadler „zum Partikularisten und katholischen Propagandisten“ stempeln würden; mit „politisch“ sind also keine Stellungnahmen zur in der „Literaturgeschichte“ propagierten Zukunft des deutschen Volkes gemeint, sondern nur Stellungnahmen zu seinem Ansatz. Mahrholz: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, S. 134.
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eine Ausnahme dar, denn selbst angesichts des „Methodenpluralismus“ war unter den Germanisten die Überzeugung von der Objektivität wissenschaftlicher Forschung noch sehr stark. Unterschiedliche Methoden galten ihnen als unterschiedliche Wege der Annäherung an dieselbe – objektiv zu denkende – Erkenntnis.60 Allerdings begann das Bestehen auf die Voraussetzungslosigkeit großer Dichterpersönlichkeiten bzw. auf die Unabhängigkeit ihres Genies von Abstammungs- und Umwelteinflüssen abzunehmen. In demselben Grad, wie die Aufnahme der „natürlichen“ Seite des Menschen in die Literaturwissenschaft Akzeptanz findet, wächst auch die Bereitschaft, diese Gebundenheiten ebenso für die großen Dichter anzunehmen ohne daß ihnen dadurch ihre herausragende Stellung genommen würde. Günther Müller stellt etwa dazu fest, Nadler stelle „historische Wirklichkeiten“ dar und ...dazu gehört nun einmal die Tatsache, daß dem Menschen durch die Zeit, in die er geboren ist, und durch das Blut, mit dem er geboren ist, aus der unendlichen Fülle der Lebensmöglichkeiten ein bestimmter Ausschnitt zugewiesen wird, innerhalb dessen er sich entscheiden kann und entscheidet. [...] diese schlichte Tatsachenfeststellung hat mit der Frage der Prädestination und der ethischen Determiniertheit schlechterdings garnichts zu tun.61
In dieser Bemerkung Müllers schwingt implizit wiederum das zu Anfang des Kapitels skizzierte biologische Elitendenken des Bildungsbürgertums mit. Allein der Kunsthistoriker und –kritiker Franz Roh nimmt noch 1922 in seiner Rezension der „Berliner Romantik“ die „Unter- und Überwertigen“ von jenen einfachen „Durchschnittsnaturen“ aus, welche allein auf die einfachen Ursachen von Abstammung und Landschaft zurückzuführen seien. Doch auch hier gilt die Kritik nicht dem von ihm angenommenen Einfluß von Abstammung und Umwelt auch auf die großen Persönlichkeiten, sondern dem Verfahren Nadlers, dem sich „...verwickelte, blutund bildungsgenealogisch differenzierte Künstler und Gruppen widersetzen...“62 würden. Die großen Persönlichkeiten unterliegen also in Rohs Vorstellung denselben Determinanten wie die „Durchschnittsnaturen“, allerdings in weit komplexeren Zusammenhängen als die stammeskundliche Methode zu erfassen imstande sei. Somit wird keine Unabhängigkeit der großen Dichter und Künstler von äußeren Einflüssen mehr behauptet, sondern ihr herausragender Status wird über ihre spezifisch verwickelten und deshalb nicht erfaßbaren Abstammungsverhältnisse und äußeren Einflüsse begründet. —————— 60 61 62
Exemplarisch dafür ist Koch: Gundolf und Nadler. Müller: Bemerkungen, S. 931. Roh, Franz: Josef Nadler, Berliner Romantik (Rezension). In: Zeitschrift für Bücherfreunde 24/2 (1922), Sp. 89.
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Zusammenfassend ist die Rezeption der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ durch zwei Aspekte zu kennzeichnen: zunächst hatte sich das Bedürfnis nach großen Synthesen in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung auch im Rahmen der Universitätsgermanistik so weit durchgesetzt, daß eine Ablehnung des Nadlerschen Werks allein aufgrund der mangelnden Einhaltung positivistisch-philologischer Standards nicht mehr haltbar war. Das entsprechende Argument erfährt aus demselben Grund auch keine Anwendung mehr. Dadurch wird eine detailliertere Auseinandersetzung mit der Anwendung des stammeskundlichen Konzepts auf den Forschungsgegenstand gefördert, denn an die Stelle einer pauschalen Zurückweisung aufgrund der Nichteinhaltung des gültigen methodischen Standards muß nun eine Einreihung unter mehrere mögliche methodische Ansätze erfolgen.63 Weiters ist innerhalb der Germanistik übereinstimmend mit allgemeinen Entwicklungen mancher Ansichten des Bildungsbürgertums die zunehmende Akzeptanz einer „natürlichen“, anthropologisch-biologischen Grundlage zumindest eines Teils der geistigen Erscheinungen eines Individuums sowie von Menschenverbänden wahrzunehmen. Gerade an dieser Linie beginnt sich eine Differenzierung des Begriffs der Stammeseigenschaften abzuzeichnen. War bei der Rezeption der ersten Auflage die Erforschung von Stammeseigenschaften der germanistisch orientierten Volkskunde als Aufgabe zugeschrieben und damit prinzipiell dem ideellen Bereich der Sprache und des Brauchs zugeordnet worden, so kommt es nun unter Berücksichtigung biodeterministischer Vorstellungen zu einer anderen Sicht auf den Begriff des Stammescharakters. Dies äußert sich in der Ablehnung der Vorstellung von unwandelbaren Stammeseigenschaften etwa durch Gumbel und Müller. Auf dieser Grundlage kristallisiert sich jedoch ein wesentliches Problem heraus: die Stämme und Landschaften werden nun als mögliches Prinzip für eine Darstellung der deutschen Literaturgeschichte anerkannt, aber gleichzeitig liegt keine Einigung über Grundlage und Konstanz der angenommenen Stammeseigenschaften vor. Wer von „Stammeseigenschaften“ spricht, kann damit historisch veränderbare gemeinsame mentale Züge einer in einer Region lebenden Menschengruppe genausogut meinen wie überzeitliche, den Angehörigen einer Vererbungsgemeinschaft eignende Charakterdispositionen. Verschärft wird dieser Problemkomplex dadurch, daß beide Auffassungen wiederum in unterschiedlicher Weise mit Auffassungen von Umwelteinflüssen verbunden werden können. Da außerdem Nadler selbst in Hinblick auf die doppelte Grundlegung seines —————— 63
Ansätze dazu hat es bereits bei der Rezeption der ersten Auflage um 1920 gegeben, etwa bei Hermann August Korff. Vgl. dazu auch die auf Dainat gestützten Ausführungen in 2.3.
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Stammescharakters in Abstammung und Landschaft(saneignung) nicht immer seinem eigentlichen Konzept gemäß gewichtet, entfaltet sich eine umfassende Zahl an Auslegungsmöglichkeiten. Diese wiederum ermöglichen alle Facetten der Befürwortung und Ablehnung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach Nadlers Modell, wie sich gezeigt hat. Die „Literaturgeschichte“ bietet die Basis für die Propagierung einer biodeterministischen (Koch) sowie einer spezifischen geistesgeschichtlichen Darstellungsweise (Mahrholz) und eignet sich als Folie zur Behauptung einer Vormachtstellung der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise (Unger, Petersen, Böckmann). Sie ist jedenfalls die große literaturgeschichtliche Synthese des Methodenpluralismus, an der kein Weg mehr vorbei führt. Die zunehmende Berücksichtigung der physisch-anthropologischen Seite des menschlichen Daseins auch innerhalb der germanistischen Fachkreise geht konform mit entsprechenden generellen Tendenzen zur Zeit der Weimarer Republik. Unterstützt wurde sie zweifellos durch die zahlreichen Verbindungen der deutschen Sprachwissenschaft mit rassentheoretischen Aspekten zur selben Zeit, die allgemein wachsende Konjunktur eben dieser Rassentheorien und den Übergang von der Auffassung der Deutschen als Sprachnation zu jener einer Volksnation.64 Festzuhalten ist allerdings, daß diese Entwicklung die Literaturwissenschaft erst erfassen kann, nachdem die Absetzung der Geistes- von den Naturwissenschaften auf methodischer Grundlage sich so weit durchgesetzt hat, daß sie durch eine Einbeziehung des „natürlichen“ Menschen nicht mehr gefährdet wird. Nichtsdestotrotz kann die Berufung auf die Trennlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nach wie vor der herabmindernden Wertung des Nadlerschen Ansatzes dienen – man denke an Unger und seine Forderung nach naturwissenschaftlichen Beweisen für Nadlers Stammeskonzept. Dies erinnert stark an die Anwendung „philologischer“ Argumente zur Ablehnung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu einem Zeitpunkt, als die rein philologische Arbeitsweise von vielen bereits nicht mehr als ausreichend empfunden wurde. Man beabsichtigte selbst nicht, naturwissenschaftlich zu arbeiten, aber für Ansätze, die dies dennoch taten, verlangte man naturwissenschaftliche Beweise. Ähnliches wird sich im Hinblick auf die Philologie bei der Analyse von Nadlers Rolle im Besetzungskarrussel der Germanistik zeigen. Reine philologische Arbeit wurde nicht mehr als oberstes Ziel der Literaturwissenschaft gesehen, aber die Nichteinhaltung philologischer Standards war —————— 64
Hier sei besonders auf die bereits zitierte Arbeit Ruth Römers hinzuweisen: Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland.
Lehrstuhlbesetzungspolitik
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ein willkommenes Gegenargument gegen unerwünschte oder konkurrierende Ansätze. Zu den Ursachen für das nunmehrige Ausbleiben von Protesten gegen jegliche kollektivistische Literaturgeschichtsschreibung können wiederum nur Vermutungen geäußert werden. Zum Teil ist diese Entwicklung wohl mit der stärkeren Einbeziehung anthropologischer Aspekte in Verbindung zu setzen, weil dadurch größere Menschenverbände gewissermaßen automatisch auf eine gemeinsame Grundlage gestellt werden. Weiters erfordert schon das Ziel einer Synthese der literaturwissenschaftlichen Einzelergebnisse Zugeständnisse an die Darstellung einzelner Persönlichkeiten. Im Zuge der detaillierteren Auseinandersetzung mit der „Literaturgeschichte“ wird den Rezensenten außerdem bewußt geworden sein, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung die Hervorhebung großer Individuen nicht unmöglich macht, während Nadler im vierten Band ohnehin schon im Laufe seiner Entstehung mehr Gewicht auf die einzelne Person legte. Und zuletzt ist anzunehmen, daß mit der erfolgreichen Durchsetzung des neuen Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften die Disziplin wieder etwas durchlässiger für kollektivistische Ansätze wurden, sofern diese keine Nähe zu sozialistischem Gedankengut aufwiesen.
7.2. Nadler im Rahmen der Lehrstuhlbesetzungspolitik Als Nadler im Jänner 1912 an die kleine, im Grenzbereich zwischen deutschem und französischem Sprachraum situierte und durch ihren dezidiert katholischen Charakter ein wenig isolierte Schweizer Universität berufen wurde, hatte er wohl kaum damit gerechnet, dreizehn Jahre lang (mit Ausnahme seines Kriegsdienstes von Juli 1914 bis September 1917) dort zu lehren – sein erklärtes Ziel war stets ein Lehrstuhl in Prag oder Wien als Vertreter der Schule August Sauers gewesen. Doch bis zu seiner Berufung nach Königsberg 1925 gelang es Nadler trotz mehrerer Anläufe nicht, eine Professur an einer größeren und bedeutenderen Universität zu erlangen. Die Berufungsverfahren, in welche Nadler involviert war, geben allerdings ein gutes Bild davon, wie Nadlers Persönlichkeit und Werk jeweils in akademischen Kreisen und den beteiligten politischen Gremien aufgenommen und bewertet wurden. Mit Hilfe ihrer Analyse läßt sich die Bedeutung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung im Vergleich zu anderen Ansätzen des „Methodenpluralismus“ innerhalb der Disziplin erfassen.
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7.2.1. Zürich 1920 In Zürich stand 1920 nach dem Tod von Adolf Frey die Besetzung eines Ordinariats für Geschichte der deutschen Literatur an.65 Die philosophische Fakultät legte der Hochschulkommission des Kantons folgenden Vorschlag vor: Extraordinarius Emil Ermatinger sollte Titel und Rang eines Ordinarius erhalten, unter gleichzeitiger Ausweitung seines bisherigen Lehrgebiets der neuesten Literatur (ab Goethes Tod bis in die Gegenwart) auf die Zeit ab 1750. Gleichzeitig sollte Privatdozent Pestalozzi66 ein Extraordinariat für deutsche Literatur des Mittelalters übertragen werden. Neben diesen beiden intern zu befördernden Lehrenden wünschte die Fakultät, der neu zu berufende Ordinarius für Geschichte der deutschen Literatur solle besonderes Augenmerk auf die deutsche Literatur der Epochen von der Reformation bis zu Goethes Tod legen. Für dieses Ordinariat wurde als einziger Kandidat Rudolf Unger in Vorschlag gebracht, der zu diesem Zeitpunkt in Halle lehrte. Allein für den Fall, daß die Einrichtung eines Extraordinariats für Pestalozzi und die Berufung eines Ordinarius, der zwar nominell das gesamte Fachgebiet, aber praktisch vor allem die Zeit von 1500-1832 abdecken würde, beim Regierungsrat des Kantons keinen Anklang finden sollte, befürwortete die Fakultät als Alternative ein Ordinariat für die deutsche Literatur des Mittelalters bis zu Goethes Tod. Für dieses wurden aequo loco Hermann Schneider (Extraordinarius in Berlin) und Josef Nadler in Vorschlag gebracht. Im Sitzungsprotokoll des Regierungsrats, das die Vorschläge der Fakultät indirekt zitiert und die Überlegungen von Hochschulkommission sowie die abschließenden Entscheidungen des Erziehungsrats wiedergibt, zeichnet sich ab, daß beide Seiten – Universität und Regierung – an einer Stärkung der heimischen, also der Schweizer Germanisten interessiert waren. Die gesamte Beratung der Lehrstuhlbesetzung an der Fakultät orientierte sich zunächst an der Förderung der bereits an der Universität Zürich lehrenden Dozenten. Oberstes Anliegen war in diesem Zusammenhang die Besserstellung Ermatingers, der nur deshalb nicht für den zu besetzenden Lehrstuhl genannt wurde, weil er aus privaten Gründen seine zweite Lehrverpflichtung an der Zürcher Technischen Hochschule nicht —————— 65
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Die Lehrstuhlbesetzung in Zürich wird anhand des gedruckten Protokolls der Sitzung des Regierungsrats des Kantons Zürich vom 24. 7. 1920 dokumentiert (Zl. 2346. Universität), die sich in der Personalakte des schließlich berufenen Rudolf Ungers im Staatsarchiv des Kantons Zürich befindet (StAZ U 109 b.3 Rudolf Unger). Im Archiv der Universität Zürich sind im Personalakt Ungers keine Dokumente zu dieser Berufungsangelegenheit enthalten. Der Vorname dieses Privatdozenten wird in den Akten nirgends festgehalten und auch anhand biographischer Nachschlagewerke konnte keine entsprechende Persönlichkeit identifiziert werden.
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aufgeben konnte.67 Erst von der angestrebten Förderung Ermatingers wurden offensichtlich die Anforderungen an den neu zu berufenden Ordinarius abgeleitet. Nachdem die Suche nach einem Schweizer Kandidaten, der das gesamte Fachgebiet abdecken könnte, zu keinen Ergebnissen geführt hatte, zog die Fakultät Schneider und Nadler in Betracht, die schließlich von Unger aus dem Feld geschlagen wurden: Wenn die Fakultät sich auf der einen Seite dahin ausspricht, es seien Professor Ermatinger Titel und Rang eines ordentlichen Professors zu verleihen mit der Möglichkeit, sein Wirkungsfeld auf weitere Gebiete der deutschen Literaturgeschichte auszudehnen, so sei sie durch die Verhältnisse gezwungen worden, unter ausländischen Gelehrten für Besetzung der Professur sich umzusehen. Nachdem sodann erst in Vordergrund gestanden: Hermann Schneider, geboren 1886, in Zweibrücken (Rheinpfalz), seit 1916 Extraordinarius an der Universität Berlin und Josef Nadler, geboren 1884, aus Deutschböhmen, Professor der deutschen Literaturgeschichte in Freiburg (Schweiz), habe sich in letzter Stunde ergeben, daß die Möglichkeit bestehe, Rudolf Unger, Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte, in Halle, zu gewinnen, der von 1915-1917 als Ordinarius für das ganze deutsche Literaturgebiet in Basel gewirkt hatte, welche Nomination von der Kommission den beiden anderen einstimmig vorangestellt wurde.68
An diesem Punkt ist leichte Widersprüchlichkeit spürbar. Denn einerseits beteuert die Fakultät, keine passende Schweizer Persönlichkeit gefunden zu haben, da den in Frage kommenden Kandidaten vor allem die Vertrautheit mit dem Mittelalter fehle. Andererseits favorisierte das Professorenkollegium eindeutig Rudolf Unger, wobei auch diesem keine besondere Vertrautheit mit der Literatur des Mittelalters zugeschrieben werden kann, obwohl er 1915-17 als Ordinarius in Basel das gesamte Fach abgedeckt hatte (in Halle lautete sein Nominalfach „Neuere deutsche Literaturgeschichte“). Doch die Fakultätskommission führt weiter aus, sie fände ...daß es ihm [Unger] bei der Größe und Umfang seiner übrigen Aufgaben doch nur in beschränktem Maße möglich sein werde, die mittelalterliche Literatur in seinen Lehrbetrieb einzubeziehen. Daher gelangt die Fakultät zu ihrem weiteren Antrag, es sei Privatdozent Dr. Pestalozzi mit einem besonderen Extraordinariate, eventuell wenigstens mit einem ständigen Lehrauftrag für mittelalterliche Literatur zu betrauen. 69
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Protokoll der Regierungsratsitzung des Kantons Zürich am 24. 7. 1920, Zl. 2346. In: StAZ U 109 b.3 Personalakten Unger. Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920. Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920; Pestalozzi, so wurde davor ausgeführt, hatte auf Anfrage nach der Bereitschaft, das Ordinariat für das gesamte Fach zu übernehmen „...erklärt, daß er sich die Kraft zur Erfüllung einer so exponierten Aufgabe nicht zutrauen würde.“
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Dies hätte freilich auch für einen mit der mittelalterlichen Literatur weniger vertrauten Schweizer Kandidaten gelten müssen. Die Vorstellungen der Hochschulkommission sowie in Anschluß daran des Erziehungsrats stimmten „in grundsätzlicher Richtung“ weitgehend mit den Forderungen und Vorstellungen der Fakultät überein. Die Verleihung eines Ordinariustitels an Ermatinger fand mehrheitliche Zustimmung, wobei man eine Entlastung des zu berufenden Lehrstuhlinhabers für das Gesamtfach durch den seit 1911 bestehenden Lehrauftrag Ermatingers („Deutsche Literatur seit Goethes Tod in kritisch-ästhetischer Behandlung“) bereits ohne eine Erweiterung desselben auf die Zeit ab 1750 für gegeben sah. Ebenfalls auf breiten Konsens stieß eine dementsprechende Bezeichnung des Nominalfachs für den neu zu berufenden Ordinarius: Ordinariat für das Gesamtgebiet der deutschen Literaturgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von der Reformation bis zu Goethes Tod. Dies bedeutet implizit bereits eine Bevorzugung Ungers auch seitens der Hochschulkommission, da die Fakultät für eine in dieser Weise gestaltete Professur ihn allein vorgeschlagen hatte. Eine nur durch eine einzelne Stimme repräsentierte Minderheit der Kommission wünschte eine Neuaufteilung des gesamten Gebiets der Germanistik unter die vier bereits an der Fakultät lehrenden Dozenten Ermatinger, Pestalozzi, Professor Bachmann und Privatdozent Robert Fäsi, womit die prinzipielle Bevorzugung von Schweizer Germanisten seitens des Zürcher Regierungsrats nochmals unterstrichen wird. Diese findet ausformuliert ihren Niederschlag in den abschließenden Überlegungen des Erziehungsrats, wo offensichtlich zumindest zwei Mitglieder die Berufung Fäsis forderten.70 Doch auch von außerhalb des Regierungsrats scheint es Druck gegeben zu haben, einen Schweizer zu berufen: Einer Eingabe der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, vom 19. Juli 1920, es möchte die Besprechung der Berufung „jenes Ausländers“ [Unger] und die Wahl selbst in den zuständigen Behörden bis auf weiteres verschoben, und es möchten neue Unterhandlungen eingeleitet und gepflogen werden, ob vielleicht nicht doch noch irgend eine schweizerische Lösung zu finden sei, wird [...] keine Folge gegeben. 71
Einigkeit herrschte in der Hochschulkommission darüber, daß bezüglich möglicher Lehrveranstaltungen Ermatingers auch auf dem Gebiet der Klassik und Romantik sowie zur Lehre der mittelalterlichen Literatur der —————— 70
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„Die Hochschulkommission ist darin einig, daß es zu begrüßen gewesen wäre, wenn ein Literaturhistoriker schweizerischer Herkunft als Nachfolger Adolf Frey’s hätte gewonnen werden können.“, Fäsi wird in der Folge zwar als wertvolle Kraft beschrieben, die sich aber noch bewähren müsse und Unger gegenwärtig nicht gleichzustellen sei. Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920. Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920.
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neu zu berufende Ordinarius zu befragen sei. Der Antrag auf Ernennung Pestalozzis zum Extraordinarius wurde damit zurückgestellt. Mit einer Gegenstimme sprach sich die Kommission für die Berufung Rudolf Ungers aus, womit das Abstimmungsergebnis in der Fakultätskommission sozusagen bestätigt wurde, da dort abgesehen von zwei Stimmenthaltungen alle Professoren ebenfalls für die Ernennung Ungers eingetreten waren. Nadler spielt im gesamten Protokoll der Besetzungsvorgänge praktisch keine Rolle, wie es auch in der Fakultätskommission gewesen zu sein scheint, nachdem sich die Möglichkeit einer Berufung Ungers nach Zürich abgezeichnet hatte. Eine detaillierte Aufarbeitung des Berufungsverfahrens ist hier dennoch geleistet worden, um aufzuzeigen, in welcher Weise für eine bevorzugte Richtung der Literaturwissenschaft – in diesem Fall der Geistesgeschichte – argumentiert wurde, wenn diese gegen explizit lokale Personalinteressen durchgesetzt werden sollte. Während das Fakultätsgutachten zu Unger auch in das Protokoll übernommen wurde, ist keines für Nadler oder auch Hermann Schneider vorhanden, wobei unklar ist, ob die Fakultät keine Gutachten weitergab oder sie für den Regierungsrat bereits unerheblich waren. Interessanterweise findet sich Nadlers Name im Rahmen der Überlegungen der Hochschulkommission zu einer „Schweizer“ Lösung wieder, nämlich in einer Auflistung unter Umständen in Frage kommender „Literaturhistoriker schweizerischer Herkunft“, wo es heißt, „Nicht zu leugnen ist, daß sich Dr. Josef Nadler, Professor an der Universität Freiburg, den die Fakultät neben Professor Hermann Schneider, in Berlin, in zweiter Linie [nach Unger] vorschlägt, als Literaturhistoriker ein hohes Ansehen erworben hat.“72 Diese wohl fragwürdige Einreihung Nadlers unter die Schweizer Germanisten hat allerdings keine Folgen, weil der zitierte Satz unkommentiert bleibt und eine Berufung Nadlers ohne Angabe von Gründen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden zu sein scheint. Das Lob für Unger dominiert alles und aufgrund von dessen Status als maßgeblicher Vertreter der ideengeschichtlichen Betrachtung der Literaturgeschichte drückt sich eine Vorliebe für diesen Ansatz aus – seitens der Fakultät wie auch des Regierungsrats. Bemerkenswerterweise sahen die Gremien sich allerdings veranlaßt, die Ideengeschichte weniger herauszuheben als durch andere Aspekte aufgewogen darzustellen. So wird etwa im (indirekt zitierten) Fakultätsgutachten zu Unger betont, daß er „...auf dem Forschungsgebiete der deutschen Literaturgeschichte einer der bedeutendsten Nachfolger Wilhelm Diltheys...“ sei, ohne dabei philologische Grundlagen preiszugeben: „Er sei so der ideale moderne Literaturhistoriker, der —————— 72
Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920.
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zwar den ideengeschichtlichen Problemen durchaus zugänglich sei, aber vor einer allzu impressionistischen Literaturwissenschaft Halt mache.“ 73 Weiters hielt es die Hochschulkommission für notwendig, eine Dominanz der Ideengeschichte in der Zürcher Germanistik durch die zu große De kungsgleichheit der Arbeitsweisen Ungers und Ermatingers – der ebenso ideengeschichtlich orientiert war – auszuschließen. Sie wies auf die zeitliche Trennung der Lehraufträge (Reformation bis Goethes Tod bzw. danach) hin sowie auf die in Ermatingers Lehrauftrag verankerte ästhetischkritische Behandlungsweise, die von Ungers mehr die philologische Seite beachtende Forschungsrichtung abweiche. An diesen Aspekten zeichnen sich Vorbehalte ab, die offensichtlich einer neuen, gegenüber der philologischen Forschung noch nicht genügend bewährten Richtung der Literaturwissenschaft entgegengebracht wurden, selbst wenn in ihren prominentesten Vertreter das größte Vertrauen gesetzt wird. Ein Urteil der Fakultät oder der Hochschulkommission zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung Nadlers ist aus den Akten nicht zu gewinnen. Nadler scheint angesichts der Konzentration auf Schweizer Germanisten oder zumindest auf mit der Schweiz verbundene Germanisten vor allem seine Professur in Fribourg zugute gehalten worden zu sein. Diese wurde allerdings neben der generellen Favorisierung Ungers durch dessen vorübergehende Professur in Basel und den wohlwollenden Urteilen von dort aufgewogen. Nadlers Briefe zeigen, daß er über die Verhältnisse in Zürich recht gut informiert war. Im November 1919 hatte Robert Fäsi Kontakt zu Nadler angeknüpft und ihn eingeladen, einen Vortrag im Hottinger Lesezirkel in Zürich zu halten.74 Dieser Vortrag fand zwar erst zwei Jahre später tatsächlich statt,75 doch es ist nicht unwichtig zu wissen, daß Nadler mit dem Zürcher Privatdozenten zumindest in Briefkontakt stand, denn möglicherweise erhielt Nadler manche Information von ihm. Ende Mai 1920 berichtet Nadler an Sauer, die Berufungskommission in Zürich habe ihn als Nachfolger für Adolf Frey vorgeschlagen und beklagt, daß der Berliner Gustav Roethe, der den Zürchern Hermann Schneider nachdrücklich empfohlen habe, „wieder seine Hand im Spiel“ hätte: Es wird also ein Zweiervorschlag aequo loco. Die Sache ist aber praktisch ohne Bedeutung, weil die Züricher Regierung die Ernennung eines Preußen gar nicht wagen darf. Bei der momentanen Lage in der ganzen Schweiz bedeutete der Züricher Vorschlag, daß ich unico loco verlangt werde. Die Schwierigkeit liegt aber
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Protokoll der Regierungsratsitzung 24. 7. 1920. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-361, Freiburg 7. 11. 1919. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-401, Düdingen 17. 10. 1921. Nadler sprach am 16. 11. 1921 über „Die geografischen und politischen Bildungskräfte des Schweizer Schrifttums“.
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wo anders. In Zürich sitzt ein Privatdozent, ein Züricher, der nicht vorgeschlagen wird, aber es läßt sich nicht absehen, was die Regierung machen wird. [es handelt sich hier wohl um Fäsi] Die Geschichte spielt seit drei Wochen. Ich habe keinen Finger gerührt u. mir damit am besten genützt. Heute war ein Mitglied der Berufungskommission in meiner Vorlesung, der Herr, den ich nicht kannte, stellte sich mir nach der Stunde vor u. lud mich zur Verhandlung im Hotel zu Tische. Beim Lehrauftrag handelt es sich um folgendes: Bachmann liest nur Grammatik, keine Literatur. Ermatinger behält seinen Auftrag für das 19. Jahrh. Ich hätte also vom Mittelalter (dieses einschließlich) bis Klassik einschließlich zu lesen, was mir der idealste Lehrauftrag wäre, den ich mir immer so gewünscht habe. [...] Die Sache steht also folgendermaßen: im Vorschlag stehe ich mit Schneider, der aber praktisch nicht in Betracht kommt (Basel mußte vorigen Sommer den bereits ernannten Pädagogen aus Deutschland wieder abschieben) Mich hält man zwar durch meinen langen Aufenthalt hier für hinreichend gerüstet, was mein Ausländertum anlangt, dagegen ist man in der Stadt Zwinglis sonst mißtrauisch. Mein Buch ist von einem Kommissionsmitglied ausdrücklich auf reformationsfeindliche Sätze geprüft worden. Man hat eben nicht einen gefunden. Was die Regierung tun wird, läßt sich gar nicht abschätzen. Es läßt sich in keiner Weise eingreifen, da bei der Fakultät alles so gut wie bereinigt ist u. bei der Schweizer Mentalität darf man in der Regierung auf keine Weise nachhelfen.
Es läßt sich nicht erschließen, auf welche Mitglieder der Berufungskommission sich Nadler in seinem Brief bezieht, und so bleibt auch unklar, wer den Literaturhistoriker vor allem unterstützte. Das Regierungsratsprotokoll nennt von den Mitgliedern der Kommission die Professoren Bachmann, Bovet, Howald und Lehmann,76 doch mit Ausnahme des Hinweises, daß Nadler anläßlich seines Vortrags im November 1921 mit Howald zu Mittag aß, fällt im Briefwechsel keiner dieser Namen mehr. Als Nadler erfuhr, daß Rudolf Unger von der Fakultät vor ihm und Schneider genannt worden war, sah er die Angelegenheit für entschieden an und klagte: Unger ist schlau genug im letzten Augenblick herangetreten, als er wußte, mit wem er es zu tun hat u. den mir so günstigen ersten Vorschlag über den Haufen geworfen. Vor 4 Jahren wars in Halle schöner als in Basel, also ging er nach Halle. Heute ists in Zürich schöner als in Halle, also geht er nach Zürich. Solche Leute haben immer einen Druckknopf: Dreimal läuten! Obwohl gegenwärtig allerlei für mich getan wird, so ist meine Situation aussichtslos. Schwiegersohn u. Protestant. Dagegen kommt man bloß mit seiner Forschung nicht auf. Damit ist natürlich über meine Zukunft entschieden. Aus der Schweiz gehe ich nicht heraus solange nicht die Welt etwas anders aussieht. Man ist ein rechter Narr, daß man sich so plagt, wo andere die Birnen so von den Bäumen schütteln. Nun haben sie in Bern, Zürich u. Basel lauter Ölgötzen u. die Schweizer können ihre Li-
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Albert Bachmann war Germanist, der sich vor allem auf Grammatik und Dialektologie konzentrierte; Ernest Bovet hatte eine Professur für Romanistik inne; Ernst Howald war klassischer Philologe mit besonderem Interesse für die Geistes- und Kulturgeschichte der Antike; Hans Lehmann unterrichtete als Extraordinarius deutsche Altertumskunde.
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teratur den Sekundarlehrern überlassen. An Hand der Züricher Affäre habe ich wieder einmal einen Blick getan in den freien Protestantengeist. Unbefangen, voraussetzungslos u. was dergleichen schönen Schnalzer mehr sind. Ich kann vergleichen u. sagen: so geht es bei uns in Freiburg nicht zu.77
Nachdem Unger aufgrund seiner Berufung nach Königsberg den Lehrstuhl in Zürich bereits Mitte 1921 wieder verließ, war Nadler ärgerlich darüber, daß dieser ihm wegen so kurzer Zeit die guten Aussichten in Zürich verdorben habe, äußerte aber auch Schadenfreude: Ungers fluchtartiger Abgang von Zürich ist für mich eine große Genugtuung. Ich gönne den Zürichern diesen Reinfall, insbesondere den Reichsdeutschen im dortigen Lehrkörper, die meine vorjährige Berufung hintertrieben haben. Genaueres über die Gründe dieses Debacles konnte [ich] bisher nicht erfahren. Zwei seiner [Ungers] Zuhörer sagten mir, daß seine Vorlesungen unzulänglich seien. Heute sagte mir ein jüngerer Kollege, der viel in Zürich lebt u. eben von dort kam, Unger hätte sich nicht einzuleben verstanden u. sich durch unkluges propagandistisches deutschtümelndes Auftreten unmöglich gemacht. Sei dem wie immer, es muß etwas Ordentliches gegeben haben, sonst ginge der Mann nicht nach einem Semester schon u. nach Stationen in Basel u. Halle nach Königsberg. Unter den heutigen Umständen! Ja! Das deutsche Ausland macht sich über die Schweiz ein sehr falsches Bild. Und wenn man schon kein geborener Schweizer ist, so muß man ein vollkommen ausgelernter Schweizer sein, um sich hierzulande auf den Tasten nicht zu vergreifen. Nun ist in Zürich die Parole ausgegeben: entweder einen Schweizer (den es jetzt nicht gibt) oder einen in der Schweiz vollkommen Akklimatisierten.78
Im Folgebrief berichtet Nadler, daß es an der Universität Zürich wie im Vorjahr zwei Lager gäbe: Schweizer und Nichtschweizer, wobei erstere vor der Berufung Ungers gegen ihn waren und nun für ihn zu sein schienen. Allerdings machten selbst Nadlers frühe Befürworter an der Fakultät, die nicht identifiziert werden können, ihm keine Hoffnungen auf eine Berufung und er selbst rechnete damit, daß seine vormaligen Förderer nun Korrodi unterstützen würden, der 1920 noch selbst für Nadler eingetreten war.79 Es scheint aber in der Folge zu keiner Berufung eines neuen Ordinarius gekommen zu sein, da Nadler anläßlich seines Vortrags im Hottinger Lesezirkel im November 1921 von einer neuen Aufteilung der Lehrverpflichtung berichtet: Bachmann übernahm die Sprachwissenschaft und älteste deutsche Literatur, der nun habilitierte Pestalozzi die Literatur des —————— 77
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-371, Freiburg 5. 7. 1920. Unger war mit Elisabeth Goetz verheiratet, wessen Schwiegersohn er damit war, konnte nicht herausgefunden werden. Vgl. Beßlich, Barbara: Rudolf Unger. In: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, Band 3. Hrsg.: Christoph König u. a. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 1922. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-394, Düdingen 12. 5. 1921. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-395, Düdingen 11. 6. 1921. Korrodi war Redakteur bei der Zürcher Zeitung.
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Mittelalters bis 1600, Ermatinger deckte die gesamte neuere deutsche Literaturgeschichte ab.80 Offensichtlich hatten sich jene Kräfte, die eine reine Schweizer Lösung wünschten, durchgesetzt. Wie stark der Wunsch nach einer solchen Lösung ohne die Berufung eines nicht aus der Schweiz stammenden Germanisten bereits 1920 gewesen war, hat sich am Aufbau des Berufungsvorschlags gezeigt, der zunächst vollständig auf die Förderung Ermatingers ausgerichtet war, und an den Diskussionen in der Hochschulkommission. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Nadlers Nennung im Besetzungsvorschlag wohl zwei Tatsachen geschuldet war: seinem Lehrstuhl an einer Schweizer Universität und seine Fähigkeit, sowohl die mittelalterliche als auch die neuzeitliche Literatur abzudecken. Denn zur Ergänzung der angestrebten Lehrtätigkeit Ermatingers für die Zeit von 1750 bis zur Gegenwart kamen angesichts der weitgehenden Spezialisierung der Germanisten auf entweder das ältere oder das neuere Fach wohl nur wenige Kandidaten in Frage. Nadlers „Literarturgeschichte“ spielte also insofern eine Rolle, als es sich um eine Gesamtdarstellung handelt. Der stammeskundliche Ansatz als neue Richtung der Literaturgeschichtsschreibung hat mit Ausnahme des (fragwürdigen) Urteils, daß er nicht reformationsfeindlich sei, in diesem Berufungsverfahren keine Bewertung erfahren. 7.2.2. Innsbruck 1920/21 Noch im Jahr 1920 wurde durch den Tod eines weiteren Germanisten eine Lehrkanzel frei. Und auch für die Nachfolge Joseph Eduard Wackernells wurde Nadler in Vorschlag genommen. Den Professoren der Innsbrucker philosophischen Fakultät schien sehr daran gelegen zu sein, das Berufungsverfahren möglichst rasch zum Abschluß zu bringen, denn die Kontaktaufnahme mit den in Aussicht genommenen Kandidaten erfolgte noch vor dem Beschluß des Besetzungsvorschlags. So berichtete Nadler an August Sauer Mitte Oktober 1920: Eine Innsbrucker Gruppe ließ mir durch einen Mittelmann [sic] schreiben. Ich habe Schatz mitgeteilt, daß ich mich über einen Vorschlag meiner Person freuen werde u. nach Innsbruck ginge. Ich muß von Frb. fort, wenn ich vorwärts kommen will u. möchte nicht den Eindruck aufkommen lassen, als wäre ich in der Schweiz mit dem guten Rufe u. der hohen Valuta saturiert.81
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ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-408, Düdingen 2. 12. 1921. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-375, Pürstein 16. 10. 1920. Josef Schatz war Germanist mit dem Spezialgebiet der bayrischen Mundarten und seit 1912 Ordinarius in Innsbruck.
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Am 8. November schickte das Dekanat ein offizielles, aber immer noch vertraulich zu behandelndes Schreiben an Nadler mit der Anfrage, ob er bereit wäre, eine Berufung an die Universität Innsbruck anzunehmen. Gleichzeitig ging dasselbe Schreiben an den seit seiner Habilitation an der Deutschen Universität Prag eben dort lehrenden Ferdinand Josef Schneider ab.82 Nadler wie Schneider erklärten ihre Bereitschaft und sandten die erbetenen Lebensläufe und Publikationslisten nach Innsbruck. Indessen reichte der Wiener Privatdozent Eduard Castle unter Berufung auf „...§ 19 der Vollzugsanweisung des Staatsamtes für Inneres und Unterricht vom 2. September 1920, betr. die Zulassung und die Lehrtätigkeit der Privatdozenten an den Hochschulen (StGBl. 124, St. Nr. 415)...“ ohne vorherige Aufforderung durch die Universität seine Bewerbung um die erledigte Lehrkanzel ein.83 Damit ergab sich ein ähnlicher Bewerberkreis wie 1911 in Fribourg, wo ebenfalls Schneider und Castle Konkurrenten Nadlers gewesen waren. Castles Kandidatur spielte allerdings wie zuvor in Fribourg auch in Innsbruck keine Rolle, da er den Vorstellungen der mit der Besetzungsangelegenheit betrauten Kommission nicht entsprach, wie das Gutachten verdeutlicht: Für die Besetzung der durch Wackernells Tod frei gewordenen Professur für deutsche Sprache und Literatur muß eine Lehrkraft gewonnen werden, die in erster Linie die neuere deutsche Literaturgeschichte behandelt, Literaturgeschichte auch im Sinne des wichtigsten Teil der geistigen und kulturellen Entwicklung des deutschen Volkes und über den engeren philologischen Betrieb hinausgehend; darum bleiben in unserem Vorschlage einige österreichische Dozenten dieses Faches unberücksichtigt.84
Bezeichnenderweise wurde der letzte Satzteil nach dem Semikolon erst nachträglich hinzugefügt, wie auch aus dem den Besetzungsvorschlag begleitenden Schreiben der Kommission an den Dekan hervorgeht, daß die Entscheidung bereits am 29. 11. gefallen war, wobei Castle (der eine streng philologische Arbeitsweise verfolgte) allerdings in den Vorbesprechungen sehr wohl berücksichtigt worden sei.85 ——————
82 UAI, Akten der Philosophischen Fakultät Nr. 170 1920/21 - Nachfolge J.E. Wackernell, 83 84 85
Schreiben des Dekanats an Nadler und Schneider [8. 11. 1920]. UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Schreiben Eduard Castles an Dekan Moritz Dreger, Wien 30. 11. 1920. UAI, phil. Fak Nr. 170 1920/21, Besetzungsvorschlag. UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Vorschlag für die Besetzung der Lehrkanzel für neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Innsbruck 9. 12. 1920. Hier ist von einem einstimmigen Beschluß des diesem Schreiben angeschlossenen Gutachtens (hier als „Besetzungsvorschlag“ zitiert) am 29. 11. 1920 die Rede, also einen Tag bevor Castle seine Bewerbung verfaßt hatte – das Datum wurde nachträglich durchgestrichen.
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Als Kandidaten wurden aequo et unico loco Nadler und Schneider vorgeschlagen. Angesichts des eben zitierten Eingangstextes des Besetzungsvorschlags verwundert es nicht, wenn an Nadlers Arbeit besonders seine „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ hervorgehoben wird: Das Hauptwerk stellt die deutsche Literaturgeschichte auf geographische und ethnographische Grundlagen. Gegenüber der Auffassung, daß der einzelne Mann oder das ganze Volk die Entwicklung der Literatur bedingen, legt Nadler das Hauptgewicht auf den Volksstamm. Die Altstämme, Baiern, Alemannen, Franken sind viel früher in die literarische Entwicklung eingetreten als die Neustämme, der erst spät germanisierte Osten. Die gesammte Geistesarbeit der beiden Gruppen wird darauf zurückgeführt, eine wissenschaftliche Arbeit großen Stils, deren Wert grundsätzlich auch von denen anerkannt wird, die über die Grundlagen anderer Meinung sind. Zum ersten Mal seit Wilhelm Scherer liegt hier eine einheitliche Auffassung der deutschen Literaturgeschichte vor, es zeigt sich eine gewaltige Belesenheit, kritischer Scharfsinn und fließende Darstellung.86
Doch auch Schneiders Arbeiten werden sehr gelobt, obwohl er einen dem Nadlerschen entgegenstehenden wissenschaftlichen Ansatz pflegte, sie ...beruhen auf genauer Quellenforschung, das ganze handschriftliche Material ist sorgfältig benützt. Sie sind durch Anwendung der geistesschichtlichen [sic] Methode, durch die Verbindung philosophischer und literaturpsychologischer Betrachtung ausgezeichnet. [...] In allen Arbeiten Schneiders zeigt sich gründliche philologische und philosophische Schulung, weiter Blick, eindringende Forschung und lebendige Darstellung.87
Die Fakultätskommission scheint also sehr genaue Vorstellungen davon gehabt zu haben, welche Persönlichkeiten sie nach Innsbruck zu holen wünschte, wobei in erster Linie darauf Wert gelegt wurde, daß die Betreffenden ihre Forschungen zur Literaturgeschichte in weitere Zusammenhänge einbetteten – der Wille zur Synthese der durch die positivistische Philologie gewonnenen Detailkenntnisse dringt hier durch – während der wissenschaftliche Zugang, unter welchem diese weiteren Zusammenhänge hergestellt wurden, zweitrangig war. Tatsächlich läßt sich seitens der Universität keine Favorisierung eines der Kandidaten erkennen.88 Selbst eine an Schneider gerichtete Anfrage des Dekanats, ob die Zeitungsmeldung über dessen Berufung an die Universität Halle den Tatsachen entspreche, und das darin geäußerte Bedauern, falls er deswegen für Innsbruck nicht mehr in Frage käme, sind nicht als Bevorzugung Schneiders zu verstehen, sondern vor allem als Sorge über eine mögliche Verzögerung der Beru—————— 86 87 88
UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Besetzungsvorschlag. UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Besetzungsvorschlag. Der Vorschlag war im Ausschuß der mit jener Besetzungsangelegenheit beschäftigten Professoren einstimmig angenommen worden. UAI, Akten der Philosophischen Fakultät Nr. 84 1921/22, Nachfolge J.E. Wackernell.
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fungsangelegenheit. Denn der Briefentwurf enthielt den Satz: „Es erwüchse dadurch für uns auch die schwierige Aufgabe einer Ergänzung unseres Vorschlages.“89 Dieser wurde zwar verändert in „Es erwächst für uns dadurch eine schwierige Lage.“, doch der Bezug auf die dadurch anstehenden neuerlichen bürokratischen Aufgaben ist deutlich zu erfassen. Schneiders Berufung nach Halle war unterdessen tatsächlich erfolgt. Er hatte zuvor bekanntgegeben, daß er in Besetzungsvorschlägen in Halle und Königsberg aufscheine und wies in seiner Antwort an das Dekanat darauf hin, aus Innsbruck zwar eine – für ihn unverbindliche – Anfrage, aber nie eine amtliche Bestätigung seines Vorschlags von der Universität oder eine Mitteilung der Wiener Regierung erhalten zu haben. Angesichts dessen sei die Annahme der offiziellen Berufung aus Halle naheliegend gewesen, während Schneider mit dem Erhalt des Ordinariats in Innsbruck nicht gerechnet zu haben scheint: „Was ich sonst noch über den inzwischen erstatteten Innsbrucker Vorschlag erfuhr, war wohl höchst ehrenvoll für mich, ließ es aber doch recht fraglich erscheinen, ob die derzeitige Wiener Regierung gerade an mich den Ruf richten werde.“90 Diese Bedenken Schneiders erweisen sich als berechtigt, denn von Wien aus wurde trotz der geänderten Sachlage kein zweiter Besetzungsvorschlag für den Innsbrucker Lehrstuhl eingefordert, sondern die Verhandlungen mit Nadler aufgenommen. Allerdings kontaktierte das Bundesministerium für Inneres und Unterricht Nadler erst im März 1921, während der Besetzungsvorschlag vom Dekanat am 10. 12. 1920 dorthin weitergeleitet worden war und Schneider zum Jahreswechsel eine Berufung nach Innsbruck ausschloß. Infolge der Anfrage des Dekanats an Nadler, ob er einem Ruf nach Innsbruck Folge zu leisten bereits sei, hatte August Sauer sogleich an der Universität „eingegriffen“, wofür sein Schüler sich mehrmals bedankte. 91 Den schließlich vorliegenden Besetzungsvorschlag der Fakultät begrüßten Sauer und Nadler sehr, da sie sowohl aus der Berufung Nadlers als auch jener Schneiders Vorteile zu ziehen meinten: in zweiterem Fall sollte Nadler Schneider an dessen Stelle in Prag folgen.92 Allerdings scheinen beide den Innsbrucker Lehrstuhl für Nadler bevorzugt zu haben, wohl weil Schneider in Prag lediglich ein Extraordinariat inne hatte. Als Nadler nach —————— 89 90 91 92
UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Entwurf eines Schreibens des Dekanats an Schneider [24. 12. 1920]. UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Schreiben Schneiders an das Dekanat, Teplitz-Schönau 31. 12. 1920. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-376, Pürstein 4. 11. 1920 und 415/1-377, Pürstein 10. 11. 1920. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-381, Pürstein 29. 12. 1920 , 415/1-384, Pürstein 27. 1. 1921.
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Schneiders Berufung auf den Lehrstuhl in Halle der Weg nach Innsbruck und Prag offenstand, optierte er klar für Tirol und bat Sauer lediglich, an der Deutschen Universität so weit aufschiebend zu handeln, daß er im Falle eines Scheiterns in Innsbruck noch eine Alternative hätte.93 Doch schon zu diesem Zeitpunkt, zum Jahreswechsel 1920/21, hoffte Nadler auf finanzielles Entgegenkommen in Innsbruck. Angesichts seines bisherigen in Schweizer Franken ausbezahlten Gehalts und der angespannten wirtschaftlichen Lage in Österreich war sich der Literaturhistoriker bewußt, Einbußen hinnehmen zu müssen und war zunächst auch dazu bereit. Mitte März 1921 nahm schließlich das Ministerium in Wien Verhandlungen mit Nadler auf. Diese gestalteten sich jedoch schwierig. Einerseits, weil die Einführung einer neuen Gehaltsregelung für österreichische Universitätsprofessoren bevorstand, ohne die man Nadler kein Angebot vorlegen konnte. Andererseits, weil die im Ministerium mit der Besetzungsangelegenheit Beschäftigten den Lehrstuhl möglichst bald besetzt sehen wollten, Nadler aber seinem Vertrag entsprechend für die Dauer des Sommersemesters auf jeden Fall noch in Fribourg bleiben mußte.94 Im Juni bat der Dekan der philologischen Fakultät in Innsbruck, Moritz Dreger, im Namen des Professorenkollegiums um raschere Erledigung des Anliegens in Wien; im selben Monat stellte Nadler fest, seit April nichts mehr vom Ministerium gehört zu haben und daß es nun aufgrund seiner Fribourger Verpflichtungen auch für eine Berufung per Oktober zu spät sei. Anfang September erfolgte die Ernennung Nadlers per 1. April 1922.95 Und Ende September trat Nadler von dieser Vereinbarung wieder zurück, was er Sauer gegenüber in folgender Weise begründete: Es ist der schwerste Entschluß, den ich bisher gefaßt habe. Als ich mich im Herbst 1920 um die Stelle bewarb, stand die Krone noch 2,50, das heißt für 100 K bekam man 2,50 Fr. Dann ging es unaufhaltsam herunter. Der letzte Kurssturz bedeutet eine Katastrophe. Österreich ist ein Bankrotteur, der mir gar keine Gegenleistung mehr bieten kann. Sie kennen meine Vergangenheit. Ich habe, verwöhnt durch meine Schweizer Jahre, weder für mich die Kraft unter so gänzlich veränderten Verhältnissen wieder mit dem Entbehren u. der Unsicherheit von vorn anzufangen, noch den Mut, meine Familie dem, was in den nächsten Mona-
—————— 93
94 95
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-384, Pürstein 27. 1. 1921. Je aussichtsreicher sich die Lage in Innsbruck gestaltete, desto ablehnender stand Nadler der Prager Option gegenüber, obwohl Sauer sie gewünscht zu haben scheint. Keinesfalls wollte Nadler sich selbst um das Prager Extraordinariat bewerben, vorgeblich, um in Innsbruck niemanden vor den Kopf zu stoßen. Man müsse seitens der Prager Deutschen Universität an ihn herantreten. 415/1-387, Pürstein 23. 2. 1921, 415/1-388, Pürstein 28. 2. 1921. ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-391, Pürstein 25. 3. 1921. UAI, phil. Fak. Nr. 170 1920/21, Schreiben des Dekanats an das Ministerium für Inneres und Unterricht, 8. 6. 1921; ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-395, Düdingen 11. 6. 1921, 415/1-399, Düdingen 11. 8. 1921.
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ten in Österreich geschehen wird auszusetzen. Der vereinbarte Gehalt von 300.000 K. ist heute nach den Ereignissen der letzen Tage eine lächerliche Summe. Die Teuerung hat in der kurzen Zeit den Tiefstand der Krone noch gar nicht wett machen können. Sie wird ihn aber wett machen u. dann hätte ich wertloses Papier in der Hand. Die Entente wird nicht helfen. Diesem Staat, besser, diesem Volk ist überhaupt nicht zu helfen, wie sich diesen Spätsommer erschreckend gezeigt hat. [...] Habe ich mir damit den Weg an eine andere Universität verrammelt, so muß ich es tragen. Sollen Leistungen nur gelten, wenn es kein Freiburger Professor ist, so trifft es nicht mich, sondern jene, die diesen Maßstab anzulegen wagen. Sei es wie immer, ich kann unter diesen katastrophalen Verhältnissen nicht anders. Ich könnte meine Kinder nicht mehr mit ruhigem Gewissen ansehen. Das Dekret habe ich von Wien noch nicht bekommen u. ich kann mich daher überhaupt nicht für gebunden halten. Was gilt bei solchen Zeiten ein Versprechen, man werde mich ernennen. Wer wird überhaupt morgen oder übermorgen Herr in Wien sein? Und in den nächsten Tagen müßte ich hier meine Demission geben, da ich 1 Semester zuvor kündigen muß. Und das vereinbarte Gehalt ist heute nur noch 1/3 von dem, was er im Augenblick der Vereinbarung gewesen ist. 96
In einem Folgebrief nennt Nadler als weiteren Grund für sein Verbleiben in Fribourg, man habe an seine Stelle einen preußischen Privatdozenten setzen wollen, ohne daß er Einfluß auf seine Nachfolge gehabt hätte. Damit wäre es unmöglich gewesen, wie geplant, Nadlers und Sauers Schüler Moriz Enzinger den Lehrstuhl in Fribourg zu verschaffen. Es gelang den beiden allerdings, an Nadlers Stelle die Berufung Enzingers nach Innsbruck durchzusetzen. Am Fall der Nachfolge Wackernell in Innsbruck zeigt sich, wie schon bei der Analyse der Rezeption der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ bemerkt, daß der stammeskundliche Ansatz in Österreich auf sehr große Akzeptanz stieß: Nadler war offensichtlich ohne langwierige Überlegungen und Beratungen einer der beiden Wunschkandidaten. Zwar bedeutet diese Akzeptanz keineswegs eine ausschließliche Vorliebe für diese Richtung der Literaturgeschichtsschreibung, denn die geistesgeschichtliche Forschung Schneiders war ebenso wohlwollend beurteilt worden.97 Aber sie kennzeichnet dennoch die weitgehende Durchsetzung des Nadlerschen Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit unter den Innsbrucker Universitätsprofessoren. Selbstverständlich ist auch der Einfluß Sauers speziell auf österreichische Besetzungsfragen der Germanistik nicht zu unterschätzen, doch auch dieser Einfluß ist zu einem beträchtlichen Teil —————— 96 97
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-400, Düdingen 30. 9. 1921. Die Wertschätzung Schneiders hielt an, da seitens der philosophischen Fakultät nach der Absage Nadlers das Ministerium gebeten wurde, bei Schneider anzufragen, ob er am Innsbrucker Lehrstuhl Interesse hätte. Das Ministerium forderte allerdings einen neuen Vorschlag ein. UAI, phil. Fak. Nr. 84 1921/22, Besetzungsvorschlag am 24. 10. 1921 u. Schreiben des BMIU Z. 21329/21 I Abt. 2 an das Dekanat, Wien 24. 10. 1921 [25]
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auf die Akzeptanz der Sauerschen Vorstellungen zur Literaturgeschichtsschreibung zurückzuführen. Diese zeigt sich nicht zuletzt anhand der Berufung Enzingers auf den Innsbrucker Lehrstuhl, dessen Konkurrenten im neuen Besetzungsvorschlag zwar aufgrund der vom Ministerium gewünschten Konzentration auf österreichische Kandidaten ihm nicht so überlegen waren, wie es etwa Schneider gewesen wäre, der aber als nicht habilitierter Gymnasiallehrer die geringste Qualifikation unter den im Dreiervorschlag Genannten aufweisen konnte.98 Am Beispiel Innsbruck zeigt sich allerdings auch, wie das Bedürfnis nach Synthesen in der Literaturwissenschaft die Bedeutung der Einhaltung philologischer Standards zu überwiegen beginnt. Im Besetzungsvorschlag wurde dezidiert ein über die philologische Betrachtung hinausgehender Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung gefordert. 7.2.3. Köln 1921 An der Universität Köln kam es erstmals zu einer Auseinandersetzung um Nadler und sein Werk, deren Linien quer durch die Fakultät verliefen. Dies zeichnet sich bereits daran ab, daß die Professoren Max Scheler, August Daraznky und Dekan Martin Spahn am 4. 8. 1921 ein Minderheitsgutachten für Nadler verfaßten bzw. unterzeichneten, während der offizielle Besetzungsvorschlag (auf den sich dieses Minderheitsgutachten bereits bezieht) der philosophischen Fakultät das Datum 12. 8. 1921 trägt.99 Der Besetzungsvorschlag der Fakultät lautete: primo loco: Rudolf Unger (Ordinarius in Königsberg) secundo loco: Ernst Bertram (Privatdozent in Bonn) tertio et aequo loco in alphabetischer Reihenfolge: Eduard Castle (Privatdozent in Wien) Christian Janentzky (Privatdozent in München) Hermann August Korff (Privatdozent in Frankfurt/M.) Dieser Vorschlag dokumentiert beträchtliche Affinität zur geistes- bzw. ideengeschichtlichen Erforschung der Literaturgeschichte, da mit Unger, Bertram, Korff und Janentzky fast alle Genannten dieser Richtung zuzuordnen sind. —————— 98 99
Viktor Dollmayr war Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Lemberg, Karl Polheim war habilitiert und hatte einen bezahlten Lehrauftrag an der Universität Graz inne. UAI, phil. Fak. Nr. 84 1921/22, Besetzungsvorschlag 24. 10. 1921. GStAPK, I HA Rep. 76, Sekt. 10 Tit. IV Nr. 5 Bd. 1, Blatt 180-186 (Minderheitsgutachten vom 4. 8. 1921) bzw.187-190 (Besetzungsvorschlag vom 12. 8. 1921).
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Die Verfasser des Minderheitsgutachtens distanzierten sich nicht generell vom Vorschlag der Fakultät, wollten aber Nadler darin an erster Stelle aufgenommen sehen. Ihre Begründung lautet, das von der Fakultät bei ihrer Gründung in Aussicht genommene Ziel, „...dass zunächst die kulturwissenschaftliche Abteilung und in ihr wiederum die geschichtlichen Wissenschaften ausgebaut werden...“ sollten, sei vor allem durch die Berufung von Männern zu verwirklichen, „...die ihre Aufgabe in der synthetischen Durchdringung und Zusammenfassung ihrer wissenschaftlichen Forschungsergebnisse erblicken.“100 Dem würden Unger und Korff zwar gerecht, doch beide hätten nur Monographien geliefert, denen Nadlers Gesamtdarstellung gegenüberzustellen sei. Im folgenden werden wohlwollende Urteile über Nadlers Ansatz von Konrad Burdach (mit welchem Nadler bereits länger in persönlichem Kontakt stand) und Unger wiedergegeben. Burdach lobte Nadlers Selbständigkeit und seine umfassenden Kenntnisse, Unger wird in folgender Weise zitiert: er schätze ...jene, z. Teil etwas robuste, für meinen Geschmack aber angenehm herbe Frische in Auffassung und Stil, die alle seine Arbeiten auszeichnet. Insbesondere auch die 3 bisher erschienenen Bände der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften: eine in der Kühnheit des Wurfs und Energie der Durchführung grosser Perspektiven meines Erachtens erstaunliche Leistung – auch an Fülle des Wissens in so jungen Jahren! – sowenig ihr die Kinderkrankheiten doktrinärer Einseitigkeit, allzu selbstgewissen Sichübernehmens und schematisierender Konstruktion erspart geblieben sind. In den letzten Bänden, vor allem aber in der neuerschienenen Vorwegnahme eines Kapitels aus dem künftigen vierten, der „Berliner Romantik“, scheint sich in gewissem Masse eine selbstkritische Besinnung auf die methodischen Prinzipien und die Tragweite des eignen [sic] Unternehmens und damit eine kulturgeschichtliche und kulturpsychologische Vertiefung anzubahnen, die der Entwicklungsfähigkeit Nadlers und der Möglichkeit fruchtbarer Fühlungnahme seiner Betrachtungsweise mit der individualpsychologischen und geistesgeschichtlichen, wie mich dünkt, kein ungünstiges Prognostikon stellt. Auf jeden Fall muß ich persönlich bekennen: so heterogen mir seine Auffassungs- und Wertungsweise nicht nur in Einzelheiten ist, so starke Skepsis ich in der Durchführung seines Hauptgesichtspunktes sogar im ganzen entgegenbringe – hierin für das Mittelalter bestärkt durch die Kritik eines Kenners wie S. Singers – so ungewöhnliche Anregung danke ich doch immer auf neue diesem in seiner Selbständigkeit und Horizontweite hervorragendem Werke, das gerade in seiner gewagten Problematik bei starken positiven Qualitäten, unsre Wissenschaft hoffentlich reich befruchten wird.101
Das Urteil Burdachs und Ungers sei, so die Gutachter, durch August Sauer bestätigt worden. Im folgenden legen die Verfasser des Minderheitsgutachtens besonderes Augenmerk auf Nadlers Betonung des bayrischen Barock sowie auf sein Romantikkonzept, wobei die Beschreibung dessel—————— 100 Minderheitsgutachten, Blatt 180, 101 Minderheitsgutachten, Blatt 181f.
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ben von wenig ausgeprägter Kenntnis der Nadlerschen wissenschaftlichen Grundlagen Zeugnis gibt: In bewusster oder unbewusster Auswirkung einer vom Lamprecht in unser wissenschaftliches Denken eingeführten Terminologie erfasst Nadler die Romantik als ein sich Erneuern der tiefsten Antriebe mutterländischer Kultur im Boden des jüngeren Kolonialdeutschtums östlich der Elbe, unmittelbar nachdem hier um 1750 die Verschmelzung der slavischen Einwohner und der deutschen Zuwanderer zu einem einheitlichen Volkstum ihren Abschluss gefunden haben.102
Der Bezug auf Lamprecht war Nadler nicht nur bewußt, sondern höchst absichtsvoll und mit der Formulierung „einheitliches Volkstum“ wäre der Literaturhistoriker angesichts seiner Differenzierung von mittel- und niederdeutsch besiedeltem Gebiet im Osten möglicherweise ebenfalls nicht völlig einverstanden gewesen. Zu den Vorzügen der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung zählen die Gutachter nicht zuletzt sein Ausgehen von Landschaft und Stämmen, wobei in diesem Zusammenhang explizit Bezug auf die spezifischen Verhältnisse im besetzten Rheinland genommen wird. Aufgrund der Besetzung sei man in Köln zwangsläufig auf „die Pflege der landschaftlichen Eigenwelt“ verwiesen und deshalb würde ein Gelehrter wie Nadler, der „...die feinen und oft leicht zerreissbaren Fäden zwischen der Seele der einzelnen deutschen Landschaft und der Seele der gesamten Nation immer aufs neue anzuspinnen und zu verweben vermag...“ in dieser Stadt am rechten Platz sein.103 Interessanterweise wird über die Bewertung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung hinaus auch ein breiterer universitätspolitischer Standpunkt vertreten. Nadler wird nämlich zum dem Rheinland entsprechenden Gegenpol des soeben nach Bonn berufenen Oskar Walzel stilisiert: „Je ferner Walzels Art Literaturgeschichte zu treiben und die Romantik aufzufassen der besonderen Not der Stunde und der Art des Rheinländers steht, desto willkommener wird es, wie wir hoffen, dem Ministerium sein, durch die Erwägung einer gleichzeitigen Versetzung Nadlers an den Rhein der rheinischen Bevölkerung dartun zu können, dass ihm die Wahrung der wissenschaftlichen Interessen unserer rheinischen Universitäten und die Rücksicht auf die Bedürfnisse des Volkstums gleich sehr am Herzen liegen.“104 Der Widerspruch gegen diese von Scheler, Daraznky und Spahn geforderte Nennung Nadlers noch vor Rudolf Unger ließ nicht lange auf sich warten und wurde in Form eines Sondergutachtens der Professoren Friedrich von der Leyen, Franz Schultz und merkwürdigerweise wiederum —————— 102 Minderheitsgutachten, Blatt 183f. 103 Minderheitsgutachten, Blatt 184. 104 Minderheitsgutachten, Blatt 185.
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Martin Spahn dem Ministerium vorgelegt.105 Es enthält neben den Ausführungen der Verfasser auch Stellungnahmen weiterer, an anderen Universitäten lehrender Germanisten, nämlich von Primus Lessiak, Carl von Kraus, Albert Köster und Gustav Roethe. Die Kritikpunkte, die von diesen Professoren gegen die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung vorgebracht werden, entsprechen weitgehend jenen in Rezensionen zur ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ geäußerten: die leitende Idee der Stämme sei zu sehr in den Vordergrund gestellt bzw. übertrieben worden, was die Vernachlässigung anderer Einwirkungen (formaler, sozialer, geistesgeschichtlicher) mit sich bringe; Nadler habe zu wenig Vorarbeiten berücksichtigt bzw. keine eigenen geleistet und allgemein Prinzipien philologischer Arbeit wie etwa die Gründlichkeit zu wenig genau eingehalten. Albert Köster attestierte der Nadlerschen Literaturgeschichte außerdem, sie sei weder in der Stammeskunde noch in der Familiengeschichte fest genug begründet. Zugute gehalten wird ihm jeweils große Begabung, doch man rechne nicht mit einer Entwicklung und Vervollkommnung des Nadlerschen Werks. Das Primat in der Barockforschung wird der Kunstgeschichte zugeschrieben und die Bedeutung des östlichen Siedelgebiets für die Romantik hätten bereits Burdach und Roethe herausgestellt. Allerdings ist die zunehmende Schwierigkeit spürbar, eine Ablehnung eines Entwurfs zur lange geforderten synthetischen Betrachtungsweise der deutschen Literaturgeschichte zu formulieren, umso mehr, als über das Vorhandensein stammestümlicher Einflüsse auf die Literatur weitgehend Einigkeit herrschte.106 Die Betonung der mangelnden Einhaltung philologischer Prinzipien durch Nadler wird nämlich nicht zuletzt an die spezifischen Verhältnisse bzw. Bedürfnisse an der Kölner Universität gebunden. So sei Nadlers Unternehmen, als Einzelner eine Darstellung der gesamten Geschichte der deutschen Literatur zu schreiben, zu begrüßen „...und würde den Verfasserreiner [sic] Universität, deren Dozenten ihre Aufgabe in synthetischer Zusammenfassung und Durchdringung der wissenschaft—————— 105 GStAPK I HA Rep. 76 Sekt. 10, Tit. IV Nr. 5 Bd. 1, Blatt 191-198: Sondergutachten vom 27. 9. 1921. 106 Der Gesichtspunkt der stammestümlichen Zugehörigkeit sei bereits von Herder, den Romantikern, der klassischen und der deutschen Philologie gefordert und „zum Teil in ausgezeichneten Werken verwirklicht“ – wofür allerdings kein Beispiel angeführt wird; Sondergutachten, Blatt 192. Carl von Kraus schreibt dem Prinzip der Stammesliteraturgeschichte einen „gesunden Kern“ zu; ebd. Blatt 195. Auch Gustav Roethe akzeptiert Nadlers Standpunkt prinzipiell: „In seinem grossen Buch lasse ich den Versuch, die landschaftlichen Kräfte, Heimat und Blut, bestimmend in den Vordergrund zu schieben, vor Verkehr und Tradition und Individuum, gelten. Nur gehört dazu ein Mann von reifer Uebersicht, von erlebter landschaftlicher Einfühlung, und es wird sich mindestens zunächst empfehlen, die grossen Grundlinien zu suchen. Eine auf der Landschaftssonderung aufgebaute, zugleich ins Einzelne gehende Literaturgeschichte unterliegt der Gefahr, in Stücke zu zerfallen.“ Ebd. Blatt 196f.
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lichen Forschungsergebnisse erblicken, empfehlen.“107 Doch offensichtlich wird die Universität in Köln nicht als solche angesehen, da die Verfasser des Sondergutachtens Nadlers Forschungs- und Betrachtungsweise aufgrund deren Abweichung von der Arbeit seines Fachkollegen in Köln (der Mediävist von der Leyen) als Gefährdung der Harmonie anführen und den Wunsch und das Bedürfnis der philologischen Studentenschaft nach gründlicher methodischer Schulung in den Vordergrund stellen. Die hier erfolgte Betonung der philologischen Grundlagen stellt mehr einen argumentativen Rückgriff auf die frühere Geltung dieser Standards dar, um einen Grund zur Ablehnung von Nadlers Werk zu haben, als etwas über ihre tatsächliche Bedeutung für die Germanistik in Köln auszusagen. Dies zeigt sich an der Favorisierung Ernst Bertrams durch die Verfasser des Sondergutachtens. Denn während Bertram im Besetzungsvorschlag „Kunst der Darstellung“ zugeschrieben wird und sein wichtigstes Werk dezidiert die Bezeichnung „schriftstellerische Leistung“ in „reifer künstlerischer Form“ erhält,108 was im Rahmen der Terminologie der positivistischen Philologie de facto den Ausschluß aus dem wissenschaftlichen Schrifttum bedeutet hätte, wird Nadlers Darstellungsweise als „mehr journalistisch als wissenschaftlich“ abgelehnt.109 Zieht man noch zusätzlich in Betracht, daß Bertrams zentrales Werk (Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 1919) nicht unbedingt in den engeren Bereich der Literaturwissenschaft gehört und als „Mythologie“ kaum akribisch den Regeln philologischen Arbeitens folgt, so entsteht der Eindruck, es werde bezüglich der philologischen Grundlagen der wissenschaftlichen Arbeit bei Nadler und Bertram mit zweierlei Maß gemessen. Bertram wird hier deswegen so ins Zentrum gerückt, weil er schließlich auf den Kölner Lehrstuhl berufen wurde, und weil er überdies von den Verfassern des Sondergutachtens ausdrücklich als „rheinischer“ Kandidat angesprochen wurde, der die Vorteile von Nadlers Behandlung des Rheinlandes als einzelne Landschaft durch seine Herkunft und seine direkte Bekanntschaft mit den Gegebenheiten mehr als aufwiegen würde: „Sollte dieser rheinische Dozent zur Lösung Kölner rheinischer Aufgaben nicht berufener sein als der Oesterreicher Nadler, der im Kriege preussische und deutsche Leistungen heftig und unbesonnen angriff und herabsetzte?“110 Neben dieser Affinität zu einer innerrheinländischen Lösung —————— 107 Sondergutachten, Blatt 191. 108 GStAPK I HA Rep. 76, Sekt. 10 Tit. IV Nr. 5 Bd. 1, Blatt 188: Besetzungsvorschlag 21. 8. 1921. Auch Ernst Osterkamp beschreibt Bertram als Gelehrten als „...homo unius libri [das Nietzsche-Buch], ohne philologische Leistungen im engeren Sinne...“. Osterkamp: „Verschmelzung der kritischen und dichterischen Sphäre“, S. 352. 109 Sondergutachten, Blatt 194. 110 Sondergutachten, Blatt 193.
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scheint jedoch auch Nadlers polemisches Vorwort zur „Berliner Romantik“ eine Rolle gespielt zu haben. Weit davon entfernt, eine Ergänzung der wissenschaftlichen Richtungen zwischen Bonn und Köln anzustreben wie die Unterstützer Nadlers, wird der Gegensatz zwischen dem Vertreter der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung und Oskar Walzel in Bonn zum weiteren Gegenargument zu einer Berufung Nadlers. Dessen angriffslustige und überhebliche Persönlichkeit wird als den Interessen einer jungen Universität wie der Kölner, wo gefestigte und ruhige Dozenten gebraucht würden, als entgegengesetzt angeführt. Bis auf die Bemerkung Kösters, Nadlers Werk sei weder in der Stammeskunde noch in der Familiengeschichte genügend fest begründet, fehlt im ablehnenden Sondergutachten eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers völlig. Zwar ist das Urteil, Nadler sei sich „...über den Begriff der Stammesangehörigkeit nicht klar und wird in seinen Begriffsbestimmungen und methodischen Auseinandersetzungen immer schwankender und unklarer“,111 nicht unzutreffend. Die uneinheitliche Verwendung von Termini wie „Volk“ und „Stamm“ wurde bei der Analyse der „Literaturgeschichte“ verdeutlicht und Nadlers Methode läßt durch die unterschiedliche Gewichtung der prinzipiell hierarchisierten Faktoren Abstammung und Landschaft nicht selten mehr als eine Lösung zu. Doch die genealogischen Voraussetzungen von Nadlers Stammesbegriff werden offensichtlich nicht erkannt oder zumindest nicht anerkannt (wobei die Nichtanerkennung einer Grundlagenwissenschaft Nadlers nicht automatisch einer kritischen Auseinandersetzung mit derselben gleichkommt). Der einzige wissenschaftliche Standard, auf den Bezug genommen wird, ist die philologische Arbeitsweise, ein anderer scheint weder Bedeutung noch Gültigkeit für die literarhistorische Forschung zu haben. Und dieser Standard erhält seine Bedeutung lediglich noch in der Ablehnung Nadlers, aber nicht im Lob Bertrams. Als synthetische Arbeitsweise der Literaturwissenschaft wurde von den Verfassern des ablehnenden Sondergutachtens offensichtlich allein die geistes- bzw. ideengeschichtliche akzeptiert, was angesichts des Besetzungsvorschlags auf die Mehrheit der Fakultätskommission zuzutreffen scheint. Die Unterstützer Nadlers dürften allerdings durchaus auf offene Ohren gestoßen sein, da der Literaturhistoriker Anfang November 1921 an Sauer berichtete, das Kuratorium der Universität in Köln bitte ihn am 14. 11. zu einer Unterredung mit Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Nadlers Bericht von seinem Besuch in Köln lautet folgendermaßen: Eingeladen hatte mich also Geheimrat Eckert, der Vorsitzende des Kuratoriums u. der eigentliche Gründer der Universität. Er führte mich zuerst zum Oberbür-
—————— 111 Sondergutachten, Blatt 192.
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germeister Dr. Adenauer. Dieser fragte, ob ich annehmen werde, was ich bejahte u. unterrichtete mich über die allgemeinen Verhältnisse. Dann begleitete mich Eckert zu von der Leyen in dessen Dienstzimmer. Eckert sagte mir auf dem Wege, man habe es versucht von der Leyen gegen mich einzunehmen u. er wünsche, daß wir uns aussprächen. Ich war dann lange bei von der Leyen u. hatte das Gefühl, daß wir einander näher kamen. [...] Nachher nahm Eckert von der Leyen u. mich zu sich zum Mittagessen. Ich begleitete von der Leyen zu seinem Seminarlokal. Und auf diesem Wege erfolgte dann unsere eigentliche Aussprache. Ich knüpfte an mein Romantikbuch an, klärte u. begründete. Von der Leyen äußerte sich unwillig über sein eigenes Verhältnis zu Walzel u. verabschiedete mich dann sehr warm. [...] Unter den mehreren Bewerbern scheint Bertram im Vordergrunde zu stehen. Meine Taktik war zuhören, den Unbefangenen spielen u. ich habe mit keinem Worte gedrängt oder ein besonderes Interesse an den Tag gelegt. Insbesondere habe ich die finanzielle Frage noch nicht angeschnitten. Ich konnte meine Karten unmöglich aufdecken. Diese Frage ist ja überdies erst aktuell, falls ich die erste Zuschrift von Berlin bekommen sollte. Meine Taktik war richtig. Als ich mich den 14. Nov. abends in meinem Lokal zur Abreise rüstete u. das Auto schon wartete, saß Eckert im Vestibül u. bat mit mir ins Auto steigen zu dürfen. Er fuhr mit zum Bahnhof u. ging nun von selber aus sich heraus: er glaube, daß von der Leyen u. ich uns aufs beste verstanden hätten (natürlich hatte er sich inzwischen bei diesem erkundigt); der Akt werde in den nächsten Tagen an das Kuratorium gelangen; das Kuratorium habe sich (wie Eckert in meiner Gegenwart jedem der besuchten Herren anzeigte) seinen Einfluß auf den Vorschlag vorbehalten, es werde für mich eintreten, der Oberbürgermeister habe in Berlin Einfluß genug, um meine Ernennung durchzusetzen, Antrittstermin wäre der 1. Juli 1922, an den Gehalt dürfe ich keinen Schweizer Maßstab anlegen; es werde sich alles bestens regeln lassen. Eckert verabschiedete sich, nachdem er noch mein Gepäck bewacht hatte, am Bahnhof überaus nett u. kollegial. Er sagte mir noch, all das habe er in Gegenwart Dritter nicht besprechen wollen. Denn man müsse Rücksichten nehmen. „Die Leute“ witterten gleich hinter allem einen Druck auf die Fakultät. Daraus geht also heraus, daß das Kuratorium u. der Oberbürgermeister mit dem einen oder anderen Mitglied der Fakultät für mich sind u. mich wollen u. daß von der Leyen erst durch eine persönliche Aussprache ganz zu beruhigen war. Wenn die Sympathien für mich mehr bei den maßgebenden Faktoren der Stadtverwaltung als in der Fakultät vorhanden sind, so kommt das umso weniger in Betracht, als ja die Fakultät bisher nur ein Torso ist u. es sich um eine Neugründung handelt. 112
Seine Unterstützung im Kuratorium dürfte Nadler allerdings überschätzt haben, denn im von Adenauer unterzeichneten Begleitschreiben, mit welchem das Kuratorium die Gutachten und den Besetzungsvorschlag an das Ministerium in Berlin weiterleiteten, heißt es, man lege ...besonderen Wert auf die Berufung des an erster Stelle genannten Rudolf Unger. Sollte die Berufung Ungers nicht tunlich sein oder er nach der Berufung den Kölner Lehrstuhl ablehnen, so bittet das Kuratorium, in diesem Falle Fakultät
—————— 112 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-408, Düdingen 2. 12. 1921.
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und Kuratorium Gelegenheit zur Einreichung neuer Vorschläge mit dem Begleitbericht zu geben. 113
Dies bedeutet, daß für das Kuratorium neben dem in Köln bereits zu einer früheren Gelegenheit für eine Berufung vorgeschlagenen Rudolf Unger keiner der im Besetzungsvorschlag der Fakultät genannten Germanisten in Frage kam bzw. gewünscht wurde, auch Nadler nicht. Da Unger zu diesem Zeitpunkt soeben im Begriff war, von Zürich nach Königsberg zu wechseln, schied er wohl für das in beiden Fällen zuständige Ministerium von Anfang an aus. Nach den Akten zu schließen scheint das Ministerium die Besetzungsangelegenheit jedoch nicht nochmals an Kuratorium und Fakultät zurückgewiesen zu haben, da Nadler Anfang Februar aus der Zeitung von der Berufung Ernst Bertrams erfuhr. Nadler reagierte eher nüchtern, bezeichnete die Lebensverhältnisse in Köln als ihm ohnehin nicht zusagend, doch Immerhin kommt mir dieser Ausgang sehr überraschend. Was man mir in Köln nämlich sagte, mußte ich als feste Zusicherung nehmen. Es scheint nun, daß ich dem Antagonismus zwischen Kuratorium u. Fakultät (die nur das Torso eines solchen ist) zum Opfer gefallen bin.114
Nach den Dokumenten zu schließen waren sich die Mehrheit der Fakultät und das Kuratorium allerdings in ihrer Bevorzugung Ungers vor allen anderen Kandidaten ausgesprochen einig. Nadler hatte zwar sowohl in der Fakultät als auch im Kuratorium mit Geheimrat Eckert einige Unterstützung, die jedoch für einen anderen Ausgang der Lehrstuhlbesetzung nicht ausreichte. Und die Zuständigen im Ministerium hatten offensichtlich ihre eigenen Ansichten, wie Nadler August Sauer gegenüber im Rahmen sehr interessanter Ausführungen zur Berufungsangelegenheit bemerkte: Anfang April hat im Kölner Stadtparlament ein Sozialist wegen meiner geplanten Berufung interpelliert. Stundenlang war mein Name Gegenstand der Diskussion. Der Oberbürgermeister u. der Kurator Eckert haben mich mit den wärmsten Worten vertreten. Bei den Diskussionen wurde festgestellt, daß die Sozialisten noch ehe mein Name offiziell genannt wurde, in der Presse gegen mich geschrieben haben, wovon ich nichts wußte. Ferner wurde festgestellt, daß Bertram der Universität von Berlin aus aufoktroyiert wurde. In offener Sitzung wurde ein langer Brief des Geheimrats Eckert verlesen, in dem er mich rühmt u. von Bertram erklärt, dieser sei weder imstande Vorlesungen noch Übungen zu halten. Denken Sie, solche Dinge muß sich der eben von Berlin ernannte Bertram durch den berufenen Vertreter der Universität vor aller Öffentlichkeit sagen lassen! Der Mann ist doch blamiert bis auf die Knochen. Idyllisch, was? 1.) Die Sozialisten als Retter der freien Forschung 2.) Bertram als Schützling der Sozialisten 3.) Stefan George u. die rote Fahne! 4.) Aufgebot eines großen politischen Apparates, um
—————— 113 GStAPK I HA Rep. 76, Sekt. 10 Tit. IV Nr. 5 Bd. 1, Blatt 179: Schreiben des Kuratoriums an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 21. 11. 1921. 114 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-411, Düdingen 5. 2. 1922.
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mich fern zu halten. Ich bin seelenvergnügt. In den Debatten wurde offen erklärt, Burdach, Tröltsch!, Unger usw. hätten die günstigsten Urteile über mich abgegeben. Das ist doch Reklame für mich. Welch eine Waffe hat man mir damit in die Hände gespielt, daß man in öffentlicher parlamentarischer Verhandlung das ganze Intrigenspiel gegen mich enthüllte. 115
Anhand der Kölner Besetzungsangelegenheit wird deutlich, wie die im Rahmen einer Überbietung der Philologie entstandenen Ansätze des „Methodenpluralismus“ zu konkurrieren beginnen. Die philologischen Standards werden zwar immer noch als Maßstab herangezogen, allerdings, wie es scheint, in erster Linie zur Diskreditierung unerwünschter Ansätze. Der Zug zur großen Synthese in der Literaturwissenschaft hat sich noch nicht völlig durchgesetzt, zumindest scheint die Mehrzahl der Professoren die geistesgeschichtlichen Synthesen eines Unger oder Bertram, die sich meist auf eine Einzelperson bezogen, eher zu akzeptieren geneigt gewesen zu sein als eine Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte auf einem neuen Prinzip. Erstmals spielt aber auch die politische Seite der „Literaturgeschichte“ eine Rolle, denn die Verfasser des Minderheitsgutachtens schätzen nicht zuletzt die Darstellungsweise einer Landschaft sowohl in ihren Besonderheiten als auch in ihrem Zusammenhang mit dem „großen Ganzen“, dem deutschen Volk. Aufgrund dieser Facette seines Werks ist Nadler offensichtlich im Rahmen der Bevorzugung heimischer Kräfte, die sich schon im Falle Zürichs und letztlich auch in Innsbruck verfolgen ließ, im Vorteil. Ihm kann die Kenntnis der jeweiligen Landschaft zugesprochen werden, indem er jede gesondert berücksichtigt, er verliert sich aber durch die Gesamtteleologie auf das anwachsende Nationalbewußtsein nicht ins Provinzielle. Dieser Vorteil wird jedoch geschmälert durch die letztlich unterschiedliche Bewertung der Landschaften: die betont österreichischen und antipreußischen Tendenzen seiner „Literaturgeschichte“. Und, im Hinblick auf die Debatten im Stadtparlament auch die antisozialistischen Aspekte seines Werks. 7.2.4. Breslau 1924 Die Einflußnahme des Berliner Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Unterricht, die in Köln mit der „Aufoktroyierung“ Bertrams geendet hatte, erwies sich auch in einem weiteren Fall, in welchem Nadler eine Rolle zukam, als beträchtlich. Der Vorschlag der philosophischen Fakultät in —————— 115 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-417, Düdingen 23. 5. 1922. Hervorhebung im Original. Während die positive Beurteilung durch Unger und Burdach im Minderheitsgutachten zu erfassen ist, bleibt unklar, wo und wie Ernst Troeltsch sich geäußert hat. Ernst Bertram ist dem Kreis um Stefan George zuzuordnen, vgl. 7.2.8.
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Breslau zur Besetzung der nach Max Kochs Emeritierung freigewordenen Professur für neuere deutsche Sprache und Literatur nannte Paul Merker (Greifswald), Paul Kluckhohn (Münster), beide geistesgeschichtlichen Ausrichtungen zuzuordnen, und Karl Drescher.116 In Antwort auf diese Vorschlagsliste erhielt der Kurator der Universität aus dem Ministerium die Aufforderung, die philosophische Fakultät möge sich auch über Rudolf Unger und Josef Nadler äußern.117 Beider Namen waren laut der Antwort der Fakultät auch für den Besetzungsvorschlag erwogen, aber nicht in diesen aufgenommen worden. Unger trotz der Anerkennung seiner großen Leistungen nicht, weil dessen „...vorwiegend philosophische Einstellung nicht in erster Linie den hiesigen Bedürfnissen entsprechen würde.“118 An der Arbeit Nadlers wird zwar die Bewältigung großer Stoffmassen gelobt, aber er sei nicht in Vorschlag gebracht worden, ...weil seine Arbeit vielfach von einer – zum Teil in seiner „Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte“ (Euphorion Band 21) erörterten – starren Methodik geleitet wird. Diese seine Methodik stellt eine ganz subjektive und sehr bestrittene Auffassung der Wege und Ziele der Literaturforschung dar und würde namentlich für die Ausbildung der noch nicht zu selbständiger Kritik befähigten Lernenden schwere Bedenken haben...119
Diese starre Methodik habe Nadler in der „Berliner Romantik“ noch gesteigert. Zudem wurden inhaltliche Aspekte der „Literaturgeschichte“ beanstandet, die vor allem die Darstellung preußischer Aspekte betrifft: Auffassungen jedoch wie die von Nadler gelegentlich vorgetragenen, z.B. über Fichtes, des Redners an die deutsche Nation, „slavische Verschlagenheit“, über Friedrich den Grossen als ,einen französischen König, der seine deutsche Sendung auch nicht [sic, wohl: auf nichts] stützen konnte, als auf die Siege seines Heeres über Kaiser und Reichsarmee’, über die Lehninische Weissagung als bedeutsames Zeugnis märkischer Geistesgeschichte u.a.m. wünschen wir gerade an der Universität des Grenzlandes Schlesien nicht vertreten zu sehen.120
Nach Wojciech Kunickis Einschätzung wurde Nadlers Werk in Breslau aufgrund der starren nationalen Einstellung der Ordinarien der philosophischen Fakultät nicht akzeptiert, weil diese die Vorstellung der Blutmischung mit Slaven im östlichen Siedelgebiet, also auch in Schlesien, ablehnten. Überdies hätten Max Koch und Theodor Siebs ihren Einfluß auf —————— 116 Vgl. Kunicki, Wojciech: Germanistik in Breslau 1918-1945. Dresden: w.e.b. 2002, S. 47. Zu Merker siehe auch 2.4., zu Drescher 7.2.5. 117 GStAPK I HA Rep. 78 V a Sekt. 4 Tit. IV, Nr. 48, Bd. 7, Blatt 273: Schreiben des Ministeriums UI 10251 an den Universitätskurator in Breslau, 26. 3. 1924. 118 GStAPK I HA Rep. 78 V a Sekt. 4 Tit. IV, Nr. 48, Bd. 7, Blatt 352f: Schreiben des Dekans der philosophischen Fakultät an das Ministerium, 12. 5. 1924. 119 Schreiben des Dekans an das Ministerium, 12. 5. 1924, Blatt 252f. 120 Schreiben des Dekans an das Ministerium, 12. 5. 1924, Blatt 253.
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das Deutsche Institut bei der Universität Breslau durch die Forcierung von Hausberufungen aufrecht erhalten wollen, was bei einer Berufung Nadlers fraglich gewesen wäre.121 In Breslau stand demnach kaum die Bewertung des stammeskundlichen Ansatzes im Vergleich mit anderen Konzepten der Literaturgeschichtsschreibung zur Debatte. Die Bewertung von Nadlers Methodik als starr, subjektiv und maßlos zeugt hier nicht allein von einer Ablehnung der wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers, sondern vor allem von einer Ablehnung der Ergebnisse seiner „Literaturgeschichte“. Denn gerade in Schlesien selbst gab es zahlreiche Ansätze zur Untersuchung und Etablierung des „spezifisch Schlesischen“, wie Kunicki ausführt. Doch Nadlers eigenes Konzept der deutsch-slavischen Lebenseinheit im östlichen Siedelgebiet ließ sich eben nicht mit den Bemühungen an der Breslauer Universität vereinbaren, das schlesische Volkstum als genuin deutsches Volkstum aufzufassen und darzustellen. Nadler erfuhr von seiner Nennung für die Nachfolge Max Kochs erst im Jänner 1925, als er in Berlin die Verhandlungen zur Berufung nach Königsberg führte und bei dieser Gelegenheit mit Konrad Burdach zusammentraf. Burdach teilte ihm mit, ...das Kultusministerium hätte mich bereits nach Max Koch der Breslauer Fakultät präsentiert. In Breslau hätte man aber eingewendet, ich hätte während des Krieges deutschfeindliche Artikel in der Schweizer Presse veröffentlicht. 122
Ein Fribourger Kollege Nadlers, Büchi, hatte 1915 tatsächlich privat an ihn gerichtete Briefe des Literaturhistorikers über österreichische Verhältnisse anonym an Schweizer Zeitungen zum Abdruck weitergegeben. Da Wilhelm Kosch damals in Unkenntnis des Autors diese Briefe angegriffen hatte und erst danach erfuhr, von wem die Texte stammten, vermutete Nadler nun – zehn Jahre später –, der Hinweis auf diese Artikel in Breslau sei auf eine Intrige Koschs zurückzuführen, der selbst diesen Lehrstuhl angestrebt hätte.123 Leider kann nicht eruiert werden, woher die in das Schreiben der philosophischen Fakultät in Breslau aufgenommenen und oben angeführten Zitate Nadlers stammen. Aber angesichts dessen, daß sich diese und ähnliche Meinungen praktisch aus jeder seiner Schriften ablesen lassen,124 scheint ein Rückgriff auf zehn Jahre alte, anonym er—————— 121 Kunicki: Germanistik in Breslau, S. 48, Fußnote 86 und S. 70. 122 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-457, Düdingen 24. 1. 1925. 123 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-218, Tichlowitz 23. 4. 1915, 415/1-236, Pürstein 2. 11. 1915; 415/1-457, Düdingen 24. 1. 1925. Später erfuhr Nadler noch, daß das Ministerium der Fakultät die Wahl zwischen Unger und ihm selbst gestellt hatte 415/1-473, Königsberg 22. 10. 1925. 124 Bis 1924 hatte Nadler sieben selbständige Veröffentlichungen und 37 Artikel publiziert. Vgl. Bibliographie in: Schiffkorn, Aldemar: Non moriar, sed vivam. Josef Nadler zum Ge-
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schienene Zeitungsartikel unwahrscheinlich. Eine Involvierung Koschs in die Breslauer Berufungsangelegenheit konnte jedenfalls nicht festgestellt werden. Die Ablehnung, die Nadlers Ansatz in Breslau entgegengebracht wurde, geht wesentlich auf einen einzelnen Aspekt seiner „Literaturgeschichte“ zurück: auf die von ihm angenommene Mischung zwischen Slaven und Deutschen als Grundlage einer unterschiedlichen geistigen Entwicklung in den östlichen Siedelgebieten. Die romantische „Identität“, die Nadler den Kolonisationsgebieten gewissermaßen anbot, vertrug sich nicht mit der in Breslau vertretenen Sicht einer spezifischen nationalen Identität der Schlesier. Daß auch der an anderen Universitäten so oft favorisierte Rudolf Unger in Breslau abgelehnt wurde, unterstreicht wohl Kunickis auf Nadler bezogene Aussage, Koch und Siebs hätten ihren Einfluß nicht durch eine einflußreiche Persönlichkeit schmälern lassen wollen. Festzuhalten ist allerdings, daß trotz der antipreußischen Tendenzen in Nadlers Schriften im Berliner Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Unterricht offensichtlich Interesse am Ansatz der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung bestand. Seitens des Ministeriums hielt man sich jedenfalls wie zuvor in Köln nicht an die Wünsche der Fakultät und berief Rudolf Unger von Königsberg nach Breslau. Diese Berufung hatte auf Nadler trotz seiner Nichtberücksichtigung an der schlesischen Universität insofern große Auswirkungen, als sein bisheriger schärfster Konkurrent in sämtlichen Berufungsangelegenheiten mit der Ausnahme Innsbrucks – Unger – ihm gewissermaßen den Weg nach Königsberg freigab. 7.2.5. Die Berufung nach Königsberg 1924/25 Wie schon zuvor in Breslau erhielten die Professoren der philosophischen Fakultät in Königsberg aus dem Ministeriums in Berlin die Aufforderung, sich in ihrem Vorschlag für die Nachfolge Ungers zu einem bestimmten Kandidaten zu äußern. Diesmal handelte es sich allerdings nicht um Nadler, sondern um den Breslauer ordentlichen Honorarprofessor Karl Drescher. Und wie in Breslau wurde im Besetzungsvorschlag auch zu Drescher Stellung genommen, ohne daß eine Aufnahme des Extraordinarius in denselben erfolgt wäre. Die Begründung lautete, er sei in philologischen Vorfragen steckengeblieben, stehe geistes- und problemgeschichtlichen Ansätzen fern und decke wegen seiner Konzentration auf das 15. bis 17. Jahrhundert die Literatur des 18. und 19. nicht ab, was sich aufgrund sei—————— denken. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich. 12/1/2 (1963), S. 1-17.
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nes vorgerückten Alters (60) wohl nicht mehr ändern werde.125 Die Mitglieder der Fakultät hatten offensichtlich sehr genaue Vorstellungen von ihren Erwartungen an den neuen Inhaber des Lehrstuhls. So hätten sie sich vom Gesichtspunkt leiten lassen, ...daß angesichts der besonderen Lage Königsbergs und seiner Universität als Grenzposten deutscher Kultur und deutschen Geistes gerade dem Vertreter des Faches der deutschen Literaturgeschichte eine besonders wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe zufällt, die zu ihrer erfolgreichen Lösung nicht nur eine starke wissenschaftliche Kraft und Lehrbefähigung erfordert, sondern vor allem auch eine charaktervolle und stoßkräftige Persönlichkeit, die auch auf Gesinnung und das deutsche Kulturbewußtsein der Studierenden und weiterer Kreise der Interessierten lebendig zu wirken vermag.126
Weiters sei wünschenswert, „...für die Fortführung der von dem bisherigen Inhaber des Lehrstuhls eingeschlagenen Richtung auf geistesgeschichtliche Literaturbetrachtung wenigstens in dem Sinne Sorge zu tragen, daß zur Ergänzung der vorzugsweise auf dem Gebiete der mittelalterlichen und frühneuhochdeutschen Entwicklung tätigen Professoren Ranke und Ziesemer ein Literarhistoriker berufen wird, dessen Hauptarbeitsgebiet das 18. und 19. Jahrhunderts bildet und der von hier aus enge Fühlung mit den gerade für diesen Zeitraum gegenwärtig in so raschem Fluß befindlichen bedeutsamen neuen methodologischen Richtungen und Problemstellungen unterhält.“127 Diese vorsichtige Formulierung verwundert angesichts des Besetzungsvorschlags wenig: primo et aequo loco: Josef Nadler Fritz Strich (München) secundo et aequo loco: Christian Janentzky (Dresden) Paul Kluckhohn (Münster) tertio et aequo loco: Hans Heinrich Borcherdt (München) Martin Sommerfeld (Frankfurt/M.) Von den Genannten sind zwar Janentzky, Kluckhohn und Sommerfeld den Vertretern geistesgeschichtlicher Ansätze im Sinne der Ideen- oder Problemgeschichte zuzurechnen, und auch Fritz Strichs Stiltypologie, vor allem seine früheren Arbeiten bis etwa 1912, werden im Vorschlag zur Geistesgeschichte gezählt, doch eine Fortführung der Richtung Ungers durch Nadler konnte kaum ernsthaft angenommen oder erwartet werden. Dementsprechend wird seine „Literaturgeschichte“ als „Grundwerk der ethnologischen Literaturbetrachtung“ bezeichnet „...die zugleich Erdbe—————— 125 GStAPK, I HA Rep. 76 V a Sekt. II Tit. IV, Nr. 21, Bd. 31, Blatt 38 Vorder- und Rückseite: Besetzungsvorschlag vom 21. 7. 1924. 126 Besetzungsvorschlag 21. 7. 1924, Blatt 31 Vorderseite. 127 Besetzungsvorschlag 21. 7. 1924, Blatt 31 Vorderseite.
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schreibung, Volkskunde, Familienforschung, Siedelungsgeschichte, Physiologie u. a. in ihren Dienst stellt und so der Literaturgeschichte die wichtige und zukunftsreiche Fühlung mit einer Reihe moderner Realwissenschaften der Natur, des Geistes und der Gesellschaft wahrt oder neu gewinnt.“128 Irrtümer und Schwächen des Werks werden zwar eingestanden, aber der Selbständigkeit und Neuartigkeit des Nadlerschen Ansatzes untergeordnet. Die Heraushebung geistesgeschichtlicher Ansätze ist somit in Königsberg nicht mit einem ausschließlichen Verständnis der Germanistik bzw. Literaturgeschichtsschreibung als „Geisteswissenschaft“ verbunden, viel mehr wurde die Einbeziehung von Disziplinen aus allen wissenschaftlichen Bereichen begrüßt. Nadlers Anspruch auf Wissenschaftlichkeit wurde ohne Einschränkung akzeptiert, wenn auch seine Weise der Literaturgeschichtsschreibung in keiner Hinsicht als anderen Modellen überlegen dargestellt wird. Insgesamt ist somit in Königsberg große Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen der Literaturwissenschaft festzustellen, was auch auf Fritz Strichs Stiltypologie zutrifft. Daran bestätigt sich, was die Mitglieder der Fakultät selbst über ihre Auswahlkriterien festgehalten haben: oberste Priorität hatte die Sicherung der Anziehungskraft der Germanistik in Königsberg auf die Studenten und dies hoffte man eben durch die Berufung eines Vertreters eines neuartigen wissenschaftlichen Ansatzes mit unverwechselbaren Zügen zu erreichen. Unter diesen spezifischen Umständen erhält auch Nadlers Persönlichkeit, die in Köln zu seiner Ablehnung durch einige Fakultätsmitglieder nicht unwesentlich beigetragen hatte, eine eigene Qualität zugesprochen, er wird in Königsberg als „...eine der bedeutendsten, temperament- und charaktervollsten Persönlichkeiten...“129 unter den Literaturwissenschaftern bezeichnet. Strich erfährt im Vergleich dazu die Beschreibung „vornehmer Charakter“ und „reiche, auch künstlerisch begabte Persönlichkeit.130 Allerdings muß hierzu festgehalten werden, daß nach Aussage von Nadlers Kollegen in Königsberg, Friedrich Ranke, zur Zeit der Formulierung des Besetzungsvorschlags keines der Kommissionsmitglieder persönliche Beziehungen zu Nadler gehabt hatte131 und daß somit die Schriften zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung im Vordergrund gestanden sein müssen. Der Kurator der Universität schloß sich im allgemeinen jenen den Besetzungsvorschlag begleitenden Ausführungen an. Er betonte nochmals —————— 128 129 130 131
Besetzungsvorschlag 21. 7. 1924, Blatt 32 Vorderseite. Besetzungsvorschlag 21. 7. 1924, Blatt 32 Vorderseite. Besetzungsvorschlag 21. 7. 1924, Blatt 33 Rückseite. DLA Marbach, Handschriftensammlung, Bestand A: Nadler, Schreiben Friedrich Rankes an Nadler, Königsberg 5. 1. 1925.
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die Notwendigkeit der Berufung einer „führenden geisteswissenschaftlichen Persönlichkeit“, welche die Studentenschaft beeinflussen könnte, damit diese „...aus ihrer jetzt vielfach recht einseitigen Betrachtung der Gegenwartsfragen herauskäme und die Dinge von grossem Gesichtspunkt aus zu betrachten lernte.“132 Karl Drescher sei zwar zuzutrauen, einen großen Hörerkreis um sich zu sammeln, doch maßgeblicher Einfluß sei aufgrund der antisemitischen Einstellung der Studenten von ihm nicht zu erwarten. Nadler wird nochmals aufgrund der Beschreibung seiner Persönlichkeit herausgehoben und die Annahme geäußert, daß seine ethnologische Literaturbetrachtung in Königsberg guten Boden finden würde. Das offizielle Angebot für den Lehrstuhl in Königsberg erhielt Nadler Mitte Dezember. Für die Verhandlungen innerhalb des Ministeriums liegen keine Dokumente vor, doch es ist anzunehmen, daß dort der primoloco-Vorschlag eines Kandidaten, nach dem bereits in Breslau Erkundigungen eingeholt worden waren, durchaus begrüßt wurde. Nadler selbst hingegen scheint sich für die mögliche Berufung nach Königsberg zunächst wenig interessiert zu haben. Nachdem man von Königsberg aus offensichtlich versucht hatte, über die Vermittlung von August Sauer in Kontakt zu Nadler zu treten, schrieb dieser seinem Lehrer: Wegen Königsberg bitte ich Sie, diskret abzuwinken. Ich bin kein Flugkünstler sondern ein fauler Stubenhocker mit entwickeltem Sitzfleisch. Die Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten u. diese zwei Punkte sind uns beiden bekannt. Gegenwärtig bin ich an meine Bibliothek gebunden, ohne die ich die Reinschrift [des vierten Bandes der „Literaturgeschichte“] gar nicht machen könnte. Denn das Konzept ist auf ständiger Benutzung meiner geordneten Bücherei ausgelegt. Ferner fürchte ich, daß ich mich bei so grellem Übergange vom äußersten Süden zum äußersten Norden in Königsberg nur schwer akklimatisieren würde, wörtlich u. bildlich. [...] Aber bitte machen Sie es so, daß man ja nicht glaubt, ich wolle überhaupt nicht nach Preußen. Sie wissen am besten, wie man das formuliert. Ich bin den Herren doch von Herzen dankbar, weil ich wohl zu schätzen weiß, was das bedeutet. Ich scheine gegenwärtig in Preußen, zumal unter den Deutschnationalen guten Wind zu haben. Auch unter den Katholiken bessert es sich.133
Im Gegensatz zu Köln etwa, wo er ziemlich fest mit einem Angebot des Lehrstuhl gerechnet hatte, hielt Nadler einen Ruf nach Königsberg auch noch zu jenem Zeitpunkt für unwahrscheinlich, als der Besetzungsvor—————— 132 GStAPK, I HA Rep. 76 V a Sekt. II Tit. IV, Nr. 21, Bd. 31, Blatt 29f: Schreiben des Kurators der Albertus-Universität in Königsberg J.No. U.K. 2928, 31. 7. 1924. 133 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-447, Düdingen 19. 6. 1924. Mit den „beiden Punkten“ sind wohl Fribourg und Prag gemeint, doch auch Fribourg und Wien wären möglich. Jedenfalls hat Nadler lange Zeit einen Lehrstuhl in Prag oder Wien als sein oberstes Ziel betrachtet.
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schlag bereits feststand.134 Nach dem Eintreffen des offiziellen Angebots gab es für Nadler trotz nicht völlig verschwundener Skepsis dennoch keinen Zweifel mehr, daß er den Ruf annehmen würde und er trat im April 1925 sein neues Lehramt an. Nach der sukzessiven höheren Gewichtung der Synthese vor der Einhaltung der philologischen Standards, die sich im Rahmen der Untersuchung der Rezensionen der „Literaturgeschichte“ abgezeichnet hat, wird in Königsberg eine weitere Facette dieser Entwicklung deutlich: die politische Implikation. War die Forderung nach Synthesen in der Literaturwissenschaft nicht zuletzt durch das Ziel der Germanisten bestimmt worden, dem Orientierungsbedürfnis der gebildeten Öffentlichkeit zu dienen, so erweist sich an der Lehrstuhlbesetzung in Königsberg die Erfüllung dieses Ziels in Hinblick auf die stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Denn das Nadlersche Konzept wird dezidiert als geeignet angesehen, das „deutsche Kulturbewußtsein“ der Studenten zu stärken. Nicht außer acht zu lassen ist hier freilich die spezifische Situation in Königsberg als deutsche Exklave, der die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung in mehreren Punkten entgegenkommen mußte: in der Betonung von Grenzräumen sowie des Zusammenspiels aller Deutschen unter der Teleologie einer Einheit und vor allem der spezifischen Konstruktion der Notwendigkeit, deutsches Volkstum durch entsprechenden Gebietsbesitz und wenig Mischung mit anderen Völkern zu erhalten. Im Vergleich mit Breslau ist jedoch festzustellen, daß gemeinsam mit der wachsenden Anzahl an wissenschaftlichen Ansätzen im Rahmen des Methodenpluralismus auch die Anzahl an Orientierungsangeboten zunimmt und das Nadlersche Modell eben nicht in jeder Region auf denselben Grad an Zustimmung stieß. Denn auch für Breslau galten die speziellen Verhältnisse eines Grenzraums, doch Nadlers Auffassung eines schlesischen Volkstums wird dennoch wegen der angenommenen Mischung mit Slaven abgelehnt. Gerade in Hinblick auf das Konzept der Mischungen hat Nadler auch von Königsberg ein sehr facettenreiches Bild gezeichnet, ohne daß die Universitätsprofessoren dort ihre Auffassung eines „deutschen Kulturbewußtseins“ gefährdet sahen. Besondere Zustimmung zu Nadlers Konzept ist damit auch nicht undifferenziert auf die Grenzen des deutschen Sprachraums festzulegen, obwohl fast alle Universitäten, an welchen eine Berufung Nadlers diskutiert oder ausgeführt wurde, keine „Binnenuniversitäten“ waren. Fribourg liegt an der deutschfranzösischen Sprachgrenze, Innsbruck am südlichen Rand des deutschen —————— 134 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-450, Düdingen 21. 11. 1924. „Für Ihre Mitteilung über Königsberg, die ich mit der stoischen Ruhe des rechten Weisen entgegengenommen habe, vielen Dank! Der Vorschlag ehrt mich. [...] Ich glaube nicht, daß man mich fragen wird.“
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Sprachraums, Köln im Rheinland. In Königsberg fällt allerdings ein an anderen Universitäten, auch in Breslau, wesentlicher Faktor weg: eine Bevorzugung heimischer Germanisten. Der spezielle Wunsch nach einer charismatischen Persönlichkeit hat Nadler, dessen streitbares Wesen öfter als problematisch eingeschätzt wurde, neben seinem neuartigen wissenschaftlichen Ansatz wohl den größten Vorteil gebracht. Bemerkenswert ist wiederum das große Interesse, das Nadler trotz seiner antipreußischen Ansichten an einer preußischen Universität und vom preußischen Ministerium für Wissenschaft, Unterricht und Kunst entgegengebracht wurde. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, daß neben dem Bedürfnis nach einer neuen Möglichkeit zur Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte einzelne unerwünschte Aspekte an Geltung verlieren – die entsprechende Entwicklung zur wachsenden Bedeutung der synthetischen Leistung der „Literaturgeschichte“ im Vergleich zu ihren Ungenauigkeiten und Gezwungenheiten, wie sie sich in der Rezeption spiegelt. 7.2.6. Prag 1925/26 Die Berufung auf einen Lehrstuhl an einer preußischen Universität scheint Nadler angesichts seiner zuvor häufigen Klagen über die Dominanz und Berufungsintrigen der Berliner Germanisten eine große Genugtuung gewesen zu sein. Sie wog in seinem Empfinden sogar die mangelnde Unterstützung, die der Literaturhistoriker in Wien erfuhr, weitgehend auf. Wie wohl Nadler sich in Königsberg fühlte, drückt sich nicht zuletzt darin aus, daß er eine Berufung nach Prag hintertrieb, als diese durch die anstehende Emeritierung Sauers möglich geworden war. Nadler wurde in Prag neben Sauer, der sich dezidiert diesen einen Schüler als Nachfolger wünschte, von weiteren Professoren unterstützt, darunter der Germanist Erich Gierach und der Volkskundler Adolf Hauffen. Allerdings nahm man auch Rücksicht auf einen weiteren Schüler Sauers, nämlich den seit 1921 in Halle lehrenden Ferdinand Josef Schneider und wie in Innsbruck fünf Jahre zuvor wurde ein Vorschlag beschlossen, der primo loco Schneider und Nadler nannte.135 Das Prager Ministerium richtete indessen das Angebot des Lehrstuhls an Nadler,136 der Verhandlungen über Wohnung und Gehalt zu führen begann In seinen Briefen an Sauer lastete er Verzöge—————— 135 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-470, Königsberg 28. 8. 1925, 415-1/480, Königsberg 27. 12. 1925, 415/1-481, Königsberg 21. 2. 1926. 136 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-483, Königsberg 11. 5. 1926.
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rungen in der Berufungsangelegenheit noch im Juni 1926 dem Ministerium an, das die Verhandlungen im selben Monat abbrach.137 Tatsächlich ist anzunehmen, daß Nadler durch überzogene Forderungen die Verhandlungen mit dem Ministerium absichtlich zum Scheitern brachte. Denn während er bei August Sauer wiederholt um Verständnis dafür bat, keine finanziellen Einbußen hinnehmen zu wollen, hatte er schon am 31. Mai beim Kurator der Universität Königsberg eine Erklärung unterzeichnet, „...dass ich im preussischen Staatsdienst verbleiben und den an mich ergangenen Ruf an die deutsche Universität Prag ablehnen werde...“138 Nadler ließ sich sein Verbleiben in Königsberg durch die Aufstockung seines Grundgehalts, eine Kollegiengeldgarantie, die Erhöhung der Mittel für Seminar und Bibliothek sowie die Aufnahme in die Königsberger Gelehrte Gesellschaft praktisch abkaufen. Am Eingehen auf diese Forderungen läßt sich das große Interesse seitens der Königsberger Universität und des Berliner Ministeriums ablesen, Nadler auf seinem soeben erst angenommenen Lehrstuhl zu halten. An Nadlers Verhalten wird die Ablösung des Literaturhistorikers von seinem Lehrer deutlich. August Sauer verfügte nach wie vor über genügend Einfluß, um die Berufung seines Schülers durchzusetzen (wobei seine Geltung in Prag naturgemäß als besonders hoch einzuschätzen ist), doch Nadler bevorzugte es, eine von seinem Lehrer unabhängige Position auszubauen. Diese Lösung von Sauer wird begleitet von einer Lösung von der böhmischen Heimat, die Nadler lange Zeit so hoch gehalten hatte. Seine Beteuerungen, von Preußen aus der Sauerschen germanistischen Schule besser dienen zu können als in Prag, sind wohl nicht zuletzt auf den abnehmenden Einfluß der Deutschen in der nunmehrigen Tschechoslowakei zurückzuführen.139 Zwar war auch Königsberg Grenzland, aber die dortigen Bemühungen um eine Stärkung der deutschen Nationalkultur standen auf breiterer Grundlage. Auf den Prager Lehrstuhl wurde schließlich 1927, ein Jahr nach Sauers Tod, der Wiener Extraordinarius Herbert Cysarz berufen, dessen Arbeitsweise geistesgeschichtlich bestimmt war. 7.2.7. Wien 1926 Während Prag 1926 für Nadler offenstand, scheint sich im selben Jahr für seine Berufung an die zweite der lange Zeit von ihm hauptsächlich angestrebten Universitäten niemand eingesetzt zu haben, obwohl sein Name —————— 137 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-486, Königsberg 23. 6. 1926, 415/1-487, Königsberg 28. 6. 1926. 138 GStAPK, I HA Rep. 76 V a Sekt. II Tit. IV, Nr. 21, Bd. 31, Blatt 331. 139 Vgl. Cohen: The Politics of Ethnical Survival, bes. Chapter 6, S. 233-272.
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durchaus genannt wurde. Obwohl letztlich keine Aufnahme Nadlers in den Besetzungsvorschlag erfolgte, wird die Nachfolge Walther Brechts in Wien an dieser Stelle dokumentiert, um sie mit der neuerlichen Wiener Berufungsangelegenheit im Jahr 1931 in Beziehung setzen zu können. Nach dem Protokoll der Sitzung der Fakultätskommission zu schließen, ließen die Professoren dem scheidenden Walther Brecht bei der Bestimmung seines Nachfolgers freie Hand. Sein Vorschlag, der primo loco Paul Kluckhohn (TH Danzig), secundo loco Robert Petsch (Hamburg) und tertio loco Ferdinand Josef Schneider (Halle) nannte, wurde nach der Gleichstellung Petschs und Schneiders auf den zweiten Platz einstimmig angenommen. Interessanterweise wird Nadler im Bericht Brechts unter jene Professoren gereiht, die „in Betracht kämen“, aber „nicht zu gewinnen wären.“140 Neben Nadler finden sich noch Julius Petersen in Berlin und Rudolf Unger in Göttingen (auf dessen Breslauer Lehrstuhl Brecht folgte) in dieser Rubrik, deren Kriterien weitgehend unklar bleiben. Bei Unger und Petersen spielte die Überlegung die Hauptrolle, nicht durch komplizierte Verhandlungen eine lange Vakanz des Lehrstuhls riskieren zu wollen, da beide zu dieser Zeit sehr gefragte Germanisten waren, für welche Wien möglicherweise zu wenig attraktiv gewesen wäre. Dementsprechend findet sich auch im „offiziellen“, dh. an das Ministerium weitergeleiteten Kommissionsbericht die Bemerkung, es hätte „...um nicht unnötigen Zeitverlust durch finanziell aussichtslose Verhandlungen entstehen zu lassen, auf den hervorragenden Vertreter des Faches in Berlin (Petersen) verzichtet werden“ müssen.141 Was Nadler betrifft, so ist nicht auszuschließen, daß man in Wien zumindest an der Universität von seinen Verhandlungen mit Prag um den dortigen Lehrstuhl wußte – offiziell waren diese schließlich noch im Gange. Allerdings zeichnen sich im Bericht der Fakultätskommission – anders als im Protokoll – auch wissenschaftliche Vorbehalte gegenüber der Nadlerschen stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ab – obwohl er nach dem Text zu schließen einige der als wichtig erachteten Kriterien erfüllt hätte, besonders jene spezifisch mit Österreich in Verbindung stehenden: Für die Wiener Professur kommt nur ein Gelehrter in Betracht, der mit wissenschaftlich wertvollster Leistung die Fähigkeit, ins Weitere zu wirken, verbindet: als akademischer Lehrer in Vorlesung und Seminar, als guter Sprecher auch für
—————— 140 Archiv der Universität Wien, phil. Fak. Personalakt Paul Kluckhohn, D-Zl. 1093 aus 1925/26, 21. 5. 1926, Protokoll der Beratung über die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur nach Walther Brecht. 141 AUW PA Kluckhohn, Bericht der Kommission betreffend die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur nach Professor Brecht, 5. 6. 1926, Blatt 5 Rückseite.
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weitere Kreise. Er muß lebendigen Sinn besitzen, für die zahlreichen Kulturkräfte dieser Stadt, für das Theater und die lebende Literatur, er muß Verständnis haben für die besondere Sendung Österreichs und seiner gesamten Geisteswelt in Vergangenheit und Zukunft, er muß aber ebenso gewißermaßen wie ein Gesandter der übrigen Deutschen bei diesem deutschen Stamme zu wirken imstande sein; er muß die zahlreichen Fäden, welche Österreich mit südlichen und nördlicher Kultur verbinden, zu erkennen und zu würdigen vermögen. Sein Blick muß wissenschaftlich und künstlerisch innerhalb Österreichs Bescheid wissen und gleichzeitig doch immer über dessen jetzige Grenzen hinausgehen.142
Allen diesen Anforderungen hätten die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung und ihr Schöpfer wohl gerecht werden können, wobei freilich einzuräumen ist, daß Nadlers Auffassung einer „österreichischen Sendung“ nicht unbedingt mit jener der Fakultätskommission übereinstimmen mußte. Und offensichtlich stimmten die Vorstellungen von der Wissenschaftlichkeit der Nadlerschen Sicht nicht überein, wie der weitere Text des Berichts zeigt: In Bezug auf Charakter und Arbeitskraft muß er den großen Anforderungen, die gerade diese Professur und in heutiger Zeit, stellt, gewachsen sein. Wissenschaftlich ist bei der heutigen Lage unserer Wissenschaft und bei der lebhaften Geistesart der Wiener Hörerschaft nur ein solcher Gelehrter erwünscht, der noch unausgegorenen, extremen Lehrmeinungen fernstehend, von dem soliden Boden philologischer und historischer Auffassung und Ausbildung ausgehend womöglich auch den Methoden der Altgermanistik nicht fremd, im Stande ist, das Berechtigte und Unberechtigte gegenwärtig lebendiger Strömungen und reifere Arbeit zu scheiden und nur dasjenige, was seiner ruhigen Prüfung standgehalten hat, aufzunehmen und so zu einer wissenschaftlich haltbaren Synthese historischer und begrifflicher Art zu gelangen. [...] Wenn man von solchen Voraussetzungen ausgeht, so fallen unter den lebenden [!] germanistischen Literarhistorikern alle Anhänger extremster Richtungen weg. Vor allem solche, deren Erkenntnisse mehr auf einer subjektiven „Schau“ aufbaut und daher weder beweisbar noch im Interesse der studierenden Jugend tradierbar sind. [...] Die stammeskundliche Richtung innerhalb der deutschen Literarhistorie erscheint dem Referenten [Brecht], wie den nahestehenden Fachgenossen, in ihren wissenschaftlichen Grundlagen nicht gefestigt genug, um sie an so verantwortungsvoller Stelle als die hier wünschenswerteste zu empfehlen.143
Nicht nur Brecht selbst, der in seiner eigenen Arbeit wie mit seinem Favoriten Kluckhohn eindeutig die geistesgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft bevorzugte, scheint Vorbehalte gegen Nadlers „Literaturgeschichte“ gehabt zu haben. Auch der Altgermanist Dietrich Kralik lehnte sie ab, was bis zu Nadler vordrang. Unter Anspielungen auf 1913, als Sauer sich vergeblich um die nach Jakob Minors Tod freie Lehrkanzel —————— 142 AUW PA Kluckhohn, Kommissionsbericht, Blatt 5, Vorderseite. 143 AUW PA Kluckhohn, Kommissionsbericht, Blatt 5 Vorder- und Rückseite.
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in Wien bemühte, führt er zur Nachfolge Brechts mit ironischen Seitenhieben aus: Der Altgermanist in W.[ien] hält, wie mir mitgeteilt wird, mein Buch für zu schlecht u. mich nicht für qualifiziert. Wie gut daß man in Preußen laxer ist u. ich in Wien nicht mehr pro venia legendi disputieren brauche. Ein anderes Mitglied der Kommission lehnt mich ab, weil ich Föderalist sei, was er offenbar für irgend eine ganz gemeine Perversität hält. Aber mein Trost ist es wenigstens, daß ich preußischer Ordinarius bin u. daß auch im Falle W. der Schüler nicht über den Meister [Sauer] geht. 144 Wie ich höre hat der Hallenser Schneider, trotzdem er in Wien an 3. Stelle steht, die besten Aussichten. Als ich von der impertinenten Disqualifikation erfuhr, die der junge [Dietrich] Kralik mir gegenüber herausnahm, habe ich ihm geschrieben, es werde ihm gewiß nicht schwer fallen, den Schüler zu eliminieren, nachdem es seiner Zeit mit dem Lehrer gelungen sei. Umso besser, wenn es Hirsch nun gelungen ist, mit Schneider wenigstens einen Ihrer Schüler auf die Liste zu bringen. Aber mit den Wienern u. diesem ganzen jämmerlichen Österreich bin ich nun fertig. Es ist ein wahrhaft groteskes Schauspiel, daß ich mit der ganzen austrophilen u. alles eher denn preußenfreundlichen Richtung meiner Arbeiten für Österreich zu schlecht aber für Preußen gut genug war. Und da erfüllt der alte [Richard] Kralik die Presse mit seinem Geschrei, man müsse die Geschichtsschreibung wegen Österreich redigieren. Das wird ihnen natürlich Kluckhohn oder Petsch oder Schneider bereitwillig besorgen. 145
Trotz Nadlers Klagen ist zu bezweifeln, ob er zu diesem Zeitpunkt einen Ruf nach Wien überhaupt angenommen oder ob er ihn ebenso wie jenen nach Prag aufgrund seines Vertrags in Königsberg abgelehnt hätte. Denn er betont in Bezug auf das seiner Ansicht nach von Dietrich Kralik verbreitete Gerücht, er habe sich bei diesem um den Wiener Lehrstuhl beworben: „Beworben habe ich mich bei keinem Menschen. Wenn ich nicht nach Prag konnte, so wäre ich erst recht nicht nach Wien gegangen.“146 Angesichts der Tatsache, daß Nadler sehr wohl nach Prag „gekonnt“ hätte, aber den Königsberger Lehrstuhl vorzog, ist dieser Satz als Indiz für die mangelnde Attraktivität einer Wiener Professur zu erachten – zumindest im Jahr 1926 geltend. Auf dieser Grundlage entsteht der Eindruck, Nadler hätte Mitte der zwanziger Jahre Königsberg als den besten Ort für die Fortführung seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsforschung empfunden und dies wohl nicht trotz, sondern wegen seiner Berufung nach Preußen. Denn angesichts seiner langanhaltenden Polemik gegen die Vorherrschaft „der Preußen“ in der Germanistik (seiner Auffassung nach verkörpert durch die Berliner Professoren Erich Schmidt, Richard M. Meyer und Gustav —————— 144 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-482, Königsberg 2. 4. 1926. Nadler bezieht sich hier auf einen Bericht Hugo von Hofmannsthal, siehe unten. 145 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-487, Königsberg 28. 6. 1926. 146 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-489, Königsberg 22. 8. 1926.
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Roethe, später auch Julius Petersen) mußte ihm ein Lehrstuhl in Preußen als besondere Anerkennung erscheinen. Diese Anerkennung erhielt wohl noch größeren Wert durch die gleichzeitige Ablehnung des wissenschaftlichen Anspruchs der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in Wien, da die Akzeptanz durch die in der „Literaturgeschichte“ vergleichsweise negativ dargestellten Preußen gewissermaßen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit deutlicher stützte als eine Propagierung des Nadlerschen Ansatzes in Österreich es getan hätte. Nadlers Ablehnung bzw. Hintertreibung des Prager Lehrstuhls und die relative Gleichgültigkeit der Wiener Besetzungsangelegenheit gegenüber kann jedoch aus einem Grund nicht allein auf seinen Stolz über einen preußischen Lehrstuhl zurückgeführt werden: er bemühte sich ab April 1926, Nachfolger Franz Munckers auf dessen Münchner Lehrstuhl zu werden (vgl. Abschnitt 7.2.8.). Somit bleiben als Ursachen für Nadlers Verhalten einerseits finanzielle Gründe: die Annahme der Prager Professur hätte nach seiner eigenen Aussage Gehaltseinbußen von 40 % mit sich gebracht147 und auch die finanzielle Lage an der Universität Wien war zusehends angespannt. Andererseits hatte unter Umständen eine Entfremdung von dem zuvor so gelobten Österreich stattgefunden, nicht zuletzt wegen der Erfolge, die Nadler in der Weimarer Republik zuteil wurden, während er in Wien – zumindest in akademischen Kreisen – trotz seiner Österreich und besonders dessen Hauptstadt aufwertenden Arbeiten seiner Auffassung nach zu wenig geschätzt wurde. In Hinblick auf die Universität Wien ist festzustellen, daß die SauerNadlersche Schule der Literaturgeschichtsschreibung dort zur fraglichen Zeit (wie schon 1913) keinen Boden fand. Allein Franz Koch bezog in einem Artikel Stellung für Nadler, er hatte allerdings als Privatdozent und Bibliothekar an der Universität praktisch keinen Einfluß.148 Auch Hugo von Hofmannsthal konnte keine Unterstützung für Nadler erwirken: Es war nun mein bestimmter Wunsch, es möge Ihr Name hier auf die Liste der zu Berufenden kommen. Von dem Maß aber des Widerstandes in der eigentlich professoralen Welt eben gegen jenes Eigenthümliche und in schönem Sinn Gewagte, das Ihr Werk auszeichnet, hatte ich mir doch kaum eine Vorstellung gemacht; und zwar scheint mir der vehementeste Widerstand von den Altgermanisten zu kommen, und sich gegen den ersten Band der Literaturgeschichte zu richten, mit der größten Schärfe und Intransigenz. Auch mit einem Herren eines anderen Faches, welcher aber der Commission angehört, suchte ich Verbindung, und fand ihn ohne jede eigentliche Kenntnis dessen, was Sie geleistet haben und voll naiven Erstaunens, als ich ihm die Bedeutung dieser Leistung für das innere Leben der Nation auseinanderzusetzen versuchte; er hatte Sie als einen
—————— 147 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-487, Königsberg 28. 6. 1926. 148 Vgl. Meissl: Germanistik in Österreich, S. 481. Der Artikel Kochs: Koch: Zur Begründung stammeskundlicher Literaturgeschichte, vgl. 7.1.
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„Agitator des Föderalismus“ bezeichnen hören. [...] ich muß offen sagen, daß ich für diese Wahl [eines Ordinarius für Germanistik] ohne Hoffnung bin.149
An diesem Schreiben verdeutlicht sich ein weiteres Problem für Nadler: sein offensichtlich zu geringer Bekanntheitsgrad außerhalb von germanistischen Kreisen in Wien. Denn Alfons Dopsch, der laut Sebastian Meissl das von Hofmannsthal erwähnte Kommissionsmitglied war,150 wäre als Gründer des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte unter Umständen offener für die an Lamprecht orientierte Literaturgeschichtsschreibung Nadlers gewesen als dessen germanistische Kollegen. Ob eine Intervention Sauers – der schließlich im betreffenden Zeitraum eine Berufung Nadlers nach Prag wünschte und sich deshalb zu Wien nicht äußerte – Erfolg gehabt hätte, ist fraglich, da Sauer selbst über wenig Einfluß auf die Wiener philosophische Fakultät und die dortigen Germanisten verfügte, was möglicherweise immer noch auf seine Konkurrenz zu Jakob Minor zurückging. Es ist nicht auszuschließen, daß persönliche Ablehnungen hier eine beträchtliche Rolle spielten, hatten sich doch bereits im Rahmen von Nadlers Berufung nach Fribourg und somit noch vor der umstrittenen Minor-Nachfolge Spannungen mit den Wiener Germanisten ergeben. In der Berufungsangelegenheit von 1926 überwogen die Bedenken gegen Persönlichkeit und Werk des Literaturhistorikers, dessen Hervorhebung der österreichischen Literatur von österreichischen Rezipienten oft so gerühmt wurde. 7.2.8. München 1926/27 Was sich in Königsberg abgezeichnet hatte – die Forderung nach einzigartigen Ansätzen der Literaturwissenschaft mit hoher Anziehungskraft – galt nicht allein für eine Universität in so spezifischer Lage wie der einer Exklave, was sich an der Nachfolge Franz Munckers in München erweist. Deren Ablauf wurde von Ernst Osterkamp anhand von Universitätsakten sowie Briefnachlässen analysiert und von Ulrich Dittmann nach der Auffindung weiterer, verloren geglaubter Dokumente ergänzt.151 Osterkamp beschreibt den wissenschaftsgeschichtlichen Umschwung in der deutschen Philologie als maßgeblich von einem Verlust an Trennschärfe zwischen —————— 149 Hofmannsthal an Nadler am 28. 3. 1926, zitiert nach: Volke: Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen, S. 83; Hervorhebung in der Vorlage. 150 Meissl: Germanistik in Österreich, S. 481. 151 Osterkamp: Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre, S. 348-369; Dittmann, Ulrich: Carl von Kraus über Josef Nadler. Ein Nachtrag zur MunckerNachfolge 1926/27. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 43 (1999), S. 433444.
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Wissenschaft und Kunst bestimmt. Symptom dafür sei der Einsatz mehrerer Dichter für die von ihnen favorisierten Kandidaten (z. B. Thomas Mann und Stefan George für Ernst Bertram, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt für Josef Nadler), der in erster Linie „Wissenschaftskünstlern“ gegolten hätte: „Wenn man die um 1925 kulminierenden methodologischen Auseinandersetzungen in der Neugermanistik aufs äußerste abstrahiert, so läßt sich sagen, daß der lange vorherrschenden Analytik historisch-philologischer Forschung nun ein Hunger nach Synthesen entgegenschlägt, der, um der methodischen Herstellung von Ganzheit willen, die Kategorie wissenschaftlicher Überprüfbarkeit mehr und mehr durch künstlerische Gestaltungsgrundsätze, von der intuitiven „Wesensschau“ bis zur Überhöhung des Individuellen als Symbol eines Ganzen, ersetzt.“152 Wie sehr das Bedürfnis nach Synthesen in der deutschen Literaturwissenschaft die Zurückdrängung der philologischen Standards zur Folge hatte, ließ sich bereits an der Rezeption der „Literaturgeschichte“ bestätigen. Dittmann verstärkt in seiner Darstellung allerdings weitere, über die akademisch-künstlerische Sphäre hinausgehende Aspekte und relativiert Osterkamps Darstellung in zweierlei Hinsicht: zunächst kann er anhand der Akten des Kultusministeriums dokumentieren, wie stark von politischer Seite Sparmaßnahmen die Berufungsangelegenheit beeinflußten. Außerdem erfaßt Dittmanns Beitrag die Rolle Nadlers als weit aktiver und seine Beurteilung durch die Fakultät in vollem Umfang, wie in die weitere Darstellung, die in ihren Grundzügen Osterkamp folgt, einzuarbeiten sein wird. Der Besetzungsvorschlag der Philosophischen Fakultät I für die Nachfolge Franz Munckers vom 15. 11. 1926 lautete: primo loco: Julius Petersen (Berlin) secundo loco: Rudolf Unger (Göttingen) tertio et aequo loco: Ernst Bertram (Köln) Walther Brecht (Breslau) Dieser Liste angeschlossen war eine Würdigung Friedrich Gundolfs. Von den im Vorschlag Genannten erfolgte der Ruf an Bertram – in der Einschätzung von Zeitgenossen wie Petersen oder Borchardt aufgrund der Einflußnahme von Thomas Mann und der Witwe des Literaturhistorikers Litzmann. Bertram lehnte allerdings nach problematischen, zwei Monate andauernden Verhandlungen die Übernahme des Lehrstuhls ab. Julius Petersen, der Favorit Franz Munckers und des Mediävisten Carl von Kraus, wurde aufgrund geheimer Abmachungen zwischen den zuständigen Ministerien in Bayern und Preußen übergangen, wie Dittmann zeigen —————— 152 Osterkamp: Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre, S. 359f.
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konnte: der von den Gelehrten angestrebte Wechsel Petersens nach München und von Kraus’ nach Berlin, der sich aufgrund der bereits vorliegenden Besetzungsvorschläge auch abzeichnete, wurde zwecks Ersparnis der damit anstehenden Gehaltserhöhungen seitens der Ministerien hintertrieben.153 Und „...Rudolf Unger, über Bertrams Berufung empört, zierte sich auf persönliche Anfragen hin so sehr, daß ihn nun die Fakultät nicht mehr wollte.“154 Nachdem der dem George-Kreis zuzuordnende Bertram den Ruf abgelehnt hatte, rechneten viele mit einer Berufung des ähnlich ausgerichteten Gundolf, doch diese wurde weder von der Fakultät noch von der Regierung ernsthaft in Erwägung gezogen. Josef Nadler setzte in München auf Intervention von außerhalb der Fakultät und meldete sein Interesse an einem Lehrstuhl bereits im April 1926, also noch Monate vor Munckers Tod im September an, indem er sich über seinen Verleger Josef Habbel an dessen Schwager Heinrich Held, den bayrischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Bayrischen Volkspartei wandte.155 Dies fruchtete insofern, als nach dem am 20. 12. 1926 erfolgten Beschluß des Besetzungsvorschlags vom Kultusminister Franz Xaver Goldenberger mit Bezug auf den Ministerpräsidenten und Carl Muth, den Herausgeber der Zeitschrift „Hochland“, von der Universität eine Stellungnahme zu Nadler erbat. Weitere Unterstützung erhielt Nadler vom Schriftsteller und Privatgelehrten Rudolf Borchardt, der mit dem Literaturhistoriker in losem brieflichen Kontakt stand, seit er ihn 1923 um einen Beitrag zur Festschrift für Hugo von Hofmannsthal gebeten hatte. Borchardt setzte sich, nachdem die Verhandlungen mit Bertram gescheitert waren, in München bei Rektor Karl Vossler für Nadler ein: Gestern Mittag im Wirtshaus sass Vossler [...] an meinem Tisch und fing nach kurzem Feuergefecht auszukramen an. Die Professoren seien da, nur die Menschen, sie zu besetzen fehlten fast. Da sei dieser Fall Bertram, welchen er in der Rückrufs Version, die üblich geworden ist, vortrug, B. habe sich der Aufgabe physisch nicht gewachsen gefühlt. Und da sei dieser Unger, den man halbvertraulich sondiert habe, der habe nun einen so jammerwürdigen Brief geschrieben, dass man ihn aufgeben müsse. Wie habe man über den alten Muncker gespottet, und nun sehe man dort erst, welch eine Karre er bis ins hohe Alter gezogen habe. Ich tat ihm nicht den Gefallen, Fragen zu stellen, sondern that halb beifällig halb erstaunt, und als gehe das alles mich nicht viel an. So hiess es denn weiter, es müsse nun wol sicher Nadler werden. Hofmannsthal habe ihm sehr ausführlich geschrieben, einen besonders schönen Brief und sich aufs wärmste für Sie einge-
—————— 153 Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 443. 154 Osterkamp: Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre, S. 354. 155 Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 435. Zu diesem Zeitpunkt war Nadler noch nicht einmal ein Jahr lang in Königsberg und war im Gespräch für den Lehrstuhl in Prag.
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setzt – Schroeder und ich hätte ja zwar schon usf. aber dies neue Tun gebe dort sehr zu Denken usf. Ich darauf, sehr ungläubig thuend, bei Geh. Rat von Kraus’ bekannter Ader usf. - - - ja, hiess es da, Kraus pflege immer nachzugeben, wenn die andern in einer Sache einig seien. Die Regierung wünschte Sie. Hierüber sprach ich mein stärkstes Bedauern aus, man schadete seinem Kandidaten nur durch solche Previosen usf. Worauf er prompt erwiderte, natürlich erleichterte es Ihre Durchsetzung nicht, dass Sie als „der Kandidat der bayrischen Volkspartei“ bezeichnet werden könnten. Worauf ich, niemand sei auf die Fehler des Fanatismus festzulegen, der es darauf anlege, uns nach seiner Weise zu beglücken. Sie würden sicher sehr betreten sein zu hören, dass die Diskussionen Ihres Namens auf einer anderen Basis als derjenigen der grossen wissenschaftlichen Leistung geführt werde. Natürlich müsse es auch mit dem geistlosen catholica non leguntur der preussischen Schulmeister alter „Schulen“ einmal ein Ende haben. Dann ging das Gespräch auf anderes über. Mir war es sehr lieb, auf diese zufällige Weise die Probe auf die Wirkung unserer Unternehmungen zu machen. Baron Cramer-Klett ist beim Kultusminister Goldenberger und beim Kardinal gewesen, auch der letztere hat, wie ich weiss, bei Goldenberger gedrängt, es ist im Ganzen eine einheitliche Stimmung wenn auch nicht des „Aktivismus“ so des Knurren und Grollens, – dem höchsten wozu sich bairische Ministerien gegen autonome Fakultäten aufzuraffen pflegen – erreicht worden. Hofmannsthal hat auf meinen Brief ausserordentlich verbindlich und erleichtert geantwortet, nur seine schlechte Gesundheit bedauert [...], aber versprochen, sich zusammenzunehmen um etwas zu produzieren. (Brecht, ganz beiläufig, ist weder sein noch jemandes Kandidat (ausser vielleicht Kraussens) und steht da er eben erst in Breslau angenommen ist unter Schutzfrist) Dann hat er Wiegand und mir mitgeteilt, er verspreche sich von einem unumwundenen Brief an Vossler mehr als von einem journalistischen Eiertanz vor der Öffentlichkeit: auch das hatte ich ihm zwischen den Zeilen nahegelegt, und bin froh dass er es vorgeschlagen hat, denn im öffentlichen Handeln liegt seine Stärke nicht...156
In zweierlei Hinsicht irrte Borchardt allerdings: einerseits fühlte Hofmannsthal sich seinem Freund Walther Brecht so weit verpflichtet, daß er in dem Brief, den er tatsächlich an Vossler richtete, für Nadler ebenso eintrat wie für Brecht.157 Andererseits unterschätzte er wohl den Widerstand von Kraus’ gegen Nadler. Aus dessen Hand stammt nämlich das Gutachten, mit welchem die Fakultät die ministerielle Erkundigung nach Nadler beantwortete. Die hohe Qualität dieses Gutachtens liegt in des Verfassers klarem Blick für jene problematischen Aspekte der „Literaturgeschichte“, die noch vor aller Beurteilung der Wissenschaftlichkeit des Gesamtansatzes ins Auge fallen. So thematisiert von Kraus, daß vor allem für die ältere Zeit die Herkunft von Dichtern oft ungeklärt sei und durch —————— 156 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Bestand A: Borchardt, Schreiben Borchardts an Nadler, München, Ostersamstag [lt. Archiv: 16. 4.] 1927. Willy Wiegand war Leiter der von Hofmannsthal, Borchardt, dem Dichter Rudolf Alexander Schröder und anderen gegründeten „Bremer Presse“. 157 Osterkamp: Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre, S358f.
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Abschriften die stammliche Zugehörigkeit von Dichtungen verwischt werden könne. Weiters kritisiert er die Unklarheit der Kriterien für die Einordnung von Dichtern, die anderswo als in ihrer Geburts- bzw. Abstammungsheimat wirkten: „...man kann seine Weltanschauung, seinen Stil und seine Persönlichkeit zurückführen entweder auf das Blut seiner vier Urgroßväter oder auf seine angestammte oder aber auf seine neugewählte Heimat: eine Entscheidung, welchem Faktor im Einzelnen die herrschende Rolle zukommt, ist ohne Willkür gar nicht zu fällen.“158 Doch neben diesen ebenso zutreffenden wie prinzipiell zur Ablehnung des Nadlerschen Werks wohl ausreichenden Kritikpunkten bewegt von Kraus sich doch sehr deutlich an jenen Linien, die allgemein eine grundsätzliche Absage an den wissenschaftlichen Anspruch der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung verhinderten (vgl. Abschnitt 8.1.). In seinen Ansichten über den Erfolg der „Literaturgeschichte“ beweist von Kraus zwar ein weiteres Mal Weitblick: Nadlers ...mit frischem Wagemut und grosser Energie durchgeführte Auffassung hat in weiten Kreisen viel Beifall gefunden, wie das in einer Zeit, die den Lehren der Rassen- und Volkskunde leidenschaftlichen Anteil widmet, durchaus begreiflich ist. Weitaus geringer allerdings war der Eindruck, den seine Darstellung im Kreise der Fachgenossen machte; umso mannigfacher und stärker dafür die Bedenken, die gegen die einseitige Betonung des landschaftlichen Momentes erhoben wurden.159
Doch in der bereits bekannten Weise bestätigt auch von Kraus gleich anschließend daran die in „verschiedenen Richtungen“ liegenden „Begabungen verschiedener deutscher Stämme“ und damit die grundsätzliche Akzeptanz der Vorstellung von Stammescharakteren. Und er verneint ein weiteres Mal die Frage, „...ob es möglich ist, den landschaftlichen Gesichtspunkt zum obersten Faktor unserer Literaturgeschichte (und damit jeder Geistesgeschichte [!]) zu erheben.“160 Interessant ist hier, wie von Kraus die Literaturgeschichte praktisch zur Grundlage jeder Geistesgeschichte macht, womit die Nähe zu einem sich in der Literaturgeschichte „auswickelnden“ Nationalgeist, wie er von Jürgen Fohrmann als lange gültiges Konzept der deutschen Literaturgeschichtsschreibung beschrieben wurde, sehr groß ist. In Übereinstimmung mit bereits bekannten, aus der Philologie stammenden und mit der Geistesgeschichte zu vereinbarenden Aspekten der —————— 158 Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 438. Dieses Zitat ist dem Urteil Julius Petersens sehr ähnlich, was aufgrund des nahen Kontaktes zwischen den beiden Gelehrten nicht verwunderlich ist. Vgl. 7.1. bzw. Petersen: Das Wesen der Romantik, S. 9f. 159 Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 437. 160 Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 437.
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Germanistik betont von Kraus die Unabhängigkeit der großen Künstlerpersönlichkeiten vom „allgemeinen Typus ihrer Landsgenossen“.161 In der selben Weise kritisiert von Kraus auch, daß man aus den Einflüssen auf den Einzelnen erst zwischen Einflüssen der Ahnen, der literarischen Traditionen sowie der klimatischen und topographischen Verhältnisse unterscheiden können müßte – die Scheidung dieser Einflüsse in Hinblick auf einen Menschenverband wird nicht erwähnt. In diesem Gutachten finden sich nochmals alle Vorbehalte des strengen Philologen. Letztlich muß auch von Kraus mangelnde Erfassung des gesamten Nadlerschen Ansatzes attestiert werden. Zwar beschreibt er die „Literaturgeschichte“ zutreffend als ein Werk, das unter Berücksichtung von Sauers Forderungen die Landschaften und Stämme zum leitenden Gesichtspunkt erhoben habe, verbunden mit genealogischer, provinzieller und volkskundlicher Forschung, doch später heißt es: Auch weisen nicht alle deutschen Stämme einen einheitlichen Charakter auf: gerade in Kolonisationsgebieten findet man oft ganz widersprechende Typen. Schliesslich: das Stammhafte ist ein konservatives Element, nicht aber eines, das etwas Neues hervorbringen kann, weshalb es nicht angeht, es als Ursache neuer geistiger Bewegungen anzusehen. 162
Aus diesen Sätzen ist zu erschließen, daß die modifizierende Rolle der Landschaft und Mischung von Stämmen bzw. Völkern – bei Nadler ein zentrales Element, Ursache für die umfassend behandelten „widersprechenden Typen“ im Kolonisationsland und spätestens seit der „Berliner Romantik“ Grund für alle Neuerungen der geistigen Entwicklung – nicht in ihrer Bedeutung erfaßt oder zumindest nicht dargestellt werden. Die akzeptierte Vorstellung von Stammeseigenschaften, der von Kraus folgt, scheint sich nicht mit dem von Nadler in der „Literaturgeschichte“ niedergelegten „Stammescharakter“ zu decken. Entscheidendes Moment ist hier wohl ein weiteres Mal Nadlers spezifische Verbindung von Abstammung und Einfluß der Landschaft, da bei von Kraus ein Primat der Geofaktoren anklingt.163 Die Annahme, daß Stammeseigenschaften aufgrund von Einflüssen einer Landschaft ausgebildet würden, die hier wohl vorliegt, und die damit verbundene Fehleinschätzung der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ stimmt durchaus mit dem Eindruck überein, daß von —————— 161 Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 438. 162 Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 438. Auch dieses Argument teilt von Kraus mit Petersen. Vgl. Petersen: Das Wesen der Romantik, S. 21. 163 So bezieht von Kraus die Bedenken der Fachgenossen auf die „einseitige Betonung des landschaftlichen Gesichtspunkts“, der auch als „oberster Faktor“ bezeichnet wird, während nur von einseitigem, aber nicht wechselseitigem Einfluß von Geofaktoren auf den einzelnen gesprochen wird. Familiengeschichte und Blut bezieht von Kraus zwar mit ein, ihr Gewicht scheint aber wiederum aus den auf den Geofaktoren beruhenden Stammeseigenschaften zu kommen.
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Kraus die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung aus dem relativ engen Horizont einer philologisch bestimmten und sich soeben stärker geistesgeschichtlich ausrichtenden Germanistik (und Volkskunde) heraus beurteilt, in dem etwa die Konzepte Friedrich Ratzels oder auch die kollektivistische Kulturgeschichte Lamprechts keinen Platz haben. So gesehen kann Dittmanns Urteil über von Kraus’ Gutachten nicht vollständig zugestimmt werden. Er schreibt: „Die Stellungnahme von v. Kraus zu Nadler dokumentiert ein gültiges Wissenschaftsethos, denn da beugt sich ein Fachvertreter weder der von staatlich-vorgesetzter Stelle bezeugten Präferenz, noch hält er es mit jenem zeittypischen, ambivalenten Interesse am antihistorischen Synthesedenken...“164 Von Kraus lehnt den Nadlerschen Ansatz nun zwar unter Anwendung berechtigter Kritikpunkte ab. Allerdings hat sich gezeigt, daß dasselbe „Wissenschaftsethos“ – nämlich in Köln – zur Abwehr des Nadlerschen Ansatzes angewandt wurde, ohne dieselben Maßstäbe an alle fraglichen Ansätze (konkret: Bertrams) anzulegen. Damit ist die allgemeine „Gültigkeit“ dieses Wissenschaftsethos nachhaltig in Frage gestellt und auch der Münchner Vorschlag führt letztlich keine „strengen“ Philologen, obwohl bis auf Bertram die Genannten im Spektrum des Methodenpluralismus hinsichtlich fragwürdig unterlegter Synthesen als gemäßigt anzusehen sind. Nicht außer acht gelassen werden darf auch die schon in der Fribourger Besetzungsangelegenheit eine Rolle spielende Konkurrenzstellung zwischen Carl von Kraus und August Sauer, die ersterer wahrscheinlich auch auf den Schüler übertrug. Der Mediävist von Kraus hielt sich ohne Zweifel in seiner eigenen Arbeit an die philologischen Standards. Doch sein Gutachten gegen Nadler kann nicht als „Ehrendokument der Fachgeschichte“165 gewertet werden, weil einerseits das darin vertretene „Wissenschaftsethos“ seine Verbindlichkeit weitgehend verloren hatte und teilweise rhetorisch zur Ablehnung unerwünschter Ansätze angewandt wurde, ohne diese Maßstäbe in derselben Strenge auch auf andere Synthesemodelle anzuwenden (mögen sie mehr oder weniger problematisch als die „Literaturgeschichte“ gewesen sein). Und der prekäre Kern des Nadlerschen Konzepts – die Annahme vererbbarer und überzeitlicher Stammescharaktere – wird von der Kritik aus von Kraus’ Feder nicht nachhaltig berührt.166 —————— 164 Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 434. 165 Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 434. 166 „An sich liegt die Begabung verschiedener deutscher Stämme, - zum Heil unserer Kultur! – in ganz verschiedenen Richtungen. Es wäre daher nur natürlich, dass der Unterschied, die jeder aufmerksame Beobachter im tagtäglichen Leben in der Sprache und Eigenart, in der Eignung für Kunst oder Organisation, in dem Kräfteverhältnis zwischen Verstand und Phantasie, Gemüt und Zucht, zwischen Musikalität und literarischem Interesse, individuel-
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Nachfolger Franz Munckers wurde schließlich der gemeinsam mit Bertram drittgereihte Walther Brecht, wobei Hofmannsthals Brief an Rektor Karl Vossler wohl den Ausschlag gegeben hatte, da innerhalb der Fakultät sich nun der maßgebliche Germanist – von Kraus – mit dem Rektor auf einen Kandidaten einigen konnte. Im bayrischen Ministerium waren nach der Vermutung Dittmanns wie bei der Verhinderung des Wechsels von Kraus – Petersen nicht zuletzt finanzielle Gründe ausschlaggebend.167 Brecht, der sich in Breslau nicht wohl fühlte, forderte keinen Aufschlag auf sein bisheriges Gehalt. In München zeichnet sich in einer Hinsicht eine ähnliche Lage ab wie in Breslau und zum Teil wie in Köln: eine Berufung Nadlers wurde seitens der zuständigen Politiker weit stärker gewünscht als von den Professoren der betroffenen Fakultäten. Denn innerhalb der Fakultäten verfügte Nadler weder bei der Breslauer noch bei der Münchner Berufungsangelegenheit über nennenswerte Unterstützung. Diese Feststellung gilt zum Teil auch für Wien, da etwa das österreichische Unterrichtsministerium Nadler bereits 1920 nach Innsbruck zu berufen bereit gewesen wäre, an der Wiener philosophischen Fakultät jedoch niemand für Nadler eintrat. Die Unterstützung durch Politiker hatte dem Literaturhistoriker jedoch mehr geschadet als genützt, wie im Fall München am von Borchardt wiedergegebenen Gespräch mit Rektor Karl Vossler deutlich wird. Zu große Einflußnahme von Regierungsgremien auf Lehrstuhlbesetzungen wurde innerhalb der Universitäten nicht gutgeheißen. Aus dieser Sicht erweist sich auch Nadlers Weg über seinen Verleger zum bayrischen Ministerpräsidenten und zum Kultusminister von Anfang an als seinem Ziel abträglich. Es ist nicht auszuschließen, daß Nadler diese Vorgehensweise aufgrund seiner bisherigen Erlebnisse für die erfolgversprechendste hielt. Schließlich hatte schon in Fribourg der direkte Kontakt Sauers und Hussareks zu Staatsrat Python entscheidend zu seiner Berufung beigetragen, war der Literaturhistoriker in Köln von Geheimrat Eckert am stärksten favorisiert worden und hatte vom preußischen Unterrichtsministerium in Hinblick auf die Berufung nach Prag großes Entgegenkommen erfahren. Doch in München hatte Nadler seine Chancen völlig falsch eingeschätzt, denn die ohnehin beträchtliche Ablehnung seiner Person durch maßgebliche Fakultätsmitglieder war durch seine Favorisierung durch Regierungs—————— lem Freiheitsdrang und Gemeinsinn und in vielen anderen Beziehungen bei den Angehörigen verschiedener deutscher Stämme finden kann, auch in der Literatur zum Ausdruck gelangte. Das ist teilweise auch der Fall und hat auch schon vor Sauer vielfach Beachtung gefunden.“ Zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 437. v. Kraus geht damit von Stammeseigenschaften aus, doch ihr Ursprung und Status (biologisch oder kulturell bedingt?) ist fraglich. Vgl. hier zu 8.1. 167 Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 444.
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gremien noch angewachsen. Die Vorgehensweise des Literaturhistorikers sagt überdies einiges über sein Selbstbild aus: zunächst läßt sich aus Nadlers Gehabe auf sein Gefühl schließen, er habe das Recht auf die Unterstützung von Regierungsgremien.168 Daraus ist wiederum zu folgern, daß Nadler davon ausging, seine wissenschaftliche Arbeit sei in ihren Implikationen nicht zuletzt auch für politische Gremien relevant – womit er angesichts der in manchen Fällen von dort erfolgenden Unterstützung offensichtlich recht hatte. Und letztlich kann ein Überlegenheitsgefühl Nadlers über seine Kollegen abgeleitet werden: anstelle unter den Fachkollegen Stellung zu beziehen und Überzeugungsarbeit für sein Konzept der Literaturgeschichtsschreibung zu leisten, hätte Nadler es vorgezogen, sich von Ministern auch gegen den Willen der Fakultät auf einen Lehrstuhl berufen zu lassen. Darin drückt sich eine gewisse Geringschätzung der Kollegen aus, als hätte Nadler ihnen nicht zugetraut, seine Leistung richtig zu bewerten. 7.2.9. Die Berufung nach Wien 1931 Mit dem Tod von August Sauer am 17. September 1926 endet der bisher wichtigste von Nadler selbst stammende Quellenbestand, die Briefe an seinen Lehrer. Selbst angesichts der Tatsache, daß gerade an diesem Briefwechsel zu dokumentieren ist, wie Nadler sich mit der Stärkung seiner eigenen Position als Wissenschafter zusehends dem Einfluß Sauers zu entziehen begann, ist diese Korrespondenz mit ihrer großen Offenheit und Fülle an persönlicher Information nicht in vollem Umfang durch andere Quellen zu ersetzen. Es ist deshalb auch möglich, daß Nadler zwischen 1926 und 1931 in weiteren Besetzungsverfahren eine Rolle spielte, die aber nicht erfaßt werden konnten. Erst die Berufung nach Wien 1931 kann wieder anhand der Quellen analysiert werden; ihr ist überdies der Teil eines Beitrags von Sebastian Meissl gewidmet.169 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß sich in Wien die Fronten gegen Nadler nur teilweise aufgeweicht hatten. Dietrich Kralik, Rudolf Much und nicht zuletzt Eduard Castle hielten nach wie vor ihre Vorbehalte gegen Nadler aufrecht. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Ablehnung zumindest —————— 168 Dittmann druckt einen Brief Nadlers an Habbel ab, wo der Literaturhistoriker angesichts der Nachricht, Bertram sei nach München berufen worden, sich beschwert: „Ich sehe, dass aller guten Dinge drei sind. In Köln war es ein Zentrumsmann, in Wien ein christlichsozialer, in München ein katholisch-volksparteilicher Kultusminister, die sich meiner nicht anzunehmen wagten.“ Nadler an Habbel, 11. 1. 1927, zitiert nach: Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler, S. 439. 169 Meissl: Germanistik in Österreich,, S. 481.
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seitens der Altgermanisten auf Nadlers wissenschaftliche Grundlagen bzw. Bezugspunkte zurückzuführen ist, da Much ein vehementer Kritiker sowohl Otto Bremers als auch Sigmund Feists sowie ein prominenter Vertreter der Theorie von der nordischen und reinrassigen Herkunft der Germanen war (vgl. Abschnitt 6.1.2.).170 Kralik war wiederum von Much habilitiert worden. Allerdings genoß Nadler diesmal die Unterstützung des scheidenden Ordinarius: Paul Kluckhohn scheint die treibende Kraft für seine Berufung gewesen zu sein, wie ein Brief von Friedrich Ranke, der zu dieser Zeit in Breslau lehrte, an Nadler unterstreicht: Kluckhohn denkt (Bitte streng vertraulich!) für seine Nachfolge in Wien in 1. Linie an Sie, rechnet aber mit starken Widerständen, und würde ein baldiges Erscheinen der „Prolegomena“ [zur Hamann-Ausgabe] in Ihrem Interesse (als „philologicum“) sehr begrüssen; er bleibt bis Ostern dort, die Entscheidg. fällt also wohl erst im Winter. 171
Die von Ranke angesprochene Publikation erschien rechtzeitig,172 wurde jedoch in der dem Kommissionsbericht beigelegten Stellungnahme zur Person und zum Werk Nadlers nicht erwähnt. Selbige beschäftigt sich allein mit der „Literaturgeschichte“: Ein Werk, das als Arbeitsleistung durch die Bewältigung ungeheurer Stoffmassen, durch die grosse Selbständigkeit des Urteils und die Anschaulichkeit und Originalität des Stils Bewunderung verdient und erhalten hat und der Wissenschaft nicht nur viele bekannte Erscheinungen in neuer Beleuchtung gezeigt, sondern auch wirklich Neuland erobert, auf der anderen Seite freilich auch scharfe Kritik heraus gefordert hat durch Unklarheiten und Willkür in der methodischen Grundlage, durch gewaltsame Konstruktionen, die die Tatsachen auch verbiegen und zurecht rücken, und durch unzureichende Begründungen. Doch darf man gerade in Oesterreich geneigt sein neben den offentlichtlichen [sic] Schwächen des Nadlerschen Buches seine grossen Verdienste um die Erhellung der bayerischösterreichischen Barockliteratur stärker zu betonen. Auch hat der langjährige nächste Kollege Nadlers in Königsberg Professor Friedrich Ranke, jetzt in Breslau, über seine Lehrtätigkeit Auskunft gegeben, die sehr günstig lautet und hervorhebt, dass die Einseitigkeit und Schwächen seiner Methode in seinem Seminar ganz zurücktreten, wie auch in seinen Prüfungen nach Stamm und Landschaft nicht gefragt werde, und dass er die Studenten vielmehr zu solider philologischer und literarhistorischer Arbeit erziehe. [...] Diese Urteile dürfen es rechtfertigen, dass heute die vor vier Jahren geäusserten Bedenken gegen Nadler wenigstens teilweise zurückgestellt werden [...]. Als Persönlichkeit hat Nadler wohl nicht die
—————— 170 Römer: Sigmund Feist, S. 284-287; Dies.: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, S. 88f. 171 DLA Marbach, Bestand A: Nadler, Schreiben Rankes an Nadler, Breslau 13. 9. 1930. 172 Nadler, Josef: Die Hamann-Ausgabe. Vermächtnis, Bemühungen, Vollzug. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. Jg. VII, Bd. 6. Königsberg 1932.
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gewinnende Liebenswürdigkeit und Harmonie Günther Müllers, aber sehr starkes Temperament und zähe Energie. 173
Skurril mutet hier die Betonung an, daß jener literaturgeschichtliche Ansatz, der letztlich Nadlers Status als Wissenschafter bestimmte, in seinem Unterricht keine Rolle spiele. Daran wird deutlich, daß Nadler nicht als Vertreter seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach Wien berufen werden sollte, sondern als Repräsentant eines aufsehenerregenden und die österreichische Literatur aufwertenden Ansatzes. Denn nach diesem Text zu schließen, der in seinen einleitenden Sätzen jene positiven Aspekte nennt, über die schon unter den Rezensenten der ersten Auflage weitgehend Einigkeit herrschte, liegt der Wert der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ in den Augen der Kommission vor allem im „großen Verdienst“ um die bayrisch-österreichische Barockliteratur. Im Besetzungsvorschlag der Fakultätskommission wurde neben Nadler Günther Müller auf dem ersten Platz genannt. Müller war 1926 mit Nadlers Unterstützung dessen Nachfolger in Fribourg geworden, da Nadler dessen literaturwissenschaftliche Richtung der seinen zumindest als nahestehend empfand: „Müller ist für die Wissenschaft eine sehr wertvolle und zukunftsreiche Kraft, dem nur eine ausreichende materielle Existenz fehlt, damit er schaffen kann. Und er wird sicher auf gute Beziehungen zu unseren Gedanken halten.“174 Dies bestätigte auch Eduard Castle in seinem noch zu besprechenden Separatvotum. Secundo loco wurde im an das Fakultätskollegium weitergeleiteten Besetzungsvorschlag Nadlers oftmaliger Konkurrent um Lehrstühle, Ferdinand Josef Schneider, gesetzt. Während schon die Nennung Nadlers und Schneiders auf eine Bevorzugung (alt)österreichischer Kandidaten hinweist, wird dieser Eindruck durch drei in der Kommission auf drittem Platz diskutierten, aber nicht in den Vorschlag aufgenommenen Germanisten vertieft. Mit Herbert Cysarz (Prag), Heinz Kindermann (Danzig) und dem Privatdozenten Franz Koch wurden drei Absolventen der Universität Wien (alt)österreichischer Herkunft genannt. Im beschlossenen Vorschlag standen zumindest in den Augen Eduard Castles schließlich zu wenige in Österreich tätige Kandidaten. Dies kann durchaus als eine Anspielung auf das Übergehen der eigenen Person aufgefaßt werden, wobei jedoch der Hauptgrund für sein Separatvotum die vehemente Ablehnung Nadlers war: Da Nadlers Werk und Persönlichkeit, wie auch der Herr Referent in seinem Bericht andeutet, vielumstritten sind, da überdies die Richtung Günther Müllers der Nadlers sehr nahe kommt, da es mir ferner nicht wünschenswert erscheint, daß
—————— 173 AUW, PA Josef Nadler, D-Zl. 370 aus 1930, Kommissionsbericht betreffend die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur nach dem Abgang von Prof. Kluckhohn, fol. 42. 174 ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-462, Düdingen 8. 3. 1925.
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nach Ausschluß der in Osterreich [sic] tätigen Fachvertreter auch noch eine Exklusive gegen die Berliner Schule statthabe und der Kreis, aus dem die Auslese stattfindet, immer enger gezogen werde, beantrage ich primo & aequo loco Günther Müller und Franz Schultz [Frankfurt/M.] in den Vorschlag aufzunehmen.175
Bei genauerer Betrachtung der Ergebnisse der Kommissionssitzung wird deutlich, weshalb Castle den Weg eines Separatvotums ging. Zunächst fand er einfach für seine Ablehnung Nadlers nicht genug Unterstützung, seine Bedenken wurden zwar gehört, aber nicht für gewichtig genug gehalten: In dem [...] ersten Teil der Beratung wurde namentlich Prof. Castle gegen die Aufnahme Prof. Nadlers aus Gründen des persönlichen Verhaltens Einspruch erhoben [...] Obwohl mehrere Redner sich auch dahin aussprachen, dass Nadlers Naturell gewiss manche Härten habe, so kam doch im übrigen allgemein zum Ausdruck, dass man Nadler die Nennung schuldig sei und sich etwaige Unebenheiten seites [sic] Naturells in der grossen Fakultät abschleifen würden.176
Tatsächlich scheint sich die Ablehnung Nadlers auf den germanistischen Fachbereich beschränkt zu haben. Von den fünfzehn Mitgliedern der Kommission enthielt sich einer seiner Stimme ab, die aufgrund seines Separatvotums wohl Castle zuzuordnen ist, zwei stimmten mit „nein“ (mit großer Sicherheit Much und Kralik),177 die übrigen zwölf sprachen sich für die Nennung Nadlers neben Müller auf dem ersten Platz aus. Damit stimmte die Hälfte der in der Kommission vertretenen Germanisten gegen Nadler und nur Paul Kluckhohn, Robert Franz Arnold und Max Hermann Jellinek für ihn.178 Die Zustimmung des Historikers Heinrich von Srbik ist wenig verwunderlich, stand doch sein Weg eines „gesamtdeutschen“ Geschichtsbildes unter Wahrung einer eigenständigen nationalen Identität Österreichs Nadlers Ansichten recht nahe. Auch Hans Hirsch, Historikerkollege und enger Freund Srbiks sowie ab 1934 Vorstand der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Wien, wird kaum Vorbehalte gegen Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung gehabt haben. Doch auch die Vertreter der Romanistik (Alfred Wurzbach, Emil Winkler), Indogermanistik (Paul Kretschmer), Anglistik (Karl Luick), Paläontologie (Othenio Abel), Philosophie (Robert Reininger) und klassischen Philologie (Ludwig Radermacher) erhoben keinen Einspruch. Anders präsentiert sich das Ergebnis der Abstimmung im Kollegium der philosophischen Fakultät. Müller und Schneider konnten sich breiter —————— 175 AUW, PA Josef Nadler, Kommissionsbericht, fol. 51. Franz Schultz hatte 1900 in Berlin promoviert, weshalb er von Castle wohl unter die „Berliner Schule“ gereiht wurde. 176 AUW, PA Josef Nadler, Kommissionsbericht, fol. 36. 177 Meissl: Germanistik in Österreich, S. 481. 178 Dies ist insofern bemerkenswert, als Nadlers deutlicher Antisemitismus ihn Arnold und Jellinek als Angehörigen des jüdischen Glaubens nicht empfohlen haben wird.
Lehrstuhlbesetzungspolitik
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Zustimmung erfreuen. Von 63 Mitgliedern des Fakultätskollegiums votierten jeweils 59 für Müller und 56 für Schneider, wobei die übrigen sich ihrer Stimme enthielten und die Kandidaten nicht dezidiert ablehnten. Ein deutliches „Ja“ für Nadler gaben indessen nur 38 Kollegiumsmitglieder ab, während 17 mit „Nein“ stimmten und 8 Stimmenthaltungen zu zählen sind.179 Der Vertreter der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung war damit an der philosophischen Fakultät alles andere als unumstritten. Auch seitens des Ministeriums wurde von den beiden Erstplazierten des Besetzungsvorschlags zunächst Günther Müller kontaktiert, der allerdings im Juni 1931 den Ruf nach Wien aus wirtschaftlichen Gründen ablehnte.180 Erst danach war der Weg frei für Nadler. Laut Sebastian Meissl, der sich auf einen dementsprechenden Brief aus dem Nachlaß Nadlers in der Österreichischen Nationalbibliothek stützt, verfügte Nadler durch seinen Prager Studien- und Verbindungskollegen im Cartellverband Josef Bick Kontakte ins Unterrichtsministerium. Auch Minister Emmerich Czermak selbst, der christlich-sozialen Partei angehörig, habe Nadlers Berufung gewünscht.181 Da der Brief Bicks, auf den Meissl sich bezieht, allerdings erst mit 10. August 1931 datiert ist, kann sich dies erst nach der Ablehnung der Berufung durch Günther Müller ausgewirkt haben. Nachdem Müller und Nadler aequo loco plaziert waren, muß auch im Ministerium zunächst Müller favorisiert worden sein. Ein Aspekt zeichnet sich bei der Berufung Nadlers nach Wien als wesentlich ab: die Bedeutung der Aufwertung Österreichs und seiner Literatur, die Nadler in seiner „Literaturgeschichte“ vornimmt. Diese ist wohl auch der Grund, warum die Berufungskommission der Ansicht war, Nadler eine Nennung schuldig zu sein – wodurch sonst als durch Verdienste um Österreich hätte Nadler gegenüber eine solche Schuldigkeit bestehen sollen, da er zu den an der Wiener Universität maßgeblichen Germanisten doch meist in Opposition gestanden war. Allerdings hat mit Sicherheit auch die anwachsende Akzeptanz für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nicht als „der“ literaturwissenschaftliche Ansatz, aber zumindest als eine unter mehreren gleichwertigen, den „Methodenplura—————— 179 AUW, PA Josef Nadler, fol. 55: Schreiben des Dekanats an das Unterrichtsministerium am 13. 12. 1930. Leider sind die Angaben nicht fehlerfrei, da für Müller 63 Ja-Stimmen und 4 Enthaltungen angegeben werden sowie für Schneider 56 Ja-Stimmen und 6 Enthaltungen. Da die Stimmenverhältnisse bei Nadler für eine Kopfzahl von 63 im Kollegium sprechen, ist wohl bei Müller der Fehler unterlaufen, statt der Ja-Stimmen die Gesamtzahl anzugeben. Ob für Schneider nun eine Nein-Stimme vorlag oder ob auch hier ein Schreibfehler vorliegt, kann indessen nicht entschieden werden. Am Befund der großen Zustimmung zu Nadlers Konkurrenten und der Umstrittenheit seiner Person ist dennoch nicht zu zweifeln. 180 ÖStA, AdR, Gruppe 02, K 10/64, Personalakt Nadler, BMU 21051-I/2 1931, Nachbesetzung Lehrkanzel Kluckhohns, Scheiben Müllers an das Ministerium am 15. 6. 1931. 181 Meissl: Germanistik in Österreich, S. 481.
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lismus“ formenden Richtungen zur Berufung Nadlers nach Wien beigetragen. War 1926 der Vertreter der germanistischen Geistesgeschichte noch strikt gegen Nadler gewesen, so trat 1931 ein Angehöriger derselben Strömung für dessen Berufung ein. Die individuellen Haltungen von Brecht und Kluckhohn sollen und können hier keineswegs durch die Suggestion einer einheitlichen geistesgeschichtlichen Schule verdeckt werden, doch fügt sich diese Entwicklung in Wien durchaus in das Bild der Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ein. Gerade der Text des Wiener Besetzungsvorschlags zeigt allerdings eindrücklich, wie stark die Implikationen einer literaturhistorischen Arbeit – hier die Aufwertung Österreichs – Kriterien der Wissenschaftlichkeit dieser Arbeit zu überwiegen begannen – wie zuvor das Bedürfnis nach Synthesen in der deutschen Literaturwissenschaft zu einer Aufwertung des Nadlerschen Ansatzes trotz all seiner Schwächen geführt hatte.
8. Die problembehaftete Durchsetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung 1912-1931 8.1. Der wissenschaftliche Rahmen Anhand des Rezeptionsverlaufs der „Literaturgeschichte“ hat sich herauskristallisiert, daß das Maß der Akzeptanz, die dem stammeskundlichen Ansatz seitens der Germanisten entgegengebracht wurde, in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, von innerdisziplinären Faktoren abhing. Die Auseinandersetzung mit der ersten Auflage ist noch deutlich geprägt von der Forderung nach Einhaltung der philologischen Standards. Die philologische Detailforschung allein wurde dabei zwar als nicht mehr ausreichend empfunden, aber nach wie vor bestand der Anspruch auf Geltung ihrer grundlegenden Bedeutung als Garant für Wissenschaftlichkeit. Erschwerend für Nadler in Hinblick auf die Durchsetzung seines Ansatzes wirkte sich hier zweifellos die Tatsache aus, daß Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte zum Erscheinungszeitpunkt des ersten Bandes seines Werks noch nicht vom Odium des Dilettantismus befreit waren. In der folgenden Phase der Konsolidierung der unter dem Vorhaben einer „Überbietung der Philologie“ neu geschaffenen Ansätze wurde schließlich auch der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ein Platz innerhalb der Fachdisziplin eingeräumt, je nach Auffassung einzelner Germanisten ein höherer oder niedrigerer. Mit dem zunehmenden Gewicht jener nach 1900 entstandenen synthetischen Ansätze der Literaturwissenschaft und der damit verbundenen Zurückdrängung der alleinigen Geltung der philologischen Standards gewann Nadler trotz der beträchtlichen Anzahl an konkurrierenden Strömungen entscheidende Vorteile. Denn das Bedürfnis nach Synthesen der philologisch gewonnenen Daten schloß das Bedürfnis nach Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte ein und die Entwicklung synthetischer Modelle im allgemeinen führte innerdisziplinär zu größerer Offenheit gegenüber solchen Gesamtdarstellungen. Und Nadler gelang es als einzigem unter den an einer Universität lehrenden und eine Strömung des „Methodenpluralismus“ vertretenden Germanisten, unter seinem neu formulierten Ansatz eine solche Gesamtdarstellung zu verfassen.
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Die problembehaftete Durchsetzung
Selbst die einflußreichsten Vertreter der Geistesgeschichte legten allenfalls Monographien zu einzelnen Epochen, aber kein umfassendes Werk der Literaturgeschichte vor. Möglicherweise brachte dies ein Dilemma für die Germanisten mit sich: ihr erklärtes Bestreben, das Orientierungsbedürfnis der Öffentlichkeit, wo sich die populären Gesamtdarstellungen großer Beliebtheit erfreuten, wieder zu bedienen, mußte ein entsprechendes, aus den eigenen Reihen stammendes Werk äußerst wünschenswert machen. Da Nadlers „Literaturgeschichte“ die einzige war, die nicht aus der Feder eines „Dilettanten“, sondern eines Universitätsprofessors stammte, standen die Fachvertreter gewissermaßen vor der Wahl, entweder seine Darstellung zu kanonisieren, oder einzugestehen, daß die Disziplin derzeit nicht imstande sei, eine solche Gesamtdarstellung vorzulegen. Die ab 1920 durch mehrere Germanisten vorgenommene Verschiebung einer endgültigen Bewertung des Nadlerschen Ansatzes in die Zukunft ist ein Hinweis darauf, daß die Germanisten ersteren Weg wählten: sie sprachen der stammeskundlichen Literaturgeschichte wissenschaftlichen Wert nicht ab, aber auch nicht dezidiert zu – möglicherweise in Erwartung einer weiteren Gesamtdarstellung aus der Feder eines Universitätsgermanisten, welche der Nadlerschen vorzuziehen sein würde. Es gelang Nadler mit seinem Modell der Literaturgeschichtsschreibung jedenfalls, die Anforderungen, welche seitens der (journalistischen) Öffentlichkeit und mit Zeitverschiebung seitens der Fachkollegen an eine Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte gestellt wurden, zu erfüllen – wenn nicht hinsichtlich der Vorgehensweise, dann zumindest in Bezug auf die Ergebnisse. Mit dem stammeskundlichen Ansatz war wieder ein Modell gegeben, das sowohl eine gleichmäßige Behandlung der mittelalterlichen und neuzeitlichen als auch eine (freilich fragwürdige) Bewertung der zeitgenössischen Literatur erlaubte. Die „Literaturgeschichte“ deckte somit ein Problemfeld der Literaturwissenschaft dieser Zeit ab, das geistesgeschichtliche Ansätze aufgrund ihrer Betrachtung abgeschlossener Epochen nicht in gleichem Maß bedienen konnten. Als Folge wird auch innerhalb der Fachkollegenschaft Nadlers Werk letztendlich nicht mehr mit Maßstäben der zeitgenössischen germanistischen Forschung gemessen, sondern zum Maßstab bzw. zum Reibepunkt für zukünftige Forschung. Jedenfalls ließ die Mehrzahl der Germanisten die „Literaturgeschichte“ mehr und mehr unkommentiert für sich selbst sprechen und verschob eine Bewertung des Ansatzes in die Zukunft, ohne daß es tatsächlich Anzeichen für eine kritische Aufarbeitung der von Nadler aufgeworfenen Fragen gegeben hätte. Aufgrund dessen blieben nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung weitgehend unaufgearbeitet, sondern auch die politischen Implikationen des Nadlerschen
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Werks unbewertet. Es ist nicht auszuschließen, daß diese in den Abschnitten 4.5. und 6.2.7. analysierten politischen Implikationen ein Mitgrund für die wachsende Akzeptanz der „Literaturgeschichte“ unter den Fachkollegen waren. Das völlige Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit selbigen ist zu markant, um bedeutungslos zu sein. Zwar ist keineswegs anzunehmen, daß sämtliche Fachkollegen Nadlers zumindest ab 1928 unübersehbarer Tendenz, die Einigung aller deutschsprachigen Gebiete zur Rettung der „preisgegebenen“ Deutschen zu propagieren, positiv gegenüberstanden. Und es muß auch in Betracht gezogen werden, daß die explizite Aufnahme und Diskussion politischer Themen nicht mit dem Selbstverständnis der Germanisten als objektive Wissenschafter vereinbar war.1 Doch gerade dieses Selbstverständnis als unpolitische Wissenschafter hätte wiederum einen Angriff auf Nadler und dessen massive Aufnahme von politischen Aspekten in sein Werk hervorrufen müssen – zumindest, wenn die Germanisten mit seinen Ansichten nicht bis zu einem gewissen Grad konform gegangen wären. Ein Ausschluß der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aus dem Kanon der als wissenschaftlich akzeptierten literaturwissenschaftlichen Ansätze hätte genügend Argumente gefunden, auch nach der allgemeinen Unterordnung der Einhaltung philologischer Standards unter die synthetische Leistung einer Arbeit. Im Grunde boten die mehrmals aufgegriffenen Kritikpunkte (etwa die mangelnde Gewichtung der Kriterien Abstammung und Landschaft sowie zwischen mütterlichen und väterlichen Ahnen, weiters die katholizistische und „austriazistische“ Tendenz) ausreichenden Anlaß zur Ablehnung der „Literaturgeschichte“. Abgesehen davon hätten angesichts des maßgeblichen Einflusses der Vertreter geistesgeschichtlicher Strömungen in der Germanistik auch die Argumente entlang der Trennungslinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die teilweise immer noch (mit anderen Vorzeichen) angewandt wurden, zur weitgehenden Marginalisierung des stammeskundlichen Ansatzes im Bereich der Fachdisziplin ausgereicht. Schließlich ist auch das weitgehende Fehlen soziologischer Betrachtungsweisen der Literatur innerhalb der Germanistik maßgeblich auf diese Trennlinie zurückzuführen. Die wachsende Attraktivität von Nadlers Ansatz unter seinen Fachkollegen ab etwa 1920 muß demnach wesentlich auf dessen Status als Grundlage für eine Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte zurückgeführt werden, die andere Strömungen des Methodenpluralismus nicht vorlegen konnten. —————— 1
Vgl. Röther, Klaus: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte. Köln: Pahl-Rugenstein 1980, S. 276.
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Gleichzeitig ist allerdings zu beobachten, daß die konkurrierenden Strömungen des „Methodenpluralismus“ in einigen Facetten durchaus mit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung vereinbar waren. Gemeinsamkeiten ergeben sich zunächst mit der Geistesgeschichte hinsichtlich der Vorstellung von Kollektivgeistern. Zwar steht der „Epochengeist“ der Vertreter der Geistesgeschichte aufgrund seiner Zeitgebundenheit im Gegensatz zu den überzeitlich gedachten Stammescharakteren – die praktisch nichts anderes als „Stammesgeister“ sind –, doch Epochenwie Stammesgeister sind jeweils Teilerscheinungen einer übergeordneten Instanz, die in Nadlers Fall von Anfang an und in der Geistesgeschichte mit der Zeit als „Nationalgeist“ betitelt werden kann.2 Indem Nadler nun praktisch jedem Stamm eine Epoche zuordnet, ist zwischen seinem Stammescharakter und der Vorstellung eines Epochengeistes kein besonders weiter Weg. Zudem hat das Nadlersche Konzept in dieser Hinsicht den Vorteil, unterschiedliche Erscheinungen innerhalb eines Zeitraums erklären zu können, ohne mit der Vorstellung eines Epochengeistes als spezifische Ausprägung einer Zeit in Gegensatz zu kommen. Differenzen ergeben sich mit anderen germanistischen Strömungen allerdings hinsichtlich der Bewertung von Raum und Zeit, etwa mit der Stiltypologie Oskar Walzels (vgl. Abschnitt 2.3.3.). Denn die Annahme eines „Zeitgeistes“, auf welchen die Formmerkmale einzelner Epochen zurückgehen sollen, ist unvereinbar mit Nadlers wesentlich räumlich gebundener Vorstellung von jeweils einem Stamm entsprechenden Stilen. Auf Walzels Grundlage wäre beispielsweise weder der Barock auf den bairischen Bereich zu beschränken noch die Vorstellung eines Barockstils ohne Beschränkung auf eine bestimmte Zeitspanne möglich. Die wachsende Bedeutung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung im innerdisziplinären Bereich ist allerdings nicht allein auf die soeben genannten Aspekte zurückzuführen. Im Rahmen der detaillierteren Auseinandersetzung mit der „Literaturgeschichte“ wird den Germanisten wohl deutlich geworden sein, daß Nadler seine Stämme weniger als soziologisch zu fassende Kollektive behandelte als vielmehr mit Kollektivindividualitäten arbeitete. Und nicht zuletzt wirken sich die von Nadler angenommenen stammlich bzw. später völkisch begründeten und mit entsprechenden „Kulturflächen“ unterlegten (Renaissance-) Bewegungen wesentlich geistesgeschichtlich aus. Die entsprechenden Tendenzen hatte Nadler in der zweiten Auflage seiner „Literaturgeschichte“ noch verstärkt, sicherlich um die Attraktivität seines Ansatzes für die Vertreter geistesgeschichtlicher Strömungen zu erhöhen. Günstig für Nadler gestaltete sich auch die zunehmende Akzeptanz der Vorstellung, daß gei—————— 2
Wobei nur Nadler eine teleologisch-evolutionäre Ausrichtung desselben annimmt.
Der wissenschaftliche Rahmen
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stigen Erscheinungen auf körperlichen Grundlagen basieren. Dies zeichnet sich nicht nur in den Stellungnahmen zur „Literaturgeschichte“ ab, sondern auch in jenen germanistischen bzw. sprachwissenschaftlichen Ansätzen, die Nadler zwar nur unter sehr eingeengtem Blickwinkel als Unterstützung für seine Art der Literaturgeschichtsschreibung heranziehen konnte, welche aber trotzdem ein deutlicher Hinweis auf die Integration anthropologisch-biodeterministischer Aspekte in die Germanistik sind. Durch die starke räumliche Bindung erfolgt bei Nadler wiederum die vehemente Betonung einer eigenbestimmten und von anderen Ländern bzw. Nationen unabhängige Entwicklung der deutschen Literaturgeschichte. Obwohl gerade an diesem Punkt nicht selten Kritik ansetzte und etwa Nadlers Romantikkonzept mit dem Hinweis auf entsprechende Strömungen in ganz Europa konfrontiert wurde, war die Vorstellung einer solchen unabhängigen Entwicklung der Behauptung eines Sonderstatus der Deutschen durchaus zuträglich. Denn im Rahmen der vor allem nach 1918 erstarkenden „Deutschkundebewegung“, die als ihren Forschungsgegenstand das „deutsche Wesen“ verstand,3 war eine solche von Vorgängen in anderen Ländern unabhängig dargestellte Entwicklung wie jene von Nadler konstruierte von Vorteil. Nicht zuletzt bot die „Literaturgeschichte“ angesichts des Orientierungsbedürfnisses der Öffentlichkeit, das die Germanisten wieder zu bedienen wünschten, eine Alternative zum „Werterelativismus“ der Geistesgeschichte, deren Vertreter gestützt auf Rickert und Dilthey jeder Epoche ihren eigenen Wertekanon zuerkannten bzw. einen spezifischen „Lebenszusammenhang“ pro Epoche annahmen (vgl. Abschnitt 2.2.). Nadlers Stammescharaktere, die in ihrer Gesamtheit schließlich einen (in der „Literaturgeschichte“ weder genannten noch definierten) Nationalcharakter ergeben, sind in ihrer Überzeitlichkeit hingegen keiner Änderung eines Wertekanons unterworfen. Damit lag eine Übertragung der in der „Literaturgeschichte“ ausgedrückten Wertungen – z. B. des Arbeiterstandes – auf die Gegenwart nicht nur nahe, sondern wurde im Werk tatsächlich durchgeführt. Der stammeskundliche Ansatz bot damit die Möglichkeit, gegenwärtige Probleme in die Vergangenheit zu projizieren, sie dadurch als „naturgegeben“ darzustellen und sie so an zeitgeschichtlichen Entwicklungen orientierten Lösungsansätzen zu entziehen. Dies kam dem Bildungsbürgertum, zu welchem auch die Germanistikprofessoren gehörten, in seinem weit verbreiteten Empfinden der Gefährdung seines Status zweifelsohne entgegen. —————— 3
Vgl. Lämmert, Eberhard: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. In: Ders. u. a.: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft, S. 25-28.
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Die problembehaftete Durchsetzung
Besonders bei der Betrachtung von Nadlers akademischer Laufbahn hat sich allerdings gezeigt, wie zuträglich über die synthetische Leistung der „Literaturgeschichte“ hinaus die gleichmäßige Behandlung aller deutschen Regionen dem Erfolg des Werks war. Die spezifische Einordnung einzelner regionaler Literaturgeschichten in einen großen Gesamtzusammenhang läßt kleineren Einheiten in zweifacher Hinsicht einen Bedeutungszuwachs zukommen: einerseits finden neben den kanonisierten großen Dichtern auch Lokalgrößen ihren Platz. Zweitens werden diese Lokalgrößen nicht allein durch ihre Erwähnung in ihrem Rang erhöht, sondern jeder Region wird überdies ihr spezifischer, nur dort zu leistender Beitrag zur Höherentwicklung des Nationalbewußtseins oder zur Einigung des Staats zugeschrieben, ohne den der Fortschritt dieser Entwicklung nicht erfolgt wäre. Nadlers „Literaturgeschichte“ bestach durch die gleichmäßige Behandlung aller Regionen und Epochen, weil diese eine Gleichwertigkeit der Regionen suggerierte.4 Und dies in so hohem Ausmaß, daß sogar das Ungleichgewicht zwischen der Darstellung von Südwesten und (Nord)Osten nicht so weit in der Vordergrund trat, daß etwa eine Ablehnung des Nadlerschen Ansatzes in Preußen auf diesem Aspekt begründet worden wäre. Umgekehrt wirkte sich die Aufwertung Österreichs in der „Literaturgeschichte“ positiv auf die dortige Aufnahme des stammeskundlichen Ansatzes aus. Angesichts des Aufwands, den Nadler bei der theoretischen Begründung seines Ansatzes in der „Wissenschaftslehre“ von 1914 in Hinblick auf seine nomothetischen Grundlagen- und Hilfswissenschaften betreibt, ist es überraschend, wie wenig sich jene die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung rezipierenden Germanisten mit diesen Fächern auseinandersetzten. Wie bereits bemerkt, ist diese Mißachtung weitgehend auf die von den Germanisten mitvollzogene Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auf der Basis der Methodik zurückzuführen. Doch auch mit der zunehmenden Akzeptanz der „natürlichen“ Grundlagen der „Literaturgeschichte“, nachdem das neue Selbstverständnis der Germanistik als Geisteswissenschaft weitgehend gefestigt war, rückten die dem stammeskundlichen Ansatz zugrundeliegenden wissenschaftlichen Fachbereiche keineswegs ins Blickfeld. Als ausschlaggebend dafür erweist sich die Ansicht, die unterschiedlichen Volkstümer des deutschen Sprachraums gingen auf die in antiken Quellen faßbaren germanischen bzw. deutschen Stämme zurück. Denn bei aller Kritik, die hauptsächlich den ersten beiden Bänden der „Literaturgeschichte“, die 1912 und 1913 erschienen waren, entgegenge—————— 4
Dieser Aspekt wirkt sich bis in die Gegenwart aus, wie die wenig kritischen Arbeiten über Nadler in Königsberg zeigen: Harder: Josef Nadler in Königsberg; Kraus: Josef Nadler und Königsberg.
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bracht wurde und auch im Rahmen der detailgenaueren Auseinandersetzung mit dem Werk ab 1920 wurde unter den Rezipienten nie ein Zweifel über die Existenz deutscher Stämmen spezifischer Stammeseigenschaften geäußert. Zwar herrschte über die Auffassung zur Konstanz bzw. Wandelbarkeit dieser Stämme und ihrer Eigenschaften keine Einigkeit.5 Aber das Vorhandensein von regional unterschiedlichen Mentalitäten, welche auf die Stämme der antiken Zeit zurückgehen würden oder zumindest zum Teil auf diese zurückgehen sollen wird in keiner der Rezensionen und anderen Beiträgen in Frage gestellt. Ausgehend von der philologischen Arbeitsweise an den vornehmlich lateinischen Quellen und unter deren Verbindung mit den Forschungen der Dialektologie und Volkskunde, die eine den antiken Berichten zu den Siedelgebieten einzelner Stämme ähnliche räumliche Verteilung von Mundarten und charakteristischen Sitten und Bräuchen festzustellen meinte, setzte sich in der Germanistik der Gedanke der Nachwirkung der germanischen Stämme bis hin zum Anfang des 20. Jahrhunderts fest. Besonders in der Tradition der regionalen Literaturgeschichtsschreibung hat dieses Denken Ausdruck gefunden (vgl. Abschnitt 2.5.1.). Dies erklärt auch, weshalb die Stammeskunde nach dem Beispiel Otto Bremers keine eigenen Methoden und Grundlagen entwickelt hatte. Als Teil der germanischen Altertumskunde war sie Teil der auf philologisch zu bearbeitenden Quellen beruhenden „Wissenschaft vom deutschen Menschen“, als welche sich die Germanistik aus ihrer romantischen Tradition heraus verstand. In diesem Rahmen ging es um die Feststellung von sprachlichen und volkstümlichen Unterschieden. Nach einer Begründung dieser Unterschiede wurde nicht gefragt, da die antiken Beschreibungen von germanischen Stämmen mit zeitgenössischen regionalen Unterschieden sozusagen kurzgeschlossen wurden. Von dieser Sichtweise war es zu einer Rückprojektion der zeitgenössischen Verhältnisse in Hinblick auf „Stammeseigenarten“ nur ein kurzer Schritt. Weshalb für Nadlers Konzept die Notwendigkeit bestand, überzeitliche Stammescharaktere auf natürlich-genealogischer Grundlage aufzubauen, ist bereits in Abschnitt 4.5.1. analysiert worden. Doch möglicherweise hat die allgemeine Überzeugung von der Existenz bestimmter Stammeseigentümlichkeiten eine detaillierte Auseinandersetzung mit den fragwürdigen Theorien, auf welche Nadler aufbaute, verhindert, indem die Rezipienten nicht mehr nach einem Beweis für das Vorhandensein dieser —————— 5
Es sei hier an Müller und Gumbel erinnert, die gestützt auf die Forschungen von Frings und Aubin von der historischen Wandelbarkeit der Stämme und ihrer Eigenschaften ausgingen, vgl. 7.1.
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Stämme mit ihren spezifischen Charakteren fragten.6 Somit ist die Lorenzsche Ansicht vom Stammescharaktere generierenden Ahnenverlust aufgrund des Ebenbürtigkeitsprinzips, deren falsche Auffassung von Inzucht keineswegs auf der Höhe der biologisch-anthropologischen Forschung seiner Zeit war,7 aus zwei Gründen nicht in den Blick der Rezipienten gerückt: einerseits geschah dies aufgrund des lange in germanistischen Fachkreisen praktizierten Ausschlusses naturwissenschaftlicher Facetten aus der literaturwissenschaftlichen Forschung. Und andererseits, weil nach den Grundlagen des Nadlerschen Stammeskonzepts gar nicht gefragt wurde, da das Vorhandensein von deutschen Stämmen mit spezifischen Eigenschaften eine allgemein akzeptierte Vorstellung war. Es ist auch nicht auszuschließen, daß die große Akzeptanz, die Nadler von Anfang an von journalistischer Seite zuteil wurde, zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, daß er mit seiner Vorstellung von Stämmen und Stammeseigenschaften auf Aspekten aufbaute, die gewissermaßen zum Allgemeinwissen seiner Zeit gehörten. Ebenso allgemein akzeptiert war auch unter Geisteswissenschaftern die Annahme erblicher sowie geographisch-klimatischer Einflüsse auf Menschenverbände, wenn sie auch in ihrer Bedeutung durch einzelne Gelehrte oft sehr unterschiedlich gewichtet wurden. Selbst die unterschiedlichen Ansichten zur Konstanz von Stammescharakteren, wie sie sich etwa bei der Rezeption der zweiten Auflage gezeigt haben, stellten nicht generell biogeographische Einflüsse dieser Art in Frage, sondern betrafen Nadlers zu starren Biodeterminismus im Hinblick auf die von ihm angenommene vererbungsbedingte Unwandelbarkeit der Stammescharaktere. Folglich ist festzuhalten, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung in dreierlei Hinsicht auf vom überwiegenden Großteil der Rezipienten geteilten Ansichten aufbauen konnte: erstens auf die Vorstellung, die deutsche Nation bzw. das deutsche Volk setze sich aus Untereinheiten mit jeweils spezifischen Eigenschaften und einer spezifischen Kultur zusammen. Zweitens auf die Annahme, daß diese Untereinheiten geographischen als auch – drittens – erblichen Einflüssen unterliegen. Doch selbst wenn diese Ansichten von allen geteilt wurden, ist in ihrem Rahmen eine große Varietät von Standpunkten möglich: die Eigenschaften der Untereinheiten sind unwandelbar oder geschichtlich gewor—————— 6 7
Die einzige Ausnahme ist hier Rudolf Unger (vgl. 7.1.), doch auch seine Kritik gilt Nadlers Typenpsychologie in Anlehnung an die positivistische Geschichtsschreibung und nicht prinzipiell der Annahme der Existenz und des Fortwirkens deutscher Stämme. Lorenz selbst bezieht sich auf den Begriff von Inzucht im heutigen Sinn, bezeichnet ihn aber als mangelhaft und einer Klarstellung bedürftig. Lorenz: Lehrbuch der Genealogie, S. 467.
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den und damit wandelbar; sie sind nur geistig oder auch körperlich zu erfassen; die Erbanlagen sind stärker als Umweltfaktoren bzw. die Umweltfaktoren bestimmen maßgeblich über die Erbanlagen. Dies kam der Aufnahme der „Literaturgeschichte“ zweifellos zugute. Denn obwohl Nadler sein Werk prinzipiell auf einem sehr klaren Konzept aufbaut – erst die Erbanlagen entscheiden im Rahmen der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt über die Art des Einflusses, welchen die Umwelt gewinnt – ist die Anwendung dieses Konzepts auf den Einzelfall (das Individuum oder eine einzelne Landschaft) durchaus so schwankend, daß Rezipienten wohl jede der soeben angeführten Sichtweisen aus dem Werk herauslesen konnten – gleich, ob sie diese nun negativ oder positiv zu bewerten beabsichtigten. Die Unklarheit über die Gewichtung der Nadlerschen Hauptkriterien Stamm und Landschaft hat sich bis in die gegenwärtige Sekundärliteratur fortgesetzt. Auch hier finden sich Ausführungen, die nicht vollständig Nadlers spezifischem Konzept der doppelten Bindung an Abstammung und Siedelraum entsprechen. Jürgen Fohrmann beispielsweise sieht die Dichter in der „Literaturgeschichte“ „...in einer strikten Abhängigkeit von den sie hervorbringenden Landschaften.“8 Auch in der Auffassung Dietmar Liesers wird der einzelne Autor in der „Literaturgeschichte“ zum „medialen Erfüllungsgehilfen einer territorialen Ursprungs- und Ausdruckskraft“, nämlich des Geistes der Landschaft.9 In beiden Fällen liegt somit eines Überbewertung des Einflusses der Landschaft auf die Stammescharaktere vor. Diese breiten Auslegungsmöglichkeiten von Nadlers „Literaturgeschichte“ haben im fraglichen Zeitraum von 1912 bis 1931 dazu geführt, daß die problematischste Facette des stammeskundlichen Ansatzes – die Annahme von überzeitlichen, abstammungsgebundenen und auf fragwürdigen biologisch-genealogischen Grundlagen aufbauenden Stammescharakteren – nie tiefgreifender Kritik unterzogen wurde. Im Bereich der Fachdisziplin Germanistik hat der weitgehende Ausschluß nomothetischer Wissenschaften zusätzlich zur Unvollständigkeit der Auseinandersetzung mit der stammeskundlichen Literaturgeschichte beigetragen. Die anfängliche Ablehnung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung im innerdisziplinären Bereich beruhte schließlich nicht auf einer detaillierten Auseinandersetzung der Germanisten mit den der „Literaturgeschichte“ zugrundeliegenden Wissenschaften. Diese Ablehnung war, wie bereits ausgeführt, zunächst die anhaltende Auswirkung des dilettantischen Status der Literaturgeschichtsschreibung seitens der „posi—————— 8 9
Fohrmann: Über das Schreiben von Literaturgeschichte, S. 187. Lieser: Literaturräume, S., 32.
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tivistischen“ Philologie und dann eine Teilerscheinung der Hinwendung der Mehrzahl der Germanisten zu „geisteswissenschaftlichen“ Strömungen. Nadlers Werk konnte von den Fachkollegen erst als einer unter möglichen Entwürfen zur Darstellung der gesamten deutschen Literaturgeschichte anerkannt werden, als einerseits das wachsende Bedürfnis nach Synthesen des gewonnenen Datenmaterials die Bedeutung der philologischen Standards als Garanten für Wissenschaftlichkeit zu überwiegen begann und – in Zusammenhang damit – die Abgrenzung der Geistesvon den Naturwissenschaften auf der Grundlage der Methodik so weit akzeptiert war, daß die Annahme von für alle Menschen gleichermaßen geltenden „natürlichen“ Grundlagen für geistesgeschichtliche Erscheinungen das Selbstverständnis der Germanisten als Geisteswissenschafter nicht mehr gefährdete. Denn nur unter dieser Sichtweise läßt sich erklären, warum von journalistischer Seite der stammeskundliche Ansatz weit früher mehrheitlich angenommen wurde, und dies zusätzlich unter teils fundierterer Kenntnis der nomothetischen Grundlagenwissenschaften Nadlers. In ihren Kreisen war weder die Skepsis gegen Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte vorhanden, noch gegen die Einbeziehung anderer als nach dem neuen Verständnis als „Geisteswissenschaften“ anzusehender Fachbereiche. Auch die in Kapitel 7. skizzierte verstärkte Affinität speziell des Bildungsbürgertums zu biologisch-rassischen Denkweisen hat die Durchsetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zweifellos gefördert. Dazu ist jedoch zu bemerken, daß der in Nadlers Konzept so problematische Biodeterminismus, gegen dessen Einführung in die Literaturgeschichtsschreibung manche Fachkollegen mit besonderem Hinweis auf die großen Dichterpersönlichkeiten protestiert hatten, schon zuvor in der Germanistik durchaus beheimatet war – nämlich in ihrem volkskundlichen Bereich. Hier sind wiederum Verbindungen zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung und ihrer Nähe zur Heimatkunstbewegung zu ziehen. Die ideell gerichtete „germanistische“ Volkskunde beschäftigte sich vor allem mit der „bodenständigen“ Unterschicht, welche als beträchtlichen Einflüssen ihrer Umwelt – sowohl geographisch als auch ihres gesellschaftlichen Milieus – ausgesetzt gedacht wurde.10 Wenn allerdings biodeterministische Konzepte in dieser Weise bereits für einen Teil der Bevölkerung angenommen werden, so ist es nur ein kleiner Schritt zur Umlegung dieser Einflüsse auch auf jene „großen Persönlichkeiten“, welche zuvor noch davon ausgenommen wurden. —————— 10
Vgl. z. B. 2.4. zu Paul Merkers Ansicht einer „soziologischen“ Literaturbetrachtung, welche die „stumpfe Masse“ ausschließt; in 7.1. Franz Rohs Ansichten zu den „Durchschnittsnaturen“ und in 2.3.2. Julius Petersens Hinweis auf die „Normalpsychologie“, die dem dichterischen Genie nicht gerecht werden könne.
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Und auch hier zeigt sich die Auswirkung der „geisteswissenschaftlichen“ Ausrichtung der Mehrzahl der Germanisten: der Geniestatus, den vor allem die Vertreter der Geistesgeschichte großen Dichtern zuschrieben, fällt aufgrund der spezifischen geisteswissenschaftlichen Konzeption nicht zuletzt auf die Literaturwissenschafter selbst zurück. Denn die Vorstellung des „Nacherlebens“ einer Dichtung ist wesentlich von der Implikation einer Gleichwertigkeit zwischen dem Dichtenden und dem Gelehrten geprägt. Dem Dichtergenie tritt sozusagen das Wissenschaftsgenie zur Seite, das aufgrund seiner ebenso großen, wenn auch anders gelagerten Begabung im unmittelbaren Lektüreerlebnis den Sinngehalt des Werks aufnimmt. Von einer solchen angenommenen Gleichwertigkeit ist deswegen auszugehen, weil unter der Annahme, jeder Leser könne durch das Nacherleben eine Dichtung vollständig erfassen, der Germanistenstand als Instanz für die Auslegung von Literatur letztlich obsolet würde. Nur das Ausgehen von einer gleichmäßigen Begabung der Wissenschafter und Dichter gewährleistet auf einer solchen Grundlage den Anspruch der Germanisten, oberste Instanz für die Auslegung von Werken bzw. für die Erschließung von deren Sinngehalt zu sein.11 In diesen Komplex ist automatisch ein gewisses Elite-Denken der Germanisten eingeschlossen, die sich auf eine Stufe mit den von ihnen kanonisierten Dichtern stellen. Diese Untermauerung des Anspruchs auf einen elitären Status stimmt wiederum mit der Sorge des Bildungsbürgertums um die eigene Geltung im Rahmen demokratischer Regierungsformen überein. Mit Nadlers Konzept einer „Literaturgeschichte von unten“, welches die großen Dichterpersönlichkeiten in dieselben Determinanten einordnet wie alle anderen Angehörigen eines Stammes, wird also eine gleichzeitige Nivellierung der Gelehrten-Elite vorgenommen. Denn so fällt deren Anspruch auf Teilhabe am Dichtergenie weg und in letzter Konsequenz werden auch sie selbst in stammeskundlich-biodeterministische Zusammenhänge gestellt.12 Dies muß einen zusätzlich negativen Anstrich dadurch bekommen haben, daß die „germanistische“ Volkskunde – die von den Fachkollegen unter Umständen fälschlicherweise anstelle ihrer stärker ethnographischen Ausformung auch als Grundlage der „Literaturgeschichte“ erachtet wurde – als ihren Forschungsgegenstand eben die bäuerlich-ländliche Unterschicht erachtete. Jene wurde zwar einerseits hervorgehoben durch ihren ursprünglichen, natürlichen Zustand, bekam aber gerade dadurch andererseits den Anstrich einer niedrigeren Entwicklungs—————— 11 12
Vgl. hierzu Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 260. Schließlich ordnete Nadler auch noch lebende Dichter in seine Schemata ein, z. B. Hermann Bahr, welcher beeindruckt darüber war, daß der Literaturhistoriker ihm zutreffender Weise schlesische Ahnen zuschrieb. Vgl. Hopf: Hermann Bahr und Josef Nadler, S. 39, 41.
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stufe. Ein solcher Aspekt der Entwicklungsstufen ist in Nadlers Konzept der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr vorhanden. Sein volkskundlicher Ansatz bleibt nicht länger auf einen „Naturzustand“ des deutschen Volkes gerichtet, sondern, wie bereits in Abschnitt 6.2.7. ausgeführt, ist die entscheidende Stufe vom Natur- zum Kulturvolk in der „Literaturgeschichte“ bereits mit dem Seßhaftwerden eines Menschenverbandes vollzogen. Da in der „Literaturgeschichte“kulturelle Höherentwicklung somit nur mehr auf der Ebene des wachsenden Nationalbewußtseins möglich ist, kann Nadlers Ansatz nicht mehr als Literaturgeschichte „von unten“ im Sinne einer zusätzlichen Berücksichtigung der Literatur der unteren Volksschichten gesehen werden. Es ist vielmehr eine Literaturgeschichte aller, da alle Literaten denselben Determinanten unterworfen werden. Zwar ist die Literatur bzw. der Kulturzustand des ländlich-bäuerlichen Volkes auch bei Nadler in unmittelbarerem Zusammenhang mit Stamm und Landschaft als jener der Städter zu denken, doch dies in erster Linie auf der Grundlage der selteneren Mischung mit anderen Stämmen oder Völkern als dies nach der Darstellung in der „Literaturgeschichte“ etwa in Städten der Fall gewesen sei. Und gerade auf dieser Basis ist nichts mehr vom Anstrich einer gewissen Rückständigkeit der unteren Volksschichten vorhanden bzw. von der Vorstellung, die unteren Volksschichten seien den Auswirkungen ihres geographischen wie gesellschaftlichen Milieus aufgrund ihrer mangelnden Bildung im Gegensatz zu den davon unabhängigen großen Individuen ausgeliefert. Denn der unmittelbare Zusammenhang weitgehend ungemischter, bzw. ausreichend „eingedeutschter“ Menschenverbände mit der Landschaft ist in der Literaturgeschichte nur noch „gesund“ ohne den gleichzeitigen Anstrich von Rückständigkeit und letztlich ein Vorsprung gegenüber den von „Stimmungsumschlägen“ gefährdeten, mehrfach gemischten oder nicht in einer Landschaft eingewachsenen Individuen. Dies alles hat jedoch die Akzeptanz für das Nadlersche Werk nicht nachhaltig negativ beeinflußt. Denn nichtsdestotrotz wohnt den Konzepten der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung die Propagierung der Beibehaltung umstrittener bestehender Strukturen inne. Indem der Literaturhistoriker nicht nur Stammes-, sondern auch Klassen- bzw. Standeszugehörigkeit an den ererbten Eigenschaften festmacht (vgl. Abschnitt 4.3.5.), wird die prinzipielle Gleichheit hinsichtlich des Grades der Beeinflussung durch Abstammung und Umwelt wiederum so weit modifiziert, daß auch die in Nadlers Gegenwart herrschenden Hierarchien dadurch nicht in Frage gestellt werden. Somit bleibt die Vorstellung einer Elite möglich, welche als Träger spezifischer Eigenschaften in besonders hoher Ausprägung aufzufassen ist und die mit den Voraussetzungen, von
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welchen die Vertreter geistesgeschichtlicher Richtungen ausgingen, vereinbar war. Diese Facette trat wohl bei der detaillierteren Auseinandersetzung mit der „Literaturgeschichte“ in der 1920er Jahren deutlicher zutage, wie auch in der zweiten Auflage des Werks antisozialistische und antidemokratische Tendenzen offensichtlich wurden und die kollektivistische Betrachtungsweise Nadlers nicht mehr in den Verdacht kommen konnte, materialistisch orientierte Literaturgeschichtsschreibung zu sein. Anhand dieser Ausführungen zeigt sich, daß völkische Strömungen innerhalb der Germanistik nicht erst in der zweiten Hälfte der 1920er oder in den 1930er Jahren entstanden, sondern entsprechende literatur- und vor allem sprachwissenschaftliche sowie volkskundliche Richtungen schon weit früher vorhanden waren.13 Allein ihre Aufnahme in den Kanon der als wissenschaftlich erachteten Betrachtungsweisen des Forschungsgegenstandes erfolgte später, in der Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung eben in erster Linie aufgrund der beschriebenen innerdisziplinären Verhältnisse. Gleichzeitig hat aber auch diese Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aufgrund ihrer Methode eine fundierte Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Grundlagen Nadlers innerhalb der Germanistik verhindert. Dieses wiederum hat, wie bereits skizziert, die zentralen problematischen Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung unbeleuchtet gelassen.
8.2. Nationalliteratur(en) Als maßgeblich für die Durchsetzungskraft der „Literaturgeschichte“ zunächst in der journalistischen Sphäre sowie nach und nach auch innerdisziplinär hat sich also erwiesen, daß es Nadler als einzigem Universitätsgermanisten gelang, eine Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte nach einem einheitlichen Konzept zu verfassen. Dabei kann Nadler allerdings nicht zugeschrieben werden, die von seinen Zeitgenossen so weitgehend geteilte Überzeugung von der Existenz deutscher Stämme und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart als Neuerung in die Literaturgeschichtsschreibung eingeführt zu haben. Hier sei an die Tradition der regionalen Literaturgeschichten erinnert (vgl. Abschnitt 2.5.1.) und schon manche frühe Rezensenten wiesen darauf hin, daß die Vorstellung von Stämmen bereits zuvor – auch vor Sauers Rektoratsrede 1907 – in der Germanistik eine gewisse Rolle gespielt habe. Dies läßt sich in Bezug auf die Universitätsgermanistik etwa an Scherers und Lorenz’ „Ge—————— 13
Hier wäre etwa auch auf die stammheitliche Volkskunde Adolf Hauffens hinzuweisen, auf welche Sauer sich bereits 1907 in seiner Rektoratsrede bezog, vgl. 3.2.1.2.
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schichte des Elsasses“ oder an Erich Schmidts Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1880 zeigen.14 Nadler unterlegte diese unspezifizierten Annahmen stammlicher Einflüsse mit einem interdisziplinären Konzept unter Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, um auf diesem Stammeskonzept allein die gesamte Geschichte der deutschen Literatur aufbauen zu können. Doch abgesehen von den geteilten Meinungen über die Möglichkeit, auf diesem Prinzip tatsächlich eine Darstellung der Literaturgeschichte aufzubauen, wurde nach den Rezensionen zu schließen als die weit größere Neuerung die Erweiterung des Literaturbegriffs durch Nadler bzw. die Sprengung des auf spezielle ästhetische Vorgaben gegründeten Dichterkanons empfunden. Verbunden damit war vor allem ab den 1920er Jahren die nunmehr weitgehend positive Aufnahme von Nadlers Hinwendung zur Geschichte durch die Rezensenten, wenn diese auch nach wie vor zum Teil dem Erkennen des Kunstcharakters von Werken als abträglich empfunden wurde (vgl. Abschnitt 7.1., bes. zu Paul Böckmann). Gerade diese Hinwendung zur Geschichte brachte wiederum eine Neuerung, was die Frage von Gesetzmäßigkeiten in der Literaturgeschichte betrifft. Auch Wilhelm Scherer hatte in seiner Gesamtdarstellung mit Gesetzmäßigkeiten gearbeitet, allerdings betrafen diese Form und Stil der literarischen Produktion. Als prominentestes Beispiel ist hier die wechselnde Folge von „weiblichen“ und „männlichen“ Zeitaltern mit entsprechenden stilistischen und formalen Erscheinungen in der Dichtung anzuführen. Bei Nadler wird der Zusammenhang von Erscheinungen in der Kunst mit der allgemeinen geistigen Entwicklung nicht nur eines Individuums, sondern der gesamten „deutschen Nation“ viel unmittelbarer gedacht, weil er schließlich aus Scherers Begriffstrias das „Erlebte“ und „Erlernte“ dem „Ererbten“ nicht gleich-, sondern nachordnet. Während bei Wilhelm Scherer laut Wolfgang Höppner in der Literaturgeschichtsschreibung gesellschaftliche Prozesse die Rolle von Naturgesetzen übernommen hätten (vgl. Abschnitt 2.1.), führt Nadler wiederum gesellschaftliche Prozesse auf natürliche und in letzter Konsequenz naturgesetzlich aufzufassende Grundlagen zurück. In dieser Hinsicht ordnet Nadler sich in die von Jürgen Fohrmann gezeichnete Entwicklung der deutschen Literaturgeschichtsschreibung ein, denn auch er „...tauscht die nationale Semantik als Referenzbereich und ihre Abhängigkeit von der politischen Geschichte des deutschen Volkes gegen neue, u.a. anthropologisch zu bestimmende Signifikate ein.“15 Selbst —————— 14 15
Lorenz, Ottokar; Scherer, Wilhelm: Geschichte des Elsasses. Berlin: Duncker 1871; Schmidt, Erich: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, S. 480-498, bes. S. 493f. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 232.
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wenn Fohrmann das Konzept der „Entelechie der Nation“ aufgrund des nunmehr geschwundenen Vertrauens in die autonome Ausdruckskraft der literarischen Quellen und des Vorschaltens neuer theoretischer Begründungen bei Nadler nicht mehr verwirklicht sieht, möchte ich dennoch folgender Ansicht widersprechen: „...die Nation und ihre Einheit bilden damit nicht mehr die konstituierende Struktur der Literaturgeschichte, sondern werden höchstens zu ihrem sekundären Ergebnis.“16 Denn trotz der Einführung regional-stammestümlicher Einheiten bildet in der „Literaturgeschichte“ das Konzept des wachsenden Nationalbewußtseins wie auch der nationalstaatlichen Einigung (auf territorialer und kultureller Ebene) die Klammer über die Stämme. Die Teleologie einer einheitlichen deutschen Nation bleibt in Nadlers Ansatz durchaus bestehen, wie vor allem der vierte Band 1928 unterstreicht. Die Bezeichnung dessen als „sekundäres Ergebnis“ ist aufgrund der ständigen Bezogenheit der Stämme aufeinander und der ständigen Ausweitung der Schauplätze meines Erachtens zu schwach. Und gerade Nadler als Angehörigem eines nicht in das Deutsche Reich eingeschlossenen deutschsprachigen Landes ist das Konzept eines Zu-sich-Kommens der Nation womöglich nicht obsolet erschienen. Hier besteht bei der Bearbeitung der „Literaturgeschichte“ die bereits in Abschnitt 6.2.5. angesprochene Problematik, daß Nadlers Haltung zur kleindeutschen Lösung aus seinem Werk erst mit Band 4 1928 und damit erst aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der von ihm so verherrlichten Habsburgermonarchie zu gewinnen ist. Wie stark sich das aus der Lamprechtschen Kulturgeschichtsschreibung übernommene Konzept des wachsenden Nationalbewußtseins vor 1918 in Nadlers Darstellung des 19. Jahrhunderts ausgewirkt hätte oder ob die vor allem in den persönlichen Briefen an August Sauer ausgedrückte deutliche Höherschätzung Österreich-Ungarns zu einer anderen Form der Betonung der Eigenständigkeit der deutschsprachigen Anteile der Habsburgermonarchie im Vergleich zum „Deutschen Reich“ geführt hätte, kann aufgrund des Publikationsverlauf der „Literaturgeschichte“ nicht nachvollzogen werden. In diese Überlegungen muß jedoch der Sachverhalt einfließen, daß Nadler noch vor dem Ende des ersten Weltkriegs durch das Konzept der körperlichen Eindeutschung den Aspekt einer „blutmäßigen“ Zusammengehörigkeit aller Bewohner deutschsprachiger Länder entscheidend verstärkte. Unabhängig von der tatsächlich festgehaltenen oder zu vermutenden Gewichtung der staatlichen Gebilde durch Nadler ist schon auf dieser Grundlage die Einheit aller Deutschen impliziert. Letztlich ist das Konzept der Vorschaltung einer anthropologischen Ebene in stärkerem Maße —————— 16
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 234.
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geeignet, die Einheit aller Deutschen zu propagieren als die allein auf die Aussagenkraft von Texten gestützte und an der politischen Geschichte orientierten „Entelechie der deutschen Nation“. Denn die körperlich zu denkende Zusammengehörigkeit, die bei Nadler immer auch das Vorhandensein gleicher geistiger Anlagen bedeutet, impliziert die Einheitlichkeit der deutschen Nation unabhängig von der politischen Geschichte und damit unabhängig von der jeweiligen staatlichen Konstellation. Die staatliche Konstellation tritt erst zu dem Zeitpunkt in den Vordergrund, als selbige den „körperlichen Bestand“ des deutschen Volkes nicht mehr zu stützen imstande zu sein scheint – bei Nadler in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Daß die Aufwertung Österreich-Ungarns in der „Literaturgeschichte“ auch in den Bänden der ersten Auflage keineswegs mit der Einführung zweier oder mehrerer deutscher Nationalitäten gleichzusetzen ist, zeigt sich auch an der Behandlung der Schweiz, die ohne irgendwelche Anklänge an eine mögliche Vereinigung mit dem Deutschen Reich und unter voller Akzeptanz des eigenständigen Staatswesens geschieht.17 In diesem Zusammenhang sei Nadlers oftmalige Hervorhebung des Völkerstaats vor dem Volksstaat betont, wobei entsprechend dem Nationalitätenkonzept des Literaturhistorikers auch die Schweiz als Völkerstaat anzusehen ist. Da in der „Literaturgeschichte“ Territorialbesitz immer gleichbedeutend ist mit legitimer Herrschaft über die darin ansässigen Menschengruppen, muß eine unabhängige Schweiz in diesem Konzept durch ihren „Territorialbesitz“ mit italienischer und französischer Besiedlung wohl wertvoller eingeschätzt werden als ein rein deutscher Volksstaat unter Einbindung der deutschsprachigen Gebiete der Schweiz und Österreich(-Ungarn)s. Obwohl die Frage ungelöst bleiben muß, wie Nadler das Problem kleinoder großdeutscher Staat vor dem ersten Weltkrieg dargestellt hätte, ist nochmals festzuhalten, daß die „Literaturgeschichte“ keineswegs auf die Einführung einer österreichischen, von der deutschen abgekoppelten Nationalliteratur zielte – genauso wenig, wie Nadler einen westdeutschen Staat der Altstämme neben einem ostdeutschen Staat der Neustämme hätte propagieren wollen. Trotzdem hat die Aufwertung, die Nadler für die Habsburgermonarchie und später für Österreich vornahm, maßgebliche Auswirkung auf die Rezeption seines Werks gehabt. Es hat sich gezeigt, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nicht selten mit spezifisch österreichischen Voraussetzungen in Verbindung gebracht wurde, indem etwa der Nadlersche Ansatz aus den Gegebenheiten des Vielvölkerstaates —————— 17
Trotzdem attestiert Hans-Georg von Arburg auch Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ (1932) eine „gesamtdeutsche Grundhaltung“. Vgl. von Arburg: Schweizer (National-)Literatur?, S. 237.
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oder aus dem österreichischen Volkstum als besonderer Teil des deutschen erklärt wird. Nicht verborgen geblieben ist den Rezensenten freilich auch die Tendenz Nadlers, die österreichische Literatur gegenüber der die übrigen Gesamtdarstellungen beherrschenden „reichsdeutschen“ Literatur aufzuwerten. Diese Tendenz hat nicht zuletzt dazu beigetragen, daß seine Konzepte in Österreich nicht aufgrund abweichender Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit18 zu einem früheren Zeitpunkt positiver aufgenommen wurden, sondern – wie die ablehnende Haltung der Wiener Germanisten beweist – aufgrund ihrer kulturpolitischen Verwertbarkeit, was sich anhand der Beispiele Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal zeigt (vgl. Abschnitt 5.1.). Zur Problematik der völkischen Germanistik und als Vorausblick auf die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung zur Zeit des Nationalsozialismus lassen sich mehrere Aspekte festhalten: zweifellos ergeben sich allein aufgrund Nadlers biodeterministischer Ansichten und auf der Basis seiner Vorstellungen zur Stammesgenese, die auch auf entsprechende gedachte Rassenverbände anwendbar sind, großflächige Berührungspunkte mit nationalsozialistischen Ideologemen. Ebenso sorgen die in der „Literaturgeschichte“ maßgebliche Bindung eines Volkstums an das jeweilige Siedelgebiet, die Hervorhebung der unteren ländlichen Volksschichten, Antisemitismus und Antisozialismus für jene Nahestellung. Deutliche Abweichungen von nationalsozialistischem Gedankengut zeichnen sich allerdings hinsichtlich Nadlers Auffassung der Mischung von Völkern ab – denn dies wird in der „Literaturgeschichte“ keineswegs prinzipiell negativ bewertet – sowie bezüglich der konfessionellen Tendenzen des stammeskundlichen Ansatzes. In speziellem Zusammenhang mit der völkischen Germanistik bleibt zu bemerken, daß Nadler aufbauend auf seine Grundlagenwerke zur Stammeskunde kein Verfechter einer nordischen Herkunft der Indogermanen war und sich auf Wissenschafter stützte, die von einer von Osten einsetzenden sprachlichen Indogermanisierung der mitteleuropäischen Bevölkerung ausgingen. Außerdem sei daran erinnert, daß in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung die „germanischen Stämme“ zwar als in einem Naturzustand befindlich dargestellt werden, doch Nadlers Ideal der Kulturzustand des katholischen Mittelalters ist (vgl. Abschnitt 4.4.2.4.). Mit seiner Darstellung der Sachsen als ungemischter deutscher Stamm ist jedoch auch in Nadlers „Literaturgeschichte“ eine besonders „ursprüngliche“ oder „reine“ Gruppe von Menschen im Norden des deutschen Sprachraums vorhanden, deren Bestand wiederum die Möglichkeit —————— 18
Dies würde etwa die stärker ethnographische Ausrichtung der Volkskunde in Österreich betreffen.
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zur Verknüpfung mit nordischen Ideologemen offen läßt. Die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung war somit als völkischer Ansatz leicht mit zentralen nationalsozialistischen Ideologemen vereinbar. Gleichzeitig sind genügend Aspekte auszumachen, auf welchen sich die Unvereinbarkeit der Nadlerschen Richtung mit dem Nationalsozialismus argumentieren ließe – und auch ließ. Die „Literaturgeschichte“ ist somit der völkischen Literaturgeschichtsschreibung zuzuordnen, aber völkische Literaturgeschichtsschreibung ist nicht gleichzusetzen mit „nationalsozialistischer Literaturgeschichtsschreibung“.
8.3. Der politische Rahmen An der Entwicklung der „Literaturgeschichte“ lassen sich manche Einflüsse veränderter politischer Bedingungen für wissenschaftliches Arbeiten ablesen. Dies betrifft nicht nur jene Facetten, welche Auswirkungen auf die gesamte innerdisziplinäre Situation hatten, sondern in erster Linie inhaltliche Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Sie gewinnen vor allem angesichts der Tatsache an Bedeutung, daß Nadler bei mehreren Lehrstuhlbesetzungsverfahren maßgeblich von politischer Seite und kaum von universitärer Seite gefördert worden war. Der Konjunkturverlauf seiner Konzepte war damit wesentlich von den politischen Rahmenbedingungen beeinflußt, sowohl bezüglich der von Nadler selbst in die „Literaturgeschichte“ eingeschriebenen Implikationen als auch hinsichtlich der Rezeption des stammeskundlichen Ansatzes. Selbst wenn die Frage nach Nadlers bevorzugtem Modell von einem oder mehreren deutschen Staaten für die Zeit vor 1918 nicht eindeutig beantwortet werden kann, findet der politische Kontext in den beiden hier analysierten Auflagen seinen deutlichen Niederschlag. Die erste Auflage des Nadlerschen Hauptwerks impliziert durch ihren spezifischen Aufbau, daß kulturelle und geistige Höherentwicklung einer Nation in erster Linie durch die Ausweitung des Territorialbesitzes und der entsprechenden Ausbildung neuer Volkstümer zu denken sei. Denn im Konzept der frühen stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung bringen neue Volkstümer aufgrund der zu erfolgenden geistigen Aneignung neuer Umweltbedingungen und der Mischung mit anderen Stämmen oder Völkern immer neue Impulse für weitere Entwicklungsschritte hervor. Die Bindung von kultureller Höherentwicklung an räumliche Ausweitung steht zweifellos in engem Zusammenhang mit imperialistischen Denkströmungen der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Es liegt der Schluß nahe, daß eben diese imperialistische Ausrichtung auch Nadlers mehrmals hervortretende Bevorzugung des Völkerstaats vor
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dem Volksstaat mit sich brachte. Denn schließlich könnte eine zur kulturellen Höherentwicklung notwendige Gebietsausweitung nur bis zu einem gewissen Grad mit der Neubesiedlung der eroberten Territorien durch Bevölkerungsteile der Siegermacht Hand in Hand gehen; in den meisten Fällen werden neugewonnene Gebiete bereits besiedelt sein. Ein auf territoriale Ausweitung bzw. Kolonialisierung zielender Staat wird auf dieser Grundlage notwendigerweise zum Völkerstaat werden. Möglicherweise dient Nadlers Lob des Völkerstaats nicht nur der Heraushebung der Habsburgermonarchie im Vergleich zum Deutschen Reich, sondern war eben auch dem Zeitalter des Imperialismus geschuldet.19 Der Patriot einer (deutsch dominierten) mitteleuropäischen Großmacht und gleichzeitiger Beobachter eines deutschen Reichs, die beide am Zenit ihrer Macht standen, sah wohl die Höherentwicklung der deutschen Nation durch weitere territoriale Expansion gesichert. Diese Einstellung änderte sich mit dem Ende des ersten Weltkriegs massiv. In der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ wird durch das grundlegende Prinzip der Völkermischung nämlich nicht nur die Bedeutung des zuvor lockerer gefaßten, in ständiger Ausweitung begriffenen Stammesverbands geschmälert, sondern generell die stärkere Konzentration auf einen beschränkten Raum eingeführt. Hier entsteht der Eindruck, daß Nadler angesichts des Kleinstaats Österreich, des geschwächten Deutschlands und der nunmehr in mehreren Staaten verteilten Gebiete mit deutschsprachigen Minderheiten sein Werk weit stärker auf die Einigung der deutschen Nation als auf eine Expansion derselben ausrichtet. Deren zeitgenössische Situation, die klar als Gefährdung empfunden wird, drückt sich in der „Literaturgeschichte“ mittels „Inventur“, „Rechnung“ und „Preis“ aus. In der Einführung zum 20. Buch heißt es diesbezüglich, die Gründung des Deutschen Reichs 1871 habe den Verlust eines Viertels an deutscher Volkskraft gebracht und „Den Preis für die deutschstaatliche Einheit hatten schließlich die Versäumnisse vieler Jahrhunderte so hoch hinaufgetrieben, daß er das Dasein des deutschen Volkes unerschwinglich zu machen drohte.“20 In diesen Worten klingen die zu Beginn von Kapitel 7. skizzierten Ängste und Sorgen um die Bevölkerungsentwicklung zur Zeit der Weimarer Republik durch. Mit diesen war Nadler in der Exklave Königsberg ohne Zweifel konfrontiert gewesen, wobei in seinem Fall der Gedanke an die aus Zeiten der Habsburgermonarchie verbleibenden deutschen Minderheiten – nicht zuletzt auch in seiner Heimat Nordböhmen – und an —————— 19 Hier sei auch an die entsprechenden Zitate aus den Briefen an August Sauer in 4.4.3.2. zu Nationalismus und Völkerstaat erinnert. 20 Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 804.
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Österreich selbst zusätzlich eine Rolle spielte. Und die eben wiedergegebene Darstellung der „deutschstaatlichen Einheit“ steht mit Sicherheit in Bezug zu Nadlers Gegenwart der Nachkriegszeit, denn weder in der „Literaturgeschichte“ noch in seinen Briefen vor 1918 läßt sich ein Hinweis darauf finden, daß der Literaturhistoriker das Jahr 1871 angesichts des immer noch mächtigen Habsburgerreichs als eine Gefährdung des „deutschen Volkes“ bewertet hätte. Dieser Einfluß des Ausgangs des ersten Weltkriegs auf die Arbeit Nadlers wird allzu leicht übersehen, wenn die Bände eins bis drei der ersten und zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ nicht einzeln analysiert und einander gegenüber gestellt werden. Die Wendung zum Grundprinzip der Völkermischung hatte sich in Band 3 1918 zwar bereits vor dem und während des Kriegs angekündigt und somit ist die stärkere Orientierung an völkischen Modellen nicht auf den Ausgang desselben zurückzuführen. Trotzdem färbt Nadlers Empfinden seiner Gegenwart und wohl nicht zuletzt der Gegenwart des Kleinstaats Österreich und der nicht mehr dem Deutschen Reich zugehörigen deutschsprachigen Gebiete gerade aufgrund des verstärkten völkischen Prinzips massiv auf die „Literaturgeschichte“ ab. Die Mischung mit anderen Völkern oder Nationen, die zuvor als Garant für die Weiterentwicklung des deutschen Nationalbewußtseins gezeichnet wurde, wird für die Gegenwart, die Nadler auf 1871 projiziert, als unerwünscht abgelehnt. Dieses Gefühl einer Gefährdung schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, daß der Bestand dieses deutschen Volkes in der stammeskundlichvölkischen Literaturgeschichtsschreibung nunmehr maßgeblich als von „Reinerhaltung“ und Schutz vor Einflüssen von außen abhängig gezeichnet wird (vgl. Abschnitt 6.2.7.). Und wiederum, trotz des Zurücktretens imperialistischer Implikationen und der Verstärkung völkischer Aspekte, verbinden sich Abstammungs- und räumliche Frage. Der springende Punkt im Konstrukt der „Tragik des Judentums“ ist nicht zuletzt die Unmöglichkeit einer räumlichen Abschottung gegen weitere Mischungen, da „die Juden“ nicht allein in Grenzgebieten mit „den Deutschen“ in Berührung kämen, sondern im selben Raum beisammen wohnen – hier sei an Nadlers Tendenz der „Delogierung“ von Juden aus dem deutschen Sprachraum erinnert. Nachdem das deutsche Volk nach Nadlers Ansicht aufgrund seiner Zersplitterung im Rahmen der Gründung des Deutschen Reichs nicht mehr über genügend Kraft verfüge, um zu expandieren, müsse es nun seinerseits seinen Raum und sich selbst in diesem Raum völkisch rein zu erhalten; das heißt in seinem Konzept: von einer Vermehrung der Ahnenzahl Abstand nehmen. Diesem Denkmodell ist außerdem implizit, daß Raumgewinn in zweifacher Hinsicht ein Beweis von Stärke sei: einerseits durch die Fähigkeit,
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das Territorium zu beherrschen und andererseits, selbiges kulturell bzw. völkisch zu kolonialisieren. Die „Inventur“, die Nadler vornimmt, unterstreicht, daß Raumverlust gleichzeitig Kraftverlust und Abnahme der Kulturhöhe bedeute und bei Mischungen folglich kein „körperlicher Sieg“ der Deutschen mehr anzunehmen sei. In diesem Zusammenhang ist Territorialgewinn bzw. –verlust auch nach 1918 in der „Literaturgeschichte“ der entscheidende Indikator für die Stärke eines Volkes. Doch angesichts der Lorenzschen Lehren ist für Nadler die logische Abhilfe beim Verlust von Durchschlagskraft, die im Rahmen der „Literaturgeschichte“ ihre Ursache in der großen Zahl an Mischungen eben wegen der vorherigen Expansion hat, die Verringerung der Ahnenzahlen. Damit ist die Bewertung von Mischungen in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht prinzipiell negativ, sondern erfolgt jeweils aufgrund der territorialen Verhältnisse. Denn auch nach seiner anklagenden Darstellung der Gründung des Deutschen Reichs urteilt Nadler über die starke Einmischung von Deutschen in den USA auch ohne Chance auf eine „Eindeutschung“ der dortigen Siedelbevölkerung keineswegs ablehnend. Schließlich wird auch in den Bänden eins bis drei der zweiten Auflage die Mischung mit Romanen und Slaven positiv gezeichnet. Nadler redet nicht der absoluten Reinerhaltung eines Volkes oder einer Rasse das Wort, sondern der „Eindeutschung“, für welche freilich die territorialen und völkischen Gegebenheiten stimmen müssen. Letztlich zeichnet sich in der „Literaturgeschichte“ folgendes Bild ab: Territorialgewinne bringen aufgrund neu anzueignender Siedelgebiete und der Mischung mit anderen Völkern einen Aufschwung der Kultur und des Nationalbewußtseins. Territorialverluste bedeuten hingegen eine Schwächung der Kraft eines Volkes bzw. sind als Symptom dafür zu werten. Einer solchen Entwicklung muß dem Konzept der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung entsprechend mit der Verringerung der Ahnenzahlen, also dem Abstandnehmen von weiterer Mischung und einer Konsolidierung der völkischen Eigenschaften entgegengesteuert werden. Durch diese Ansichten und seine Darstellungsweise im vierten Band seiner „Literaturgeschichte“ propagiert Nadler nun einerseits den staatlichen Zusammenschluß aller deutschsprachigen Gebiete und rückt andererseits in die Nähe von Rassentheorien, die eine Reinerhaltung von Rassen fordern, auch wenn die imperialistisch gefärbten Züge des Werks nicht getilgt sind, sondern in den Hintergrund treten. Hier zeichnet sich ein weiteres Mal neben den innerdisziplinären Verhältnissen ab, daß der größte Vorteil der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in der enormen Flexibilität ihrer Konzepte liegt. Nadler steht zur Postulierung eines Vorgangs oder einer Entwicklung immer eine Bandbreite von Möglichkeiten offen, ohne bei der Ausschöpfung
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dieser Möglichkeiten das Gesamtkonzept in Frage stellen zu müssen. Die jeweilige Veränderung des politischen Rahmens findet deutlichen Niederschlag in den unterschiedlichen Auflagen der „Literaturgeschichte“ und trotzdem geht damit keine grundlegende Änderung des Ansatzes einher. Die zweite Auflage stellt eine bruchlose Weiterentwicklung der ersten dar, indem keine neuen Aspekte in die „Literaturgeschichte“ eingefügt wurden, die im geringsten Widerspruch zu den Anfängen gestanden hätten. Und trotzdem ist das Werk ein Spiegel der zeitgeschichtlichen Verhältnisse. Diese Flexibilität ist ein maßgeblicher Faktor für die Durchsetzungskraft der „Literaturgeschichte“. Denn angesichts der Möglichkeit von unterschiedlichen Gewichtungen der ausschlaggebenden Faktoren innerhalb der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung konnte Nadler zeitgenössischen politischen und wissenschaftlichen Vorgängen in seiner Darstellung ohne Gefährdung des Grundkonzepts folgen. Aus diesem Grund schien der Literaturhistoriker mit seinen Ausführungen in Hinblick auf seine unmittelbare Gegenwart Recht zu behalten, was seinem Werk nicht zuletzt auch den Status oder zumindest die Aura eines möglichen Lösungsansatzes verlieh. Die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ nahm somit ihren Anfang als Entwurf zu einer über den Weg der regionalen Differenzierung laufenden, aber die biologische Einheit der Deutschen betonenden, den deutschsprachigen Süden auch in politischer Hinsicht aufwertenden Literaturgeschichtsschreibung mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Sie wurde von Nadler unter derselben Zielsetzung, aber nunmehr unter dem Eindruck einer Gefährdung der Deutschen als völkische Einheit und in ihren staatlichen Einheiten zu größerer Stimmigkeit des Konzepts weiterentwickelt. Ihre Durchsetzung im inner- sowie außerdisziplinären Bereich verdankt sie in erster Linie ihrer großen Flexibilität, sowohl in der Anwendung des Konzepts durch Nadler als auch in der Auffassung desselben durch die Rezipienten, da der Inhalt der „Literaturgeschichte“ nicht nur in mehrere Richtungen ausgelegt werden konnte, sondern gerade dadurch praktisch jegliche Anforderungen, die an Literaturgeschichtsschreibung gestellt wurde, erfüllen zu können und darüber hinaus Bestätigung anhand der Gegenwart zu erfahren schien
9. Stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung und Nationalsozialismus Die Diskussion um den Nadlerschen Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung wurde, wie bereits im Vorwort ausgeführt, maßgeblich von dessen Bild als Vorläufer der zu NS-Zeiten vorherrschenden nationalvölkischen Germanistik bzw. als prominentester Repräsentant dieser national-völkischen Germanistik bestimmt. Die Analyse der ersten und zweiten Auflage der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ aus ihren Entstehungsbedingungen heraus ist bewußt als Gegengewicht dazu so ausführlich gehalten worden. Dementsprechend wird der stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung zur NS-Zeit im Vergleich zu den Jahren zwischen 1909 und 1931 weniger Raum gegeben, wobei speziell ideologiekritische Fragen kaum berührt werden. Für den Zeitraum zwischen der Berufung Nadlers nach Wien 1931 und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Österreich 1938 sind hinsichtlich der politischen Haltung Nadlers und seiner Stellung an der Universität Wien die Arbeiten Sebastian Meissls maßgeblich.1 Sie zeichnen ein vollständiges Bild, sodaß durch den hier vorgenommenen Sprung von 1931 auf die NS-Zeit keine Lücke in der Forschung entsteht. Die dritte Auflage der „Literaturgeschichte“, deren Bände in den Jahren 1929, 1931 (zweiter und dritter Band) und 1932 erschienen, kann schon allein aufgrund der geringen Änderungen, die sich im direkten Vergleich der zweiten mit der vierten Auflage bemerken lassen, vernachlässigt werden.2 Sie ist überdies als einzige der vier Auflagen in einer Zeit ohne politische Umbrüche seit der Veröffentlichung ihrer Vorgängeredition erschienen, während zwischen die erste und zweite Fassung das Ende des Ersten Weltkriegs und zwischen die dritte und vierte die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fällt. Angesichts des kurzen Abstandes zwischen der Publikation der zweiten und dritten Auflage sowie der Tatsache, —————— 1 2
Va.: Meissl: Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre und Ders.: Germanistik in Österreich, bes. S. 476f und 487f. Hans-Bernd Harder verzeichnet für die dritte Auflage Ergänzungen zur preußischen Landschaft und Literatur, die er auf den Einfluß von Nadlers Kollegen Walther Ziesemer zurückführt. Harder: Josef Nadler in Königsberg, S. 90-92.
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daß Nadler ab 1930 bereits mit der Ausgabe der Werke Hamanns beschäftigt war, sind einschneidende Weiterentwicklungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung in der dritten Auflage schon ohne den angestellten Vergleich der zweiten mit der vierten Fassung äußerst unwahrscheinlich. Nachdem der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht auf Nadlers Schaffen in den 1930er und frühen 1940er Jahren und dem Zusammenhang seiner Literaturgeschichtsschreibung mit nationalsozialistischer Ideologie liegt, rückt auch die Rolle des Literaturhistorikers als einer der bekanntesten Professoren der Universität Wien seiner Zeit nicht in den Vordergrund, was gleichermaßen für seine Lehrtätigkeit gilt. Abgesehen von der problematischen Quellenlage zu diesem Aspekt wäre unter Berücksichtigung der in diesem Band zentralen Fragestellung ein Vergleich von seiner Lehrtätigkeit in Fribourg, Königsberg und Wien notwendig gewesen, der allerdings den Rahmen sprengen würde. So muß die zweifellos charismatische Figur des Lehrers Nadler wie in den vorhergegangenen Abschnitten hinter seine Rolle als Verfasser und Verfechter seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zurücktreten. Nadlers Umgang mit seinen Konzepten angesichts der Machtergreifung der Nationalsozialisten sowie seiner politischen Haltung wird nun zunächst das Hauptaugenmerk zu schenken sein. In einem zweiten Schritt steht die Frage nach der Rezeption der stammeskundlich-völkischen Literaturbetrachtung zur NS-Zeit zur Bearbeitung. Generell wird der Fokus dieses Kapitels allerdings darauf liegen, die Grundlagen für das Verständnis des Umgangs mit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 zu schaffen.
9.1. Die „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ 1938-1941 Die vierte, zwischen 1938 und 1941 erschienene Auflage von Nadlers vierbändiger Literaturgeschichte hat die größte Aufmerksamkeit in der germanistischen Wissenschaftsgeschichte erregt, allerdings vor allem aufgrund ihrer Bedeutung im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens des Literaturhistorikers nach 1945 und der disziplingeschichtlichen Auseinandersetzung mit der national-völkischen Germanistik. Wie soeben angekündigt, wird die zur NS-Zeit erschienene Auflage der „Literaturgeschichte“ im folgenden nicht in erster Linie ideologiekritisch auf den Grad ihrer Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Dogmen analysiert, sondern im Vergleich mit den vorhergehenden Auflagen auf Änderungen und deren Verhältnis zu NS-Ideologemen untersucht. Die Analyse von Art
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und Ausmaß der Änderungen, die Nadler vornahm, wird ausgewogene Schlußfolgerungen über seine Haltung zum Nationalsozialismus und dem Verhältnis zwischen seiner stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung und NS-Ideologemen zulassen. 9.1.1. Die Lizenzausgabe beim Propyläen-Verlag Das Zustandekommen der repräsentativen, aufwendig illustrierten Ausgabe von Nadlers „Literaturgeschichte“ beim Berliner Propyläen-Verlag ist nur teilsweise auf der Basis von Archivmaterialien und anderen Quellen zu verfolgen. Nach eigenen Angaben des Literaturhistorikers war Hans Roeseler vom Propyläen-Verlag im Jahr 1935 direkt an ihn herangetreten mit dem Wunsch nach einer „illustrierbaren Literaturgeschichte“,3 was auf Nadlers Betreiben in Verhandlungen um eine Lizenzausgabe der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ mündete. Der Vertragsabschluß mit dem Stammverlag des Werks, Josef Habbel in Regensburg,4 über eine solche Lizenzausgabe fand mit März 1937 jedenfalls zu einem Zeitpunkt statt, als der Anschluß Österreichs an das nationalsozialistisch regierte Deutschland noch nicht erfolgt war. Im Propyläen-Verlag wünschte man eine Überarbeitung und Ergänzung des Werks nach dem Vertrag beigefügten Richtlinien, denen Nadler also vor dem Vertragsabschluß zugestimmt hatte,5 und von welchen hier einige Punkte zitiert seien: 2. Herr Prof. Nadler ist bereit, das Gesamtwerk einer völligen Durchsicht zu unterziehen. Diejenigen Partien, die nur fachwissenschaftlichen Charakter haben, sollen zurückgedrängt bezw. ausgeschaltet werden. Ohne den Grundcharakter des Werkes zu beeinträchtigen, soll überall möglichst Allgemeinverständliches angestrebt werden, um das Werk in größerem Maße als bisher auch einem breiteren Leserpublikum zugänglich zu machen. 3. Im Zusammenhang damit wird der Verfasser alle etwa zeitbedingten oder polemischen Formulierungen überprüfen, in der Absicht, auch hierdurch dem Werk eine endgültige Gestalt zu sichern. 4. Der Propyläen-Verlag erklärt sich bereit, den Verfasser, insbesondere bezüglich des neuen Teiles des Werkes, dadurch zu unterstützen, daß er ihm eine Bi-
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Nadler, Josef: Geschichte der deutschen Literatur. Wien: Johannes Günther 1951, S. 1005f. Der Verlag wurde nach dem Tod von Josef Habbel senior im Frühjahr 1936 von dessen Sohn Josef Habbel junior geführt. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Bestand A: Steiner Corona, Schreiben von Josef Habbel jun. an Herbert Steiner, Baden 3. 4. 1936. „Der Propyläen-Verlat [sic] stellt, nach schriftlich festgelegter Verständigung mit Herrn Prof. Dr. Josef Nadler über die Richtlinien der Umarbeitung und den Umfang der Ergänzungen, in der Annahme, daß die Arbeiten im Laufe von sechs Monaten fertiggestellt werden können...“ Herder-Institut Sammlung 100 Nadler 3e, Vertrag zwischen den Verlagen Josef Habbel (Regensburg) und Propyläen (Berlin), 3. 3. 1937.
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bliographie über die geistesgeschichtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammenstellt und den Verfasser auch sonst in Bezug auf Beschaffung von Quellenmaterial und Arbeitsliteratur nach Kräften unterstützt. 5. Der Verlag ist ferner bereit, in Erwartung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit, dem Verfasser auch im Stadium der Korrekturen durch Hinweis und Anregungen behilflich zu sein. 6. Der Verfasser wird bemüht sein, in wichtigen Einzelpunkten, so zum Beispiel bei der Charakteristik Luthers, der des alten Goethe und der von Dichtern der jüngsten Vergangenheit, die er teilweise jetzt anders sieht als bei der Niederschrift des bisherigen Werkes, schroffe Formulierungen zu vermeiden, unter der Voraussetzung, daß seine Forscherarbeit und sein wissenschaftliches Gewissen dies zulassen. 6
Die Unterzeichnung dieser Richtlinien scheint allerdings zu bedeuten, daß Nadler schon vor der Machtübernahme des NS-Regimes in Österreich, und damit ohne direktem politischen Druck ausgesetzt zu sein, bereit war, eine nationalsozialistischen Machthabern genehme Ausgabe seiner „Literaturgeschichte“ zu erarbeiten und seine Ansichten dementsprechend zu adaptieren. Denn selbst wenn in den Richtlinien des Propyläen-Verlags keine explizite Unterordnung unter bestimmte ideologische Vorgaben thematisiert wird, ist angesichts der Herrschaft des NS-Regimes in Deutschland und dessen Kulturgesetzgebung klar, daß die Überprüfung „zeitbedingter oder polemischer Formulierungen“ im Hinblick auf andere zeitbedingte – nämlich bestehende – politische Umstände erfolgen mußte. Nicht zuletzt sind auch die expliziten Hinweise auf die Hilfe des Verlags bei der Niederschrift der neuen Abschnitte zur zeitgenössischen Dichtung sowie deren Korrekturen unschwer auf die politischen Umstände zu beziehen, mit deren Vorgaben der Berliner Verlag wohl vertrauter war als Nadler selbst. Allerdings kann noch auf anderer Grundlage ein Hinweis dafür erbracht werden, daß Nadler der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland nicht gerade distanziert gegenüberstand: im Berlin Document Center findet sich aus dem Bereich der Reichskulturkammer eine von Nadler ausgefüllte, mit 3. 12. 1933 datierte „Aufnahme-Erklärung“ zum Reichsverband Deutscher Schriftsteller folgenden Wortlauts mit kursiv wiedergegebener handschriftlicher Beifügung: Ich erkläre hiermit meinen Eintritt in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller, E.V., Berlin. Ich bin arischer Abstammung. Ich bin österreichischer Staatsangehöriger. Ich erkläre mich vorbehaltlos bereit, jederzeit für das deutsche Schrifttum im Sinne der nationalen Regierung einzutreten und den Anordnungen des Reichs-
—————— 6
Herder-Institut Sammlung 100 Nadler 3e: Abschrift der Richtlinien für die Bearbeitung des Werkes: Josef Nadler „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“.
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führers des R.D.S. in allen den R.D.S. betreffenden Angelegenheiten Folge zu leisten, sowie dadurch der Diensteid, den ich als österreichischer Universitätsprofessor geleistet habe, nicht berührt wird. 7
Eine Aufnahme Nadlers in den RDS erfolgte allerdings nicht, da man dort weder einen „selbständigen Gau“ – also einen regionalen Verband – für Österreich zu bilden beabsichtigte, noch das Reichskulturkammergesetz die Publikation von Werken österreichischer deutschsprachiger Schriftsteller in Deutschland verbot.8 Selbst wenn es Nadlers vordringliches Motiv gewesen wäre, sich die Möglichkeit von Publikationen in NS-Deutschland zu sichern, spricht die rasche Willensbekundung, für das deutsche Schrifttum im Sinne der NS-Regierung eintreten zu wollen, eine deutliche Sprache. Tatsächlich scheint bei Nadler kaum Sympathie für das Regime des österreichischen Ständestaats vorhanden gewesen zu sein, trotz all der Hervorhebung der Rolle Österreichs unter den deutschsprachigen Ländern in der „Literaturgeschichte“ und seiner Überzeugung vom Katholizismus. Dies wird durch einen im Frühjahr 1938 geschriebenen Brief an einen seiner ehemaligen Schüler in der Schweiz belegt: Das alte Regime hierzulande ist an seiner eigenen Unehrlichkeit zugrunde gegangen. Was diese Leute für einen christlichen Staat ausgaben, war eine Beute der Logen und Juden. Es sind skandalöse Dinge getrieben worden. Und niemand macht sich eine Vorstellung von den Gewissenskonflikten vieler anständiger Menschen, die immer mehr einsehen mussten, dass sie anstatt eines christlichen Staates das letzte Versteck der Internationale auf deutschem Boden verteidigten. Der politische Katholizismus ist erledigt. Diese Illusion muss man begraben. Und es ist ein sehr grosses Glück und das geschichtliche Verdienst Adolf Hitlers, dass diese Wendung, vor der seit Jahren alle Einsichtigen um der unabsehbaren Konsequenzen willen bangten, so glatt und ohne Blutvergießen vollzogen werden konnte. 9
Angesichts dieser Zeilen verwundert es nicht, daß Nadler sich trotz der zuvor „unabsehbaren Konsequenzen“ mit der in seinen Augen wohl erfolgreicheren oder zumindest vielversprechenden politischen Alternative zu arrangieren bereit war, wie er ein solches Arrangement auch mit der vierten Auflage seiner „Literaturgeschichte“ schon im Vorfeld vornahm. Der Erfolg einer politischen Bewegung scheint für Nadler ein wesentlicher Faktor für seine Zustimmung oder Ablehnung zu derselben gewe—————— 7 8 9
BDC Reichskulturkammer, Josef Nadler, 23. 5. 1884, Formular „Aufnahme-Erklärung“, 3. 12. 1933. Hervorhebungen IR.: der unterstrichene Teil ist maschinschriftlich eingefügt worden. BDC Reichskulturkammer Josef Nadler, Schreiben des RDS an Nadler am 29. 10. 1934. Herder-Institut Sammlung 100, Nadler 2: Nadler an Dr. Bischof (Schwyz), 23. 4. 1938, Wien.
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sen zu sein, denn fünfzehn Jahre vorher hatte seine Meinung zur nationalsozialistischen Bewegung noch völlig anders ausgesehen: Die Hitlerleute u. Verwandten haben in Baiern u. Preußen jüngstens so skrupellos ihr antikatholisches, protestantisches Gesicht demaskiert, daß es mit den Zuläufern aus katholischen Kreisen bald alle sein wird. [...] Mich hat das nie getäuscht. Es ist u. bleibt die historische protestantisch preußische Frage.10
Und auch seine Worte von 1938 sind nicht mit einer vorbehaltlosen Anhängerschaft an den Nationalsozialismus gleichzusetzen, wie sich zeigen wird. Denn der Schluß, daß der Literaturhistoriker von sich aus gewillt war, den vom Propyläen-Verlag vorgegebenen Richtlinien zu folgen, bedeutet nicht automatisch, daß Nadler sich bereits vor dem „Anschluß“ Österreichs an Deutschland ideologischen Vorgaben des NS-Regimes beugte dh. nicht nach seinen eigenen Vorstellungen, sondern nach jenen anderer schrieb und arbeitete. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang die Formulierung „...unter Voraussetzung, daß seine Forscherarbeit und sein wissenschaftliches Gewissen dies zulassen.“ Nachdem Nadlers Änderungen an seiner vierten Auflage relativ gering sind, blieb sein „wissenschaftliches Gewissen“ einerseits den bereits formulierten Konzepten treu, andererseits sah er offensichtlich selbst keine Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den politischen Voraussetzungen gegeben, welchen der Propyläen-Verlag – wie auch der RDS – unterworfen war. 9.1.2. Die Einarbeitung der Rassenkunde Generell läßt sich feststellen, daß der größte Schritt an Änderungen in Nadlers Ansatz nicht zwischen der vierten Auflage und früheren Auflagen vorgenommen wurde, sondern zwischen der ersten und der zweiten Auflage, also längere Zeit vor der NS-Herrschaft in Deutschland und Österreich erfolgte. Die Adaptionen, die Nadler in der umbenannten „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ vornimmt, sind gering. Es wird sich zeigen, daß er trotz deutlicher Befürwortung mancher Züge der NSIdeologie und -Politik in seinen grundlegenden Theorien und Überzeugungen verhaftet blieb – nicht nur jenen, die mit nationalsozialistischen Dogmen vereinbar waren, sondern auch ihnen zuwiderlaufenden Aspekten. Auch im vierten Band der vierten Auflage, der Nadlers unmittelbare Gegenwart behandelt und in seinem Aufbau unmißverständlich auf den Aufstieg und die Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Regimes abgestellt ist, bleiben die Grundlagen und wesentlichen Züge von Nadlers —————— 10
ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1-435, Düdingen 30. 11. 1923.
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Konzepten erhalten. Tendenziell läßt sich überdies auch für diesen abschließenden Band eine positivere Haltung gegenüber katholischen als dezidiert nationalsozialistisch gerichteten Dichtern feststellen, wie auch persönliche Sympathien und Antipathien des Literaturhistorikers weiterhin die größte Rolle spielen. Bei der Lektüre der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ ist ein weiteres Mal entscheidend, zwischen neuen und aus früheren Auflagen übernommenen Elementen zu unterscheiden. Die augenfälligste Neuerung ist die Integration von Rassenkonzepten in die „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“, bzw. von weitaus spezifischeren Rassenkonzepten als zuvor, unter spezieller Bezugnahme auf die vermeintliche bestimmende Rolle der „nordischen Rasse“ in der Geschichte der Deutschen. Diese Entwicklung der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung ist zeitgleich mit der Machtergreifung des NS-Regimes faßbar, und zwar schon mit jener in Deutschland und nicht erst jener in Österreich, wo Nadler an der Universität Wien erst ab 1938 unmittelbar von nationalsozialistischer Herrschaft betroffen war. Allerdings ist nicht festzustellen, ob bereits die Entwicklung dieser neuen Elemente in die NS-Zeit fiel oder ob allein die Publikation bereits vor 1933 gewonnener Ergebnisse des stammeskundlichen Ansatzes gewissermaßen zufällig in einer neuen politischen Ära stattfand. Angesichts der knappen Abstände im Erscheinungsverlauf der Nadlerschen Schriften liegt jedoch eine Beeinflussung des Literaturhistorikers durch die politischen Umstände nahe: der vierte Band der kaum veränderten dritten Auflage der „Literaturgeschichte“ erschien 1932; die erste öffentliche Auseinandersetzung mit den Rassenkonzepten, die Eingang in die vierte Auflage fanden, 1934. Bereits drei Jahre vor der Einigung mit dem Propyläen-Verlag über eine Lizenzausgabe der „Literaturgeschichte“ beschäftigte Nadler sich also in einem Beitrag in der zu „Dichtung und Volkstum“ umbenannten Zeitschrift „Euphorion“ mit dem Thema Rassenkunde in der Literaturgeschichtsschreibung. Die Zielsetzung des Artikels „Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde“11 ist allerdings die Aufwertung der Stammeskunde – und des eigenen stammeskundlichen Ansatzes der Literaturbetrachtung – vor rassenkundlichen Konzepten. Denn im Gegensatz zur Rassenkunde führe die Stammeskunde nicht alles auf eine einzelne Ursache zurück, sondern berücksichtige auch die „Deutungskonkurrenzen“ Landschaft, Staat, Gesellschaft, und Kirche, während die familiengeschichtliche Verflechtung der Stammesangehörigen es ermögliche, ihre geistigen Leistungen auf den gesamten Stamm zu beziehen. Daß Nadler das Primat der stammeskundlichen Forschung zuschreibt, hindert ihn allerdings nicht —————— 11
Nadler: Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde.
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daran, Vereinbarkeiten zwischen Stammes- und Rassenkunde in Belangen der Literaturgeschichtsschreibung aufzuzeigen. Er nimmt in diesem Beitrag praktisch die Integration rassenkundlicher Konzepte, wie sie in der vierten Auflage des vierbändigen Werks verwirklicht wurde, vorweg. Nadlers Hauptkritik an der Rassenkunde gilt der Abwehr der Ansicht H.F.K. Günthers und anderer, daß „die dinarische Rasse“ Träger der Barockkultur und „die nordische Rasse“ Schöpfer der deutschen Kunst sei.12 Dem Literaturhistoriker war hier ganz offensichtlich an der Bewahrung zweier zentraler Aspekte seines Ansatzes gelegen – diejenigen vom deutschen Süden als Kulturbringer der Deutschen und den katholischen Baiern als Träger der Barockkultur. Dennoch schreibt Nadler sich so weit in den rassenkundlichen Diskurs ein, daß er „...die ältesten und dichtesten und einflußreichsten geistigen Schöpfungsräume der Deutschen...“ verlegt in den „...gewaltige[n] Mischungsraum, durch den das nordische Blut im ostischen und dinarischen zerfloß.“13 Er löst den Zwiespalt zwischen der einflußreichen und prestigeträchtigen Rassenkunde und dem eigenen Ansatz, indem er beide kombiniert, wie sich bei der genaueren Analyse der vierten Auflage noch deutlicher zeigen wird. Letztendlich behält die stammeskundliche Literaturbetrachtung die Oberhand, denn das Konzept der Mischung von Rassen bzw. Völkern und die daraus entstehende Dynamik in Absetzung von der statisch gedachten Rassenkunde ist deren wesentlicher Kern, ohne den das gesamte Konzept stürzen würde. Der Artikel von 1934 ist in vielerlei Hinsicht entlarvend: Nadler formuliert eine Reihe von Vorwürfen an die Rassenkunde, die ebenso gerechtfertigt wie auch auf seine eigene Arbeit zutreffend sind. Weil der Literaturhistoriker seinem Beitrag seine eigene Vorstellung von der Entstehung von Rassen zugrundelegt – jene von Ottokar Lorenz übernommene – besteht bekanntlich in der „Literaturgeschichte“ kein Unterscheidungskriterium zwischen „Stamm“ und „Rasse“. Als Konsequenz trifft allerdings jede Kritik, die Nadler auf die Rassenkunde anwendet, automatisch auch die Stammeskunde. Zunächst beanstandet der Literaturhistoriker, daß die Rassenkunde die „geistige Physiognomik“ von aufgrund körperlicher Merkmale eingeteilten Rassengruppen voraussetze, anstatt sie zu erforschen. In ähnlicher Weise hat Nadler allerdings seine „Stammescharaktere“ vielmehr vorausgesetzt als empirisch erschlossen. Weiters, so Nadler, sei in der rassenkundlichen Forschung zumeist ein Zirkelschluß gegeben: —————— 12 13
Nadlers Auffassung von „nordischer Rasse“ deckt sich nun nicht mehr mit jenem in frühere Auflagen der „Literaturgeschichte“ von Kaspar Zeuß übernommenem Begriff, da die nordische Rasse bei Zeuß auch die Slawen umfaßt, was bei Nadler nicht mehr der Fall ist. Nadler: Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde, S. 18.
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Immer wieder werden im Zuge desselben Verfahrens dieselben Tatsachen bald aus Prämissen erschlossen, bald in die Prämissen gesetzt. Abwandlung fremder Form ist dinarisch,; A wandelt fremde Form ab, also ist A dinarisch. A ist dinarisch; A wandelt fremde Form ab: also ist Abwandlung fremder Form dinarisch.14
Auch diese Vorgehensweise ist typisch für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung. Die von ihm selbst beanstandete Problematik der mangelnden oder fragwürdigen Überlieferung von Porträtdarstellungen, die zur rassischen Bestimmung von Dichtern herangezogen wurden, hat Nadler ebenfalls nicht daran gehindert, eigene Ausführungen zur Einordnung mancher Dichter mit dem Hinweis auf Porträts zu stützen. Der wesentlichste Kritikpunkt, auf den der Literaturhistoriker in seiner Bewertung der rassenkundlichen Forschung hinweist, kann allerdings nicht in gleicher Weise auf seine „Literaturgeschichte“ angewendet werden. Denn anders als die rassenkundliche Forschung führt Nadler eben nicht alle Erscheinungen des geistigen Lebens auf einen einzigen Aspekt zurück. Sein Konzept baut, wie bereits erwähnt und bei der Analyse der „Literaturgeschichte“ ausführlich dokumentiert, wesentlich auf das Changieren zwischen unterschiedlichen „Deutungskonkurrenzen“ (Abstammung, Landschaft, Staat, Gesellschaft, Kirche) auf, deren Berücksichtigung er auch der Rassenkunde abverlangt. Die erwähnte Eigenschaft macht das Nadlersche Konzept zwar flexibler, aber keineswegs wissenschaftlich fundierter. Festzuhalten ist jedenfalls Nadlers Absetzung seines stammeskundlichen Ansatzes von bestimmten rassenkundlichen Konzepten, die er auch noch in einem anderen Rahmen vornahm. 1935 sah Nadler sich veranlaßt, in Wien eine Ehrenbeleidigungsklage gegen Landesschulinspektor Oskar Benda einzubringen, da er sich von ihm fälschlicherweise des Gebrauchs von nationalsozialistischen Rassentheorien beschuldigt fühlte. Er verteidigte sich mit folgenden Ausführungen: Wenn man heute von Blut und Boden spricht, so denkt jeder Mensch an den Rosenberg’schen Mythos. Nun habe ich schon im Jahre 1911 über den Einfluss von Blut und Boden auf das Schaffen eines Menschen geschrieben. Es ist daher nicht meine Schuld, wenn die Nationalsozialisten sich manches von meinem Gedankengut – sehr verändert – angeeignet haben. Aber im Jahre 1934, als die Frage hochaktuell war, habe ich eine Schrift veröffentlicht, die ganz deutlich klarlegt, dass ich mit Rassentheorie nichts zu tun haben will.15
Abgesehen davon, daß der Artikel von 1934 bei weitem nicht so dezidiert gegen jegliche Anwendung von Rassentheorien gerichtet war, wie Nadler —————— 14 15
Nadler: Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde, S. 4. ÖStA AdR, GA Josef Nadler, Nr. 4867, Abschrift eines Artikels aus der „Reichspost“ vom 15. 6. 1935: „Eine gerichtliche Feststellung Josef Nadlers.“
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hier suggeriert, erscheint seine Reaktion angesichts des Inhalts von Bendas Artikel16 einigermaßen überzogen. Benda widmete sich darin in ablehnender Weise der „Deutschen Nationalbildung“, die er zwar in enge Verbindung zum Nationalsozialismus stellte, aber in erster Linie deren „Geistesaristokratismus“ nach dem Vorbild Stefan Georges kritisierte und sich kaum mit Rassentheorien auseinandersetzte. Georges positiver Gegenpol ist für Benda Rainer Maria Rilke und die Kritik an Nadler gilt eben dessen Darstellung Rilkes als durch seine Prager Herkunft slawisch und jüdisch bestimmt. Unter der Versicherung, Nadler als Fachgenossen sehr zu schätzen, fügte Benda diesen Ausführungen ein Zitat aus der „Reichspost“ vom 22. 10. 1934 an: „Wer das Blut über den Geist setzt, wer diesen zu einem Produkt der Rasse erniedrigt, der mag sich nennen wie immer, er ist ein Leugner christlicher Lehre, er huldigt krassestem Materialismus.“17 Daß Nadler sich als bekennender Katholik von diesem Zitat angegriffen fühlte, ist verständlich. Aus welchem Grund die Gerichtsverhandlung – die mit einer außergerichtlichen Einigung endete – so stark auf die Frage nach nationalsozialistischen Rassentheorien konzentriert wurde, bleibt unklar. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß der Nationalsozialismus und damit auch sein Gedankengut in Österreich zur Zeit des Prozesses verboten waren und dadurch der Vorwurf der Verbreitung nationalsozialistischer Lehren für Nadler äußerst prekär war. An seiner Verteidigung wird jedoch deutlich, daß er eigenen Ansätzen das zeitliche Primat vor nationalsozialistischen Rassentheorien und damit den (wissenschaftlich) „richtigen“ Zugang zur Frage des Einflusses von Rasse auf die Literaturgeschichte zuschreibt. Der Umgang mit rassenkundlichen Konzepten in der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ entspricht demjenigen in „Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde“. Generell lassen sich für die Neuauflage nämlich zwei Strategien Nadlers beobachten: erstens die Heranführung seines Werks an bisher noch nicht in seinen Theorien enthaltene, aber sehr prestigeträchtige und/oder inzwischen wissenschaftlich kanonisierte Konzepte – wie etwa jenes von der Abstammung der Germanen aus nordischer Rasse. Zweitens die Beibehaltung der zentralen Elemente seiner stammeskundlich-völkischen Literaturgeschichtsschreibung unter partieller Verminderung ihrer Vordergründigkeit. Wie schon beim Übergang von der ersten zur zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ bleiben Schichten der vorherigen Ausgabe vorhanden, auf die wiederum neue Schichten —————— 16 17
Benda, Oskar: Deutsche Nationalbildung. Grundsätzliche Bemerkungen zum Revisionsproblem. In: Österreichische Pädagogische Warte 30 (1935), S. 25-27, 51-53, 74-77. Zitiert nach: Benda: Deutsche Nationalbildung, S. 75.
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gelegt werden, die ein weiteres Mal in keinem Widerspruch zum gesamten theoretischen Aufbau des Werks stehen. Die zur NS-Zeit neu hinzugekommenen Schichten sind zwar sehr dünn, können dem mit früheren Auflagen wenig vertrauten Leser aber durchaus die Sicht auf ältere Schichten verdecken, eben weil sie sich ohne Widersprüche in das vorhandene Material einfügen. Nadlers Vorgehensweise entspricht durchaus dem „semantischen Umbau“, wie er im von Georg Bollenbeck und Clemens Knobloch herausgegebenen Band beschrieben worden ist: „Unter ,semantischem Umbau’ wollen wir die Gesamtheit jener Veränderungen verstehen, die sich im Kontext des politischen Systemwechsels an den Redeweisen der Fächer (ihrem Handlungsbewußtsein, ihren Theorien und Methoden wie ihrer Themenwahl) ablesen lassen und die somit auf veränderte Forschungs- und Resonanzbedingungen verweisen.“18 Speziell in der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ läßt sich das wechselseitige Wirken von der Eigenlogik der Faches – bei Nadler empfiehlt es sich hier, von der Eigenlogik des Ansatzes zu sprechen – und dem Eingehen auf jene durch die politische Geschichte geänderten Resonanzbedingungen erkennen. Und obwohl sich auch im Falle der zur NS-Zeit erschienenen Fassung die Eigenlogik des Ansatzes als gewichtigster Faktor erweist, ist dennoch ein stärkeres Reagieren Nadlers auf die geänderten Resonanzbedingungen als bei anderen Auflagen spürbar. Wie dünn und großteils auf neu formulierte einführende Abschnitte der neuen Bücher der „Literaturgeschichte“ beschränkt die in die vierte Auflage eingeführten Schichten sind, zeigt sich, wenn man näher ins Detail geht. Speziell der dritte, 1938 erschienene Band ist nicht nur inhaltlich, sondern wörtlich fast vollkommen identisch mit dem vierten Band der zweiten Auflage aus dem Jahr 1928. Im ersten und zweiten Band der „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ sind im Vergleich zu den in ihnen zusammengefaßten Bänden 1-3 der zweiten Auflage ebenfalls kaum Abschnitte neu formuliert worden. Die Abschnitte zur Literatur der Eidgenossenschaft sind nunmehr gekürzte Versionen der entsprechenden Teile aus Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ (1932).19 Die wenigen Neuerungen in den Bänden eins und zwei der Neuauflage weisen wiederum keine „Auffälligkeiten“ in Hinblick auf NS-Ideologeme auf, es handelt sich eher um Abrundungen oder Präzisierung bereits be—————— 18 19
Bollenbeck, Georg: Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt „semantischer Umbau der Geisteswissenschaften“. In: Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften, Hrsg.: Ders., Knobloch, S. 16. Nadler, Josef: Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. Leipzig, Zürich: Grethlein & Co 1932.
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kannter Aspekte der „Literaturgeschichte“ als um die Einführung neuer Elemente. So bedeutet auch die Einführung der Auffassung einer nordischen Abstammung der Germanen und die entscheidende Rolle dieser nordischen Rasse für die deutsche Geschichte nur ein geringes Zugeständnis an die geänderten wissenschaftlich-politischen Verhältnisse. Zwar berücksichtigt Nadler, daß inzwischen nur mehr eine einzelne Theorie zur Abstammung der Germanen Gültigkeit beanspruchen durfte, doch die dementsprechend in die „Literaturgeschichte“ eingearbeitete Leitlinie von den Germanen als Vertreter der nordischen Rasse ordnet er seinem eigenen Konzept der südwestdeutschen Stämme als Kulturbringer unter: Die südwestdeutschen Stämme hatten am Rhein von seiner Mündung bis zu seinen Quellen die nordische Volksnatur in solcher Dichte zusammengeballt, daß diese Landschaften am Ende der Völkerwanderung reineren Blutes waren als die Urheimat in der sächsischen Tiefebene zwischen den beiden Meeren. Jetzt seit dem hohen Mittelalter verschiebt sich diese nordische Dichte von Westen gegen den Osten. Die nordischen Bestände nehmen im Westen ab und im Osten zu.20
Allein an diesen drei Sätzen läßt sich Nadlers Vorgehen hervorragend charakterisieren: die nordische Abstammung der Germanen wird insofern integriert, als nun die „Dichte“ an nordischem Blut (mit)bestimmender Faktor der geschichtlichen Abläufe ist. Gleichzeitig bewahrt Nadler in diesen Ausführungen die lang andauernde kulturelle Vorherrschaft der altdeutschen bzw. südwestdeutschen Stämme nicht nur gegenüber dem Siedelland im Osten, das durch seine spätere Kolonisation ohnehin den Status eines Nachzüglers hat, sondern auch gegenüber dem deutschen Norden, der somit in der „Literaturgeschichte“ keine höhere Bedeutung für die deutsche Geschichte erhält als zuvor. Dieser Einführung der nordischen Rasse als bewegendes Element entsprechend werden die Stämme in der „Literaturgeschichte“ nun durch ihre unterschiedlichen Rassenbestände begründet, wobei jedem von ihnen nordische Anteile in jeweils unterschiedlicher „Dichte“ zugeschrieben werden.21 Die deutschen Stämme, um das Jahr 250 im wesentlichen abgeschlossen, sind ursprünglich sicherlich rassische Spielarten gewesen. Als natürliche Gemeinschaften auf vorwiegende Erbmasse gegründet, waren sie Zellenverbände der Anpassung und Abwehr. Sie haben Rasse und Rassenmischung geschichtlich verwirklicht. Sie haben die Landschaft zum Wohnraum gemacht und sind ihm gemäß geworden. Sie waren die geschichtlichen Anpassungsorgane des Gesamtvolkes, seine arbeitsgeschulten Glieder, Urzellen seiner geistigen Schöpfung.22
—————— 20 21 22
Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 3. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 7-10. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 10.
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Zentrale Elemente in diesem Zitat sind allerdings nach wie vor das Prinzip der Gleichheit durch die bevorzugte Kreuzung mit Ebenbürtigen („vorwiegende Erbmasse“), des Einwachsens in die Landschaft („...sind ihm [dem Wohnraum] gemäß geworden.“) und die jeweilig unterschiedlichen Eigenschaften der Stämme, die sie zur Erfüllung bestimmter Aufgaben für das Gesamtvolk prädestinieren. Das Stammeskonzept ist auch im äußerst stark auf den Nationalsozialismus abgestimmten vierten Band der vierten Auflage immer noch unverändert gültig präsent. So ist von der Bildung eines neuen ostdeutschen Stammes an Warthe, Weichsel und Narew die Rede,23 und wird die Rolle der deutschen Stämme auch für das „neue Weltalter“ – das nationalsozialistische – betont: Ein Weltalter kommt. Seine Aufgabe ist staatlich, wirtschaftlich, geistig die Bereinigung der deutschen Flur. Mag diese Aufgabe im Osten Vollendung des deutschen Siedelwerks, mag sie im Westen Rückkehr der Abgesonderten, mag sie in Afrika Aufbau eines neuen Volkstums heißen: was an dieser Aufgabe Pflanzung, Artung, Leben ist, das fällt den deutschen Stämmen zu. Denn das sind die Glieder, aus denen das deutsche Volk besteht und durch die es Bestand hat.24
Der Ausdruck „Rassenmischung“ ersetzt die „Völkermischung“ der zweiten Auflage, wobei Rasse wie Volk bei Nadler auf ein und demselben Prinzip der Ebenbürtigkeit und des Ahnenverlusts beruhen. Gleichermaßen ersetzt auch der Durchbruch „nordischer Urbestände“, „nordischer Rasse“ oder „nordischen Geistes“ einfach den bisher verwendeten Begriff der „Verdeutschung“, unter Beibehaltung der bisher bestimmenden Prinzipien. Ohne Adaptionen übernimmt Nadler überdies seine Auffassung von der Mischung von romanischem Kulturvolk und germanischem Naturvolk sowie von Gruppen des germanischen Kulturvolks mit dem Naturvolk der Slawen (Nadler ging in der vierten Auflage zur Schreibweise „Slawen“ statt „Slaven“ über). So heißt es etwa zur Klassik: Als ein Naturvolk, als Gast und Sieger hatten sich die drei südwestdeutschen Stämme unter Römern und Romanen niedergelassen, unter einem Kulturvolk als Wirt und Besiegtem. Gast und Wirt vermischten sich körperlich miteinander, und es gab Stellen, wo der Romane bis ins dreizehnte Jahrhundert, seiner Wesensart und Muttersprache mächtig, unverzehrt zwischen den Deutschen sitzenblieb. Die Vermischung machte den Germanen zum rechtlichen Mitbesitzer aller staatlichen und geistigen Einrichtungen, die er im eroberten Lande vorfand, und sie bürgerte ihn in all diese Einrichtungen ein. Er mußte durch eine geistige Verwandlung hindurchgehen, indem er zugleich mit der volkhaften Vermischung Glauben, Bildung, Schrifttum des besiegten Kulturvolkes innerlich in sich aufnahm. Er konnte in dieser Vermischung und Verwandlung nicht anders Herr seiner selbst bleiben, als daß er sein Schicksal in seinen Willen aufnahm. Statt die stärkere
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Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 521. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 437; im Sudetenland hätten die Stammesgemeinschaften überhaupt erst nach 1918 Auswirkung gefunden, ebd. S. 481.
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Fremdkultur, ohne die er sich nicht behaupten, ohne die er seine Macht nicht halten konnte, leidend hinzunehmen, mußte er sie entschlossen bejahen, mußte er sie schöpferisch ergreifen und sie mit seinem eigenen Wesen neu prägen. Das hieß sie verzehren. Dieser völkische und geistesgeschichtliche römisch-deutsche Vorgang füllte die gesamte innere Entwicklung der drei altdeutschen Stämme aus. Es ist die Blutsverbindung, die ihr Verhältnis zur Antike von der Geisteshaltung der Niedersachsen und der Neustämme unterscheidet. Dieser unvergleichbare und wesenseine Vorgang findet seinen Abschluß im deutschen Klassizismus.25
Seine Auffassung von Klassik und Romantik mit ihrer Grundlage der Mischung von Völkern bleibt somit unangetastet. Im Zusammenhang mit Klassik und Romantik, die aus der römisch-deutschen bzw. deutschslawischen Lebenseinheit hervorgehen, besteht auch die Auffassung vom Katholizismus als eigentliche „deutsche“ Religion bzw. Konfession weiter fort. Nadler spricht explizit von den Germanen, die sich den Glauben des „besiegten Kulturvolkes“ der Romanen aneigneten und bezeichnet somit die Germanen wiederum erst nach ihrer Umwandlung zum Kulturvolk – durch die lateinische Kultur und den christlich-katholischen Glauben – als Deutsche. Ebenso ist die Restauration wieder die Zeit der Rückkehr der Deutschen zum katholischen Glauben und trotz der oben zitierten Verlagsrichtlinien wird die Darstellung Luthers26 und des Protestantismus von Nadler keineswegs abgeändert. Auch noch im berüchtigten vierten Band der vierten Auflage findet sich die Bemerkung, daß deutsch-antiker Geist und nordisch-germanische Natur einander fördern würden und die „deutsche Lebenskraft des Christentums“ somit keine Entscheidung zwischen Antike und Germanentum bedeute.27 Es gibt Hinweise darauf, daß Nadler über die Grundlagenkapitel der einzelnen Bücher seiner „Literaturgeschichte“ hinaus rassentheoretische Aspekte nicht systematisch einarbeitete. Denn der Literaturhistoriker behält die von Sigmund Feist – dem umstrittenen jüdischen Germanisten – übernommene Erklärung der zweiten deutschen Lautverschiebung durch den Einfluß von als „alpinem Menschenschlag“ erhaltenen europäischen, nichtgermanischen Vorbewohnern sowie Friedrich Kauffmanns Theorie vom Althochdeutschen als „Kolonialstil“ der westgermanischen Stämme bei.28 Nur an einer prominenteren Stelle – in den Leitgedanken zu den Neustämmen – ist der unausgewiesene Bezug auf Feists „Vermittlervolk“, durch das die Vorgermanen die indogermanische Sprache empfangen hätten, getilgt.29 Die Theorien Feists und Kaufmanns haben zwar keine —————— 25 26 27 28 29
Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 4. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 559-569 entspricht 1923/2 S. 161-177. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 253. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 26; bzw. 1923/1, S. 38f, vgl. 6.2.1. Nadler: Literaturgeschichte 1923/2, S. 1 im Vgl. zu 1939, S. 459.
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umfassende Bedeutung für das Konzept der „Literaturgeschichte“ und ihre Erwähnung nimmt ohne namentliche Nennung der Gelehrten nur wenige Sätze in Anspruch, aber gerade an solchen Kleinigkeiten wird deutlich, daß Nadler seinen früher gefaßten Ansichten durchaus treu blieb bzw. sein Werk nicht akribisch rassenkundlichen Forderungen und damit praktisch NS-Vorgaben anpaßte. Denn die nationalsozialistische Vorstellung von einer rassischen Kontinuität der nordischen Germanen und somit ihrer Sprache, da diese als blutbedingt gedacht wurde, ist mit der Feistschen Substrattheorie, welche die sprachliche Indogermanisierung Europas von Osten her vorsah, nicht vereinbar. Anhand einiger Beispiele läßt sich verfolgen, wie Nadler mit NSIdeologemen schwer kompatible Elemente seiner Theorien verdeckt, ohne sie aufzugeben: so wird das Konzept der Mischung von Deutschen und Slawen im Osten ohne Adaption beibehalten, aber explizite Hinweise auf die slawische Abstammung einzelner Dichter werden meist nicht in die Neuauflage übernommen. Im Falle Opitz’ etwa entfällt die Beweisführung zur (polnischen) Herkunft des Familiennamens, doch die Bemerkung, daß der Name „unbedingt deutsch“ sein solle bleibt bestehen. 30 Ohne die frühere Auflage im Hintergrund ließe sich die polemische Bemerkung, daß „Opitz“ unbedingt ein deutscher Name sein solle, in voreingenommener Weise als Versicherung lesen, daß dem tatsächlich so sei. Doch eigentlich hinterläßt Nadler hier die Spuren der von ihm angenommenen slawischen Abstammung Opitz’, ohne diese explizit zu behaupten. Auch die Bemerkung über den „Keltenschädel“ Stefan Georges und die Überlegungen zu seiner Herkunft werden getilgt, wobei auf romanische Vorfahren des Dichters implizit durch den Vergleich mit Görres und Brentano hingewiesen wird – deren romanische Abstammung Nadler weiterhin ausdrücklich anführt.31 Auch die übrigen zentralen Elemente des Nadlerschen Ansatzes haben Eingang in die vierte Auflage gefunden. Die Sonderrolle Österreichs wird nach wie vor vehement betont und wiederum ist das Nibelungenlied zentral für die frühe Begründung dieses Sonderstatus. Auffälligerweise gehören die Abschnitte über Österreich zu den wenigen neu formulierten, jedoch ohne daß die neue Formulierung neue inhaltliche Aspekte mit sich bringt, sondern allenfalls die stärkere Betonung bereits bekannter Elemen—————— 30 31
Vgl. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 642 mit 1923/2, S. 291. Diese Bemerkung bezieht sich auf das Bestreben mancher Germanisten, eine deutsche Herkunft des Namens „Opitz“ zu beweisen. Nadler: Literaturgeschichte 1938/2, S. 700. Ähnliche Beispiele sind die moderatere Formulierung, aber Beibehaltung anderer wenig populärer Aspekte der „Literaturgeschichte“, etwa die mitteldeutsche statt niederdeutsche Prägung Preußens; ebd. 1939, S. 535f im Vgl. zu 1923/2, S. 122f.
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te . So wird etwa speziell hervorgehoben, wie auf österreichischem Gebiet die Sagen mehrerer, später untergegangener germanischer Völker gesammelt worden seien und dadurch eine Dichtung mit besonderer Kontinuität entstanden sei: Herzogtum Österreich also heißt Dichtung aus altgermanischem Erbe, in solcher Fülle, Beständigkeit, ungebrochener Ausdauer wie in keiner anderen deutschen Landschaft des Mittelalters. Längere Dauer und größere Kraft der lateinischen Völkerverwandlung, die unmittelbare Nähe des karlingischen Staatsgedankens haben am Rhein die Bildung einer germanisch-deutschen Nationaldichtung verhindert. Sie ist an der Donau aufgewachsen und aus dem untilgbaren germanischen Gedächtnis, aus dem späten Fortbestande gotischer und langobardischer Volksart, aus dem freien Spielraum des Herzogtums Österreich, unter der Gunst einer nicht mehr verwandlungsfähigen lateinischen Kultur und einer christlichen Missionstätigkeit, die bereits gelernt hatte, sich germanischem Wesen anzupassen. Herzogtum Österreich bedeutete eine Dichtung, die sich dieses germanische Sagengut immer wieder neu aus dem Wirklichkeitsgeschehen der Gegenwart verlebendigte und durch den Spielmann zu sozial unterschiedslosem Gemeinbesitz wurde. 32
Mit einer neuen, auf politische Umstände bezogenen Deutung des Nibelungenliedes – Etzel steht in den Augen Nadlers nunmehr für den Ungarnkönig Geisa I. (972-997), den Bischof Pilgrim von Passau mit der „Nibelungennot“ für das Christentum habe gewinnen wollen – bemüht der Literaturhistoriker sich vehement, die Entstehung der Dichtung so fest wie möglich räumlich und geistig an Österreich zu binden und somit eine zur NS-Zeit zentrale deutsche Dichtung für Österreich gewissermaßen in Anspruch zu nehmen. In erster Linie dient diese Konstruktion dazu, die Vorstellung eines bairischen (in diesem Fall: nicht aus österreichischem Gebiet stammenden) Dichters oder zumindest Umdichters des „Nibelungenliedes“ zugunsten der Version einer Entstehung der Dichtung in Passau aus der Feder eines Dichters aus österreichischem Gebiet abzulehnen.33 Ein weiteres Mal wird Österreichs Bedeutung in Verbindung mit der Barockzeit hervorgehoben. Auch das Einführungskapitel zum Barock ist zum Teil neu formuliert worden,34 bringt aber wiederum kaum Neuerungen mit sich – mit Ausnahme des Bezugs auf den nordischen Geist, der sich auch im durch so viele romanische Elemente bestimmten Barock deutlich äußere. Ein weiterer neuer Aspekt ist die Bezeichnung des Habsburgerreichs als Imperium. Dies erhält dadurch Bedeutung, daß in der Neuauflage der „Literaturgeschichte“ nach dem Ende des „germanischen —————— 32 33 34
Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 158. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 148f. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 346-348, die Seiten 347f entsprechen allerdings 1923/1, S. 402-404.
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Weltvolks“ der Völkerwanderungszeit ein historisches Wechselspiel zwischen übervölkischem Imperium und deutschem Volksstaat zu verfolgen ist, der zuletzt in Band vier vom „deutschen Weltvolk“ abgelöst und übertroffen zu werden verspricht. Das barocke Habsburgerreich wird unter Betonung der frühen Einmischung von Germanen in praktisch alle unter dieser Herrschaft zusammengefaßten Gebiete in Spanien, Italien und den Niederlanden implizit als Vorläufer dieses späteren (nationalsozialistischen) deutschen Weltvolks gezeichnet. Allerdings sei der wesentliche Unterschied zwischen den früheren deutschen Staatsformen – worunter neben dem Habsburgerreich in expliziter Weise das Alte Deutsche Reich Karls des Großen und das Neue Reich von 1871 gezählt werden – und dem NS-Staat, daß über die Frage der Zugehörigkeit nicht mehr die Staatsbürgerschaft, sondern die Volksangehörigkeit entscheiden würde.35 In diesen Rahmen wird wenig überraschend auch die Frage des Judentums eingespannt. Bemerkenswerterweise hat Nadler in den Bänden 1-3 der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ kaum Änderungen an Passagen vorgenommen, die jüdische Literaten oder jüdische Kultur behandeln.36 Sehr deutlich läßt sich auch verfolgen, daß persönliche Sympathie oder Antipathie Nadlers sein eigentliches Entscheidungskriterium hinsichtlich der Darstellung jüdischer Dichter war. Dies läßt sich an den Beispielen Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt festmachen, mit welchen der Literaturhistoriker auch in privater Korrespondenz und Bekanntschaft gestanden war. Der Text zu Hofmannsthal ist im Vergleich zu 1928 zwar gekürzt, aber der Hinweis, daß der Dichter väterlicherseits von getauften Juden abstamme, hat keinen Einfluß auf die positive Bewertung seines Werks; auch Borchardt wird unabhängig von seiner jüdischen Abstammung wohlwollend beurteilt.37 Max Reinhardt wiederum wird nicht als Mitbegründer der Salzburger Festspiele neben Hofmannsthal genannt, sein Name findet in der „Literaturgeschichte“ trotz Nadlers großer Begeisterung für das Theater keinen Platz. Die wenigen Änderungen, die Nadler an der Darstellung jüdischer Dichter vornahm, sind schwer in ihrer Bedeutung einzuschätzen, was sich an der Tilgung der positiven Besprechung der Werke Jakob Julius Davids illustrieren läßt: 1928 findet sich die Bemerkung „Vielleicht war David der einzige Jude des deutschen Schrifttums, an dem Seelenlage, Tonfall, —————— 35 36
37
Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 1-6. z. B. auch nicht zum Streit um ein Verbot bzw. die Vernichtung von Schriften wie Talmud und Kabbalah in Köln um 1510, in welcher Nadler Johann Reuchlins Verteidigung dieser jüdischen Schriften neutral behandelt. Nadler: Literaturgeschichte 1939 S. 284f bzw. 1923/1, S. 323f. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 189f bzw. 1928, S. 923f zu Hofmannsthal und 1938/2, S. 646 zu Borchardt.
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Stimmung der geprüften und gemarterten Rasse naturgewaltig durchbrachen.“38 194139 ist an der entsprechenden Stelle im Kapitel „Die Sudetendeutschen“ (S. 149-176) kein Wort mehr zu David zu finden, obwohl laut Register sein Name auf Seite 168 genannt sein sollte. Aufgrund dieses Sachverhaltes ist nicht auszuschließen, daß von seiten des Verlags die entsprechenden Sätze getilgt wurden. Bei weiteren Änderungen, etwa in Hinblick auf die „drei möglichen Lösungen der Judenfrage in Wien“ (vgl. Abschnitt 6.2.4.), wo nunmehr die bildungsbürgerliche oder „deutsche“ Lösung Jakob Wassermanns zur „großstädtischen Lösung“ des Arthur Schnitzler wird,40 ist nicht festzustellen, ob diese auf Nadlers eigene Initiative vorgenommen oder vom Verlag empfohlen bzw. eingefordert wurden. Die implizit vorgenommene Bewertung dieser „Lösungen“, also die Bevorzugung des Zionismus, bleibt jedenfalls erhalten. Es empfiehlt sich auch, in diesem Lichte die Betrachtung einer Stelle der „Literaturgeschichte“ vorzunehmen, die im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens öfter als Beweis für eine NSAnhängerschaft Nadlers zitiert wurde: Die Aussonderung der Juden aus dem deutschen Volksraum ist nur ein Teilereignis in dem umfassenden Geschehnis der deutschen Reichswerdung. Sie folgte ihren eigenen Gesetzen und zog ihre Kraft allein aus dem beharrlichen Lebenswillen der Nation. Sittliche Antriebe, volksgesundheitliche Pflichten, gesellschaftliche Bedingnisse, staatliche Entwürfe durchdringen einander unlösbar zu dem ganzen Werk der deutschen Erneuerung. Der Volkskörper, durch Krieg, Hunger, Krankheit entkräftet, sich selbst entfremdet, konnte nur geheilt werden durch Einsicht in das Wesen volkhafter Lebensvorgänge, durch harten Willen zu den unerläßlichen Mitteln, durch Entschlossenheit zu den äußersten Folgen.41
Es ist verständlich, daß diese Sätze, speziell der letzte, im Nachhinein auf den Holocaust bezogen wurden. Ich möchte allerdings zu bedenken geben, daß Nadler die Aussonderung der Juden explizit auf den deutschen Volksraum bezieht, was auf die Lösung getrennter Wohnräume hindeutet und nicht auf Tötung. Auch bei anderen, nicht minder radikalen Zitaten findet sich ein räumlicher Bezug in unmittelbarer Nähe: Alle europäischen Völker haben, solange sie gesund und eigenständig waren, die Wohngemeinschaft mit den Juden als unwillkommen und gefährlich empfunden. Alle die jung aufstrebenden westeuropäischen Volksstaaten des Mittelalters haben die Juden unter sich bis auf die Wurzeln ausgerottet. Im deutschen Lebensraum haben sie sich diesem Schicksal, als ihr Schutzbedürfnis durch die Kaiser nicht
—————— 38 39 40 41
Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 882. Das 19. Buch „Vom Weltvolk zum Staat“ (Nadler: Literaturgeschichte 1941 S. 9-207) entspricht weitgehend Buch 20 „Die Rechnung“ der zweiten Auflage; Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 804-927. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 189 bzw. 1928, S. 915. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 5.
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mehr befriedigt werden konnte, durch die Rochade vom deutschen Wesen in den deutschen Osten entzogen.42
Verstärkt wird diese Ansicht durch die zuvor wieder angesprochenen „drei Lösungen“ mit der Bevorzugung des Zionismus, sowie die beibehaltene „Delogierung“ von Dichtern und Denkern wie Heine, Börne und Marx. Auch die der eben zitierten Textstelle vorangehenden Zeilen sind aufschlußreich. In diesen beschreibt Nadler in gewohnt unfreundlicher Weise und unter dem Vorwurf des Opportunismus die Wanderungen des „Weltjudentums“, als deren letzte Stufe die – freiwillige! – Wendung aus dem deutschen Sprachraum in die USA angesetzt wird. Nachdem Nadler von der „Aussonderung der Juden“ in einem Zusammenhang spricht, der die Auswanderung der Juden aus freiem (wenn auch nicht den Deutschen wohlgesonnenem) Willen behandelt, läßt die Nadlersche Rede von den „äußersten Folgen“ eher auf eine Vertreibung als auf Vernichtung schließen. Selbstverständlich ist der Kern der Aussage, daß im Sinne der von Lorenz übernommenen Konzepte weitere Mischung von Deutschen und Juden verhindert werden solle, was den Intentionen des NS-Regimes, wie es sich etwa in den „Nürnberger Gesetzen“ ausdrückt, letztlich entspricht. Doch es sei daran erinnert, daß im „Volkskörper“ bei Nadler nur bereits Eingemischtes inbegriffen ist, nicht etwa Juden, die sozusagen noch „rassisch ungemischt“ unter „den Deutschen“ lebten. Wie sich auch an diesem Thema zeigt, behält die Landschaft als ein Teil der doppelten Bindung von Kultur an Abstammung und Raum ihre volle Bedeutung. Die Entstehung von Sagen und damit der ersten Form von Dichtung ist nach wie vor und großteils in den Worten von 1912 ein Ergebnis des „Einwachsens“ der Stämme in die Landschaft.43 In gleicher Weise beeinflussen die unterschiedlichen Landschaften des Mutter- und Siedellandes dem Konzept von 1923 entsprechend maßgeblich die Denkweisen der Klassik und Romantik.44 Auch das Konzept von raumgebundenen Kulturvölkern und nichtseßhaften Naturvölkern bleibt, wie bereits angeschnitten, in der „Literaturgeschichte“ gültig. Die Landschaft ist überdies nach wie vor maßgebliches Kriterium für die Wirtschaftsform eines Raums und Trägerin von Mythen, Erinnerungen an versunkene Völker, Ideen und Gedanken.45 Nicht zuletzt ist sie sogar Trägerin des NS-Gedankenguts: „Diese Landschaft [das deutschsprachige Randgebiet —————— 42 43 44 45
Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 2, Hervorhebung IR. Nadler: Literaturgeschichte 1939, S. 10f bzw. 1912, S. 10f und 1923/1, S. 20f. Nadler: Literaturgeschichte 1938/1, S. 1-3, bzw. weitgehend identisch 1923/2, S. 1-5. Nadler: Literaturgeschichte, z. B. 1939, S. 8, 49; 1938/1, S. 1.
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Nordböhmens] hat zuerst unter allen ihren Schwestern den nationalsozialistischen Gedanken gedacht.“46 An dieser Stelle ist wiederum die bereits an der Darstellung Österreich(-Ungarn)s so deutlich zu verfolgende Neigung Nadlers zu beobachten, Landschaften, mit denen er sich verbunden fühlt, einen besonderen Status zukommen zu lassen. So betont er die Herkunft nationalsozialistischer Gedanken aus dem Sudetenland, speziell seiner engeren Heimatlandschaft Nordböhmen.47 Dies ist gleichzeitig ein deutliches Zeichen dafür, daß Nadler den Nationalsozialismus nicht von sich distanziert, sondern ganz im Gegenteil ein persönliches Naheverhältnis dazu herstellt. Gemäß seines Konzepts der doppelten Gebundenheit an Abstammung und Raum, das für Einzelpersonen gleichermaßen gilt und der Literaturhistoriker wohl auch auf sich selbst anwandte, schreibt er sich praktisch selbst in die Geistesgeschichte des Nationalsozialismus ein. Dies impliziert jedoch gleichzeitig, daß Nadler den Nationalsozialismus aufgrund seiner Herkunft (selbst wenn er zur Zeit der Formulierung nationalsozialistischen Gedankentums nicht mehr in seiner Heimat lebte) mitbesitze und begreife, wodurch es ihm nicht von außen übermittelt werden müsse. Letztendlich stilisiert Nadler sich selbst implizit zu einer Autorität in Sachen nationalsozialistischen Gedankenguts, die nicht von anderen belehrt werden muß bzw. kann, sondern Anspruch darauf erhebt, selbst berufener Lehrer des Nationalsozialismus zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt müssen Nadlers Ausführungen zum Nationalsozialismus genauer betrachtet werden: „Glaube, Wille und Ordnung des nationalsozialistischen Werkes sind darauf gerichtet, aus dem Volkskörper alle fremdrassischen Lebenszellen auszustoßen sowie dem ursprünglichen volkhaft-germanischen und rassisch-nordischen Binnenkern seine Vormacht zurückzugeben.“48 Daneben sei die zweite große Tat des „nationalsozialistischen Werkes“ die Neuschöpfung des Reichs; beiden Taten führten über das 19. zurück ins 18. Jahrhundert ...wo mit einem und demselben Schwunge der Kampf um die germanische Erneuerung des deutschen Volkskörpers und des Deutschen Reiches einsetzte. Diese leibliche und geistige Wiedererweckung des naturhaften Urwesens des deutschen Volkes, die zugleich Verjüngung und Wachstumsreife ist, setzt in einem Mittelpunkt ein, dort, wo der Führer erweckt wurde und zu handeln begann.49
—————— 46 47 48 49
Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 490. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 212 und 490. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 213. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 213. Der angesprochene Mittelpunkt ist nach S. 232 zu schließen wieder einmal im katholischen Süden des deutschsprachigen Raums, speziell in Wien und München gelegen.
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Zentral für das 18. und 19. Jahrhundert sind allerdings die höchste Ausbildung von Klassik und Romantik und damit die Wiedergewinnung von Germanentum, Antike und deutschem Mittelalter zu gleichen Anteilen. Selbst wenn die höchste Ausformung einer Bewegung bei Nadler immer gleichzeitig ihr Ende bedeutet, bleibt der Gewinn dieser Bewegungen stets aufrecht. Werden die Ziele der nationalsozialistischen Bewegung in dieser Weise mit den älteren Vorgängen der Geschichte des deutschen Volkes in Beziehung gesetzt, schließt der Nationalsozialismus in der „Literaturgeschichte“ anders als der Nationalsozialismus der NSDAP neben dem Germanentum auch noch Antike und deutsches Mittelalter ein, was bei Nadler untrennbar mit katholischem Christentum verbunden ist. Verkürzt ließe sich sagen, daß Nadler den Nationalsozialismus kaum vom Nationalismus der Romantik und des späteren 19. Jahrhunderts trennt, sondern ihn als Erneuerung dieser Bewegung ansieht. Der einzige wesentliche Unterschied liegt für ihn darin, daß die nationalsozialistische Bewegung nicht bei der Befreiung von Fremdherrschaft und dem Ziel eines deutschen Staats stehen bleibe, sondern auf den Zusammenschluß aller auf der Grundlage ihrer Abstammung zum deutschen Volk gehörigen (das heißt: als zugehörig erachteten) Menschen sowie auf die Rückgewinnung oder Eroberung ihrer Wohngebiete und damit auf die Errichtung eines Imperiums für das den vierten Band als Schlagwort begleitende „deutsche Weltvolk“ ziele. Dies fügt sich nahtlos in die Nadlersche Teleologie des anwachsenden deutschen Nationalbewußtseins ein – umso mehr, als in der „Literaturgeschichte“ nach 1918 nicht mehr das Nationalbewußtsein allein, sondern ein einheitlicher deutscher Staat oberster Telos ist. Auf dieser Grundlage kommt es auch zu keinem Konflikt zwischen dem immer noch vorhandenen Konzept der „Verbürgerlichung“ der Literatur und dem Status der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei – ausschlaggebend ist die Zielrichtung auf den deutschen Volksstaat im Sinne eines völkisch fundierten Staats aller Deutschen. Diese Teleologie der „Literaturgeschichte“ ist in keiner Weise von der Tagespolitik abgehoben. Neben der deutlich legitimatorische Absichten verfolgenden Darstellung der nationalsozialistischen, auf die „Heimholung“ deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen ins Reich zielenden Eroberungspolitik wird Tribut an (noch) nicht veränderte politische Tatsachen gezollt. So steht der forcierten Darstellung etwa der Niederlande und des flämischen Teils Belgiens als völkisch den Deutschen zugehörig eine gleichmäßig rationale Darstellung der Eidgenossenschaft gegenüber, deren Eigenstaatlichkeit trotz leiser Kritik am Festhalten daran nicht angetastet wird. Was die Frage von völkischen Ideologemen betrifft, so ist bereits in den 1920er Jahren durch den Schwenk zur stammeskundlich-völkischen
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Literaturgeschichtsschreibung große Nähe zwischen nationalsozialistischen Vorstellungen und Konzepten Nadlers entstanden. Dies betrifft auch die Bevorzugung des Bauerntums bzw. des Landes vor der Großstadt und die Betonung der Rolle der Frau als Mutter.50 Die Vermeidung von Mischung mit anderen Völkern ist auch in der „Literaturgeschichte“ Grundvoraussetzung für die anstehende „Erneuerung“ und Stärkung des deutschen Volkes. Jedoch muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß diese Vermeidung von Mischung in Nadlers Theorien erst ab dem Zeitpunkt Gültigkeit besitzt, als die räumliche Expansion des deutschen Volkes zu einem Stillstand gekommen ist. Erst dieser Stillstand ist in der „Literaturgeschichte“ Zeichen dafür, daß eine Zeit der Konsolidierung unter konsequenter Befolgung des Ebenbürtigkeitsprinzips notwendig sei. Nicht zuletzt gewinnt in der Darstellung des vierten Bandes von 1941 das deutsche Volk aus seiner Konsolidierung heraus wieder die Kraft, räumlich zu expandieren, bzw. seine Siedelgebiete wiederum staatlich zu einen. Das Konzept von Völkermischung an sich ist immer noch Grundprinzip der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung, die Mischung mit Romanen und Slawen immer noch das zentrale Moment der deutschen Geistesgeschichte. Und genau dieses Konzept ist mit nationalsozialistischen Ideologemen von einer reinen germanischen Rasse oder allenfalls untereinander vermischten germanischen Rassen unvereinbar. Aus diesen Gründen steht Nadler nach wie vor abseits von Germanomanie, weil in der „Literaturgeschichte“ „der Germane“ mehr Vorfahre denn beispielgebendes Urbild und überdies nur eines unter drei Elementen des Deutschtums darstellt. Zudem ist zu bemerken, daß das Konzept von Ariertum bei Nadler keine Rolle spielt; die einzige Erwähnung findet der Terminus nach wie vor in der Unterscheidung zwischen „arischem“ und „semitischem“ Morgenland. Auf der Grundlage der vorgenommenen Analysen läßt sich festhalten, daß Nadler letztlich keine der im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Ideologemen problematischen Facetten seiner „Literaturgeschichte“ einer wesentlichen Änderung unterzogen oder gar getilgt hätte: für ihn ist die Mischung von Deutschen mit anderen Völkern bzw. Rassen unter jeweils unterschiedlichen territorialpolitischen Voraussetzungen Grundlage der deutschen Kultur, nicht die Kontinuität einer nordischen Rasse; der Deutsche ist in seinem Werk immer Christ bzw. Katholik, womit das germanische Heidentum keine übergeordnete Rolle spielt; der Südwesten des deutschen Sprachraums ist maßgeblicher Träger der deutschen Kultur, nicht der Norden oder Osten. Dennoch läßt sich aus diesen Befunden —————— 50
z. B. Nadler: Literaturgeschichte 1938/1, S. 27 (ebenso in Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Schweiz, S. 270) und 1941, S. 261-270, wo Mann/Soldat und Frau/Mutter bezüglich ihrer Dichtungen gegenübergestellt werden.
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nicht ableiten, daß Nadler dem Nationalsozialismus ablehnend gegenübergestanden wäre. Schließlich ordnet er ihn als notwendigen Endpunkt seiner Teleologie in die „Literaturgeschichte“ ein, teilt seinen Antisemitismus und begrüßt dessen Bemühungen um eine gegenwärtige Reinerhaltung des „deutschen Volkskörpers“. Diese Elemente waren in der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung allerdings bereits vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten vorhanden und sind keineswegs als Neuerung in die vierte Auflage eingeflossen. Selbst wenn Nadler die nationalsozialistische Eroberungsund Einigungspolitik nicht hatte voraussehen können, ist die Forderung nach einer solchen politischen Entwicklung implizit in der „Inventur“ von 1928 enthalten. Angesichts dessen sowie Nadlers Verhalten hinsichtlich des RDS und der Richtlinien des Propyläen-Verlags sowie unter Einrechnung der landschaftlichen Lokalisierung nationalsozialistischen Gedankenguts, die der Literaturhistoriker vornahm, ist darauf zu schließen, daß Nadler die Machtergreifung und Politik der Nationalsozialisten als Bestätigung, wenn nicht sogar als Aufnahme eigener Gedanken auffaßte und sich selbst als Prophet dieser Entwicklung sah. Aus der Haltung, daß die nationalsozialistische (Territorial)Politik den Vollzug der von ihm als adäquat erachteten geschichtlichen Entwicklung bedeute und der Ansicht, bereits vor der Ära des Nationalsozialismus dessen „wissenschaftlichen“ Grundlagen vorgearbeitet zu haben, erklärt sich sowohl Nadlers Empfinden von 1938, die NSDAP sei ihm die Aufnahme schuldig, als auch die Schwierigkeiten, die der Literaturhistoriker zwischen 1938 und 1945 mit NS-Gremien hatte: er fühlte sich als Schöpfer von oder zumindest Autorität für nationalsozialistisches Gedankengut und übersah dabei die Unvereinbarkeit mancher seiner Anschauungen mit dem Nationalsozialismus der NSDAP. Anspruch und Realität klafften auseinander, was zur Ablehnung der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung durch mehrere maßgebliche nationalsozialistische Gremien und als Folge davon zur Entfremdung Nadlers vom Nationalsozialismus führte. 1933 und auch noch 1938 war Nadler wohl im eigenen Verständnis Nationalsozialist. Im Verlauf der Zeit bis 1945 erkannte der Literaturhistoriker aufgrund des Umgangs nationalsozialistischer Gremien mit seiner Person und seinem Werk die Abweichung in manchen Meinungen und konnte nach dem Ende der NS-Herrschaft aus seiner Sicht mit Recht behaupten, im Verständnis offizieller nationalsozialistischer Stellen nie Nationalsozialist gewesen zu sein. Diesem Thema werden die anschließenden Betrachtungen gewidmet.
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9.2. Die Auffassung von stammeskundlich-völkischer Literaturgeschichtsschreibung zur NS-Zeit Nachdem im vorigen Abschnitt die vierte Auflage des Nadlerschen Hauptwerks analysiert wurde, deren Änderungen im Vergleich zu den vor der NS-Zeit erschienenen Auflagen sich als gering bzw. oberflächlich erwiesen haben, ist nun die Frage zu stellen, welche Auswirkungen die geänderten politischen Umstände auf die Rezeption der stammeskundlichvölkischen Literaturgeschichtsschreibung hatten. In Ergänzung der soeben begonnenen Betrachtungen über Nadlers Verhältnis zu NS-Gremien wird ein Abschnitt diesen Aspekt sozusagen von bürokratischer Seite her gesehen skizzieren, vor allem als Grundlage für die Ausführungen zur Entnazifizierung im nächsten Kapitel. In Ergänzung der entsprechenden früheren Abschnitte schließt daran die Analyse des Zeitungs- und disziplininternen Echos zur „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ an. 9.2.1. Die „offizielle Seite“ – Nadler und NS-Gremien Josef Nadler gehörte schon zur Zeit des österreichischen Ständestaats zu den prominentesten Universitätsprofessoren der Universität Wien. Seine politische Haltung in der Zeit vor dem Anschluß Österreichs an NSDeutschland gemahnt an manche Züge seiner „Literaturgeschichte“, was das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland betrifft. Einerseits galt Nadler als großdeutsch eingestellt und unterstrich dies auch durch die Mitgliedschaft im Österreichisch-Deutschen Volksbund sowie später durch seine Mitarbeit an der Zeitschrift „Die Warte“. Andererseits wurde aufgrund seines nachdrücklichen Bekenntnisses zum Katholizismus und seinem Eintreten für die Anerkennung der kulturellen Leistungen Österreichs seine Treue zum Ständestaat nie ernsthaft in Frage gestellt. Diese Zwiespältigkeit hinsichtlich der politischen Einstellung Nadlers durchzieht auch die gesamte NS-Zeit und nicht zuletzt als Folge davon ebenso die Zeit nach 1945. Die Thematik „Nadler und Nationalsozialismus“ ist in Hinblick auf die Parteimitgliedschaft bereits auf der Grundlage von Aktenmaterial umfassend bearbeitet worden und wird deshalb hier nur kurz abgehandelt. 51 Die Aufnahme Nadlers in die NSDAP erfolgte im Rahmen der „Erfassungsaktion“ – die bevorzugte Verleihung von Parteimitgliedschaften an —————— 51
Vgl. Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus, bes. S. 37-39 und S. 61-63; sowie: Meissl: Germanistik in Österreich, Ders.: Wiener Ostmark-Germanistik.
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Österreicher, die sich vor 1938 für den Nationalsozialismus eingesetzt hatten – unter der Mitgliedsnummer 6,196.904 mit dem formalisierten Eintrittsdatum 1. 5. 1938. Schon aus der NS-Zeit selbst stammendes Quellenmaterial dokumentiert die Unklarheit darüber, auf welcher Grundlage Nadlers Aufnahme in die NSDAP erfolgt war. Nadler selbst gab 1945 an, aufgrund seiner Mitgliedschaft im Österreichisch-Deutschen Volksbund ohne sein Zutun in die NSDAP aufgenommen worden zu sein. Doch aus Archivdokumenten ließ sich erschließen, daß der Literaturhistoriker erstens bei der Wiener Gauleitung mit Hinweis auf seine Arbeit und Persönlichkeit seine Aufnahme in die Partei urgierte und diese zweitens erst aufgrund der Befürwortung von der Wiener Kreisleitung IX und der Ortsgruppenleitung Gatterburg erfolgt war – der wiederum ablehnende Bewertungen der Person Nadlers durch die Kreisleitung VIII und die Ortsgruppe Oberdöbling vorausgegangen waren.52 Es zeichnet sich also bereits an dieser kurzen Skizze ab, daß seitens der NSDAP keine einheitliche Meinung darüber bestand, wie Nadler einzuschätzen sei und wie ihm begegnet werden sollte. Die widersprüchlichen Meinungen und Stellungnahmen ziehen sich dabei durch sämtliche Stufen der NS-Hierarchie bis hin zur Unterstützung Nadlers durch Reichserziehungsminister Bernhard Rust und der Ablehnung des Literaturhistorikers durch Propagandaminister Joseph Goebbels und den Parteiideologen Alfred Rosenberg. Der in Abschnitt 9.1.2. festgehaltene Befund, daß Nadler sich selbst als Autorität in Sachen nationalsozialistischer Gesinnung sah, wird durch mehrere Stellungnahmen des Literaturhistorikers untermauert. Denn diese geben ein deutliches Bild davon, wie Nadler seine Ansichten von „Nationalsozialismus“ ganz und gar nicht der offiziellen, parteiinternen Auffassung von „Nationalsozialismus“ unterordnete oder gar anpaßte, sondern ganz im Gegenteil Parteigremien zur Feststellung herausforderte, ob er nun nationalsozialistische Gesinnung vertrete oder nicht. Mit der Gegenüberstellung eines „Nadlerschen“ und eines „offiziellen“ Nationalsozialismus soll hier nicht suggeriert werden, daß seitens nationalsozialistischer Parteistellen Einigkeit über eine solche „offizielle“ NS-Ideologie bestand. Ausschlaggebend ist hier, daß Nadler mit seiner Betonung von Konfession, Völkermischung und Stamm deutlich abseits maßgeblicher nationalsozialistischer Ideologeme stand, über die weitgehend Einigkeit herrschte. Diese Forderungen Nadlers an NS-Gremien, zu seinem Werk Stellung zu beziehen, beginnen schon mit der Frage des Parteieintritts: in einem mit 22. Juli 1938 datierten Brief urgierte Nadler bei der Gauleitung Wien unter Hinweis auf seine Mitgliedschaft im Vorstand des ÖsterreichischDeutschen Volksbundes seine Aufnahme in die NSDAP und setzt fort: —————— 52
Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 38f.
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Es widerstrebt mir, über diesen sachlichen Verhalt hinaus auch nur ein weiteres Wort über meine Tätigkeit seit 30 Jahren anzudeuten. Ich habe das Recht auf eine baldige und klare Erledigung, da mir niemand den Anspruch darauf bestreiten kann, unter der Gruppe B jetzt in die Partei aufgenommen zu werden. Falls Unklarheiten bestehen sollten, so bitte ich Sie, mir Gelegenheit zu geben, von diesen Unklarheiten zu hören und sie zu zerstreuen. Auch darauf habe ich als deutscher Mann Anspruch. 53
So wie Nadler hier forderte, „Unklarheiten“ über sein Recht, in die NSDAP aufgenommen zu werden, „zerstreuen“ zu dürfen – nach dem Wortlaut seines Briefes zweifelte er nicht im geringsten an seinem diesbezüglichen Erfolg – hat er nach der Aktenlage zu schließen mehrmals Genugtuung bei der Partei gegen Angriffe auf seine Person bzw. Arbeit und gegen Zweifel an seiner nationalsozialistischen Gesinnung gesucht. Zu einem solchen Fall findet sich im Gauakt ein langes Schreiben Nadlers an Edgar Traugott. Dieser, Herausgeber der Zeitschrift „Zeitgeschichte. Österreichisches Monatsblatt für deutsche Erneuerung“, hatte den Literaturhistoriker in einem Artikel gemeinsam mit den Universitätsprofessoren Othmar Spann, Hans Eibl und Heinrich von Srbik in eine „Wiener Schule“ eingereiht. Deren Vertreter hätten sich vor 1938 in den Augen Traugotts zwar nationalsozialistisch gegeben, seien aber bei genauerem Hinsehen konfessionell und universalistisch statt völkisch auf der Grundlage von Rassenkunde gerichtet gewesen. Nadler nimmt dazu und zu Traugotts Bezug auf den Artikel von Hans W. Hagen (dazu ausführlicher in Abschnitt 9.2.2.) folgendermaßen Stellung: Sie weisen auf einen Artikel des Hans W. Hagen in der „Weltliteratur“ hin. Ich wünsche Sie dahin unterrichtet, dass bezüglich dieses Artikels ein parteiamtliches Verfahren schwebt. Falls mir dieses keine Genugtuung bringt, so werde ich, wie angekündigt, Herrn Hagen und die Schriftleitung wegen öffentlicher Beleidigung und Verleumdung vor Gericht klagen. Wer also diesen Artikel empfehlend weiterverbreitet, macht sich seinen Inhalt zu eigen und muss gewärtigen, dass ich ihn als Weiterverbrecher in das Strafverfahren mit einbeziehe. [...]
—————— 53
BDC Parteikorrespondenz Nadler Josef, 23. 5. 1884: Schreiben Nadlers an den Gauleiter von Wien am 22. 7. 1938. „Gruppe B“ bezeichnet hier die Erfassung der aufgrund der Verbots der NSDAP in Österreich zwischen 1933 und März 1938 „illegalen“ Parteiangehörigen; vgl. BDC Parteikorrespondenz Nadler Josef, 23. 5. 1884: Schreiben von Kreisleiter Slupetzky an Nadler, undat. „In Erledigung Ihres Schreibens vom 22. 7. 1938, an den Gauleiter Globocnig, teile ich Ihnen mit, daß die Aktion der Personal-Fragebogen ausschließlich nur Pg [Parteigenossen] betrifft, die schon zur Verbotszeit Mitglieder waren oder während der Verbotszeit als Mitglieder ihre Beiträge ununterbrochen bezahlten. Nach Abschluß dieser neuerlichen Erfassung wird für verdienstvolle Vg. [Volksgenossen] eine Auflockerung der Mitgliederaufnahme erfolgen, für die Sie dann auf jeden Fall in Frage kommen.“ Mit seiner Parteimitgliedsnummer 6,196.904 wurde Nadler tatsächlich im Rahmen jener „Auflockerung“ aufgenommen, da die Mitgliedsnummern zwischen 6,100.000 und 6,600.000 für nicht „illegale“ Österreicher reserviert worden waren, die sich um den Nationalsozialismus verdient gemacht hatten.
Auffassung von stammeskundlich-völkischer Literaturgeschichtsschreibung
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Sie mussten also wissen und durften nicht verschweigen, was unbestreitbare Tatsache ist: dass nämlich mein Werk seit Herbst 1911 die erste und bis heute einzige deutsche Geistesgeschichte auf biologischer blutmässiger Grundlage ist und sich von allem Anfange an scharf gegen des [sic] jüdische Schriftwesen gewendet hat. [...] Ich erwarte daher von Ihnen ein männliches und klares Wort, ob Sie meine nationalsozialistische Gesinnung in Zweifel ziehen wollen oder nicht. Denn den Eindruck, dass das geschehen sollte, muss jeder Leser Ihres Blattes haben.54
Aus diesem Brief geht auch hervor, daß Nadlers Kritiker ihm seine in Abschnitt 9.1.2. zitierte Stellungnahme vor Gericht anläßlich der Klage gegen Oskar Benda zum Vorwurf machten. Das Hauptaugenmerk liegt in dieser Analyse allerdings auf der Tatsache, daß der Literaturhistoriker im Falle von in seinen Augen ungerechtfertigter Kritik an seinem Werk und seinen Ansichten seitens der NSDAP eine Entscheidung darüber forderte, ob seine stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung nun mit nationalsozialistischer Gesinnung übereinstimme oder nicht. Und genau über diese Frage herrschte in den NS-Gremien keine einheitliche Ansicht, wie sich exemplarisch anhand der Diskussionen um die Verleihung des Mozart-Preises festhalten läßt. Dieser Preis war Nadler 1940 von der JohannWolfgang-von-Goethe-Stiftung zuerkannt worden, doch trotz Befürwortung durch den Wiener Gauleiter Baldur von Schirach und maßgeblicher Unterstützung durch den Rektor der Universität Wien, Fritz Knoll, konnte die Verleihung gegen den Widerstand von Propagandaminister Joseph Goebbels nicht durchgesetzt werden.55 Sie erfolgte erst 1952. Ausschlaggebend für die Ablehnung Nadlers war in erster Linie sein katholisches Bekenntnis, festgemacht an Mitgliedschaften in der Prager CV-Verbindung „Ferdinandea“ und in der Görres-Gesellschaft sowie an Nadlers Beteiligung an den Salzburger katholischen Hochschulkursen. 56 Anläßlich der Verleihung des Mozart-Preises 1952 wurde festgehalten, in Goebbels Augen habe Nadler sich „...1. als zu katholisch, 2. als zu spezifisch österreichisch, 3. in seiner Literaturgeschichte als zu sehr stammesmäßig gebunden erwiesen.“57 An der Mitgliedschaft im CV scheiterte auch —————— 54 55 56 57
ÖStA AdR, Gauakt Josef Nadler Nr. 4867, Schreiben Nadlers an Edgar Traugott am 29. 4. 1941. UAW PA Nadler, GZ 417 aus 1941/42 und GZ 182 aus 1944/45: Amtsvermerk vom 30. 7. 1945, betrifft Nadler. Es handelt sich um eine Aufstellung des Schriftverkehrs zu den Bemühungen um die Verleihung des Mozart-Preises an Nadler. An welchen Nadler sich nach eigener Aussage nur 1933 beteiligte, solange diese Kurse „großdeutsch gerichtet“ gewesen seien. ÖStA AdR, Gauakt Josef Nadler Nr. 4867, Schreiben Nadlers an Edgar Traugott am 29. 4. 1941. v. Klebelsberg, Raimund: Ansprache des seinerzeitigen Vorsitzenden des Kuratoriums für den Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis. In: Gedenkschrift zur Verleihung des WolfgangAmadeus-Mozart-Preises 1940 der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Stiftung an Prof. Dr. Josef Nadler 1952, S. 5.
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1939 die Aufnahme des Literaturhistorikers in die Preußische Akademie der Wissenschaften.58 Da Nadler 1938 trotzdem in die NSDAP aufgenommen worden war, es keine Hinweise darauf gibt, daß er in Gefahr gewesen wäre, seinen Lehrstuhl zu verlieren und ihm zumindest zu Anfang der NS-Herrschaft in Österreich Vortragsreisen möglich waren, 59 wären diese Kritikpunkte allein wohl nicht ausschlaggebend für die Verhängung eines Parteiausschlußverfahrens gewesen. Von größerer Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die ständigen Eingaben Nadlers an die NSDAP zur Verteidigung seines Werks und seiner Ansichten. Dafür gibt ein Brief Martin Bormanns an Baldur von Schirach klare Anhaltspunkte: Ich habe dem Führer, der unlängst die im Propyläen-Verlag erschienene Literaturgeschichte Ndlers [sic] durchsach [sic], über Herrn Nadler Bericht zu erstatten. Zu meinem grossen Erstaunen stellte ich fest, dass Nadler schon vor Aufnahme Ihrer Wiener Tätigkeit in die Partei aufgenommen wurde. Nach meiner Auffassung müssten wir uns nun auf folgenden Standpunkt stellen: Die von dem Professor Dr. Josef Nadler vorgebrachten Beschwerden über den Herrn Reichsminister für Wissenschaft und den Herrn Reichsminister für Propaganda sind rein fachliche Angelegenheiten, die das Interesse der NSDAP nicht berühren. Es ist nicht Aufgabe der Parteigerichte, Entscheidungen der Reichsminister über ehrenvolle Berufungen oder Auszeichnungen für Verdienste um die Wissenschaft einer Nachprüfung zu unterziehen. Eine Erörterung über die von Professor Nadler vorgebrachten Beschwerden ist daher abzulehnen. Eine im Zusammenhang mit diesem Verfahrensantrag durchgeführte Nachprüfung der Aufnahme des Professor Dr. Nadler in die Partei hat ergeben, dass bei Professor Nadler zur Zeit seiner Mitgliedsaufnahme nicht die Voraussetzungen vorlagen, die für seine Aufnahme in die Partei Bedingung waren, da er sich in der Kampfzeit öffentlich von der nationalsozialistischen Weltanschauung ausdrücklich distanziert hat. Dies ist insbesondere durch die Klage Professor Nadler gegen Hofrat Benda im Jahre 1935 und den Prozessverlauf als erwiesen anzusehen. Es war daher erforderlich, die Aufnahme rückgängig zu machen und Professor Nadler ehrenvoll aus der Partei zu entlassen.60
Ganz offensichtlich beabsichtigte man seitens der NSDAP keineswegs, Nadlers wissenschaftliches Werk tatsächlich auf dessen Übereinstimmung —————— 58 59
60
Dainat, Holger: Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft 1933-1945. In: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Hrsg.: Ders., Danneberg, S. 55-86. In einem Brief bittet Nadler das Dekanat um Urlaub für Vorträge am 17. 6. 1938 auf der Tagung des Deutschen Auslandsinstitut in Stuttgart, am 20. 6. 1938 am DeutschFranzösischen Kongreß auf Einladung der Parteistelle Ribbentrop, am 15. 6. 1938 am Arbeitslager des Kulturamts der Reichsjugendführung; AUW PA Nadler, D-Zl. 952 [1937/38], Schreiben Nadlers an das Dekanat am 26. 5. 1938. Erst später sind ihm manche Vortragsreisen untersagt worden, etwa eine nach Italien; ebd. D-Zl. 1134-1939/40. ÖStA AdR, Gauakt Josef Nadler Nr. 4867, Schreiben Bormanns an von Schirach am 25. 2. 1944.
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mit NS-Ideologie hin zu prüfen, sondern die Angelegenheit als reine Formalsache im Rahmen von Parteimitgliedschaftswesen zu erledigen. Eine solche Vorgangsweise deutet darauf hin, daß die ideologischen Bedenken gegen Nadlers Werk nicht groß genug waren, um sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen – sonst wären weit härtere Konsequenzen vom Verlust des Lehrstuhls bis hin zu einem Gerichtsverfahren in Betracht gezogen worden – sondern man sich vielmehr Nadlers Forderungen um Beurteilung seiner Schriften in Hinblick auf deren NS-Konformität entziehen wollte. Für Nadler hingegen bedeutete dieser Schritt wohl das von ihm eingeforderte Urteil über seine „Literaturgeschichte“: sie war demnach nicht nationalsozialistisch. Und auf diese „Entscheidung“ baute er seine Verteidigung im Rahmen der Entnazifizierung nach 1945 auf. 9.2.2. Literaturwissenschafter und Journalisten Manche Grundlinien der Rezeption von Nadlers „Literaturgeschichte“ lassen sich auch in der Auseinandersetzung mit der vierten Auflage weiterverfolgen. So gibt es immer noch zahlreiche Stellungnahmen, welche die synthetische Gesamtleistung der stammeskundlichen Betrachtungsweise über die Bewertung der Ausführung von Einzelheiten stellen und welche die gleichmäßige Behandlung auch weniger bedeutender Dichter besonders begrüßen.61 Weiters wird die lebendige Darstellung nach wie vor lobend hervorgehoben, nun allerdings noch übertroffen von der Beachtung für die prachtvolle Gestaltung der Bände mit Bildern und Reproduktionen von Handschriften und Titelblättern.62 Von journalistischer Seite – also von jenen Rezensenten, die nicht zumindest in Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender verzeichnet sind – ist ein weiteres Mal uneingeschränktere Zustimmung zu verzeichnen, aber nunmehr auch eine weniger genaue inhaltliche und konzeptuelle Kenntnis der stammeskundlichen —————— 61
62
Beißner, Friedrich: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In: Geistige Arbeit V/23 (1938), S. 6; Kutzbach, Karl August: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit. In: Die neue Literatur 40 (1939), S. 13; Oppel, Horst: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte. In: Helicon 3 (1941), S. 169-173; Obenauer, Karl Justus: Josef Nadler. Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 18 (1942), S. 146. z. B. o.N.: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Von Josef Nadler. In: Mein Heimatland 26/3 (1939), S. 326 [dieser Text zitiert eine Rezension von Wilhelm Stapel in der Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ vom Dezember 1938]; Stephan, Heinz: Eine literarische Großtat. Der Abschluß von Nadlers Literaturgeschichte. In: Dresdner Neueste Nachrichten 2. und 3. 4. 1942, S. 4; Kutzbach, Karl August: Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Die neue Literatur 43 (1942), S. 105-109.
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Literaturgeschichtsschreibung als unter Nadlers Fachkollegen.63 In einem Fall ist sogar fraglich, ob der Rezensent seinem Text tatsächlich die Neuauflage zugrunde gelegt hat. Denn Friedrich Heinz Beyer64 orientiert sich zunächst ohne entsprechenden Nachweis an Werner Mahrholz’ Einschätzung, Nadler sei romantischer Geschichtsphilosoph und verstünde Stamm und Landschaft als reale geistige Einheiten und schließt überdies Ausführungen über die „Verdeutschung“ von Seele und Erde in seinen Beitrag ein. Während spätestens mit der Berücksichtigung von Rassentheorien die Bezeichnung Nadlers als romantischer Geschichtsphilosoph mehr als fragwürdig wird, findet der Begriff „Verdeutschung“ in der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ keine Anwendung mehr. So entsteht der Eindruck, als seien die Angaben über die Ausstattung der vierten Auflage dem Verlagsprospekt entnommen und der übrige Text anhand einer früheren Auflage erarbeitet worden. Dies sagt in einer aus dem Jahr 1939 stammenden Rezension allerdings viel darüber aus, wie stark schon die vor 1933 erschienenen Fassung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als mit dem Nationalsozialismus vereinbar aufgefaßt werden konnten und wurden. In einem anderen Fall wird die „Literaturgeschichte“ als jenes Werk gesehen, das „...der Literaturgeschichtsschreibung in dem durch die nationalsozialistische Weltanschauung heraufgeführten Umbruch der Wissenschaft entscheidende Impulse“65 gegeben habe. Besonders deutlich tritt nun in vielen Rezensionen die Ansicht hervor, daß Nadler weniger die Geschichte der deutschen Literatur als die Geschichte der deutschen Stämme oder des deutschen Volkes schreibe, 66 allenfalls „im Spiegel“ des deutschen Schrifttums.67 Hinsichtlich der Bewertung dieser Feststellung besteht allerdings keine Einigkeit. Außerhalb der Sphäre der Universitätsgermanistik stehende Autoren begrüßen diesen Aspekt nach wie vor als von Nadler neu in die Literaturgeschichtsschreibung eingebrachte Betrachtungsweise.68 Doch auch unter den Germanisten finden sich Stimmen, welche diese weitere Annäherung der Literaturgeschichtsschreibung an die Geschichte des deutschen Volkes durchaus gutheißen. Als Beispiel ist Friedrich Beißner zu nennen, der überdies in —————— 63 64 65 66 67 68
z. B. o.N.: Literaturgeschichte des deutschen Volkes; Stephan: Eine literarische Großtat. Beyer, Friedrich Heinz: Die Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Josef Nadlers Werk in Neuausgabe. In: Deutschlands Erneuerung 23 (1939), S. 499-502. Stephan: Eine literarische Großtat. Oppel: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 169; Stephan: Eine literarische Großtat; Kutzbach: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit, S. 14; Kutzbach: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 109. Beißner: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Stephan: Eine literarische Großtat; o.N.: Literaturgeschichte des deutschen Volkes.
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positiver Beurteilung die Umgestaltung der Leitgedanken der „Literaturgeschichte“ in Orientierung an der „nordischen Rasse“ und die gesamte noch stärker auf die wesentliche Idee ausgerichtete Darstellung festhält.69 Einige Fachkollegen Nadlers neigen allerdings dazu, unter dieser Vorgehensweise eine Vernachlässigung der Dichtung und ihres Kunstcharakters gegeben zu sehen, da die Dichtung als reines Belegmaterial herangezogen werde oder zumindest die Gefahr dazu bestehe.70 Mitunter scheint hier – wie schon bei Paul Böckmann 192971 – der Impuls eine Rolle zu spielen, gegenüber Nadlers nach wie vor beträchtlichem Prestige die Bedeutung eigener Ansätze absichern oder heben zu wollen. Angesichts des immer noch gültigen Status des Nadlerschen Werks als einzige von einem Universitätsprofessor stammende Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte und ihrer bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft weitgehend akzeptierten völkischstammesgeschichtlichen Grundlegung war es jedoch kaum mehr möglich, die Überlegenheit eines germanistischen Ansatzes über den Nadlerschen mit innerdisziplinär orientierten Argumenten zu behaupten. Dementsprechend wird die Kritik an der untergeordneten Bedeutung der Dichtung in der „Literaturgeschichte“ nicht zum Anlaß genommen, Nadlers Konzepte in Frage zu stellen, sondern vielmehr sein Ansatz als Beginn einer neuen Wissenschaft gewissermaßen aus der Germanistik oder zumindest deutschen Literaturwissenschaft weggelobt. Am deutlichsten wird diese Intention am ausführlichen Beitrag Gisela von Busses,72 der sich, nach seinem Erscheinungsjahr 1938 zu schließen, noch auf die dritte Auflage der „Literaturgeschichte“ stützte. In ihren Augen ist es Nadlers Anliegen, die historische Entwicklung des deutschen Volkes nachzuzeichnen, wobei Politik und Literatur so eng ineinandergriffen, daß sie eigentlich eins wären.73 Aufgrund seiner Berücksichtigung der leiblich-irdischen Natur des Volkes neben dessen geistiger und der daraus resultierenden Zwischenstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften habe Nadler eine neue Wissenschaft begründet: die Kunde von der Geschichte und dem Wesen des deutschen Volkes.74 Damit wird Nadlers Bedeutung zwar keineswegs geschmälert, sondern unter Umständen sogar —————— 69 70
71 72 73 74
Beißner: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. von Busse, Gisela: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. Betrachtungen zu Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: DVJS 16 (1938), S. 269; Kutzbach: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit, S. 16; Oppel: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 172. Böckmann: Der deutsche Staat 1814-1914; vgl. 7.1. v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes, S. 258-292. v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes, S. 265 und 273. v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes, S. 280.
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erhöht, seine Arbeit aber tendenziell aus der Germanistik in einen eigenen, außer Konkurrenz mit der Herkunftsdisziplin stehenden Bereich ausgegliedert. In Übereinstimmung damit steht auch die Tatsache, daß Nadler in keiner der hier bearbeiteten Rezensionen in eine bestimmte germanistische Schule eingeordnet wird,75 und auch nicht als Begründer einer solchen gilt. Sein Werk wird vielmehr als Einzelleistung herausgestellt und bekommt somit einen Sonderstatus verliehen – in Hinblick auf seine Integration in die Disziplin Germanistik im guten Sinn als besonders wie im schlechten Sinn als ausgesondert. Von Busses Beitrag dokumentiert gleichzeitig, daß unter den Germanisten die Kenntnis des Nadlerschen Ansatzes im Vergleich zur Auseinandersetzung mit früheren Auflagen präziser geworden ist. Die Autorin erfaßt den Nadlerschen Stamm als ebenso von Natur wie Geist beeinflußt bzw. an Natur und Geschichte beteiligt. Bezeichnenderweise beruft sie sich diesbezüglich nicht auf die „Literaturgeschichte“, sondern auf Nadlers Ausführungen in „Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes“, die auch andere Rezensenten als erhellend in Hinblick auf den spezifischen Stammesbegriff Nadlers empfunden hatten.76 Jedenfalls ist von Busse imstande, zwischen den verharrenden Kräften „Blut“ und „Boden“ und den sozusagen dynamisierten Nadlerschen Einheiten „Stamm“ und Landschaft“ zu differenzieren. Dementsprechend setzt sie den stammeskundlichen Ansatz auch deutlich von rassenkundlichen Konzepten ab (wobei wiederum zu berücksichtigen ist, daß von Busse allenfalls Band zwei der vierten Auflage vorgelegen haben kann). Allerdings liegt die Bevorzugung der stammeskundlichen vor der rassenkundlichen Literaturgeschichtsschreibung durch die Autorin in erster Linie darin begründet, daß Nadler seinen Ansatz praktisch ausgeführt habe, anstatt ihn nur philosophisch-theoretisch zu entwickeln, wie von Busse an der zeitgenössischen Germanistik generell beanstandet. Ihr Vorwurf, daß das Dichtwerk als vornehmster Gegenstand der Literaturgeschichte durch Zugänge, welche die Dichtung nicht in ihrem Eigenwesen darstellten, „vergewaltigt“ werde, trifft jedoch auch Nadler.77 Zu Nadlers Stellung in Hinblick auf die geänderten politischen Bedingungen, also auf den Nationalsozialismus, werden unter seinen Fachkollegen durchaus unterschiedliche Ansichten formuliert. So faßt beispielsweise Karl August Kutzbach Nadlers Werk als „Eine der wenigen Literaturdar—————— 75 76 77
Allein der Einfluß August Sauers auf Nadler wird erwähnt. z. B. Oppel: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 170; Kutzbach: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 108. Oppel: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte, S. 169; Kutzbach: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit, S. 14. v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes, S. 283.
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stellungen, die merklichen Einfluß auf unsere Vorstellungen gehabt haben und die nicht in der letzten scharfen Kehre unseres deutschen Weges, beim Umbruch von 1933, liegen geblieben sind...“.78 Dies spricht dafür, daß Kutzbach die „Literaturgeschichte“ als den neuen politischen Verhältnissen durchaus entsprechend betrachtet. Diese Meinung teilten bei weitem nicht alle Rezensenten der vierten Auflage des Werks, da unterschiedliche Maßstäbe bezüglich NS-Gesinnung angelegt wurden, deren Ansprüche Nadlers Werk nicht immer erfüllte. Joachim Müller kritisiert etwa ohne explizite Bezugnahme auf rassische oder völkische Gesichtspunkte die kontinuierliche Höhergewichtung der Stämme vor dem Reich und die daraus entstehende nicht überbrückte Spannung im Aufbau der „Literaturgeschichte“.79 Karl Justus Obenauer beanstandet in ähnlicher Zielrichtung schon 1939, daß trotz des geänderten Titels die Stämme immer noch stärker hervorträten als die volkhafte und die Rassengemeinschaft.80 Diese Kritik wird in Obenauers Rezension des abschließenden vierten Bandes wiederholt, da ihm trotz des Lobes für die Einführung des politischen Gedankens des Reichs der stammhafte Gesichtspunkt immer noch zu vorherrschend bleibt.81 Weiters ist seines Erachtens in Nadlers Darstellung mancher jüdischer und „entarteter“ Dichter „...die kritische Haltung, die der Nationalsozialismus in all diesen Fällen fordern muß, nicht immer deutlich und scharf genug.“82 Sein abschließendes Urteil lautet: Der kämpferische Standpunkt unseres Staates war ja nicht der, von dem Nadler ursprünglich ausging. Das war geschichtlich gesehen vielleicht unmöglich, aber es erklärt auch, daß der Geist des Nationalsozialismus das Ganze auch in diesem letzten Band nicht mehr gleichmäßig durchdringen konnte. Nadlers Literaturgeschichte ist wissenschaftliche Darstellung, die verarbeitet werden muß, aber weder ein Kampfbuch der Partei, noch ein Vorbild für Lehrer und Studenten, die durch manches sogar irregeleitet werden können, wenn sie Nadler nicht genau genug und nicht kritisch genug lesen. Vollkommen war das, was Nadler wollte, weder wissenschaftlich noch politisch-geschichtlich auf einmal zu leisten – es bedarf noch langer Arbeit, bis dies möglich sein wird.83
Interessant ist hier vor allem die von Obenauer durchgeführte Trennung zwischen „wissenschaftlich“ und „politisch“, die nicht automatisch gleichzusetzen sind, indem Nadlers Arbeit die Wissenschaftlichkeit nicht abge—————— 78 79 80 81 82 83
Kutzbach: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 107f. Müller, Joachim: Der Schlußband von Nadlers „Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In: Zeitschrift für Deutschkunde 56 (1942), S. 176. Obenauer, Karl Justus: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 15 (1939), S. 278. Obenauer: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1942), S. 147. Obenauer: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1942), S. 148. Obenauer: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1942), S. 149.
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sprochen wird, obwohl in Hinblick auf seine NS-Gesinnung Bedenken bestehen. Seine Geltung kann Nadlers Werk angesichts solcher Beurteilung allerdings nur in Germanistenkreisen bewahren, wo also selbst ein Kritiker wie Obenauer der wissenschaftlichen und darstellerischen Leistung des Literaturhistorikers Respekt zollt. Denn in einem anderen Rahmen wird zwar die eben beobachtete Trennung zwischen Politik bzw. Weltanschauung und Wissenschaft bzw. Methode gleichermaßen gezogen, doch die Konsequenzen sind tiefgreifender. Hans W. Hagen publizierte 1941 eine ausführliche Rezension von Nadlers „Literaturgeschichte“, die er als „universalistische Kulturgeschichtsschau“ scharf von der NS-Ideologie abgrenzte.84 Seine Kritik an Nadler konzentriert sich auf dessen Konzept der Mischung von Völkern sowie auf die von ihm vorgenommene Aufteilung in Alt- und Neustämme unter dem Kriterium der unmittelbaren oder mittelbaren Beziehung zur römischen Kultur und damit dem katholischen Christentum. Dies alles stehe in Gegensatz zu der dem „Reich“ entsprechenden „Freilegung der großen germanischen Kontinuität“, zu der Ablehnung der Vorstellung von Rassenmischung und speziell von „Eindeutschung“ sowie zur Konzentration auf das Volk statt auf die katholische Grundanschauung von der Einmaligkeit der abendländischen Kultur. In seinen Ausführungen stützt sich Hagen allerdings nicht auf die vierte Auflage, sondern auf die dritte85 – unter Hinweis darauf, daß hier noch unverhohlen ausgesprochen werde, „...was in der Auflage im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr so brüsk gesagt werden konnte...“86 Der Kritiker betont überdies die gleichzeitige Unverändertheit der Grundkonstruktion. Hier wird deutlich, wie gering die von Nadler vorgenommene Einbeziehung von rassenkundlichen Aspekten in die „Literaturgeschichte“ seitens eines überzeugten Anhängers des Nationalsozialismus eingeschätzt wurde und wie sehr seine spezifischen Vorstellungen vom Entstehen der deutschen Kultur und Geschichte dessen Auffassungen zuwiderlaufen konnten. Die widersprüchlichen Einschätzungen, die Nadlers persönlicher Haltung zum Nationalsozialismus zuteil wurden, wiederholen sich also auch in der Einschätzung seines Werks. Zumindest seitens der germanistischen —————— 84 85
86
Hagen, Hans W.: Das Reich und die universalistische Kulturgeschichtsschau. Notwendige Bemerkungen zu Josef Nadlers „Literaturgeschichte des deutschen Volkes.“ In: Die Weltliteratur 16/2 (1941), S. 40-44. Zumindest nach Aussage Hagens, wobei er diese als mit 1928 bei Habbel erschienen bezeichnet und damit unter Umständen sogar die zweite Auflage verwendet hat – die Bände der dritten Auflage erschienen 1. 1929, 2. u. 3. 1931 und 4. 1932. Hagen: Das Reich und die universalistische Kulturgeschichtsschau, S. 40. Der Mitte 1941 erschienene vierte Band der vierten Auflage war ihm wohl noch nicht vorgelegen. Hagen: Das Reich und die universalistische Kulturgeschichtsschau, S. 40.
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Fachkollegen läßt sich allerdings festhalten, daß trotz geäußerter Kritik an manchen Zügen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung die Achtung vor der synthetischen Leistung nach wie vor hauptsächlicher Faktor für den bleibenden hohen Status von Nadlers Ansatz geblieben ist. Die geringen Adaptionen seiner Grundlagen in Richtung rassenkundliche Konzepte, die Nadler vornahm, stießen nur dort auf Echo, wo explizit auf eine Annäherung an nationalsozialistische Ideologeme geachtet wurde. Und gerade in diesen Fällen wurde jene Annäherung als nicht groß genug erachtet. Karl Justus Obenauers Verteidigung Nadlers gegen Hans W. Hagen zeigt allerdings, daß sich selbst ein Germanist, dem die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung den Anforderungen der neuen politischen Umstände nicht genügend entsprach, seinen Fachkollegen gegen Angriffe von außerhalb der Disziplin zu schützen erlaubte.87 Die weitgehende Kontinuität in der Rezeption der „Literaturgeschichte“ durch Fachkollegen Nadlers ist insofern bemerkenswert, als sich ein vollständiger Wechsel der Rezensenten im Vergleich zu jenen früherer Auflagen festhalten läßt; keiner der in diesem Abschnitt als Beitragender angeführten Germanisten hatte sich vor 1931 zu Nadler geäußert. Zweifellos ist dies zum Teil auf einen Generationenwechsel unter den Germanisten zurückzuführen, dennoch ist bezeichnend, daß sich auch jene Fachkollegen Nadlers und früheren Verfasser von Buchkritiken, die zur NS-Zeit immer noch lehrten,88 nicht ein zweites Mal zur „Literaturgeschichte“ äußerten. Dadurch entsteht der Eindruck, als hätten sie ihrer Auffassung nach ihre Meinung zu diesem Werk bereits kundgetan und die vierte Auflage habe an dieser Meinung keine Änderung herbeigeführt. Dies würde somit für den völlig neu geschriebenen vierten Band dieser neuen Auflage gleichermaßen gelten; umso mehr, als auch diejenigen Rezensenten, die sich zur NS-Zeit mit dem Nadlerschen Werk auseinandersetzen, denselben weder inhaltlich noch theoretisch von den ersten drei Bänden abrückten. Das einzige Problem, das spezifisch in Bezug auf diesen Band erläutert wird, ist der Umgang mit Gegenwartsliteratur im allgemeinen, was die Ordnung des Materials, die Vollständigkeit und die Bewertung einzelner Dichter betrifft.89 Im allgemeinen unterstützt die germanistische Rezeption der „Literaturgeschichte“ zur NS-Zeit den Befund von Michael Grüttner, daß in den —————— 87 88 89
In Hagens Richtung heißt es bei Obenauer, angesichts des vierten Bandes könne man „...nicht einfach behaupten, Nadler gebe nur eine ,universalistische Kulturgeschichte’.“ Obenauer: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1942), S. 146. z. B. Paul Böckmann und Franz Koch. Müller: Der Schlußband von Nadlers „Literaturgeschichte“; Obenauer: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1942), S. 146-149; Kutzbach: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 109.
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Geisteswissenschaften Rassentheorien nur von einer Minderheit der Wissenschafter übernommen wurden.90 Speziell für die Germanisten dokumentiert Gerhard Kaiser das ambivalente Verhältnis zwischen der großen Anziehung des Rasse-Begriffs aufgrund seines hohen Resonanzpotentials und seiner problematischen Vereinbarkeit mit dem vor 1933 bestehenden Selbstverständnis der Germanistik als Geisteswissenschaft.91 Das daraus entstehende Spektrum der Positionen „...reicht von dezidierter Ablehnung über Ausblendung, skeptische oder lediglich paratextuelle Integration bis zu programmatischen Applikation rassenkundlicher Konzepte.“92 In diesem Zusammenhang ist zwar zu berücksichtigen, daß trotzdem weite Teile der germanistischen Forschungstätigkeit bereits vor 1933 mit nationalsozialistischen Ideologemen kompatibel gewesen waren (wie auch Grüttner festhält), aber die Tatsache, daß innerhalb der Disziplin Germanistik kein Konsens bezüglich der Bedeutung von Rassenkonzepten herrschte, wirft wiederum Licht auf Nadlers Umgestaltung seiner Konzepte. Es zeigt sich ein weiteres Mal, daß er sich in seinen von Auflage zu Auflage fortschreitenden Adaptionen der „Literaturgeschichte“ neben der Eigenlogik seines Ansatzes weit mehr an wissenschaftlichen Entwicklungen außerhalb der Germanistik als an innerdisziplinären Vorgängen orientierte. Allerdings hätte Nadler aufgrund seines bereits bestehenden Sonderstatus innerhalb der Disziplin auch keine Veranlassung gehabt, seine Konzepte mittels Annäherung an Rassentheorien der Fachkollegenschaft genehmer zu machen, selbst wenn die betreffenden Konzepte innerhalb der Disziplin mainstream gewesen wären. Viel mehr als ein Anlaß zu (noch) größerer Akzeptanz für die „Literaturgeschichte“ zu sein, bot Nadlers in mancher Augen ungenügende Ausrichtung auf rassenkundliche Konzepte wieder eine Handhabe, die Bedeutung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu schmälern. Denn nun gab es wieder einen Maßstab, an dem man Nadlers Werk messen konnte, nachdem viele Rezensenten der zweiten Auflage einer abschließenden Beurteilung des stammeskundlichen Ansatzes durch eine Verschiebung derselben in die Zukunft ausgewichen waren. Rassenkundliche Ansätze standen dem Nadlerschen Ansatz zwar nahe genug, um viele „Vorzüge“ mit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zu —————— 90 91 92
Grüttner, Michael: Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften. In: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Hrsg.: Dainat, Danneberg , S. 38. Kaiser, Gerhard: Zwischen Eigensinn und Resonanz. Anmerkungen zum literaturwissenschaftlichen Feld am Beispiel der „Rasse-Semantik“ zwischen 1933 und 1945. In: Resonanz und Eigensinn, S. 1-29, besonders S. 13f. Kaiser: Zwischen Eigensinn und Resonanz, S. 17. Paratextuelle Integration meint, daß rassenkundliche Konzepte nur in rahmende Texte wie Einleitungen oder Nachworte Aufnahme finden, wie es durchaus auch bei Nadler der Fall war. Ebd. S. 18.
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teilen – allen voran die Arbeit mit vererbungs- und raumgebundenen körperlich-geistigen Kollektiven. Gleichzeitig waren sie trotzdem weit genug von ihm entfernt und umfassender „wissenschaftlich“ bzw. durch Publikationen untermauert, um deren Überlegenheit über den stammeskundlichen Ansatz zu behaupten. Anzeichen für eine derartige Abwertung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zugunsten einer rassenkundlichen finden sich etwa bei Ludwig Büttner, der eine Überprüfung der Nadlerschen Konzeption anhand der Erkenntnis von rassischen Verhältnissen verspricht.93 Für die Gewinnung solcher Erkenntnisse legt er jedoch erst selbst einen Entwurf vor. Prinzipiell wäre nun also ein Konzept zur Synthese der deutschen Literaturgeschichte zur Verfügung gestanden, das nicht zuletzt aufgrund der politischen Umstände alle Voraussetzungen für eine Ablöse des Nadlerschen Modells als prestigeträchtigste Gesamtdarstellung erfüllt hätte. Doch abgesehen davon, daß rassenkundliche Konzepte generell nicht umfassend in die Germanistik integriert wurden, konnte auch kein Vertreter rassenkundlicher Ansätze – zumindest kein akademischer Vertreter der Germanistik – über theoretische Entwürfe hinaus eine Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte vorlegen. Denn Adolf Bartels findet zwar in manchen Rezensionen Erwähnung, wird aber hinsichtlich der Qualität seines Werks immer hinter Nadler zurückgereiht, etwa wegen „äußerem Feststellen und Nebeneinander-Aufreihen“ ohne zu einem geschlossenen Gesamtbild zu kommen, oder weil er nur konstatiere und nicht herleite.94 Somit standen selbst jene Germanisten, welchen Nadlers Annäherung an NS-Ideologeme nicht weit genug ging, wiederum vor der Wahl, den stammeskundlichen Ansatz als wissenschaftlich gelten zu lassen oder das Unvermögen der Disziplin, eine Gesamtdarstellung vorzulegen, zuzugeben. Nadlers akademische Laufbahn allerdings, die mit seiner Berufung nach Wien 1931 den von ihm lange intendierten Höhepunkt erreicht hatte, wurde zur NS-Zeit, nach Holger Dainats Ausführungen zu schließen, weit mehr von der Ablehnung seiner Person und seines Werks durch NSGremien als durch die Geltung des stammeskundlichen Ansatzes unter den Fachkollegen beeinflußt.95 Ausgehend von Dainats Feststellung, daß es seitens der Hochschulen stets darum ging, sich gegen ein Scheitern von Berufungsverfahren aus politischen oder „rassischen“ Gründen abzusichern, verwundert es auch nicht, daß Nadler angesichts seines problemati—————— 93 94 95
Büttner, Ludwig: Gedanken zu einer biologischen Literaturbetrachtung. München: Hueber 1939, S. 110-112. Kutzbach: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit, S. 15; v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes, S. 282. Dainat: Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft.
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schen Verhältnisses zu manchen NS-Gremien in den Berufungsverfahren zwischen 1933 und 1945 nur eine untergeordnete Rolle spielte. So wurde der Literaturhistoriker etwa 1934 in Würzburg seitens der Universität schon im Vorfeld aus der engeren Wahl der Kandidaten ausgeschieden unter Hinweis auf das Berufungsverfahren in München 1926, wo er als Kandidat der Klerikalen gegolten habe.96 Und: „Wenn Nadler dennoch [1941/42] von Julius Schwietering für die Nachfolge von Julius Petersen in Berlin als Dritter vorgeschlagen wird, dann soll vermutlich dem Ministerium auf diese Weise signalisiert werden, daß man unbedingt an einer Berufung eines anderen, nämlich des erstplazierten Hans Pyritz interessiert ist.“97 Dies ergibt in jedem Fall ein völlig anderes Bild als jenes der Nachkriegszeit, in welcher Nadler rasch als zentraler Germanist der NSZeit angesehen werden sollte.
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Dainat: Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, S. 71f. Dainat: Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, S. 69.
10. Der stammeskundliche Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 Das Ende der NS-Herrschaft in Österreich und die danach einsetzenden Entnazifizierungsmaßnahmen bedeuteten das Ende von Nadlers akademischer Laufbahn. Als Mitglied der NSDAP wurde der Literaturhistoriker aufgrund des im Mai 1945 verabschiedeten Verbotsgesetzes seines Lehramtes enthoben.1 Auch die Novelle der betreffenden Gesetzgebung im Jahr 1947, aufgrund welcher nunmehr zwischen „belasteten“ Funktionären des NS-Regimes und „minderbelasteten“ Mitläufern unterschieden wurde, änderte trotz Nadlers Bemühungen um Rehabilitierung nichts an seinem Ausschluß von der universitären Lehre (vgl. Abschnitt 10.3.). In Zusammenhang mit der maßgeblich zur Identitätsbildung der zweiten Republik beitragenden These, Österreich sei das erste Opfer HitlerDeutschlands gewesen,2 konzentrierte sich die Auseinandersetzung mit dem Beitrag von Österreichern zu NS-Gedankengut und NS-Herrschaft auf wenige Intellektuelle. Mit der Ablehnung von Theorien einiger weniger, bekannter Wissenschafter – neben Nadler beispielsweise des Historikers Heinrich von Srbik oder des Philosophiehistorikers Hans Eibl – „...verwarf man [...] jene auf akademischem Boden entstandenen Ideengebäude, die man in einen unmittelbaren geistesgeschichtlichen Kausal- und Schuldzusammenhang mit der NS-Ideologie setzte.“3 Die Mitverantwortung von Österreichern für die unter nationalsozialistischer Herrschaft und Kriegsführung begangenen (auch geistigen) Verbrechen wurde also auf wenige Personen projiziert und damit den übrigen Bürgern der zweiten Republik Österreich ganz im Sinne des nach 1945 gepflegten Mythos des humanistischen, guten Österreichers4 ein Persilschein ausgestellt. —————— 1 2
3 4
Zu den Entnazifizierungsgesetzen in Österreich vgl.: Stiefel, Dieter: Entnazifizierung in Österreich. Wien u. a.: Europaverlag 1981, bes. S. 81-114. Botz, Gerhard: Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung. In: Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Hrsg.: Wolfgang Kos, Georg Rigele. Wien: Sonderzahl 1996, S. 51-86. Meissl: Der Fall Nadler, S. 293. Vgl. Etzersdorfer, Irene: „Am österreichischen Wesen soll die Welt genesen“. Zur gesellschaftlichen Funktion des Österreich-Mythos nach 1945. In: Inventur 45/55. Österreich
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Erst im Rahmen der Entnazifizierung wurde der Literaturhistoriker somit gezwungen, stärker als bisher auf das Verhältnis zwischen seiner Wissenschaft und ihrem jeweiligen politischen Umfeld oder zumindest auf die diesbezügliche Präsentation seiner Konzepte zu reflektieren. Ergebnis dieses Vorgangs ist zwar keine Neugestaltung seiner literaturhistorischen Konzepte, denn die wesentlichen Elemente der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung bleiben immer noch erhalten. Frühere Adaptionen des Nadlerschen Ansatzes konnten allerdings in erster Linie auf der Basis chronologischer Verhältnisse als „Anpassungen“ an geänderte politische Umstände gelesen werden, obwohl sie zumindest in gleichem Ausmaß der Eigenlogik der Entwicklung der „Literaturgeschichte“, der Disziplin Germanistik und außerdem Nadlers Streben nach wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit folgten. Im Gegensatz dazu sind die nach 1945 stattfindenden Umgestaltungen in bewußter Ausrichtung auf die Prüfung einiger bestimmter Aspekte vorgenommen worden. Wie diese Adaptionen sich genau gestalten, wird anhand von Nadlers nach 1945 erschienenen einbändigen literaturgeschichtlichen Werken, der „Literaturgeschichte Österreichs“ und der „Geschichte der deutschen Literatur“ verfolgt. Deren Rezeption wiederum soll nach einer kurzen Skizzierung der Vorgänge rund um Nadlers Entnazifizierung dargestellt werden.
10.1. Die „Literaturgeschichte Österreichs“ 1948 In seinem Mitte November 1947 verfaßten Schlußwort zur „Literaturgeschichte Österreichs“5 legt Nadler die erstmalige Planung der Niederschrift eines entsprechenden Werks in die Mitte der 30er Jahre. Dessen Verwirklichung sei durch die Arbeit an der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ und an der Ausgabe der Werke Hamanns verhindert worden. Überdies will der Literaturhistoriker diesen Band gemeinsam mit der 1932 erschienenen „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ als Paar verstanden wissen. Diesen Eindruck versucht er nicht nur mittels deren „gleicher Anlage und Einrichtung“ zu unterstreichen, sondern zusätzlich durch die Angabe, jeweils 27 Semester in Fribourg und Wien würden die beiden Bücher zu einem Ganzen machen: In Frieden und Krieg habe ich nach beiden Richtungen den Arlberg befahren, zu oft, als daß ich nicht wüßte, was die beiden Länder geschichtlich trennt und was sie mehr als nur räumlich verbindet. So kann ich die beiden Bücher als Eideshel-
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im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Hrsg.: Wolfgang Kos, Georg Rigele. Wien: Sonderzahl 1996, S. 86-102, bes. S. 98. Nadler, Josef: Literaturgeschichte Österreichs. Linz: Österreichischer Verlag für Belletristik 1948, S. 516.
Literaturgeschichte Österreichs
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fer dafür aufrufen, daß ich in den fünfunddreißig Jahren meines akademischen Lehramtes zu Freiburg wie zu Wien die eine und gleiche Wahrheit gesucht habe und zu lehren bemüht war.6
Somit legt der Literaturhistoriker die Wurzeln für die „Literaturgeschichte Österreichs“ in die Zeit vor den Beginn der NS-Herrschaft in Österreich und verlangt auf diese Weise nach einer Bewertung des Werks anhand von zu dieser Zeit gültigen Maßstäben. Gleichzeitig versucht er durch zeitliche und inhaltliche Parallelisierung mit der „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ die Kontinuität seiner Konzepte zu betonen. Letztlich dienen diese beiden Manöver dazu, der neuen Publikation und den darin vertretenen Ansichten in Hinblick auf den „(Entnazifizierungs)Fall Nadler“, also die öffentlichen Debatten um sein Werk und seine Person im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gewissermaßen einen Unbedenklichkeitsbescheid auszustellen. Wie die folgende Analyse zeigen wird, sind tatsächlich starke Kontinuitäten in Nadlers Werk vorhanden. Die Möglichkeit von derartigen Beibehaltungen liegt allerdings in erster Linie in der Flexibilität der Konzepte und dem Charakter der Schweizer und österreichischen Literaturgeschichte als „Ausschnitte“ der gesamten deutschen begründet.7 Und diese Kontinuitäten letztlich sind kaum geeignet, um Nadlers Konzepte von ihrer Fragwürdigkeit zu befreien. Nadlers Österreich-Begriff in der Publikation von 1948 scheint mit seiner Konzentration auf die Ostalpen und den zugehörigen Abschnitt der Donau räumlich von den politischen Grenzen des Landes zwischen 1918 und 1938 geprägt zu sein, die gleichzeitig den Grenzen der Schreibgegenwart des Literaturhistorikers nach 1945 entsprachen. Dementsprechend berücksichtigt Nadler durchaus die unterschiedliche Geschichte jener Länder, die schließlich zu österreichischen Bundesländern wurden, was speziell an der Hervorhebung Salzburgs deutlich wird. Trotzdem liegt dem Band keine Österreich-Teleologie in Zielrichtung auf die räumliche Gestalt der Ersten und Zweiten Österreichischen Republik zugrunde. Denn daß die im Buch betonte und rückprojizierte kulturelle bzw. literarische Eigenständigkeit Österreichs wiederum in erster Linie mit der Dynastie der Habsburger in Verbindung gesetzt wird, verdeutlicht sich etwa an den Kriterien für die Einbeziehung von Dichtern und Dichtung in die „Literaturgeschichte Österreichs“. Einerseits wird nämlich deutschsprachige Dichtung aus Ländern der Habsburgermonarchie in ihrer Gestalt von vor dem Ersten Weltkrieg, also etwa auch jene Südtirols oder Böhmens, als zur österreichischen Literaturgeschichte gehörig aufgefaßt. Andererseits ist auch die Abstammung von —————— 6 7
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 516. Siehe dazu auch: Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 119-121.
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österreichischen – im Sinne von: innerhalb der eben erwähnten Grenzen lebenden – Eltern keine zwingende Voraussetzung für eine Einordnung als „österreichischer Dichter“. Als Beispiel können hier Nadlers Ausführungen zu Reinmar von Hagenau dienen, der in der „Literaturgeschichte“ stets als aus dem Elsaß abstammend verzeichnet wurde. In die „Literaturgeschichte Österreichs“ wird er jedoch in recht kryptischer Weise eingeführt, die eine elsässische Herkunft nicht dezidiert ausschließt, aber doch österreichische Wurzeln oder zumindest kulturell-geistige Zugehörigkeit zu Österreich zu suggerieren versucht: Im Elsaß gibt es ein Hagenau. Aber im Donautal gibt es deren sechs. Gewiß ist die Frage nicht durch die mehreren Hagenau zu entscheiden. Für das Elsaß spricht aber nur die Tatsache, daß Gottfried von Straßburg Reinmars gedenkt. Und das ist nicht viel. Reinmar hat mit dem heimischen österreichischen Liede begonnen und wurde von Herzog Leopold V., 1177 bis 1194 an seinen Hof genommen. Das ist mehr. 8
Auch aus nachweisbarer und von Nadler selbst angegebener Herkunft von Dichtern aus anderen Gebieten als den als „österreichisch“ gefaßten wird keine Konsequenz gezogen und kein Bezug auf etwaige andere Züge von deren Dichtung genommen. Am deutlichsten tritt diese Vorgangsweise an der Darstellung des Römers und Hofdichters Pietro Metastasio zutage, dessen Stücke mit „...das war beinahe schon Grillparzer“9 kommentiert werden. „Österreichisch“ ist bei Nadler also kaum ein Kriterium der Abstammung, sondern bezeichnet kulturelle und dichterische Erscheinungen, die aufgrund der räumlichen Verhältnisse und weiterer Züge in das Bild eines „österreichischen Eigenstils“ passen. In räumlicher Hinsicht betrifft dies neben Alpen und Donau auch die Kreuzung bzw. das Zusammentreffen von Einflüssen aus Ost und West, wodurch Anklänge an Nadlers größere Ost-West-Konzepte der „Literaturgeschichte“ vorhanden sind. Das Bild eines Eigenstils als „Ausdruck persönlich abgestimmter Volksart“10 wiederum entspricht in seiner Vorgefaßtheit und der willkürlichen Festsetzung seiner Züge dem altbekannten „Stammescharakter“. „Österreichisch“, bzw. Merkmale österreichischer Dichtung sind bei Nadler truglose Sachlichkeit, starker Verstand, Sinn für die Wirklichkeit, Beschwingtheit, Reschheit des Wesens; Mittelstellung zwischen Osten und Westen; essayartige Betrachtung des öffentlichen Lebens, gerader Rechtssinn, Schelte auf ironische und liebenswürdige Weise, rasch gekränkt; Sinnlichmachen des Geistigen, Stegreifkunst; der Glaube, das Gedachte sei bereits die vorgesetzte Tat unter gleichzeitigem Zweifel am Gelingen; —————— 8 9 10
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 57. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 159. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 95.
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bildhafte und bildliche Sprache und nicht zuletzt die „angeborene Volksleidenschaft“ des Theaterspiels.11 Der Stammescharakter als ebenso typischer wie problematischer Aspekt der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung ist also nach wie vor vorhanden. Doch damit stellt sich einerseits die Frage, wie genau die Verbindung zwischen diesem Stammescharakter bzw. der „Volkspersönlichkeit“ und der Dichtung aussehen soll, da die „österreichische Dichtung“ nicht mehr dezidiert an die Abstammung eines Dichters oder zumindest seiner Vorfahren aus österreichischen Landen gebunden wird. Andererseits ist zu klären, wie der Status eines solchen Stammescharakters in einem größeren Rahmen als nur dem österreichischen aussieht. Auffällig ist in dieser Hinsicht der enge Zusammenschluß, den Nadler im Vorwort „Gebirge und Ströme“ zwischen Österreich und der Schweiz vornimmt – aus mehreren Gründen. Zunächst überrascht den mit den Konzepten der vierbändigen „Literaturgeschichte“ vertrauten Leser die Tatsache, daß in der einbändigen Ausgabe von 1948 eine viel engere Verknüpfung zwischen der alamannisch besiedelten Schweiz und dem mehrheitlich bairisch besiedelten Österreich suggeriert wird als etwa zwischen Österreich und Bayern, zwischen welchen in anderen Publikationen die angenommenen gemeinsamen stammlichen Grundlagen Bindeglied gewesen waren. Dieser neue Aspekt ist offensichtlich auf Nadlers Bestreben zurückzuführen, Österreich in Übereinstimmung mit den nach 1945 vorgenommenen Bemühungen um eine eigene staatliche Identität als eigenständiger und unabhängiger Deutschland gegenüber darzustellen als bisher. Dafür bot sich eine engere Anbindung Österreichs an die Schweiz durchaus an. Denn die Schweiz konnte als (teilweise) deutschsprachiger, aber früh vom Deutschen Reich unabhängiger Staat als Beispiel für eine von der „reichsdeutschen“ abgekoppelte (teilweise) deutschsprachige Nation dienen, in welche Kategorie nun eben auch Österreich eingeordnet werden sollte. Als logische Folge rücken stammliche Faktoren, die einen alamannisch-bairischen Gegensatz betonen würden, im Vergleich zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung der Zeit vor 1945 in den Hintergrund. Wenig überraschend bei genauerer Kenntnis der Nadlerschen Konzepte gewinnt unter diesen Vorzeichen der Einfluß der Landschaft deutlich an Gewicht. Auf der einen Seite bietet hier der Schweizern und Österreichern gemeinsame Siedelraum der Alpen die Begründung für ähnliche Züge im „geistige[n] Gesicht beider Länder“;12 auf der anderen Seite sorgen die beiden Ströme Rhein und Donau in Nadlers Augen für „europäi—————— 11 12
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 49; 53; 63; 95; 234; 314, 226. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 12.
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sche Weite und Geschlossenheit“13 des sie jeweils umgebenden Geisteslebens. Letztlich dient auch diese Vorgehensweise – die Höherbewertung des Einflusses der Landschaft auf ein Volk – der Untermauerung eines eigenständigen Status von Österreich bzw. des „österreichischen“ Volkes gegenüber dem „deutschen“. Die Anführungszeichen weisen hier auf den nach wie vor schwer zu fassenden Nadlerschen Volksbegriff hin, in welchem die Existenz eines „österreichischen Volkes“ nichts über dessen Zugehörigkeit zu einem „deutschen Volk“ aussagt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. In diesem Zusammenhang ist allerdings ein weiteres Mal auf das Konzept des „Einwachsens“ eines Dichters in eine Landschaft hinzuweisen, das unter einer solchen Höhergewichtung der räumlichen Einflüsse einen Bedeutungszuwachs erfährt. Dies würde auch die Unbekümmertheit erklären, mit welcher Nadler Abstammungsverhältnisse „österreichischer“ Dichter handhabt. Stammliche Aspekte verlieren allerdings – wie für Nadlers Vorgehensweise bei Adaptionen seiner Literaturgeschichtsschreibung typisch – keineswegs vollkommen ihre Bedeutung. Denn letztlich dient die „sehr verschiedene Herkunft“ von Schweizern und Österreichern als Beleg für den entscheidenden Einfluß der Landschaft auf ein Volk: Wenn das geistige Gesicht beider Länder so manchen und dauerhaften Zug gemeinsam hat, so kann das nicht seinen Grund unmittelbar in der Volksnatur, sondern muß ihn in den Lebensbedingungen haben. Ist dem aber so, dann ist das österreichische Volk in seinem Grundbestande durch seinen Wohnraum ausgeformt und durchgebildet worden. 14
Obwohl Nadler in seinem Vorwort den Begriff „Stamm“ nicht verwendet, indem er stattdessen von „Herkunft“ spricht, und ihn auch im weiteren Text nur sparsam einsetzt, ist der Gedanke von den deutschen Stämmen nicht tabuisiert. Er tritt in der „Literaturgeschichte Österreichs“ allerdings insofern nicht in den Vordergrund, als in dem in Frage kommenden Gebiet allein die Baiern ausschlaggebender Siedelstamm sind und keine Wechselwirkungen mit anderen Stämmen thematisiert werden müssen. 15 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Betonung der Rolle der Landschaft und die darauf begründete Nahestellung Österreichs zur Schweiz letztlich auch dazu dienen, die Abgrenzung eines Teils eines deutschen Stammes – nämlich der Ostbaiern von den Baiern – vornehmen zu können bzw. im Vergleich zu früheren Fassungen noch stärker herauszustreichen. —————— 13 14 15
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 11. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 12. Daß Vorarlberg alamannisch geprägt sein soll, wird von Nadler zwar mitgeteilt, gewinnt aber aufgrund der geringen Zahl von (aufgenommenen) Dichterpersönlichkeiten keine Bedeutung.
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Die besonders enge Bindung österreichischer Literatur und Geschichte an den Alpen- und Donauraum zur Hervorhebung ihrer Bedeutung, die gleichzeitig das Festhalten am Konzept der Entstehung von Literatur im Rahmen eines „Einwachsens in die Landschaft“ unterstreicht, ist ein bereits bekanntes Konzept in Nadlers Literaturgeschichtsschreibung. In gleichem Maße geläufig ist die überragende Rolle der HabsburgerDynastie für die österreichische politische Geschichte, die nun ebenfalls mit größerem Nachdruck als Faktor für die Nähe zwischen österreichischem und schweizerischem Geistesleben angeführt wird. Die beiden wesentlichen Aspekte, auf deren Grundlage Nadler bereits in früheren Publikationen eine Sonderrolle für österreichische Kultur und Dichtung behauptet hatte – Landschaft und Dynastie – behalten also ihre Gültigkeit. Neu ist nur der höhere Grad der Abgrenzung eines „österreichischen“ gegenüber einem „deutschen“ Volk sowie gegenüber dem (alt)bairischen Stamm mittels der Hervorhebung der Schweiz als unabhängiges Staatsgebilde, das durch den Einschluß von französisch- und italienischsprachigen Gebieten noch zusätzliche Nähe zum Vielvölkerstaat der Habsburger des 19. Jahrhunderts suggerieren kann. Doch auch diese „Neuerung“ steht mit den bekannten Konzepten von Stamm und Landschaft in Zusammenhang. Diese eben angesprochene Eigenschaft als Vielvölkerstaat, die für das Habsburgerreich nicht zuletzt deswegen Bedeutung trägt, weil sie wie in früheren Fassungen der stammeskundlichen Literaturbetrachtung die kulturelle Hochblüte im Barock motiviert und territorial legitimiert, bietet Nadler einen Anknüpfungspunkt für einen weiteren Aspekt: die verstärkte Einbettung Österreichs wie der Schweiz in Europa anstelle der bisher vorherrschenden Konzentration auf die der „Literaturgeschichte“ nach 1918 konzeptuell zugrundeliegenden staatlich-völkischen Einheit des deutschen Volkes. So stellt er in den einführenden Sätzen zum Großkapitel „Renaissance und Barock. 1450 bis 1740“ Wien als die einzig tatsächlich europäische Hauptstadt neben den „nationalen Kraftpolen“ anderer Staaten und den Barock als „Kunst europäischen Stiles“ dar.16 Diese tendenzielle Ablösung einer „österreichischen“ Dichtung und Kultur von einer „deutschen“ durch ihre breitere Anbindung an eine „europäische“ setzt sich in Nadlers Buch fort bis zum Abschnitt „Vollendung des Eigenstils“,17 wo eine Abgrenzung von allen außerhalb Österreichs entstandenen Bewegungen mit der Ausnahme der als „europäisch“ gefaßten Strömungen von Renaissance und Barock vorgenommen wird: —————— 16 17
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 93. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 356-359.
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Die österreichische Dichtung verhält sich gegenüber den Auswirkungen anderer Volkspersönlichkeiten, die mit den Zeitaltern wechseln, selbständig und wählerisch. Sie nimmt nicht ein Ganzes auf, so wie es sich darbietet, sondern Züge, die daraus brauchbar sind und dem eigenen Wesen gemäß.18
Indem Renaissance und vor allem der Barock als „europäisch“ gefaßt werden und der Höhepunkt von Österreichs Macht und Kultur nach wie vor mit dem Barock und damit der größten räumlichen Ausdehnung des Habsburgerreiches in Verbindung gesetzt wird, wird auch in der „Literaturgeschichte Österreichs“ die Legitimität von Einflüssen durch territoriale Machtverhältnisse bestimmt. Bemerkenswert an dem soeben angeführten Zitat ist allerdings, daß auch die deutsche unter die Rubrik „andere Volkspersönlichkeiten“ gereiht wird. Die im Vergleich zu den Stämmen größere Vordergründigkeit des Raums – sowohl als landschaftliche wie auch als herrschaftlich-territoriale Einheit – drückt sich zusätzlich darin aus, daß Nadler den kurzen Überblick über die Vorgeschichte jenes Gebiets, welches später das deutschsprachige Österreich umfassen sollte,19 nicht erst mit der Besiedlung durch den deutschen Stamm der Baiern, sondern bereits mit dem staatlichen Gebilde der Kelten, Noricum, beginnen läßt. Zwar fängt auch für Österreich die „Geschichte“ erst mit der Besiedlung durch die Baiern an – die Zeit vor Anfang des 6. Jh. n. Chr. wird als „Vorgeschichte“ betitelt – doch in keiner seiner früheren Publikationen hatte Nadler sich so detailliert mit den Verhältnissen vor einer Besiedlung durch germanische Stämme auseinandergesetzt. Dies dient der Herstellung von Kontinuität für die eigenständige staatliche Gestalt jenes Gebiets, das Nadler als „Österreich“ verstand. Eine andere, mit der staatlichen Form zumindest mittelbar zusammenhängende Kontinuität weist im Rahmen der Konzepte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung allerdings auf noch einen bekannten Aspekt: Nadler betont, daß sowohl die keltische Bevölkerung des Königreichs Noricum als auch die spätere römische Bevölkerung nie vernichtet worden seien. Sie müßten sich somit in die später vorherrschenden bairischen Bestände eingemischt haben, wobei die Römerkelten nach Überzeugung des Literaturhistorikers nach den Baiern am meisten Anteil am österreichischen Volk gehabt hätten, also auch mehr als andere deutsche Stämme.20 Eingedenk der seit der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ grundlegenden Aspekte des stammeskundlichen Ansatzes ist diese spezifische Völkermischung als wichtiger Faktor für die österreichische „Volkspersönlichkeit“ anzusehen. Andererseits spielt die mit der zweiten Auflage —————— 18 19 20
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 357. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 16-18. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 24.
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eingeführte Mischung von Germanen mit romanischer Bevölkerung und das daraus resultierende Erbe von römischer Kultur und christlichem Glauben ebenfalls eine bekannte, mit dem Konzept der Altstämme übereinstimmende Rolle. Verstärkt wird diese Facette, obwohl nirgends in der „Literaturgeschichte Österreichs“ explizit von einem römisch-deutschen Erbvorgang die Rede ist, durch räumliche Aspekte, beispielsweise durch den Bezug auf den Aufbau Wiens und der Stadt Salzburg auf römischen Grundsteinen.21 Und wie in der vierbändigen „Literaturgeschichte“ für die Altstämme, so gilt auch 1948 in der „Literaturgeschichte Österreichs“: „Wie das alte Noricum sich im römisch-kaiserlichen Kulturkreis vollendet hat, so hat das junge [wesentlich bairisch geprägte] Österreich aus dem römisch-kirchlichen Kulturkreis seine früheste geistige Gestalt empfangen.“22 Daraus folgt, daß Österreichs Kultur dem Konzept der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung entsprechend im katholischen Christentum wurzelt. Während dieser Befund mit der bisherigen Nadlerschen Zuordnung des Katholizismus zum Südosten des deutschen Sprachraums übereinstimmt, lassen sich zum Umgang des Literaturhistorikers mit der Reformation in Österreich einige Abweichungen im Vergleich zu den vor 1945 erschienenen Publikationen feststellen. Zwar fällt eine Zuschreibung des lutherischen Bekenntnisses an die Neustämme und damit dessen Obsoletwerden im Rahmen der romantischen Bewegung unter der Konzentration auf Österreich als eigenständige Einheit weg, doch in sehr subtiler Weise werden die reformatorischen Bekenntnisse als dieser eigenständigen Einheit nicht entsprechend gezeichnet. Nadler stellt sie in erster Linie als Folge des Willens zur Verbesserung der Welt – speziell sozialer Unausgewogenheiten – dar, die allerdings als rein aus dem Denken entstandene Strömungen verstanden werden sollen. Dies erinnert, obwohl der Literaturhistoriker auch Calvin und Zwingli mit ihrem auf die Altstämme bzw. das Mutterland konzentrierten Wirken in seine Betrachtungen mit einbezieht, an die bekannte Ablehnung reiner Gedankenschöpfung speziell durch die Neustämme bei Nadlers gleichzeitiger Bevorzugung von traditionell Gewachsenem. Als solche rein denkmäßig entwickelte Bewegungen hätten die reformatorischen Bekenntnisse Nadlers Ansicht nach auch behandelt werden sollen und er bedauert, „...daß der Kampf im Lande, der doch ein Kampf der Geister und ein Zwiespalt der Gewissen war, als Kampf der Macht geführt [also mit Waffengewalt unterdrückt] und nicht bis zur Entschei—————— 21 22
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 15. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 38.
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dung als Kampf des Geistes ausgetragen wurde.“23 In weiterer Folge wird die gewaltsame Unterdrückung des Protestantismus als Ursache für dessen weitere Einwirkung auf österreichische Literatur und Kultur gezeichnet, denn: „Nur das geistig Überwundene ist tot und kommt nicht wieder.“24 Mit diesem Satz wird im übrigen auch das Weiterwirken jesuitischer Einflüsse nach der Auflösung ihres Ordens erklärt. Generell wird jedoch deutlich, daß in Nadlers Augen der geistige Sieg des Katholizismus auch ohne gewaltsame Unterdrückung reformatorischer Strömungen in Österreich sicher und nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Schließlich fehlte es seiner Ansicht nach „...nirgends im Lande an innerm Widerstande, aus Gründen des Glaubens wie aus landesüblicher Abneigung gegen das, was von außen hereinkam.“25 In Übereinstimmung damit rechtfertigt Nadler den Einsatz gewaltsamer Mittel für die Erhaltung der Glaubenseinheit dadurch, daß angesichts der „türkischen Gefahr“ Einheit und innere Ordnung vonnöten gewesen seien und also die Zeit für eine Entscheidung im „Kampf des Geistes“ nicht zur Verfügung gestanden habe. Das Luthertum wird also in der „Literaturgeschichte Österreichs“ in Kontinuität zur Fassung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung seit den 1920er Jahren als etwas Vorübergehendes, durch den Katholizismus zu Überwindendes dargestellt. Hinsichtlich des Umgangs mit der Herkunft einzelner Personen wiederum lassen sich deutliche Parallelen zur vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ ziehen, nämlich bezüglich des Unerwähntlassens von unwillkommenen Abstammungsverhältnissen. Als interessantester Aspekt erweist sich, daß Nadler trotz der geänderten politischen Bedingungen letztlich dieselben Abstammungsverhältnisse als unwillkommen einschätzt wie vor 1945. So werden etwa im Fall Rainer Maria Rilkes slawische und jüdische Ahnen, die in früheren Auflagen betont wurden, nicht mehr explizit erwähnt. Es heißt nur, Rilke bedürfe „...des mehr als zweifelhaften Kärntner Väteradels ebenso wenig wie der österreichischen Schuljahre und der Uniform [...], um der österreichischen Dichtung Gesellschaft zu leisten.“26 Die früher angenommene tschechisch-jüdische Abstammung27 des Dichters, die in der vierten Auflage zur böhmischen wird,28 findet keinen Platz mehr, ist aber unterschwellig aufgrund der Formulierungsweise, die eben die Abstammung —————— 23 24 25 26 27 28
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 121. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 196. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 121. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 451. Nadler: Literaturgeschichte 1928, S. 891. Hier heißt es zu Rilke: „Der geborene Prager, Blut und Rasse des Raumes.“ Es gäbe keine Spur von Kärntner Adel, sondern väterlicherseits Ahnen aus Nordböhmen und mütterlicherseits aus Prag. Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 172.
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von Kärntnerischem Adel als zweifelhaft bezeichnet, immer noch vorhanden. Dies wird verstärkt durch die von Nadler ausgedrückte Nahestellung zwischen Rilke und Georg Trakl, dem nach wie vor explizit ein schwäbischer Vater und eine tschechische Mutter zugeschrieben werden.29 Gerade das Beispiel Trakl weist aber neuerlich darauf hin, daß die Bezeichnung als österreichischer Dichter relativ unabhängig von der Abstammung gedacht wird. Damit ist es auch unwahrscheinlich, daß Nadler ein solches Abstammungsverhältnis wie jenes in früheren Fassungen für Rilke angenommene unerwähnt läßt, um Rilke für die österreichische Dichtung vereinnahmen zu können. Viel näher liegt die Annahme, daß Nadler hier eine Anpassung an die geänderten politischen Verhältnisse vornahm, was sich am Umgang des Literaturhistorikers mit jüdischen Dichtern bestätigt. Es ist beispielsweise äußerst auffällig, daß bei der Darstellung Hugo von Hofmannsthals dessen jüdische Ahnen verschwiegen werden,30 auf die sogar noch in der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ ohne negative Auswirkungen auf die Bewertung des Dichters hingewiesen worden war. Auch bei Stefan Zweig, Arthur Schnitzler und Karl Kraus beispielsweise – die eine recht kritische Einschätzung durch Nadler erfahren – findet sich kein Vermerk zu ihrem jüdischen Familienhintergrund. Sie werden allerdings in eine Gruppe zusammengefaßt, deren unausgesprochenes Bindeglied sehr wohl das Judentum ist. Die Tilgung der Hinweise auf die Abstammung aus sich zum jüdischen Glauben bekennenden Familien bei Zweig, Schnitzler und Kraus in der „Literaturgeschichte Österreichs“ ist umso auffälliger, als diese drei Dichter seit ihrer Aufnahme in die „Literaturgeschichte“ mit Band 4 1928 von Nadler als wesentlich dadurch bestimmt dargestellt wurden. Freilich ist es nicht verwunderlich, daß Nadler seine umfassenderen Konzepte zur Einmischung von Juden in das deutsche Volk – das aufgrund der Beschränkung auf das Volk und die Literaturgeschichte Österreichs ohnehin keine zentrale Rolle in Bezug auf einen „deutschen Volkskörper“ spielen kann – nach 1945 angesichts der Angriffe auf seine „Literaturgeschichte“ nicht mehr zur Anwendung bringt. Doch weshalb er gleichzeitig jeglichen Bezug auf jüdische Familienhintergründe von Dichtern vermeidet, ist unklar. Nachdem der allgemeine Umgang mit der Abstammung von Dichtern in der „Literaturgeschichte Österreichs“ nicht den Schluß zuläßt, daß die Abstammung von nicht in Österreich lebenden bzw. nicht zum „österreichischen Volk“ gehörenden Ahnen ein Ausschließungsgrund aus der österreichischen Literaturgeschichte gewesen wäre, ist die Tilgung prak—————— 29 30
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 413; gleich in Nadler: Literaturgeschichte 1941, S. 456. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 466. Hier werden nur väterlicherseits Vorfahren aus Böhmen und italienische seitens der Mailänder Großmutter erwähnt.
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tisch jeden Hinweises auf jüdischen Familienhintergrund wohl auf eine Übervorsichtigkeit Nadlers in Hinblick auf den nach 1945 geäußerten Vorwurf des Antisemitismus zurückzuführen. Ohne Zweifel sind seine Arbeiten in Bezug auf diesen Aspekt besonders kritisch begutachtet worden und aufgrund seiner Probleme im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens war Nadler auch dafür besonders sensibilisiert. Dies bedeutet allerdings nicht, daß damit eine Umwertung der Bedeutung der betroffenen Dichter verbunden war, denn der Grundtenor ihrer Darstellung bleibt jeweils in Übereinstimmung mit früheren Auflagen. Und auch die Zusammenfassung von Zweig, Schnitzler und Kraus in eine Gruppe spricht letztlich für die Beibehaltung zuvor gefaßter Meinungen, die zumindest bei von Nadler wenig geschätzten jüdischen Dichtern einen antisemitischen Anstrich hatten. Es zeigt sich hier also wiederum Nadlers Vorgehensweise, aufgrund der Änderung politischer Verhältnisse problematisch gewordene Elemente zu verschweigen, ohne ihnen tatsächlich keine Bedeutung mehr zukommen zu lassen und solange ein solches Verschweigen sein Gesamtkonzept nicht gefährdete. Von diesem Gesamtkonzept sind wiederum zahlreiche Aspekte nach wie vor erhalten geblieben, wie sich zum Teil bereits zeigen ließ. In machen Belangen schließt die Einschätzung, die Nadler für Österreich vornimmt, nahtlos an jene zuvor allen Altstämmen zugeschriebenen Elemente an. So findet sich die Behauptung des zeitlichen Primats süddeutscher Dichter vor Martin Opitz hinsichtlich der Einführung alternierender Versmaße in die deutsche Literatur wieder.31 Auch die kritische Auffassung von Gottscheds Versuchen zur Durchsetzung einer mitteldeutsch geprägten Gemeinsprache wird weiterhin beibehalten.32 In den diesbezüglichen Ausführungen ist deutlich Nadlers fortbestehendes Bemühen spürbar, den süddeutschen Sprachgebrauch gegenüber dieser mitteldeutsch geprägten Gemeinsprache aufzuwerten. Seine Argumentation gegen eine vermeintliche Minderwertigkeit der im Süden gesprochenen Mundarten und deren geringen Einfluß auf die geschriebene Sprache gründet der Literaturhistoriker auf die Vorherrschaft des Latein in Renaissance und Barock, wobei der Einfluß des Barock auf Österreich dem Nadlerschen Konzept entsprechend als besonders groß angesetzt werden muß. Der Abstand ist demnach bei Nadler keiner zwischen Schriftsprache und (süddeutscher) Mundart, sondern besteht zwischen bereits geübter und bewährter mitteldeutscher Literatursprache sowie der erst die lateinischen Einflüsse des Barock ausgleichenden Entwicklung einer süddeutschen Literatursprache. Nachdem die Barockkunst in der stammeskundli—————— 31 32
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 139. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 184-187.
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chen Literaturgeschichtsschreibung stets mit dem Katholizismus und dem beträchtlichen Territorialbesitz der Habsburger in Verbindung gebracht wird, beinhaltet die Darstellung dieser langsamen Entwicklung vom Lateinischen zum Deutschen keinerlei negative Bewertung. Es wird aber deutlicher als bisher, daß Nadler Sprachverhältnisse direkt an Machtverhältnisse bindet – ähnlich wie die „Rechtmäßigkeit“ von fremdsprachlichen Einflüssen auf die deutsche Literatur von Territorialverhältnissen abhängt: Sein [Gottscheds] Machtgerät waren die „Deutschen Gesellschaften“, die er vielerorts gründete oder gründen ließ. Denn sie waren die Baumschulen und Mustergärten jener einheitlichen Sprachpflege, wie er sie wollte und vertrat. Sie waren aber auch, da Sprache zu allen Zeiten das stärkste Politikum gewesen ist, Stützpunkte der preußischen Staatskunst, deren kluger und weit vorausschauender Wortführer Gottsched gewesen ist.33
Auf Machtverhältnisse wie den Verlust Schlesiens an Preußen führt Nadler überdies die Notwendigkeit zurück, die bairisch-österreichische Sprachform zu stärken und ihr einen höheren Stellenwert in der Schulbildung zu geben. Den eben skizzierten Betrachtungen zur Aufwertung süddeutscher Sprachformen zuungunsten des Latein, um in Deutschland eine bedeutendere Rolle zu spielen, gehen folgende Sätze voran: Friedrich II. konnte sich sein barbarisches Deutsch leisten. Denn seine Bataillone hatten sich als die stärkeren erwiesen. Österreich hatte diesen Trumpf nicht. 34
An diesen Beispielen zeigt sich zusätzlich die ungebrochene antipreußische Einstellung Nadlers, die insgesamt weit unverblümter hervortritt als in der „Literaturgeschichte“. Dies erweckt den Eindruck, als sei der Literaturhistoriker der Ansicht gewesen, in einem Werk zur Literaturgeschichte Österreichs keine Rücksicht mehr auf möglicherweise aus Preußen stammende Leser nehmen zu müssen. Für die Aufwertung der österreichischen Kultur und Dichtung wird nun offensichtlich auch die explizite Abwertung zumindest einzelner deutscher Länder in Kauf genommen. Jedenfalls scheint es, als sollten die Ausführungen zu auf Territorial- und Machtverhältnissen beruhenden Sprachverhältnissen jene Rolle übernehmen, welche die Darstellung der Bemühungen um eine süddeutsche Schriftsprache in der Schweiz in der vierbändigen „Literaturgeschichte“ getragen hatte, um die Bedeutung Gottscheds (und damit implizit Preußens) für den Süden des deutschen Sprachraums schmälern zu können. Wenig überraschend koppelt Nadler die österreichische Literaturproduktion vollständig von Gottscheds Wirken ab. Einflüsse der mitteldeutschen Literatursprache auf österreichische Dichtung führt er allein auf das Beispiel der Dich—————— 33 34
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 186. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 185.
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ter Klopstock, Wieland, Lessing, Goethe und Schiller zurück. Dadurch wird die Dichtung bzw. deren Einfluß weit weniger eng als der Gebrauch regional gefärbter Sprachen an Machtverhältnisse gebunden, was dem Literaturhistoriker wiederum den Qualitätsanspruch der österreichischen Dichtung auch bei geänderten, den Besitz der Habsburger schmälernden territorialen Verhältnissen zu retten hilft. Dabei kommt Nadler nicht zuletzt die Betonung des „Eigenen“ zugute. Das dritte Buch der „Literaturgeschichte Österreichs“ trägt den Titel „Eigenstil. 1740 bis 1866“ und den bisherigen Linien der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung entsprechend ist dieses „Eigene“ wesentlich an das Theater gebunden. Hier findet Nadler einen Anhaltspunkt für seine ebenfalls altbekannte Ablehnung der Aufklärung. Denn am Beispiel der Versuche zur Abschaffung des vor allem religiös bestimmten Volksspiels durch aufklärerische Kräfte macht Nadler nun seine Ablehnung der Aufklärung bzw. ihres Einflusses auf die Dichtung fest: Diese ganze Volkskunst, die, ob nun kirchlich oder weltlich, aus dem Jenseits des Verstandes stammte, war die stärkste Widersacherin der Vernunft. Kunst ist unvernünftig, und daß sie sich der Vernunft widersetzt, darin bestehen ihre Natur und ihr Wesen. 35
Obwohl die in der „Literaturgeschichte“ maßgebliche Begründung der Aufklärung auf den Bemühungen der Neustämme respektive des Siedellandes um eine kulturelle Neuschöpfung in der „Literaturgeschichte Österreichs“ keine Erwähnung findet, ist implizit dennoch die Bevorzugung von organisch gewachsener „geistiger Eigenart und Selbständigkeit“36 eines Volkes gegenüber „wurzel- und traditionslosen“ Versuchen zu Neuschöpfungen vorhanden. Am deutlichsten wird dies anhand der Ausführungen darüber, wie in Deutschland am Anfang jeder literarischen Bewegung die Niederlegung ihrer lehrhaften Voraussetzungen und Meinungskämpfe gestanden seien, während die österreichische Dichtung ohne Kunstlehren mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit ausgekommen sei, weil die Kunst hier als „natürliche Äußerung des Lebens“ gelebt werde.37 Das Verhältnis des österreichischen „Eigenstils“ zur „deutschen Nationalliteratur“ wird in der „Literaturgeschichte Österreichs“ nicht thematisiert, wie generell kaum eines der zugrundeliegenden Konzepte explizit gemacht wird. Diese altbekannte Vorgehensweise Nadlers erlaubt bei der Darstellung nur eines Ausschnitts aus dem bisherigen Umfangs seiner literaturgeschichtlichen Werke die Beibehaltung älterer Aspekte. Mit älteren Ausgaben der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ver—————— 35 36 37
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 218. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 218. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 401f, Zitat von S. 402.
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traute Leser setzten diese wohl bei der Lektüre voraus. Im Grunde bringt die „Literaturgeschichte Österreichs“ keine Neuerungen, sondern allenfalls eine Verstärkung der bereits in der mehrbändigen Ausgabe vorhandenen Tendenzen und Strategien zur Aufwertung der österreichischen Kultur und Dichtung, wie etwa die Betonung landschaftlicher Einflüsse vor stammlichen; die große Nähe der Dichtung zum Volk bzw. der Volkskunst und die damit verbundenen Probleme der Anonymität und unzureichenden Verschriftlichung von Literatur (z. B. Spielmänner, Stegreiftheater); der Barock als Kunst des Habsburgerreiches und die überragende Rolle des Wiener Theaters im 19. Jahrhundert. Eine Änderung hat allenfalls die allgemeine „Zielrichtung“ erfahren, also die innewohnende Teleologie eines wachsenden Nationalbewußtseins oder einheitlichen deutschen Staats. Sie fällt zugunsten der Betonung des von Deutschland politisch und kulturell weitgehend unabhängigen, für jede Epoche als eigene staatliche Einheit zu denkenden Österreichs aus. Die Teleologie eines einheitlichen Staats aller Deutschen hatte jedoch erst nach dem Ende der Habsburgermonarchie mit der nach 1918 erschienenen zweiten Auflage Eingang in die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung gefunden. Die „Literaturgeschichte Österreichs“ endet wiederum mit dem Jahr 1918, wobei diese Grenze zwar in Fragen der politischen Rahmenziehung, nicht aber bei der Darstellung der Werke einzelner Dichter eingehalten wird, die teilweise bis in die 1940er Jahre hinaufreicht. Der Abschluß des Werks mit 1918 entsprach allerdings nicht Nadlers eigenen Intentionen, sondern war notwendig, um die Publikation einer literaturgeschichtlichen Schrift aus seiner Hand trotz zahlreicher Einsprüche speziell seitens von Schriftstellern zu ermöglichen.38 Aufgrund dieser Sachlage ist für die 1948 erschienene „Literaturgeschichte Österreichs“ unmöglich festzustellen, welche weitere politische Entwicklung Österreichs Nadler in Hinblick auf Unabhängigkeit von oder Einigung mit Deutschland nunmehr als wahrscheinlich oder auch nur wünschenswert betrachtete. Denn unabhängig vom Konzept eines deutschen Volksstaats, der alle (als Abstammungseinheit gefaßte) Deutschen vereinigen sollte, läßt sich auf die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung immer noch das vor 1918 bestehende Konzept eines anwachsenden, aber von staatlichterritorialen Verhältnissen relativ unabhängigen deutschen Nationalbewußtseins anwenden. Dieses in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ angewandte und auch Völkerstaaten positiv fassende Konzept war zwar von der Betonung völkischer Aspekte mehr und mehr verdrängt worden, aber nicht in einer Weise, die eine widerspruchslose Wiederbele—————— 38
Meissl: Der Fall Nadler, S. 291.
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bung dieses Konzepts nach 1945 ausgeschlossen hätte – was angesichts der Probleme mit eben diesen völkischen Ansätzen für Nadler wohl erstrebenswert war. Immerhin bezeichnet der Literaturhistoriker den für die Zeit zwischen 1740 und 1866 angesetzten „Eigenstil“, welcher der zentrale Hinweis auf eine nunmehrige Auffassung oder zumindest Darstellung einer weitgehenden kulturell-literarischen Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland und dessen Hochblüte der deutschen Nationalliteratur in Klassik und Romantik ist, als „letzte österreichische Kultur“.39 Das Ende dieser Kultur ließe sich zwar, nachdem Nadler die bis 1918 reichende Epoche mit „Moderne“ übertitelt und in ihr die „Vollendung des Eigenstils“40 verwirklicht sieht, auch erst mit 1918 ansetzen, doch das ändert nichts daran, daß die an 1918 anschließende und nicht mehr in der „Literaturgeschichte Österreichs“ dargestellte Periode nicht mehr als „österreichische“ Kultur verstanden werden dürfte. Um festzustellen, ob Nadler hier für die Zeit nach 1918 eine Angleichung der österreichischen an die deutsche Kultur implizierte, was weiterreichende Aussagekraft über seine Einschätzung der NS-Politik hätte, ist es notwendig, detaillierter nachzuvollziehen, was „österreichische Kultur“ für ihn ausmacht. Wichtigster Ausdruck österreichischer Kultur war für Nadler schon in früheren Werken zur stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung immer der Barock. Und auch der nach 1740 entwickelte in der „Literaturgeschichte Österreichs“ dargestellte „Eigenstil“ baut maßgeblich auf dem Barock, genauer gesagt auf dem barocken Drama und der humanistischen Latinität auf.41 Zur Dichtung nach 1866 heißt es wiederum: Die Dichtung beginnt aufs neue mit Europa eins zu werden und aus mancherlei Stilen ihrem österreichischen Eigenstil moderne Neugestalt zu geben. Doch kaum begonnen, war es auch schon zu Ende. Fünfzig Jahre, das ist nur genug zu zeigen, was man will, aber nicht, was man kann. 42
Die Anbindung an Europa ist also wie schon für die Barockzeit ein weiteres Mal von Bedeutung. Allerdings nimmt Nadler gleichzeitig eine völlige Abkoppelung der österreichischen Dichtung von literarischen „Bewegungen“ aus anderen Ländern vor, speziell auch von deutschen literarischen Bewegungen wie höfische Literatur, Mystik, Aufklärung, Klassik, Romantik, junges Deutschland und Naturalismus. Die österreichische Literatur stehe diesen Bewegungen immer unverändert und beständig in den eigenen Zügen gegenüber: —————— 39 40 41 42
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 176. So der Titel der einführenden Worte zum vierten Buch. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 356-359. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 176. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 355.
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Geistige Bewegungen sind von außen her der österreichischen Dichtung nie ins Wesen gegangen. Und geistige Bewegungen sind von außen her weder von der Dichtung im Ganzen noch von den einzelnen Schöpfern en bloc übernommen worden, sondern von Mensch zu Mensch, von Buch zu Buch, nach Befund und durch persönliche Wirkung. Die österreichische Dichtung hat die deutsche und europäische in persönlicher Freiheit mitgelesen und von Fall zu Fall daraus gelernt, was dem eigenen Wesen dienlich war.43
Hier wird in der „Literaturgeschichte Österreichs“ nicht nur die österreichische von anderen „Volkspersönlichkeiten“ deutlicher als bis zu dieser Stelle abgesetzt, sondern es scheint auch, als habe Nadler hier einen entscheidenden Schritt weg von seinen bisherigen Konzepten gemacht. Denn schließlich hatte er bereits in seiner „Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte“ die Ursache jeglicher Ähnlichkeit zwischen zwei Dichtungen auf gemeinsame Abstammung ihrer Urheber festgelegt und die Vorstellung jeglicher persönlicher Beeinflussung von Dichter zu Dichter bzw. Dichtung zu Dichter abgelehnt (vgl. Abschnitt 3.1.). Und nun führt er Ähnlichkeiten österreichischer Dichtungen mit von außen kommenden Bewegungen auf eben solche direkten Einflüsse zurück. Auf den ersten Blick sieht es also aus, als würde Nadler das Prinzip der Entstehung von Ähnlichkeiten zwischen Dichtungen aufgrund gleicher oder zumindest verwandter Abstammung der Autoren und damit ein zentrales Element der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aufgeben – also nichts weniger als den abstammungsgebundenen Stammescharakter. Allerdings läßt sich diese Annahme auf den zweiten Blick nicht halten. Denn abgesehen davon, daß die theoretische Positionierung der „Wissenschaftslehre“ von 1914 zu keinem Zeitpunkt Nadlers Praxis entsprach, hatte der Germanist schon in früheren Ausgaben der „Literaturgeschichte“ die je nach Stammescharakter unterschiedliche Aufnahme einzelner literarischer Bewegungen (z. B. Humanismus oder Mystik) angesetzt und auch einzelne Bewegungen dezidiert bestimmten Stammesverbänden (speziell Klassik und Romantik) zugeschrieben, wobei dem bairischen Österreich eben der Barock zugeordnet wurde. Und im unmittelbar an obiges Zitat anschließenden Absatz wird auch sogleich der Stamm als wichtigstes Element betont: Es gibt kein Verständnis für die Gesamterscheinung der österreichischen Dichtung, wenn man sie nicht von den Ursprüngen des Landes her versteht. Österreich ist aus einem immer gleich und natürlich umgrenzten Raume durch wiederholte Neupfropfungen auf denselben Volksstamm entstanden. Dieser Ursprung und organische Fortwuchs des Volkes erzeugte seine Dichtung immer wieder
—————— 43
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 358.
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aufs neue aus den drei natürlichen Wurzeln der Dichtung, aus Sage, Lied und Spiel.44
Die behauptete Eigenart der österreichischen Dichtung und ihre Unabhängigkeit von deutschen literarischen Bewegungen ist also kein Argument gegen das bisher gepflegte Stammeskonzept, sondern vielmehr seine Verstärkung, nachdem die Rolle des eigenständigen Teilstammes bzw. seines Charakters noch mehr als bisher herausgehoben wird. Gerade diese Unverändertheit des Stammeskonzepts läßt allerdings auch vermuten, daß überdies die dem Stamm übergeordnete Abstammungseinheit – das Volk – eine Rolle in Nadlers Literaturgeschichtsschreibung behält. Damit stellt die „Literaturgeschichte Österreichs“ nichts anderes dar als einen Ausschnitt aus der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ unter verstärkter Betonung der Eigenheiten dieses einen Ausschnitts. Auch die 1951 erschienene zweite Auflage der „Literaturgeschichte Österreichs“, welche die Zeit zwischen 1918 und 1945 in einem fünften Buch mit dem Titel „Erbe und Freiheit“ einschließt, läuft dieser Einschätzung nicht zuwider. Dieses Kapitel widerspricht dem Befund einer „letzten österreichischen Kultur“ vor 1918 nicht, was sich vor allem an der engen Bindung der „österreichischen Kultur“ an die Dynastie der Habsburger festmachen läßt, deren Herrschaftsende in Nadlers Auffassung eine völlig neue Situation mit sich brachte: Mit dem Verlust der Weltmacht des Hauses [Habsburg] schrumpfte der Name [Österreich] wieder vom Haus auf dessen Restbesitz ein, der sich kaum merklich aus einem Familiengut in die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder verwandelt hatte, ohne mehr zu sein als familiäre Bezeichnung einer juristischen Person, die sich staatsrechtlich ihrer nicht bewußt werden konnte. [...] Österreich hatte für die Lage, in der es sich wiederfand, kein Beispiel oder Vorbild aus der eigenen Geschichte. Es mußte vom Grund auf neu zu leben suchen. 45
Auch der weitere Text des fünften Buches, der im allgemeinen die Beibehaltung alter, aus der Zeit vor 1918 stammender Stilelemente und eine ausbleibende Entwicklung neuer Stile thematisiert, stellt die österreichische Dichtung damit als in einem unbestimmten Zustand schwebend dar. Politische Vorgänge werden hier kaum berücksichtigt, es findet sich allein die Bemerkung, aufgrund der sich in der Stadtregierung rasch ablösenden politischen Parteien habe sich in Wien keine wirkliche Verände-
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Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, S. 358. Nadler, Josef: Literaturgeschichte Österreichs. Salzburg: Otto Müller. 2. Auflage 1951, S. 475.
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rung der geistigen Lage entwickeln können.46 Auf die NS-Herrschaft in Österreich, ihren Beginn wie ihr Ende, wird nur an einer einzelnen Stelle Bezug genommen, wo es heißt, daß mit dem Einrücken der deutschen Truppen 1938 die Stadt sich über ihr Schicksal nicht mehr habe den Kopf zerbrechen müssen und es erst 1945 endgültig ernst geworden sei mit dem Auftrag, aus eigener Kraft ein neues Leben zu entwickeln.47 Dies alles dient Nadler als Begründung dafür, daß sich in Österreich nach 1918 kein neuer, den zumindest in Rückgriffen immer noch präsenten „Eigenstil“ der Habsburger-Zeit ablösenden Stil entwickelt hatte, sagt aber nichts über seine Einschätzung des politischen oder „völkischen“ Verhältnisses zwischen Österreich und Deutschland aus. Am ehesten entsteht bei der Lektüre der Eindruck, daß Österreich ein Schicksal erlitten habe, auf das seine Bewohner selbst keinen Einfluß gehabt hätten. Dasselbe gilt für die Dichtung, die durch „staatliche Lenkung“ und „gewaltsame Säuberung“ im Jahrzehnt von 1934 bis 1944/45 nicht „organisch“ „mit dem Körper“ hätte „wachsen“ können, an den sie gebunden gewesen sei.48 Eine solche Darstellung paßt zwar zur in der Zweiten Republik lange gepflegten Interpretation Österreichs als erstes Opfer des deutschen Nationalsozialismus, ist aber ein deutliches Ausscheren aus Nadlers sonst hervortretenden Teleologien. Die Emphase auf Österreich als eigenständige staatliche und kulturelle Einheit wäre demnach in erster Linie auf die Habsburgermonarchie anzuwenden – ein bekanntes Konzept, daß vor 1918 sehr stark und danach ein wenig schwächer in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung spürbar war. Diese eigenständige Einheit ist also nicht als auf die Republik(en) Österreich anzuwendende Teleologie zu verstehen, wie es bei der Analyse der nur bis 1918 reichenden ersten Auflage der „Literaturgeschichte Österreichs“ zum Teil den Eindruck machte. In diesem Zusammenhang muß zudem berücksichtigt werden, daß nach dem das fünfte Buch einleitenden Abschnitt zu schließen, auch das Ende der Habsburgermonarchie als eine Störung des „organischen“ Wachstums der Dichtung aufgrund der Zerschlagung des „Körpers“, auf dem sie wuchs, aufgefaßt werden soll: Es geht gegen jede Erfahrung und wider alle Natur, daß ein Kleinstaat hoffen sollte, die Literatur des Großstaates, die sich im Augenblick der Trennung zufällig
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48
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, 2. Auflage, S. 500. Zumindest zwischen 1919 und 1934 gehörten die Wiener Bürgermeister allerdings der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs an. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, 2. Auflage, S. 501. Der einzige Bezug auf politische Inhalte des Nationalsozialismus findet sich eine Seite zuvor in dem Satzteil, daß die rasche Ablöse von Parteien in Wien jeweils „...eine soziale oder rassische Umschichtung der Bevölkerung“ bewirkt habe. Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, 2. Auflage, S. 478.
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gerade auf seinem Boden befand, dadurch in die seine zu verwandeln, daß er ihre Schreiber insgesamt und mit einem einzigen Vollzug zu seinen Bürgern machte.49
Selbst wenn sich aus der 1951 veröffentlichten „Literaturgeschichte Österreichs“ mangels Bezüge auf politische Verhältnisse nicht das Konzept einer gewünschten Vereinigung des deutschen Volkes in einem gemeinsamen Staat ablesen läßt, sind in diesem Werk keinerlei Sympathien Nadlers für den Kleinstaat Österreich der Ersten und auch Zweiten Republik spürbar. Sein durchaus vorhandener Patriotismus für „Österreich“ ist nach wie vor ein Patriotismus für den Vielvölkerstaat bzw. die Dynastie der Habsburger. Dies bedeutet, obwohl Nadler auch zwischen den 1920er und frühen 1940er Jahren Österreich immer einen Sonderstatus unter den deutschsprachigen Ländern zu verleihen suchte, eine Rückkehr zu vor 1918 in der „Literaturgeschichte“ vorherrschenden Konzepten. Der einheitliche Volksstaat aller Deutschen als Alternative zum Kleinstaat bzw. als Rettung des Kleinstaats Österreich scheint jedenfalls nach 1945 für Nadler keine Option mehr gewesen zu sein. Doch um über die Frage des Verhältnisses zwischen „deutschem“ und „österreichischem“ oder auch „Schweizer“ Volk in der stammeskundlichen Literaturgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg Klarheit zu erlangen, wird die Analyse des zweiten einbändigen literaturgeschichtlichen Werks der Nachkriegszeit notwendig sein: die „Geschichte der deutschen Literatur“.
10.2. Die „Geschichte der deutschen Literatur“ 1951 Während Nadler in der „Literaturgeschichte Österreichs“ manchen mit dem Ende der NS-Herrschaft problematisch gewordenen Aspekten des stammeskundlichen Ansatzes aus dem Weg gehen konnte – so stellte sich etwa die Frage nach dem Zusammenwirken der deutschen Stämme bei der Konzentration auf einen Teilstamm nicht – umfaßt die „Geschichte der deutschen Literatur“ wiederum die gesamte deutschsprachige Literatur. Erst mit diesem Werk steht die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung tatsächlich auf dem Prüfstand der geänderten Verhältnisse der Nachkriegszeit. Demzufolge gilt das Hauptaugenmerk in diesem Abschnitt der Frage, wie Nadler in seiner letzten Publikation zur gesamten deutschen Literaturgeschichte seinen Ansatz in Relation zu der vierbändigen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ gestaltete.
—————— 49
Nadler: Literaturgeschichte Österreichs, 2. Auflage, S. 476f.
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10.2.1. Die „Wissenschaftslehre“ von 1914 als „Vorschule“ Das mit „Vorschule“ betitelte Vorwort der „Geschichte der deutschen Literatur“ illustriert eindrücklich, wie wenig Nadlers grundlegende Ansichten bzw. deren theoretische Begründung sich seit der frühen Formulierung seines Ansatzes bei der Niederschrift der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ geändert hatten. Denn im wesentlichen stimmt dieses Vorwort inhaltlich und zum Teil auch hinsichtlich seiner Strukturierung mit der „Wissenschaftslehre“ von 1914 überein. Die bisherigen Analysen lassen erkennen, daß dies keine „Rückkehr“ zu älteren, nicht von NSIdeologemen berührten Konzepten darstellt, sondern daß die Kontinuitäten stark genug waren, um die von Nadler im Laufe der Zeit vorgenommenen Adaptionen hinter die Begründung von 1914 zurücktreten lassen zu können. Nachdem Nadler bei der Erarbeitung des Textes seiner literaturhistorischen Werke nie tatsächlich der logisch-erkenntnistheoretischen Vorgangsweise folgte, die er in der „Wissenschaftslehre“ beschrieb, bezieht sich die Feststellung von Kontinuitäten hier in erster Linie auf die „wissenschaftlichen“ Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung – die Änderungen in deren Präsentation von Auflage zu Auflage sind ja bereits deutlich geworden. Trotz der langen Zeit, die zwischen 1914 und 1951 vergangen war, lassen sich durchaus Parallelen zwischen Nadlers Situation zur Zeit der Niederschrift der „Wissenschaftslehre“ und seiner Lage nach 1945 ziehen. So sind beide Texte deutlich von Bemühungen um die Legitimierung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als wissenschaftlicher Ansatz geprägt. Der einzige Unterschied liegt darin, daß es sich 1951 nicht mehr um den Legitimierungsversuch eines neu formulierten Ansatzes, sondern um die neuerliche Etablierung eines durch die geänderten politischen Umstände problematisch gewordenen Konzepts handelt. Und so sind zwar an der Argumentationsweise einige Änderungen in der „Vorschule“ im Vergleich zur „Wissenschaftslehre“ zu verzeichnen, aber kein Unterschied hinsichtlich der aus den vertretenen Ansichten resultierenden Konsequenzen festzustellen. Der Legitimierungsanspruch Nadlers wird speziell in den einführenden Worten der „Vorschule“ deutlich: Ob Wissenschaft sei oder nicht sei, hängt von der Anerkennung zweier Spielregeln ab. 1. Der Finder ist für die gefundene Wahrheit nicht haftpflichtig. Er kann nichts dafür, daß zweimal zwei vier ist. 2. Die gefundene Wahrheit gilt für jede Weltanschauung. Gegen das Erwiesene gibt es keine Berufungsinstanz.50
Anschließend verfolgt Nadler jene schon für die „Wissenschaftslehre“ entwickelten – wenn auch nie praktisch umgesetzten – Schritte, die eine —————— 50
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. VII.
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auf Erkenntnis und Beweis ausgerichtete Literaturwissenschaft zu vollziehen habe und die sich logisch einer aus dem anderen ergäben. An die auf fortschreitender Begriffsbildung aufbauende, sprachlich-formal orientierte Behandlung von der Wahrnehmung gegebenen Werken als begriffliche Erkenntnisstufe schließt er in bekannter Weise die historische Erkenntnisstufe mit der Behandlung der Dichtungen als geschichtliche und damit räumlich, zeitlich sowie personal zu verankernde Quellen an. Der letzte, nunmehr als soziologisch bezeichnete Schritt habe sich der Frage nach der Ursache für die überpersönlichen Gemeinsamkeiten der Dichtungen zu widmen. Für den ersten Teilschritt dieser Abfolge ist bemerkenswert, daß Nadler neben der schon 1914 ausschlaggebenden „Ordnung nach dem Grad der Sprachvertrautheit“51 eine Einteilung der Werke in die Gattungen Lied, Erzählung und Spiel vornimmt und sich somit auf die „schöne Literatur“ beschränkt, ohne diese Vorgangsweise zu reflektieren oder ein Kriterium zur Abgrenzung von anderem Schrifttum wie etwa Gebrauchsliteratur einzuführen. In der praktischen Umsetzung der „Geschichte der deutschen Literatur“ beschränkt Nadler sich auch keineswegs auf diese Gattungen der „schönen Literatur“, sondern behält etwa die Einbeziehung der „deutschen Staatsrede“ im Frankfurter Paulskirchenparlament oder auch der bildenden Kunst bei.52 Weniger radikal als 1914 formuliert der Literaturhistoriker zudem seine Ansichten zu Ähnlichkeiten zwischen Werken, die nun sowohl willkürliche –Beeinflussung durch Personen, Lektüre, staatliche und konfessionelle Verhältnisse – als auch unwillkürliche Gründe haben können. Die in der „Wissenschaftslehre“ allein gültigen, in der Abstammung zu suchenden unwillkürlichen Gründe wiegen zwar auch in der „Vorschule“ ungleich schwerer, doch die Prämisse, daß im Schrifttum zutagetretende geistige Ähnlichkeiten in jedem Fall auf körperliche Verwandtschaft zurückgehen müßten, ist zugunsten der angeführten „soziologischen“ Faktoren gemildert. In der Praxis der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung hatte Nadler diese soziologischen Faktoren von Anfang an berücksichtigt und war nicht bei der Abstammung als einzige Erklärung für ähnliche literarische Erscheinungen stehen geblieben. Die 1951 in die theoretischen Betrachtungen eingeführte Neuerung kann auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Einerseits war trotz aller Kontinuitäten seit der Niederschrift der „Wissenschaftslehre“ ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten vergangen. Das Stammeskonzept war in der Zwischenzeit weiterentwi kelt und – obwohl in der unmittelbaren Gegenwart von nach 1945 wieder —————— 51 52
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. VIII. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 486 bzw. 761f.
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scharfer Kritik ausgesetzt – als wissenschaftlicher Ansatz der Germanistik kanonisiert worden. Somit war es Nadler möglich, die innerhalb seiner Literaturgeschichtsschreibung ohnehin berücksichtigten „Deutungskonkurrenzen“ auch in einem theoretischen Text neben die angenommenen abstammungsgebundenen Einflüsse zu stellen, wie er es bereits 1934 in dem Artikel „Rassenkunde, Stammeskunde, Volkskunde“ getan hatte (vgl. Abschnitt 9.1.2.). Andererseits kam eine stärkere Hervorhebung jener neben dem Stamm zu berücksichtigenden „Deutungskonkurrenzen“, die eine Zurückdrängung völkischer Aspekte erlaubte, der Akzeptanz seines literaturgeschichtlichen Ansatzes nach 1945 zweifellos zugute. Das Argument „soziologischer“ Faktoren – die hier in Anführungszeichen gesetzt werden, da noch zu klären ist, wie sich deren Verhältnis zu biodeterministischen Konzepten gestaltet – dient Nadler auch bezüglich der Absetzung seines Ansatzes von Rassentheorien. Dies ist für den Literaturhistoriker von besonders großer Bedeutung, da er seine Konzepte weiterhin auf biologisch begründete menschliche Einheiten aufzubauen versucht und sich dabei gleichzeitig von als nationalsozialistisch verpönten Aspekten abgrenzen muß. Und tatsächlich sind die „soziologischen“ Faktoren bei Nadler immer noch wesentlich biologistisch bestimmt, da er als jene biologische Gemeinschaft, die allein wissenschaftlich zugänglich sei, die Familie setzt: Es gibt nur einen Bereich, in dem ich hinreichende Gründe für das nachgewiesene Auftreten überpersönlicher Gemeinsamkeiten erwarten darf: die biologische Gemeinschaft. Diese ist das Leben selber und in Person; jenes Leben, aus dem die Persönlichkeit eine zeitliche und individuelle Erscheinung ist; die wahrhafte Überpersönlichkeit, in der die gewesenen und gleichzeitig lebenden Persönlichkeiten ein völlig reales Ganzes bilden. Die biologische Disziplin, die den Menschen zum Gegenstande hat, heißt Familienkunde. Die familienkundliche Gemeinschaft im weitesten Sinne, das heißt der Lebensverband, dem die Persönlichkeit in der zeitlichen Tiefe und räumlichen Gleichzeitigkeit angehört, ist der Bereich, in dem sich die überpersönlichen Gemeinsamkeiten, die sich nicht anders erklären lassen, zureichend begründet finden. 53
Als entscheidender Unterschied zur „Rasse“ wird hier gesetzt, daß diese – anders als die Familie – „keine soziologische Wirklichkeit“ sei, weil der Mensch „...nicht unter dem Gesichtspunkt bestimmter Typennormen...“ zusammenlebe.54 Und die Rasse sei nichts anderes als ein Typus, der als nicht erklärbar und aufgrund seiner Unanwendbarkeit auf frühere Zeiten mangels Bildmaterial nicht als geisteswissenschaftliche Erklärungsmöglichkeit dienen könne. Der Literaturhistoriker bemüht sich darum, seinen Ansatz aufgrund seiner Konzentration auf die Familie als soziologisch zu —————— 53 54
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XII. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XII.
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bestimmen, wobei die als (Abstammungs)Einheit gefaßte Familie tatsächlich die genealogisch-biologistischen Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung weiterträgt. Wie schon 1914 spielt auch 1951 die Frage nach dem Verhältnis der Literaturwissenschaft zu Natur- und Geisteswissenschaften eine Rolle. Nadler behält hier seine Ablehnung einer Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften auf der Grundlage der Methodik bei und bestimmt die beiden Richtungen über ihren Gegenstand – Natur bzw. Geist. In diesem Zusammenhang ist wiederum auffällig, daß der Literaturhistoriker soziologisch ausgerichteten Wissenschaften letztlich keine Beachtung schenkt, obwohl er zuvor explizit soziologische Faktoren in seine Betrachtungen eingeschlossen hatte. Sie spielen auch in den weiteren Ausführungen keine Rolle, was ein Indiz dafür ist, daß Nadler den Terminus „Soziologie“ nach wie vor in erster Linie als Schlagwort für seinen familienkundlichbiodeterministischen Ansatz verwendet, ohne tatsächlich neuere soziologische Ansätze zu rezipieren. Stattdessen nimmt der Text die von 1914 geläufige Verbindung von Geschichtswissenschaft und Biologie in der Familienkunde erneut auf. Hier hält Nadler eine Verteidigung dieser in seinen Augen durch den Forschungsgegenstand (das literarische Werk als geistiges Sprachgebilde) und das Erkenntnisziel (der Mensch als NaturGeist-Wesen) bestimmten Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften für notwendig: Wer dieses Verhältnis [zwischen Natur- und Geisteswissenschaften] anders als negativ erörtert, wird immer mit einem gewissen weltanschaulichen Ressentiment zu rechnen haben. Es gilt wohl da und dort als zweckmäßig, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in keine zu nahe Arbeitsnachbarschaft kommen zu lassen, damit sich die unvereinbare Wesensverschiedenheit von Stoff und Geist bei der Arbeit nicht verwische. Doch verwischt denn die gemeinsame Anatomie den Unterschied von Tier und Mensch? Das wesentliche Kapitel aus diesem ganzen Fragenkreis ist die Freiheit des menschlichen Willens. Sie gilt und muß gelten auf sittlichem Gebiet, wenn der Mensch für sein sittliches Handeln verantwortlich sein soll. Aber daß man durch bestimmte leiblich-seelische Anlagen zu gewissen Fertigkeiten geboren sein muß, das widerspricht, ganz abgesehen von dem beständig erhärtbaren Tatbestand, keiner sittlichen Forderung. Wenn die Literaturwissenschaft diese Determination zu bestimmten Künsten, Stilen, Ausdrucksmitteln in das Kalkül ihrer Erkenntnis einbezieht, so verpflichtet sie sich damit zu keinerlei Entscheidung bezüglich der Frage, wie wir uns dieses Zusammenwirken von Leib-Seele-Geist vorzustellen haben.55
Während 1914 die Frage nach der Stellung der Literaturgeschichtsschreibung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften deutlich von der Methodendiskussion innerhalb der Germanistik beeinflußt gewesen war, wohnt diesem Zitat ein impliziter Bezug auf rassen(seelen)kundliche Kon—————— 55
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XVf.
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zepte inne. Denn die „weltanschaulichen Ressentiments“ sind wohl auf die in der Nachkriegszeit an der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung geübte Kritik bezogen und der weitere Text dient der Verteidigung biodeterministischer Aspekte gegenüber der nunmehr in fester gedanklicher Verbindung zum Nationalsozialismus stehenden Rassenkunde. Deutlicher wird dies an dem auf die Familienkunde bezogenen Zitat: Irrtum und Frevel haben dieses Gebiet der Forschung und Erkenntnis schwer mißbraucht. Darum muß die Ehre dieser Disziplin wieder hergestellt werden. In der Familienkunde wirken durch die Biologie die Naturwissenschaften und durch die Historie die Geisteswissenschaften unmittelbar zusammen.56
Die Argumentation über die Familienkunde in der „Vorschule“ ähnelt insgesamt sehr stark jener in der „Wissenschaftslehre“, weil hier wiederum die Familie als Garant für gemeinsame, vererbbare Eigenschaften ohne Klärung der Grundlagen der Vererbungsvorgänge oder des Zusammenhangs zwischen Geist und Körper herangezogen wird. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Literaturgeschichtsschreibung zu anderen Wissenschaften beschränkt sich wesentlich auf diese Verbindung zwischen Historie und Biologie in der Familienkunde während eine Einbeziehung von Stammeskunde, Volkskunde, Geographie etc. nicht mehr thematisiert wird. Von der Genealogie, auf welcher Nadler seinen Ansatz von Beginn an aufgebaut hatte, bleiben jedenfalls alle jene von Ottokar Lorenz übernommenen Implikationen für Staaten und Völker erhalten, selbst wenn der Literaturhistoriker sich von Lorenz abzusetzen versucht: In der Familienkunde wirken durch die Biologie die Naturwissenschaften und durch die Historie die Geisteswissenschaften unmittelbar zusammen. Nur das Urkundenmaterial, das die Historie aufgespürt, geordnet und pragmatisch verknüpft hat, kann die Biologie interpretieren. [...] So wird es begreiflich, daß diese trotz ihres hohen Alters junge, ja unmündige Disziplin, die keineswegs nur Ottokar Lorenz geschaffen hat, sich nie recht entwickeln konnte. Denn sie setzt ein Quellenmaterial voraus, das erst in die Zukunft hinein bereitgestellt werden könnte. [...] In der Familie lösen sich die Antinomien von Natur und Geist, Trieb und Wille, Gesetz und Freiheit zu der Harmonie des Menschentums auf. Wie immer der Zustand der Familienkunde sein mag und welche Aussichten sie gewinnen oder verlieren könnte: ohne Familienkunde kein Einblick in die Geschichte der Völker, der Staaten, der Gesellschaft und ihre tatsächlichen Veränderungen. Ohne Familienkunde keine Aussagen von den überpersönlichen Kräften, deren Wirkungen von der schaffenden Persönlichkeit her in den Schriftwerken, das ist im Objekt der Literaturwissenschaft, sichtbar werden. 57
So bleibt zu analysieren, ob die stammes- und volkskundlichen, die geographischen und kulturgeschichtlichen Grundlagen der „Geschichte der —————— 56 57
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XVII. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XVIIf.
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deutschen Literatur“ die gleichen sind wie der mehrbändigen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften.“ 10.2.2. Das Verhältnis der einbändigen zur vierbändigen Ausgabe Die Frage nach der konzeptuellen Identität oder Nichtidentität der „Geschichte der deutschen Literatur“ mit der „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ bzw. der „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ stellte sich unmittelbar nach dem Erscheinen des einbändigen Werks im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei Verlagen. Nadler war mit dem Eigentümer seines Stammverlags, Josef Habbel junior, seit 1945 in losem brieflichem Kontakt gestanden, wobei auch über neue Publikationsprojekte korrespondiert worden war.58 Durch das Erscheinen der „Literaturgeschichte Österreichs“ 1948 dürfte Habbel erstmals irritiert gewesen sein, woraufhin Nadler ihm mitteilen ließ, dieses Buch sei deshalb im Österreichischen Verlag für Belletristik und Wissenschaft in Linz erschienen, da dieser als US-amerikanischer Lizentiat keinen Zensurauflagen unterworfen sei. Für eine Neuauflage seiner „Literaturgeschichte“ käme für den Literaturhistoriker vereinbarungsgemäß nur Habbel in Frage.59 Der Plan für eine solche Neuauflage war ebenfalls schon 1945 aufgenommen worden, als Nadler ein Teilmanuskript einer bzw. der 1951 erschienenen einbändigen Fassung an Habbel gesandt hatte, und er wurde auch danach weiter verfolgt. Als jedoch die erste Auflage des einbändigen Werks zur deutschen Literaturgeschichte 1951 im Wiener Verlag Johannes Günther publiziert wurde, verlangte Habbel telegraphisch den sofortigen Auslieferungsstop für das Werk, da kein Lizenzvertrag abgeschlossen worden sei. Der sich daraus entspinnende Streit ist hier deswegen von Interesse, weil in seinem Verlauf Vergleiche zwischen der mehrbändigen Ausgabe der „Literaturgeschichte“ und der einbändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ von verschiedenen Seiten vorgenommen wurden. Zur Formulierung eines juristischen Urteils hierzu kam es allerdings nie, da zunächst eine außergerichtliche Einigung über die nachträgliche Leistung von Lizenzgebühren angestrebt und 1953 gegen den Verlag Johan-
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Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Anlage zu Schreiben von Habbel an Rechtsanwalt Kurt Runge, [Regensburg], 23. 3. 1951. Diese Anlage ist eine Zusammenstellung der Briefe Nadlers an Habbel zwischen 1945 und 1951. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Gustav Otruba an Josef Habbel, Wien 30. 6. 1948.
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nes Günther ein Verfahren wegen betrügerischen Bankrotts eingeleitet wurde.60 Nadler selbst äußerte sich im Rahmen dieser Auseinandersetzung zum Verhältnis des vierbändigen Werks zur neuen einbändigen Ausgabe in folgender Weise: Die beiden Fassungen sind aus grundverschiedenen Weltlagen herausgewachsen und schon unter den Perspektiven, die sich daraus ergeben, so verschieden voneinander, daß man sie nicht einfach als „Bearbeitungen“ bezeichnen kann. Denn diese verschiedenen Perspektiven haben nicht nur die Anlage der beiden Werke sondern auch ihre ganze Substanz entscheidend getroffen. Die eigentliche geistige oder wenn man unbescheiden sagen will, schöpferische Tätigkeit ist nicht das Finden des Wortlauts im Einzelnen sondern die große Grundkonzeption. Diese wissenschaftliche und künstlerische Konzeption ist bei beiden Fassungen grundverschieden. Die vierbändige Ausgabe geht ausschließlich vom stammheitlichen aus. Die einbändige bringt darüber hinaus das jeweils geltende politische und staatliche Konzept zur Erscheinung. Das beweist schon ein äußerlicher Blick auf die Gliederung der beiden Werke. Darüber hinaus bestimmen den Aufbau der einbändigen Fassung wie ja schon in der Überschrift der sechs Bücher zum Ausdruck kommt, die großen geistigen und ästhetischen Konzepte des jeweiligen Zeitalters die Grundlage. Neben dem Stammheitlichen ist also in dem einbändigen Werk gerade in der Grundkonzeption auch das Politische und Geistesgeschichtliche zur Geltung gebracht. Darin liegt die entscheidende Fortentwicklung meiner Anschauung und Erkenntnisse weit über das alte vierbändige Werk. Dem gegenüber kommt den stellenweisen wörtlichen Herübernahmen aus dem vierbändigen Werk nur untergeordnete Bedeutung zu. Auch wo solche Herübernahmen erfolgt sind, kommt durch die neue Gruppierung und Verknüpfung eine so starke geistige und künstlerische Mehrleistung ins Spiel, daß das Wörtliche, weil nicht einfach mechanisch übernommen, belanglos erscheinen muß. Dazu ist zu bedenken, daß einmal gefundene Formulierungen in einem wissenschaftlichen Werk nicht verändert werden können, am allerwenigsten durch Umschreibungen des bloßen Wortlautes. 61
An diesen Text schließt sich eine Auflistung neugeschriebener Stellen mitsamt zugehöriger Seitenzahlen an. Nadlers Stellungnahme entspricht wohl jener Intention, die ihn schon bei der Niederschrift der „Geschichte der deutschen Literatur“ unter Berücksichtigung der Kritik an seinem Werk im Entnazifizierungsverfahren begleitet haben wird: die deutliche Abgrenzung der einbändigen Ausgabe gegenüber der in ihrer vierten Auflage scharf kritisierten vierbändigen Fassung hinsichtlich des nunmehr als nationalsozialistisch aufgefaßten Gedankentums. Unter seiner Absicht, in der Angelegenheit der Verlagsli—————— 60 61
Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Nadler an Habbel, Wien 18. 10. 1953 und Wien 16. 1. 1954. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), indirektes Zitat Nadler aus: Gutachten von Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Peter, [Wien] 30. 4. 1951.
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zenzen die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens zu beweisen, hebt er diese in Reaktion auf die Beanstandungen an der vierten Auflage eingeführten Adaptionen heraus und macht seine Änderungsansätze in diesem Vorgang leicht faßbar. Doch schon der Hinweis auf die „unterschiedlichen Weltlagen“ bei der Abfassung der beiden Werke – der auf den ersten Blick zweifelsohne gerechtfertigt wirkt – gestaltet sich problematisch, da hinsichtlich der theoretischen Begründung des Ansatzes in der „Vorschule“ der Bezug auf die „Wissenschaftslehre“ von 1914 und damit auf die vierbändige „Literaturgeschichte“ allzu deutlich hervortritt. Bemerkenswerterweise besteht Nadler vor allem auf eine geänderte Grundkonzeption, welche nun anstelle der ausschließlichen Konzentration auf das stammeskundliche Prinzip stärker auf staatliche und geistesgeschichtliche Vorgänge aufbaue. Tatsächlich hatte der Literaturhistoriker jene „Deutungskonkurrenzen“ schon zuvor als Gestaltungselemente in seine „Literaturgeschichte“ einfließen lassen – speziell in jenen Fällen, wo das stammeskundliche Prinzip zur Umsetzung seiner Intentionen nicht ausreichte. Als Beispiel hierzu kann die Aufwertung Österreich-Ungarns angeführt werden, die ja neben der besonderen Hervorhebung des Einflusses der Landschaft des Ostalpenraums mitsamt dem zugehörigen Abschnitt der Donau über das politische Gebilde Habsburgermonarchie und deren Territorialbesitz lief. Die Anwendung politischer und kunst- oder geistesgeschichtlicher Begriffe auf die Gliederung des Werks in Kapitelüberschriften stellt nichts als eine Nuancenverschiebung dar, die umso geringer ausfällt, als kunstgeschichtliche Begriffe in Nadlers Ansatz fest mit stammlichen Konzepten verknüpft sind. Tatsächlich sind die Stammesbezeichnungen in vielen Fällen, anstelle in den Kapitelüberschriften aufzuscheinen, einfach in Abschnittsüberschriften eingegangen, wobei ihre Ausstattung mit dem Zusatz „Kreis“ oder auch „Landschaft“ ihre Prominenz kaum mindern kann. Nadlers weitere Ausführungen zu den aus dem vierbändigen Werk übernommenen Textstellen wirken aufgrund ihrer mangelnden Überzeugungskraft verräterisch. Denn die bruchlose Einfügung alter Textpassagen in das vorgeblich neue Grundkonzept spricht eine sehr deutliche Sprache bezüglich des tatsächlichen Ausmaßes der Änderungen oder der wissenschaftlichen und künstlerischen „Mehrleistung“. Schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, daß tiefgreifende Änderungen des Grundkonzepts keine weiterreichenden Auswirkungen auf inhaltliche Elemente wie die Darstellung einzelner Dichter oder Werke hätten. Umgekehrt stellt sich gerade angesichts der Möglichkeit, daß „einmal gefundene Formulierungen“ zu einzelnen Dichtern oder Werken Eingang in eine geänderte Konzeption finden können, die Frage, welche Bedeutung den über den Details stehenden größeren Konzepten angesichts ihres geringen Einflusses auf die Ein-
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ordnung einzelner Dichter überhaupt zukommt und wie es angesichts dessen um die Bedeutung oder auch Wissenschaftlichkeit jener größeren Konzepte bestellt ist. Wenig überraschend wird auch in der im Verlag Johannes Günther verfaßten Ankündigung der „Geschichte der deutschen Literatur“ die Eigenständigkeit des Werks gegenüber der vierbändigen „Literaturgeschichte“ betont.62 Diese Einschätzung dient allerdings in erster Linie Werbezwecken und muß nicht einmal auf einem tatsächlich vorgenommenen Vergleich zwischen der vier- und der einbändigen Ausgabe beruhen. Das Urteil des Verlagslektorats in der Firma Josef Habbel, das kurz nach dem Erscheinen der einbändigen Ausgabe im Verlag Günther geschrieben wurde, klingt jedenfalls völlig anders: Die einbändige Geschichte der deutschen Literatur, 1950 im Verlag Joh. Günther, Wien, [mit der Datierung 1951] erschienen, ist ein direkter, zum grossen Teil wörtlicher Auszug aus Nadlers vierbändiger Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, die in 3. Auflage 1929ff im Verlag Josef Habbel, Regensburg, erschienen ist. Der Vergleich dreier Stücke der einbändigen Ausgabe (S. 3 unten bis 7 unten, S. 15/16 und S. 260/61 – Schiller) mit den entsprechenden Stücken der vierbändigen Ausgabe bestätigt das im Einzelnen: Nicht nur die Gliederung – das Kennzeichnende an Nadlers Werk – ist genau dieselbe – mit unwesentlichen Vereinfachungen im Sinne glatterer chronologischer Folge – auch der Text ist in ganzen Sätzen, ja Satzfolgen, einfach aus der Habbelausgabe übernommen. Das war naturgemäss in dem Hauptteil des Buches besser möglich als in den am stärksten zusammengedrängten Anfangskapiteln. 63
Es ist aufgrund dieser Formulierung nicht ganz klar, ob für diesen Textvergleich die bei Habbel erschienene und damit am schnellsten greifbare dritte Auflage der vierbändigen „Literaturgeschichte“ herangezogen wurde, doch in jedem Fall ist von dem Urteil des Lektorats, das mit dem Werk Nadlers vertraut war, Zuverlässigkeit zu erwarten. Die Schlagkraft dieser Argumentation wird allerdings dadurch beeinträchtigt, daß der Vergleich auf drei Stellen beschränkt ist und nicht bekanntgegeben wird, ob es sich dabei um zufällige Stichproben oder ausgewählte Beispiele handelt. Der von Josef Habbel kontaktierte und von Johannes Günther und Nadler um ein Gutachten gebetene Wiener Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Peter kam zu dem Schluß, daß 65 % Neuschöpfung 35 % Übernahme aus dem vierbändigen Werk entgegenstünden. Dabei seien Nadlers Ausführungen zur neuen Gliederung ausreichend und die Übernahmen vernachlässigbar, weil es sich um Tatsachenschilderungen handle. Er kommt zu dem Schluß: „Zusammenfassend läßt sich also sehr wohl die Ansicht vertreten, —————— 62 63
o.N.: Ankündigung Josef Nadler, Geschichte der deutschen Literatur“. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe Nr. 16, 23. 2. 1951, S. 407. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Stellungnahme Lektorat des Verlages Josef Habbel vom 28. 2. 1951.
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daß die einbändige „Geschichte der Deutschen Literatur“ eine [...] freie Benutzung des vierbändigen Werkes zu einer unabhängigen eigentümlichen neuen Schöpfung des Verfassers darstellt.“64 Hier ist jedoch einzuwenden, daß Peter sich sehr auf Nadlers eigene Einschätzungen verließ und selbst möglicherweise keinen eingehenden Vergleich der beiden Fassungen angestellt hat.65 Noch bevor aus eigener Betrachtung der Grad der Übereinstimmung der grundlegenden Konzepte der einbändigen Ausgabe mit jenen der vierbändigen „Literaturgeschichte“ festgestellt wird, muß hier noch festgehalten werden, daß Nadler 1954 im Zuge der Diskussionen mit Habbel um eine neue – fünfte – Auflage der „Literaturgeschichte“ darauf bestand, nicht die dritte, sondern die vierte Auflage als Grundlage zu verwenden. Das Durchschussexemplar I der 3. Aufl. habe ich erhalten. Bemühn Sie sich aber darum nicht weiter. Ich kann für die 5. Aufl. nur vom Text der 4. Aufl. ausgehn. Mit Rücksicht auf den Mammutumfang des alten 4. Bandes musste der gesamte Stoff neu gegliedert werden. Schon aus diesem Grunde kann man das Rad nicht mehr zurückdrehn. Ferner sind weite Strecken in der 4. Aufl. sachlich völlig neu bearbeitet worden. 66
Als Antwort auf Habbels Bedenken, ob das vierbändige Werk auf den neuesten Stand zu bringen sei, schrieb Nadler vier Jahre später: Ich nehme das Recht der freien Forschung zusamt den andern vor dem eisernen Vorhang angeblich geltenden in Anspruch. Im dem Buch steht keine Zeile, die ich mich zu vertreten weigere. Bin ich im Irrtum gewesen, so waren Sie mein Genosse.67
Dies beweist, daß Nadler weiterhin von der Konzeption der „Literaturgeschichte“ überzeugt war und keineswegs die vermeintlich neue, stärker auf Politik und Geistesgeschichte eingehende Gestaltung der einbändigen Ausgabe als einzig gültige Fassung seines literaturgeschichtlichen Ansatzes zu gelten hatte. Nadler widersprach sich jedoch selbst in seinen Bemühungen um die Behauptung der „Geschichte der deutschen Literatur“ als eigenständiges
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Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Gutachten von Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Peter, [Wien] 30. 4. 1951. Es heißt im Gutachten, Peter halte die Darstellung Nadlers zu neuer Grundkonzeption und Gliederung für ausreichend, während er nichts von eigenen Beurteilungen schreibt. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Gutachten von Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Peter, [Wien] 30. 4. 1951. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Nadler an Habbel, Wien 29. 1. 1954. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Nadler an Habbel, Wien 26. 6. 1960.
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Werk, nämlich im Schlußwort des Bandes, auf welches auch Habbel seinen Rechtsanwalt hingewiesen hatte:68 Der Verfasser war fünfundzwanzig Jahre alt, da er dieses Buch zum erstenmal zu schreiben begann. Mit sechsundsechzig Jahren hofft er es zum letztenmal geschrieben zu haben, ohne sich freilich auf ein Versprechen einzulassen.69
Damit ist die Identität der einbändigen mit der vierbändigen Ausgabe im eigenen Empfinden des Literaturhistorikers unmißverständlich ausgedrückt. Die weiteren Ausführungen in diesem Schlußwort dienen in erster Linie der Absetzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung von Gedankengut, das nach dem Ende der NS-Herrschaft problematisch geworden war. Nadler wählt hier den Weg einer biographischchronologischen Schilderung, die durchaus eine Schicksalhaftigkeit mancher Entwicklungen suggeriert. So seien ihm wenige Tage nach der Wahl des Studiums Deutsche und Klassische Philologie Schriften Karl Lamprechts „in die Hände gefallen“, die „über ihn entschieden“ hätten. 70 Houston Stewart Chamberlains Schriften habe er gelesen und umfassend exzerpiert, aber ratlos und ungenützt wieder zurückgelegt. Nachdem er im Sommersemester 1905 in einer Vorlesung August Sauers zur Literatur des 17. Jahrhunderts gehört habe, die Landschaft sei ein wichtiges Moment in der Entwicklung der Literatur, habe er ein entsprechendes Schema entworfen, die Rektoratsrede hingegen erst später im Druck kennengelernt. Hier steckt Nadler gewissermaßen seinen wissenschaftlichen Bereich ab, der von Lamprecht und Sauer bestimmt wird, während Chamberlain zwar als interessant, aber nicht als den stammeskundlichen Ansatz beeinflussender Faktor eingestuft wird. Die Frage, inwieweit Chamberlains Schriften Nadlers Konzepte beeinflußt haben, ist schwer zu beantworten. Jene Bemerkung in der „Geschichte der deutschen Literatur“ ist jedenfalls der erste „offizielle“ Bezug auf diesen Autor, dessen Name sich weder in einem der hier untersuchten Druckwerke noch in den berücksichtigten handschriftlichen Quellen findet. Dies schließt nicht aus, daß Chamberlains Schriften Einfluß auf Nadler ausgeübt hatten, aber sie waren dem Literaturhistoriker offensichtlich entweder nicht von genügend hohem wissenschaftlichen Prestige oder standen nicht genügend in Übereinstimmung mit eigenen Ansichten auf die deutsche (Literatur)Geschichte, um sie zum ausgewiesenen Bestandteil seiner Konzepte zu machen. Die Ähnlichkeiten mancher seiner Ansichten mit jenen Chamberlains sind jedoch groß genug, um nach 1945 eine Abgrenzung von diesen in —————— 68 69 70
Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Habbel an Dr. Kurt Runge, Regensburg 2. 3. 1951. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 1003. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 1003.
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nationalsozialistisches Gedankengut eingegangenen Ansichten notwendig zu machen. Nadler streitet nicht ab, Chamberlains Schriften gelesen zu haben, rückt sie inhaltlich jedoch von der eigenen Arbeit ab. Auffälligerweise fehlt in der Bestimmung der wissenschaftlichen Grundlagen auch jede Erwähnung von Ottokar Lorenz. Dies steht in Übereinstimmung mit der oben verzeichneten vorsichtigen Abgrenzung Nadlers von Lorenz’ genealogischen Lehren und seiner allgemeinen Bemühung, die biologistischen Züge des stammeskundlichen Ansatzes nach 1945 möglichst wenig explizit zu machen. Allerdings war es Nadler wohl nur deshalb möglich, einer direkten, ausführlicheren Stellungnahme zu Lorenz’ Theorien und deren Einfluß auf sein Werk aus dem Weg zu gehen, weil die Rezipienten der „Literaturgeschichte“ praktisch nie auf deren genealogische Grundlagen und damit auf Lorenz Bezug genommen hatten. Bei der Beschreibung des Publikationsverlaufs der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ im Schlußwort der „Geschichte der deutschen Literatur“ lassen sich bezeichnende Widersprüche festhalten. Nach der Angabe, die Vertragsunterzeichnung mit dem Propyläen-Verlag habe nach zweijährigen Lizenzverhandlungen im Frühjahr 1937 stattgefunden, setzt Nadler fort: „Da Text und Stoff, um Raum für die zahlreichen Bilder zu gewinnen, fühlbar gekürzt werden mußten, wurde das Ganze abermals neu gegliedert, gründlich überarbeitet und wieder vielfach neu geschrieben.“71 Abgesehen davon, daß Neuerungen und Kürzungen in keinem so großen Umfang feststellbar waren, wie der Literaturhistoriker hier anklingen läßt, werden auch andere Angaben problematisch: Ich faßte 1936 als Grenze [für Band vier] das Jahr 1933 ins Auge, nach dem März 1938 das Jahr 1938, und schließlich wurde das Jahr des abschließenden Druckes 1940 auf das Titelblatt gesetzt. [...] Die Handschrift war fertig, ehe die Waffen das Wort hatten. Satz und Druck zogen sich hin. [...] Also wollen wir die Tatsache festhalten. Der zweite und dritte Band waren längst in Satz, als der Freistaat Österreich noch bestand. Der vierte Band war in der Handschrift abgeschlossen, als das Deutsche Reich noch mit aller Welt in Frieden lebte [...].72
Nadler gerät hier in einen Konflikt zwischen seinem Bestreben, die vierte Auflage als Neubearbeitung zu beschreiben und dem Bemühen, das Datum der Fertigstellung der Bände in politisch vermeintlich unbedenkliche (Friedens)Zeiten – die jedoch durchaus bereits in die NS-Ära gehörten – zu verlegen. Denn selbst wenn Nadler schon während der Dauer der Lizenzverhandlungen mit der Arbeit an der vierten Auflage begonnen hatte und die Bände zwei und drei vor März 1938 fertig waren, läßt sich die Vorstellung einer umfassenden Neubearbeitung der tausenden Seiten nur schwer mit diesem Zeitrahmen vereinbaren. Schließlich hatte Nadler noch —————— 71 72
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 1006. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 1006.
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seine Lehrverpflichtung zu erfüllen und war der Text von Band vier völlig neu zu schreiben, wobei nach Nadlers eigenen Angaben die Jahre 1933-38 erst zwischen März 1938 und Kriegsbeginn im September 1939 bearbeitet worden wären. Tatsächlich hätte das Manuskript aller Bände, nach der Korrespondenz zwischen den Verlagen Propyläen und Habbel sowie Nadler zu schließen, am 31. 12. 1937 vorliegen sollen.73 Doch noch Anfang Februar 1939 wies der Literaturhistoriker verteidigend auf den Umfang des Werks, den neu zu verfassenden Text, seine Arbeitsbelastung an der Universität und „...die Ereignisse im März vorigen Jahres...“, die „...durch Monate ein planmässiges Arbeiten unmöglich gemacht...“ hätten, hin.74 Abgesehen davon ändert der Abschluß gewisser Arbeitsabschnitte vor dem Anschluß Österreichs an NS-Deutschland oder vor „offiziellem“ Kriegsbeginn wenig daran, daß Nadler für einen nationalsozialistischen Auflagen unterliegenden Verlag schrieb. Aus chronologischer Argumentation ist für Nadler also kaum Unterstützung für die Einschätzung seiner Arbeiten als unbedenklich zu gewinnen. In Hinblick auf die Identität, die Nadler zwischen einbändiger Fassung und vierter Auflage der „Literaturgeschichte“ behauptet, ist besonders auffällig, daß er sich im Schlußwort der „Geschichte der deutschen Literatur“ bis auf einen Hinweis auf den veränderten Buchtitel nicht über Eingriffe seitens der nationalsozialistischen Parteiamtlichen Prüfungskommission in sein Werk beklagt und so auch die volle Verantwortung für dessen Inhalt übernimmt. Er grenzt zwar die im Werk enthaltenen Ansichten und Darstellungen gegenüber NS-Ideologemen ab, läßt die vierte Auflage jedoch als zur Gänze seinen eigenen Ansichten entsprechend gelten. Hierin ergibt sich eine Übereinstimmung mit seiner späteren Willensbekundung gegenüber Habbel, eine fünfte Auflage der „Literaturgeschichte“ ausschließlich auf deren vierter Auflage aufzubauen, aber eine maßgebliche Abweichung gegenüber Nadlers Bemühungen, das einbändige Werk als einem neuen literaturhistorischen Konzept unterliegend darzustellen. Denn warum hätte er nicht diese neue Konzeption weiterverfolgen sollen anstelle eine alte, umstrittene ein weiteres Mal zu erneuern? Der Vergleich der einbändigen mit der mehrbändigen Version zeigt jedenfalls, daß Nadlers im Nachwort des einbändigen Werks vertretene Auffassung der „Literaturgeschichte“ und der „Geschichte der deutschen Literatur“ als ein einziges Buch durchaus den Tatsachen entspricht. Am deutlichsten wird dies in dem noch zur „Vorschule“ gehörenden Abschnitt über die deutschen Stämme. Als erstes fällt auf, daß die in der —————— 73 74
Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben des Propyläen-Verlags an Habbel, Berlin 10. 1. 1939. Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben von Nadler an den Propyläen-Verlag, Wien 8. 2. 1939.
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vierten Auflage eingeführte nordische Abstammung der Germanen bzw. Deutschen weiterhin bestehen bleibt75 – darauf wird noch zurückzukommen sein. Auch die übrigen Ausführungen im betreffenden Abschnitt geben altvertraute Aspekte wieder: die Prägung der deutschen Geschichte und Kultur durch den Gegensatz von West und Ost (sowohl hinsichtlich West- und Ostrom als auch bezüglich der Gegenüberstellung von Germanen bzw. Deutschen und Slaven in ihrem unterschiedlichen Erfolg als deren Erben) sowie der Umwandlung von Germanen zu Deutschen durch die Ansiedlung auf römischem Boden unter romanische Bevölkerung, was gleichzeitig die Bindung an das katholische Christentum mit einschließt. In Zusammenhang damit bilden auch die Zuordnungen der Klassik und später Restauration an das Mutterland und der Romantik an die Siedelgebiete auf der Grundlage unterschiedlicher Völkermischungen einen Teil der „Geschichte der deutschen Literatur“. Ebenfalls wird die Zuordnung bestimmter Charakterzüge an einzelne Stämme beibehalten. Stärker im Vergleich zu früheren Fassungen – zumindest was die Gewichtung auf konzeptueller Ebene betrifft – werden Einflüsse aus Norden und Süden herausgehoben, die an den skandinavischen Völkern und ihrem „Vätererbe“ als Gegengewicht zum antik geprägten Mittelmeer festgemacht werden. Angesichts dieser nur fünf Seiten langen Einführung zu den „Deutschen Stämmen“76 in ihren Landschaften stellt sich nun die Frage, wo Nadler eigentlich Neuerungen eingeführt zu haben glaubte. Selbstverständlich ist bedingt durch die Kürze des Textes vieles von früheren Erklärungen und Begründungen herausgenommen worden. So findet sich zwar das Konzept der Mischung mit Romanen und Slaven, aber die Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturvölkern und deren geistigem und/oder körperlichen Sieg fehlt. Implizit strukturieren diese Aspekte jedoch, da sie nicht explizit durch andere ersetzt werden, nach wie vor den gesamten literaturgeschichtlichen Ansatz. Nadler scheint hier wiederum auf die schon in anderen Fällen aufgezeigte Strategie zu bauen, daß alles, was nicht explizit ausgedrückt wird, im Konzept nicht vorhanden zu sein scheint. In der Tat kann die Bedeutung dieser „verschwiegenen“ Aspekte für den Ansatz nicht direkt aus dem einbändigen Werk herausgelesen und aus ihm belegt werden. Doch unter Kenntnis der vierbändigen „Literaturgeschichte“ ist deutlich genug, daß Nadler an der bisherigen Form seines stammeskundlichen Ansatzes festhielt. Die Umbenennung von Kapiteln und Abschnitten sowie die stärkere Hervorhebung von bereits früher mitstrukturierenden politisch-staatlichen —————— 75 76
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XIX. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. XIX-XXIII.
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Faktoren macht noch keinen neuen Ansatz. Was die „Geschichte der deutschen Literatur“ von der vierbändigen „Literaturgeschichte“ abhebt, ist auf durch die einbändige Erscheinungsform bedingte Kürzungen zurückzuführen. Beispielsweise ist die Tatsache, daß die Binnengliederung der Kapitel die Darstellung von Alt- und Neustämmen bzw. Mutter- und Siedelland nicht mehr in jeweils eigene Abschnitte trennt, ohne Bedeutung, wenn deren spezifische völkisch-kulturelle Ausprägung bereits in der „Vorschule“ festgeschrieben wurde und einzelne Einschätzungen sich im Vergleich zu früheren Auflagen nicht verändern. Zwar sind die einführenden Abschnitte zu einzelnen Büchern oder Kapiteln völlig neu formuliert worden, sie bringen aber allenfalls anders gewichtete Begründungen für bekannte Wertungen. Tatsächlich lassen sich nun für manche Aspekte politische Begründungen verzeichnen, obwohl die früher explizit als Ursache genannten stammestümlichen Hintergründe nichts von ihrer Geltung eingebüßt haben, wie die unveränderten, in der „Vorschule“ ausgeführten Grundstrukturen zeigen. Dementsprechend sind diese politischen Begründungen in den wenigsten Fällen neu, sie werden nur auf Kosten der Vordergründigkeit stammlicher Aspekte betont. Dies zeigt sich etwa an der Rolle, die Herrscherhäuser wie die Staufer, Welfen, Luxemburger, Habsburger und Hohenzoller zugeschrieben bekommen. So werden Karlinge und Staufer als politisch nach Süden bzw. (West)Rom orientiert hervorgehoben, während ihre jeweiligen Gegenspieler, Liudolfinger und Welfen, für nach Norden bzw. Osten gerichtete Politik stehen.77 Diese Antagonismen zwischen Herrscherhäusern sind in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung keineswegs neu, sie gewinnen nur zusätzlich an Bedeutung durch den weitgehenden Wegfall stammlicher Bezüge im Lauftext der „Geschichte der deutschen Literatur“, also dem der „Vorschule“ folgenden Ausführungen. Während also politische Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, sind die Dynastien tatsächlich nach wie vor nichts anderes als Repräsentanten einzelner Stämme oder Stammesverbände, kurz gesagt: Repräsentanten der mit verschiedenen Völkermischungen einhergehenden Teilung der deutschen Länder in Mutterland und Siedelgebiet. Im Rahmen von Nadlers Konzepten ist der Bezug auf Herrscherhäuser durchaus vorteilhaft, da er stammliche Herkunft – die für die Geschlechter explizit angeführt wird – sowie Territorialbesitz in sich vereint, womit abstammungsmäßige und landschaftliche Facetten gleichermaßen bedienet werden, die sich überdies unter dem Deckmantel des Politisch-Staatlichen verbergen lassen. Doch, wie bereits angeschnitten, handelt es sich hier wiederum um —————— 77
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 11, 47f.
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größere Vordergründigkeit eines einzelnen Aspekts des Nadlerschen Konzepts, der wegen der großen Komplexität dieses Konzepts die übrigen, durch ihr Unerwähntlassen nur vermeintlich getilgten Aspekte in sich trägt. Die Rolle der Habsburger ist ungebrochen zentral, nun nicht mehr allein für die Schweiz und Österreich sowie als Träger der Barockkunst, sondern auch in spezifizierter Verbindung mit der Barockkunst als Träger der „reformatio von oben“ oder katholischen Reformation, wie Nadler in seiner einbändigen Fassung die Gegenreformation bezeichnet.78 In seiner Auffassung erscheinen nunmehr die protestantischen Bewegungen als Ausprägungen einer „reformatio von unten“, die vom Bürgertum ausgingen. Ihnen wird der Humanismus zugeschrieben und der von den Habsburgern getragenen „reformatio von oben“ der Barock, ohne daß barocke und humanistische Stilzüge ausschließlich auf katholisch bzw. protestantisch beherrschtes Gebiet beschränkt würden. Worin diese „reformationes“ nun konkret ihre Ziele gehabt haben sollen, bleibt weitgehend unklar; sie beziehen sich allerdings nicht nur auf den religiösen, sondern auch auf den sozialen und staatlichen Bereich. Eine explizite Bewertung der unterschiedlichen Bemühungen um Reformation findet nicht statt. Daß diese implizit dennoch mit Nadlers bisherigen Auffassungen übereinstimmt, wird an einigen Hinweisen deutlich. So heißt es in der Kurzeinführung zum zweiten Buch „Renaissance und Barock“: „Die Reformation spaltet die Einheit der Kirche in Deutschland, und wenn sich die Trennung des Glaubens auch nicht längs einer eindeutigen Raumgrenze ausspricht, so drängen sich doch die entgegengesetzten Bekenntnisse auf Süden und Norden zusammen.“79 Daraus läßt sich unschwer die bekannte Zuordnung des Luthertums an die Neustämme und des Katholizismus an die Altstämme ablesen, wie auch die protestantischen Bewegungen der Schweiz wiederum als humanistisch gegenüber der als scholastisch bewerteten Lehre Luthers abgegrenzt wurden.80 Ebenso vertraut ist die Hervorhebung der Leistung der kaiserlichen Kanzleien für die Schaffung einer deutschen Gemeinsprache unter gleichzeitiger Schmälerung von Luthers diesbezüglichen Verdiensten. Im Rahmen einer Einschätzung der protestantischen Bewegungen als bürgerlich und der dem Kaiserhaus zugeordneten „katholischen Reformation“ wird das Kaisertum in seinen Leistungen für die deutsche Gemeinsprache noch zusätzlich aufgewertet – speziell die den Luxemburgern nachfolgenden Kaiser des Hauses Habsburg. Allerdings bedeutet diese Vorgehensweise —————— 78 79 80
Vgl. zum Themenkomplex „reformatio von oben/unten“ Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 87-90, 121, 149. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 51. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 113 und 127.
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keine generelle Abwertung der Rolle des Bürgertums, sondern ist allein der herausragenden Stellung der Habsburger in Nadlers Ansatz geschuldet und dient letztlich ein weiteres Mal einer Aufwertung österreichischer Kultur und Dichtung. Ähnlich wie an diesem Beispiel dokumentiert wurde, sind auch andere „Neugestaltungen“ des einbändigen Werks beschaffen: bereits in früheren Fassungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung angewandte politische Begründungen gewinnen durch die weitgehende Verbannung stammeskundlicher Begründungen aus dem Lauftext in die „Vorschule“ an Gewicht. Nur in wenigen Fällen lassen sich bisher noch nicht angewandte Begründungen von literarischen Erscheinungen ermitteln, die allerdings in keinem widersprüchlichen Verhältnis zum beibehaltenen Grundkonzept stehen. Die Neigung zu revolutionären Ansichten in den westlichen deutschen Ländern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird etwa nicht mehr explizit auf Völkermischungen bezogen, sondern auf die beengten räumlichen Verhältnisse innerhalb dieser Kleinstaaten, denen die konservativen, wertetreuen Großstaaten Preußen, Bayern und Österreich-Ungarn gegenübergestellt werden.81 Doch auch diese Vorgehensweise schließt nahtlos an die doppelte Bindung von Kultur an Abstammung und Landschaft an, die ein weiteres Mal die Vorteile ihrer Flexibilität unter Beweis stellt: wo das Argument der Abstammung nicht mehr so deutlich im Vordergrund stehen soll, werden räumliche Aspekte verstärkt. Doch die laut der „Vorschule“ unveränderten Grundlagen spiegeln sich insofern im Lauftext, als etwa die gemischte Abstammung der wichtigsten Vertreter der Restauration wie Josef Görres oder Clemens Brentano nach wie vor Erwähnung findet.82 Im allgemeinen ist der Lauftext allein aufgrund von Kürzungen verändert, wobei sich durchaus ähnliche strategische Auslassungen verzeichnen lassen, wie sie schon zur NS-Zeit im einzelnen vorgekommen sind. Im Falle von Martin Opitz, um bei einem bereits öfter verfolgten Beispiel zu bleiben, heißt es nun lapidar, er stamme aus einer alten Bunzlauer Familie, wobei es der Einschätzung des Lesers überlassen bleibt, ob für diese Familie von deutschem, polnischem oder auch böhmischem Ursprung auszugehen ist. Ein weiteres Mal zeigt sich demnach, daß die Veränderungen Nadlers an seinem Werk die Bewertungen einzelner Dichter und der einzelnen Epochen weitgehend unberührt lassen. Allein die Weise, wie diese ausgedrückt werden – explizit oder implizit – ist einem gewissen Wandel unterworfen. Die durch die einbändige Fassung bedingte Kürze kommt Nadler hier entgegen, da dies seine Strategie, problematisch gewordene Aspekte —————— 81 82
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 393. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 361, 366.
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unausgesprochen hinter unbedenkliche(re) Elemente seines komplexen Konzepts zurücktreten zu lassen, fördert. Wer die ausführliche Fassung kennt, findet leicht die vertrauten Wertungen wieder. Ein mit dem stammeskundlichen Ansatz bis dahin nicht vertrauter Leser wird einen weit neutraleren Eindruck von dem Werk bekommen und die politische Geschichte der deutschsprachigen Länder als Nadlers eigentliche Basis betrachten, ohne die stammestümliche Grundlegung in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Jenes Gebiet, wo Nadler keinesfalls ohne tiefergreifendere Änderungen auskommen konnte, war die in der vierten Auflage erstmals behandelte Literatur der unmittelbaren Gegenwart des Literaturhistorikers. Hinsichtlich des Lauftextes bzw. der Darstellung einzelner Dichter ergaben sich in diesem Zusammenhang nur wenige Probleme, da angesichts der großen Anzahl zu berücksichtigender Autoren bereits die entsprechenden Kapitel der vierten Auflage immer mehr zur einer Aufzählung von Namen und Werken geraten waren. Dieser Zug verstärkt sich in der einbändigen Fassung noch weiter und nachdem Nadler sich schon zuvor in erster Linie von persönlicher Antipathie oder Sympathie hatte leiten lassen, bestand hier nur geringer Änderungsbedarf. Hitler oder andere zentrale Personen des Nationalsozialismus werden freilich nicht mehr genannt, wie auch direkte Bezüge auf die nationalsozialistische Bewegung fehlen und die Betrachtungen mit 1933 enden – wobei bei einzelnen Dichtern durchaus über diese zeitliche Grenze hinausgegriffen wird. Anstelle des großen Zuges der Dichtung in Richtung eines völkisch fundierten deutschen Einheitsstaates greift Nadler unter Konzentration auf ein die gesamte stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung durchlaufendes Konzept auf das Thema römische oder griechische Antike zurück und bezeichnet die Literatur Deutschlands zwischen 1918 und 1933 als hellenistisch und letztlich als zwischen Orpheus und Charon stehend, wobei zuletzt zweiterer den Sieg davon getragen habe. Aus den geänderten politischen Bedingungen heraus muß wiederum die Frage gestellt werden, in welchem Verhältnis Nadler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland und Österreich zueinander stehen sah. Hier läßt sich verzeichnen, daß Nadler Österreich wieder einen stärkeren Zug zur Eigenstaatlichkeit zuschrieb als in der zweiten und vierten Auflage der „Literaturgeschichte“: „Österreich hat sich seit dem dreizehnten Jahrhundert mehr und mehr aus Deutschland heraus und Preußen seit dem achtzehnten Jahrhundert beständig nach Deutschland hineinentwi kelt.“83 Für diesen Prozeß macht der Literaturhistoriker in Anwendung bewährter Konzepte Territorialverhältnisse verantwortlich, also Preußens —————— 83
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 489.
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wachsenden Besitz an deutschen Länder und deren „geistiger Rücklagen“ im Gegensatz zum Vielvölkerstaat Österreich. Der Vorwurf an Preußen, am Wiener Kongreß 1814 mehr genommen zu haben, als ihm gehört habe, gibt die Richtung an, in welche diese Entwicklung Nadlers Auffassung nach zu bewerten ist – Preußen habe das moralisch einwandfreie Österreich nur aufgrund der eigenen Machtgier überflügeln können. Bezeichnenderweise gibt es im fünften Buch „Materialismus und Idealismus“, das die Zeit zwischen 1866 und 1914 behandelt, keinen Abschnitt zu Österreich. Die österreichische Dichtung dieser Periode wird im sechsten Buch „Humanismus und Nationalismus“ im Großkapitel „Sprachlandschaften“ nachgereicht. Die „Sprachlandschaften“ umfassen die Dichtung der Schweiz und Österreich(-Ungarn)s im 19. und 20. Jahrhundert und bei der Lektüre entsteht der Eindruck, als wäre der Humanismus diesen beiden Staaten zugeordnet, während der Nationalismus zu Deutschland gehöre. In den einführenden Worten zum sechsten Buch referiert Nadler in Analogie zu früheren Auflagen, daß Staatsbürgerschaft lange von Sprache und Herkunft unabhängig gewesen sei und dies vor allem in Staaten mit mehreren Völkern wie die Eidgenossenschaft oder die Donaumonarchie gelten müsse. Nach 1918 sei diese Ordnung durch die zahlreichen neu entstandenen Minderheiten gestört worden, doch: Völlig aufgehoben wurde diese Ordnung erst durch die dreifache „Umwertung aller Werte“. Nation wurde vor Staat gesetzt. Die Nation wurde nach körperlichen Typen rangmäßig eingestuft. [...] Die Vernunft hatte sich für absolut erklärt. Sie glaubte, die Geschichte rückgängig machen und das Gesetz des Lebens unter ihr Diktat stellen zu können. [...] Die deutsche Literatur im kleindeutschen Staat, in der Eidgenossenschaft, in der Donaumonarchie war also ein Ganzes, solange sie aus der gemeinsamen Ordnung der Werte lebte. Dieses Ganze verfiel in dem Maße, wie diese gemeinsame Ordnung der Werte verfallen ist.84
Die Gliederung dieser Einführung und der innere Aufbau des gesamten sechsten Buches suggeriert einen Gegensatz des national(-sozial)istischen Deutschlands zu den humanistischen Vielvölkerstaaten Schweiz und Donaumonarchie, der sich in der Darstellung des „Freistaat Österreich“ nach 1918 insofern fortsetzt, als dessen Literatur als Fortwirkung des zerfallenen Imperiums aufgefaßt wird. Diese Suggestion stimmt mit der nach 1945 in Österreich gängigen Konzeption des Staats als erstes Opfer von NS-Deutschland überein. Als das von Nadler bevorzugte Modell kristallisiert sich indessen nicht ein völkisch fundierter deutscher Nationalstaat, sondern ein weiteres Mal die Habsburgermonarchie heraus. Dem Problem Antisemitismus geht Nadler meist in dereselben Weise aus dem Weg wie zuvor in der „Literaturgeschichte Österreichs“ – jüdi—————— 84
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 797f.
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sche Herkunft von Dichtern oder das Schicksal „der Juden“ in Deutschland werden einfach nicht thematisiert. Doch die zu beobachtende Beibehaltung älterer Strukturen führt auch hier zu dem Befund, daß sich an Nadlers diesbezüglichen Ansichten nichts geändert hat und ein weiteres Mal die Strategie des Verdeckens und Unausgesprochenlassens geübt wird. Zentraler Hinweis darauf ist die altbekannte Dreiheit Ludwig Börne, Heinrich Heine und Karl Marx, deren Leben und Werke wiederum in einem Abschnitt zu Frankreich abgehandelt werden.85 Die Abstammung aus Familien mit mosaischem Bekenntnis wird zumindest bei Heine und Börne erwähnt, und für alle drei erhält sie implizit konzeptuelle Bedeutung, als die Gleichung Judentum = Kommunismus/Sozialismus durch die Beibehaltung der Delogierung ins revolutionäre Frankreich weiterhin Gültigkeit beansprucht. Im übrigen bleibt Nadlers persönliche Haltung zu einzelnen Dichtern ausschlaggebend, wobei auf jüdische Abkunft nicht in jedem Fall ausdrücklich hingewiesen wird. Bei Hugo von Hofmannsthal beispielsweise fehlt die Erwähnung derselben wie zuvor in der „Literaturgeschichte Österreichs“. Anders als in der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ findet sich aber nun wieder eine Erwähnung Jakob Julius Davids und seiner mährisch-jüdischen Erzählungen; und sogar Max Reinhardt wird in das Werk aufgenommen, wenn auch unabhängig von Hofmannsthal und den Salzburger Festspielen.86 Wie sehr die beibehaltene Delogierung Heines, Börnes und Marx’ antisemitischen Motiven dient, wird auch daran deutlich, daß Nadler im Vergleich zu früheren Auflagen Einflüsse anderer europäischer Länder auf deutschsprachige Dichtung und Politik neutraler bis positiver faßt. So wird Frankreich selbst in Verbindung mit der französischen Revolution und deren langfristigen Auswirkungen auf die deutschen Länder nicht als der Erzfeind gezeichnet, der das Land in früheren Auflagen zumindest ab 1789 durchaus gewesen ist.87 Was an subtiler Kritik an Börne, Heine und Marx geübt wird, kann also nicht mehr (auch) ihrer Anhängerschaft an Frankreich zugeschrieben werden, sondern muß angesichts des Fehlens von neuen Begründungen für diese bekannten Wertungen seine antisemitischen Grundlagen behalten. Denn die „Weltgemeinschaft“ mit anderen Völkern und Staaten – so wird das Kapitel genannt, in welchem Nadler seine bekannten Ausführungen zu Rom, Frankreich, Rußland und den USA unterbringt – ist nun nicht mehr allein aufgrund völkischer Zusammenhänge positiv gefaßt. Das heißt, daß es in Nadlers Darstellung nun nicht mehr stammlich-völkischer Verwandtschaft bedarf, wie es etwa —————— 85 86 87
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 767-774. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, zu David S. 830f, zu Reinhardt S. 684f. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 767f.
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zwischen Angelsachsen und Sachsen der Fall wäre, um das politische Verhältnis zwischen Deutschland und anderen Staaten als freundschaftlich zu bestimmen. Zwar werden die Ausprägung einer deutschen Nationalliteratur und die Bemühungen um eine einheitliche „Staatsnation“ als wesentliches Entwicklungsmoment der deutschen Geschichte gefaßt, aber der Gedanke eines geistigen Zusammenwirkens aller europäischen Staaten ist präsenter als vor 1945. So führt der Literaturhistoriker die negative Entwicklung Deutschlands nach 1914 im besonderen auf dessen Abkapselung von anderen Völkern zurück, mit welchen sie zuvor in fruchtbarem Austausch gestanden seien.88 Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, daß Nadler den „Nationalismus“ explizit Deutschland zuschreibt, während Österreich selbst nach dem Ende der Habsburgermonarchie durch deren Erbe den Charakter eines auf Europa orientierten und damit humanistischen Vielvölkerstaats behalten habe. Nadlers auf eine völkische Konzeption von „deutsch“ gerichteter Patriotismus der 1920er und 1930er Jahre hat sich wiederum in einen auf die Habsburgermonarchie gerichteten Patriotismus gewandelt, wie er sich vor 1918 in der „Literaturgeschichte“ ausdrückte. Die Einigung aller deutschsprachigen Länder in einem Staat könnte unter diesen Vorzeichen nur mehr dann Telos sein, wenn sie unter der Herrschaft der Habsburger erfolgen würde und erhält somit nach 1945 in der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung keine Bedeutung mehr. Letztlich bietet die einbändige Fassung mit ihrer Aufwertung politischer Aspekte unter der Rückkehr zu einer stärker staatlich als völkisch orientierten Darstellung ein weiteres eindrückliches Beispiel von semantischem Umbau. Bemerkenswerterweise setzt dieser an genau denselben Stellen an, wie der Umbau der zur NS-Zeit erschienenen vierten Auflage der „Literaturgeschichte“. Die vierte Auflage nahm einen semantischen Umbau des Konzepts der „Verdeutschung“ zu jenem einer sich verschiebenden Dichte „nordischer Rassenbestände“ vor. Die Annahme einer „nordischen Abstammung“ der Deutschen bleibt zwar auch in der einbändigen Fassung erhalten, nicht aber die weiterführenden rassentheoretischen Begründungen für die Vorgänge in der deutschen Geschichte. Sowohl das Konzept der „Verdeutschung“ als auch der sich wandelnden Verteilung nordischer Rassenbestände wird in der „Geschichte der deutschen Literatur“ durch die stärkere Betonung politischer Aspekte ersetzt. Nimmt man nun die Entwicklung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung seit ihrer erstmaligen Formulierung in den Blick, so scheint sich eine Abfolge von einer auf das Nationalbewußtsein aufbauenden Teleologie deutscher geistiger Einheit über eine zunächst stamm—————— 88
Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, S. 759.
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lich-völkisch und dann rassenkundlich fundierten Teleologie völkischer Einheit zu einer unter wechselndem Erfolg mit politischen Mitteln anzustrebende staatliche Einheit abzuzeichnen. Letztere sei jedoch nicht um jeden Preis und keinesfalls mit inhumaner Vorgehensweise anzustreben und müßte somit nicht einen einzelnen deutschen Volksstaat zum Telos haben. In Nadlers komplexem Konzept, das den Stamm mit seinem Charakter von der (unter Umständen gemischten) Abstammung abhängig macht, dessen kulturellen Ausdruck an die Siedellandschaft knüpft und dessen Politik von Stammescharakter, Landschaft und völkischer Expansionskraft ableitet, ist die Abstammung immer die Grundlage aller Vorgänge. Politische Geschehnisse sind also, egal wie sehr sie in den Vordergrund gerückt werden, im Rahmen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung immer eine Folge von stammlichen und landschaftlichen Verhältnissen. Dies kann Nadler zwar durch semantischen Umbau verdecken und in ein kurzes Vorwort verbannen, auf das sich die Einführungen zu einzelnen Büchern und Kapiteln praktisch nicht mehr beziehen, aber die dementsprechenden Inhalte nicht preisgeben. Und selbst wenn das Stammeskonzept nach 1945 tatsächlich durch eine an Politik orientierte Kulturgeschichte ausgetauscht worden wäre, so würden die unveränderten Darstellungen von Dichtern im Lauftext zeigen, daß selbst bei erneuertem Rahmen der Inhalt derselbe geblieben ist und die Ergebnisse von Nadlers stammeskundlichem Ansatz immer noch präsent sind.
10.3. Entnazifizierung Die Vorgänge um Nadlers Person nach dem Ende der NS-Zeit gehören wie die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft selbst zu den bereits gut erforschten Bereichen der Biographie des Literaturhistorikers.89 Sebastian Meissls Forschung hat gezeigt, wie Nadler speziell in der österreichischen Tagespresse zum Streitfall hinsichtlich der Entnazifizierung an den Universitäten und in diesem Zusammenhang „...zu einer Art Leit- und Identifikationsfigur für das sich neu formierende Lager aus ehemaligen Nationalsozialisten, alten Großdeutschen und einigen Feigenblattliberalen...“90 wurde. Diese Vorgänge trugen wesentlich dazu bei, daß in seinem bis vor eine ministerielle Sonderkommission gehenden Entnazifizierungsverfahren nicht nur Fragen der Parteimitgliedschaft oder Parteifunktio—————— 89 90
Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien, S. 163-167; Meissl: Der „Fall Nadler“ 1945-1950. Meissl: Der „Fall Nadler“ 1945-1950, S. 290.
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närstätigkeit zum Gegenstand wurden, sondern letztlich der Inhalt seiner wissenschaftlichen Arbeit zum entscheidenden Faktor der bleibenden Enthebung vom Lehramt geriet – in der Überprüfung anderer Germanisten der Universität Wien spielten deren Publikationen keine Rolle.91 Nadlers Verteidigung gegenüber den mit seiner Entnazifizierung beschäftigen Gremien läßt sich im Licht der vorangegangenen Analysen jedoch nuancierter als bisher bewerten. So lassen sich durchaus einige Darstellungen des Literaturhistorikers als nicht der Sachlage zwischen 1938 und 1945 entsprechend anführen. Beispielsweise belegen Archivdokumente, daß Nadler keineswegs still hoffte, der „Kelch der Parteimitgliedschaft“ möge an ihm vorübergehen,92 sondern aktiv seine Aufnahme in die NSDAP einforderte (vgl. Abschnitt 9.2.1.). Weiters war bereits aufzuzeigen, daß die von Nadler nach 1945 beklagten Eingriffe seitens der Parteiamtlichen Prüfungskommission auf die „Literaturgeschichte“ nicht so tiefgreifend gewesen sein können, wie in einer Rechtfertigungsschrift angegeben,93 da der Literaturhistoriker die vierte Auflage als gültige Wiedergabe seines Ansatzes ansah. Dies kommt auch in seiner Stellungnahme vor der Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur zum Ausdruck. Vor dieser Kommission wurde Nadler explizit gefragt, warum er trotz des zu erwartenden Drucks seitens der NSDAP den vierten Band der vierten Auflage geschrieben habe. In seiner Antwort nimmt Nadler die bereits aus dem Schlußwort der „Geschichte der deutschen Literatur“ bekannte Chronologie der Publikation der vierten Fassung auf, weist auf die Übernahme vieler Teile des dritten Bandes der dritten Auflage hin und betont, daß er trotz jener aufgrund der Zeitlage notwendigen Aufnahme etwa Hitlers auch im vierten Band der vierten Auflage geistige Entwicklungen abseits von Rasse und Konfession berücksichtigt habe.94 In derselben Befragung gibt Nadler zu, keine ohne sein vorheriges Wissen erfolgte Eingriffe des Verlags in den Text beweisen zu können. Auch mit jenen Änderungen, die er selbst auf Druck des Verlags am vierten Band vorgenommen habe, sei trotz mancher Kompromisse nichts seiner Weltanschauung Widersprechendes in das Werk aufgenommen worden. —————— 91 92 93 94
Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien, S. 165. ÖStA, AdR, Gruppe 02, K 10/64, Rechtfertigung Nadlers vor der Sonderkommission beim Unterrichtsministerium, Wien 4. 2. 1946. ÖStA, AdR, Gruppe 02, K 10/64, Rechtfertigung Nadlers vor der Sonderkommission. ÖNB Verwaltungsakten, Konvolut Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur, Protokoll der Sitzung vom 10. 2. 1949. Bearbeitet am Faksimile in: Wagner, Claudia: Die Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur. Literaturreinigung auf Österreichisch. Wien: Dipl.-Arb. 2005, S. 106.
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Die Schwierigkeiten der Entnazifizierungsgremien, die zur NS-Zeit niedergelegten ambivalenten Stellungnahmen zu Nadlers Person entsprechend zu bewerten, wurden noch erhöht durch dessen eigene Überzeugung, daß ein Urteil über die Zugehörigkeit seiner Lehren zur nationalsozialistischen Ideologie bereits zu einem früheren Zeitpunkt gefällt worden sei. Denn in seinen Augen waren sein Werk und sein Ansatz tatsächlich von nationalsozialistischen Gremien aus der nationalsozialistischen Ideologie ausgeschlossen worden – nämlich in Verbindung mit dem Beschluß, Nadler aus der NSDAP auszuschließen. Der Entscheid für einen Parteiausschluß – dessen tatsächliche Umsetzung aus den Dokumenten nicht abgeleitet werden kann und die der Literaturhistoriker erst durch eine Zeugenaussage beweisen konnte95 – sowie das seiner Ansicht nach damit verbundene Urteil über die „Literaturgeschichte“ betrifft durchaus auch den vierten Band der vierten Auflage, auf den die Kritik an seinem Werk sich nach 1945 hauptsächlich konzentrierte: Mein Ausschluss aus der Partei, in die ich ohne mein Zutun und wie die Parteibehörde aktenkundig feststellt, unberechtigt gekommen bin, ist durch Adolf Hitler persönlich verfügt worden und zwar auf Grund meiner vierbändigen Literaturgeschichte. Diese Bewertung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit muss im Sinne der Partei als entscheidend gelten. Ich glaube nicht, dass in diesem Punkte irgendjemand Adolf Hitler korrigieren kann. Diese Bewertung meines Werkes hat sich aber für jeden, der verpflichtet war, meinen Gauakt einzusehen, aus einem Dokument des Gauaktes ergeben, nämlich aus dem Schreiben Bormanns an Schirach vom 25.II.1944. 96
Nun ist es nicht überraschend, daß unter Entnazifizierungsmaßnahmen fallende Universitätsprofessoren nach 1945 versuchten, ihr Verhältnis zu nationalsozialistischer Ideologie und NS-Gremien als so wenig eng wie möglich zu fassen und darzustellen. Doch in Nadlers spezifischem Fall kommt erschwerend hinzu, daß er sich eben von nationalsozialistischer Seite selbst vom Vorwurf, Nationalsozialist zu sein, freigesprochen sah. Von diesen Voraussetzungen ausgehend mußte es den gegenüber Kritik ohnehin sehr empfindlichen Literaturhistoriker besonders treffen, daß sich die Diskussion um NS-ideologisch belastete Wissenschaft gerade auf seine Person konzentrierte. Zusätzlich war eine solche Sachlage einer etwaigen Reflexion Nadlers über den stammeskundlichen Ansatz und dessen Parallelen zu NS-Ideologemen abträglich, weil es in seinen Augen aufgrund seines Ausschlusses aus der NSDAP dafür keinen Anlaß gab. —————— 95 96
ÖStA, AdR, Gauakt Josef Nadler Nr. 4867, Entscheidung Beschwerdekommission nach § 7 des Verbotsgesetzes im Bundesministerium für Inneres, BK 817/49, 15. 2. 1950. AUW, Personalakt Josef Nadler, Schreiben von Nadler an die philosophische Fakultät, 14. 3. 1950. Mit diesem Schreiben informiert Nadler die Universität Wien über die Entscheidung der Beschwerdekommission im Bundesministerium für Inneres, ihn von den besonderen Listen für Nationalsozialisten auszunehmen.
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Dies kann auch ein Grund dafür gewesen sein, daß in seinen nach 1945 erscheinenden literaturhistorischen Schriften der Schwerpunkt der zu berücksichtigenden Aspekte zwar verschoben wird, der Ansatz als Ganzes aber praktisch unverändert bleibt. Die öffentlichen Debatten der gegen Nadler polemisierenden Schriftsteller und Journalisten, deren Anliegen in erster Linie die Verhinderung weiterer Beeinflussung der Jugend durch den Literaturhistoriker und damit seine Fernhaltung vom Lehramt war, erhöhten den Druck auf die mit der Entnazifizierung beschäftigten Kommissionen beträchtlich. Deren Entscheidungen erwecken jedoch den Eindruck von Kompromissen: Die Sonderkommission im Unterrichtsministerium versetzte Nadler 1947 in den Ruhestand, mit der Begründung, er biete „...nach seinem bisherigen Verhalten keine Gewähr dafür, daß er jederzeit rückhaltlos für die unabhängige Republik Österreich eintreten werde.“ Weiters heißt es in dem Erkenntnis: „Ohne daß die Art und das Ausmass der Angriffe seitens der NSDAP gegenüber dem zu Beurteilenden beurteilt werden brauchte, kann nach den Feststellungen als erwiesen angenommen werden, daß der zu Beurteilende trotz der inneren Auseinandersetzungen mit der Partei von der Öffentlichkeit als zu den Anhängern der NSDAP gerechnet werden mußte, allein z.B. der IV. Band seiner Literaturgeschichte konnte beileibe niemanden vom Gegenteil überzeugen.“97 In derselben Stellungnahme sprach sich die Kommission aber dafür aus, Nadler weiterhin publizieren zu lassen, damit „...der zu Beurteilende die Möglichkeit hätte, seine behauptete österreichische Einstellung durch Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit der Öffentlichkeit nachzuweisen.“ Dieser Aufforderung der Kommission hätte es zumindest für Nadler selbst kaum bedurft, da der Literaturhistoriker nach eigenen Angaben die „Literaturgeschichte Österreichs“ schließlich bereits weit früher, unabhängig von diesen Untersuchungen geplant und zum Teil auch geschrieben hatte (vgl. Abschnitt 10.1.). Ohne Zweifel war es Nadlers Absicht, mit eben dieser „Literaturgeschichte Österreichs“ an seine früheren Verdienste um die österreichische Literaturgeschichtsschreibung zu erinnern und überdies seine „österreichische Einstellung“ zu beweisen. Ähnlich kompromißhaft gestaltete sich der Umgang der Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur mit Nadlers Schriften. Ihre Mitglieder setzten den letzten Band der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ zwar auf die „Ablieferungsliste“ der aus dem Verkehr zu ziehenden Literatur, aber nicht auf die NS-Propagandawerke beinhaltende „Verbotsliste“, was die Einstufung des Autors als „belastet“ im Sinne des —————— 97
ÖStA, AdR, Gruppe 02, K 10/64, Personalakt Josef Nadler, Erkenntnis der Sonderkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Senat Nr. 2, Zl. 5/SK/47, 24. 1. 1947.
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NS-Verbotsgesetzes bedeutet hätte.98 Die Beschlußfindung hatte mangels des Inkrafttretens eines Literaturreinigungsgesetzes letztlich keine Auswirkungen, doch die Einschätzung Claudia Wagners, die Zentralkommission habe sich gescheut, die Schriftsteller im allgemeinen und Nadler im besonderen auf die Verbotsliste zu setzen, wird aus dem ihrer Arbeit angefügten Protokoll der Verhandlungen der Zentralkommission bestätigt.99 Aus demselben Protokoll wird aber auch deutlich, wie sehr Richtlinien für die Beurteilung der zu untersuchenden Werke fehlten, speziell da die Einschätzung Nadlers durch nationalsozialistische Gremien keine eindeutigen Anhaltspunkte gab. Zu Nadlers ebenfalls in der Zentralkommission in den Auflagen von 1934 und 1940 diskutierten Buch „Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes“ wurde beispielsweise festgestellt, daß dieses unter den Nationalsozialisten verboten gewesen sei – das Werk wurde dennoch auf die Ablieferungsliste gesetzt.100 Die Konzentration auf einige wenige Zitate oder die Untersuchung, wie viele Zeilen Nadler jeweils zu Hofmannsthal und Baldur von Schirach geschrieben habe, war letztlich wenig geeignet, um den stammeskundlichen Ansatz zu erfassen und zu beurteilen.101 Als alleiniger Konsens unter den Mitgliedern der Zentralkommission kann festgehalten werden, daß die vierte Auflage der „Literaturgeschichte“ bzw. ihr vierter Band als problematisch im Hinblick auf den Nationalsozialismus einzuschätzen seien. Die zu allen Zeiten zwiespältige Einschätzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung, die maßgeblich auf zu wenig tiefgehender Auseinandersetzung mit derselben beruht, spiegelt sich also auch in Nadlers Entnazifizierungsverfahren wider.
10.4. Die Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 Von einer Analyse der zahlreichen zum „Fall Nadler“ erschienenen Zeitungsartikel wird hier abgesehen, da es sich hierbei um eine Wiederholung der von Sebastian Meissl geleisteten Arbeit handeln würde. Deren Ergebnisse haben bereits gezeigt, daß die Ablehnung von Nadlers stammeskundlicher Literaturgeschichtsschreibung in der Öffentlichkeit groß —————— 98
Meissl: Der „Fall Nadler“, S. 298f; Wagner: Die Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur, va. S. 79-91. 99 Wagner: Die Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur, S. 93, Faksimile des Protokolls der Sitzung der Zentralkommission am 10. 2. 1949 ebd. S. 102-113. 100 Wagner: Die Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur, S. 83f und S. 86f. 101 Meissl: Der „Fall Nadler, S. 299.
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genug war, um eine Rückkehr des Literaturhistorikers auf seinen Lehrstuhl an der Universität Wien zu verhindern, und welchen politischen Lagern die Befürworter und Gegner Nadlers angehörten. Zur Ergänzung sind vor allem die Einschätzungen der stammeskundlichen Konzepte von germanistischer Seite sowie die Beurteilung der nach 1945 neu erschienenen einbändigen Werke von Interesse. Die Einbeziehung einiger polemischer Artikel gegen Nadler aus journalistischer Feder in die dementsprechende Analyse war jedoch notwendig, um einen adäquaten Eindruck von der nach 1945 an der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung geübten Kritik vermitteln zu können. Nur wenige Rezensenten setzten sich allein mit den nach 1945 erschienenen einbändigen Werken, der „Literaturgeschichte Österreichs“ und der „Geschichte der deutschen Literatur“, auseinander. Die zu diesen beiden Werken erschienenen Beiträge sind entweder sehr kurz oder beziehen sich stärker und in weitgehend negativer Einschätzung auf die Vorgeschichte des stammeskundlichen Ansatzes. Insgesamt zeichnet sich ab, daß die einbändigen Werke nur als Nachwehen eines Konzepts gesehen werden, das sich selbst spätestens durch seine fortschreitende Annäherung an nationalsozialistisches Gedankengut diskreditiert hatte. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß die erste Auflage von vielen Rezipienten als weitgehend unproblematisch oder sogar innovativ und fruchtbar angesehen wurde.102 Tatsächlich sind die wenigen positiven Züge, die dem Nadlerschen Ansatz zumindest in seiner frühen Formulierung zugeschrieben werden, dieselben wie sie seit dem erstmaligen Erscheinen der „Literaturgeschichte“ immer wieder genannt wurden: Geschätzt wird immer noch das Hervorbringen neuer Betrachtungsweisen, sowie die entscheidenden Impulse zur Barockforschung, die von Nadlers Konzepten ausgingen.103 Nadlers sprachgewaltige Darstellungsweise wird selbst von Kritikern wie Walter Muschg hervorgehoben,104 wenn die darauf beruhende besondere Wirkung des Werks auch angesichts des Inhalts vierten Auflage einen zunehmend ambivalenten Charakter erhielt – schließlich hatte der Ansatz trotz seiner Problematik gerade aufgrund seiner besonderen sprachlichen Qualität und Zugänglichkeit zahlreiche Leser gefunden. —————— 102 Rossmann, Kurt: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung. In: Die Wandlung 1/10 (1946), S. 870; Siedler, Josef: Josef Nadler oder der Gang der Zeit. In: Die Neue Zeitung, Literaturblatt Nr. 116, 19. 5. 1951, S. 10; Minder, Robert: Josef Nadler. Geschichte der deutschen Literatur 1961. In: Études Germaniques 19 (1964), S. 230f. 103 Siedler: Josef Nadler; Muschg, Walter: Josef Nadlers Literaturgeschichte, In: Ders.: Die Zerstörung der deutschen Literatur. Bern: Franke 1956, S. 137. Dieser Artikel Muschgs ist bereits am 31. 12. 1937 in den Baseler Nachrichten abgedruckt geworden. Er ist in die Betrachtung der Zeit nach 1945 aufgenommen worden, da in der Aufsatzsammlung Bemerkungen zur vierten Auflage und dem Werk von 1951 nachgetragen wurden. 104 Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 134.
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In der französischsprachigen Rezension des Romanisten Robert Minder ist geradezu das Bedauern über den Entwicklungsverlauf der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung herauszulesen. Er sieht für die erste Auflage eine wissenschaftliche Basis gegeben, welche Dichter in ihren Milieus und der Tradition ihrer Provinzen situiert habe, wenn auch pangermanistische Tendenzen und der Hang des Systems, einige Tatsachen zu verfälschen, festzustellen gewesen wären. Die zweite Auflage – welche Minder mit den Erscheinungsjahren 1938-1941 bezeichnet und somit die vierte meint – habe durch den Zug ins Politische und die NSTendenzen alles Fruchtbare in jenem Ansatz zerstört.105 Das Bedauern Minders ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Nadlerschen Konzepte nun nicht mehr als Modell für seine eigenen regionalgeschichtlich orientierten deutschkundlichen Ansätze dienen konnten.106 Kurt Rossmann stellt wiederum fest, daß die erste und zweite Auflage noch nicht tendenziös fixiert gewesen wären und der biomechanische Determinismus, obwohl vorhanden, noch nicht zur Konsequenz gelangt und familienhaft-heimatlich verhüllt gewesen sei.107 Es gibt jedoch nach 1945 auch genügend Stimmen, die den Nadlerschen Ansatz bereits in seinen Anfängen ablehnen. Die zur Begründung angeführten Kritikpunkte begleiten die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung ebenfalls bereits seit ihrer erstmaligen Publikation, was gleichzeitig ein Hinweis darauf ist, wie wenig die grundlegenden Probleme der Nadlerschen Konzepte tatsächlich mit später oder gleichzeitig entstandenen NS-Ideologemen zusammenhängen. Diese Vorwürfe heißen etwa Apriorismus, womit das Voraussetzen sowohl der biologischen Einheit des Stammes, wie der Identität zwischen Bevölkerung und Literatur eines Raums als auch die aprioristische Zuordnung bestimmter Stammeseigenschaften an einzelne Stämme gemeint ist.108 Erneut beanstandet werden auch die Zirkelschlüsse, unter welchen Nadler die Literatur aus dem Stammescharakter und die Züge des einzelnen Stammescharakters aus der
—————— 105 Minder: Josef Nadler. Geschichte der deutschen Literatur, S. 230f. Worauf die falsche Auflagenzählung Minders zurückzuführen ist, bleibt unklar. 106 Kwaschik, Anne: Robert Minders Deutschlandbuch „Allemagnes et Allemands“. Anmerkungen zu einem verdrängten Hauptwerk. In: Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder. Hrsg.: Albrecht Betz, Richard Faber. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 131-146, va. S. 140145. 107 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 870. 108 Nickel, Otto: Literaturgeschichte hintenherum oder Dichter, Menschen und Nadler. In: Die Wandlung 1/5 (1946), S. 392; Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 875, 877, 878; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 142f.
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Literatur ableitet.109 Vertraut sind weiters die Vorwürfe der beliebigen Gewichtung einzelner Ahnen eines Dichters sowie von generell unsachlichen, ungerechten Urteilen zu einzelnen Dichtern.110 Während hinsichtlich der Einschätzung der älteren Auflagen der „Literaturgeschichte“ Unterschiede bestehen, fällt das Urteil über die vierte Auflage einheitlich ablehnend aus. Rossmann schließt in seine Kritik auch die dritte Auflage ein, sie und die vierte hätten „...den Ungeist zur Methode erhoben...“ und den „NS-Marsch“ nicht nur zu begleiten, sondern auch zu rechtfertigen versucht.111 Darin, daß Nadler imstande gewesen sei, den Nationalsozialismus zu begründen und zu rechtfertigen und es auch getan habe, liege die Schuld des Literaturhistorikers. Von „Schuld“ und „moralischem Versagen“ ist in mehreren Beiträgen zu lesen.112 Der diesbezügliche Vorwurf kann schlicht „NS-Propaganda“ heißen, was bevorzugt von aus der vierten Auflage entnommenen Zitaten zur „Aussonderung der Juden aus dem deutschen Volksraum“ begleitet wird.113 Manche Kritik fokusiert auf die antisemitischen Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichte114 – was in dieser Deutlichkeit ein absolutes Novum im Rahmen der Rezeption des Ansatzes darstellt – und auf die Indienstnahme oder den „politischen Mißbrauch“ von Dichtung bzw. „Geist“ für die Zweckideologie des National(sozial)ismus auf biologisch-rassischer Grundlage.115 Die Frage, ob Nadler selbst Nationalsozialist gewesen sei, spielt in diesen Betrachtungen kaum eine Rolle. Auch wenn manche Rezipienten davon ausgegangen sein mögen, daß ein Werk solchen Inhalts nur von einem nationalsozialistisch gesinnten Autor stammen könne, bot die Gestalt des Werks Grund genug für ein vernichtendes Urteil abseits der Frage „nationalsozialistischer Autor oder nicht“. Josef Siedler beispielsweise bemerkt, Nadler sei „natürlich“ kein überzeugter Nationalsozialist, er habe sich nur anzupassen gewußt.116 Doch dies ändert trotz Siedlers prinzipieller Offenheit gegenüber der Betrachtung von Dichtung aus stammlicher —————— 109 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 874; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 145. 110 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 878; Korger, Friedrich: Der Fall Nadler. In: Der Plan 1 (1946), S. 342; Minder: Josef Nadler. Geschichte der deutschen Literatur, S. 231; Peuckert, Will-Erich: Josef Nadler, Geschichte der deutschen Literatur, In: Zeitschrift für deutsche Philologie 75 (1956), S. 219. 111 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 870f, 876f, 883. 112 z. B. Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, va. S. 385, 396; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 152. 113 Korger: Der Fall Nadler, S. 343, 345. 114 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 396. 115 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 881; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 148, 150, 152. 116 Siedler: Josef Nadler.
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und landschaftlicher Perspektive nichts an seiner Einschätzung des Nadlerschen stammeskundlichen Ansatzes als unwahr und unwissenschaftlich. Die Rezensenten der „Geschichte der deutschen Literatur“ sind sich darin einig, daß der in diesem Werk gepflegte Ansatz jenem der vierbändigen Fassung entspricht. Die darin vorgenommenen geringen Änderungen wie etwa die Tilgung antisemitischer und rassenkundlicher sowie die Entschärfung nationalistischer Aspekte werden folgerichtig auf die geänderten politischen Verhältnisse und die Kompromisse zurückgeführt, die Nadler nach 1945 einzugehen gezwungen war.117 Angesichts der scharfen Kritik, die an der vierten Auflage geübt worden war, reichen diese geringen Änderungen Nadlers folgerichtig nicht aus, um seine Konzepte zu rehabilitieren. Es war dem Literaturhistoriker also nicht gelungen, auf der stärkeren Hervorhebung von politischen Aspekten den Anspruch auf eine Neuformulierung seines Ansatzes durchzusetzen. In diesem Zusammenhang wird ihm jedoch nicht nur vorgeworfen, daß der Ansatz der bereits bekannte und diskreditierte sei, sondern durchaus auch, daß der Literaturhistoriker überhaupt imstande war, eben diesen Ansatz trotzdem so zu wandeln, daß er auch nach 1945 zur Grundlage einer Publikation werden konnte. Denn die „Wandelbarkeit“, die ein so herausragendes Merkmal von Nadlers stammeskundlichem Konzept ist und die wesentlich zum Erfolg der „Literaturgeschichte“ beigetragen hatte, wird nun als Anzeichen für Unwissenschaftlichkeit gesehen. So meint Josef Siedler, eine vergleichende Lektüre der verschiedenen Fassungen von Nadlers Werk werfe ...grelle Schlaglichter auf die Verderbnis der Wissenschaft im totalen Staat. Das übertrifft die Verwandlungsfähigkeit mancher Kollegen Nadlers um ein Vielfaches, und selten ist sie zu einer solchen Perfektion geführt worden.118
Zur „Literaturgeschichte Österreichs“ lassen sich abseits der Zeitungspolemiken kaum Äußerungen finden, speziell das Fehlen von Stellungnahmen in germanistischen Fachzeitschriften fällt auf. Die Ursachen dafür liegen wohl nicht im Ignorieren sich auf Österreich beziehender literaturhistorischer Schriften durch in Deutschland erscheinende Fachzeitschriften, sondern in den Erschwernissen für Verlagswesen und Buchhandel kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Besonders interessant ist eine Rezension der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte Österreichs“ in einer englischen Fachzeitschrift, weil sie sich in ihrer Einschätzung des Nadlerschen Werks von jener im deutschen Sprachraum kaum unterscheidet. Robert Pick zeigt sich in seinem Beitrag zunächst erfreut darüber, daß Nadler seinen fruchtbaren und neue Perspektiven eröffnen—————— 117 Siedler: Josef Nadler; Peuckert: Josef Nadler, Geschichte der deutschen Literatur, S. 219; Minder: Josef Nadler. Geschichte der deutschen Literatur, S. 230; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 151. 118 Siedler: Josef Nadler.
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den ethnologischen Ansatz in diesem neuen Werk befreie von „...the objectionable verbiage of overweening nationalism and rabid radicalism which progressively disfigured each new edition of his wellknown...“ 119 „Literaturgeschichte“. Hier finden sich also die bekannten Linien der Akzeptanz der ersten und der Ablehnung der jüngsten Auflage des vierbändigen Werks. Und wie die bereits erwähnten Rezensenten stellt auch Pick die Unverändertheit der theoretischen Grundlagen der einbändigen „Literaturgeschichte Österreichs“ und problematische Generalisierungen fest. Doch er behandelt das Buch durchaus als ernstzunehmenden Beitrag zur Verortung der österreichischen innerhalb der europäischen Literatur, während im deutschen Sprachraum die vierte Auflage der „Literaturgeschichte“ zu einer unumkehrbaren Abwertung des Nadlerschen Ansatzes auch in seinen Nachkriegsausgaben geführt zu haben scheint. Das Bemerkenswerte an dieser Abwertung des stammeskundlichen Ansatzes ist, daß manche am Nadlerschen Werk geübten Kritikpunkte äußerst stark an frühere Beanstandungen erinnern. Dies gilt speziell für die germanistische Rezeption, wo sich in einigen Zügen die Rückkehr zu manchen Positionen der 1920er Jahre abzeichnet. Dies zeigt sich beispielsweise in der Klage darüber, daß Nadler dem eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft und –geschichtsschreibung, der Dichtung, keine Aufmerksamkeit zukommen lasse, sondern sie nur als Rohstoff für andere Ziele benutze.120 Diese Kritik erhält mehrere Facetten: zunächst geht es um den Kunstcharakter dichterischer Werke, dem Nadler aufgrund seiner Ablehnung ästhetischer Betrachtungsweisen ganz entgegen den eigentlichen Aufgaben der Germanistik als Kunstlehre der deutschen Dichtung keine Beachtung schenke. In Verbindung damit stößt man wiederum auf die Klage, daß unter einer solchen Vorgehensweise nicht zwischen großen Dichtern und künstlerisch wenig begabten Literaturproduzenten unterschieden werde.121 Dem liegen die erneut aufflammende Abneigung gegenüber kollektiven Betrachtungsweisen und die Forcierung von das Individuum und den Dichterhelden betonenden Ansätzen zugrunde. Besonders stark tritt dies bei Muschg zutage, da er generell auf Kollektive gerichtete Konzepte als Ursache für den „Sündenfall“ der Wissenschaft im Nationalsozialismus ansieht: „So ergibt sich der Eindruck, daß dieses tumultuarische, politisierende, in schreienden Farben auf das Nichtdichterische in der Literatur hinweisende Werk dem Geist dieser —————— 119 Pick, Robert: Professor Nadler thinks again. In: German Life and Letters 6 (1952/53), S. 132. 120 Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 148. 121 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 395; Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 146f.
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Zeit mit ihrem Aufstand der Massen und ihrem tief getrübten Verhältnis zur Dichtung entspricht.“122 Im Grunde zielen jene Diskussionen auf die seit dem erstmaligen Erscheinen der „Literaturgeschichte“ wiederholt aktuelle Frage, auf welchen Prinzipien es überhaupt möglich sei, eine Darstellung der deutschen Literaturgeschichte zu schreiben. Die etwa ab den 1930er Jahren durchaus begrüßte Ausrichtung der Literaturgeschichtsschreibung auf die Erforschung bzw. Darstellung der Geschichte des deutschen Volkes, deren Ansätze manche Fachvertreter zur NS-Zeit schließlich aus der Germanistik heraus in eine eigene wissenschaftliche Disziplin zu verlegen wünschten, verliert wieder ihren erst im Laufe der Zeit erlangten wissenschaftlichen Status. Otto Nickel beispielsweise vertritt die Ansicht, daß es nicht möglich sei, eine Geschichte des deutschen Volkes auf der Grundlage der Literatur zu schreiben und bezweifelt grundsätzlich, daß der Bezug auf Blut und Boden ausreichend seien, um darauf ein literaturgeschichtliches Konzept aufzubauen.123 Hier spielen ein weiteres Mal Grenzziehungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eine Rolle, was sich etwa an der Klage Rossmanns dokumentieren läßt, Nadler habe durch außerwissenschaftliche Grundlagen die „eigene“ Wissenschaft zerstört.124 Die „außerwissen-schaftlichen Grundlagen“ lassen sich zwar auf politische Einflüsse wie den National(sozial)ismus beziehen, doch dieser wurde von manchen Zeitgenossen durchaus als „naturwissenschaftlich“ weil biologistisch begründet (bzw. als Versuch einer solchen Begründung) angesehen. Es ist möglich, daß sich manche Germanisten, die der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung aufgrund deren Umgang mit literarischen Werken skeptisch gegenübergestanden waren, sich nach 1945 in ihrer Haltung bestätigt sahen und in der Rückkehr zu individuell statt auf das Kollektiv gerichteten Konzepten künftigen Verwicklungen von literaturwissenschaftlicher Arbeit in politische Sphären aus dem Weg zu gehen beabsichtigten. Anhand einer von Lutz Mackensen verfaßten Sammelrezension lassen sich die Anforderungen, die in seinen Augen an literaturgeschichtliche Arbeiten zu stellen seien, gut ablesen. Er wünscht sich ein Buch, „...das gescheit, gründlich und spannend berichtet, was man wissen möchte, das den Mut hat, nie gesuchten Ballast über Bord zu werfen und das, was es bringt, aus ei ge ner Kenntnis und Prüfung vorträgt.“125 Dementsprechend schätzt er an zwei der in seinem Artikel besprochenen Werken deren nüchterne Sachlichkeit, ihre unbedingte Zuverlässigkeit, schöne —————— 122 123 124 125
Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 149, siehe hierzu auch S. 138. Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 386, 390. Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 882. Mackensen, Lutz: Deutsche Literaturgeschichte (Sammelbesprechung). In: Muttersprache Jg. 1953, S. 41; Hervorhebung im Original.
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Anlage, kenntnisreiche Darstellung, genaue Angaben, sowie vorsichtige und gewissenhaft Deutung. Viele der soeben angeführten Punkte erinnern an die Ideale der Philologie, an welchen Nadlers früher Anspruch auf Wissenschaftlichkeit seines Ansatzes gescheitert war. Sachlichkeit, eigene Kenntnis und Prüfung, Gründlichkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit sind exakt jene Anforderungen, welche die meisten Fachvertreter der Germanistik in der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ nicht erfüllt sahen. In Übereinstimmung mit diesem Befund stehen auch Beanstandungen, Nadler sei nicht auf den Einfluß von Übersetzungen sowie allgemein der Weltliteratur eingegangen und habe sich in späteren Auflagen von der anfänglich maßgeblichen Stoffsammlung und –ordnung entfernt.126 Neu an Mackensens Aufzählung sind im Vergleich zu philologischen Anforderungen allerdings der Wunsch nach der Reinigung literaturhistorischer Schriften von unnötigem Ballast und die Forderung nach Deutung, selbst wenn sie vorsichtig und gewissenhaft zu geschehen habe. Zwei Problemen, die sich zu Ende des 19. Jahrhunderts aus der strengen Einhaltung philologischer Standards ergeben hatten – die ungewichtete Fülle an Details und der Mangel an zusammenfassender Interpretation oder auch Synthese des dargestellten Materials – will Mackensen also nicht begegnen, obwohl offen bleibt, auf welcher Grundlage diese Leistungen zu erfolgen hätten. Nadler, dessen „Geschichte der deutschen Literatur“ Mackensen zwar geistreichen Stil zuschreibt, erfüllt jedenfalls aufgrund der „gewissen Wandelbarkeit seiner Urteile“127 und damit mangelnder Zuverlässigkeit die Kriterien für ein gutes literaturgeschichtliches Werk nicht, selbst wenn man diese Einschätzung des Rezensenten zwischen den Zeilen herauslesen muß. Ebenfalls an frühere Züge mancher Beurteilungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung erinnern Stellungnahmen, die eine weitgehende Abkoppelung des Geistes vom Körper vornehmen und damit Nadlers genealogisch orientierte Konzepte ablehnen müssen. Otto Nickel betont etwa, daß die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung Literatur und Sprache als Wesen des Geistes in Frage stellen würde.128 Allerdings liegt das Hauptmotiv für diese Stellungnahme wiederum in der Aufwertung des Individuums vor dem Kollektiv. Denn Zusammenhänge zwischen Körper und Geist werden keineswegs abgestritten, aber deren jeweiliges Zusammenspiel wird als individuell unterschiedlich und damit keineswegs für Gruppen zu erfassen und auf Kollektive umzu—————— 126 Korger: Der Fall Nadler, S. 344; Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 386; Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 873. 127 Mackensen: Deutsche Literaturgeschichte, S. 41. 128 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 385.
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legen verstanden.129 Dies bedeutet eine Rückkehr zur Auffassung des Dichters als unabhängiges Genie und eine Absage an die Determinierung des Geistes durch den Körper, der gleichzeitig einem biologisch zu bestimmendem Kollektiv angehören soll. Diese Tendenz, die mit der stärkeren Betonung des Kunstcharakters von Dichtung übereinstimmt, reicht bis zur völligen Ablehnung der „...Verkopplung biomechanischer, ungeschichtlicher Scheingesetzmäßigkeiten mit geistigen und künstlerischen Ausdrucksformen.“130 Generell läßt sich eine starke Ablehnung der biologistischen Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung feststellen, die bereits in den 1910er und 1920er Jahren auf starken Widerstand gestoßen war.131 Dies heißt jedoch nicht, daß in weiteren Kreisen völlige Einigkeit hinsichtlich der Einschätzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung bestanden hätte und sie nicht in der einen oder anderen Form weitergepflegt worden wäre, doch damit war zumindest in der unmittelbaren Nachkriegszeit großes Risiko verbunden. Angesichts des Schweigens der österreichischen Germanisten zum „Fall Nadler“ bemerkt Sebastian Meissl: „Die Geistesverwandtschaft (nicht nur) der österreichischen Germanisten mit dem Angegriffenen, der bis 1945 als führender Repräsentant der deutschen Literaturwissenschaft in ihrer historischen Ausrichtung gelten konnte, und die bis zum Jänner 1947 noch bestehende Möglichkeit einer Rückkehr an die Universität ließen eine solche Erörterung [des stammeskundlichen Ansatzes] nicht gerade als opportun erscheinen.“132 Angesichts der teils scharfen, zum Teil moralisch begründeten Kritik, die an der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung geübt wurde, ist es verständlich, daß seinem Werk positiv gesinnte Gelehrte sich nicht durch entsprechende Stellungnahmen in die Gefahr brachten, selbst Angriffen auszusetzen. Inwieweit Aspekte der Nadlerschen stammeskundlichen Konzepte aus den genannten Gründen unausgewiesen in nach 1945 verfaßten Werken weiterhin berücksichtigt wurden, kann hier nicht untersucht werden. Einerseits würde der damit verbundene Arbeitsaufwand eine eigenständige Analyse rechtfertigen und andererseits würde über die Frage etwaiger Orientierung mancher Gelehrter an Nadler insofern schwer zu entscheiden sein, als sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit gezeigt hat, wie unterschiedlich sein Konzept hinsichtlich der Einflüsse von Abstammung und Landschaft oft aufgefaßt wurde. Anhaltspunkte für ein Weiterwirken —————— 129 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 389. 130 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 875. 131 Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 150; Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 874. 132 Meissl: Der Fall Nadler, S. 294f.
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des stammeskundlichen Ansatzes der Literaturgeschichtsschreibung oder zumindest einzelner ihrer Züge können auch die anläßlich von Nadlers runden Geburtstagen oder seines Todes mehrheitlich von seinen Schülern verfaßten, freundlichen Stellungnahmen kaum geben. Kürzere Beiträge bleiben meist zu oberflächlich, um eine detailliertere Einschätzung der Nadlerschen Konzepte zu geben,133 die Autoren längerer Jubiläums- oder Gedenkartikel verstecken die eigenen Ansichten oft hinter Originalzitaten aus Nadlers Feder und seiner Eigendarstellung oder hinter fremden Befürworter- und Kritikerstimmen, ohne über diese ein eigenständiges Fazit zu ziehen.134 So bieten sie über die Tatsache hinaus, als Würdigung verfaßt worden zu sein, kaum etwas Neues. Gelobt werden in den betreffenden Schriften neben der überragenden synthetischen Leistung der Nadlerschen „Literaturgeschichte“, die alle durchaus im Werk enthaltenen Irrtümer oder Konstruiertheiten in den Schatten stelle, seine Darstellungskunst, die Aufwertung der österreichischen Literatur und, wie bereits erwähnt, die Entdeckung des Barockschaffens.135 Etwas gewagter, da in unmittelbarem Zusammenhang mit völkischen Konzepten Nadlers, ist die Heraushebung, daß Nadler den Blick auf den Doppelbau des deutschen Volkes eröffnet habe.136 Und es findet sich mit Gerhard Stenzel sogar eine Stimme, welche die Orientierung der Literaturgeschichtsschreibung an der Geschichte des deutschen Volkes begrüßt, wenn auch mit der Einschränkung auf dessen Seelen- und Geistesgeschichte.137 Grundsätzlich ist jedoch eine gewisse Vorsicht spürbar, mit eigenen Worten eine uneingeschränkt positive Stellungnahme zur stammeskundlichen Literaturgeschichte zu formulieren. Einig sind sich die Autoren der Gratulations- und Gedenkschriften in ihrer Überzeugung, Nadler habe immer die wissenschaftliche Wahrheit gesucht, sowie hinsichtlich der Unwandelbarkeit seines Ansatzes von 1912 an bis hin zur einbändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ von —————— 133 Gail, Anton: Nachruf auf Josef Nadler. In: Wirkendes Wort 13 (1963), S. 63f; Thurnherr, Eugen: Zum Tode Josef Nadlers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 10/2 (1963), S. 3f. 134 Szerelmes, Richard: Universitätsprofessor Dr. Josef Nadler zum 75. Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden und Schülern. Wien: ÖBV 1959; Suchy, Viktor: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft (Zum Tode des Gelehrten am 14. Januar 1963). In: Wort in der Zeit 9/3 (1963), S. 19-30; Rieder, Heinz: Joseph Nadler zum Gedenken. In: Schweizer Rundschau 62/2 (1963), S. 149f. 135 Besonders: Seidler, Herbert: Josef Nadler zum siebzigsten Geburtstag. In: Wirkendes Wort 4 (1953/54), S. 383; Rieder: Joseph Nadler zum Gedenken, S. 150; Suchy: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft, S. 19, 29. 136 Seidler: Josef Nadler zum siebzigsten Geburtstag, S. 183; Stenzel, Gerhard: Josef Nadler, Werk und Persönlichkeit. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 3/2/3 (1954), S. 47f. 137 Stenzel: Josef Nadler, Leben und Werk, S. 50.
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1951. Findet die vierte Auflage der „Literaturgeschichte“ bzw. deren vierter Band trotz dieser Feststellung gesonderte Erwähnung, so wird der Inhalt auf direkte Einflußnahme von NS-Gremien und/oder auf Nadlers „übergroße Kompromißbereitschaft“ bzw. sein Nichtdurchschauen von Absichten des NS-Regimes zurückgeführt.138 Anton Gail bemerkt zu diesem vierten Band unter Verweis auf Nadlers deutschböhmische Herkunft: „Was er [Nadler] schließlich dem letzten Band seiner ‚Literaturgeschichte des deutschen Volkes’ 1941 an Hoffnung auf das „Reich“ mit auf den Weg gab, war mehr aus der Situation des Außerdeutschen als aus den Prinzipien seiner Literaturbetrachtung bestimmt.“139 In anderen Beiträgen wird Nadler ohne Eingehen auf den 1941 erschienenen Band ein weiteres Mal in Übereinstimmung mit der autobiographischen Darstellung des Literaturhistorikers zum Opfer der Nationalsozialisten erklärt, die sich entweder seiner Gedanken bemächtigt hätten oder seine Person den „Parteihaß“ hätten spüren lassen140 Die theoretischen Grundlagen bzw. die wissenschaftlichen Lehren, auf welche Nadler aufbaute, werden bis auf gelegentliche Bezüge auf den Inhalt der „Wissenschaftslehre“ nicht analysiert. Und auch in diesen wenigen Fällen beschränkt sich die Erwähnung von Grundlagen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung auf Karl Lamprechts Kulturgeschichtsschreibung und – überraschend, da Nadler nur bis zu einem gewissen Grad mit ihm konform ging – auf Heinrich Rickerts wissenschaftstheoretische Schriften.141 Wenn der „Wissenschaftslehre“ ausführlichere Betrachtungen gewidmet werden, so dient dies in erster Linie der Absetzung der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung von rassenkundlich orientierten bzw. von als nationalsozialistisch aufgefaßten Ansätzen.142 Diese Absetzung funktioniert wiederum nur dann, wenn – wie in den hier besprochenen Schriften auch durchgeführt – Nadlers Konzepte als über die Zeit hinweg unverändert dargestellt werden, was mittels einer Berufung auf die sehr stark an die „Wissenschaftslehre“ angelehnte „Vorschule“ in der „Geschichte der deutschen Literatur“ leicht zu suggerieren ist. Tatsächlich wurden die Grundzüge der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung praktisch nicht verändert, doch dies kann unter kritischer Sichtweise nicht als Beweis für ihre Unbedenklichkeit gelten, da —————— 138 Suchy: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft, S. 26; Rieder: Joseph Nadler zum Gedenken, S. 150. 139 Gail: Nachruf auf Josef Nadler, S. 63. 140 Lassmann, Karl August: Josef Nadler – Zu seinem 75. Geburtstag. In: Sudetendeutscher Kulturalmanach 3 (1959), S. 19; Stenzel: Josef Nadler, Leben und Werk, S. 53. 141 Suchy: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft, S. 21. 142 So heißt es etwa, mehr Aufmerksamkeit für die „Wissenschaftslehre“ hätte „...manches spätere Mißverständnis beseitigen können...“. Thurnherr: Zum Tode Josef Nadlers, S. 3.
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deren Präsentation durchaus Wandlungen unterworfen wurde. Die entsprechende Argumentation auf der Grundlage der „Wissenschaftslehre“ ist zusätzlich fragwürdig, da diese Schrift stets mehr Legitimationsversuch für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung gewesen ist als eine tatsächliche Darstellung ihrer theoretischen Grundlagen. Wie unterschiedlich die Auffassungen der Nadlerschen Konzepte sich nach wie vor trotz prinzipieller Einigkeit der Gratulanten über deren beträchtliche Bedeutung für die Literaturgeschichtsschreibung gestalten konnten, wird allein anhand der wenigen Bezüge auf die „Wissenschaftslehre“ deutlich. Viktor Suchy und Eugen Thurnherr etwa sehen Nadler als entschiedenen Positivisten sowie Vertreter von Kausaldenken und nomothetischer Wissenschaft an.143 Umgekehrt verteidigt Anton Gail den Literaturhistoriker mit dem Hinweis auf dessen mit „Deutscher Geist, deutscher Osten“144 betitelte Sammlung von Reden „...gegen den oft geäußerten Vorwurf des Positivismus...“.145 Und Gerhard Stenzel schreibt die stammeskundlichen Konzepte dezidiert den Geisteswissenschaften zu, da für Nadler Literaturgeschichte „Sprach-Kunst-Geschichtswissenschaft zugleich“ sei.146 Selbst unter den Sympathisanten für die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung herrschte also auch nach 1945 eine große Bandbreite an Einschätzungen des Ansatzes. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der „Wissenschaftslehre“ wurde zwar erfaßt, daß Nadlers Entwurf maßgeblich von den Diskussionen um das neue Selbstverständnis der Geisteswissenschaften beeinflußt worden war, doch manche Autoren der hier behandelten Beiträge reproduzierten die daraus entstandenen Folgen insofern, als sie aufgrund der Konzentration auf diese Diskussionen die einzelnen Grundlagenwissenschaften Nadlers ein weiteres Mal nicht in den Blick nahmen. Bemerkenswerterweise wird die Vorstellung von der Existenz deutscher Stämme, die schon vor 1945 nie in Frage gestellt wurde, auch unter den Gegnern der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung weder kritisch betrachtet noch aufgegeben. Wie bereits erwähnt, wurde die stammeskundliche Betrachtungsweise nach dem Modell der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ ja auch noch nach dem Ende der NS-Herrschaft von einigen Kritikern als fruchtbar oder zumindest interessant eingeschätzt. Auch die Ablehnung von Blut-und-Boden-Konzepten sowie von kollektivistischen Ansätzen in der Literaturgeschichtsschreibung erstreckt —————— 143 Suchy: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft, S. 20-22 ; Thurnherr: Zum Tode Josef Nadlers, S. 3. 144 Nadler, Josef: Deutscher Geist, deutscher Osten. Zehn Reden. München: Oldenbourg: 1937 (=Schriften der Corona Bd. 16). 145 Gail: Nachruf auf Josef Nadler, S. 63. 146 Stenzel: Josef Nadler, Leben und Werk, S. 47.
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sich nicht auf eine Revision der grundsätzlichen Annahme von einer Zusammensetzung des deutschen Volkes aus stammlichen Untereinheiten. Dies läßt sich sogar anhand der beiden schärfsten Kritiken unter den hier behandelten Texten belegen, nämlich an den Artikeln Otto Nickels und Kurt Rossmanns. Nickel geht davon aus, daß Stämme und Landschaften ihre Eigentümlichkeiten nicht in der Dichtung mitteilen würden und diese wohl unfaßbar – aber somit nichtsdestotrotz vorhanden – wären.147 Rossmann hingegen tendiert implizit dazu, die feststellbaren unterschiedlichen Stile von Stämmen nicht auf biologische, sondern auf historische Ursachen zurückzuführen und bezeichnet die Stammeskunde als Teil von Anthropologie und Folklore, die beide erst an ihren Rändern erschlossene wissenschaftliche Felder seien.148 Die Unterschiede zu Nadler sind also wiederum in den abweichenden Vorstellungen der Stämme begründet, einerseits als biologisch bedingt und unwandelbar und andererseits aus geschichtlicher Entwicklung hervorgehend und somit wandelbar. Dieser Status des Stammes bzw. der Stammeskunde, die als immer noch in ihren Anfängen begriffene Wissenschaft aufgefaßt wurde, hat möglicherweise auch dazu beigetragen, daß es zu einer wirklich detaillierten Auseinandersetzung mit den Nadlerschen Konzepten auch nach 1945 nicht gekommen ist. Zwar ist die Beliebigkeit, die dem Literaturhistoriker in der Handhabung seines Ansatzes in dieser Zeit wiederum verstärkt vorgeworfen wurde, nicht abzustreiten, sie hat sich im Lauftext der „Literaturgeschichte“ und in den einbändigen Werken wiederholt aufzeigen lassen. Diese flexible Handhabung des Konzepts darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Nadler von festgelegten Prämissen ausging, die – so fragwürdig sie auch waren – fernab von Unklarheiten über die Gewichtung von Stamm bzw. biologischem Determinismus und Landschaft bzw. Einfluß der Umwelt stand, wie es ihm wiederholt vorgeworfen wurde.149 Die Unklarheit, die Nadler bezüglich stammeskundlicher Konzepte vorgeworfen wird, spiegelt möglicherweise die Unklarheit anderer Wissenschafter über den Status deutscher Stämme wider, während der Literaturhistoriker selbst sich seiner genealogisch-anthropogeographischen Grundlagen sicher war. Zusammenfassend läßt sich für die Zeit nach 1945 feststellen, daß speziell unter den Germanisten völkisch begründete Konzepte der Litera—————— 147 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 393. 148 Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 875. 149 Nickel: Literaturgeschichte hintenherum, S. 388; Rossmann: Über nationalistische Literaturgeschichtsschreibung, S. 875. Muschg warf Nadler zusätzlich theoretische Unschärfe in der Begründung seines Stammesbegriffes vor. Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschichte, S. 139.
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turgeschichtsschreibung auf keine Akzeptanz mehr stießen150 und im Gegenzug geistesgeschichtlich-individuell bis philologisch orientierte Positionen gestärkt wurden. Dies hat in der Betonung individualistischer und kunstgeschichtlicher bzw. ästhetischer Perspektiven sowie in der Hervorhebung eines nur zum Teil vom individuellen Körper und keinesfalls vom Kollektiv determinierten Geistes klaren Ausdruck gefunden. Der naturwissenschaftlich zu erfassende (Volks)Körper wird ähnlich zum Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aus dem Gegenstandsbereich der Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft ausgeschlossen, womit die Nadlerschen stammeskundlichen Konzepte ihren davon abhängigen Status eines wissenschaftlichen Ansatzes der Germanistik verlieren. In diesem Zusammenhang ist in Erinnerung zu rufen, daß die Aufnahme des stammeskundlichen Konzepts in den Kanon der wissenschaftlichen Ansätze nicht zuletzt deswegen erfolgt war, weil Nadler als einziger Universitätsprofessor der Germanistik eine auf einem einheitlichen Prinzip aufbauende Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte vorzulegen imstande gewesen war. Angesichts der Entwicklungen im Verlauf und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist es kaum verwunderlich, daß der Preis für die weitere Integration eines derart problematischen Ansatzes in die Germanistik zu hoch gewesen wäre und das Eingeständnis, keine unter einem einheitlichen Prinzip verfaßte Literaturgeschichte vorweisen zu können, leichter wog als die Aufgabe von unter den Germanisten ohnehin nicht unumstrittenen völkisch orientierten Ansätzen. In diesen Vorgängen spiegelt sich auch die fortdauernde Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage, auf welchem Konzept überhaupt eine einheitliche Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Literatur aufgebaut werden könne. Nachdem sich der letzte Ansatz, der dazu imstande gewesen war – oder zumindest in den Augen einiger dazu imstande zu sein schien – als zu stark ideologisch belastet erwiesen hatte, erhielt diese Frage neue Relevanz. Dies stimmt mit Wilhelm Voßkamps Befund überein, daß die deutsche Literaturwissenschaft nach 1945 „...insgesamt eine Fortsetzung und Fortschreibung der literaturwissenschaftlichen Diskussionen der zwanziger und dreißiger Jahre...“151 darstellt. Allein die Anzahl an zulässi—————— 150 Die einzige Ausnahme bildet hier Herbert Cysarz, der freilich selbst nach 1945 keinen Lehrstuhl mehr inne hatte. Cysarz, Herbert: Drei wissenschaftliche Wegbereiter des organischen Kollektivismus. In: Kunst-Landschaften der Sudetendeutschen. Ohne Hrsg. München: Verlagshaus Sudetenland 1982, S. 23-28. 151 Voßkamp, Wilhelm: Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Die sogenannten Geisteswissenschaften. Hrsg.: Wolfgang Prinz, Peter Weingart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 242.
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gen Lösungsansätzen dürfte mit dem erneuten Ausschluß naturwissenschaftlich argumentierender Konzepte vermindert worden sein. Allerdings gilt dies wiederum vor allem für die disziplinäre Sphäre, denn der Verleger Josef Habbel antwortete dem mit der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte Österreichs“ beschäftigten und um den Absatz der Nadlerschen Werke besorgten Verleger Otto Müller im Juli 1951 in folgender Weise: Nadler ist heute immer noch verkäuflich. Meine große Ausgabe, von der noch ein nennenswerter Restbestand da ist, wird laufend, wenn auch beeinträchtigt durch die kleine Günthersche Ausgabe [die umstrittene „Geschichte der deutschen Literatur“] [...] weiter verkauft. Die Polemiken werden wohl schon den Absatz beeinträchtigen; anderseits [sic] wird das sicherlich noch abklingen in dem Maße, in dem das Sachliche beiderseits überwiegt.152
Die Nadlersche stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung fand demnach durchaus noch einen Resonanzboden unter literaturgeschichtlich interessierten Lesern. Doch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit seines Ansatzes konnte Nadler nach 1945 unter seinen Fachkollegen nicht mehr durchsetzen. In einem abschließenden Abschnitt sind die Gründe hierfür zu hinterfragen.
—————— 152 Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Schreiben Josef Habbels an den Otto Müller (persönlich), Regensburg 10. 7. 1951.
11. Stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung und der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit Nadlers Konzept der Literaturgeschichtsschreibung fand, wie in Abschnitt 10.4. dokumentiert wurde, nach 1945 keine Aufnahme mehr in den Kanon der mehrheitlich als wissenschaftlich akzeptierten germanistischen Ansätze. Die Gründe dafür liegen sowohl in den Änderungen der innerund außerwissenschaftlichen Bedingungen als auch im mangelnden Erfolg der Durchsetzungsstrategien des Literaturhistorikers bzw. deren ungenügender Abstimmung auf die sich wandelnden Bedingungen. Nicht alle Änderungen der Bedingungen, speziell die innerwissenschaftlichen, hängen so direkt mit dem Ende der NS-Herrschaft zusammen, wie es auf den ersten Blick scheint. Doch selbstverständlich gibt es zahlreiche Aspekte, die vor der NS-Zeit der Einschätzung der „Literaturgeschichte“ zugute gekommen waren, aber nach 1945 ihre Bedeutung verloren. Daß die Nadlerschen Konzepte etwa implizit eine Beibehaltung der vor 1930 bestehenden sozialen Schichtung propagierten, war angesichts der mit der NS-Zeit einhergehenden geänderten Bewertung einzelner sozialer Schichten sowie der nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Bedeutung. Nadlers Orientierung der deutschen Literaturgeschichte an der Geschichte des deutschen Volkes wiederum, die in den 1920ern und 1930ern weitgehend begrüßt worden war (wenn auch nicht von allen als germanistischer Ansatz), mußte angesichts des zeitgenössischen Verlaufs derselben Geschichte einen unangenehmen Anstrich haben. Eine teleologisch auf die Einigung aller Deutschen in einem Staat oder auch nur auf ein stetig anwachsendes Nationalbewußtsein ausgerichtete Literaturgeschichtsschreibung konnte in der Situation nach 1945, also nach dem Scheitern eines dementsprechenden „Projekts“ kaum mehr Anziehungskraft entwickeln. Die sich bereits in den frühen 1940er Jahren abzeichnende innerdisziplinäre Wendung von der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zur Literaturwissenschaft als Dichtungswissenschaft hatte unter diesen Umständen weit größere Attraktivität und setzte sich in der Folge durch.1 —————— 1
Kaiser: Zwischen Eigensinn und Resonanz, S. 20-22.
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Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
Die politischen Aspekte der 1920er und frühen 1930er Jahre, welche der positiven Aufnahme der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung entgegen gekommen waren, verloren also mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Geltung. Allerdings hatten sich die außerwissenschaftlichen Faktoren für Nadler schon ab Anfang der 1940er Jahre im Rahmen der uneinheitlichen Einschätzung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung durch NS-Gremien weniger freundlich gestaltet. Daran erweist sich, daß der Literaturhistoriker eben keineswegs der geschickte Anpasser an nationalsozialistische Ideologeme war, als der er nach 1945 von manchen Kritikern angesehen wurde. Hätte Nadler tatsächlich eine Anpassung seiner „Literaturgeschichte“ an die Vorstellungen des NS-Regimes vorgehabt, so müßte ihm ein diesbezügliches Mißlingen attestiert werden. Zwar arbeitete der Literaturhistoriker zweifellos stets mit wachem Bewußtsein für mit seinen Konzepten verwandte und möglicherweise höheres Prestige bringende Ansätze – wie sich etwa an seiner Rezeption der Rassenkunde zeigt –, doch die Gestaltung seiner literaturhistorischen Werke wurde immer von seinen persönlichen Überzeugungen bestimmt. So auch von der persönlichen Überzeugung, eine Autorität nationalsozialistischen Gedankentums zu sein, die sich als Irrtum herausstellte bzw. von maßgeblichen Vertretern des NS-Regimes nicht geteilt wurde. Eine bewußte Anpassung an geänderte politische und wissenschaftliche Bedingungen kann im Falle der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet werden. Nachdem das Jahr 1945 zumindest für so vehement völkisch orientierte Konzepte wie die stammeskundlich-völkische Literaturgeschichtsschreibung eine Zäsur bedeutete, finden sich in dieser Zeit die stärksten Umwertungen in Nadlers Gefüge der „Deutungskonkurrenzen“ zugunsten politisch-staatlicher Aspekte. Doch obwohl in den beiden 1948 und 1951 erschienenen einbändigen Werken die Darstellungsweise der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung stärker verändert wurde als während des gesamten Zeitraums zwischen 1912 und 1945, war das Gesamtkonzept ein weiteres Mal nicht von Änderungen, sondern nur von strategischen Auslassungen betroffen. Daß Nadler die politische Zäsur von 1945 und die damit verbundene Veränderung des Resonanzbodens unterschätzte, zeigt sich daran, daß er trotz entsprechender semantischer Umbauten nicht mehr den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit für seine Konzepte durchsetzen konnte. Der Literaturhistoriker hätte nicht nur eine abweichende Darstellungsweise, sondern ein völlig neues Grundkonzept entwickeln müssen, um sich weiterhin einen Platz unter den als wissenschaftlich akzeptierten Literaturhistorikern zu sichern bzw. um sich diesen Platz neuerlich schaf-
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fen zu können. Und dazu, sein Grundkonzept und die daran geknüpften politischen Implikationen aufzugeben, war der Literaturhistoriker eben nie bereit gewesen, was schließlich auch ein Grund für die ständigen Umbauten war. Diese Adaptionen, die stets nur die Darstellungsweise berührten, sind durch das Bemühen gekennzeichnet, immer dieselben Ansichten in einer Weise zu präsentieren, welche sie der Mehrzahl der Rezipienten zugänglich und überzeugend erscheinen lassen sollten. Mit einer solchen Durchsetzungsstrategie konnte Nadler nur dann Erfolg haben, wenn die Resonanzböden sich zugunsten der politischen Implikationen seines Werks entwickelten, wie es von den späten 1920er bis in die 1930er Jahre zunehmend der Fall war. Von einer Entwicklung der Resonanzböden zugunsten seiner Grundkonzepte kann nur eingeschränkt die Rede sein, da diese von kaum einem Rezipienten auf die von Nadler in der „Literaturgeschichte“ niedergelegten Weise aufgefaßt wurden. So lange die NS-Herrschaft andauerte, profitierte der Literaturhistoriker trotz mancher Probleme sowohl im innerdisziplinären als auch im politischen Bereich noch von der Tatsache, akademischer Vertreter eines der nun in hohem Kurs stehenden völkischen Ansätze der Germanistik zu sein sowie von seinem Publikumserfolg.2 Mit ihrem Ende und den damit verbundenen Änderungen der Resonanzböden jedoch war ein weiterer semantischer Umbau der Darstellungsweise nicht mehr ausreichend und Nadler konnte den Anspruch seiner literaturhistorischen Konzepte auf Wissenschaftlichkeit nicht mehr durchsetzen. Im Rahmen der Verhältnisse von nach 1945 erwies sich die große Flexibilität der Nadlerschen Konzepte für die Durchsetzung seines Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit zudem mehr als hinderlich denn zuträglich. Diese Flexibilität könnte noch in anderer Hinsicht einer dauerhaften Durchsetzung des Nadlerschen Ansatzes nachteilig gewesen sein. Denn durch den gesamten hier behandelten Zeitraum hindurch und quer durch die Reihen von Befürwortern und Gegnern des Nadlerschen Ansatzes ergibt sich dasselbe Bild: es besteht eine große Bandbreite unterschiedli—————— 2
Die vierte, bei Propyläen verlegte Auflage der „Literaturgeschichte“ wurde nach auf Lizenz-Abrechnungen beruhenden Angaben Josef Habbels rund 13500 mal verkauft; Herder-Institut Marburg Sammlung 100 Nadler 3 (e), Aufstellung Josef Habbel für Rechtsanwalt Kurt Runge [April 1951]. Nadler spricht in einem ungedruckt gebliebenen Nachwort für die einbändige „Geschichte der deutschen Literatur“ von über 14000 verkauften Ausgaben der 4. Auflage; insgesamt habe sich sein Werk 60000mal verkauft; ebd. Nadler: Nachhelf eines Vokativs [1961]. Habbel konnte zwischen 1946 und 1951 noch 300 Exemplare der dritten Auflage der „Literaturgeschichte“ verkaufen (ebd. Schreiben Habbel an Runge, Freising 28. 3. 1951), wobei diese Ausgabe 1954 immer noch nicht vergriffen war; ebd. Schreiben Habbel an Nadler, Regensburg 26. 1. 1954. Von der ersten Auflage der „Geschichte der deutschen Literatur“ konnten zwischen 1951 und 1956 immerhin ca. 5600 Exemplare abgesetzt werden; ebd. Schreiben Nadler an Habbel, Wien 12. 6. 1960.
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cher Auffassungen und Einschätzungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung, wobei keineswegs bestimmte Auffassungen fest mit positiver oder negativer Einschätzung der Konzepte verbunden sind. Also leistete letztlich keiner der von Nadler vorgenommenen semantischen Umbauten eine unmißverständliche, allen Rezipienten gleichermaßen zugängliche Darstellung seiner Grundkonzepte. Doch gerade die semantischen Umbauten der Darstellungsweise des stammeskundlichen Ansatzes sind als Durchsetzungsstrategien aufzufassen, obwohl sie die grundlegenden Konzepte stets unverändert ließen und Änderungen immer in stärkerer Übereinstimmung mit der Eigenlogik des Ansatzes als mit inner- und außerdisziplinären Entwicklungen standen. Die Umgestaltungen zeugen weiters von Nadlers Bemühen, sein Konzept der Literaturgeschichtsschreibung mit anderen prestigeträchtigen Strömungen der Germanistik als vereinbar zu erweisen (nicht: vereinbar zu machen), sei es mit der Geistesgeschichte in der zweiten Auflage der „Literaturgeschichte“ oder mit rassenkundlichen Konzepten in der vierten Auflage. Wie sehr dem Literaturhistoriker an einer von seinen Fachkollegen vorgenommenen Klassifikation seines Ansatzes als wissenschaftlich gelegen war, zeigt sich etwa daran, daß er positive Stellungnahmen zu seinem Werk auch dann begrüßte, wenn sie eine offensichtliche Fehleinschätzung beinhalteten – etwa seine Charakterisierung als „romantischen Geschichtsphilosoph“ durch Werner Mahrholz (vgl. Abschnitt 7.1.). Indem Nadler nicht korrigierend auf positive, aber den Konzepten der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung wenig entsprechende Einschätzungen reagierte – während er bei Ablehnung seines Werks zum ausdauernden Polemiker werden konnte – leistete er der uneinheitlichen Auffassung seiner Schriften Vorschub. Werbung für seinen Ansatz wog für den Literaturhistoriker offensichtlich schwerer als eine seinen Intentionen gemäße Auslegung seines Werks. Und der Preis, den Nadler für die Durchsetzung des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit für seine stammeskundlichen Ansatz im Laufe der 1920er und 1930er Jahre zahlte, war eben jene Bandbreite an Auffassungen, welche sich anhand der Rezeption der „Literaturgeschichte“ und ihrer Nachfolgeschriften zeigt. Nadler hat seinen Ansatz also nicht durchgesetzt, indem er seine Kollegen unter entsprechender Gestaltung seiner Werke von seiner spezifischen stammeskundlichen Betrachtungsweise überzeugt hätte. Vielmehr ließ er sich von seinen Ansichten entgegenkommenden politischen Strömungen, von positiven Stellungnahmen zu seinem Werk und seinem Status als einziger akademisch etablierter Autor einer Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte unter einem einheitlichen Konzept tragen. Damit machte er sich in besonders hohem Maß vom Resonanzboden für seinen wissenschaftlichen Ansatz abhängig, der sich bis Anfang der 1940er
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Jahre sowohl aufgrund politischer als auch innerdisziplinärer Entwicklungen stetig verbessert hatte, aber nach 1945 fast völlig verlorenging. Die Gründe für die vielen unterschiedlichen Auffassungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung liegen jedoch nicht nur in Nadlers relativ flexibler Handhabe seiner Konzepte. Sie sind auch darauf zurückzuführen, daß der Literaturhistoriker in manchen Aspekten „Allgemeinwissen“ seiner Zeit einbezog, auf dessen wissenschaftliche Begründung somit entweder kein Augenmerk gelegt wurde oder das viele Rezipienten als in unterschiedlicher Weise wissenschaftlich begründet sahen als Nadler, ohne diese Abweichungen wahrzunehmen – wiederum nicht zuletzt wegen der relativ flexiblen Handhabe der Konzepte durch den Literaturhistoriker. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich die große Abhängigkeit Nadler von den Resonanzböden und aus diesem Grund war Nadlers auf semantischen Umbauten der Darstellungsweise basierende Durchsetzungsstrategie nicht auf Dauer erfolgreich. Um die Vorgänge zu verstehen, welche der zwischen 1912 und 1960 stattfindenden Entwicklung der Resonanzböden zugrunde lagen, muß nochmals verstärktes Augenmerk auf die Rezeption der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung zur Zeit des Nationalsozialismus gelegt werden. Denn anhand der Analyse der Rezeption der vierten Auflage der „Literaturgeschichte“ hat sich gezeigt, daß bereits ab etwa 1940 Kritikpunkte, die den stammeskundlichen Ansatz seit seiner ersten Formulierung begleiteten, sich wieder stärker auszuwirken begannen. Zunächst schien die NSHerrschaft den Status der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung zu erhöhen, da völkisch orientierte Ansätze nun generell höheres Prestige erhalten hatten. Die Anwendung kollektivistischer Ansätze auf den Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft war zwar unter den Germanisten immer noch umstritten, doch unter den gegebenen politischen Umständen erschien eine öffentliche Debatte über deren wissenschaftliche Geltung nicht opportun, da sie unter Umständen eine Gefährdung des eigenen akademischen Status bedeutet hätte. Doch während an Rassenkunde orientierte Konzepte generell nur vereinzelt Eingang in die Disziplin Germanistik fanden, gab es überdies Bemühungen, auch den stammeskundlich-völkischen Ansatz als einen eigenständigen wissenschaftlichen Zweig von der Germanistik abzugrenzen. Dies kann einerseits als Abwehrreaktion gegen einen aufgrund politischer Vorgänge hohe Konjunktur verzeichnenden Ansatz verstanden werden, der das Prestige eigener Lehren gefährdete.3 Andererseits besteht auch die —————— 3
Dies gilt speziell für die zweite Hälfte der 1930er Jahre, als noch Unklarheit über die Form herrschte, welche eine dem NS-Regime entsprechende Germanistik haben solle, und auch Einschätzungen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung von nationalsozialistischer Seite noch nicht bekannt waren.
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Möglichkeit, daß diese Abgrenzung einen verdeckt argumentierten Versuch des Ausschlusses kollektivistisch gerichteter Konzepte aus der Germanistik bedeutet. Ohne Gewißheit über die Motive zu haben, läßt sich jedenfalls feststellen, daß einige Germanisten die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung immer noch nur ungern oder mit Vorbehalten als dem Kanon ihrer Wissenschaft zugehörig betrachteten. Der Großteil der Anerkennung, die Nadlers Werk dennoch zuteil wurde, galt dessen synthetischer Leistung und damit dem Ausgleich innerhalb der Germanistik bestehender Defizite, die von anderen Ansätzen des „Methodenpluralismus“ nicht in gleichem Ausmaß kompensiert wurden. Somit ist im Rahmen der Nadler-Rezeption während der NS-Zeit ein weiteres Mal die Stellung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung als einzige von einem Universitätsdozenten stammende, auf einem einheitlichen Prinzip basierende Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Literatur entscheidend für deren Aufnahme in den Kanon der wissenschaftlichen Ansätze der Germanistik. In der Zeit nach 1945 gestaltete sich die politische Entwicklung schließlich völlig ungünstig für Nadlers Konzepte, da sich die Kriterien für „Wissenschaftlichkeit“ unter der Klage über den von einzelnen Germanisten unter dem NS-Regime verübten „Mißbrauch“ der Wissenschaft zu Propagandazwecken verschoben. Aufgrund der Vereinbarkeit einiger Aspekte der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung mit NSIdeologemen und wegen des als Anpassung aufgefaßten, von Auflage zu Auflage deutlicheren Hervortretens dieser Übereinstimmungen erfolgte die Einreihung des Ansatzes unter jene, welche die Wissenschaft unzulässigerweise in den Dienst der Politik gestellt hätten. Die in diesem Zusammenhang öfter geäußerte Beanstandung der Wandelbarkeit des Nadlerschen Ansatzes, die als Beweis für diese Indienststellung angesehen wurde, gibt deutliche Hinweise auf das Wissenschaftsverständnis der Kritiker des Literaturhistorikers. Indem nämlich wissenschaftliche Erkenntnis unwandelbar zu sein habe und ihre beständige Gültigkeit die moralische Integrität der Forscher beweise, berufen sich die Rezensenten auf die Vorstellung einer von Politik und Zeitgeschichte unabhängig zu seienden Wissenschaft, was speziell für die Geisteswissenschaften ein nicht der Realität entsprechendes Idealbild darstellt, das im 20. Jahrhundert bereits ausgiebig diskutiert worden war. Durch diese Vorgehensweise wird nicht nur der Nadlersche Ansatz aus dem Kanon der als wissenschaftlich geltenden germanistischen Theorien ausgeschlossen, sondern gleichzeitig Ansätze dieser Disziplin, die keine (bzw. weniger offensichtliche) Wandlungen aufweisen, implizit als unbedenklich in Hinblick auf den Nationalsozialismus erklärt, was freilich einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Frage politischer Einflüsse
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auf germanistische Forschung abträglich sein mußte. Paradoxerweise war es gerade die Wandelbarkeit der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ohne gleichzeitige Preisgabe ihrer grundlegenden Konzepte gewesen, die vor 1945 Nadlers Darstellungen und deren politischen Implikationen recht zu geben schien und die ihm wohl ein größeres Maß an Zustimmung eingebracht hatten. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die beträchtliche Flexibilität der Konzepte der stammeskundlichen Literaturgeschichte nicht mehr wie bisher ein Vorteil, sondern wurde allein aufgrund der Tatsache, daß in ihrer Anwendung auf die deutsche Literatur Flexibilität überhaupt möglich gewesen war, zum Nachteil. Schon allein daran zeigt sich, wie stark die Auffassung von und die Kriterien für „Wissenschaftlichkeit“ sich in einem kurzen Zeitraum ändern können und von welcher Bedeutung inner- und außerwissenschaftliche Einflüsse und Entwicklungen jeweils sind. Die „Biographie“ des Ansatzes der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel. Denn anhand der Rezeption der Werke Nadlers hat sich gezeigt, daß die zentralen zu seinen Konzepten angebrachten Kritikpunkte von 1912 bis in die 1960er Jahre – und bis heute – stets dieselben waren. Trotzdem erhielten diese Beanstandungen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich großes Gewicht zugemessen und bedeuteten manchmal den Ausschluß des stammeskundlichen Ansatzes aus dem Kanon der als wissenschaftlich geltenden germanistischen Lehren, während sie zu anderen Zeiten wiederum keinen Ausschließungsgrund darstellten. Besonders deutlich wird dies etwa an Walter Muschgs Kritik an der „Literaturgeschichte“. In der Schweiz als einem sowohl von nationalsozialistischer Herrschaft freiem sowie vom Problem einer Gesamtdarstellung der deutschen Literaturgeschichte relativ unberührten Staat waren schon 1937 dieselben durch den gesamten Zeitraum hindurch wiederholt angebrachten Kritikpunkte für einen Ausschluß der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung aus dem Kanon der wissenschaftlichen Ansätze ausreichend, die im übrigen deutschen Sprachraum erst nach 1945 (wieder) zu einem Ausschluß führten. Eine sukzessive Annäherung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung an nationalsozialistische Ideologeme kann jedenfalls nicht der Grund für die jeweils unterschiedliche Einschätzung der Wissenschaftlichkeit der „Literaturgeschichte“ zu unterschiedlichen Zeiten sein. Die vorangegangenen Analysen haben deutlich gezeigt, daß die Probleme des stammeskundlichen Ansatzes seit seiner ersten Formulierung dieselben waren und diese von den problematischen NS-Ideologemen relativ unabhängig sind. Relativ, da einige Facetten problemlos mit nationalsozialistischem Gedankengut vereinbar sind oder aufgrund gemeinsamer Entstehungsbedingungen sogar mit diesem konform gehen; aber doch unab-
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hängig, indem Nadler sich weder während der Festlegung der Grundlagen seines Werks bis 1928 noch in späteren Jahren mit nationalsozialistischer Ideologie aktiv auseinandersetzte, sondern ab den späten 1930er Jahren allenfalls seine eigene Vorstellung von Nationalsozialismus propagierte. Eine Argumentation, ein so problematischer Ansatz wie jener Nadlers hätte nur in Verbindung mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wissenschaftliche Geltung erreichen können, griffe zu kurz. Dem widerspricht die Tatsache, daß die gegen die stammeskundliche Literaturgeschichte vorgebrachten zentralen Kritikpunkte in germanistischen Kreisen zu jeder Zeit dieselben blieben und diese auch während der NS-Zeit nicht völlig obsolet geworden waren. Ein weiterer Beleg hierfür wird durch die Rezeption der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 erbracht. Denn in diesem Zusammenhang läßt sich ein Wandel der Auffassung von deutscher Literaturgeschichtsschreibung feststellen, der eine Integration des stammeskundlichen Ansatzes in den Kanon wissenschaftlicher Konzepte zumindest in seiner frühesten Fassung – die praktisch gleichzeitig seine späteste ist – auch unter einer anderen Entwicklung als jener in die NSZeit hinein vorstellbar macht. Während nämlich die erste Auflage der Nadlerschen „Literaturgeschichte“ zur Zeit ihrer Publikation unter den Germanisten weit mehr Ablehnung als Zustimmung erfahren hatte, galt sie nach 1945 manchen Rezipienten durchaus als wissenschaftlich oder zumindest als fruchtbar für weitere Forschungen. Diese Zuschreibung von Wissenschaftlichkeit an die frühe Fassung der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung bezieht sich in erster Linie auf deren (vermeintlich) stärker regional-soziologisch als völkisch bestimmtes Eingehen auf regionale Besonderheiten der deutschen Literatur. Daraus ist die seit dem erstmaligen Erscheinen der „Literaturgeschichte“ gewachsene Bereitschaft zumindest einiger Germanisten abzuleiten, soziologische Aspekte in ihre Arbeit eingehen zu lassen. Unter anderer politischer, also demokratischer Entwicklung, die freilich nur im Gedankenexperiment konstruiert werden kann, hätte also die stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung unter Umständen auf der Basis soziologischer Konzepte den Status der Wissenschaftlichkeit auch ohne die Konjunktur völkischer Ideologien erreichen können. Ein solches Gedankenexperiment ändert jedoch nichts an den prinzipiell fragwürdigen Facetten der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung. Und so spiegelt sich in der nach 1945 vorgenommenen Absetzung der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ von ihrer vierten Fassung gleichzeitig eine problematische Konstante der Nadler-Rezeption: die mangelnde Erfassung jener der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung zugrundeliegenden genealogischen und geographischen Kon-
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zepte. Denn die hier durchgeführten Analysen haben gezeigt, daß die Gründung des Nadlerschen Ansatzes auf die genealogischen Lehren Ottokar Lorenz’ und Aspekte der geographischen Lehren Friedrich Ratzels zwischen der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ und der „Geschichte der deutschen Literatur“ ungebrochene Kontinuität aufweist, wobei Konzepte der Völkermischung spätestens mit Band 3 1918 eine gewichtige Rolle spielen. Die nach 1945 um sich greifende Ablehnung der stammeskundlichen Konzepte aufgrund deren vermeintlicher völkischer Radikalisierung während der NS-Zeit ändert demnach nichts daran, daß die über rassenkundliche Aspekte hinausgehenden problematischen Facetten des Nadlerschen Ansatzes auch zu dieser Zeit nicht im Detail erkannt wurden. Dies belegt die Ausnahme der ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ aus dieser Kritik. Denn ein Erkennen der problematischen Elemente hätte die Ablehnung auch dieser ersten Auflage der „Literaturgeschichte“ bedeuten müssen – einerseits wegen der Kontinuität der im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus als problematisch erachteten Aspekte und andererseits aufgrund der Fragwürdigkeit der Lorenzschen Konzepte. Die Ursachen für die mangelnde Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Nadlerschen Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 sind wohl dieselben wie jene für die Zeit zwischen 1912 und 1931 festgestellten: der Aufbau der stammeskundlichen Literaturgeschichte auf „Allgemeinwissen“, das nicht nur unreflektiert blieb, sondern zudem mehrere Auffassungen des Konzepts erlaubte. Jene Sachlage illustriert und erklärt wiederum, daß und warum eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Politik und germanistischen Lehrmeinungen nicht stattfand bzw. sich auf offensichtlich nationalsozialistische Ideologeme wie etwa rassenkundliche Elemente und/oder Anpassungen an das totalitäre Regime beschränkte. In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf hinzuweisen, daß auch einige Ansätze des „Methodenpluralismus“ zum Teil durchaus mit Elementen der stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung vereinbar waren (vgl. Abschnitt 8.1.). Einer Reflexion auf problematische Momente in eigenen Ansätzen war die Konzentration der Germanisten auf den „Fall Nadler“ nicht zuträglich. Sie hat jedoch möglicherweise auch aufgrund der eben angesprochenen Aspekte des „Allgemeinwissens“, die zwar problematisch waren, über deren Gültigkeit aber immer noch Konsens bestand, gar nicht stattfinden können. So bedeutete das Ende der NS-Herrschaft keineswegs ein Ende der Stammeskunde, wobei freilich jene Ansätze weiter gepflegt wurden, welche die
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deutschen Stämme als geschichtlich gewordene und wandelbare, soziologisch zu beschreibende Einheiten faßten.4
—————— 4
Vgl. Schwarz: Einleitung. Zur germanischen Stammeskunde, S. VII-X.
12. Anhang 12.1. Abkürzungsverzeichnis AdR AUW DLA DVJS D-Zl. GA GStAPK KF PA ÖBV ÖNB ÖStA RDS UAI ZSfdPh
Archiv der Republik Archiv der Universität Wien Deutsches Literaturarchiv Marbach/Neckar Deutsche Vierteljahresschrift Dekanatszahl (von Dokumenten des AUW) Gauakt Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Kantonsarchiv Fribourg Personalakt Österreichischer Bundesverlag Österreichische Nationalbibliothek Österreichisches Staatsarchiv Reichsverband Deutscher Schriftsteller Universitätsarchiv Innsbruck Zeitschrift für deutsche Philologie
12.2. Archivquellen Archiv der Universität Wien Personalakte Paul Kluckhohn Personalakte Josef Nadler Deutsches Bundesarchiv/Berlin Document Center Reichskulturkammer, Josef Nadler, geb. 23. 5. 1884 Parteikorrespondenz Josef Nadler, geb. 23. 5. 1884 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftensammlung Bestände: A: Borchardt; A: Diederichs; A: Nadler; A: Petersen Dokumentesammlung Herder-Institut Marburg, Sammlung 100 Nadler: 2: Briefe und Karten von und an Nadler 3(b): Verträge und Korrespondenzen mit Propyläen 3(e): Verlagskorrespondenz Josef Habbel 11: Artikelsammlung zu Josef Nadler Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I HA Rep. 76 Sekt. 10 Tit. IV Nr. 5, Band. 1, Blätter 179-198. I HA Rep. 78 V a Sekt. 4 Tit. IV Nr. 48, Band 7, Blätter 273, 352f I HA Rep. 76 V a Sekt. 11 Tit. IV Nr. 21, Band 31; Blatt 29-41, 331
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Anhang
Kantonsarchiv Fribourg Instruction publique; Josef Nadler, Professeur à la Faculté des lettres, 77 (Personalakt) Österreichische Nationalbibliothek, Autographen- und Nachlaßsammlung Nachlaß Josef Nadler, Briefe an August Sauer, 414/4 und 415/1 Österreichisches Staatsarchiv AdR, Gruppe 02, K 10/64, Personalakt Josef Nadler AdR, Gauakt Nr. 4867 Josef Nadler Staatsarchiv des Kantons Zürich U 109 b.3, Personalakte Rudolf Unger Universitätsarchiv Innsbruck Akten der Philosophischen Fakultät Nr. 170 aus 1920/21; Nr. 84 aus 1921/22
12.3. Rezensionen, Jubiläumsschriften, Nachrufe Arnold, Robert Franz: Territoriale Literaturgeschichte ein bibliographischer Versuch. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 27 (1913), S. 225-233. Bahr, Hermann: Sichtung aus der Bücherflut. In: Das Tagebuch 2/49 (1921), S. 15061513. Bahr, Hermann: Landschaft und Dichtung. In: Österreichisches Dichterbuch. Festgabe österreichischer Dichter an den Deutschen Schulverein Südmark. Graz: Verlag der Alpenland-Buchhandlung Südmark 1927, S. 25f. Bartels, Adolf: Der Literaturhistoriker und die Gegenwart. Leipzig: Avenarius 1910. Beißner, Friedrich: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. In: Geistige Arbeit V/23 (1938), S. 6. Benda, Oskar: Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Wien: Hölder – Pichler – Tempsky 1928. Beyer, Friedrich Heinz: Die Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Josef Nadlers Werk in Neuausgabe. In: Deutschlands Erneuerung 23 (1939), S. 499-502. Böckmann, Paul: Der deutsche Staat 1814-1914. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 5 (1929), S. 439-441. Braig, Friedrich: Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Hochland 26 (1928/29), S. 316f. Brügel, Fritz: Zu Nadlers Literaturgeschichte. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 24 (1931), S. 505-510. Essl, Karl: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Band 4. In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 67 (1929), S. 125-128. Gail, Anton: Nachruf auf Josef Nadler. In: Wirkendes Wort 13 (1963), S. 63f. Hagen, Hans W.: Das Reich und die universalistische Kulturgeschichtsschau. Notwendige Bemerkungen zu Josef Nadlers „Literaturgeschichte des deutschen Volkes.“ In: Die Weltliteratur 16/2 (1941), S. 40-44. Herbert, M.: Eine neue Literaturgeschichte. In: Katholische Kirchenzeitung für Deutschland „Die Wahrheit“ 21 (1. 8. 1921), S. 338f.
Rezensionen, Jubiläumsschriften, Nachrufe
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Heynen, Walter: Weihnachtsrundschau. In: Preußische Jahrbücher 194 (1923), S. 306320. Heynen, Walter: Bücher und Menschen. In: Preußische Jahrbücher 217 (1929), S. 7893. Karg, Fritz: Literaturberichte. Geschichte der mittelalterlichen Literatur. In: Archiv für Kulturgeschichte 17 (1926), S. 339-357. Koch, Franz: Gundolf und Nadler. In: Euphorion. Ergänzungsheft 14 (1921), S. 122129. Körner, Josef: Metahistorik des deutschen Schrifttums. In: Deutsche Rundschau (1919), S. 466-468. Korff, Hermann August: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920), S. 401-408. Korff, Hermann August: Über Literaturgeschichte. In: Frankfurter Zeitung mit Handelsblatt. Jg. 66 Nr. 816 (25. 11. 1921), S. 1. Kutzbach, Karl August: Die neue Literaturgeschichtsschreibung unserer Zeit. Teil V. In: Die neue Literatur 40 (1939), S. 13-17. Kutzbach, Karl August: Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Die neue Literatur 43 (1942), S. 105-109. Lassmann, Karl August: Josef Nadler zum seinem 75. Geburtstag. In: Sudetendeutscher Kulturalmanach 3 (1959), S. 17-20. Lessing, O.E.: A. Sauers Principles of Literary Historiography. In: Journal of English and Germanic Philology 19/2 (1920), S. 1-17. Löffler, Klemens: Zur älteren Literaturgeschichte Westfalens. In: Münsterischer Anzeiger und Münsterische Volkszeitung Jg. 67 Nr. 293 (1. 6. 1918). Lusser, Karl Emanuel: Josef Nadlers Neubegründung der Literaturgeschichte. In: Hochland 21 (1923/24), S. 161-183. Mackensen, Lutz: Sammelbesprechung Deutsche Literaturgeschichte. In: Muttersprache, Jg. 1953, S. 41-44. Matt, Franz v.: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Alte und neue Welt 47/23 (1912/13), S. 926. Meyer, Richard Moritz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Neue freie Presse 17. 3. 1912, S. 36. Meyer, Richard Moritz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Neue freie Presse 7. 9. 1913, S. 34. Meyer, Richard Moritz: Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Die Geisteswissenschaften 1/3 (1913/14), S. 75-77. Minder, Robert: Josef Nadler. Geschichte der deutschen Literatur 1961. In: Études Germaniques 19 (1964), S. 230f. Müller, Günther: Bemerkungen zu Nadlers Literaturgeschichte. In: Schönere Zukunft 3 (1927/28), S. 929-931. Müller, Günther: Nadler, Josef, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 4. Band. In: Literarischer Handweiser 64 H 7 (1927/28), Sp. 531-533. Müller, Joachim: Schrifttumsberichte. In: Zeitschrift für Deutschkunde 54 (1940), S. 40-45. Müller, Joachim: Der Schlußband von Nadlers „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“. In: Zeitschrift für Deutschkunde 56 (1942), S. 176. Obenauer, Karl Justus: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 15 (1939), S. 278-281.
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Anhang
Obenauer, Karl Justus: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Band IV „Reich“. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 18 (1942), S. 146-149. Oesterring, Wilhelm E.: Badische Bücherschau. In: Die Pyramide 11 (1919), S. 43f. Oesterring, Wilhelm E.: Badische Bücherschau. In: Die Pyramide 11 (1922), S. 267f. o.N.: Badische Bücherschau. In: Die Pyramide 51 (17. 10. 1916), S. 206. o.N.: Literaturgeschichte des deutschen Volkes von Josef Nadler. In: Mein Heimatland 26/3 (1939), S. 326. Oppel, Horst: Josef Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte. In: Helicon 3 (1941), S. 169-173. Peuckert, Will-Erich: Josef Nadler, Geschichte der deutschen Literatur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 75 (1956), S. 219f. Pick, Robert: Professor Nadler thinks again. In: German Life and Letters 6 (1952/53), S. 132-135. Pirker, Max: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Grazer Tagespost 25. 5. 1913, 12. Bogen. Pirker, Max: Wien und die Alpenländer. In: Fremden-Blatt 2. 2. 1919. Rensing, Theodor: Literaturgeographie. In: Kölnische Volkszeitung und Handelsblatt 3. 12. 1919, S. 3. Rieder, Heinz: Joseph Nadler zum Gedenken. In: Schweizer Rundschau 62/2 (1963), S. 149f. Roh, Franz: Josef Nadler, Die Berliner Romantik [Rezension]. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 24, H 2 (1922), Sp. 88f. Sauer, August: Literaturgeschichte. In: Österreichische Rundschau 38 (1914), S. 60-68. Sauer, August: Einleitung zum Vorabdruck von Josef Nadler: Das Wiener Drama. In: Österreichische Rundschau Bd. 28 (1911), S. 298-300. Schierbaum, Heinrich: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Kölnische Volkszeitung/Literarische Beilage Nr. 20 (16. 5. 1912), S. 153f. Schmid, Karl: Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Literarische Beilage zur Augsburger Postzeitung Nr. 38 (14. 8. 1912), S. 297f. Schultz, Franz: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 29 (1914), S. 357-363. Seidler, Herbert: Josef Nadler zum siebzigsten Geburtstag. In: Wirkendes Wort 4 (1953/54), S. 382f. Siedler, Josef: Josef Nadler oder der Gang der Zeit. In: Die Neue Zeitung, Literaturblatt Nr. 116, 19. 5. 1951, S. 10. Stenzel, Gerhard: Josef Nadler, Werk und Persönlichkeit. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 3/2/3 (1954), S. 45-55. Stephan, Heinz: Eine literarische Großtat. Der Abschluß von Nadlers Literaturgeschichte. In: Dresdner neueste Nachrichten 2. und 3. 4. 1942, S. 4. Stern, Julius: Literaturberichte 1913. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 28 (1914), S. 220-230. Stockmann, Alois: Deutsche Literatur. In: Stimmen der Zeit 107 H11 (1924), S. 387389. Stockmann, Alois: Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. In: Stimmen der Zeit 116 H 1 (1928), S. 78f. Suchy, Viktor: Josef Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft (Zum Tode des Gelehrten am 14. Januar 1963). In: Wort in der Zeit 9/3 (1963), S. 19-30.
Quellen
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12.4. Quellen Bartels, Adolf: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1: Die ältere Zeit. Leipzig: Haessel 1924. Borchardt, Rudolf: Josef Nadler. Zur Verleihung des Martin-Bodmer-Preises der Gottfried-Keller-Stiftung. In: Ders.: Prosa I. Stuttgart: Klett 1957, S. 401-410. Borchardt, Rudolf: Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. In: Ders.: Prosa I. Stuttgart: Klett 1957, S. 411-417. Bremer, Otto: Ethnographie der germanischen Stämme. Straßburg: Trübner 1900. Brüggemann, Fritz: Literaturgeschichte als Wissenschaft auf dem Grunde kulturgeschichtlicher Erkenntnisse im Sinne Karl Lamprechts. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 2 (1926), S. 469-479. Büttner, Ludwig: Gedanken zu einer biologischen Literaturbetrachtung. München: Hueber 1939. Burdach, Konrad: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst. Berlin: Paetel 1918. Busse, Gisela von: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. Betrachtungen zu Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Deutsche Vierteljahresschrift 16 (1938), S. 158-292. Cysarz, Herbert: Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Kritik und System. Halle/Saale: Niemeyer 1926. Cysarz, Herbert: Die wissenschaftlichen Wegbereiter des organischen Kollektivismus. In: Kunst-Landschaften der Sudetendeutschen. Ohne Hrsg. München: Verlagshaus Sudetenland 1982 (=Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste Bd. 3), S. 23-28. Ermatinger, Emil: Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1930. Feist, Sigmund: Indogermanen und Germanen. Halle/Saale: Niemeyer 1919. Flemming, Willy: Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung. Breslau: Hirt 1944. Gumbel, Hermann: Dichtung und Volkstum. In: Philosophie der Literaturwissenschaft. Hrsg.: Emil Ermatinger. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1930, S. 43-91. Hirsch, Arnold: Soziologie und Literaturgeschichte. In: Euphorion 29 (1928), S. 7582.
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Anhang
12.5. Forschungen Adam, Wolfgang: Literaturgeschichte als Gemeinschaftsprojekt: Neue Quellen zur Fachgeschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Euphorion 19/4 (2001), S. 357-422. Almgren, Birgitta: Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Traditionsfelder und zeitgebundene Wertung in Sprach- und Literaturwissenschaft am Beispiel der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 19291943. Uppsala: University Press 1997 (= Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensis Bd. 36). Ansel, Michael: Literaturgeschichtsschreibung als Überbietung der Philologie. In: Euphorion 90 (1996), S. 445-462. Apel, Friedmar: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. München: Knaus 1998. Arens, Hans: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike zur Gegenwart. Freiberg/München 2. Auflage 1969. Ash, Mitchell G.: Die experimentelle Psychologie an den deutschsprachigen Universitäten von der Wilhelminischen Zeit bis zu Nationalsozialismus. In: Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Hrsg.: ders. und Ulfried Geuter. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 45-82. Ash, Mitchell G.: Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967. Holism and the quest for objectivity. Cambridge: University Press 1995. Ash, Mitchell G.: Räume des Wissens. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235-242. Ash, Mitchell G.: Krise der Moderne oder Modernität als Krise? In: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914-1945. Hrsg.: Wolfram Fischer. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 121-142. Auckenthaler, Karlheinz F.: „Aber bitte Dich, laß mich aus, das mit Euerem Österreich sich schon die pure Erfindung!“ Zur Diskussion des österreichischen Literaturbegriffs. In: Sprachkunst 24 (1993), S. 51-72. Barner, Wilfried: Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1910 bis 1925. Hrsg.: Christoph König, Eberhart Lämmert. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 201-232. Barner, Wilfried: Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg.: W.B., Christoph König. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 119-149. Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin, Darmstadt: Hobel 1971. Benetka, Gerhard: Denkstile der Psychologie des 19. Jahrhunderts. Wien: WUV 2002. Berger, Albert: Der tote Dichter und sein Professor. Weinheber und Nadler in der Diskussion nach 1945. In: Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Hrsg.: Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner, Klaus Zeyringer. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 191-201. Berger, Albert: Lauter Fragen, viele Einwände, keine klaren Antworten. Zur Debatte um die österreichische Literaturgeschichte. In: Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik. Beiheft I (1997), S. 7-21. Bialas, Wolfgang; Iggers, Georg G. (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt/M.: Lang 2. Auflage 1997.
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Anhang
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Forschungen
521
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13. Personenregister Abel, Othenio, 376 Adam, Wolfgang, 94 Adenauer, Konrad, 348, 349 Agrippa von Nettesheim, 261 Arnim, Achim von, 144, 146 Arnim, Bettina von, 143 Arnold, Franz Robert, 215, 216, 376 Ash, Mitchell G., V, 33 Aubin, Hermann, 317, 385 Babeuf, Francois Noel, 279 Bachmann, Albert, 332, 335, 336 Bahr, Hermann, 218, 389, 395 Barner, Wilfried, 44 Bartels, Adolf, 221, 437 Beißner, Friedrich, 430 Benda, Oskar, 41, 59, 60, 317, 325, 409, 410, 427, 428 Bertram, Ernst, 264, 343, 347, 348, 349, 350, 351, 366, 367, 371, 372 Beyer, Friedrich Heinz, 430 Bick, Josef, 377 Bismarck, Otto von, 257 Bockhorn, Olaf, 79 Böckmann, Paul, 313, 328, 392, 431 Boden, Petra, 7 Bodmer, Johann Jakob, 157, 295 Böhme, Jakob, 107, 145 Boisserée, Sulpice, 154, 193 Bollenbeck, Georg, 411 Borchardt, Rudolf, 366, 367, 368, 372, 417 Borcherdt, Hans Heinrich, 355 Bormann, Martin, 428, 482 Börne, Ludwig, 279, 419, 478 Bovet, Ernest, 335 Braig, Friedrich, 317, 324 Brecht, Walther, 162, 361, 362, 366, 368, 372, 378 Breitinger, Johann Jakob, 157 Bremer, Otto, 83, 84, 114, 182, 244, 374, 385 Brentano, Clemens, 94, 131, 143, 146, 149, 154, 193, 415, 475 Brügel, Fritz, 322, 323 Büchi, Albert, 203, 353
Buckle, Henry Thomas, 85 Burdach, Konrad, 223, 224, 225, 344, 346, 351, 353 Busse, Gisela von, 432 Büttner, Ludwig, 437 Calvin, Jean, 447 Castle, Eduard, 55, 199, 338, 343, 373, 375, 376 Chamberlain, Houston Stewart, 469, 470 Comte, Auguste, 45, 85 Cysarz, Herbert, 360, 375, 497 Czermak, Emmerich, 377 Dainat, Holger, 7, 23, 31, 32, 50, 51, 52, 437 Daraznky, August, 343, 345 David, Jakob Julius, 278, 417, 478 Dilthey, Wilhelm, 27, 28, 29, 30, 33, 34, 35, 38, 39, 40, 41, 44, 45, 61, 333, 383 Dittmann, Ulrich, 365, 366, 371, 372 Dollmayr, Viktor, 343 Dopsch, Alfons, 365 Dreger, Moritz, 341 Drescher, Karl, 352, 354, 357 Droste-Hülshoff, Annette, 132 Eckert, 348, 350, 372 Eibl, Hans, 426, 439 Eichendorff, Joseph, 143, 144, 145 Enzinger, Moriz, 342 Ermatinger, Emil, 330, 331, 332, 335, 337, 513 Essl, Karl, 318 Fäsi, Robert, 332, 334, 335 Feist, Sigmund, 227, 229, 230, 231, 232, 233, 242, 244, 257, 260, 298, 374, 414 Fischart, Johann, 111, 112, 131, 136 Fohrmann, Jürgen, 6, 7, 10, 15, 51, 52, 53, 369, 387, 392, 393 Forster, Georg, 154 Franz I., 284 Frey, Adolf, 330 Friedrich II., 451 Frings, Theodor, 317, 385 Frischlin, Nikodemus, 261 Gail, Anton, 494, 495
526
Personenregister
George, Stephan, 260, 264, 268, 350, 366, 367, 410, 415 Gierach, Erich, 359 Gierke, Otto von, 86 Gobineau, Joseph Arthur de, 235 Goebbels, Joseph, 425, 427 Goethe, Johann Wolfgang von, 43, 110, 134, 136, 146, 194, 404, 452 Goldenberger, Franz Xaver, 367, 368 Görres, Josef, 131, 153, 154, 193, 415, 475 Gottfried von Straßburg, 134, 442 Gottsched, Johann Christoph, 140, 141, 142, 156, 157, 158, 159, 166, 194, 216, 250, 293, 450, 451 Grillparzer, Franz, 57, 171, 194, 442 Grimm, Gebrüder, 155 Grimm, Jacob, 77, 79 Grimmelshausen, Hans Jakob Cristoffel von, 112, 131 Grüttner, Michael, 435, 436 Gumbel, Hermann, 316, 317, 318, 319, 323, 327, 385 Günderode, Karoline von, 143 Gundolf, Friedrich, 264, 366, 367 Günther, Hans F.K., 257, 408 Günther, Johann Christian, 111, 112 Günther, Johannes, 465, 467 Habbel, Josef, 10, 93, 94, 95, 100, 143, 195, 196, 221, 222, 244, 245, 367, 403, 468, 471 Habbel, Josef junior, 464, 467, 468, 469, 471, 498 Haberlandt, Michael, 80 Hagen, Hans W., 426, 434, 435 Hamann, Johann Georg, 107, 112, 145, 374, 402, 440 Hartmann, Ludo Moriz, 162 Hauffen, Adolf, 16, 53, 80, 81, 187, 359, 391 Hauptmann, Gerhart, 261 Hebel, Johann Peter, 294 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, 103 Heine, Heinrich, 112, 131, 144, 279, 419, 478 Heinzel, Richard, 80 Held, Heinrich, 367 Herbert, M., 205 Herder, Johann Gottfried, 8, 63, 72, 107, 136, 141, 145, 238, 322, 346 Hermand, Jost, 42, 44, 49 Herzl, Theodor, 283 Heynen, Walter, 307, 317, 318 Hirsch, Arnold, 46, 47, 49, 363
Hirsch, Hans, 376 Hitler, Adolf, 405, 476, 481, 482 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, 144 Hofmannsthal, Hugo von, 9, 218, 364, 365, 366, 367, 368, 395, 417, 478, 484 Hölderlin, Friedrich, 146 Höppner, Wolfgang, 22, 392 Howald, Ernst, 335 Humboldt, Alexander von, 72 Humboldt, Wilhelm von, 63 Hussarek, Max, 202, 203 Iggers, Georg, 28 Immermann, Karl, 259 Jacobeit, Wolfgang, 77 Janentzky, Christian, 343, 355 Jellinek, Max Hermann, 198, 376 Josef II., 172 Kaiser, Gerhard, 436 Karl der Große, 247, 271, 284, 299, 417 Karl IV., 170 Kauffmann, Friedrich, 227, 228, 229, 230, 233, 257, 260, 276 Kelling, Dieter, 4 Kindermann, Heinz, 375 Kirchhoff, Alfred, 72, 73, 120, 187 Klopstock, Friedrich Gottlieb, 112, 134, 136, 452 Kluckhohn, Paul, 35, 352, 355, 361, 362, 363, 374, 376, 378 Knobloch, Clemens, 411 Knoll, Fritz, 427 Koch, Franz, 311, 312, 316, 320, 322, 323, 325, 328, 364, 375 Koch, Max, 352, 353, 354 Kolbenheyer, Erwin Guido, 311 Kolk, Rainer, 31 König, Christoph, V, 9 Korff, Hermann August, 35, 210, 211, 343, 344 Körner, Christian Gottfried, 261 Körner, Josef, 209, 212, 213, 222, 281 Kosch, Wilhelm, 93, 195, 196, 197, 198, 203, 204, 353 Kossinna, Gustav, 82, 244 Köster, Albert, 346, 348 Kotzebue, August, 253 Kralik, Dietrich, 198, 362, 363, 373, 374, 376 Kralik, Richard von Meyerswalden, 198, 363 Kraus, Carl von, 103, 199, 200, 201, 346, 366, 367, 368, 369, 370, 371, 372 Kraus, Karl, 449, 450
Personenregister Kretschmer, Paul, 376 Kunicki, Wojciech, 352, 353, 354 Kutzbach, Karl August, 432, 433 Lamprecht, Karl, 16, 40, 63, 69, 71, 84, 85, 86, 87, 88, 94, 95, 96, 106, 115, 133, 139, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 178, 186, 206, 207, 209, 212, 214, 255, 296, 297, 345, 365, 371, 469, 494 Lepenies, Wolf, 44 Lessiak, Primus, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 346 Lessing, Gotthold Ephraim, 43, 136, 141, 142, 194, 452 Lessing, O.E., 214 Leyen, Friedrich von der, 345, 347, 349 Lieser, Dietmar, 6, 53, 387 Lipiner, Siegfried, 283 Lorenz, Ottokar, 16, 63, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 122, 123, 125, 130, 133, 139, 149, 183, 184, 189, 207, 233, 242, 296, 319, 391, 408, 419, 463, 470, 507 Luick, Karl, 376 Luther, Martin, 179, 180, 181, 291, 292, 293, 404, 414, 474 Mackensen, Lutz, 490, 491 Mahrholz, Werner, 309, 310, 316, 325, 328, 430, 502 Mann, Thomas, 366 Mareta, Pater Hugo, 56 Maria Theresia, 175 Marx, Karl, 279, 419, 478 Meissl, Sebastian, 4, 8, 201, 365, 373, 377, 401, 480, 484, 492 Mellemann, Albrecht Friedrich, 132 Meringer, Rudolf, 80 Merker, Paul, 47, 352 Metastasio, Pietro, 442 Meyer, Richard Moritz, 204, 207, 208, 209, 210, 213, 215, 217, 307, 363 Michler, Werner, 55, 56 Mill, John Stuart, 45 Minder, Robert, 486 Minor, Jakob, 56, 57, 365 Much, Rudolf, 80, 244, 373, 374, 376 Müller, Günther, 306, 308, 315, 316, 317, 326, 327, 375, 376, 377, 385 Müller, Joachim, 433 Müller-Funk, Wolfgang, 7 Muncker, Franz, 364, 365, 366, 367, 372 Muschg, Walter, 485, 489, 505 Muth, Carl, 367 Nagl, Johann Willibald, 55, 56
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Napoleon, 284, 286, 289 Neidhart, 144 Neuber, Wolfgang, 7, 8, 190 Nickel, Otto, 490, 491, 496 Nicolai, Friedrich, 131 Nietzsche, Friedrich, 268 Obenauer, Karl Justus, 433, 434 Oehl, Wilhelm, 197, 198, 199, 201, 202, 203 Opitz, Martin, 140, 141, 142, 194, 250, 415, 450, 475 Osterkamp, Ernst, 365, 366 Peter, Wilhelm, 467 Petersen, Julius, 35, 40, 77, 308, 318, 320, 321, 328, 361, 364, 366, 369, 370, 372, 438 Petsch, Robert, 361, 363 Piccardt, Anton, 203 Pick, Robert, 488, 489 Pirker, Max, 213, 216, 217 Polheim, Karl, 343 Proudhon, Pierre Joseph, 279 Python, Georges, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 372 Radermacher, Ludwig, 376 Ranke, Friedrich, 355, 356, 374 Ratzel, Friedrich, 71, 72, 73, 82, 83, 86, 186, 192, 207, 211, 233, 236, 241, 266, 296, 297, 301, 371, 507 Reinhardt, Max, 218, 417, 478 Reininger, Robert, 376 Reinmar von Hagenau, 123, 124, 125, 167, 442 Reiss, Erich, 221, 244, 245 Renner, Gerhard, 57 Rensing, Theodor, 205, 206 Rickert, Heinrich, 27, 28, 29, 33, 38, 61, 63, 67, 209, 383 Riehl, Wilhelm Heinrich, 78, 79 Rilke, Rainer Maria, 273, 278, 410, 448, 449 Ritter, Karl, 72 Roeseler, Hans, 403 Roethe, Gustav, 334, 346, 364 Roh, Franz, 326 Römer, Ruth, 229 Rosenberg, Alfred, 409, 425 Rossmann, Kurt, 486, 487, 496 Rutz, Otmar, 225, 226, 227 Saint-Simon, Henri, 279 Saran, Franz, 225, 226, 227, 243 Sartori, Franz, 54
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Personenregister
Sauer, August, 10, 14, 16, 17, 56, 57, 58, 62, 63, 71, 72, 73, 75, 76, 77, 79, 80, 81, 84, 88, 93, 95, 96, 102, 103, 104, 105, 123, 134, 143, 144, 159, 160, 161, 163, 164, 177, 183, 191, 195, 197, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 210, 214, 215, 220, 221, 222, 242, 243, 244, 245, 248, 251, 253, 258, 262, 263, 281, 282, 287, 288, 290, 306, 307, 310, 329, 334, 337, 340, 341, 342, 344, 348, 350, 357, 359, 360, 362, 363, 364, 365, 370, 371, 372, 373, 391, 393, 469 Savigny, Karl von, 155 Scheler, Max, 343, 345 Scherer, Wilhelm, 21, 22, 23, 24, 25, 54, 55, 56, 57, 60, 95, 132, 133, 209, 216, 306, 307, 339, 391, 392 Schierbaum, Heinrich, 207 Schiller, Friedrich, 43, 64, 65, 110, 111, 134, 136, 146, 194, 452, 467 Schirach, Baldur von, 427, 428, 482, 484 Schmid, Karl, 205, 207, 213, 214, 215, 217 Schmidt, Erich, 209, 216, 307, 363, 392 Schmidt-Dengler, Wendelin, V Schnabel, Johann Gottfried, 111, 112 Schneider, Hermann, 330, 331, 333, 334, 335 Schneider, Josef Ferdinand, 199, 203, 223, 338, 339, 340, 343, 359, 361, 363, 375, 376, 377 Schnitzler, Arthur, 418, 449, 450 Schnürer, Gustav, 196, 197, 199, 200, 201, 202 Schröder, Rudolf Alexander, 368 Schücking, Levin L., 45, 46, 49 Schultz, Franz, 208, 213, 215, 345, 376 Schumann, Andreas, 6 Schweizer, Johann Kaspar, 131 Seemüller, Josef, 56 Seuse, Heinrich, 131 Siebs, Theodor, 352, 354 Siedler, Josef, 487, 488 Sievers, Eduard, 225, 226, 227, 243 Silesius, Angelus, 145 Smith, Woodruff D., 70, 88, 192, 523 Sommerfeld, Martin, 355 Spahn, Martin, 343, 345, 346 Spann, Othmar, 426 Srbik, Heinrich von, 376, 426, 439 Stefansky, Georg, 282 Stenzel, Gerhard, 493, 495 Stern, Julius, 213 Sternberg, Leo, 281
Stockmann, Alois, 324 Strich, Fritz, 42, 60, 355, 356 Sturm, Peter, 5 Suchy, Viktor, 495 Tacitus, 82 Tannhäuser, 144 Tauler, Johannes, 131 Thalmann, Marianne, 306, 313 Thurnherr, Eugen, 495 Tieck, Ludwig, 144, 146 Toscano del Banner, Joseph Georg, 54 Trakl, Georg, 449 Traugott, Edgar, 426 Troeltsch, Ernst, 351 Uhland, Ludwig, 287 Unger, Rudolf, 35, 36, 37, 39, 41, 45, 60, 63, 223, 314, 315, 320, 321, 328, 330, 331, 332, 333, 335, 336, 343, 344, 345, 349, 350, 351, 352, 354, 361, 366, 367, 386 Viëtor, Karl, 35, 41, 58, 59 Virchow, Rudolf, 184 Voßkamp, Wilhelm, 48, 497 Vossler, Karl, 367, 368, 372 Wackernell, Joseph Eduard, 337, 338, 342 Wagner, Claudia, 484 Walther von der Vogelweide, 57, 131, 144 Walzel, Oskar, 40, 42, 43, 44, 60, 132, 206, 221, 222, 234, 345, 348, 349, 382 Wassermann, Jakob, 283, 418 Weber, Max, 47 Weinhold, Karl, 77, 79 Weinzierl, Erika, 5 Welcker, Karl, 287 Werfel, Franz, 278 Wiegand, Wilhelm, 368 Wieland, Christoph Martin, 134, 136, 452 Winckelmann, Johann Joachim, 111, 141, 272 Winkler, Emil, 376 Winterstetten, Konrad von, 144 Witkowski, Georg, 316 Wölfflin, Heinrich, 42, 43, 44 Wolfram von Eschenbach, 23, 115, 134 Wundt, Wilhelm, 39, 86, 297 Wurzbach, Alfred, 376 Wyss, Ulrich, 11 Zeidler, Jakob, 55, 56 Zeuß, Kaspar, 182, 254, 408 Ziesemer, Walther, 355, 401 Zweig, Stefan, 449, 450 Zwingli, Ulrich, 291, 447