Spiele, Siege und Skandale
Dirk Husemann, geboren 1965, studierte Vor- und Frühgeschichte, Archäologie und Ethnologie...
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Spiele, Siege und Skandale
Dirk Husemann, geboren 1965, studierte Vor- und Frühgeschichte, Archäologie und Ethnologie und ist seit über zwanzig Jahren als freier Autor und Journalist tätig. Er schreibt regelmäßig Reportagen unter anderem für Spektrum der Wissenschaft, GEO und Spiegel Online. Bei Campus erschien von ihm 2005 Die Neandertaler. Genies der Eiszeit. Christian Barthold, Diplom-Kommunikationsdesigner und seit 1996 freischaffender Illustrator, arbeitet für verschiedenste Kunden aus den Bereichen Editorial-Illustration, Buchdesign, Grafikdesign, Werbung und Multimedia. Er wurde 2005 vom Verlag TASCHEN zu den »150 most important illustrators in the world« gezählt. Für den Campus Verlag illustrierte Christian Barthold 2006 das Jugendbuch Wer nicht sucht, der findet von Gudrun Schury.
Spiele, Siege und Skandale Dirk Husemann erzählt vom antiken Olympia
Illustrationen von Christian Barthold
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38266-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2007 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv und Illustrationen ©: Christian Barthold, Köln Satz: Fotosatz Huhn, Linsengericht Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Auf der Startschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Quelle von Schweiß und Tränen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiß auf Olympia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Helle Freude hoch vier Olympia und seine Filialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Sportskanonen und Spitzenreiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Laufen Dem Sportsgeist Beine machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Fünfkampf Für eine Handvoll Finger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Boxen Schicksalsschläge mitten ins Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Pankration Hickhack der harten Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Pferdespiele Dem Tod eine Nüsternlänge voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Dichten, dudeln, Steine werfen Olympische Randerscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Auf Biegen und Brechen Spiele ohne Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Helden und Versager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5
Kein Blumentopf für Quotenfrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kämpfen, bis der Notarzt kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Eine Werkstatt für ein Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Der wiederbelebte Sportsgeist Olympia in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Anhang Zeittafel der olympischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . Zeittafel der griechischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Wer weiterlesen will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auf der Startschwelle
Zwanzig nackte Männer stehen in einem engen Gang. In dem Tunnel ist es kühl und still. Sie warten: darauf, dass sich das Gitter vor ihnen öffnet, dass die Kampfrichter das Signal geben, dass sie hinaustreten können in die Hitze des griechischen Sommers, dass der Beifall brandet und die Zuschauer ihre Namen schreien. Wer durch diesen Tunnel auf die Kampfbahn Olympias tritt, geht durch eine Schleuse in ein anderes Leben. Es mag das Leben eines Gewinners sein, gefeiert in ganz Griechenland, mit einem Namen, der noch Jahrhunderte später berühmt sein wird. Auf ihn warten Sorglosigkeit, Reichtum und Luxus. Andererseits mag es das Leben eines Besiegten sein, geschmäht in der Heimat, verachtet und verspottet für den Rest seiner Tage. Denn eines gibt es in Olympia nicht: einen zweiten Platz. Nur wer vorne liegt, gewinnt. Alle anderen sind Verlierer. Die Männer werden unruhig. Noch warten die Kampfrichter mit dem Signal. Bevor der Wettlauf beginnt, wollen sie die Spannung knistern hören – im Publikum und unter den Athleten. Einer der Läufer nimmt einen Stein auf und ritzt einen Spruch in den Muschelkalk der Tunnelwand: »Polites ist der Schnellste.« Ein anderer stößt ihn beiseite und schreibt darunter: »Der am Boden liegt.« Nervöses Lachen hallt von den Tunnelwänden. Für einen Moment fühlen sich die Männer verbunden, so, als wären sie Freunde. Aber der Augenblick verfliegt. Die Kampfrichter klatschen in die Hände, und da öffnet sich das Tor. Ein Hexenkessel verschlingt die Athleten. 45 000 Gesichter starren auf sie herab. Der Lärm ist ungeheuerlich. Angesichts der anonymen Menge schrumpft alle Hoffnung, die eigene Familie unter den Zuschauern erkennen zu können, auf Daumennagelgröße. Wer das Stadion Olympias betritt, steht inmitten von Tausenden und doch am einsamsten Ort der Welt. Zwar haben 7
Langer Weg zum Ruhm: Durch diesen Gang zogen die Athleten ins Stadion ein. Die Decke des Tunnels ist nur in einem Bogen erhalten.
die Trainer ihre Schützlinge immer wieder auf diesen Moment vorbereitet, aber jetzt setzen sich die Athleten nur zögernd in Bewegung. Zu allem Überfluss liegen die Startschwellen für den Stadionlauf am anderen Ende der Bahn. Bar und bloß, wie es für Sportler üblich ist, marschieren sie vorbei an der Menge, grüßen die Kampfrichter, die auf der Hälfte der Strecke auf ihren Steinsitzen das Stadion überblicken wie Feldherren das Schlachtfeld, dann ist das andere Ende der Laufbahn erreicht. Pfosten mit Fähnchen ragen aus der Startschwelle. Jeder Läufer stellt sich neben einem der Pflöcke auf – und wartet. Jetzt erreicht die Spannung ihren Höhepunkt. Die Rufe auf den Rängen werden leiser, das Geschrei verebbt. Jeder will das Startsignal hören, die Dauer des Rennens in voller Länge auskosten – zwei Minuten, die die Welt bedeuten. Viele Zuschauer haben eine wochenlange Anreise auf sich genommen, nur um diesen Moment zu erleben. Da hebt der Signalgeber die Arme. »Apite!«, schreit er, klatscht die Hände über dem Kopf zusammen und die Läufer schießen aus der Startschwelle. 8
Sofort schwillt der Lärm wieder auf den höchsten Pegel an. Die Füße der Athleten trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert. Obwohl die Läufer so schnell wie möglich rennen, scheint die Strecke länger geworden zu sein, als sie es eben noch beim Abschreiten war. Aber alles, was jetzt noch zählt, ist der Abstand zu den Gegnern, das Rasseln ihres Atems, ihr Schweißgeruch in der Nase. Die Tribüne der Kampfrichter fliegt vorbei, der Altar der Demeterpriesterin bleibt zurück, die Gesichter verwischen. 40 Beine rasen auf die Zielschwelle zu. Als der erste Fuß den kühlen Stein berührt, toben die Zuschauer wie die Barbaren. Olympia hat einen neuen Sieger. Wo die Fans in der Antike johlten, zwitschern heute Vögel und zirpen Zikaden. Wo Läufer um die Wette keuchten, liegen Ruinen. 1 700 Jahre ist es her, seit im antiken Olympia zum letzten Mal jemand »Apite!« rief, ins Starthorn blies oder mit einem Kranz aus Olivenzweigen gekrönt wurde. Auch wenn es die Spiele der Antike nicht mehr gibt, der Ruhm Olympias ist unvergänglich. Schriftsteller und Maler, Könige und Generäle, Forscher und Philosophen besuchten den Ort in Westgriechenland. Der unschlagbare griechische Feldherr und Herrscher Alexander der Große war hier, der verrückte römische Kaiser Nero und der weise Herodot, der »Vater der Geschichtsschreibung«. Riefen die Olympischen Spiele, ließen die griechischen Denker Sokrates, Platon und Aristoteles den Schreibgriffel fallen und sich in Olympia sehen, der Gelehrte Pythagoras kam und sogar der Urvater der Medizin, Hippokrates, verfolgte das Spektakel im Stadion, wohl nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse. Wer nach Olympia reiste, suchte die Sensation. Würgen, Quetschen, Knochenbrechen waren im Stadion an der Tagesordnung. Gegen Regeln zu verstoßen fiel den Athleten schwer – es gab kaum welche. Nur im Notfall züchtigten die Kampfrichter die Sportler kurzerhand mit dem Stock. Die Athleten selbst rangen keinesfalls demütig im Namen der Götter, sondern prügelten sich um Preisgelder, deren Höhe heutige Ablösesummen beim Profifußball in den Schatten gestellt hätte. Olympia war schon immer das große Geschäft. Das Licht der Spiele fiel noch viel später und fernab von Griechenland auf Läufer, Springer, Wagenlenker: In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, kämpften Sportler noch nach Jahrhunderten im Namen Olympias um den Sieg, während sich am ehemaligen Ort des Geschehens längst Stadion, Tempel und Altäre in Trümmer verwandelten. In Großbritannien rief der Rechtsanwalt Robert Dover im 17. Jahrhundert die »Olimpick Games« ins Leben, 9
1850 gründeten Engländer díe »Olympian Society« und feierten Sportfeste unter dem Namen Olympias und den schweren Wolken Großbritanniens. Der Franzose Pierre de Coubertin rief 1896 die Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen aus. Olympia ging um die Welt. Das Jubeln der Zuschauer ist bis heute dasselbe, aber die Arenen der modernen Olympischen Spiele sind Tempel der Technik und stehen in Weltstädten wie Los Angeles, Sydney, Tokio und Athen, wo 2004 das Sportfest nur eine Tagesreise von seinem Ursprungsort gefeiert wurde. Nach Olympia selbst aber pilgern nur noch Forscher und Touristen. Vom Zeustempel, einst eines der mächtigsten Bauwerke Europas, ist nur noch der Sockel erhalten. Kundige Wissenschaftler haben eine einzige Säule nachbauen lassen, um die damalige Größe des Tempels zu demonstrieren. Zwischen den Ruinen suchen Archäologen nach den Bruchstücken umgestürzter Säulen, Hunderttausende Steine von Gebäuden und Mauern warten darauf, am rechten Fleck eingepasst zu werden. Olympia ist das größte Puzzle der Welt. Durch den Tunnel, der zum Stadion führt, gehen die Besucher vorsichtigen Schrittes. Nicht, weil der Untergrund rutschig wäre, sondern weil der Ort so alt ist, dass Ausgelassenheit zunächst nicht aufkommen will. Die Inschrift des Polites, der von sich behauptete, er sei der Schnellste, hat der Zahn der Zeit abgenagt. Die Hänge des Stadions sind wieder aufgeschüttet, aber die Zuschauer kommen nie mehr in Massen. Vereinzelte Touristen spazieren durch das Gras, das hier nun in Seelenruhe wachsen kann, ohne von einer Menschenmenge zertrampelt zu werden. Viele stehen bewundernd vor der Startschwelle, die noch immer an Ort und Stelle erhalten ist, abgewetzt von unzählbaren Füßen. Diese Kalkblöcke waren einmal Prüfstein der besten Sportler der antiken Welt. In ihre Fußstapfen zu treten ist ein so großer Reiz, dass noch heute die Wagemutigsten einer Reisegruppe ihre Fersen in die Rillen stemmen und auf das Startsignal warten. Spätestens jetzt ist es vorbei mit zaghaftem Schreiten und ehrfurchtsvollem Staunen. Von irgendwoher ruft jemand »Apite!« und die Läufer schießen aus den Schwellen, die Füße trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert. Olympia ist unsterblich.
erstellt von ciando
Die Quelle von Schweiß und Tränen
Olympia schlägt Weltrekorde. Der Winkel in Westgriechenland ist der sportlichste Ort der Erde. 1 100 Jahre lang zog Olympia Athleten an. Kein Sportplatz der Geschichte war länger geöffnet, keiner sah mehr Schweiß und Tränen, nirgendwo tauchten so viele Prominente auf, waren Sport, Kunst und Politik so dicht miteinander verwoben. Wenn im Sand der Kampfbahn die Stärksten und Schnellsten um den Sieg rangen, saßen die Götter auf den Tribünen. Wie alt die Olympischen Spiele sind, weiß niemand. Eine Inschrift erwähnt das Jahr 776 vor Christus. Zwar ist kein Dokument überliefert, das noch frühere Zeiten nennt, aber Archäologen haben Spuren gefunden, die weiter in die Vergangenheit zurückreichen, bis ins 2. Jahrtausend vor Christus, eine wilde Zeit, in der fremde Völker durch Griechenland zogen und Krieg und Verwüstung brachten. Als Beginn der offiziellen Zählung aber gilt das Jahr 776 vor Christus. Wie weit dieser Zeitpunkt zurückliegt, ist für den modernen Menschen schwer vorstellbar. Zweitausendsiebenhundertdreiundachtzig Jahre – schon das Wort macht die Zunge schwer und das Auge müde – sind seither vergangen. In diesen Zeitraum passt ein Großteil der europäischen Geschichte hinein, mitsamt allen Königen, Kirchen, Kunstwerken und Kriegen. Gäbe es eine Familie, die seit 776 vor Christus eine Chronik ihrer Vorfahren führte, könnten die heutigen Familienmitglieder auf einen Ahnen stolz sein, der 150 Mal die Vorsilbe Ur- vor dem Großvater stehen hätte. Geschichte aber ist eine Frage der Perspektive. Was einem heutigen Menschen mit einer Lebensspanne von 70 Jahren groß wie ein Leuchtfeuer erscheint, wirkt im Angesicht der Weltgeschichte nur wie ein Funke. Die Griechen der Antike tragen heute den Beinamen »die Alten«, aber sie standen keineswegs am Beginn der Zivilisation, sondern nutzten Erfindungen, die schon 2 000 Jahre früher gemacht worden waren. Die Schrift war um 3 500 vor Chris11
tus im heutigen Irak entstanden, die erste Großstadt um 3 000 vor Christus in Ägypten gebaut geworden. Die Mesopotamier brachten Texte wie das Gilgamesch-Epos hervor, die Chinesen handelten mit Münzen statt mit Naturalien, die Ägypter bauten eine Pyramide nach der anderen. Auf dem Mittelmeer kreuzten Flotten von Handelsschiffen zwischen Kulturen und Reichen und brachten ägyptische Vasen nach Kreta und italienisches Eisen nach Griechenland. Es gab Abwasseranlagen und Bierbrauereien, Parfüm und Emaille, Glaskunst und den Fackeltelegrafen, Brücken und Blitzableiter. Als in Olympia die ersten Athleten gegeneinander antraten, errichteten die Menschen bereits seit Jahrtausenden Tempel und schufen Skulpturen und Malereien mit einer Kunstfertigkeit, die noch im 20. Jahrhundert Picasso erstaunte. Die Olympischen Spiele begannen spätestens 776 vor Christus und endeten 393 nach Christus, als sie der römische Kaiser Theodosius verbieten ließ – dem christlichen Herrscher waren die Wettkämpfe zu Ehren der alten Götter zu heidnisch, als dass er ihnen weiterhin den Segen geben wollte. Damit hatte Olympia 1169 Jahre Bestand. So lange hielt sich kein Reich der Geschichte. Sogar die zähen Römer, Rekordhalter im Dauerherrschen, brachten es nur auf knapp 1 000 Jahre. Kein Heiligtum Europas war kontinuierlich so gut besucht: Wer heute voller Ehrfurcht zu den gotischen Kathedralen des Mittelalters aufschaut, sieht 700 Jahre alte Bauwerke – die Tempel und Altäre Olympias aber standen mehr als 400 Jahre länger in Dienst. Wenn Erfolg an Stehvermögen gemessen werden kann, schlug das antike Olympia alle Rekorde der Geschichte.
Blaue Augen für die Götter Sagenumwoben waren die Olympischen Spiele schon in grauer Vorzeit. So gibt es gleich mehrere Legenden, die sich um den Ort Olympia und die Entstehung der Spiele ranken. Der gängigen griechischen Vorstellung zufolge sollen Helden und Götter die Drahtzieher bei der Erschaffung Olympias gewesen sein. Für gewöhnlich thronten die Unsterblichen auf dem Gipfel des Olymp, dem griechischen Götterberg im 300 Kilometer entfernten Thessalien. Wenn aber die Spiele begannen, zogen Zeus und seine Göttersippe in die Landschaft Elis. Das glaubten jedenfalls die Griechen. Der Legende nach hatte sich 12
in Olympia einst das Schicksal der Welt entschieden. Zwischen den Flüssen Alpheios und Kladeos soll es zu einem Kampf der Giganten gekommen sein. Auf der einen Seite: Kronos, ein Titan mit wenig rühmlicher Vergangenheit. Seinen Vater hatte er mit einer Sichel entmannt, seine Kinder aufgefressen. Auf der anderen Seite: Zeus, der einzige überlebende Sohn des Kronos, durch eine List seiner Mutter vor dem Vater verborgen. Jetzt sann er auf Rache. In Elis prallten die Gegner aufeinander. Es sollte der erste Wettkampf Olympias sein. Zeus besiegte seinen Vater. Details des Ringens sind nicht bekannt, aber da Zeus auch »der Blitzeschleuderer« hieß, ist vorstellbar, wie es an jenem Tag in Elis zugegangen sein muss. Der bezwungene Kronos musste die Geschwister des Zeus wieder ausspeien und wurde in den Tartaros verbannt, den tiefsten Teil der Unterwelt. Von den Geretteten bejubelt, bestieg Zeus den Götterthron – ein Grund zum Feiern. Das Fest der Götter war die erste Siegerehrung in Olympia. Zeus schien das Treiben auf der Ebene gefallen zu haben. Anlässlich seines Sieges rief er Wettspiele aus. Die Götter selbst gingen an den Start. Hermes, der Gott der Reisenden, trat gegen Apollon, den Heil- und Musengott, zum Wettlauf an – und verlor. Apollon soll auch Ares, den Kriegsgott, im Faustkampf besiegt haben. Die Geschichte vom Wettkampf der Unsterblichen in Olympia ist der älteste Sportbericht der Welt. Wo die Götter spielen, ist kein Platz für Menschen. Die Sterblichen kamen erst später nach Olympia. Bis dahin blieb der Ort verlassen. Aber eines Tages tauchte ein seltsamer Bursche dort auf, wo Zeus einst den Kronos bezwungen hatte. Mit ihm begann die Geschichte der Olympischen Spiele.
Supersportler Herakles Er war der stärkste Mann der Welt und der größte Held der Griechen. Nicht einmal die Kampfmaschine Achilles und der Pfiffikus Odysseus, beide Hauptfiguren des trojanischen Krieges, waren beliebter. Wer sich in Griechenland Geschichten erzählte, der erzählte von Herakles. Sein Name ging um die Welt. Bei den Römern hieß er Hercules, später bei den Deutschen Herkules. Könige wie Alexander der Große nannten ihre Kinder nach ihm, Komponisten wie Georg Friedrich Händel schufen 13
Opern in seinem Namen, Motorradmarken, Kaufhausketten und Transportflugzeuge vergleichen sich noch heute mit dem großen Vorbild aus der Antike. Sogar eine Pflanze erinnert an den Kraftprotz aus Griechenland: die Herkulesstaude, die auch Riesenbärenklau heißt und 3 Meter groß werden kann. Einen Nachnamen trug Herakles nicht. In der Antike hatte niemand einen. Man begnügte sich damit, Menschen beim Vornamen zu rufen. Selbst Führungskräfte wie Gaius Julius Cäsar waren davon nicht ausgenommen – Cäsar war kein Nachname, sondern ein Beiname der Familie, so wie ihn später Karl der Kahle, Iwan der Schreckliche oder Friedrich der Gebissene trugen. Herakles konnte auf solche Anhängsel verzichten. Wer diesen Namen hörte, der wusste, wer gemeint war. Herakles war kein Kind von schlechten Eltern. Sein Vater war Zeus, der oberste Griechengott, und das bedeutete Ärger. Dem Sprössling des Zeus schwebte keinesfalls ein Heiligenschein über dem Haupt. Im Gegenteil. Zeus hatte den Nachkommen mit Alkmene gezeugt, einer Sterblichen, deren Reizen selbst ein Gott nicht widerstehen konnte. Der Seitensprung aber hatte Folgen. Hera, der Gattin des Zeus, blieben die Eskapaden ihres Mannes nicht verborgen. Zunächst hatte Athene, Göttin des Friedens und des Krieges, selbst eine Tochter des Zeus und damit die Halbschwester des Jungen, es mit der ihr eigenen Raffinesse geschafft, Hera den Knirps unterzujubeln. Die Göttin erkannte nicht, wer in ihrem Schoß lag, empfand aber Mitleid mit dem Knaben und säugte ihn an ihrer Brust. Damit ging der Plan Athenes auf. Mit der Milch bekam das Kind die übermenschliche Stärke der Götter und seinen Namen: Herakles, der von Hera Gerühmte. Danach brachte Athene den Jungen zurück zu seiner sterblichen Mutter. Die getäuschte Hera, machtlos gegenüber dem ungetreuen Obergott, ließ das Kind ihre Wut spüren. Sie legte ihm zwei Schlangen in die Wiege und schickte ihm Wahnsinnsanfälle. Der kräftige Knabe aber erwürgte die Schlangen mit seinen eigenen Händen. Auch der erwachsene Herakles war ein Kraftprotz, wie er im Buche steht. Für den König Eurystheus musste der Halbgott zwölf Aufgaben lösen, jede einzelne davon absurd schwierig. Dank seiner Kraft aber überstand Herakles jede Gefahr. Er kämpfte mit Untieren wie dem Nemeischen Löwen, einer Raubkatze mit unverwundbarem Fell, die Herakles kurzerhand erwürgte. 14
Er rang mit der Hydra von Lerna, einer Schlange mit mehreren Köpfen. Er zerrte den Höllenhund Kerberos aus der Unterwelt herauf und hetzte ein Jahr lang hinter der Hirschkuh der Artemis her. Als jedoch Herakles die Aufgabe bekam, die Ställe des Augias zu reinigen, war ein großer Bizeps nicht genug und guter Rat teuer. Augias war König von Elis, jener Landschaft in Westgriechenland, in der Zeus und Kronos ihre folgenschwere Begegnung hatten. Berühmt war Augias vor allem wegen seines Reichtums an Rindern. 3 000 Tiere soll er besessen haben, kein Pappenstiel. Selbst heute bringt es ein großer europäischer Züchter nur auf 700 Rinder. In der Antike mögen zwei Dutzend Tiere bereits Reichtum bedeutet haben. Mit einer Herde von 3 000 war der Herrscher von Elis auch König der Kühe. Wer reich ist, muss nicht reinlich sein. In den Ställen des Augias war seit 30 Jahren nicht ausgemistet worden. Hier aufzuwischen erforderte Fachpersonal – eine Aufgabe für Herakles. Augias muss verzweifelt gewesen sein. Er versprach dem Halbgott den zehnten Teil seiner Herde für die Reinigung der Ställe. Eurystheus aber knüpfte noch eine Bedingung an die Arbeit: Herakles musste sie binnen eines Tages erledigt haben. Dem Halbgott schien das nicht zu schwierig. Während Eurystheus sich bereits händereibend auf das Scheitern des Herakles freute, warf dieser einen Blick in den Stall und einen in die Landschaft. Dann brach er das Fundament des Gebäudes an einer Seite auf, grub mit seinen Bärenkräften einen Kanal und leitete die Flüsse Peneios und Alpheios um, die nun mitten durch den Saustall hindurchflossen – ein Glanzstück antiken Ingenieurwesens. Die Aufgabe war erledigt, doch König Augias wollte nicht zahlen. Um den Lohn geprellt, wurde Herakles überdies aus dem Land gejagt. Augias aber hätte wissen müssen: Wer einen Fluss aus dem Bett reißt, der stürzt auch einen König vom Thron. Herakles kehrte zurück. Augias’ Tage waren gezählt. An der Spitze eines Heeres eroberte Herakles das Reich. Da er am Königstitel offenbar nicht interessiert war, übergab er die Herrschaft an Pyleus, den Sohn des Augias, der beim Streit um seinen Lohn für Herakles gesprochen hatte. Hier hätte die Geschichte enden können, aber Herakles war ein Sohn des Zeus – das Feiern lag ihm im Blut. Zum zweiten Mal war ein außergewöhnlicher Kampf in Elis entschieden worden, zum zweiten Mal rief der Sieger anlässlich der Feiern Wettkämpfe 15
aus. Herakles persönlich soll sich um den Bau des Sportplatzes gekümmert haben. Er legte jene Grenzen der Wettkampfstätte fest, die später den heiligen Bezirk ausmachten, den Kern Olympias. Sogar die Maße der Laufbahn sind ein Markenzeichen des Herakles, der jene Strecke absteckte, die er laufen konnte, ohne Luft zu holen. Bei einem Halbgott waren das 192 Meter. Das Maß machte Geschichte. Über 1 000 Jahre lang gaben die Menschen der Antike Entfernungen in Stadien an, so wie heute in Kilometern. Noch immer erinnert das Wort »Stadion« an das ausrangierte Längenmaß. Der lange Atem des Herakles ist nur eine der Geschichten über die Herkunft des Stadions. Eine andere Legende berichtet, der Halbgott habe 600 Mal einen Fuß vor den anderen gesetzt, um die Laufbahn festzulegen. Auch das Abschreiten ergab eine Strecke von 192 Metern. Demnach müssen die Füße des Herakles 32 Zentimeter lang gewesen sein – Schuhgröße 52. Der Halbgott pflanzte noch einen Ölbaum mitten in Olympia an, aus dem bei den Spielen die Zweige für die Sieger geschnitten wurden. Das Gelände rundum erklärte er zum Platz für Tafelfreuden. Fertig war die Arena. Sogar Kronos, den alten Widersacher seines Vaters, ehrte Herakles – das war üblich in der Antike, denn je beachtenswerter der Feind, desto größer die Ehre, ihn zu bezwingen. So erhielt der Titan ein Denkmal in Olympia, den höchsten Hügel des Ortes. Bislang war niemand auf die Idee gekommen, der Höhe einen Namen zu verleihen. Herakles taufte den Höcker »Staubhügel des Kronos«, weil seine Kuppe mit Schnee bedeckt war. Er ging als »Kronoshügel« in die Geschichte Olympias ein. Und Herakles? Sein Leben endete, wie es begonnen hatte: mit einem Eifersuchtsdrama. Nach Heldentaten in Hülle und Fülle heiratete er die Königstochter Deianeira. Als sich der Gatte nach einiger Zeit der hübschen Iole zuwandte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die wütende Deianeira tränkte ein Festgewand mit dem Blut eines toten Kentauren, einem Fabelwesen mit Pferdeleib und menschlichem Oberkörper. Nicht nur war der Lebenssaft des Kentauren ein tödliches Gift, er bewirkte zudem, dass der Stoff nicht mehr von der Haut zu lösen war. Als Herakles das Geschenk seiner Ehefrau anlegte, wurde er von Höllenqualen erfasst. Halb wahnsinnig vor Schmerz warf er den Überbringer des Gewandes die Klippen hinab und tobte, dass sich die Balken bogen. Als es keinen anderen Ausweg mehr zu geben schien, ließ er sich auf einen Berg tragen und dort auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Hier könnte die Geschichte traurig enden. Aber zum Glück sind Götter unsterb16
lich. Athene führte den Geist des Herakles auf den heiligen Berg, wo er die ewige Jugend als Belohnung für seine Taten erlangte. Sogar mit Hera söhnte sich Herakles aus. Happy End auf dem Olymp.
Pelops – fiese Tricks beim Wagenrennen Die Idee, dass der erste Startschuss in Olympia von den Göttern ausgelöst worden sei, wie es die Legende besagte, gefiel den Eleern ganz und gar nicht. Die Bewohner der Landschaft Elis glaubten nicht an die Legende vom Kampf des Zeus und Kronos vor ihrer Haustür. Sie hatten eine andere Geschichte auf Lager. Ihr Held hieß Pelops, ein Hochleistungssportler in den Disziplinen List und Betrug. Wie Herakles war auch Pelops Sohn eines Gottes. In diesem Fall hieß der Vater Tantalos. Tantalos war wiederum ein Sohn des Zeus, aber anders als sein rechtschaffener und mutiger Halbbruder Herakles war Tantalos das schwarze Schaf der Familie. Er missbrauchte das Vertrauen der Götter, stahl deren Speise Ambrosia von ihrer Tafel und gab den Sterblichen davon zu essen. Er stahl einen goldenen Huf aus dem Tempel des Zeus. Auch die Geheimnisse der Götter soll er auf der Erde ausgeplaudert haben. Verständlich, dass die Unsterblichen von diesem Tunichtgut wenig begeistert waren. Dennoch duldeten sie ihn in ihrer Mitte – bis Tantalos den Bogen überspannte. Eines Tages lud Tantalos die Götter zum Essen ein. Als Hauptspeise reichte der Hausherr seinen Gästen ein blutiges Gericht: seinen Sohn Pelops, den er zuvor getötet und nach Rezept hatte zubereiten lassen. Nicht, dass Tantalos seinen Sohn gehasst hätte. Ihm war daran gelegen, die Götter auf die Probe zu stellen. Waren sie wirklich allwissend? Erkannten sie, die so gern schlemmten, auch diesen Betrug? Sie erkannten ihn, und das Maß war voll. Zeus verbannte Tantalos in den Tartaros, jene Unterwelt, in der auch Kronos seine Zeit absaß. Für Tantalos aber dachten sich die Götter eine raffinierte Strafe aus. Sie stellten ihn in einen Teich, dessen Wasser immer dann versiegte, wenn sich Tantalos bückte, um davon zu trinken. Über seinem Kopf hingen Zweige voller Früchte, doch sobald er danach langte, wirbelte ein Wind sie in die Höhe. Zu schlechter Letzt hing ein Felsblock über Tantalos’ Kopf, der drohte, herabzustürzen und ihn zu erschlagen. Noch heute sprechen Menschen, die ein Ziel vor Augen haben, es aber nicht erreichen können, von Tantalosqualen. 17
Pelops überlebte. Die Götter machten es möglich. Sie warfen den zu einer Mahlzeit verarbeiteten Sohn in einen Kessel, rührten kräftig um und zogen Pelops in neu erstandener Schönheit daraus hervor – Kochen rückwärts. Nur die Schulter fehlte. Von ihr hatte die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter vorwitzig genascht, bevor der Betrug aufgeflogen war. Pelops bekam eine Prothese aus Elfenbein. Mit neuem Leib und dem Segen der Götter machte sich der Sprössling des Tantalos auf nach Pisa. Im Goldenen Zeitalter Griechenlands lag Pisa nicht in Italien, sondern in der Nähe der Stadt Elis. Hier herrschte Oinomaos, ein König mit einem Problem. Oinomaos war prophezeit worden, dass ihm die Vermählung seiner Tochter den Tod bringen werde. Prinzessin Hippodameia aber zog die Männer an wie Olympia die Athleten. Der König musste zudem für einen Thronfolger sorgen, einen Sohn hatte er nicht. Also schmiedete er einen Plan. Oinomaos spannte die Pferde an. Jeder Freier seiner Tochter musste gegen den König auf der Rennbahn gewinnen. Die Strecke war beachtlich, sie ging von Pisa bis nach Korinth, quer durch Griechenland. Wer die Herausforderung annahm, bekam einen Vorsprung und durfte mit Hippodameia in seinem Wagen davonfahren. Dann nahm Oinomaos die Verfolgung auf. Gelang es ihm, den Freier einzuholen, durchbohrte er ihn von hinten mit dem Speer, schlug ihm den Kopf ab und nagelte das Haupt über das Tor seines Palastes. Was die Bewerber nicht wussten: Das Wagenrennen hatte einen Pferdefuß. Die Rosse des Oinomaos waren keine gewöhnlichen Rennpferde, sondern ein Geschenk des Kriegsgottes Ares und so schnell, dass der König immer gewann. Dann kam Pelops. Über dem Palasttor Pisas baumelten bereits ein Dutzend Köpfe, als der Sohn des Tantalos vor Oinomaos erschien und den König herausforderte. Pelops hatte eine List im Gepäck. Er bestach den Wagenlenker des Königs, damit dieser die bronzenen Achsnägel durch solche aus Wachs tauschte. Das Rennen begann, das Wachs schmolz, Oinomaos stürzte sich zu Tode. Olympia hatte den ersten Sieger und den ersten Sportunfall. In einer anderen Version der Geschichte ließ Pelops seine Beziehungen zu den Göttern spielen. Poseidon, Gott des Meeres, rüstete Pelops für das Wagenrennen mit vier geflügelten Pferden aus und sorgte überdies dafür, dass Oinomaos tödlich stürzte. Zugleich warf Zeus Blitze auf den Königspalast, der bis auf die Grundmauern niederbrannte. Wem die Götter zur Seite stehen, dem helfen sie gründlich. 18
Geschichte hinterlässt Spuren. So wie heute die Ruinen des antiken Olympia noch immer aus der Landschaft ragen, soll auch vom Palast des Oinomaos eine einzige Säule erhalten geblieben sein. Sie war noch jahrhundertelang als Teil der Pferderennbahn zu sehen und wird von dem römischen Reiseschriftsteller Pausanis detailliert beschrieben. Hier soll auch ein Schulterblatt aufgetaucht sein. Die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte verschwammen. Bis heute konnten Archäologen weder Säule noch Körperteil finden. Solange sich das nicht ändert, bleibt die Geschichte von Pelops und Hippodameia ein Traum. Es mag Diplomatie gewesen sein, die Pelops dazu bewog, Festspiele zu Ehren des toten Königs abzuhalten. Vielleicht versuchte er so, jeden Betrugsverdacht von sich abzuwaschen. Olympia jedenfalls erlebte nach dem sagenhaften Wagenrennen die ersten Sportwettkämpfe. Platz ist in der kleinsten Geschichte. Um dem beliebten Herakles nicht die Leistung abzusprechen, bauten ihn die Eleer in die Handlung ein. So soll der halbstarke Halbgott die Wettkämpfe auch in dieser Version der Legende wiederbelebt haben, aber dieses Mal nicht zu Ehren seines Vaters Zeus, sondern im Namen des Pelops. Das Ergebnis war dasselbe: Eine tausendjährige Tradition begann.
Hattrick für König Iphitos In Olympia kämpften selbst die Legenden um den Sieg, dessen Prämie der Anspruch auf Wahrheit war. Während mancher Zuschauer in Olympia auf Zeus als Begründer der Spiele pochte, beharrten andere auf Pelops. HeraklesFans konnten sich dieser wie jener Seite zuwenden. Die Rollen aber waren noch nicht alle verteilt. Auf der Bühne der Gründungslegenden war noch Platz für einen weiteren König von Elis. Iphitos regierte das Land im 8. Jahrhundert vor Christus. Er muss mit Oinomaos verwandt gewesen sein: So wie der frühere König forderte auch Iphitos jeden Mann zum Wettkampf heraus, der seine Schwester heiraten wollte. Spezialität des Iphitos und seines Vaters Eurytos war das Bogenschießen. Niemand traf das Ziel so exakt und schnell wie die beiden Herrscher – bis Herakles auftauchte. Der Halbgott hatte ein Auge auf die Königstochter geworfen. Es war Iole, jene Liebelei des Herakles, für die er sich die tödliche Eifersucht seiner Frau einhandeln sollte. 19
Wie zu erwarten gewann Herakles den Wettbewerb, aber Eurytos und Iphitos verweigerten ihm den Preis. Der Betrug sollte Folgen haben. Zunächst aber hatte Iphitos andere Sorgen. Pest und Krieg wüteten im Land. Soldaten aus Pisa bedrängten die Grenzen auf der einen und Krieger aus Sparta auf der anderen Seite. Elis stand vor dem Kollaps. Was tun? War ein Held oder König in der Antike ratlos, wandte er sich an die Götter. Die Unsterblichen gaben jedoch keine Privataudienzen, sondern sprachen durch Orakel zu den Menschen. Das berühmteste stand in Delphi.
Wie die Zukunft im Ungewissen liegt, lag das Orakel von Delphi im Nebel. Am Berg Parnassus in Mittelgriechenland stand ein Heiligtum des Gottes Apollon – jenes Musenkönigs, der bereits bei den ersten Olympischen Spielen der Götter seine Geschwister in die Knie gezwungen hatte. Mitarbeiterin des Gottes war die Pythia, eine Priesterin, die zeitlebens im Tempel die Meinung ihres Vorgesetzten übermittelte. Wurde das Orakel befragt, setzte sich die Pythia über eine Erdspalte, aus der Dämpfe stiegen. Die Schwaden sollen die Priesterin in Trance versetzt haben, einen rauschhaften Zustand, in dem sie den Willen des Apollon empfing und verkündete. Das mag fauler Zauber gewesen sein oder schlichtweg erfunden. Archäologen haben Delphi auf den Kopf gestellt, von einer Erdspalte aber bis heute keine Spur gefunden. Auch Geologen sind davon überzeugt, dass hier niemandem heiße Dämpfe zu Kopf gestiegen sind. Dennoch ist Delphi mehr als ein Hirngespinst der Vergangenheit. 20
Immerhin kam in Delphi der Jetset der Antike zusammen. Könige aus der heutigen Türkei reisten an, der berühmte Midas und der berüchtigte Krösus sollen in Delphi gewesen sein, Alexander der Große setzte einen Erobererfuß ins Apollonheiligtum, ebenso wie später fast jeder römische Kaiser. Sie waren nicht allein. So viele Ratsuchende strömten zusammen, dass die Öffnungszeiten des Orakels verlängert werden mussten. Konnte die Pythia anfangs nur einmal jährlich im Frühjahr befragt werden, ließ sie sich später monatlich aufsuchen. Dennoch stand vor dem Tempel immer eine Warteschlange. Aber Ungeduld kostete bereits damals mehr als Nerven. Wer reich genug war, rückte gegen Spenden einige Plätze nach vorn. Der ganze Ort mag vom Orakeltourismus gelebt haben. Schummelshow oder göttlicher Willen – das Beratungsgeschäft war schon in den Tagen Delphis ein lukratives Unternehmen. Heiratspläne und Blutfehden, Kriegszüge und Kochrezepte, Ärger mit der Nachbarschaft und die Affäre des Ehepartners – Delphi war zugleich Unternehmensberatung und Kummerkasten. Die Antworten Apollons aber fielen meist so rätselhaft aus, dass die Fragenden sie nach Belieben auslegen konnten. Der Molosserkönig Pyrrhus wollte vom Orakel wissen, ob er die Römer besiegen könne. Darauf erhielt er die lateinische Antwort: »Aio te, Æacida, Romanos vincere posse. Ibis redibis nunquam per bella peribis.« Das ließ sich auf zwei Arten lesen. »Ich sage, Aeacide, du kannst die Römer besiegen. Du wirst gehen und zurückkehren und niemals in Kriegen umkommen.« (Die Anrede der Pythia bezog sich auf die Herkunft des Pyrrhus; er war ein Nachkomme des Aiakos, des Großvaters von Achilles.) Aber die Pythia war eine Virtuosin der Doppeldeutigkeit und der aufmerksame Lateiner konnte die Grammatik ebenso gut folgendermaßen verstehen: »Ich sage, dass die Römer dich, Aeacide, besiegen können. Du wirst gehen und niemals zurückkehren; in Kriegen wirst du umkommen.« König Pyrrhus entschied sich für die erste Version der Prophezeiung und machte gegen Rom mobil. Leider traf er die falsche Wahl. In Delphi entschieden sich die Schicksale von Bauern, Herrschern und Königreichen. Das war der Ort, an dem auch König Iphitos in seiner Bedrängnis Rat suchte. Von Elis aus schickte er einen Boten zur Pythia, der 21
mit der Botschaft heimkehrte, der König möge Opfer an den Tempeln der Götter bringen und Feste feiern. Während der Zeit der Feste sollte Iphitos mit den anderen Griechen im Frieden leben. Zwar erwähnte das Orakel mit keinem Wort ein Sportspektakel oder den Namen Olympia, für Iphitos aber lag der Fall klar. Immerhin hatten die Götter einst auf dem Boden von Elis miteinander gerungen – ein Ereignis, aus dem sich nun Kapital schlagen ließ. Iphitos pochte auf die sagenhafte Vergangenheit, rief die ersten Olympischen Spiele aus und lud seine Feinde aus Pisa und Sparta ein, sich im Wagenrennen zu messen. Selbstverständlich vereinbarten die Gegner einen Waffenstillstand für die Dauer der Wettkämpfe. Elis war gerettet, die Spiele waren ins Leben gerufen, der Olympische Friede war geboren – Iphitos gelang ein Hattrick. Aber die Vergangenheit holte den König ein. Noch einmal begegnete Iphitos Herakles. Obwohl der Halbgott um seinen Preis beim Bogenschießen betrogen worden war, zürnte er Iphitos nicht. Beide machten sich auf die Suche nach einer Herde gestohlener Rinder. In einem ungünstigen Augen-
Homers Magie für Harrys Zauber – der Beginn der Literatur Olympia ist ein heiliger Ort mit einer Handvoll Legenden. Kaum vorstellbar, dass heute ein Sportstadion einen ähnlichen Gründungsmythos besitzt – oder gleich mehrere. Wer die olympischen Sagen auf die Münchner Fußballarena überträgt, der müsste erzählen, wie der bayerische Ministerpräsident (Oinomaos) gegen Michael Schumacher (Pelops) beim Großen Preis auf dem Nürburgring verliert, weil ihm der Gegner die Bremsleitungen sabotiert hat. Schumacher würde anschließend das Münchner Stadion gründen, um an seinen Sieg zu erinnern. Absurd? Nicht für die Griechen. Mit ihren Geschichten legten sie das Fundament der europäischen Literatur. Ein blinder Grieche schrieb die ersten Bestseller der Welt. Homer war Autor der Ilias und der Odyssee. Die Geschichten um den trojanischen Krieg und die Irrfahrten des Odysseus entstanden im 8. Jahrhundert vor Christus, zu jener Zeit, in der in Olympia die ersten datierbaren Wettkämpfe liefen. Das Besondere daran: Homer schrieb als erster Europäer einen längeren Text, und was für einen! Allein für die Ilias füllte der Dichter 15 000 Verse – die heute gängige Erzählsprache blieb noch 300 Jahre lang unbekannt. Damit ging er als Urvater abendländischer Literatur in die Geschichte ein. Alle späteren Autoren berufen
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blick aber erlitt Herakles einen Wahnsinnsanfall – hier hatte Hera ihre Hand im Spiel – und warf Iphitos von einer Stadtmauer. Der König fand ein unsportliches Ende. Die Spiele aber sind für immer mit seinem Namen verbunden.
Leichenspiele mit Hindernissen Zeus, Herakles, Pelops, Iphitos – bei der Entstehung der Olympischen Spiele sollen Götter und Könige mitgemischt haben. Verständlich: je bedeutender der Gründervater, desto wichtiger das Ereignis. Manch Olympiasieger wird damit geprahlt haben, dass er dort triumphiert habe, wo Zeus und Apollon ihre Gegner in den Staub gestoßen haben. Sportliche Götter – was in der Antike Religion war, ist heute unvorstellbar. Ob Christus oder Allah, ob Buddha oder Jehova: Die Weltreligionen der Gegenwart beten zu Wesen voller Würde und Weisheit, wenn überhaupt in Menschengestalt denkbar, zeichnen sie sich durch Unbeweglichkeit aus:
sich auf ihn. Die Werke Shakespeares und Goethes, die Romane Stephen Kings und Joanne K. Rowlings wären nicht möglich ohne die Erfindung Homers, Texte in epischer Form aufzuschreiben. Was aber gab es vor Homer? Die Menschen erzählten sich Geschichten. Wie heute Kinobesucher in einem Saal sitzen, um sich von Bild und Ton verzaubern zu lassen, kamen in den Dörfern und Städten die Leute zusammen, um sich eine Geschichte erzählen zu lassen. Großväter hockten still nickend im hinteren Winkel des Hauses, Enkelkinder knieten vorn und kauten auf den Nägeln, während der Erzähler mit Gesten, Mimik und Gesang seine Geschichten zum Leben erweckte. Das können Neuigkeiten gewesen sein über den Diebstahl einer Ziege im Nachbardorf oder Kriegsberichte aus einem fernen Land – Zeitungen gab es noch nicht, Nachrichten aber konnten lebenswichtig sein. Hatte jeder die guten und schlechten Meldungen verdaut, war die Zeit reif für gute Unterhaltung: die Abendvorstellungen der Antike begannen. Damals wie heute braucht eine gute Erzählung einen Helden. Schönheit, Stärke, Intelligenz und Edelmut gehören zur Standardausrüstung jedes Publikumslieblings, darin sind sich Herakles und Spiderman gleich, ähneln sich Iphitos und Indiana Jones. Damals wie heute führte der Held eine außergewöhnliche Waffe, den wunderbaren Bogen des Odysseus oder den technischen
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Christus am Kreuz, Buddha mit verschränkten Beinen. Von Turnen steht kein Wort in den Heiligen Schriften. Rund um das Mittelmeer der Antike aber ging es flotter zu. Griechen, Römer und Ägypter, Phönizier, Perser und Karthager ließen die Götter tanzen. Keine Spur von Frevel oder Lästerung. Der Wettkampf war den Griechen nicht nur bloßes Kräftemessen, sondern auch heilige Handlung. Wer bei den Olympischen Spielen um den Sieg rang, den trieb selbstverständlich die Aussicht auf Ruhm und Reichtum in den Ring, aber er kämpfte auch, um den Göttern zu gefallen. Religion war überall. Im Theater tanzten Schauspieler nicht nur zur Unterhaltung des Publikums, sondern zu Ehren Apollons. In jedem Heim war der Altar der Hausgeister keine entlegene Nische, sondern ein oft besuchter Raum. Erst im Lauf von Jahrhunderten verschwand die heilige Aura aus vielen Bereichen des Lebens. Heute denkt beim Sport niemand mehr an Gottesdienst, und Theater- und Kinobesucher bringen keine Tieropfer an der Abendkasse. In der Antike aber waren Götter allerorten und jeder Fingerzeig eines Men-
Schnickschnack des James Bond. Aus der Antike überliefert sind auch rasante Fortbewegungsmittel wie die geflügelten Pferde des Pelops, die sich in PS-Boliden und schnieken Schlitten moderner Serienhelden wiederfinden lassen. Gute Geschichten sind so unsterblich wie echte Helden. Aber die Heroen des Altertums unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt von den Hauptfiguren heutiger Filme und Romane: Stets sind sie göttlicher oder königlicher Abstammung. Niemals hätte ein Zuhörer der Antike einer Geschichte gelauscht, deren Held nicht ein Gott, Sohn eines Gottes oder wenigstens ein Königsspross war. Normale Sterbliche waren langweilig, weder waren sie reich noch schön, weder konnten sie Bäume ausreißen noch Pferde stehlen. Die Geschichten der Antike sind Berichte aus der Welt der Götter. Wer ihnen lauschte, den befiel der Schauer der Mythologie. Ein kleiner Grusel und ein bisschen Ehrfurcht gehörten dazu wie das Happy End zum Schnulzenfilm. Dann kam Homer. Seine Pionierleistung bestand darin aufzuschreiben, was jeder kannte: die Geschichte vom trojanischen Krieg in der Ilias – benannt nach Ilion, dem alten Namen für Troja –, und die Sagen von den Irrfahrten des Helden Odysseus in der Odyssee. Er schrieb nicht einfach eine Legende nieder, sondern schuf ein literarisches Stück erster Güte. Wie wirkungsvoll das war, zeigt sich daran, dass Homers Epen noch heute in den Buchhandlungen stehen.
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schen mochte sie verstimmen oder das Füllhorn des Glücks ausgießen lassen. So mögen Zeitgenossen heute verwundert vor dem Wort »Leichenspiele« stehen. Dahinter aber verbirgt sich eine Art der Totenfeier, wie sie zu Zeiten Olympias üblich war. Zu Ehren des Verstorbenen zeigten sich die Hinterbliebenen von ihrer besten Seite. Je nach Talent dichteten sie am Grab um die Wette oder sangen, was das Zeug hielt, um einen Preis zu gewinnen. Weniger musisch Begabte fanden heraus, wer von ihnen der Schnellste, Stärkste oder Beweglichste war und liefen, sprangen und kämpften gegeneinander – Gymnastik im Angesicht der Vergänglichkeit. Das mag befremdlich wirken. Wie aber mag ein Mensch in ferner Zukunft reagieren, wenn er von der Sitte unserer Tage hört, bei Begräbnissen üppig belegte Brötchen zu essen, Suppe zu schlürfen und Kuchen zu kauen und das traurige Beisammensein »Leichenschmaus«, »Leichenbier« oder »Totentrunk« zu nennen? Abseits aller Mythen glauben Wissenschaftler heute, dass solche Leichenspiele der Ursprung der Olympischen Spiele waren. Archäologen fanden an
In der Antike war der Dichter so berühmt, dass sieben Städte um die Ehre stritten, Geburtsort des Autors gewesen zu sein. Homer hatte Nachfolger. Griechische und römische Autoren schrieben die weiterhin auch mündlich überlieferten Göttergeschichten auf und retteten sie für die Nachwelt. Von weiter Verbreitung war keine Rede: Da Gutenberg den Buchdruck erst um 1451 erfand, bedeutete Schreiben bis dahin eine Menge Arbeit. Profis kopierten jedes Exemplar eines Textes in Handarbeit, oft waren sie tagelang mit dem Vervielfältigen eines einzigen Werks beschäftigt. Schriften in der Antike waren entsprechend teuer und selten. Überdies lief der brüchige Papyrus Gefahr, durch Feuer, Feuchtigkeit oder den Zahn der Zeit zu verkommen. Dass sich dennoch viele Sagen bis heute erhalten haben, liegt an der Faszination, die von diesen ältesten Geschichten Europas ausgeht. Noch 1840 war der deutsche Pfarrer Gustav Schwab so sehr von den spannenden Werken der antiken Autoren begeistert, dass er sie ins Deutsche übertrug und in einem dreibändigen Werk als Die schönsten Sagen des klassischen Altertums auf 1298 Seiten herausgab. Schwabs Sammlung findet sich noch heute, fast 170 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung, im Regal vieler Buchhandlungen. Dort treffen die Sagen des klassischen Altertums auf Ilias und Odyssee, ihre Verwandten aus ferner Vergangenheit.
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einem Punkt des heiligen Bezirks auffallend viele Reste von Gefäßen. Die Scherben lagen so tief im Boden, dass sie älter sein mussten als die ältesten Gebäude in Olympia. Die Schlussfolgerung lag nahe: Hier war gefeiert worden. Aber die Griechen jener frühen Zeit amüsierten sich nicht ohne Grund unter freiem Himmel und ließen anschließend ihre Gefäße liegen wie heutige Festivalbesucher ihre Pappbecher. Solche Spuren finden Forscher häufig dort, wo ein berühmter Toter geehrt wurde. Dabei leerten die Gäste mit Wein gefüllte Tonbecher und zerbrachen sie als Teil einer rituellen Handlung. Die Olympischen Spiele sind aus einer Trauerfeier entstanden. Die Griechen schafften den Sprung vom Leichenspiel zum Sportereignis noch mit Würde – immerhin blieb Olympia eine heilige Stätte. Etwa 500 Jahre später aber trieben die Römer die Verwandlung heiliger Wettkämpfe auf die Spitze. Fasziniert sahen sie zu, wie ihre Nachbarn, die Etrusker, bei Leichenfeiern Mann gegen Mann mit dem Schwert aufeinander eindroschen. Flugs steckten die findigen Römer daheim zwei Männer in Rüstung, drückten ihnen ein Schwert, ein Netz oder einen Dreizack in die Hand und befahlen ihnen, aufeinander loszugehen. Kaum war das erste Blut geflossen, strömte Publikum zusammen. In Windeseile entstanden am Tiber eine Holzarena, ein Trainingslager und – viel später – das erste Amphitheater, in dem sich professionelle Gladiatoren gegen Honorar bis auf die Knochen bekämpften. Sport hat viele Gesichter.
Heiß auf Olympia
Sommer in Griechenland – alles ist still. Eine Bullenhitze liegt über Wiesen und Weiden. Wer das Meer nicht vor der Haustür hat, schwitzt sich durch den Tag und misst dem schmalen Schatten der weiß gekalkten Häuser den Wert eines Vollbads bei. Die Sonne brennt Durst in die Kehle. Selbst die Fliegen sind zu träge, um sich von müde fächelnden Händen verscheuchen zu lassen. Der August ist die Zeit der Olympischen Spiele. Alle vier Jahre brechen Völkerscharen auf, um sich durch die Glut des griechischen Hochsommers Richtung Olympia zu schieben. Sie kommen aus Spanien und Italien, aus der Türkei und Russland, aus Frankreich, Ägypten und Libyen, setzen von Sizilien und Korsika über – eine kleine Völkerwanderung im Namen des Sports. Reisen kostet Zeit. Zwischen Massalia, einer griechischen Kolonie, aus der sich später die französische Hafenstadt Marseille entwickeln wird, und Olympia liegen 1 600 Kilometer, eine Strecke, die sich heute in zwei Stunden überfliegen lässt. In der Antike aber bedeutet unterwegs sein, Zeit im Gepäck haben zu müssen. Wochenlang arbeiten Fußsohlen, Pferde und Fähren im Akkord, um das Publikum nach Elis zu bringen. Das halbe Mittelmeer scheint in Bewegung zu sein, wenn in Olympia die besten Sportler der Welt gegeneinander antreten – jedenfalls jenes Teils der Welt, der bis dahin bekannt ist. Von Amerika hat um 500 vor Christus noch niemand etwas gehört. Im Westen endet die Welt an der Meerenge von Gibraltar, von den Griechen »Säulen des Herakles« genannt. Im Osten reicht die Erde bis zum Perserreich, dem heutigen Iran und Irak, das so groß ist, dass niemand sein Ende kennt. Dahinter, so munkeln Abenteurer, liege Indien, aber das wird erst 150 Jahre später von Alexander dem Großen entdeckt. Bis dahin bleibt der Horizont der griechischen Antike überschaubar. Zwar schreckt die flimmernde Hitze niemanden ab, zu reisen aber ist gefährlich. Strauchdiebe lauern entlang des Wegs. Wer ihnen entwischt, läuft 27
Gefahr, sich zwischen zwei verfeindeten Heeren wiederzufinden. Überdies mag ein reicher Kaufmann aus Athen als fette Beute im verfeindeten Sparta gelten. Wie gut, dass es den Olympischen Frieden gibt. Alle vier Jahre wieder laufen drei Männer los, um den Waffenstillstand zu verkünden. Ihre Aufgabe würde einem modernen Langstreckenläufer den Angstschweiß ausbrechen lassen. Von Elis aus reisen die Boten in jeden griechischen Stadtstaat. Da in der Antike Griechenland in viele kleine Reiche zerteilt ist, müssen die Läufer die Beine in die Hand nehmen. Sie tragen einen Stab als Erkennungszeichen und einen Lorbeerkranz auf dem Kopf. Taucht einer von ihnen auf, weiß jedermann in Sparta, Athen, Theben oder Korinth, dass das Kriegsbeil ab sofort begraben werden muss. Zum einen gilt es, Reisende zu schützen, ein edler Vorsatz, den sich die Regenten weithin sichtbar auf die Fahnen schreiben. Aber hinter dem Olympischen Frieden verbirgt sich noch eine schlichtere Wahrheit. Die Jagd nach dem eigenen Vorteil ist das Wesen von Sport und Politik. Deshalb dient der griechische Sportfrieden in erster Linie den Stadtstaaten selbst. Rufen die Boten nach Olympia, schnüren die besten Männer eines Reiches ihr Bündel und sind für eine Weile verschwunden. Selbst der König macht sich in Richtung Elis auf und davon. Zurück bleiben ein Staat ohne Führung, ein dezimiertes Heer, Frauen, Alte und Kinder – ein gefundenes Fressen für jeden Eroberer. Der Olympische Frieden aber macht solchen Verlockungen einen Strich durch die Rechnung. Für die Dauer der Spiele ist es den teilnehmenden Staaten verboten, einem anderen Staat den Krieg zu erklären. Auch die Verfolgung von Rechtswidrigkeiten ist gegen den olympischen Gedanken, ebenso darf zur Zeit der heiligen Wettkämpfe niemand hingerichtet werden. Dass sich die Stadtstaaten an die Abmachung halten, hat einen kleinen und einen großen Grund. Der kleine: Wer einen anderen verbotenerweise angreift, hat die versammelten Stadtstaaten gegen sich. Der große: Wer heilige Gesetze bricht, beleidigt die Götter. Nichts ist für einen Griechen der Antike furchtbarer, als die Unsterblichen gegen sich zu wissen. Zürnt Zeus einem einzelnen Mann, wird dieser seines Lebens nicht mehr froh. Hat aber ein ganzes Reich etwas ausgefressen, ist es mit Mann und Maus dem Untergang geweiht. Dann lassen Pest, Krieg und Hungersnot nicht lange auf sich warten, stürzen Herrscher vom Thron und Häuser zusammen. 28
So bleibt es also heiß und friedlich in jedem vierten August – so friedlich, dass der Begriff des Schlachtenbummlers auf niemanden besser zu passen scheint als auf das Publikum der antiken Olympischen Spiele.
Nach Elis – Eile mit Weile »Im Leben passieren manch unangenehme und beschwerliche Dinge. Gibt es bei einer Olympiade nicht ebenso Schlimmes? Schmachtet man da nicht in glühender Hitze? Wird man nicht von der Menge zerquetscht? Macht es nicht große Mühe, sich zu erfrischen? Wird man im Regen nicht nass bis auf die Haut? Fühlt man sich nicht durch den Lärm, das Getöse und andere Unannehmlichkeiten belästigt? Doch wie mir scheint, kann man dies alles gut und tatsächlich frohgemut aushalten, wenn man an die packenden Schauspiele denkt, die man zu sehen bekommt.« Kaum zu glauben: Der Autor dieser Zeilen war ein großer Philosoph. Epiktet lehrte, dass der Mensch genügsam sein soll. Davon war in Olympia nicht viel zu spüren. Die Zuschauer, die hier zusammenströmten, lockte das pralle Leben. Reiche trabten auf Zuchthengsten an und ließen sich für ihr Pferd bestaunen wie heute für eine Luxuskarosse. Bauern zockelten mit dem Eselskarren nach Elis, auf der Ladefläche Zelte, Verpflegung und die gesamte Familie. Wer weder Pferd noch Wagen besaß, kam zu Fuß – damals das gängige Fortbewegungsmittel. Reisen kostete Zeit, daran war nichts zu ändern, und Eile wäre niemandem in den Sinn gekommen. Hotels gab es nicht. Zwar konnten wohlhabende Reisende unterwegs gelegentlich in einer Herberge übernachten. Wer jedoch als Landarbeiter mit Kind und Kegel nach Olympia zog, dem fehlte für solcherlei Luxus das Geld. Warum auch einkehren? Der griechische Sommer ist heiß, ein Zelt aus Schafs- oder Ziegenleder billig – falls es überhaupt benötigt wurde. Die meisten Olympiabesucher schliefen unter den Sternen. Ein Kreis aus Lagerfeuern wird den heiligen Bezirk Olympias zur Zeit der Spiele umgeben haben – der erste Olympische Ring, wenn man so will. Im Kielwasser der Olympiapilger schwammen Händler, ausgestattet mit Werkzeug, Planken und Planen, um eine Zelt- und Budenstadt zwischen den Lagernden zu zimmern. Schon in der Antike galt: Wo viele Menschen zusammenkommen, da ist der Hunger groß. Bratenduft und das Aroma von Rosma29
rin und Oregano wird durch die Lager gezogen sein, vor den improvisierten Küchen standen die Kunden Schlange, die Geldbeutel klingelten und die Reisenden schmatzten. Wer keinen Ochsen am Spieß anzubieten hatte, wird sein Glück mit Souvenirs versucht haben. Archäologen wissen heute: Das Geschäft mit Andenken blühte schon damals. Zu kaufen gab es kleine Figuren aus Keramik, die entweder einen Sportstar darstellen sollten, eine berühmte Skulptur nachahmten oder gar einen Gott zeigten. Selbst solchen Tand gab es auch in Luxusausführung aus teurer Bronze, dann jedoch nicht als Spielzeug für die Kinder geeignet, sondern als Weihefigur, als Geschenk für die Daheimgebliebenen oder als Beweis für die Nachbarn, dass der Besitzer in Olympia gewesen war. Wäre die Fotografie bereits erfunden gewesen, jeder Besucher hätte sich vor dem Zeustempel Olympias in Pose geworfen und ablichten lassen.
Hitze, Gedränge, dazu die Risiken der Reise – dass so viele Menschen aus dem gesamten Mittelmeerraum all das auf sich nahmen, hatte einen Grund: Olympia war Urlaub. Im August war allerorten die Ernte eingefahren, die Stoppelfelder dampften unbeaufsichtigt vor sich hin, von Aussaat war noch keine Rede. Eine Ruhe legte sich über das Land, die den Menschen überflüssig machte. Entbunden von der Mühsal der Landarbeit, hängten Tausende Pflug und Dreschflegel an den Nagel und machten sich auf den Weg nach Elis. Das war mit einem langen Wochenende vergleichbar. Noch kannte niemand die Idee vom siebten Tag, an dem die Arbeit ruht. Das Christentum ließ noch auf sich warten, und die Juden waren nur eine kleine Sekte in Israel, einem Land, von dem kaum jemand gehört hatte. Im antiken Griechenland ruhten die Menschen erst aus, wenn das letzte Feld bestellt und der Marktkarren leergekauft war. Dann allerdings wussten die Griechen zu feiern. Mancher mag sich die Olympischen Spiele im Frühjahr oder Herbst gewünscht haben, wenn das Klima milder war. Dem griechischen Philosophen Thales von Milet, nach dem der geometrische Lehrsatz des Thales benannt ist, wurde die Hitze zum Verhängnis. Er starb im Stadion Olympias, in dem es im Angesicht der Götter 30
verboten war, eine Kopfbedeckung zu tragen, an einem Sonnenstich. Ironie des Schicksals: Thales war berühmt, weil es ihm 585 vor Christus gelungen war, eine Sonnenfinsternis vorherzusagen. Hitze und Durst waren die Begleiter der Fans und Sportler, die noch eine andere Plage kennen lernen mussten: Fliegen. Manchem mag die Fliegenjagd wie eine olympische Disziplin vorgekommen sein. In der Nähe der beiden Flüsse schlüpften die Quälgeister schneller, als sie erschlagen werden konnten, schwirrten in Wolken über das Gelände und drangsalierten Kampfrichter, Opferstier und Diskuswerfer. Selbst vor den Göttern machten die Insekten nicht Halt. Herakles soll sich angeblich bei der Gründung Olympias über eine Fliegenplage so sehr geärgert haben, dass ihm die Nerven durchgingen. Gegen die Fliegen Olympias war selbst der Halbgott mit den Bärenkräften hilflos, er musste seinen Vater Zeus um Hilfe anrufen. Seither beteten die umschwirrten Zaungäste in ihrer Not zu Zeus Apomyos, einer Spielart des obersten Griechengottes, der als Fliegenvertreiber galt. Die Religion der Griechen kannte für jedes Problem den richtigen Gott.
Großer Durst und lange Leitung Nur einen Gott der Kaufleute gab es nicht. Handel galt in vielen antiken Kulturen als unehrenhaft. Hingegen waren Handwerker hoch angesehene Bürger, weil sie ihre Produkte selbst herstellten. Der Krämer aber bereicherte sich an Waren, die er anderen abgekauft hatte – keine große Leistung, meinten die Griechen. Was Kaufleute zum Gemeinwohl beitrugen, war wenig und entsprechend gering zu schätzen. Schnödes Handeln hatte in einem heiligen Bezirk Olympias keinen Platz. Ein Ideal, das Probleme bereitete. Während im Lager der Zuschauer Wasser und Wein in Strömen aus den Fässern mobiler Tavernen flossen, gab es im Stadion selbst keinerlei Erfrischungen. Im heiligen Hain war Wasserverkauf und jeglicher Handel verboten. In der Augusthitze mag Wasser bei den Zuschauern der Olympischen Spiele so begehrt gewesen sein wie Sieg und Ehre bei den Athleten. Angesichts tragischer Fälle wie dem des Thales von Milet musste Hilfe her. Ein göttliches Gesetz ließ sich nicht ändern, Wasserverkäufer blieben verboten. Also musste das Wasser anderweitig beschafft werden. Als Archäologen im 20. Jahrhundert den Boden Olympias untersuchten, 31
Ein Stadion für die Ewigkeit: Wo vor 2 000 Jahren die Sportstars rannten, stellen sich noch heute Touristen zum Wettlauf auf.
fanden sie die Spuren dieser Bemühungen. Das Gelände war übersät mit 200 Löchern, heute mehrheitlich verfüllt oder eingestürzt. Aber in den mehr als 1 000 Jahren olympischer Geschichte warteten hier Brunnen auf Durstige. Diese Quellen scheinen schnell versiegt zu sein, nur so ist erklärbar, dass im Lauf der Jahrhunderte immer neue Schächte gegraben und ausgemauert werden mussten. Von vielen Brunnen sind die Verkleidungen erhalten, sie waren mit Stufen versehen, die es erlaubten, in die kühle Tiefe hinabzusteigen. Das Brunnensystem war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, der Durst des Publikums gewaltig. Da war es praktisch, dass die Griechen clevere Ingenieure waren. Einem gewissen Eupalinos von Megara war um 550 vor Christus das Kunststück gelungen, in Samos eine Wasserleitung einen Kilometer weit durch einen Berg zu legen. Angesichts solcher Wunder der Vermessungstechnik muss es für die Eleer ein Kinderspiel gewesen sein, ein Quäntchen Trinkwasser aus dem nahen Kladeos abzuzapfen und nach Olympia zu leiten. Bald durchzogen Wasserrinnen den Boden des Heiligtums. Wer durstig war, brauchte sich – theoretisch – nur zu bücken. Ein Luxus mit Nebeneffekt: Im Winter sammelte sich das Regenwasser in den Rinnen und verhinderte, dass sich der nun verwaiste heilige Bezirk in einen Morast verwandelte. 32
Aber der von der Hitze verursachte Durst hielt sich dennoch hartnäckig. Zwar konnte das Wasser in die Rinnen hineingeleitet werden, aber dort nicht zirkulieren, deshalb verkam es oft zu einer ungenießbaren Brühe. Dann mag die Qual der Zuschauer jener des Tantalos geähnelt haben: Das Wasser schwappte zu ihren Füßen und war doch unerreichbar fern, oder zumindest als Trinkwasser ungenießbar. Das Stöhnen im Stadion muss die Untermalungsmusik der Wettkämpfe gewesen sein. Nicht nur Philosophen wie Epiktet klagten über die unbequeme Seite der Spiele. Auch Satiriker wie der Grieche Lukian griffen die Zustände dankbar auf und dichteten, was das Zeug hielt. In seinem Text »Das Lebensende des Peregrinus« zeigt Lukian, dass das Wasserproblem in Olympia bisweilen Stoff für Komödien liefern konnte: »Wie er (Peregrinus) nun hierauf nach Griechenland kam, ließ er seine Schmähsucht bald an den Einwohnern von Elis aus, bald wollte er die Griechen bereden, die Waffen gegen die Römer zu ergreifen, bald lästerte er über
Lifestyle auf Griechisch Political Correctness war für die Griechen der Antike ein Fremdwort. Jeder Mensch, der nicht Griechisch sprach, galt als Barbar. Damit meinten die Griechen, was sie sagten: »Bárbaros« bedeutet »der Stammelnde« und ist abgleitet von den für Griechen gutturalen Lauten anderer Völker, ihrem »bar-bar-bar« – dem großen Blabla der Vergangenheit. Damals wie heute galt: Barbaren waren ungebildete, rohe und grausame Zeitgenossen, mit denen sich kein Grieche abgeben wollte. Lieber blieb man unter sich und lebte in der Polis, einem ländlichen Gebiet mit einer ummauerten Stadt im Zentrum. Inmitten der Stadt erhob sich der Burgberg, auf Griechisch »Akropolis« (Hochstadt). Eine Akropolis gab es nicht nur in Athen, wo die wohl berühmteste Oberstadt der Antike erhalten ist. Es gab sie überall im Mittelmeerraum, in Troja und in Rom, das gleich auf sieben Hügeln errichtet war – selbst in diesem Punkt neigten die Römer zum Übertreiben. Meist war der Burgberg die Keimzelle der späteren Stadt. Auf der Höhe ließen sich die Menschen zuerst nieder, weil sie dort sicher waren vor Angriffen. Aber der Raum auf der Akropolis wurde rasch knapp. Im Lauf der Jahre wucherten Häuser, Straßen und Plätze am Fuß des Hügels. Schließlich spielte sich das
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einen durch seine Gelehrsamkeit und Würden gleich erhabenen Mann, der unter mehreren anderen Verdiensten um Griechenland Wasser nach Olympia geführt hatte und die Mitfeiernden der Festversammlung davor bewahrte, vor Durst zu vergehen. Diese Wohltat machte ihm Peregrinus zum Vorwurf, als ob er die Griechen dadurch weibisch gemacht hätte. Es gebühre sich, sagte er, dass die Zuschauer der Olympischen Spiele den Durst ertragen könnten, und der Schaden sei so groß nicht, wenn auch manche an den hitzigen Krankheiten, die bisher wegen der Dürre dieser Gegend daselbst im Schwange gingen, draufgehen müssten. Und das sagte er, während er eben dieses Wasser trank.«
Fans in Gefahr Zuschauer in Olympia, das war kein Zuckerschlecken. Neben Gefahren für den Kreislauf drohten auch Verletzungen den Besuch der Spiele in einem
Leben in der Unterstadt ab. Dieses Konzept war so erfolgreich, dass es sogar die Kelten im rauen Norden kopierten. Sie bauten ihre Heuneburg zum Teil nach griechischen Vorbildern. Diese Höhensiedlung lag jedoch nicht an den Gestaden des Mittelmeers, sondern mitten im heutigen Baden-Württemberg. Von Großstadt keine Spur: In den griechischen Stadtstaaten lebten etwa 20 000 Menschen. Das berüchtigte Sparta hatte bisweilen ungefähr die gleiche Einwohnerzahl wie heute Quickborn in Schleswig-Holstein. Damit war nach griechischem Verständnis die empfohlene Bevölkerungsdichte aber schon bei Weitem überschritten. Der Philosoph Platon forderte, dass eine Stadt nicht mehr als 5 000 Einwohner zählen dürfe, um sozial gesund zu sein. Sein Schüler Aristoteles meinte sogar, dass alle Einwohner einer Stadt einander kennen sollten, sonst sei der Ort zu sehr gewachsen. Der Komfort ließ zu wünschen übrig. Heutige Touristen kennen das Dilemma: An einem kalten Urlaubstag in der Ägäis ist das Feriendomizil plötzlich nicht heizbar. Von kalten Füßen konnten auch die Griechen der Antike ein Lied singen. In ihren gekalkten Häusern gab es zwar Feuerstellen, aber wer zu viel heizte, der hatte bald vom Qualm die Nase voll. Noch hatte niemand den Kamin erfunden, die wenigen Abzugslöcher in der Decke der Gebäude waren klein, damit der Regen nicht das Haus unter Wasser setzte. So blieb Fröstelnden in kalten Nächten die Wahl zwischen Frieren oder Geräuchertwerden.
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persönlichen Fiasko enden zu lassen. Das Stadion in Olympia fasste zur Zeit seiner größten Ausbaustufe 45 000 Menschen, so viel wie heute das Kölner Fußballstadion nach der Modernisierung für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Sitzplätze gab es nicht. Ein Besucher des Stadions brauchte Stehvermögen, in den ersten Jahrhunderten auf einem Hang, später auf Steinstufen. Das forderte vor allem älteren Fans eine Menge ab. Angesichts des Gedränges war Sitzen oder Hocken kaum möglich. Wichtiger noch als Ausruhen war es jedoch, sich rechtzeitig zu ducken. Fangkörbe, Absperrungen, Sicherheitsgitter – davon hatten die Griechen nie gehört. Selbst wenn ein findiger Geist einen Zaun zum Schutz der Zuschauer vorgeschlagen hätte, so wäre ihm für ein solches Patent bloß Spott sicher gewesen. Unbequemlichkeit und Risiko gehörten für die Antike zum Leben dazu. Mut und Duldsamkeit waren hohe Tugenden und auf den Rängen des Olympiastadions lebenswichtig. Davon erzählt die tragische Geschichte des
Frische Luft schnappten die Griechen tagsüber, wenn sich das Leben auf dem Markt abspielte, der schon damals heutigen Wochenmärkten ähnelte. Parfums, Schminke und zarte Stoffe, Öl, Wein und Fisch lockten täglich auf die Agora, den antiken Handelsplatz jeder Stadt. Der Dichter Aristophanes, berüchtigt für seine bissigen Komödien, erzählt von einem aufgeblasenen Offizier, der mit klirrender Rüstung zwischen Gemüseständen und Geschirrbuden patrouilliert. Schließlich erliegt er selbst den Verlockungen der Agora und trägt ein saftiges Omelett in seinem Soldatenhelm davon. Aber auch Gesindel gehörte zur Menschenmenge dazu. Um Dieben im Gedränge keine Angriffsfläche zu bieten, blieb die Geldbörse daheim. Stattdessen trugen Marktbesucher ihre Münzen in der Backe zu Markt. Je nach Länge der Einkaufsliste muss eine Konversation schwierig gewesen sein. Zwischen Marktweibern, Kreditverleihern und kritischen Käufern stolzierten junge Männer in lang fallenden Roben, die gerade vom Friseur kamen und ihre frisch geölten und gedrehten Haare zur Schau stellten. Bereits um 500 vor Christus ließen Männer mondäne Mähnen bis auf die Schulter fallen, klimperten mit Geschmeide und zwei Händen voller Ringe. Die Mode verlangte mal nach Bart, mal nach Glattrasur. Wie heute waren Prominente schon in der Antike Trendsetter. Als Büsten Alexanders des Großen verbreitet waren, eilten Eitle zum Barbier, um sich bartlos und mit wallender Haarpracht den Damen
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Oxylos, dem ein Diskuswurf derart missglückte, dass die schwere, scharfe Bronzescheibe seinen Bruder traf und tötete. Dasselbe Missgeschick war auch dem sagenhaften Helden Perseus widerfahren, der mit einem Diskuswurf seinen Großvater Akrisios zur Strecke gebracht haben soll. Legenden sind stets von der Wirklichkeit inspiriert. Wie viele Disken und Speere sich im Lauf der Jahrhunderte in die olympische Menge verirrten, ist zwar nicht überliefert, aber vorstellbar. Wer alle leibliche Mühsal und Quälerei auf sich nahm, um in Olympia dabei zu sein, den stellten die Götter noch auf eine weitere Probe. Über den Köpfen der Zuschauer, auf der Krone einer Mauer, die hinter den Rängen aufragte, ragten Weihegeschenke in den Himmel. Das waren meist Waffen und Rüstungen besiegter Feinde, von einem der Stadtstaaten an einen Pfosten
als kleiner Alexander präsentieren zu können – dass der berühmte Feldherr gar kein Grieche war, sondern Makedonier, interessierte in diesem Fall wenig. Niemand war nackt. Zwar sitzen, stehen und liegen Menschen der Antike auf Vasenmalereien und als Marmorskulpturen meist ohne Kleider herum, doch zeigen diese Kunstwerke Idealbilder des menschlichen Körpers, göttliche und erotische Momente, aber keine Momentaufnahmen des Alltags. Zwischen Akropolis und Agora schritten die Griechen in Wolle und Leinen umher. Das Schnittmuster war noch nicht erfunden. Stoff kam als quadratisches Tuch, das einzig durch die Kunst des Faltens und teure Färbung ein wenig Eleganz bekam. Garderobe war ein schlichtes Vergnügen. Wer auffallen wollte, musste sich zu helfen wissen. Die Kosmetikindustrie im antiken Griechenland arbeitete auf Hochtouren und wartete mit einem Arsenal für die alltägliche Maskerade auf: Perücken, Juwelen, Haarspangen, Lockenwickler und Duftwasser waren für Männer und Frauen gleichermaßen reizvoll. Insbesondere Damen von Welt zeigten gern eine vornehme Blässe. Helle Haut signalisierte: Ich habe genug Geld, um nicht den ganzen Tag in der Sonne schuften zu müssen. Allerdings: In einem Sonnenland am Mittelmeer nicht gebräunt zu wirken ist eine Kunst, der nachgeholfen werden musste. Unter den Kosmetika waren Tiegel mit Bleiweiß beliebt, einer Schminke aus metallischem Blei und Essig, die deckend und wasserfest auf die Haut aufgetragen werden konnte. Was noch niemand wusste: Blei ist auch in dieser Form giftig und verursacht durch Auftragen auf die Gesichtshaut Zahnschmerzen und schlechten Atem. Wer schön sein wollte, musste leiden.
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gebunden und zu Ehren der Götter hoch über dem Stadion aufgestellt. Natürlich sollte das Weihegeschenk die Götter gnädig stimmen und die Chancen eines bestimmten Athleten verbessern – spirituelles Doping ohne Erfolgsgarantie. Aber die Medaille hatte eine schmutzige Kehrseite. Eben jene Waffen und Rüstungen der Besiegten stammten nicht von Feinden aus fernen Ländern, nicht von Soldaten des verhassten Persiens oder von den wilden Kriegern der Kelten. Es waren griechische Beutestücke, Siegestrophäen eines Krieges zwischen Athen und Sparta, zwischen Theben und Korinth oder zwischen Elis und Pisa. Unterhalb der zweifelhaften Weihegeschenke standen Zuschauer aus eben jenen Reichen. Die Demütigung des Feindes war perfekt. Der Olympische Frieden verhinderte zwar Gewalttaten gegen andere Griechen, psychologische Kriegsführung aber war auch während der heiligen Spiele erlaubt.
Ein Miesepeter beim Pferderennen Auf den Rängen war die Hölle los. Das Treiben, das Epiktet so drastisch wie plastisch beschrieb, findet sich bei Dion Chrysostomos wieder. Auch er war Philosoph, auch er lebte im 1. Jahrhundert nach Christus. Möglich, dass sich beide Männer im Gedränge des olympischen Stadions gegenseitig die Ellbogen in die Rippen gebohrt haben. Entsprechend verlor Dion Chrysostomos kein gutes Wort über das Verhalten des Publikums. Seine Schmähschrift gegen die Zuschauer beim Wagenrennen vermittelt ein Bild davon, wie es auf der Tribüne zugegangen sein muss. »Kommt ihr in die Rennbahn, was ist da für ein unsägliches Schreien und Lärmen, für eine erschreckende Aufregung, wie wechselt ihr in einem fort Haltung und Farbe und stoßt endlose und was für Schmähungen aus.« Die Schimpfworte der antiken Fans haben sich bei Dion Chrysostomos leider nicht erhalten, wohl aber ihre Körpersprache: »Von euch aber bleibt keiner beim Zuschauen stehen, sondern ihr fliegt vielmehr als Pferde und Wagenlenker, und in lächerlicher Weise treibt ihr an und lenkt und jagt nach und kommt voraus und stürzt.« Während andere Philosophen das Vergnügen am Zuschauen wohlwollend belächelten – oder es selbst genossen –, war Dion Chrysostomos ein großer Kritiker. Er verdammte die Ausgelassenheit beim Sportspektakel, weil 37
die Zuschauer sich nicht selbst anstrengten: »Ihr jedoch, die ihr nie selbst ein Pferd angeführt oder bestiegen habt, könnt euch nicht zurückhalten und gebärdet euch wie die Lahmen, die über den Wettlauf streiten.« Als Sportverächter zeigte sich der Philosoph auch in diesen Zeilen: »Wer sich für das alles interessiert, tut vom frühen Morgen an nichts anderes. Was aber das Allerärgste ist, ganz auf das Sehen erpicht sehen sie nichts, und, voll Begierde zu hören, hören sie nichts, und auch später ist ihr Geist ganz von unnützen Dingen erfüllt. Wie nach einem großen Brand noch geraume Zeit Rauch und Brandtrümmer zu sehen sind.«
Helle Freude hoch vier Olympia und seine Filialen
Die Olympischen Spiele sind keine Olympiade. Während die Olympischen Spiele das Sportfest meinen, benennt eine Olympiade den Zeitraum zwischen zwei Spielen, und der war vier Jahre lang. Heutzutage wird die Verwechslung der Begriffe kaum noch bemerkt. In der Antike hätte die Meldung, die Olympiade habe begonnen, niemanden in Aufregung versetzt. Olympia war nicht allein. Den Griechen genügte es nicht, alle Jubeljahre nach Elis zu reisen, um dort für Zeus die Muskeln spielen zu lassen. Verständlich: Die sauer antrainierte Topform der Athleten wollte ausgenutzt werden. Niemand übt jahrelang nur für eine einzige Gelegenheit. Davon aber boten sich den Griechen gleich vier. Griechenland war ein Sportparadies. Es gab die Isthmischen Spiele in Korinth, die Spiele in Nemea und die Pythischen Spiele in Delphi, um die wichtigsten neben Olympia zu nennen. Da sich weder Organisatoren noch Götter in die Quere kommen wollten, fiel der Startschuss jährlich an einem anderen Ort. Summa summarum kehrten die Spiele alle vier Jahre an eine Stelle zurück. Wer als Sportler bei allen vier Festen siegte, gewann den Grand Slam der Antike und unsterblichen Ruhm. Die ersten Helden aller Olympischen Spiele hatten weder stramme Waden noch breite Schultern. Es handelte sich dabei um diejenigen Eleer, die das Gelände alle vier Jahre, am Ende einer Olympiade, für das Spektakel herrichten mussten. Vier Winter lang hatte der Frost in den Tempeln gehaust, vier Sommer lang die Hitze den Boden in Staub verwandelt und die Herbststürme das Laub über Wege, Statuen und Plätze verteilt. Wenn die Spiele eröffnet wurden, musste der Marmor glänzen, die Brunnen sprudeln und die Tribünen gefegt sein. Zwar sind keine Aufzeichnungen über die Hausmeister Olympias erhalten, dass es sie aber gegeben haben muss, steht außer Zweifel. 39
Feuer und Flamme für Olympia War der letzte Winkel poliert, erschien der berühmte Läufer mit dem Olympischen Feuer, fackelte nicht lange und eröffnete die Spiele. Oder nicht? Auch der Fackelträger ist eine Erfindung der Neuzeit, ein Mischmasch aus antiker Überlieferung und dem romantischen Sportideal des 19. Jahrhunderts. Als die Organisatoren der neuzeitlichen Spiele den Fackelträger erfanden, wühlten sie tief in der Klamottenkiste der Antike und stießen auf zwei Sonderlinge. Der eine war der Läufer von Marathon. Um 490 vor Christus lagen sich Perser und Griechen wieder einmal in den Haaren. Die Geschichte beider Völker ist gebrandmarkt durch Jahrzehnte dauernde Kämpfe, die heute Perserkriege heißen. Die Kriege forderten viele Opfer, das absonderlichste war der Läufer von Marathon. In jenem Jahr prallten die feindlichen Heere an einem Ort namens Marathon, nordöstlich von Athen, aufeinander. Die Krieger Athens waren schwer gepanzert und rannten so hartnäckig gegen die Perser an, dass diese auf ihre Schiffe flüchten mussten. Kurz und gut: Die Griechen hatten gesiegt. Nun galt es, die frohe Botschaft nach Athen zu bringen. An Pferde scheint dabei niemand gedacht zu haben, ein Bote musste zu Fuß in die Stadt. Für die rund 30 Kilometer soll er nur wenige Stunden benötigt haben. Am Ziel stammelte er noch »Freut euch, wir haben gesiegt«, dann brach er tot zusammen. Das tragische Ende des strammen Leistungsträgers hielt die Organisatoren der modernen Spiele nicht davon ab, den Marathonlauf zu erfinden. Seit 1896 ist die Dauerdisziplin Teil der Olympischen Spiele der Neuzeit – die Länge der Strecke von rund 42 Kilometern hatte aber nichts mehr mit dem historischen Vorbild gemein. Je nach Austragungsort entsprach sie einmal der Distanz zwischen Windsor und London, ein anderes Mal der doppelten Entfernung zwischen Paunsdorf und Bennewitz in Sachsen. Gleichgültig wo die Läufer keuchten, der Geist des ersten Marathonläufers schwebte über ihnen. Bei aller Zähigkeit: Der Läufer von Marathon lief unbeschwert und belastete sich nicht auch noch mit einer Fackel. Dennoch hat auch das Olympische Feuer ein historisches Vorbild, in Olympia brannte es allerdings nicht. Die Athener nannten ihren Wettlauf mit brennenden Fackeln Lampadedromia. Dabei ging es heiß her: Eine Mannschaft gab eine Fackel von Läufer zu Läufer weiter, es ging darum, möglichst schnell ans Ziel zu kommen, bevor die Fackel heruntergebrannt war. Wie andere Sportarten hatte auch dieser Wettkampf ein Vorbild in Religion und Mythos. Mit dem Fackellauf ehrten 40
die Sportler Prometheus, eine Sagengestalt, die das Feuer von den Göttern stahl und es den Menschen schenkte. An den Fackellauf erinnert noch heute der moderne Staffellauf, aber die Staffelstäbe brennen nicht – sie sind ebenso erloschen wie die Idee hinter dem Rennen. Angefacht durch Marathonlauf, Fackelrennen und die antiken Boten, die den Olympischen Frieden in Griechenland verkündeten, erfanden die Organisatoren der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit den Träger des Olympischen Feuers. Dabei geht es noch heute stilecht zu. Als Priesterinnen verkleidete Frauen treten wenige Monate, bevor die Sommerspiele beginnen, in den Ruinen des antiken Olympia auf und entzünden das Feuer. Da ein schnödes Feuerzeug nicht zur Frisurenmode der griechischen Klassik passt, zündeln die olympischen Anheizerinnen mit Hilfe eines Parabolspiegels. Der Trick dabei: Die Metallfläche des Spiegels ist poliert und so gebogen, dass sich alle einfallenden Sonnenstrahlen an einer Stelle bündeln. In diesem Brennpunkt lässt sich eine Fackel binnen weniger Augenblicke entzünden. Den Griechen war diese Technik bekannt. Bei aller Romantik: Im Zeitalter der Vernunft verlässt sich niemand mehr auf die Götter und das pünktliche Erscheinen der Sonne. Für den Fall, dass Zeus am Fackeltag Wolken über Olympia aufziehen lässt, entzünden Sekundanten schon Tage vorher im Parabolspiegel ein Licht und fangen es in einer Sicherheitslampe ein. Die Launen der Götter haben bei den modernen Spielen keinen Platz mehr. Die Organisatoren der Olympischen Spiele der Neuzeit hatten mit dem Olympischen Feuer eine zündende Idee. Wenn nur die Physik nicht wäre! Flammen neigen zum Verlöschen, insbesondere, wenn ein Läufer sie im Freien, durch Regen, Schnee und Sturm um die halbe Welt trägt. Die Griechen der Antike wussten genau, warum sie ihre Friedensboten ohne brennende Fackeln durch Griechenland schickten. Heute behelfen sich die Feuerläufer mit einem Trick: Die metallenen Fackeln sind mit Gaskartuschen gefüllt. Ein Verlöschen des Feuers ist unmöglich. Das bewies zuletzt ein Taucher, der die Fackel zu den Olympischen Spielen 2000 nach Sydney brachte, indem er durch das Great Barrier Reef tauchte. Wenn das Prometheus wüsste.
Sportskanonen und Spitzenreiter
Die Gegner der Olympioniken waren aus Fleisch und Blut. Beim Wettrennen war es das Keuchen des Verfolgers, das den Läufer vorantrieb. Beim Ringen war es das Gewicht des Gegners, das der Schwerkraft ausgeliefert werden musste. Beim Wagenrennen waren es die Pferde der Kontrahenten, deren trommelnde Hufe die eigenen Tiere anspornten. Niemals aber kämpfte ein antiker Sportler gegen Zeiten und Zahlen. Rekorde – damit gab sich niemand ab. Es existierten keine Aufzeichnungen über den längsten Boxkampf, den schnellsten Läufer, die beste Rundenzeit und den weitesten Wurf. Nur der Augenblick zählte. Dahinter verbarg sich ein gnadenloses Prinzip. Es gab nur einen Sieger. Niemand interessierte sich für den zweiten Platz, in keiner Aufzeichnung wird die Ehrung eines Wettkämpfers erwähnt, der hinter dem Gewinner durchs Ziel kam, und wenn es nur der Bruchteil einer Sekunde, die Dauer eines Lidschlags war. Wer in einem olympischen Wettkampf nicht an erster Stelle lag, war ein Verlierer. Das hatte Folgen. Der Dichter Pindar schildert, wie ein unterlegener Läufer »zerschmettert von seinem Unglück« nach Hause ging. An anderer Stelle ist zu finden, dass sich die Verlierer der Olympischen Spiele daheim in ihren Häusern verstecken mussten, weil sie die Schande in der Öffentlichkeit nicht ertragen konnten. Da haben es moderne Athleten besser. Selbst wenn es nicht zum Sieg reicht, gibt es noch Preise für den zweiten und dritten Platz, und es gibt Zahlen und Zeiten, gegen die es sich anzulaufen lohnt. Bisweilen treibt die Sportstatistik kuriose Blüten. Neben dem Weltrekord warten Europarekorde, nationale Rekorde und die persönliche Bestmarke darauf, überboten zu werden. Es gibt so viele Ranglisten und Tabellen, dass 2006 noch der 106. Platz des Schweinelaufs von Wülfrath für die Nachwelt festgehalten wurde. Für die alten Griechen unvorstellbar. 42
»Dabeisein ist alles« das mag in Olympia für die Zuschauer gegolten haben. Für die Athleten aber gab es nur Sieg oder Niederlage. Dass der Verlust der Ehre auch in der Neuzeit durchaus noch Stoff für unglaubliche Geschichten bieten kann, zeigt der Fall des japanischen Marathonläufers Kokichi Tsuburaya. Bei den Olympischen Sommerspielen von 1964 in Tokio gewann Tsuburaya die Bronzemedaille. Die Platzierung auf dem dritten Rang soll dem Japaner dermaßen am Ehrgefühl genagt haben, dass er sich daraufhin umgebracht haben soll – ein Mythosgemisch aus dem Geist der Antike und dem traditionellen Bild des Harakiri, der rituellen Selbsttötung japanischer Krieger. In Wirklichkeit aber lag der Fall anders. Der Marathonläufer war durchaus stolz auf seinen dritten Platz. Als er jedoch vier Jahre später an einer Wirbelsäulenkrankheit litt und den Leistungssport an den Nagel hängen musste, tötete er sich selbst. Die Tragödie des Sportstars verwandelte sich in eine Legende, die den Geist der Antike auf die Olympischen Spiele der Neuzeit projizierte. Sport scheint ohne Mythen nicht populär genug zu sein. Ob Selbstmord bei den Athleten des griechischen Olympia vorkam, ist nicht bekannt. Die überlieferten Inschriften feiern ausschließlich die Sieger, niemand interessierte sich für das Schicksal eines Ausgeschiedenen. Warum auch? Gewinner gab es genug.
Bewerbungstraining für Olympioniken In den 1169 Jahren olympischer Geschichte in Griechenland gab es 293 Spiele, bei denen 4237 Athleten einen Wettbewerb gewannen. Das geflügelte Wort von der Vergänglichkeit des Ruhms scheint für die Sieger Olympias nicht zu gelten: Noch heute sind 921 Sieger mit Namen, Heimatort und Wettkampfdisziplin bekannt. Viele Helden der Vergangenheit sind festgehalten in antiken Schriften wie dem Bericht des Griechen Pausanias, der um 160 nach Christus sein Heimatland bereiste und eine der ältesten Reisereportagen der Welt schrieb. Pausanias war so begeistert von Olympia, dass er die Inschriften der Siegerstatuen genau notierte und alles festhielt, was er an tragischen und komischen Geschichten über die Dramen im Stadion erfahren konnte – eine frühe Form des Sportjournalismus. Andere Namen sind durch Oden überliefert, Verse, in denen die Heldentaten der Olympiasieger bejubelt werden, meist von den Siegern selbst in Auftrag gegeben. Aber nicht alle Quellen 43
sind so einfach zu finden. Als Glücksfall für Archäologen entpuppte sich eine Rechnung von Händlern aus dem antiken Rom. Auf der Rückseite des Fundstücks waren die Namen von Olympioniken aufgeschrieben – ein Schmierzettel als Geschichtswerk. Auch wenn die Schicksale der Athleten Olympias nur in Fetzen überliefert sind, sie sprechen Bände. Um überhaupt als Athlet in Olympia auftreten zu dürfen, war ein hohes Maß an Disziplin notwendig. Der Gelehrte Philostratos empfahl als Rezept für Olympiabewerber: »Wenn du hart genug gearbeitet hast, um würdig zu sein, nach Olympia zu gehen, wenn du nicht faul oder undiszipliniert bist, dann begib dich voller Zuversicht dorthin.« Leicht gesagt. Hinter dem Satz verbargen sich so hohe Anforderungen an die Qualifikation, dass auch einem modernen Olympia-Aspiranten der Schweiß von der Stirn rinnen würde. Erste Hürde: Abstammung. Nur Griechen durften an den Start. Das galt auch für die Athleten aus jenen Regionen, die heute Italien und Frankreich heißen, denn dort lebten Griechen in Kolonien und trieben Handel mit den sogenannten Barbaren. Mitmischen war auch für Gäste aus den Nachbarstaaten verboten. So soll Alexander I., der Urgroßvater Alexander des Großen, versucht haben, in Olympia zu kämpfen. Alexander I. aber herrschte über Makedonien und das gehörte, damals wie heute, nicht zu Griechenland. »Denn, als Alexander, um sich in den Wettstreit einzulassen, dahin gekommen war, hielten ihn die Griechen, die um die Wette laufen wollten, zurück und sagten, die Spiele wären nicht für Ausländer, sondern für die Griechen.« Was der Historiker Herodot hier überlieferte, würde heute einen Aufschrei in der olympischen Sportwelt auslösen. Damals aber musste hingenommen werden, dass die Griechen lieber unter sich blieben. Doppelmoral schon in der Antike: Als Alexanders Urenkel, Alexander der Große, im Namen Griechenlands Persien erobert hatte, fragte niemand mehr, ob er aus Makedonien stamme oder Grieche sei. Alexander pflanzte eines der prächtigsten Bauwerke Olympias, ein Monument für seine Familie, mitten in den heiligen Bezirk hinein – wer berühmt genug war, ging auch als Grieche durch. Barbaren raus aus Olympia! Was heute wie rassenideologische Schimpfe klingt, hatte für die Griechen Hand und Fuß. Sie wollten sich untereinander messen. Ein wichtiges Ergebnis der olympischen Wettkämpfe war, dass ganz Griechenland wusste, welcher Grieche der beste Speerwerfer war, welcher Grieche am schnellsten laufen konnte und welcher Grieche die besten Pferde besaß. Niemand interessierte sich dafür, ob ein Perser weiter springen oder 44
ob ein Römer besser ringen konnte als ein Einheimischer. Olympia war kein Wettstreit der Nationen, sondern ein Kräftemessen im griechischen Dorf. So unzivilisiert waren die sogenannten Barbaren aber gar nicht. Beim Anblick der griechischen Sportspektakel soll es sie vor Entsetzen geschüttelt haben. Als ein Skythe aus Zentralasien trainierende griechische Athleten in Athen beobachtete, soll er zu seinem Gastgeber gesagt haben: »Das ist ja gerade das Erbärmlichste, Solon, dass sie das alles nicht nur unter den Augen weniger ertragen müssen, sondern dass so viele Zuschauer Zeugen ihrer Misshandlung sind, die sie aber offenbar noch glücklich preisen, wenn sie sie blutüberströmt sehen oder wie sie von ihren Partnern gewürgt werden; denn das ist anscheinend das größte Glück, das ihrem Sieg beschert ist. Wenn bei uns aber jemand einen Bürger schlägt, ihn überfällt, ihn niederwirft und ihm dabei die Kleider zerreißt, dann erlegen ihm die Alten schwere Strafen auf, selbst wenn einer die Schmach nur vor wenigen Zeugen erlitte, geschweige denn vor so viel Zuschauern, wie du es vom Isthmos und auch von Olympia erzählst. Für die Wettkämpfer indessen ergreift mich noch Mitleid für das, was sie erleiden, jedoch wundere ich mich sehr über die Zuschauer, die, wie du behauptest, sich von überallher zu den Festveranstaltungen einfinden, dass sie ihre wichtigen Geschäfte beiseite lassen und für derartige Darbietungen Zeit finden. Auch kann ich nicht begreifen, dass es ihnen ein Vergnügen bereiten soll, Menschen zu sehen, die sich stoßen und boxen, sich zu Boden schmettern und gegenseitig zerschlagen.« Erst als die Römer Griechenland beherrschten, durften auch Athleten aus dem Ausland in Olympia boxen, laufen, springen und beim Pferderennen die Hufe fliegen lassen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Spiele aber bereits über 600 Jahre alt. Zweite Hürde: Polizeiliches Führungszeugnis. Wer als Mörder verurteilt war oder – damals ein schlimmeres Verbrechen als Mord – einen Tempel beraubt hatte, der hatte alle Aussichten auf einen Start in Olympia lebenslänglich verspielt. Natürlich durften sich nur freie Griechen bewerben. Sklaven als Olympiasieger? Das war undenkbar. Dritte Hürde: Leistungsnachweis. War ein Athlet ins Feld der Bewerber aufgenommen, musste er schwören, zehn Monate lang hart zu trainieren. Weder Götter noch Zuschauer wollten in Olympia Schlappschwänze sehen. Die mühsam angereiste Menge verlangte nach den besten Sportlern der griechischen Welt. Um den hohen Standard zu garantieren, reisten alle Bewerber 45
im letzten Trainingsmonat nach Elis, um dort vor den Augen der Kampfrichter zu zeigen, dass sie olympiareif waren. Die Eleer räumten für dieses Ereignis den Marktplatz, sprachen vier Wochen lang ein Parkverbot für Eselskarren aus und überließen das Feld den Gespannen der Rennstallbesitzer. Gut vorstellbar, dass schon das Trainingslager in Elis viele Zuschauer herbeilockte. In der kleinen Stadt mag es zugegangen sein wie in einem Bienenstock.
Vierte Hürde: Pünktlichkeit. Schon beim Vortraining in Elis trennten die Kampfrichter die Spreu vom Weizen und disqualifizierten, was das Zeug hielt. Aber selbst der durchtrainierteste Sportler hatte mit einem weiteren Feind zu kämpfen, gegen den alles Geschick nicht half: die Zeit. Wer zu spät kam, hatte verloren. Neben Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer setzten die olympischen Organisatoren auf Ehrgefühl und Disziplin. Erschien ein Athlet bereits zum Vortraining nicht rechtzeitig, konnte es nach griechischer Vorstellung mit seinen Tugenden nicht weit her sein. Schnurstracks schickte ihn die Kommission nach Hause. Gar nicht so einfach: Zur festgelegten Frist vor Ort zu sein, war eine Herausforderung. Weder gab es Uhren noch Kalender, weder Fahrpläne noch Reisebüros, Pferde leisteten sich nur die Reichen, Esel ließen sich auf dem heimischen Hof meist nicht entbehren. Wer nach Olympia kam, ging oft genug zu Fuß. Allein der Weg von Athen nach Olympia aber war ein Abenteuer für sich, mit Entbehrungen, Gefahren und durchgelaufenen Schuhsohlen. Er führte durch die Berge Arkadiens oder, bequemer, mit dem Schiff durch den Golf von Korinth. In jedem Fall aber konnte schlechtes Wetter die Fahrt verzögern oder die Hitze die Marschgeschwindigkeit auf Schneckentempo verlangsamen. Wohl dem, der mit solchen Hindernissen rechnete und mehr als rechtzeitig aufbrach. Wehe dem, der nach Hunderten von Reisekilo46
metern Elis unpünktlich erreichte: Er erfuhr am eigenen Leib, dass Pochen auf Pünktlichkeit ebenso wichtig war wie Schlagen auf den Gegner. Ein Opfer der Zeitbürokraten war Apollonios von Rhantes. Der Boxer reiste 93 nach Christus aus Alexandria an, von der Küste Ägyptens – selbst per Schiff und bei günstigen Winden kein Katzensprung, bei widrigen Lüften eine Expedition, die Nerven und Zeit kostete. Apollonios kam zu spät. Als er sich mit der stürmischen See entschuldigen wollte, schüttelten die Kampfrichter den Kopf und saßen über den Boxer zu Gericht. Sein Gegner hätte sich hier vornehm zurückhalten und die Richter um Milde bitten können – das jedenfalls entspräche dem heutigen Begriff der Fairness. Aber damit war es in der Antike nicht weit her. Apollonios’ Kontrahent schwebte der kampflose Sieg vor Augen. Noch während die Organisatoren über das Urteil berieten, flüsterte er ihnen zu, der Boxer sei zu spät gekommen, weil er vorher noch an anderen Kampfspielen teilgenommen habe, um sich dort die jährlichen Siegespreise einzuheimsen. Das genügte. Die Kampfrichter zeigten Apollonios die rote Karte. Hier hätte die Geschichte enden können: der tragische Fall eines denunzierten Boxers, der – zu Recht oder zu Unrecht – die Chance seines Lebens in Olympia verspielt hatte. Aber Apollonios von Rhantes war nicht der Typ, der mit hängendem Kopf aus dem Ring schlich. Dem Urteil hörte er noch zu, erschreckt, aber gefasst. Doch als die Kampfrichter seinen Gegner zum Sieger ausriefen und diesem einen Palmzweig als Trophäe überreichten, war es mit der Selbstbeherrschung des Apollonios vorbei. Der Boxer stürzte sich auf seinen Feind und verprügelte ihn nach Strich und Faden. Zwar ist nicht überliefert, ob sich der Überfallene verteidigt hat, aber da auch er Boxer mit Olympiaqualitäten war, wird er sich gegen den Rasenden zur Wehr gesetzt haben. Die Zuschauer bekamen ihren Kampf, Apollonios’ Gegner den Sieg und die olympische Kasse klingelte, denn die Kampfrichter werden den unbeherrschten Boxer zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt haben. Der eigentliche Gewinner des Debakels aber war Apollonios selbst: Während der Name des zweiten Boxers heute nicht mehr bekannt ist, hat der Wutausbruch des Apollonios dafür gesorgt, dass seine Geschichte bis heute erzählt wird. Ruhm hat viele Gesichter. Waren alle Hürden genommen, hatten die Kampfrichter die Aufgabe, die Athleten in Altersklassen einzuteilen. Das war nicht einfach. Geburtsurkunden gab es ebenso wenig wie Geburtsdaten. Mancher wird gewusst 47
haben, dass er im zehnten Jahr nach der Seeschlacht bei Salamis geboren worden war oder an jenem Tag, an dem die Pest in Athen ausbrach. Daten aber gab es kaum, der Pass war noch nicht erfunden. Was tun? Die Kampfrichter verließen sich auf ihren gesunden Menschenverstand. Bei heutigen Sportereignissen wäre das unvorstellbar, jede Disziplin kennt Dutzende von Altersklassen und Gewichtseinteilungen, im Fußball kicken Junioren A bis F, Mannschaft 1 und 2 sowie Senioren; beim Boxen schlagen sich Papiergewicht, Halbfliegengewicht, Fliegengewicht, Bantamgewicht, Federgewicht, Leichtgewicht, Halbweltergewicht, Weltergewicht, Halbmittelgewicht, Mittelgewicht, Halbschwergewicht, Schwergewicht, Superschwergewicht und Superschwerplusgewicht – überdies alle nochmals in Altersklassen unterteilt. Das antike Olympia kannte solche Details nicht. Hier gab es zwei Alters- und Gewichtsklassen: »Jugendliche« und »Erwachsene« – das genügte für alle Disziplinen. Schummeln war schon immer reizvoll. Auch bei der Klassifizierung der Athleten versuchten Spitzbuben ihr Glück. Ob die Kampfrichter ihnen dabei auf den Leim gingen, ist nicht bekannt. Ein Fall jedoch erregte das Aufsehen der griechischen Sportwelt so nachhaltig, dass er noch heute bekannt ist. Ein junger Athlet aus Athen stellte sich bei den Kampfrichtern vor und wurde für zu groß und kräftig befunden, um noch bei den Knaben mitzumischen. Das passte allerdings Agesilaos, dem König Spartas, nicht, denn fraglicher Athlet war der Geliebte eines einflussreichen Persers, und eben jener Perser genoss zu dieser Zeit die Gastfreundschaft Spartas. Jetzt gingen Diplomatie und Sport eine wilde Ehe ein. Mit einem lancierten Olympiasieg für den fragwürdigen Jugendlichen hätte Sparta seinem Gast nicht nur ein Geschenk gemacht, das den Ruhm des Stadtstaates in Persien gemehrt hätte, überdies hätte Agesilaos auch bewiesen, dass er der eigentliche Herrscher Griechenlands war und selbst die heiligen Spiele des Zeus nach seinem Willen lenken konnte. Der spartanische König setzte alle Hebel in Bewegung und tatsächlich: Im Maschinenraum Olympias begann es zu rumoren. Entweder griff Agesilaos tief in die Trickkiste oder in die Staatskasse Spartas. Wie er die Organisatoren in Elis davon überzeugte, dass der fragliche Athlet als Knabe durchzugehen habe, ist zwar nicht überliefert, wohl aber, dass Agesilaos das Kunststück gelang. Augenzwinkernd bemerkte der griechische Philosoph Plutarch: »Agesilaos war zwar sonst korrekt und hielt sich an die Gesetze; wenn es sich aber um Freunde handelte, hielt er zu große 48
Korrektheit für bloßen Vorwand.« Der Fall zeigt: Auch in Olympia waren die Fallstricke der Machtpolitik straff gespannt.
Fürstliche Amateure Sport war Luxus. Kein Ziegenhirte, kein Landwirt und kein Bronzeschmied der Antike konnte es sich leisten, zehn Monate für Olympia zu trainieren und so lange die Arbeit ruhen zu lassen. Olympia war das Spielfeld der Reichen. Das zeigte bereits der Fall des Agesilaos, der sich als König Spartas wohl kaum für einen Bauernburschen aus Athen eingesetzt hätte. Ließen Athleten in Olympia die Muskeln spielen, war stets Geld im Spiel. Ein Sieg war teuer. Gewann ein Athlet in Olympia, durfte er eine Statue zu seinen Ehren im heiligen Bezirk, Altis genannt, aufstellen lassen. Da im Lauf der Jahrhunderte 4 273 Sportler in Olympia gewannen, muss die Altis wie ein Wald aus Skulpturen gewirkt haben, selbst wenn die Statuen regelmäßig beiseite geräumt wurden. Auf dem Sockel einer solchen Statue war der Held mit Namen verewigt, sein Konterfei war allerdings nicht wiedergegeben. Stattdessen wurden die Denkmäler mit Allerweltsgesichtern versehen. Erst jenen, die dreimal in Olympia gewonnen hatten, war es erlaubt, Porträtstatuen aufstellen zu lassen, die nicht nur den Namen, sondern auch das Antlitz zeigten – ewige Jugend in Bronze und Marmor. Aber eine solche Statue war so teuer wie heute ein Einfamilienhaus. Schweiß war also nicht genug. Die meisten Athleten müssen steinreich gewesen sein. Einer, der nach Herzenslust die Puppen tanzen lassen konnte, war Eubotas aus Kyrene. In Olympia gewann er im Laufwettbewerb. Nun war es üblich, dass die Gewinner nach dem Sieg mit einem Palmzweig geehrt wurden. Dann gingen die Spiele weiter. Erst nach Ende aller Wettbewerbe schlug die Stunde des Triumphs. Alle Sieger kamen zusammen, um bei einem feierlichen Spektakel mit dem heiß begehrten Olivenkranz bekrönt zu werden. Danach reisten alle ab. Daheim suchten die Sieger einen Bildhauer ihres Vertrauens auf und gaben eine Ehrenstatue in Auftrag. Bis das Kunstwerk fertig war, dauerte es einige Wochen. Erst nach einer Weile, in Olympia war inzwischen wieder Ruhe eingekehrt, brachten die Gewinner ihre Abbilder nach Elis und stellten sie im heiligen Bezirk auf. Besagtem Eubotas aber dauerte das zu lange. 49
Er brachte seine Statue gleich zu den Spielen mit. Als er tatsächlich in seiner Disziplin gewann, konnte sich Eubotas den Luxus leisten, seine Bronzeskulptur an Ort und Stelle und vor den Augen Tausender zu enthüllen. Damit demonstrierte der Athlet nicht nur Abgebrühtheit, sondern vor allem Reichtum. Hätte er den Sieg nicht errungen, wäre die Investition umsonst gewesen, das Kunstwerk wäre eingeschmolzen worden, um wenigstens den Preis für die Bronze zurückzubekommen. Ein weniger reicher Läufer hätte damit seine Existenz aufs Spiel gesetzt. Nicht so Eubotas. Nicht nur ließ er die Statue vorab anfertigen, er musste sie auch noch aus Nordafrika herbeischaffen lassen. Eubotas lebte in Kyrene, einem Ort, der heute in Libyen liegt. Schon für die Reise nach Olympia muss er einen gepfefferten Preis gezahlt haben. Eine tonnenschwere Statue aus Bronze zu transportieren aber wird die Reisespesen ins Unermessliche getrieben haben. In Olympia pfiff hingegen niemand den arroganten Eubotas aus, denn der Läufer hatte eine göttliche Ausrede auf Lager. Die Götter hätten ihm den Sieg prophezeit, erklärte Eubotas. In seiner Heimat Nordafrika sei er in die Oase Siwa gereist und habe das dortige Orakel befragt. Siwa war zu dieser Zeit für Ägypten und die umliegenden Gebiete, was Delphi für Griechenland war, aber es hatte einen Vorteil: Für Nordafrikaner lag es in der Nähe. Eubotas erzählte, das Orakel habe ihm garantiert, er werde den Sieg in Olympia erringen, und so habe er zuversichtlich seine Ehrenstatue in Auftrag geben können. Ob die Griechen diese Geschichte glaubten ist fraglich. Die Antworten der Orakel waren dafür berüchtigt, alles andere als eindeutig zu sein. Das muss auch Eubotas gewusst haben. Vor dem Sieg eine Skulptur anzufertigen war ein Glücksspiel, bei dem Eubotas viel Geld hätte verlieren können. Es gab aber auch Ausnahmen von der Regel. Gerade von den frühen Olympischen Spielen, als die Bedingungen noch nicht so hart waren, sind Sieger bekannt, die nicht zur High Society zählten. So gewann als erster überlieferter Sportler in der Geschichte der Olympischen Spiele ein Mann namens Koroibos den Stadionlauf. Der Beruf des Koroibos ist überliefert. Er war Priester (früher wurde sein Beruf fälschlicherweise sogar mit »Koch« übersetzt). Von einem anderen Olympioniken ist zwar der Name nicht erhalten, der Beruf hingegen schon. Ein Fischer aus Argos war in Olympia siegreich. Fortan, so erzählten sich die Griechen, musste der Glückliche nie wieder Fische 30 Kilometer weit von Argos nach Tegea tragen, um sie dort zu ver50
kaufen. Stattdessen gehörte er fortan zum Jetset seiner Polis und ließ sich den Fisch reichen – gebraten und filettiert. In dieser Legende ist der immer noch aktuelle Mythos des Tellerwäschers erkennbar, der zum Millionär wird. Olympia machte es möglich. Die meisten Athleten waren jedoch die Söhne millionenschwerer Könige und Fürsten. Einer der berühmtesten Sieger in Olympia war Dikon, der es sich leisten konnte, im Lauf seiner Sportlerkarriere 15 Dikon-Statuen im heiligen Bezirk aufzustellen. Eine einzige davon kostete so viel, wie ein normaler Landwirt oder Handwerker in zehn Jahren verdiente. In der Regel war Olympia also ein Spielfeld der Reichen – die Eintrittskarte in die Hallen ewigen Ruhms hieß nicht Muskeln, sondern Mammon.
Der Sieger stößt auf Öl Der erste IOC-Präsident der Welt war Obergott Zeus. Er gab den Sportlern Kraft und Ausdauer, die Athleten gaben ihrerseits alles, um zu Ehren des Zeus zu siegen – und überdies um zu zeigen, welcher der griechischen Fürsten der beste war. Sport war Religion und Kräftemessen. Niemand dachte daran, mit seiner Leistung Geld zu verdienen. Warum auch? Adelige konnten sich alle materiellen Wünsche erfüllen: Sie galoppierten auf Rassepferden, während der einfache Mensch zu Fuß ging, sie lebten in Steinburgen auf Hügelkuppen, während die Landbevölkerung in Holz- und Lehmhütten auf der schutzlosen Ebene hauste, sie schlemmten jeden Tag Gegrilltes, während das Volk an Brotkanten nagte, sie liefen in schimmernden Bronzerüstungen und gefärbten Leinengewändern umher, während Bauer und Bäuerin den Wolllumpen vom letzten Jahr zu flicken versuchten. Geld war für Olympioniken Nebensache – jedenfalls für eine Weile. 13 Spiele lang war der Stadionlauf der einzige Wettbewerb in Olympia, trainierten die Athleten nur für dieses Ereignis, nahmen die Zuschauer die Mühsal der Reise in Kauf, nur um 20 Männer durch das Stadion laufen zu sehen. Wie vorhersehbar, rief das Publikum irgendwann nach Zugaben. Die sollte es bekommen. Die 14. Spiele müssen eine Sensation gewesen sein. Zum ersten Mal gab es neben dem Stadionlauf eine zweite Disziplin, den Doppellauf, auf Griechisch »Diaulos«, ein Stadionlauf über die zweifache Strecke. Das war 724 vor Chris51
tus. Der Versuch war zaghaft, es gab kaum Neues, nur mehr vom Alten. Vielleicht wollten die Organisatoren vorfühlen, ob Zeus ihnen zürnte, wenn sie die Spiele dem Publikumsgeschmack anpassten. Aber Zeus schwieg und schleuderte keine Blitze. Ermutigt wagten die Eleer den nächsten Schritt. Vier Jahre später kam der Langstreckenlauf und immer noch lief alles wie am Schnürchen. Nun wurden die Eleer noch mutiger. Bei den 18. Spielen folgten Fünfkampf und Ringen. Das war geschickt gewählt, denn wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: Als die Ringer aufeinanderprallten, waren die Fans aus dem Häuschen. Das Experiment war geglückt. Olympia wuchs zu einem Massenspektakel heran. Acht Jahre und zwei Olympische Spiele später zogen die Organisatoren den größten Trumpf aus dem Ärmel. Ab sofort lockten Pferderennen nach Elis. Damit war der beliebteste Sport seiner Zeit, die Formel 1 der Antike, zur olympischen Disziplin erklärt worden. Nun wollte selbst der letzte Sportmuffel dabei sein, wenn in Olympia die Spiele begannen. In der Geschichte der Olympischen Spiele starteten Athleten in insgesamt 20 Disziplinen. Bei den anderen griechischen Sportfesten kamen weitere Wettbewerbe hinzu. Bis zu 50 Spielarten soll es gegeben haben, in denen Athleten ihre Topform unter Beweis stellen konnten. Nicht länger ging es dabei um Ruhm allein. Ab dem 5. Jahrhundert vor Christus ließ sich mit Sport Geld verdienen. Wer bei den Panathenäischen Spielen in Athen, einer Konkurrenzveranstaltung zu Olympia, im Kurzstreckenlauf gewann, nahm 100 Amphoren Olivenöl mit nach Hause. Zwar war das keine Belohnung in klingender Münze, aber Olivenöl war in der Antike wertvoller als heute Erdöl. Köche träufelten es auf Speisen; Ingenieure schmierten damit schweres Baumaterial ein – ohne Olivenöl hätten die Ägypter keine Pyramiden bauen können –; Händler stellten mit Kräutern und Olivenöl wohlriechende Salben und Parfums her; das gelbgrüne Gold diente als Sonnenschutz und weil der griechische Philosoph Demokrit behauptete, wer regelmäßig Honig und Olivenöl verwende, können 100 Jahre alt werden, sollen die Römer sogar in Olivenöl gebadet haben; Ärzte rieben den Saft der Olive auf Wunden und in jedem Haus tränkte das Öl die Dochte der Öllämpchen, der meist einzigen Beleuchtung, nachdem die Sonne untergegangen war. Ohne Öl hätte sich die Welt der Antike nicht halb so schnell gedreht. 100 Amphoren Olivenöl – das war Reichtum, zumal das Öl für den Sieger 52
von den heiligen Bäumen der Göttin Athene geerntet war. Exklusiver ging es nicht. Dieses Öl war der Beluga-Kaviar seiner Zeit und garantierte dem Gewinner ein sorgenfreies Leben. Siegespreise in solcher Höhe aber veränderten den Sport der Antike. Die rangelnden Fürsten Griechenlands standen mit einem Mal einfachem Volk gegenüber. Im Sand der Kampfbahn schlugen sich Könige mit Bauern – vorher undenkbar, mit einem Mal aber gang und gäbe. Glücksrittern gleich versuchten sich Scharen hoffnungsfroher Bewerber als Ringer, Läufer, Wagenlenker. Zwar lockte hohes Preisgeld, aber nach wie vor galt: Training kostete Zeit und Geld. Nur wenige jedoch konnten gewinnen und den Einsatz wieder herausholen. Wer Sportprofi werden wollte, riskierte deshalb Hab und Gut, und da die Athleten meist jung waren, setzen sie nicht ihr Eigentum, sondern das ihrer Eltern aufs Spiel. In jenen Tagen hat der Dichter Aristophanes die Klage eines gebeutelten Vaters aufgeschrieben: »Au, das zwickt, das Zahlen, Rossefüttern, Schuldenmachen für dieses Früchtchen da! Und er – mit langen gelockten Haaren reitet er und fährt und träumt von nichts als Rossen.« Einige Adelige zogen sich daraufhin sogar aus dem Stadion zurück und versuchten sich nur noch im Wagenrennen, dem Sport der Reichen. Von dem athenischen Staatsmann Alkibiades wird berichtet: »Die gymnischen Wettbewerbe (also Boxen, Laufen, Springen et cetera) verachtete er, weil er sah, dass einige der daran teilnehmenden Athleten von geringer Geburt und Bürger unbedeutender Städte waren und zudem über eine armselige Erziehung verfügten.« Ein Riss ging durch die Sportwelt Griechenlands. Was war geschehen? Die Organisatoren der griechischen Sportfeste hatten die Preisgelder in solche Höhen getrieben, dass es plötzlich auch dem einfachen Volk möglich war, an den Spielen teilzunehmen. Auf manchen Schäfer muss die Aussicht auf 100 Amphoren vom besten Olivenöl so gewirkt haben wie heute auf normale Arbeitnehmer ein Lottogewinn. Die Chance, diesen Jackpot zu knacken, war allerdings höher als bei Toto und Tombola. Glück gehörte zwar auch dazu, aber die Sportler konnten sich in erster Linie auf ihre Leistung verlassen. Fortuna spielte nur eine Statistenrolle. Die Schlangen der Bewerber um einen Platz im Stadion wuchsen. Um sich überhaupt eine Chance in dem unübersehbar großen Gegnerfeld ausrechnen zu können, trainierten die Sportler immer härter. Die Resultate konnten sich sehen lassen: Die Kämpfe wurden spektakulärer, das Publikum tobte und 53
strömte in Massen in die Stadien, kaum war irgendwo in Griechenland der Beginn eines Sportfestes bekannt gegeben. Je mehr Menschen kamen, desto mehr zahlten sie für Unterkunft und Essen, für Fanartikel wie taschengroße Weihestatuen und für Eintrittskarten. Aus Sport wurde Geld. Die Sportbegeisterung schwappte über den Mittelmeerraum. Immer mehr Sportfeste schossen aus dem Boden, einige nur für eine Polis von Bedeutung, andere so berühmt, dass sie Menschen aus Italien nach Griechenland lockten. Ob Kreisklasse oder Länderspiel: In den Tagen Roms, als Olympia bereits 600 Jahre alt war, konnten Sportler und Publikum insgesamt 300 Spiele im Jahr miterleben. Die Zeiten, in denen sich nur die Fürsten maßen, waren endgültig vorbei. Wer bei diesen Festen antrat, war Profi, knallhart, durchtrainiert bis in den kleinsten Zehenmuskel und hatte nur das Preisgeld im Blick. Diese Spitzensportler lagen sogar nach einem Sieg nie auf der faulen Haut. Kaum war die Siegerehrung vorbei, schnürten sie bereits ihr Bündel und reisten weiter zum nächsten Ereignis. Sport war zum Beruf geworden. Ein solcher Wettkampfnomade war Theagenes von Thasos. Er war Profi im Pankration, einer der brutalsten Sportarten der Geschichte, bei der sich die Gegner in einer Mischung aus Ringen und Boxen zu besiegen versuchten, meist musste der Verlierer aus der Kampfbahn getragen werden. Von Theagenes wird erzählt, er habe 1 400 Mal einen Siegerkranz in dieser harten Disziplin gewonnen. Das fordert zu einem Rechenspiel heraus. Vorausgesetzt, eine Profikarriere im Pankration dauerte 20 Jahre – heute sind Spitzensportler höchstens zehn Jahre im Siegerfeld dabei –, so hätte Theagenes in jedem Jahr 70 Siege erringen müssen. Auf den Monat umgerechnet ergeben sich fast sechs Triumphe, also mehr als einer in der Woche. Nun wird Theagenes aber nicht jeden Kampf gewonnen haben. Selbst ein Superkämpfer wie er mag vielleicht in jedem dritten Wettstreit unterlegen gewesen sein. Demzufolge muss der Schwerathlet Theagenes wenigstens zwei Kämpfe in der Woche absolviert haben. Rechnet man nun die Tage hinzu, die für die Reise von Stadion zu Stadion nötig waren, wird ihm kaum Zeit zum Training geblieben sein, vom Ausruhen ganz zu schweigen. Profisportler in der Antike, das war ein Vollzeitjob mit Überstunden. Der Lohn war Geld, als Bonus kam noch Ruhm hinzu. Theagenes war schon zu Lebzeiten eine Legende und bevor er in einem Stadion erschien, tuschelte das Publikum darüber, welch spektakulären Kniff er sich diesmal 54
würde einfallen lassen, um den Gegner in den Staub zu zwingen. Bald erzählten sich die Fans, dass Theagenes schon im zarten Knabenalter von neun Jahren so kräftig gewesen sein soll, dass er eine Bronzestatue auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt Thasos hochgehoben und nach Hause getragen habe. Eine solche Skulptur wog bis zu 2 Zentner. Die unglaubliche Geschichte ist ein Auswuchs des Starkults. Noch heute rankt sich ein Dickicht aus Mythen und Legenden um Prominente aus Sport und Film. Zwar tragen die Berühmten der Gegenwart keine Bronzestatuen mehr spazieren, dafür aber wird jeder ihrer Schritte von der Boulevardpresse verfolgt und jede sich anbahnende Affäre in den bunten Nachrichten wiedergegeben – die Gerüchteküche hat die Sagenschmiede ersetzt. Ob die Menschen im alten Griechenland auch an den Liebeleien von Hypersportlern wie Theagenes interessiert waren, ist nicht bekannt. Für seine Leistungen im Stadion wurde ihm jedenfalls ein Denkmal gesetzt. Das erhielten zwar alle Sieger in Olympia, aber in diesem Fall ließen sich die Organisatoren etwas Besonderes einfallen: Die Statue durfte neben einer Skulptur Alexanders des Großen stehen. Theagenes erhielt den Oscar der Antike.
Mit Kranzspielen auf den grünen Zweig kommen Reichtümer erringen – das war bei den unterschiedlichsten Sportspielen im alten Griechenland buchstäblich gemeint. In Olympia aber lief der Hase anders. Weder klingelte hier die Kasse noch gab es Wagenladungen Olivenöl für den Sieger. Stattdessen bekamen die Gewinner einen Palmzweig in die Hand gedrückt und einen Kranz aus den Zweigen des Olivenbaums auf den Kopf gesetzt. Ähnlich erging es den Gewinnern der Spiele von Nemea, sie bekamen einen Kranz aus getrocknetem Sellerie, bei den Spielen von Korinth war der Sellerie immerhin noch frisch, in Delphi gab es Lorbeer aufs Haupt. Scheinbar waren die Athleten dieser sogenannten Kranzspiele genügsamer als die geldgierigen Profis der übrigen Wettbewerbe. Aber der Schein trügt. Ruhm war Gold wert. Auf die Sieger Olympias wartete in der Heimat ein Leben in Saus und Braus. Zunächst war die Reihe an den Stadtvätern, die berühmten Söhne mit Gold und anderen Kostbarkeiten zu überschütten. Immerhin hatten die Athleten nicht nur für sich selbst den Sieg in Olympia errungen, auch der Name ihrer Polis war bei der Siegerehrung ausgerufen 55
worden und prangte auf dem Sockel der Siegesstatue. Zum Ehrenpreis gehörten ein Platz im Stadtrat und eine lebenslängliche Freikarte fürs Theater. Das mag aus heutiger Sicht wie eine Dreingabe klingen – nett, aber unbedeutend. In der Antike jedoch war ein Platz im Theater, insbesondere ein Ehrenplatz in der ersten Reihe, eine Demonstration von Reichtum und Macht, vergleichbar mit dem Logenplatz in der Staatsoper von Hamburg – mit dem Unterschied, dass die teuren Plätze nicht oben, sondern unten lagen. Anzunehmen, dass einem Fürsten ein solcher Platz nicht viel bedeutete. Gewann aber der Sohn eines Bäckers in Olympia und stieg vom einfachen Handwerkerspross zum gefeierten Sohn der Polis auf, dürften alle aus dem Häuschen gewesen sein. Der Preisregen war damit noch nicht vorbei. Ab sofort hatte der Sieger bis ans Ende seiner Tage Anspruch auf einen gedeckten Tisch im Ratssaal. Während er dort tagein und tagaus Tafelfreuden genoss, konnte er beim Blick aus dem Fenster seinen in Bronze gegossenen Edelkörper bewundern, der nun in Form einer Statue auf dem Marktplatz der Stadt allen anderen Bürgern unmissverständlich zeigte, wer der Schönste, Schnellste und Stärkste unter ihnen war. Geld floss natürlich auch in Strömen. Um noch mehr Motivation zum Sieg aus den Sportlern herauszukitzeln, stellten die Stadtväter Reichtümer in Aussicht. Solon, Staatsmann in Athen, soll jedem Athener, der in Olympia siegte, 500 Drachmen versprochen haben – Kopfgeld für olivenbekränzte Häupter. Das entsprach dem Preis von 500 Schafen. Wen ein solches Angebot nicht reizte, der musste ein wahrer Ochse sein. Die Tage der Sparsamkeit waren für Olympiasieger gezählt. Selbst wer seine 500 Drachmen in Windeseile verprasste, konnte weiterhin aus dem Vollen schöpfen. Berühmte Sportler aus Olympia waren gefragte Gäste bei Stadtfesten. Dort traten sie als Attraktion auf und kassierten ab, in einem Fall sind fünf Talente bezeugt, etwa 135 Kilogramm Silber, der Wert von fünf Segelschiffen. Beim Rummel auf der Agora muss es wenig ehrfurchtsvoll zugegangen sein. Vermutlich kamen die Olympioniken am Festtag an und wurden gegen ein Startgeld von der Dorfjugend herausgefordert – Ausverkauf der Athleten. Olympioniken konnten es kaum erwarten, mit Schafen, Drachmen, Speisen und Statuen überschüttet zu werden. Der Ringer Taurosthenes gewann 444 vor Christus in Olympia einen Kranz. Sein Name ist bis heute überliefert, weil es ihm nicht schnell genug gehen konnte, den Sieg zu Hause zu ver56
künden. Er wählte die damals schnellste Form der Nachrichtenübermittlung und schickte eine Brieftaube nach Hause, an die er ein purpurfarbenes Band geknotet hatte – E-Mail der Lüfte. Auf heißen Kohlen stand auch der Läufer Ageus. Er gewann im olympischen Doppellauf des Jahres 328 vor Christus. Einer Brieftaube wollte Ageus die Nachricht seines Triumphes offenbar nicht anvertrauen. Er nahm die Beine in die Hand und lief, kaum dass der Olivenkranz auf seinem Kopf saß, zu Fuß nach Hause. Für die Strecke in seine Heimat Argos, etwa 100 Kilometer quer über den gebirgigen Peloponnes, soll Ageus einen einzigen Tag benötigt haben. Ein Sieg in Olympia verlieh Flügel. Geld war der Motor des Sports, schon für die alten Griechen. Das mag heute überraschend wirken, bei den Olympischen Spielen der Neuzeit treten in der Regel keine Sportprofis auf, in den Tagen des alten Olympia aber erwarteten die Zuschauer, dass sich die Sportler auf die Siegespreise stürzten. Einen Wettkämpfer, der den Reichtum verschmäht hätte und nur zu Ehren des Zeus angetreten wäre, hätte das Publikum ausgelacht. Nicht von ungefähr nannten sich die Sportprofis »Athleten«. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und leitet sich von »athlon« ab, und das heißt Kampfpreis.
Alles für Geld und gute Worte Ruhm wächst, wenn er gegossen wird. Dafür sorgten schon in der Antike PRBerater, damals Dichter genannt. Wer als Sportler etwas auf sich hielt – und es sich leisten konnte –, der engagierte die besten Werbefachkräfte, um einen Mythos um seine Person weben zu lassen. Der Star unter den Olympiadichtern hieß Pindar. Schon als junger Mann schrieb Pindar Verse von Format. Sein Ruhm muss groß gewesen sein, in Delphi soll er gute Verbindungen zu den Priestern gepflegt haben, in Olympia war er der begehrteste Dichter, wenn es darum ging, einen Sieger hochleben zu lassen. Dann zückte Pindar den Griffel und hielt die Hand auf. Wie teuer es war, wenn sich der Meister höchstpersönlich für einen Sieger den Kopf zerbrach, ist nicht überliefert. Für eine Handvoll Drachmen wird der Maestro aber nicht gearbeitet haben. Ruhm war kostbar. Pindar gehörte zu den bestbezahlten Autoren seiner Zeit, des 5. Jahrhunderts vor Christus, und konnte sich aussuchen, für wen er arbeiten wollte und 57
für wen nicht. Gern mehrte der Dichter den Ruhm von Königen – zum einen, weil sie die höheren Honorare zahlten, zum anderen, weil er dem ein oder anderen Herrscher auch gern den politischen Rücken gestärkt haben mag, indem er ihn als Held feierte. In der Feder des Dichters flossen Sport und Propaganda zu einem bis heute gültigen Gemisch zusammen. So schrieb Pindar von manchem König, er sei von den Göttern begünstigt. Theron, Herrscher der Stadt Agrigent (griech. Akragas) an der Südküste Siziliens, bestellte bei Pindar Verse und bekam Unsterblichkeit geliefert: Die Lobpreisung des Theron ist bis heute erhalten, Pindar meinte, der Regent sei einer, »der gerecht ist, gastlich, ein Turm der Stadt Akragas, von ruhmreichen Vätern abstammend, ein edler, stadterhaltender Spross«. Manchmal allerdings trieb es der Dichter zu weit. Weil Pindar zu viele Lobhudeleien auf die Herrscher von Syrakus schrieb, das ebenfalls auf Sizilien lag, hagelte es von den Griechen Kritik. In Syrakus schwangen Tyrannen das Zepter, unumschränkte Gewaltherrscher, die sich nicht um die Mitbestimmung der Bevölkerung scherten und in den demokratischen Stadtstaaten Griechenlands als verwerfliche, schlechte und grausame Subjekte verschrien waren. Pindar wehrte sich gegen die Vorwürfe, indem er behauptete, er sei keinesfalls Freund der Tyrannen, stets gehe es ihm um das Gemeinwohl. Ob er mit dieser Ausrede seine Kritiker zum Schweigen bringen konnte, ist fraglich. Einen Autor vom Format eines Pindar anzuheuern war allemal lohnenswert. Zwar mag das happige Honorar selbst den neureichen Olympiasieger im Geldbeutel gezwickt haben, aber das Ergebnis war unbezahlbar: Ruhm über alle Zeiten hinaus. Tatsächlich sind 45 jener Sportler, die sich von Pindar besingen ließen, noch 1 500 Jahre später namentlich bekannt. Das schafft keine moderne Filmbiografie und kein Zeitungsinterview. Die Mittel des Pindar waren auch viel spektakulärer. Für ihr Geld bekamen die Schönen und Starken des griechischen Sports mehr als nur kunstvolle Worte. Verseschmied Pindar arbeitete zugleich als Komponist und Choreograf. Seine Oden musste niemand lesen – die meisten Menschen waren Analphabeten –, man besuchte ihre Aufführung. Dabei ging es ähnlich zu wie in der Oper. Ein Chor trat im Theater auf, festlich gekleidet, schritt umher, beugte sich bald hierhin und bald dorthin, gestikulierte mit den Armen und besang den Olympiahelden. Dabei ging es höchst feierlich zu, von dramatischen Ereignissen keine Spur. Immerhin ging es um eine Ehrung. Auf den Rängen nahmen Kunstliebhaber Platz und natürlich die Familie des Siegers sowie 58
Ringelreihen im Namen der Götter: Im antiken Theater von Epidauros stellt eine Besuchergruppe den Auftritt des Chors nach. Die Anlage gilt als das am besten erhaltene Theater der Antike.
die Vertreter seiner Heimatstadt, eine Sportgala des Altertums. Pindar selbst überwachte die Inszenierung. Selbstverständlich nahm er auch den Applaus persönlich in Empfang. Seine Ruhmesmaschine hat ihm letztlich selbst die Unsterblichkeit eingetragen: Pindar gilt bis heute als eine der großen Nummern der Literaturgeschichte.
Auf dem Zahnfleisch im Trainingslager Harte Währung gewannen nur harte Körper. Das Training der Athleten war ein Spießrutenlaufen durch die Höhen und Tiefen des menschlichen Leidensspektrums: Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Schmerz und Erschöpfung. Plastisch beschrieb der Philosoph Epiktet im 1. Jahrhundert nach Christus, welche Mühen es kostete, den Olivenkranz ins Visier zu nehmen: 59
»Du sagst, du möchtest in Olympia gewinnen. Das will ich auch, bei den Göttern. Denn das ist eine schöne Sache. Aber warte. Schau, was das bedeutet. Du musst dich an Anweisungen halten, musst auf Süßigkeiten verzichten, darfst nur zu festgesetzten Zeiten essen, egal, ob bei Hitze oder Kälte. Du darfst kein kaltes Wasser trinken und auch keinen Wein, wann immer du Lust dazu hast. Du musst dich deinem Trainer so wie einem Arzt völlig überlassen. Im Wettkampf dann musst du dem Gegner die Augen ausbohren und umgekehrt. Manchmal wirst du dir das Handgelenk verstauchen, den Fuß vertreten, jede Menge Sand schlucken und Prügel beziehen. Und nach alledem kann es dir noch immer passieren, dass du verlierst.« Wer sich davon nicht abschrecken ließ und es auf eigenen Füßen bis zur Endausscheidung in Elis schaffte, den erwartete eine Tortur für Körper und Geist. Olympia forderte Opfer. Schwielen und aufgeplatzte Blasen an den Händen, Muskelzerrungen und schmerzende Gelenke – das war Alltag beim Krafttraining. Niemand kannte die Geräte aus modernen Fitnessstudios, in die sich der Körper einschmiegt, mit Anti-Blasen-Polstern und Gelsätteln. Die Kraftmeier Olympias griffen zu einfacherem Gerät: der Spitzhacke. Sie war ein Werkzeug mit Tradition. Schon vor 2 000 Jahren sahen Spitzhacken so aus wie heute und wurden auf dieselbe Art benutzt – perfektes Design braucht keine Verbesserungen. Ihr Antrieb waren Muskel- und Willenskraft, die wichtigsten Attribute für Profisportler. Vor den Olympischen Spielen sollen die Athleten täglich zur Spitzhacke gegriffen und damit den Boden beackert haben. Es ist möglich, dass die Kämpfer zwei Fliegen mit einer Klappe schlugen und das Training auf der Großbaustelle eines neuen Königspalastes absolvierten, Steine für neue Tempel in Olympia brachen oder die Felder der elischen Bauern bearbeiteten. Der Urahn der Hantel war vor allem den Boxern so geläufig, dass die Schwerathleten ihm ein Denkmal setzten. Die Spitzhacke wurde zum Symbol der Faustkämpfer und prangte auf Wimpeln, Türen und Trikots. Auch der Sandsack baumelte schon an manchem Übungsplatz. Mit der Art der Füllung passten die Athleten den schwingenden Sparringspartner ihren Erfordernissen an. Sand, Hirse oder Mehl machten den Sack prall und sorgten für eine unterschiedlich harte Schlagfläche und schnelles oder langsames Pendeln. Derlei Geräte aber dienten nur als Ersatz, wenn kein Sportsfreund zur Hand war. Das beste Übungsobjekt war ein Gegner aus Fleisch und Blut. Dann pfiffen die Wettkämpfer auf Körner, Sand und Spitzhacke. 60
Fitnessstudio und Sonnenstudio waren eins. Trainer achteten darauf, dass der Kreislauf der Olympioniken nicht zusammenbrach, wenn die Männer in großer Hitze um die Wette liefen. Doch dieses Trainung war notwendig, denn was nutzte monatelanges Üben, wenn der Läufer am Tag der Entscheidung mitten im Stadion kollabierte? Ein Sportprofi, der es nicht gewohnt war, unter sengender Sonne zur Höchstform aufzulaufen, war zum Scheitern verurteilt. Da half nur Üben bei 40 Grad im Schatten – und Einschmieren. Olivenöl war ein guter Sonnenschutz und muss in den Tagen Olympias in Strömen über die Sportler geflossen sein. Von dem Athener Aglaos wird berichtet, dass er sich nach einem Rennen in die jubelnde Menge stürzte und die Kleider der Zuschauer mit Öl bespritzte. Unter kosmetischen Gesichtspunkten war ein in der Sonne von Öl glänzendes Muskelpaket ebenfalls der letzte Schrei.
Sportler waren Alleskönner. Eine Spezialisierung in einer Sportart lehnten die Griechen ab. Sie meinten, wer seinen Körper in den Dienst immer derselben Übung stellte, sei ein sportlicher Fachidiot und würde seine Muskeln zu einseitig trainieren und sein Gewicht ungleichmäßig verteilen. Als besonders hässlich galt nach dem griechischen Schönheitsideal ein Läufer mit dicken Beinen und schlappen Schultern. Ebenso naserümpfend deuteten die Griechen auf einen Boxer mit Stierschultern und Stelzenbeinen. Die rechte Proportion war das Maß der Dinge. Deshalb liefen auch Boxer im Stadion, deshalb griffen auch Läufer zur Spitzhacke. An überzüchteten Spezialisten hatte niemand Interesse. 61
Irrsinn im Gymnasion Nach Feierabend ins Gymnasion – die Trainingshallen der Antike waren beliebte Treffpunkte in jeder gut ausgestatteten Polis. Der vertraut klingende Begriff ist griechisch. »Gymnazesthai« heißt »mit nacktem Körper Leibesübungen machen«. Dass das Wort heute deutsche Oberschulen bezeichnet, kommt daher, dass im griechischen Gymnasion nicht nur der Körper, sondern auch der Geist philosophisch geschult wurde. Beide Aufgaben hat sich das Gymnasium der Neuzeit auf die Fahnen geschrieben. Aber davon wussten die Olympioniken der Antike noch nichts. Ihr Gymnasion war keine Schule, sondern ein Trainingscamp mit allen Schikanen. Hallensport auf Griechisch: In einem Säulengang mit Dach wurden alle Leistungen der Übenden in den Schatten gestellt. Nur die Hitze blieb draußen, alle anderen kamen. Junge und Alte, Philosophen und Fürsten, Trainer und Talentsucher – in den Gymnasien wimmelten Menschen umher wie auf der Agora. In den Städten der Antike konnte niemand dem Reiz des Gymnasion-Besuchs widerstehen, vorausgesetzt, die Polis konnte sich einen solchen Sportpalast leisten. Im Idealfall war das Gebäude etwa ein Stadion lang – also ungefähr 190 Meter – und mit Start- und Zielschwellen ausgestattet. Damit simulierte das Gymnasion die Wettbewerbsbedingungen eines echten Stadions. Das Gymnasion in Olympia war eines der größten Gebäude des Geländes und so großzügig gebaut, dass darin Speer- und Diskuswerfer trainieren konnten, ohne die Zuschauer zu gefährden. Mit wie viel Prunk das olympische Trainingslager klotzte, zeigte der gewaltige Torbogen vor dem Eingang. Er demonstrierte, dass hier nicht irgendjemand trainierte, sondern die Stars der Olympischen Spiele, die besten Sportler der Welt. Wer nichts warf und nicht lief, ging in die Palaistra. In diesem Teil des Gymnasions übten die Athleten kämpfen und springen. Einem Boxring ähnlich war der Übungsplatz etwa quadratisch, der Boden bestand aus gestampftem Lehm oder Sand, auf den man sich vortrefflich stürzen konnte, ohne dass die Knochen knackten. Um den Platz herum liefen Säulengänge, kühle Wandelhallen, die zwar ein Dach, aber keine Wände hatten. Stattdessen lastete das Dach auf Stützen, durch die der Wind blies, die Klimaanlage war also mit eingebaut. Gewiss war die Hitze nicht der einzige Grund, die Palaistra gut zu lüften: Vom berüchtigten Turnhallenduft mögen schon die Griechen die Nase voll gehabt haben. 62
Trainingslager im Ruhestand: Vom Gymnnasion, dem Übungsplatz Olympias, sind nur noch einige wieder aufgerichtete Säulen erhalten.
Auf dem Sand des Hofes schlug das Herz der Palaistra – und die Sportler aufeinander ein. Wäre es aber nur um einen Platz zum Trainieren gegangen, hätten die Athleten sich auch im Freien treffen können, im Schatten eines Waldes, wo der Boden weich und die Luft kühl genug waren – so jedenfalls war es in den ländlichen Regionen üblich, wo keine Gymnasien standen. Die Palaistra hingegen war mehr als Sand und Schläge. Um ihren harten Kern herum lagen 19 Räume, weiche Kammern des Komforts. Marmorfußböden kühlten heiße Füße, Waschräume strotzten vor Luxus, in ihnen plätscherte das Wasser in verschiedenen Temperaturen. In einem Raum konnten sich die Sportler mit Öl einreiben, um der Sonne und dem Klammergriff des Gegners zu widerstehen. Aus der Tür einer anderen Kammer staubte der Puder, den sich Ringer auf die Schaufelhände stäubten, um dem Ölfilm ihrer Gegner Paroli bieten zu können. Nebenan bearbeiteten Boxer die Sandsäcke und einen Raum weiter lag die Umkleidekabine, wo die Sportler die Hüllen fallen ließen. Wer von alldem genug hatte, traf sich im Gemeinschafts63
raum zu einem Schwätzchen oder, falls er Trainer war, um seinen Schützlingen die Leviten zu lesen. Das Gymnasion war kein Sportkloster, sondern ein exklusiver Klub. An den großen Wettkampforten Olympia, Nemea, Delphi und Korinth waren solche Anlagen öffentlich. In den Städten aber gehörten sie den Reichen. Wer hier zum Boxen oder Ringen gehen wollte, musste Mitglied sein und Beiträge zahlen. Sokrates, der Vater der Philosophie, soll oft in der Palaistra gewesen sein, um erst den Leib zu üben und anschließend in gepflegter Runde über das Leben zu debattieren. Da von Sokrates bekannt ist, dass er Reichtum ablehnte, kann der Eintritt in die Palaistra nicht teuer gewesen sein. Auch Staatsmänner wie der Athener Alkibiades waren in der Palaistra regelmäßig zu Gast. Er mag sich mit seinem Zeitgenossen Sokrates im Sand gewälzt haben, bevor beide anschließend versöhnlich über den Lauf der Welt redeten. Dazu standen in der Palaistra Bänke in den Säulengängen bereit. Dort ließen sich, während die Gäste redeten und Erfrischungen einnahmen, die Kämpfer im Hof beobachten – ein Kaffeehaus mit Showeinlagen. Der Genuss eines Nachmittags in der Palaistra war nicht jedermanns Sache. Davon schreibt der Dichter Lukian, dessen Spott die Zeitgenossen oft erzürnte. Lukian erfand eine Szene im Gymnasion, bei welcher er den Staatsmann Solon aus Athen mit dem Skythen Anacharsis die Athleten beobachten lässt. Die Skythen waren ein wildes Reitervolk aus dem Norden und gehörten für die Griechen zu den Barbaren. Gänzlich kulturlos und tumb können sie aber nicht gewesen sein. Wer dem Gespräch beim Treffen in der Palaistra lauscht, hört die skythische Meinung zum Training eines griechischen Athleten: »Weshalb, Solon, tun dies eure jungen Männer? Die einen umschlingen einander und stellen sich ein Bein, andere wieder packen sich an die Kehle, versuchen sich gegenseitig zu Boden zu werfen und wälzen sich wie Schweine im Kot. Und doch ist ihr erstes Handeln, nachdem sie sich ausgezogen haben – so bemerkte ich –, sich gegenseitig aufs Liebenswürdigste einzuölen und abzureiben; dann, ich weiß nicht, was in sie fährt, rennen sie mit geducktem Kopf aufeinander zu und schmettern ihre Stirnen aneinander wie die Widder. Und sieh, wie der dort den Burschen an den Beinen aufgehoben und zu Boden geworfen hat, sich auf ihn stürzt und nicht mehr emporkommen lässt, ja ihn noch tiefer in den Lehm stößt; er schlingt schließlich beide Beine um dessen Bauch, presst den Ellbogen auf seine 64
Kehle und würgt den Armen, der währenddessen auf des anderen Schulter klopft, das scheint eine Form des Aufgebens zu sein, er bittet wohl darum, nicht zu Tode gewürgt zu werden. Von Schmutz bedeckt und von Schweiß triefend, machen sie mich freilich lachen, wenn sie wie Aale einander aus den Händen schlüpfen.« Die Ansichten des Barbaren verwundern Solon und der Grieche bemüht sich, seinem Gast die offensichtlich rauen Sitten im Gymnasion verständlich zu machen. Doch für Anacharsis nehmen die Merkwürdigkeiten kein Ende: »Und dann gibt es diese dort, ebenfalls mit Sand bedeckt, aber auf den Knien, die mit Schlägen und Tritten aufeinander losgehen. Gewiss sehen wir gleich, wie dieser arme Bursche seine Zähne ausspuckt, sein Mund ist voll mit Blut und Sand, er bekam einen Schlag seines Gegners auf den Kiefer, wie du siehst. Warum macht der Kampfrichter dort dem Treiben kein Ende? Ich denke, dass er ein Kampfrichter ist, weil er den Purpurmantel trägt. Aber nein, er ermutigt die Kämpfenden noch und lobt den, der den Schlag ausgeteilt hat.« Das Fazit des Skythen aus dieser Besichtigung: »Wohin man auch schaut, jeder ist damit beschäftigt, zu springen und die Luft zu treten oder etwas Ähnliches. Jetzt würde ich gern wissen, was das alles soll. Für mich sieht das eher nach Irrsinn aus als nach irgendetwas anderem. Es wird nicht leicht sein, mich davon zu überzeugen, dass Leute, die sich derartig benehmen, nicht verdreht sind im Kopf.« Wer waren die wirklichen Barbaren – Griechen oder Skythen? Archäologen rätseln bis heute, welche Finessen in einem gut ausgestatteten Gymnasion mitsamt Palaistra eingebaut waren. Wie gut, dass Spielereien Spuren hinterlassen. Im Norden der Palaistra von Olympia entdeckten Forscher ein Areal, das mit Marmorfliesen ausgelegt war. Daran wäre nichts Ungewöhnliches, wären die Fliesen nicht kanneliert gewesen, das heißt, Handwerker hatten kleine, schnurgerade Furchen in den Stein gemeißelt, bis ein Band von Rillen den Marmor riffelte. Der mittlere Fliesenstreifen aber war glatt geblieben. Wozu mag dieser Ort gedient haben? Ein zufälliges Bodenmuster schließen die Forscher aus. Zum einen lag der Fund mitten in der antiken Sportanlage, zum anderen machten Archäologen eine ähnliche Entdeckung in Pompeji, jener römischen Stadt in Italien, die bei einem Vulkanausbruch unterging und in der niedergehenden Asche vollständig konserviert wurde. Auch dort müssen die seltsamen Fliesen einem Zweck gedient haben. Auf 65
den Marmorfliesen Pompejis fanden die Forscher ein weiteres Indiz. Zwei große Steinkugeln lagen auf den Rillen – die Überreste einer antiken Bowlingbahn.
Badefreuden im Überfluss Der Luxus für Profisportler kannte keine Grenzen. Als Wohlfühlelement schlechthin galt Wasser. Wer es sich leisten konnte, verbrachte so viel Zeit wie möglich in Bädern. Die größten Thermen bauten erst die Römer unter den Cäsaren, in der Zeit nach Christi Geburt. Diese Baukolosse waren gigantisch. Die Caracalla-Thermen in Rom, benannt nach dem römischen Kaiser Caracalla, waren 400 Meter lang, ebenso breit und boten 1 500 Badegästen Platz. Das war Hallenbad-Rekord, selbst heutige Spaßbäder der Kategorie XXL fassen in der Regel nur 1 000 Besucher. Solche Dimensionen kannten die Griechen noch nicht. Doch schon 800 Jahre vor den Caracalla-Thermen stiegen die Athleten in Olympia ins Becken, ohne dabei einen Gedanken ans Sportschwimmen zu verschwenden. Wer badete, entspannte. In den schönen Waschräumen des Gymnasions wuschen die Athleten sich Schweiß und Blut von der Haut, in den Becken tauchten sie für eine Weile unter. Bis zu den Hüften im angenehm temperierten Wasser planschten und plauschten Athleten mit Ringrichtern. Auf der Treppe, die ins Becken führte, saßen Profisportler einfacher Herkunft mit Königen und Fürsten auf einer Stufe. Kühles Wasser, warmes Wasser, dazu die Gesellschaft einer Männerrunde, die abwechselnd philosophiert und Witze reißt, die zufrieden auf den Treppen döst oder ausgelassen versucht, mitten im Becken eine Menschenpyramide zu errichten – die Wohltaten nahmen kein Ende. Der Höhepunkt des Badetages kam, wenn sich die Türen ins Bad öffneten und Sklaven einen gewaltigen Bronzekessel hereintrugen. In dem Zuber schwappte kochend heißes Wasser. Was geschah, wenn der glühende Kessel in das Kaltwasserbecken gestellt wurde, ist vorstellbar. Es zischte und gurgelte und Dampf stieg auf wie beim Opferfeuer. In null Komma nichts war der Raum mit heißen Schwaden eingenebelt, feuchte Hitze legte sich auf die Haut und nun gab sich selbst der letzte Aktive der Entspannung hin. Im Dampfbad war die Hölle los. Obwohl noch niemand die guten Effekte nachweisen konnte, den ein Besuch dort haben konnte – das Herz-Kreislauf66
System war noch nicht entdeckt –, strömten die Griechen in die Bäder, wann immer sie Gelegenheit hatten. Sie suchten Entspannung. Das Bad glich einer Agora im Wasser. Hier zeigten Männer die Muskeln und die frisch frisierten Haare, hier stellten Redner ihre Kunst unter Beweis, man sah und wurde gesehen. Zwar rief niemand den Preis für Gemüse und Fisch aus, aber auch die ein oder andere Kuh wird verschachert worden sein. Geschäftemacherei kennt keine Grenzen. Die Griechen liebten ihre Dampfbäder. Regelrecht fanatische Wasserratten waren später die Römer, die das technische Prinzip des griechischen Bades übernahmen und zu den berühmten und kolossalen Thermen erweiterten. Um die technischen Grenzen des Luxus zu sprengen, tüftelten die Römer an Möglichkeiten, das Klima im Bad noch angenehmer zu gestalten. Sie erdachten das Hypokaustum. Aus einem einfachen Becken wurde eine Badeanstalt mit doppeltem Boden. Wenn es ums Vergnügen ging, waren die Römer Genies. Beim Bau eines Bades legten sie zunächst einen Unterboden an. Auf diesen stellten sie Pfeiler in Kniehöhe. Die Pfeiler wiederum trugen den eigentlichen Boden der Therme. Somit lag ein Hohlraum zwischen Becken und Erdreich. Nahm das Bad den Betrieb auf, entfachten Sklaven in einem Schürraum ein Feuer, das einen Wasserkessel erhitzte. Nach einer Weile stieg Dampf hervor, der nun durch Leitungen in den unterirdischen Hohlraum geführt wurde. Die Fußbodenheizung war erfunden. Die Griechen in Olympia schwitzten bis ins 1. Jahrhundert vor Christus per Dampfkessel, dann aalten sie sich in einem von Hypokausten erwärmten Bad, das ihnen die Römer beschert hatten. Sanfte Bäder für Grobiane. Vielen Griechen wurde das zu bunt. Sie schimpften auf Luxus und Wellness und warfen den Olympioniken vor, wer sich im warmen Bade wälze, würde als Sportler verweichlichen. Stattdessen forderten die Vertreter der alten Schule, dass sich Athleten mit dem Eiswasser aus den Tiefen der Brunnen waschen sollten, wie es ihre Vorgänger Jahrhunderte zuvor auch getan hatten. Was würde wohl ein heutiger Fußballprofi dazu sagen, wenn ihn sein Masseur statt mit warmem Öl und isotonischem Getränk mit einem Eimer Eiswasser in der Kabine empfangen würde? Wasser hinterlässt keine Spuren. Die Becken Olympias sind heute ausgetrocknet und zerfallen. Archäologen stehen vor den Ruinen und kratzen sich die Köpfe. Zwar sind viele Details der Vergangenheit in den Texten 67
antiker Schriftsteller erhalten, die Lücken aber sind groß. Eines der größten Fragezeichen stellt ein Freiluftbecken in Olympia dar, das 16 Meter breit und 24 Meter lang ist. Stufen führen in das Becken hinein. Wozu hat es gedient? Möglich, dass hier die Badegäste unter freiem Himmel planschten. Aber sowohl die Länge des Beckens als auch seine Tiefe von 1,60 Metern ähneln heutigen Sportbecken so sehr, dass in Olympia ebenso gut Schwimmer um die Wette gekrault sein mögen. Schwimmen aber gehörte nicht zu den olympischen Disziplinen. Hartnäckig hält sich sogar das Gerücht, die Griechen hätten die Kunst des Schwimmens überhaupt nicht gekannt und seien bei Seeschlachten und Schiffsunglücken untergegangen wie bleierne Enten. Das ist jedoch Legende. Bei den Griechen gehörte Schwimmen zur Kultur, wer nicht schwimmen konnte, galt als ungebildet. Nur als Sport scheint das Schwimmen nicht bekannt gewesen zu sein. Ein einziger Schwimmwettkampf ist aus der griechischen Antike überliefert, ansonsten war Schwimmen das reine Vergnügen. Kein Wunder also, dass dem Becken in Olympia die Startblöcke fehlen. Anstrengung gehörte für die Sportler in den Staub des Stadions und den Sand der Palaistra. Wer im Wasser lag, der wollte seine Ruhe.
Der nackte Wahnsinn: Muskelmänner ohne Schurz Oben ohne, unten nichts – wer die Vasenbilder der Antike sieht, könnte meinen, die alten Griechen hätten weder Garderobe noch Anstand besessen. Nackt und bloß laufen Männer um die Wette, hetzen einem Hirschen hinterher und gehen diskutierend mit der Angebeteten spazieren. Wer sich bedeckt, wirft höchstens einen Mantel über die Schultern. Schämten die sich nicht? Sie hatten keinen Grund dazu. Was auf Vasenbildern gezeigt wurde, entsprach nicht der Realität. Verständlich: Warum auch den schnöden Alltag auf teure Töpfe malen lassen? Stattdessen zierten Bilder idealer Körper Becher und Krüge, Schalen und Schöpfeimer. Hausherren zeigten den Gästen stolz das funkelnagelneue Vorratsgefäß, auf dem zu sehen war, wie Herakles den nemeischen Löwen erwürgt – nackt, versteht sich. In den Auslagen der Töpfereien bestaunten Schaufenster-Shopper Götterbilder, Heldentaten, Theaterszenen und Sportgrößen. Tauchten Frauen in diesen Szenen auf, trugen sie in der Regel ein Gewand. Die meisten Männer aber waren nackt gemalt, Krieger 68
durften noch Rüstung tragen, Dichter ein Tuch über die Schulter, aber wenn es um Sportler ging, wollten die Käufer der Tonware alles sehen. Das war nicht immer so. In den frühen Tagen Olympias traten die Athleten in Montur gegeneinander an. Zwar kannte niemand Trikots, aber der Lendenschurz war schick genug und ebenso effektiv wie leicht zu tragen. Sogar Homer spricht in einer Passage seiner Texte davon, dass Sportler einen Schurz trugen. Sokrates, der Philosoph, der selbst gerne in der Palaistra rang, erinnerte sich daran, dass die Sportler aus Kreta und Sparta einmal versuchten, nackt zum Wettlauf anzutreten, und von ihren Konkurrenten ausgelacht wurden. Für eine Weile mag das der letzte Versuch gewesen sein, FKK im Stadion zu praktizieren. Dann kam der Durchbruch der Hüllenlosigkeit. Für den Siegeszug der Nackedeis gab es drei Gründe. Der erste kam aus Athen. Dort war einem Läufer ein Unglück passiert. Beim Rennen im Stadion hatte sich sein Lendenschurz gelöst und war ihm im vollen Lauf auf die Füße gerutscht, sodass er stürzte. Schwerer als seine Blessuren wog die Niederlage Athens in dem Wettkampf, umso mehr, da der Entkleidete vor dem Fall auch noch in Führung gelegen hatte. Hippomenes, zu dieser Zeit Herrscher in Athen, muss sich die Haare gerauft haben. Um eine Wiederholung des Missgeschicks zu verhindern, verordnete er allen Sportlern bei den Spielen in Athen ab sofort Entkleidungszwang. Ein Beispiel, das Schule machte. Eine ähnliche Legende spinnt sich um Orsippos von Megara. Er soll der erste Läufer gewesen sein, der hüllenlos den Stadionlauf in Olympia gewann, in den frühen Tagen der Olympischen Spiele, um 720 vor Christus. Freiwillig zeigte sich Orsippos angeblich nicht in ganzer Schönheit. Mitten im Rennen soll er seinen Lendenschurz verloren haben (allerdings wohl ohne dabei ins Stolpern zu kommen). Das Publikum tobte. Damit setzte Orsippos einen Trend. Bei den nächsten Läufen standen sämtliche Athleten nackt auf der Startschwelle. Der Applaus des Publikums war ihnen ebenso wichtig wie der Sieg. In einer anderen Version der Geschichte über Orsippos verliert der Entblößte das Rennen. Bezeichnenderweise stammt diese Version aus Athen oder Sparta, den damals konkurrierenden Stadtstaaten von Orsippos’ Heimatort Megara. In einer dritten Variante nennt der Erzähler Orsippos zwar einen Sieger, weil er das Rennen gewann hat, aber einen Verlierer, weil er seine Hosen verlor – Wortwitz auf Griechisch. 69
Hosen hin oder her – der Adam des griechischen Sports ist ein Mythos. Der tatsächliche Grund für die Hüllenlosigkeit liegt vielmehr im griechischen Schönheitsideal und den kriegerischen Wurzeln des Sports. Die Griechen schätzten athletische und sonnengebräunte Körper, die eingeölt in der Sonne glänzten. Über einen heutigen Bodybuilder hätten die damaligen Athleten vermutlich den Kopf geschüttelt. Sie verabscheuten hochgezüchtete Muskelpakete, und ergötzten sich an einer gleichmäßig trainierten Statur. Ein Mann musste trotz kräftigen Körperbaus stets leichtfüßig erscheinen, oder er galt als missgestaltet. Der Philosoph Aristoteles warnte davor, jugendlichen Sportlern zu viel zu essen zu geben und sie übermäßig zu trainieren. Er fürchtete, sie würden zu muskulös und lethargisch. Nackt sein durfte, wer schön war. Den Griechen ging es nicht um Freikörperkultur, bei der sich der Mensch für einige Stunden von den Zwängen der Kleidung und des Alltags befreit. Stattdessen wollten sie staunen und sich an den Proportionen eines durchtrainierten Körpers sattsehen. Wer den nicht hatte, war blamiert. Einer, für den Nacktheit eine Strafe gewesen wäre, war Thersites, eine Figur aus Homers Ilias. Thersites gehört zum Lager der Griechen, die Troja belagern. Als er den Heerführer und König Agamemnon beschimpft, weist ihn der Held Odysseus zurecht: »Treff ich noch einmal dich so sinnlos redend wie eben, soll des Odysseus’ Haupt nicht länger stehen auf den Schultern, wenn ich dich dann nicht ergreife, die Kleider vom Leibe dir reiße, Mantel sowohl als Leibrock und was die Scham dir bedeckt hält, und dich selbst, den Weinenden, dann zu den Schiffen, den schnellen, aus der Versammlung jage, geschlagen mit schmählichen Schlägen.« Der bedrohte Thersites scheint nicht darüber erfreut zu sein, dass er nackt vor aller Augen aus dem Lager gejagt werden soll. Einige Forscher deuten diese Szene so, dass Thersites vielleicht entstellt war – bei einem Krieger durchaus üblich – und sein Körper deshalb keinen schönen Anblick bot. Wer sich dann nackt zeigen musste, war bloßgestellt. Ein Riss ging durch die griechische Welt der Schönheit. Alt und jung waren gleichbedeutend mit hässlich und hübsch. Homer und alle griechischen Dichter nach ihm unterschieden zwischen der Anmut der Jugend und dem Ekel, den ein alter Körper in ihnen auslöste. Kein Bildhauer der Antike stellte jemals einen alten Menschen ohne Kleidung dar. Junge und trainierte Athleten hingegen ließen in den Ateliers reihenweise die Hüllen fallen. 70
Jugendwahn allerorten. In der Ilias sagt Hector, der Held der Trojaner, er wolle lieber mit Achilleus, dem Helden der Griechen, kämpfen und jung und schön sterben, als alt und hässlich seine Tage beenden. Von dem griechischen Dichter Tyrtaios sind die Worte überliefert: »Es ist entsetzlich, wenn ein alter Mann vor einem jungen in der Schlacht am Boden liegt: ein alter Krieger, dessen Haupt weiß und dessen Bart grau sind, er haucht seine starke Seele im Staub aus, hält seine blutigen Genitalien mit einer Hand: sein Fleisch ist nackt. In einem jungen Mann aber ist alles schön, solange er die leuchtende Blume lieblicher Jugend besitzt.« Solche Ansichten vertraten Griechen aller Gesellschaftsschichten. Sogar der Philosoph Platon wandte sich angewidert ab, wenn alte Männer im Gymnasion miteinander kämpften. Ihr Fleisch sei schrumpelig, so Platon, und eine Beleidigung fürs Auge.
Der Vater des Sports ist der Krieg. Auf der Laufbahn übten Männer, um wehrtüchtig zu sein. Wer sich schneller bewegte als sein Gegner in der Schlacht, überlebte. Soldaten, die härter zuschlagen konnten, triumphierten über ihre Feinde. Überdies war Krieg eine stete Gefahr, die jederzeit über einen Stadtstaat oder ein Dorf hereinbrechen mochte, sei es in Form von plündernden Banden, sei es in Form eines ausgewachsenen Feldzuges gegen eine andere Polis. Wehrpflicht gab es nicht. Im Ernstfall griffen Töpfer und Schmiede, Schneider und Bauern zu den Waffen. Waren diese Kriegslaien nicht auf den Ernstfall vorbereitet, kam es zur Katastrophe, die Stadt fiel in die Hand des Feindes, wurde geplündert oder sogar angezündet, die eigene Familie verschleppt und in die Sklaverei verkauft. Das Üben des Kampfes mit Schwert, Speer und Schild gehörte deshalb zu den täglichen Pflichten griechischer Männer. Krieger übten sich im Laufen, um so schnell wie möglich den Feind verfolgen, Stellungen wechseln und die Flucht ergreifen zu können. Sie trainierten 71
den Speerwurf, um die Wurfgeschosse so weit wie möglich in die feindlichen Linien zu schleudern. Wozu sie Boxen und Ringen erlernten, ist gut vorstellbar. Sogar das Wagenrennen stand im Schatten des Kriegs, bei dem Streitwagen über das Schlachtfeld sausten und die darauf stehenden Bogenschützen Pfeil um Pfeil in die Schlacht schossen. Sport war Mord. Auf dem Schlachtfeld aber standen keine gepanzerten Recken, sondern nackte Kämpfer. Auf den ältesten Vasenbildern der griechischen Antike, einer Zeit, die wegen ihrer Formen »geometrisch« genannt wird, sind nackte Krieger bei heiligen Handlungen zu sehen. In der Forschung herrscht heute die Meinung vor, dass die alten Griechen in einem nackten Körper etwas Heldenhaftes und Heiliges sahen. In der Praxis sah das so aus, dass die griechischen Krieger ihren Feinden nackt entgegenrannten. Die blanke Haut sorgte für nacktes Entsetzen. Wer waren diese Männer, die ihre Leiber nicht durch Rüstungen schützen mussten? Eine Horde schreiender, heranstürmender Nackter mag auf dem Schlachtfeld viel erschreckender wirken als eine Division in glänzender Rüstung aus Bronze und Leder. Bei einem solchen Schockeffekt werden dem Feind vor dem Kampf die Knie geschlottert haben. Diese Art der psychologischen Kriegsführung ist keine Erfindung der Griechen. Viele Naturvölker rannten bar und bloß auf ihre Feinde zu. Eine Technik, die zum Beispiel die Kelten auf die Spitze trieben. Die Krieger dieses in Mitteleuropa verbreiteten Volks waren übersät mit Tätowierungen. Um ihr Aussehen noch furchtbarer zu gestalten, schmierten sich die Keltenmänner Kalkwasser in die Haare, wo es die Frisur ruinierte und die Haarpracht in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstehen ließ. Mit dem Kalkwasser übergossen sie auch ihre Köper, die anschließend leichengrau aussahen und auf denen jeder Blutspritzer tausendfach furchtbarer gewirkt haben muss – Kosmetik für Krieger. Viel genutzt hat es nicht. Nach einem langen Krieg sind die Kelten von den gut gepanzerten Römern besiegt worden. Selbst die Griechen unterlagen der römischen Militärmaschine. Heute käme niemand mehr auf die Idee, nackt in den Krieg zu ziehen, allein schon deshalb, weil ihn ohne Uniform keine der kämpfenden Seiten als einen der ihren erkennen würde. Die Idee des nackten Streiters verkümmerte in der Geschichte. Nur im griechischen Sport blieb sie erhalten. In Erinnerung an die Kraft des Kriegers hängten die Athleten in den Stadien Olympias, Nemeas oder Korinths den Lendenschurz für immer an den Nagel. 72
Die letzte Etappe Muskelzerrungen und ausgeschlagene Zähne, Würgemale und Erschöpfung – die letzte Trainingswoche in Elis war die Feuertaufe der Olympioniken. Wer hier nicht bewies, dass er in Topform war, den schickten die Kampfrichter heim, ohne ihn jemals den Boden Olympias betreten zu lassen. Alle anderen jubelten. Vorschusslorbeeren gab es für die Ringer. Während alle anderen Sportler in Elis verschiedene Übungen wieder und wieder durchliefen, waren die Ringer schon beim Training mit vollem Einsatz bei der Sache. Das lag in der Natur der Disziplin und wurde entsprechend gewürdigt. Für die übenden Ringer gab es schon vor den olympischen Spielen einen Kranz zu gewinnen. Philostrat begründet das so: »Der schwere Athlet jedoch wird von den Eleern in jener Jahreszeit trainiert, wo die Sonne am meisten den Schlamm im Tieflande Arkadiens sengt, und er muss einen Staub ertragen, heißer als den Wüstensand Äthiopiens, und ausharren vom Mittag angefangen. Und unter diesen mühevollen Übungen ist die anstrengendste das Ringen. Denn der Faustkämpfer wird, wenn seine Zeit im Stadion kommt, Wunden empfangen und austeilen und den Fußstoß gegen das Schienbein anbringen, beim Training aber wird er nur einen Scheinkampf ausführen; und der Pankratiast wird im Ernstkampf alle Formen anwenden, die es beim Pankration gibt, im Training aber einmal diese, einmal jene: das Ringen aber ist das gleiche im Probekampf wie auch im Ernstkampf, denn beide Male bietet es den Beweis, wie viel einer versteht und wie viel er kann, und heißt mit Recht verschlungen; denn Verschlingungen kommen auch beim Ringen im Stand vor. Daher verleihen die Eleer dem besten Training, ja dem Training allein den Kranz.« Anzunehmen, dass schon bei den Proben im Gymnasion von Elis das Publikum vor Begeisterung tobte. Ein letzter Gewaltmarsch lag vor den Athleten, bevor sich die Tore der heiligen Stätte für sie öffneten. Elis und Olympia lagen 58 Kilometer voneinander entfernt. Zwei Tage vor Beginn der Spiele machten sich Sportler und Kampfrichter auf den Weg. In ihrem Kielwasser floss ein Strom von Zuschauern, Trainern und Angehörigen der Athleten. Die Prozession mag ähnlich gewirkt haben wie der Masseneinzug der Sportler bei der Eröffnungsfeier der heutigen Olympischen Spiele. Damals aber trugen die Teilnehmer keine Schilder, auf denen ihre Herkunft nachzulesen war, und auch keine Flaggen, sondern 73
ein Schwein. Das wurde an einer heiligen Quelle geopfert. Anschließend wuschen sich die Kampfrichter im Rahmen einer Zeremonie. Fertig. Olympia empfing seine Kinder.
Laufen Dem Sportsgeist Beine machen
Eigentlich wollten sie nur um die Wette laufen. Die ersten Sportler kamen nach Olympia, um herauszufinden, wer von ihnen der Schnellste war. Das war um 776 vor Christus. Was damals niemand wusste: Mit ihrem Rennen traten die Sprinter eine Sportlawine los. Stadionlauf hieß der erste Wettbewerb in Olympia. Von einem gebauten Stadion war zu dieser Zeit aber noch nichts zu sehen. Die Läufer wetzten um die Wette über die Länge eines Stadions und in offenem Gelände. Start und Ziel? Ganz einfach: Die Kampfrichter zogen eine Linie in den Sand für den Startpunkt, Ziel war der Altar des Zeus, der älteste und heiligste Altar in Olympia. Schon ging es los. Die Zuschauer, denen noch keine Ränge zur Verfügung standen, kletterten auf den Kronoshügel, in grauer Vorzeit von Herakles so getauft, von dessen Kuppe sich die gesamte Anlage überblicken ließ. Heute ragt diese älteste und ursprünglichste Tribüne noch immer über Olympia auf, von Bäumen bewachsen. Wahrscheinlich musste der Hügel in der Antike regelmäßig gerodet werden, damit sich freie Sicht auf das Spektakel bot. Stadionlauf ohne Stadion – das war bis 350 vor Christus Alltag in Olympia. Mehr als 400 Jahre lang begnügten sich die Sportler mit einem schlichten Platz mitten im Gelände. Dann kamen die Baumeister zum Zuge. Sie schütteten Hänge an allen vier Seiten der Laufbahn auf, auf denen die Zuschauer stehen und die Wettkämpfe nun aus nächster Nähe verfolgen konnten. Der Bodenbelag dieser hochmodernen Anlage war eine Wohltat für die Füße, die Läufer bewegten sich auf einer Schicht aus Lehm, die elastisch war und federte. Um Ausrutscher zu vermeiden, war Sand über den Lehm gestreut. Die Läufer selbst traten barfuß an. Der Sportschuh war noch nicht erfunden und die im Alltag gebräuchlichen Stiefel, Schlappen und Sandalen waren komplizierte Schnürschuhe und hatten Sohlen aus Kork, Holz oder Leder – zum Rennen so wenig geeignet wie ein Gummistiefel. 75
Als einziger Hightech-Gegenstand kamen Startschwellen ins Olympiastadion. Wo zu Anfang der Olympischen Geschichte ein Strich im Sand hatte genügen müssen, ließen die Eleer später Blöcke aus Muschelkalk in den Boden ein. In den weißen Stein waren zwei Rillen gemeißelt, die beim Starten halfen. In die hintere stemmten die Läufer die Ferse, in der vorderen krallten sie die Zehen fest, um mit Schwung aus dem Stand zu kommen. In die Knie, wie heutige Läufer beim Tiefstart, gingen die Sprinter der Vergangenheit nicht. Sie liefen los aus dem Stand, die Arme vorgestreckt und einen Fuß leicht vor den anderen gesetzt. In dieser Position warteten sie auf den Augenblick, für den sie fast ein Jahr lang trainiert hatten.
Ohne Startsignal lief gar nichts. Der Startschuss war mangels der Erfindung des Schießpulvers in seiner heutigen Form noch nicht möglich. Aber die Griechen wussten sich zu helfen. Entweder riefen sie einfach »Apite!« (»Los!«) oder sie ließen einen Herold ins Horn stoßen. Bis heute ist unbekannt, ob es eine Kommandofolge gab, die unserem »Auf die Plätze, fertig, los« entsprach und die Athleten auf den Startzeitpunkt vorbereitete, oder ob die Läufer einem einzigen Signalton entgegenfiebern mussten. Einmal auf der Bahn, ging für die Läufer alles ganz schnell. Beim Stadionlauf war Beschleunigung wichtiger als Ausdauer. Die Strecke war kurz, auf den knapp 200 Metern konnten Fehler nicht wettgemacht werden – bei jedem Schritt ging es um die Wurst. Aus den Startschwellen heraus schossen die Athleten über geraden Weg mit ausholenden Armbewegungen. Diese Flügelschlagtechnik sollte den Schwung vergrößern. Das Drama von nur wenigen Pulsschlägen Dauer muss den Läufern alles abverlangt haben. Wie sehr die 76
Argusaugen auf für Schummler: Wer beim Waffenlauf einen Fehlstart hinlegte, bekam den Stock der Kampfrichter zu spüren. Die Szene wurde für Filmaufnahmen im Stadion Olympias nachgestellt.
Nerven flatterten, zeigt die Nachricht, dass die Kurzstreckenläufer sich selbst Aufmunterungen auf der Bahn zuriefen, um ihre eigene Siegeszuversicht zu verbessern. Das muss wie Doping gewirkt haben – auf die Sprinter und auf die Zuschauer. Gerangel auf den Tribünen, Gerangel auf der Laufbahn. Es gab keine Bahnmarkierungen. Jeder lief, wo er Platz fand. Das ließ Raum für fiese Tricks. Unter den Olympioniken galt es als hohe Kunst, den Gegner abzudrängen, ihn zu zwicken, zu stoßen, am Arm zu ziehen oder ihm ein Bein zu stellen, damit er aus dem Rhythmus kam, und zwar heimlich, ohne dass die Kampfrichter davon Wind bekamen. Möglichkeiten boten sich genug. Wo 20 Mann neben-, hinter- und durcheinander liefen, da wird der ein oder andere Moment für kleine Schummeleien günstig gewesen sein. Wer allerdings erwischt wurde, den schlugen die Richter mit dem Stock. Peinlich genau hielten es die Griechen aber nicht mit ihrem heiligen Sport. Schon das Fehlen von Rekorden zeigte, dass Messen und Gemessenwerden unerwünscht war. Das galt auch für die Länge der Laufbahn. Die war in Olympia 192,24 Meter lang, in Delphi nur 177,35 Meter, in Epidauros 181,30 Meter, 77
in Athen 184,30 Meter und in Priene 191,39 Meter. An allen Orten aber hieß der Wettbewerb gleich: Stadionlauf, also Spurt über die Länge eines Stadions. Niemand kam auf die Idee, nachzumessen. Warum auch? Alle Läufer mussten denselben Weg zurücklegen. Da machten zwei Schritte mehr oder weniger den Kohl nicht fett. Das wurde erst anders, als der Doppellauf kam. 13 Spiele lang war der Stadionlauf die einzige Disziplin in Olympia gewesen. Dann bekamen die Läufer eine Wendemarke. Von nun an ging es rund: Zunächst hasteten die Athleten die Bahn in die eine Richtung, dann drehten sie um und liefen die Strecke zurück. Hört sich einfach an, aber die Wende sorgte für Kopf- und Fußzerbrechen. Wie lässt man 20 Männer in vollem Lauf umkehren, ohne dass es zu Rempeleien kommt? Zunächst versuchten es die Olympioniken mit einfachem Abstoßen auf der Zielschwelle. Aber das funktionierte nicht, weil die Läufer keinen Punkt ansteuern konnten und damit Gefahr liefen, im Knäuel zu wenden – Stürze und Flüche inbegriffen. Nach einigen Versuchen schaffte ein Pfosten Abhilfe, um den die Läufer herumlaufen mussten. Das aber war ungerecht, da die Sprinter auf der Außenbahn im Nachteil waren: Sie mussten den Pfosten erst anlaufen, während die anderen direkt auf die Wendemarke zusteuerten. Schließlich bekam jeder Läufer seinen eigenen Pfosten, um den er herumlaufen konnte. Damit war auch das Problem des Gerangels an der Wendemarke behoben. Der Doppellauf war schon kurz nach der Premiere beliebt, aber dem Stadionlauf konnte er nicht den Rang ablaufen. Die graue Eminenz unter den Sportarten behielt einen Ehrenplatz in Olympia: Nach dem Namen des Siegers im Stadionlauf tauften die Griechen die jeweiligen Olympischen Spiele. Was heute etwa die »XXXVIII. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit in Athen« heißt, nannten die Fans in der Antike »Spiele des Leonidas von Rhodos«. Heute wäre der Namenspatron der Spiele von 2004 Shawn Crawford, ein US-Läufer, der Gold über die 200-m-Strecke gewann – jene Disziplin, die das Erbe des Stadionlaufs angetreten hat. Olympia lief und lief. Die Sprints waren so spannend, dass offenbar niemand an andere Sportarten dachte. Laufen war eine Zugnummer. Da lag es auf der Hand, dass weitere Sportarten mit Beinarbeit hinzukamen. Bei den 15. Olympischen Spielen stellten die Griechen den Langlauf vor. Dolichos hieß der und ging über rund 4 000 Meter. Nun mussten die Läufer Puste haben: 20 Mal mussten sie die Länge des Stadions ablaufen. Wer beim Lang78
streckenlauf an der Spitze des Feldes mithalten wollte, brauchte mehr als viel Kraft über kurze Distanz. Die Läufer entwickelten eine neue Technik. Statt sich mit weit ausholenden Armschwüngen nach vorne zu werfen, winkelten sie die Ellbogen an und legten die Arme an den Rumpf. Mit den Beinen machten sie kleinere Schritte als beim Stadionlauf, um Energie für die letzten Meter zu sparen. Kam das Ziel ins Sichtfeld, war es vorbei mit aller Selbstbeherrschung. Nun explodierten die bislang gesittet einhereilenden Athleten zu Kraftbündeln, öffneten alle Schleusen und rannten, rannten, rannten. Viele Sieger sollen am Ende der Strecke zusammengebrochen sein. Der Langstreckenlauf dauerte eine Weile. Den Zuschauern konnte es Recht sein. Da blieb den Anreisenden genug Zeit, das Zelt aufzubauen, die Kochstelle in Gang zu setzen und den Campingnachbarn zu begrüßen. Ab und an wandelten die Fans zum Stadion – Eintrittskarten gab es nicht – und prüften den Fortgang des Langstreckenlaufs. Drohte der Wettkampf dramatisch zu werden, blieben die Zuschauer und fieberten dem Finale entgegen. Machten die Läufer allerdings noch keinerlei Anstalten, ihre Kraftreserven zu mobilisieren, genügte es dem Publikum, das Feld zu taxieren, um dann wieder abzudrehen und sich der Suppe im Zeltlager zu widmen, die gerührt, gewürzt und gekostet werden wollte. Langstreckenläufe waren eine Wohltat für die einen und eine Strapaze für die anderen. Mit dem Marathonlauf hatte der Dolichos noch nichts gemein. Der ließ noch einige Jahrtausende auf sich warten und erblickte erst 1896 das Licht der olympischen Welt. Aber die Fantasie der Griechen war reich genug, um Laufspiele ganz anderen Kalibers zu erfinden. Zu den aus heutiger Sicht größten Merkwürdigkeiten gehört der Waffenlauf. Auf die Plätze, fertig, los! Beim Startsignal flogen die Läufer für gewöhnlich aus der Startschwelle und setzten leichtfüßig über den Sand, so schnell, dass in den Lobgesängen auf die Sprinter der fliegende Vogel und das galoppierende Pferd als Vergleiche herhalten mussten. Die Waffenläufer hingegen ähnelten Bären. Sie waren schwer behangen mit Rüstung und Schild und mussten nicht nur mit einem Zentnergewicht am Leib so schnell wie möglich rennen, sondern auch noch alle Rüstungsteile durchs Ziel bringen. Das hört sich leicht an, war aber eine schwergewichtige Angelegenheit. Zunächst: der Helm. Er war aus Bronze oder Eisen, innen mit Leder gefüttert und wog bis zu 2 Kilogramm. Die Kriegshelme der Griechen schützten den gesamten Kopf und ließen nur die Augen und Mundpartie frei. Was im 79
Kampf von Vorteil war, war beim Wettrennen in großer Hitze eine Strapaze. Unter der Metallglocke wurde so mancher Athlet zum Hitzkopf. Weiter unten: die Beinschienen. Wie Schienbeinschützer beim Fußball lagen diese beiden Rüstungsteile an den Unterschenkeln der Athleten. Auch sie waren aus Metall und beschwerten die Beine der Läufer mit über einem Kilogramm Eisen. Das war die reine Schikane und eine Herausforderung an die Wadenmuskeln. Heute gilt ein Sportschuh mit mehr als 300 Gramm Gewicht bereits als Klotz am Bein. Zu guter Letzt: der Schild. Er war rund und groß und schwer und kam vom Kriegsschauplatz auf das Sportfeld. Sechs bis acht Kilogramm wollten da an einer Hand in die Höhe gehalten werden – durchaus vorstellbar, wenn man von ein paar Minuten ausgeht. Eine Schlacht aber dauerte bisweilen Stunden oder Tage und das Sinkenlassen des Schilds kam einem Todesurteil gleich. Beim Waffenlauf behinderte der Schild überdies durch seine Größe: Hinter griechischen Kriegsschilden konnte sich ein hockender Mann vollständig verbergen. Mit einem solchen Ungetüm zu gehen erforderte bereits Kraft, einen Sprint mit Schild hinzulegen war eine Meisterleistung. Helm, Beinschienen und Schild bildeten das Turntrikot der Waffenläufer. Waffen im eigentlichen Sinn trugen die Läufer nicht. Lanze und Schwert hatten auf dem Sportplatz nichts zu suchen. Die Verletzungsgefahr war zu groß. Mit voller Rüstung und Bewaffnung liefen die Krieger nur bei Übungen, dem sogenannten Geländelauf, einer Zumutung für Soldaten. In voller Ausrüstung von 20, bisweilen sogar 30 Kilogramm Gewicht mussten die Krieger 60 Stadien rennen, das entsprach einer Distanz von etwa 12 Kilometern – mehr als heute ein Leichtbekleideter gemächlich zu Fuß gehen würde.
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Im Stadion war die Strecke kürzer. Die Waffenläufer machten es wie die Doppelläufer: einmal hin, einmal zurück. Das Spektakel kannte keinen Vergleich. 25 mit Metall behangene Recken rannten um die Wette. Es schepperte wie auf dem Schrottplatz. Die Läufer rempelten gegeneinander, teils absichtlich, um den Gegner stürzen zu lassen, teils versehentlich, weil die Kante des Schildes sich mit der des Nebenmanns verhakt hatte. Da riss es dem einen oder anderen Unglücklichen den Schild aus der Hand, er musste sich erst bücken und das Riesenutensil aufheben, bevor er weiterlaufen konnte, mittlerweile hoffnungslos vom Feld abgeschlagen. Solche Szenen sind auf vielen antiken Vasenbildern festgehalten. Dem heutigen Betrachter zeigen sie nicht nur, wie es beim Waffenlauf zuging, sondern auch, dass schon die damaligen Sportfans einen Sinn für Schadenfreude hatten. Der Preis für solche Mühen waren Ruhm und Reichtum. Manchmal spielte auch die Liebe eine Rolle. Einen Waffenlauf mit romantischem Hintergrund schildert der Schriftsteller Heliodor in seinem Roman Aithiopika: Bei den pythischen Spielen in Delphi ist das Stadion bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Mann tritt vor, Ormenus der Arkadier, er ist ein legendärer Läufer, und
Wie am Schnürchen Laufen ist die ursprünglichste Sportart der Menschheit. Auch in Olympia kamen zu Beginn nur Sprinter zum Wettlauf zusammen. Boxen oder Pankration waren eher Wettkämpfe für den Dorfplatz. Im Heiligtum wollten die Götter nur edle Läufer sehen. Wenn es um Leistung ging, war das Laufen auch in vielen anderen Ländern und Kulturen die Königsdisziplin. Unumstrittene Prinzen der Beinarbeit sind die Tarahumara, eine Gruppe von Menschen, die im Norden Mexikos leben. Die Tarahumara nennen sich selbst »Die, die schnell rennen« – und das zu Recht. Bei ihrem traditionellen Wettlauf müssen die Teilnehmer mehr als 150 Kilometer zurücklegen; die längste olympische Strecke ist heute 42 Kilometer lang. Wer bei den Tarahumara läuft, ist 36 Stunden unterwegs. Pausen gibt es nicht. Um die Sache noch zu erschweren, bilden die Läufer Teams, die unterwegs einen kleinen Holzball vor sich hertreiben müssen oder die, beim Lauf der Frauen, Weidenkränze mit einem Stock vor sich herschleudern. Das Laufen der Tarahumara ist zu einem Teil Sport, zu einem Teil Religion
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ruft nach einem Gegner für den Waffenlauf. Zunächst wagt niemand die Herausforderung anzunehmen. Dann erhebt sich der Athlet Theagenes. Er kann nicht anders. Theagenes ist verliebt. Sein Schwarm ist Chariklea, die Priesterin der Artemis. Eigentlich wollte Theagenes dem Waffenlauf nur zusehen. Aber dann betritt unerwartet Chariklea das Stadion. Sie ist die Kampfrichterin des Waffenlaufs. Ein Sieg in voller Rüstung, dazu den Palmzweig aus der Hand der Angebeteten – Theagenes wittert seine Chance. Als der Herausforderer nach einem Gegner ruft, sagt Theagenes zu seinem Vater: »Der Ruf gilt mir.« Der Vater ist entsetzt, aber Theagenes beharrt auf seiner Meinung: »In meiner Gegenwart und vor meinen Augen soll kein anderer den Siegespreis aus den Händen Charikleas empfangen.« Ruhig versucht der Vater auf den hitzköpfigen Sohn einzureden. Er ermahnt ihn, an die Schmach zu denken, die er auf sich lädt, wenn er verliert. Theagenes aber ist die Zuversicht in Person: »Und wer könnte denn eine so rasende Begierde haben, Chariklea zu sehn und ihr zu nahen, um mich zu überlaufen? Wen kann ihr Anblick so beflügeln und so emporreißen?« Der Vater muss sich geschlagen geben. Theagenes geht an den Start.
und zu einem Teil Lebensgefühl. Schon, um ihr Tagwerk zu verrichten, gehen die Tarahumara nicht, sie laufen. Wie sie selbst meinen, erhalten sie sich durch ständiges Laufen nicht nur die Fähigkeit, Höchstleistungen zu vollbringen, vielmehr sei permanente körperliche Leistung auch die Ursache dafür, dass die Tarahumara keine Erschöpfung kennen, keine Krankheiten und keine Kriminalität. Einem Mythos zufolge hört ein Tarahumara erst dann auf zu laufen, wenn er glaubt, die Zeit des Sterbens sei gekommen. Dann verlässt er sein Dorf, setzt sich an einen Baum, atmet flach und stirbt binnen eines Tages und einer Nacht. Was passiert, wenn solche Naturtalente auf den Hochleistungssport der westlichen Welt treffen? 1993 war es so weit. Der Tarahumara Victoriano Churro brach durch die Schallmauer der Laufgeschichte. In den USA trat Churro beim 100-Meilen-Rennen von Leadville im US-Bundesstaat Arizona an. Er war bereits 55 Jahre alt, ein Alter, in dem Profisportler heute nur noch als Berater und Manager auftreten. An den Füßen trug Churro selbstgemachte Schuhe, die er sich aus alten Autoreifen zusammengeflickt hatte. Er gewann das Rennen. Den zweiten Platz belegte mit Cerrildo Chacarito, ein Landsmann Churros. Erst 52 Minuten später kam der erste US-Läufer ins Ziel.
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Als sein Name ausgerufen wird, wird Chariklea am anderen Ende der Laufbahn unruhig. Heliodor beschreibt die Szene packend: »Auch Chariklea geriet in die außerordentlichste Bewegung, und da ich sie aus der Ferne beobachtete, bemerkte ich einen mannigfaltigen Wechsel in ihren Mienen. Als der Herold die Wettrennen ankündigte und die Schranken geöffnet wurden, und der Wettlauf mit solcher Raschheit begann, dass er sich fast den Augen entzog, da vermochte das Mädchen nicht mehr, Ruhe zu halten, sondern ihre Beine zuckten, ihre Füße hüpften, nicht anders, als ob ihre Seele sich mit Theagenes erhöhe, und den Eifer des Wettlaufs mit ihm teilte.« Angespornt vom Verlangen nach der schönen Priesterin ist Theagenes nicht einzuholen. Er wirft noch einen Blick auf den zurückbleibenden Konkurrenten, dann zieht er davon »wie ein Pfeil nach dem Ziele«, schreibt Heliodor. Theagenes gewinnt mit sattem Vorsprung: »Dann lief er zu Chariklea und warf sich ihr absichtlich an die Brust, als ob er sich im Schwung des Laufes nicht aufhalten könnte, und indem er den Palmzweig empfing blieb mir nicht unbemerkt, dass er die Hand des Mädchens küsste.« Liebe verleiht Flügel. Waffenlauf, Doppellauf, Langstreckenlauf, Stadionlauf – alle Laufspiele in Olympia fanden an einem einzigen Tag statt. Athleten, die bei den vier Wettbewerben antreten wollten, mussten entsprechend fit sein. Einigen gelang das Unvorstellbare, der Sieg in allen Disziplinen an einem Tag. Der schnellste Läufer in der über eintausendjährigen Geschichte Olympias war Leonidas von Rhodos. Zwischen 164 und 152 vor Christus gewann Leonidas bei sämtlichen Olympischen Spielen sämtliche Laufwettbewerbe – und das, wie die auf ihn gedichteten Lobpreisungen betonen, »mit göttlicher Schnelligkeit«. Zwölf Jahre lang war Leonidas in Topform, zwölf Olivenkränze hingen bei ihm zu Hause an der Wand. Kein Wunder, dass seine Landsleute ihn wie einen Gott verehrten. Sie errichteten Statuen zu seinen Ehren und nannten ihre Kinder nach dem Ausnahmeathleten. Bis heute gelang es niemandem, die Leistung des Leonidas in den Schatten zu stellen.
Fünfkampf Für eine Handvoll Finger
Werfen, Schleudern, Springen, Laufen, Ringen – die Verwandschaft des Sports bei den Griechen mit dem Überlebenstraining eines Kriegers zeigt sich am deutlichsten beim Fünfkampf. 708 vor Christus war es mit der Alleinherrschaft der Laufdisziplinen vorbei: Die Wettrennen in Olympia bekamen einen Bruder mit fünf Köpfen an die Seite gestellt. Wer sich als Fünfkämpfer versuchen wollte, musste den Diskus werfen, den Speer schleudern, ein Stadion laufen, so weit wie möglich springen und einen Gegner zu Boden ringen, alles an einem Tag. Die Disziplinen waren hart, ihre Meister kaum berühmt. Heute tragen Mehrkämpfer Titel wie »König der Sportler«, im antiken Olympia hingegen galt der Fünfkampf als Orchideen fach für Sonderlinge. Den Griechen waren Werfen und Springen zu fad. Sie fanden es öde, dabei zuzusehen, wie jemand versuchte, weiter zu werfen oder weiter zu springen als jemand, der es vor ihm versucht hatte. Es war wie mit den Rekorden: Wer gegen Zahlen kämpfte, galt als Langweiler. Für echte Sportfans zählte nur der Sieg des Augenblicks und das Messen mit dem Gegner im Ring oder auf der Laufbahn. Irgendwann im 8. Jahrhundert vor Christus aber hatte ein cleverer Eleer eine Idee: Warum nicht unbeliebte Sportarten mit echten Hinguckern vermischen? Ringen und Laufen waren die Knüller bei jedem lokalen Sportfest. Rasch war das Programm gestrickt. Die lange geschmähten Diskuswerfer, Speerwerfer und Weitspringer bekamen ein Zuhause. In der griechischen Mythologie liest sich die Erfindung des Fünfkampfs etwas fantasievoller: Demnach gilt Peleus als Erfinder des Fünfkampfes, der Vater des Superkämpfers Achilles und selbst ein Held auf allen Schlachtfeldern. Peleus war Teil einer Mannschaft, die sich Argonauten nannte und deren Aufgabe es war, das Goldene Vlies, ein Schafsfell mit Zauberkräften, zu finden. Ähnlich84
keiten mit der Sage von König Artus und seinen Rittern der Tafelrunde, die den Heiligen Gral suchen, sind nicht zufällig. Eines ihrer Abenteuer führt die Argonauten auf die Insel Lemnos. Dort stoßen sie auf eine Stadt ohne Männer. Die Frauen haben ihre Gatten erschlagen, weil diese von einem Kriegszug mit Frauen aus Thrakien heimgekehrt waren. Davon aber bemerken die Argonauten nichts. Sie genießen die Gastfreundschaft der Inselbewohnerinnen und vertrödeln ein wenig die Zeit, bis schließlich Herakles, einer der Helden, auf den Tisch haut und meint, das Goldene Vlies käme schließlich nicht von allein zu ihnen. Schweren Herzens verabschieden sich die Männer von der Insel der Wonnen. Während ihres Aufenthalts finden die Argonauten noch genügend Zeit, um sich in den fünf Wettkampfdisziplinen zu messen. Diese Sage ist ein sporthistorisches Juwel. Einerseits sind die Argonauten auf Lemnos die ersten, die sich nachweislich im Fünfkampf üben. Andererseits ist sie die einzige heute bekannte Schilderung eines Fünfkampfs in der Antike. Tatsächlich scheint der Pentathlon – so der griechische Name des Fünfkampfes – nicht zu den Knallbonbons antiker Sportfeste gezählt zu haben. Beliebt oder nicht – auf den Sieger im Fünfkampf warteten ebenso hoher Ruhm und, in späterer Zeit, ein ebenso hohes Preisgeld wie auf die Läufer. Sogar Verlierer sollen ihren Ruhmesschimmer abbekommen haben, wenn man dem römischen Dichter Lucilius glaubt, der für seine Witze bekannt war. In einem seiner Verse nimmt er den Fünfkampf aufs Korn: »Keiner unter meinen Gegnern im Ringen fiel schneller als ich, und keiner durchlief das Stadion annähernd so langsam. Den Diskus fasste ich gar nicht erst an, und niemals hatte ich die Kraft, beim Springen die Füße in die Höhe zu bringen. Ein Krüppel warf den Speer weiter. Nach den fünf Kämpfen aber rief der Herold, ich sei der Erste – der fünffach besiegt [sei].« Die Gangart war hart. Gegen einen Fünfkämpfer wirkte ein leichtfüßiger Läufer wie ein Balletttänzer gegen einen Sumoringer. Kein Wunder also, dass in Olympia nur ein einziges Mal Jugendliche zum Fünfkampf antraten. 628 vor Christus fand dieses Experiment statt. Angeblich hätte ein Junge aus Sparta haushoch gewonnen, weil in diesem Stadtstaat bereits die Kinder hart trainierten. Glaubt man dem griechischen Schriftsteller Pausanias, soll der Mini-Fünfkampf aber abgesagt worden sein, weil die Jugendlichen anderer Herkunft gegen die Spartaner keine Chance hatten. Wahrscheinlich lag es jedoch an der großen Anstrengung. Fünfkampf geht auf die Knochen. Die 85
Muskelmännchen hielten der Belastung nicht stand und brachen reihenweise zusammen, die Disziplin verschwand für immer aus dem Programm. Ausgewachsene Athleten aber machten weiter.
Diskuswerfen – schmissige Frisbees aus Marmor und Blei »Phlegyas von Pisa beginnt den Wettkampf. Als die Zuschauer seinen Körper sehen, zieht er alle Blicke auf sich, so vielsprechend steht er da. Zunächst raut er den Diskus und seine Hand mit Erde auf, dann schüttelt er den Sand ab und dreht den Diskus kunstvoll hin und her, um zu sehen, welche Seite sich von seinen Fingern am besten greifen lässt oder sich der Mitte seines Arms besser anpasst. Er hatte diesen Sport immer geliebt und pflegte den Diskus dort über den Alpheios zu werfen, wo er am breitesten war. Stets überwand er den Fluss, und niemals fiel der Diskus ins Wasser.« So beschreibt der römische Dichter Statius, was er bei einem Diskuswurf in Olympia beobachtet hatte. »Diskos« heißt flache Scheibe. Das Wort verrät die Herkunft der Sportart. Flache Steine sollen die Griechen auf die Idee des Diskuswurfes gebracht haben. Einige Sportforscher meinen, die Hellenen hätten eine Vorliebe dafür gehabt, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen, und zwar mehr als andere Völker. Deshalb sei der Diskuswurf auch in Griechenland entstanden. Aber das ist falsch. Steine übers Wasser zu werfen ist international und zeitlos. Kinder und Erwachsene, Antike und Neuzeit, Griechenland und Peru – der Faszination der springenden Kiesel kann sich niemand entziehen. Die ersten überlieferten Diskuswürfe stammen auch gar nicht aus Griechenland, sondern aus Zypern. Dort konnte sich das Wettwerfen allerdings nicht durchsetzen. Erfinder oder nicht: In der Antike waren die Griechen die berühmtesten Diskuswerfer der Welt. Der erste Diskus war nicht richtig rund und hieß Solos. Vor den Mauern Trojas kam dieses Gerät zum Einsatz, als die Griechen zu Ehren des gefallenen Helden Patroklos miteinander bei Leichenspielen rangen. Dabei warfen sie mit Eisenbarren um sich. Was Homer da in der Ilias beschreibt, hat allerdings nichts mit dem heutigen Begriff eines Barrens gemein. Statt fliegender Metallblöcke schwirrten flache Scheiben durch die trojanische Luft. Die entstanden so: Eisen war Gold wert. Gerade erst erfunden, löste das 86
Schwermetall die bis dahin übliche Bronze ab. Eisen war härter und ließ sich zu Waffen schmieden, die nicht so schnell verbogen. Überdies war es billiger. Nur der Transport bereitete Kopfzerbrechen und Muskelbeschwerden, denn es war schwerer als Bronze. Wenn das Vermögen schon schwer wog, sollte es wenigstens handlich sein. Deshalb gossen die Schmiede das Eisen in Formen, die tragbar waren, in Kugeln, Griffe, Scheiben. Eine dieser Formen war der Solos. Er passte nicht nur in jeden Beutel, sondern hatte zudem hervorragende Flugeigenschaften. Die ersten Diskuswerfer warfen mit Geld nur so um sich. Sportler und Händler fanden heraus: Je flacher das Eisen, desto besser. Als Sportgerät ließ es sich weiter werfen, als Geldmittel besser stapeln. Den Schmieden war es recht. Eisen konnte geschmolzen und in jede gewünschte Form gegossen werden, eine Eigenschaft, durch die das Metall bis heute weltweit wichtig ist. Die Eisenbahn weist sogar in ihrem Namen noch immer stolz darauf hin, wem sie ihre Form verdankt. Solche Kolosse konnte in der Antike noch niemand gießen, vernieten und verschrauben. Trotzdem waren die Schmiede der Griechen mit ihren bescheidenen Mitteln erfinderisch. Sie formten eine flache Mulde im Sand und ließen das geschmolzene Eisen hineinfließen. War das Metall ausgekühlt, ließ es sich aus dem Boden heben. Eine Seite war flach, die andere leicht gewölbt. Noch ein wenig Feinschliff mit Quarzsand und Wasser – fertig war der Diskus. Ein heißes Eisen: Hakenkreuze. Archäologen fanden auf einigen Wurfscheiben jenes Symbol eingeritzt, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Sinnbild des deutschen Faschismus gilt. Auch die Griechen kannten das Hakenkreuz bereits, aber sie ahnten noch nichts von seinem späteren Missbrauch durch den Nationalsozialismus. Für sie war das Hakenkreuz das Zeichen der Sonne. Wie der Stern täglich rund und hell von Osten nach Westen über den Himmel lief, verglichen ihn die Menschen der Antike gern mit einem Wagen. Das mochte ein ganzes Gespann sein, in dem der Sonnengott Helios stand und die Pferde lenkte. Sparsamer war das Bild des Rades. Wer ein Speichenrad zeichnet und seine Form ein wenig reduziert, der kommt rasch auf das Hakenkreuz. Für die Griechen war es das Sinnbild der Sonne. Sie gravierten es auf den Diskus, der mit seiner runden Form ebenfalls an das Gestirn erinnerte. Damit mögen die Sportler versucht haben, der Scheibe Zauber- und Fliehkraft zu verleihen. Noch heute schmücken Drachenlenker ihre Windvögel mit Adler- und Drachenbildern, um die Flugeigenschaften von Raubvö87
geln und Fabelwesen auf ihr Spielzeug zu übertragen. Die Diskuswerfer der Antike hätten diese Idee verstanden. Bald gehörten die ersten Disken zum alten Eisen. Für die Wettkämpfe eignete sich Marmor oder Blei besser. Auch die Bronze kam noch einmal zu Ehren und fand in Diskusform Eingang in den Leistungssport. Leichter waren diese Materialien nicht. Bis zu 6 Kilogramm wollten geschleudert sein. Das wäre für heutige Diskuswerfer eine Herausforderung. Selbst die leichteste Wurfscheibe, die aus der Antike bekannt ist, ist noch 1 Pfund schwerer als heutige Disken, die höchstens 2 Kilogramm wiegen, und bei denen nur noch der Kern aus Metall ist, der Rest jedoch aus Holz. Was geschähe, wenn ein moderner Diskuswerfer gegen einen aus dem antiken Olympia anträte? Abgesehen von der Kleiderordnung – der antike Olympionike erschiene nackt – wäre die unterschiedliche Größe der Disken auffällig. Der Zeitgenosse ginge mit einer 22 Zentimeter großen Scheibe an den Start, der Diskus seines antiken Kollegen wäre 10 Zentimeter größer. Wer würde gewinnen? Eine einzige Wurfweite der Vergangenheit ist überliefert. Ein Athlet namens Phaullos soll den Diskus 30 Meter weit geschleudert haben. Diese Leistung war so außergewöhnlich, dass die Zahl in dem Ehrengedicht des Siegers erwähnt werden durfte. Für die griechischen Rekordverächter eine Besonderheit. Und heute? Die derzeitigen Bestmarken liegen jenseits der 70-Meter-Grenze. Mit 30 Metern Wurfweite gewinnt ein moderner Diskuswerfer keinen Blumentopf und erst recht keinen Olivenzweig. Große Augen hätten beide Athleten aus Altertum und Neuzeit gemacht, wenn sie die jeweilige Wurftechnik des Gegners gesehen hätten. Der Diskuswerfer von heute macht sich die Physik zunutze. Hinter seiner nur Sekunden dauernden Bewegung verbirgt sich ein perfektes System aus Bein- und Armbewegungen: Das linke Bein beginnt auf dem Fußballen in Wurfrichtung zu drehen. Steht das linke Bein in einem Winkel von 120 Grad zur Wurfrichtung, drückt sich das rechte Bein vom Boden ab. Das rechte Bein ist leicht gebeugt, der rechte Fuß bewegt sich in Richtung des vorderen Kreisrandes, der linke Fuß hebt vom Boden ab. Der rechte Fuß setzt in Kreismitte auf, das linke Bein wird nach vorne gebracht – die Schulterachse bewegt sich parallel zum Erdboden –, rechte Hüfte und Schulter schießen nach vorn, beide Beine strecken sich und der Arm wirft den Diskus in Schulterhöhe ab. Diese noch leicht vereinfachte Beschreibung des Zusammenspiels der Gliedmaßen wirkt 88
komplizierter als ein barocker Schreittanz. Wie viel einfacher hatten es die alten Griechen. Sie tanzten tatsächlich. Sport war mehr als Körperkult und Kriegshandwerk. Sport war Kunst. Schon die Sieger-Oden des Pindar mit ihren Chören und Tänzen wären ohne Sport undenkbar gewesen. Die Athleten ließen sich aber nicht nur besingen, sondern auch selbst von der Muse küssen. Beim Diskuswurf der Antike war es üblich, in den Wurf hineinzutanzen, um schließlich, als finaler Schritt einer Choreografie, die Scheibe gen Himmel zu schießen. Hier käme jeder moderne Werfer ins Schleudern.
Speerwerfen – der große Wurf mit weichem Holz Jäger, Krieger, Sportler – den Speer weit und genau werfen zu können war eine Kunst, die viele beherrschen mussten. War die Technik beim Diskuswurf in der Antike noch anders als heute, würden sich die Speerwerfer über die Jahrhunderte hervorragend verstanden haben. Der Sport mit der Holzstange hat zeitlose Gesetze. Bewegungsablauf und die Form des Speeres – was schon in der Antike funktionierte, hat sich bis heute erhalten. Zwar waren die antiken Speere mit etwa zwei Metern Länge geringfügig kürzer als jene der Neuzeit, aber die Ergebnisse waren beachtlich. 90 Meter weit sollen die alten Griechen geworfen haben. Heute liegt der Weltrekord der Männer bei 98,48 Metern, Frauen haben 71,70 Meter erreicht. Bei den Sommerspielen in Athen 2004 hätten sich die Speerwerfer des alten Olympia sehen lassen können. Speere waren aus Holz und deshalb günstig. Bäume gab es in Hülle und Fülle. Wer heute durch Griechenland fährt, wundert sich über die waldarme Landschaft. In den Tagen des alten Olympia sah es auf dem Peloponnes noch anders aus. Die Bergrücken waren dicht bewaldet, die Täler mit Hainen übersäht. Erst im Lauf der Jahrhunderte änderte sich das. Kahlschlag durch Flottenbau: Weil die Griechen viele Schiffe brauchten, um gegen die Seemacht der Perser bestehen zu können, fiel der griechische Wald der Axt zum Opfer. Bis heute sind die Narben aus dieser Zeit nicht verheilt. Ähnliches geschah in Italien, dessen Urwälder in römische Kriegsschiffe verwandelt wurden. Aber davon ahnten die Speerwerfer in Olympia noch nichts. Ohne schlechtes Gewissen fällten sie Kirsche und Holunder, jene Hölzer, aus denen sich die 89
besten Wurfspeere schnitzen ließen. Das berichtet jedenfalls der griechische Schreiber Xenophon. Der musste es wissen. Er war persönlich mit einem Heer nach Persien unterwegs und erlebte den Krieg und seine Waffen hautnah. Bei dem Feldzug bewies Xenophon, dass auch Geschichtsschreiber Führungsqualitäten haben. Als Kyros, der Anführer des Zuges, starb, übernahm Xenophon die Leitung und dirigierte 10 000 Soldaten durch feindliches Gebiet, das heutige Armenien. Nach vielen Abenteuern erreichten die Verlorenen die Küste des Schwarzen Meeres und von dort Griechenland. Xenophon setzte sich selbst ein Denkmal und schrieb die Erlebnisse in seinem Werk Anabasis – der Zug der Zehntausend auf. Heute ist die Anabasis ein Meilenstein für Liebhaber alter Texte und ein Leckerbissen für Archäologen. Die Beschreibungen der Kampftechniken, Strategien und Waffen sind einzigartig, die Darstellung des Lebens eines griechischen Soldaten ergreifend. Der Speer, den die Kämpfer an Xenophons Seite mit sich trugen, war aus dem Holz der Kornelkirsche, einem Hartholz, das auch Rüstungen durchstoßen konnte, ohne zu splittern. Der Nachteil: Kirschholz ist schwer. Über einen solchen Speer hätten die Fünfkämpfer in Olympia die Nase gerümpft. Sie bevorzugten leichtes Holz und schnitten ihre Speere aus dem Stamm kleiner Holunderbäume. Diese Speere flogen weiter und durften ruhig splittern, sie sollten ja niemanden treffen – obwohl dies versehentlich im Stadion Olympias passiert sein soll.
Den Speer zu werfen war eine Kunst. Schrittfolgen, Körperdrehungen, Armbeugen wollten beachtet werden. Der Clou aber war es, dem Holz ein wenig Drall zu geben, damit es weiter flog. Dazu hing am hinteren Ende des Speers ein Riemen, der um den Schaft gewickelt war. Die Enden des Riemens waren nicht zusammengeknotet, sondern hingen als Schlaufe herab. Packte der Athlet den Speer, steckte er Mittel- und Zeigefinger durch diese Schlaufe, griff 90
den Schaft und warf. Dabei blieb der Riemen in den Fingern hängen und wickelte sich vom Holz ab. Durch die Drehung kam der Speer in Fahrt. Einige Sportwissenschaftler glauben heute, dass dieser Trick die Weite eines Speerwurfs um bis zu 300 Prozent verbessern konnte. Sieger wurde, wer den Dreh raushatte. Deutlicher geht es nicht: Beim Speerwerfen verrät der Sport seine Herkunft vom Truppenübungsplatz. So wie Krieger gingen auch die Speerwerfer mit einem Bündel Speeren in der Hand an den Start. Glaubt man den meisten Vasenbildern, die Speerwerfer zeigen, so traten die Olympioniken mit drei Geschossen an den Start. Die Sportforscher, die mit wenigen Quellen auskommen müssen, schließen daraus, dass ein Speerwerfer in der Antike dreimal werfen durfte. Niemand weiß genau, wie die Kampfrichter werteten. Möglich ist, dass nur der weiteste Wurf zählte. Ebenso gut aber können auch die Ergebnisse aller Würfe addiert worden sein. Der Unterschied zwischen Stadion und Schlachtfeld: Speerwerfer in Olympia mussten nicht treffen, keinen Gegner und auch kein Ziel. Aber in den Gymnasien einiger Stadtstaaten herrschten andere Sitten. Hier trainierten insbesondere Jugendliche den Speerwurf auf Ziele. Eindeutiger Zweck dieser Übung war Krieg. Niemals tauchte das Zielwerfen bei einem der großen griechischen Sportfeste auf. Die Übung im Gymnasion diente einzig und allein der Vorbereitung auf den Ernstfall. Kein Wunder also, dass sie zum ersten Mal in jener Zeit nachweisbar ist, in der zwischen Athen und Sparta der Peloponnesische Krieg ausbrach, einer der schlimmsten Waffengänge, die Griechenland jemals erlebte. Werfen liegt dem Menschen im Blut. Krieger werfen sich Speere und Steine an den Kopf, Sportler versuchen, Distanzen zu überbrücken. Die Griechen warfen den Diskus und den Speer, andere Völker und Stämme warfen Keulen, Holzblöcke und Bälle. Von der Osterinsel im Pazifik ist ein Wurfsport bekannt, der bei wenigstens einem Teilnehmer für Kopfzerbrechen gesorgt haben muss. Das Spiel der Osterinsulaner hieß »tuu« und drehte sich um einen menschlichen Schädel. In den waren zwei Löcher gebohrt. Wer mitmachen wollte, nahm einen Stab, der »kio« hieß, und versuchte, damit eines der Löcher in dem Totenschädel zu treffen. Die Insulaner waren keineswegs Kannibalen. Bei dem Spiel zeigt sich, dass Sport nicht nur kriegerische, sondern auch religiöse Gründe hat. Wie schon bei den Leichenfeiern der Griechen, aus denen der Sport hervorging, liegen auch beim »tuu« die Wurzeln in der 91
Ehrung der Gestorbenen. Auf den Osterinseln ging es dabei aber nicht gerade ehrfurchtsvoll zu. Wie europäische Beobachter berichteten, johlten und schrien die Zuschauer, sobald ein »kio« im Schädel gelandet war – Zustände wie im Stadion des antiken Olympia. Auch der Verlierer bekam sein Fett weg. Wer beim »tuu« nicht traf, den verspotteten die Zuschauer laut und lang. Auch in Olympia konnten sich die Verlierer in ihrer Heimat für geraume Zeit nicht auf offener Straße blicken lassen. Griechenland und die Osterinseln liegen am jeweils anderen Ende der Welt. Doch hätten Insulaner und Hellenen jemals zu einem Sportfest zusammengefunden, man hätte sich sicherlich prima verstanden.
Große Sprünge mit Bügeleisen Die Zuschauer im Stadion halten den Atem an. Obwohl die Ränge bis auf den letzten Platz besetzt sind, könnte man eine Stecknadel fallen hören, wenn sie schon erfunden wäre. Stattdessen erklingt nun Flötenmusik. Eine rhythmische Melodie dringt in die Ohren des Publikums und des Athleten, der verloren auf der Kampfbahn steht. Er tänzelt einige Schritte nach vorn, nimmt im Takt der Musik Schwung, wird schneller, springt, fliegt, landet. Nun ist es vorbei mit der Stille. Die Massen jubeln. Phaullos der Fünfkämpfer hat bewiesen, dass er der beste Weitspringer dieser Pythischen Spiele ist. Flugs dichtet ein Poet ein Epigramm auf diese Leistung, wenig später ist es in den Sockel einer PhaullosStatue graviert – fast für immer. Phaullos kommt zu späten Ehren. Als Archäologen im 20. Jahrhundert in Delphi graben, finden sie das Denkmal wieder, das anlässlich jenes Weitsprungs aufgestellt worden war. Nach Jahrhunderten ist die Figur des Phaullos verschwunden, vermutlich haben Diebe die Bronzestatue abgesägt und eingeschmolzen. Aber der Sockel ist erhalten und mit ihm jene Zeilen, die von der Leistung des Phaullos erzählen. Derartige Entdeckungen sind ein Zuckerschlecken für jeden Forscher. Im Fall des Phaullos aber überraschte die Ehreninschrift so sehr, dass Sporthistoriker den Verfasser für einen Schaumschläger halten. Auf dem Sockel wird Phaullos dafür gerühmt, »50 Fuß und dazu noch fünf« übersprungen zu haben. Da dem Athleten der denkwürdige Sprung in Delphi gelang und ein Fuß in Delphi 0,296 Metern entsprach, muss der Rekordsprung des Phaullos 16,28 Meter betragen haben. Der Weltrekord 92
im Weitsprung liegt heute bei 8,95 Metern, er wurde 1991 von Mike Powell aufgestellt. Unvorstellbar: Antike Athleten sprangen fast doppelt so weit wie ihre Kollegen der Neuzeit? Die Traumweite von über 16 Metern ließ Sportlern und Wissenschaftlern keine Ruhe. Sogar durch den Rhythmus der Flötenmusik beflügelt springt kein Mensch solche Distanzen. Ein Schreibfehler des Epigramm-Dichters war auszuschließen. In einem anderen Text steht geschrieben, der Fünfkämpfer Chionis aus Sparta habe mit 16,70 Metern eine ähnliche Weite zurückgelegt. Das Geheimnis musste an anderer Stelle liegen. Vielleicht konnten Vasenbilder das Rätsel lösen. Auf den Verzierungen von Töpfen und Schalen waren auch Speerwerfen, Boxen, Ringen und Laufen so exakt dargestellt, dass sie einer antiken Sportschau glichen und Archäologen viel über die Disziplinen der Antike verrieten. Tatsächlich zeigte die ein oder andere Vase Weitspringer. Sie flogen durch die Luft, ihre Beine waren weit vorgestreckt, und in den Händen hielten sie offenbar Bügeleisen. Oder waren es Telefonhörer?
Solche Errungenschaften der Zivilisation kannten die alten Griechen natürlich ebenso wenig wie die Stecknadel. Welchen Sinn also hatten die eigenartigen Gegenstände, die Weitspringer auf jeder Abbildung in den Händen hielten? Die Archäologie suchte nach Antworten und fand sie bei Ausgrabungen in Delphi, Olympia, Nemea und Korinth. Überall, wo Fünfkämpfer zum Weitsprung angetreten waren, lagen sie herum: Gewichte aus Stein und Blei. »Halteres« hießen sie bei den Griechen. Ihre Form war je nach Jahrhundert leicht unterschiedlich. Einige ähnelten heutigen Bügeleisen, andere altmodischen Telefonhörern, wieder andere sahen aus wie Zylinder oder Kugeln, manche waren glatt, manche hatten Rillen für die Finger. Aber allen war gemeinsam, dass sie schwer waren. Bis zu viereinhalb Kilogramm wogen die »halteres«. Insgesamt beschwerte sich ein Weitspringer mit neun Kilogramm. Das erscheint nicht besonders klug. Wer leichter ist, springt weiter, wer schwerer 93
ist, bleibt auf der Strecke. Aber dumm waren die alten Griechen keineswegs. Die »halteres« waren Teil eines raffinierten Prinzips. Die Gewichte rissen den Springer nach vorn. Der Bewegungsablauf musste genau einstudiert sein. Zunächst schwang der Athlet beide Arme zurück und holte mit den »halteres« Schwung. Während er sich zum Sprung streckte, warf er die Gewichte nach vorne. Auf diese Weise nutzte er die Fliehkraft und ließ sich nach vorn reißen. Selbstverständlich brachten diese Hilfsmittel nur ein Quäntchen mehr Weite, nach wie vor war ein Springer auf seine Muskeln und seine Technik angewiesen. Aber jeder Viertelfuß mochte über Sieg und Niederlage entscheiden. Mit Gewichten beschwert gewann es sich leichter. Das Rätsel der Bügeleisen war gelöst. Sensationelle Sprungweiten von über 16 Meter aber ließen sich auch mit den »halteres« nicht erreichen. Das Geheimnis musste in der Sprungtechnik liegen. Genau weiß bis heute niemand, wie die Griechen sprangen. Einige Forscher meinen, sie nahmen Anlauf zu Flötentönen und sprangen ab, ähnlich modernen Leichtathleten, denen jedoch niemand mehr die Flötentöne beibringt. Andere Sporthistoriker gehen davon aus, dass die Griechen aus dem Stand sprangen. Einig ist sich die Wissenschaft in einem Punkt: Bei 16 Metern Distanz muss es sich um einen Dreisprung gehandelt haben. Der Athlet sprang ab, kam auf, sprang ab, kam auf, sprang ab, kam auf, und das mit beiden Beinen gleichzeitig. Das schrieb die Regel vor. Wer nicht mit beiden Füßen einen klaren Abdruck im Sand
Der Mensch ist immer auf dem Sprung Wie Laufen gehört auch Springen zu den ältesten und urtümlichsten Sportarten der Welt. Neben Weiten sind auch Höhen gefragt. Bei den Watussi, einem Stamm aus Ruanda in Afrika, gilt es als Auszeichnung, die eigene Körperhöhe zu überspringen. Dazu nutzen die Watussi eine ausgefallene Technik. Sie nehmen Anlauf über einen Termitenhügel, der ihnen als Sprungschanze dient. Die Watussi erreichen Höhen von 2,5 Metern. In der Sportwelt liegt der Weltrekord der Männer bei 2,45 Metern – allerdings ohne Sprungschanze. Dieselbe Höhe zwar, aber der Unterschied ist in der Bedeutung der Sprünge zu finden. Während sich Sportler messen, um einen Preis zu gewinnen, springen die Stammesmitglieder der Watussi, um zu zeigen, dass sie vom Jungen zum Mann gereift sind. Der Watussi-Sprung ist ein Ritual, der Gegner die eigene Persönlichkeit.
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der Sprunggrube hinterließ, wurde mit dem Stock geschlagen und disqualifiziert. Die Springer ähnelten Vögeln, die sich hüpfend am Boden fortbewegen. Selbst aus dem Stand lassen sich mit dieser Technik große Weiten erreichen. Die 16,28 Meter des Phaullos waren demnach dreimal 5,4 Meter. Zwar doch kein Wunder menschlicher Leistungskraft, aber für eine Ehreninschrift immer noch gut genug.
Ringen – im Würgegriff der Knochenbrecher Wo zwei raufen, schauen viele gern zu. Das gilt beim Boxen und ist beim Ringen nicht anders. Noch heute gehören Faustkampf und Wrestling – eine grelle Showvariante des Ringens – zu den Publikumsmagneten in Hallen und bei Sendeanstalten. Die Wurzeln der Rangeleien aber sind vergessen. Sie ragen bis in die Kriege der Antike. Damals war Fernkampf nur Beiwerk. Speere waren schnell geworfen, dann ging es Mann gegen Mann. Wer dann von seinem Gegner in der Schlacht zu Boden geschleudert werden konnte, war verloren. Ringen bedeutete, ums Überleben zu kämpfen. Wie dramatisch ein Ringkampf sein konnte, wusste schon Homer. Der blinde Dichter fesselte die Leser seiner Ilias mit einem Match zwischen den Helden Odysseus, bekannt für seinen Einfallsreichtum, und Ajax, berüchtigt für seine Kraft und Wendigkeit: »Beide schritten gegürtet mitten in die Versammlung, fassten einander die Arme mit ihren gedrungenen Händen, so wie die Sparren des Dachs, die ein kundiger Zimmermann fügte an einem hohen Haus, den Gewalten des Windes zu trotzen. Und es knackten ihnen die Rücken, von mutigen Händen hart gepresst, und der feuchte Schweiß lief ihnen herunter; dichte Striemen liefen an ihren Seiten und Schultern, rotgedunsen von Blut, ihnen an; und immerzu rangen sie, begehrend den Sieg um den gutgefertigten Dreifuß. Weder vermochte Odysseus im Fall ihn zu Boden zu bringen, noch auch konnte es Ajax, gehemmt durch die Kraft des Odysseus.« Das Publikum wird mürrisch, weil keiner der Ringer gewinnt. Mitten im Kampf treffen die Kämpfer eine Absprache. Ajax flüstert dem Odysseus zu: »Edler Laertessohn, erfindungsreicher Odysseus, hebe du mich oder ich dich, das andere wird Zeus schon besorgen.« Natürlich versucht Ajax, seinen Gegner zu überlisten, aber da ist er bei Odysseus an der falschen Adresse. Homer 95
weiter: »Sprach es und hob ihn empor; doch Odysseus vergaß da der List nicht, schlug in die Kniekehle ihm von hinten und löste die Glieder. Und er fiel rücklings hin, und ihm auf die Brust fiel Odysseus nieder; da schauten die Leute in der Versammlung und staunten.« Noch ist der Kampf nicht entschieden. Bei der nächsten Runde kann Ajax eine weitere Attacke des Odysseus abwehren. Es gelingt ihm, den Gegner mit sich zu Boden zu reißen. Das Ringen will nicht enden, bis Achilles die Athleten auseinanderbringt. Sie sollen ihre Kräfte für die Schlacht sparen. Da eine Entscheidung aber noch nicht erreicht ist, erklärt Achilles kurzerhand beide zu Siegern. Was vor den Mauern Trojas als diplomatische Entscheidung durchging, wäre in Olympia undenkbar gewesen.
Dort rangen die Fünfkämpfer bis zum Sieg, und der konnte wehtun. Die Gegner gingen im Stehen aufeinander los. Gewinner war, wer den Gegner dreimal zu Boden schleudern konnte. Nur wenn die Schulter des anderen den Boden berührte, zählte der Punkt. »Schmerzhaft« nannte Homer diese Sportart. Er wusste, wovon er schrieb. Ringen war die Modedisziplin der Palaistra, wo sich Schriftsteller mit Landarbeitern im Sand wälzten, wo Könige mit Rednern kämpften und jeder kam, um zuzusehen. Zwar war es verboten, den Gegner zu schlagen, zu würgen, ihm die Gelenke zu verdrehen und ihn durch andere fiese Tricks zum Aufgeben zu zwingen. Aber die Praxis sah anders aus. Die Kampfrichter sahen nicht alles und von vielen Ringkämpfen der Antike ist überliefert, dass ein Athlet gewann, weil er seinem Gegner in einem unbe96
obachteten Moment den Daumen ins Auge bohrte, ein besonders beliebtes Foul, oder ihm in die Genitalien trat. Das Risiko, erwischt und disqualifiziert zu werden, war hoch, aber der Sieg in Olympia muss den Einsatz wert gewesen sein. Von sauberem Sport konnte keine Rede sein. Ringen war eine schmierige Angelegenheit. Um sich dem Griff des Gegners entwinden zu können, rieben sich die Ringer vor dem Kampf mit Olivenöl ein. Da ein von Gemüsefett triefender Sportler aber nicht zu fassen ist, sahen es die Regeln vor, dass sich die Ringer mit Staub bestreuten, um den Effekt abzuschwächen. Schummler ließen wichtige Körperpartien heimlich staubfrei. Wer dem Gegner zu oft entwischte, den erwischten die Kampfrichter prügelnd mit dem Stock. Die Achillesferse eines jeden Ringers war sein Haar. Das ließ sich im Kampf leicht packen. Wer als Ringer auf sich hielt, kam deshalb kurzgeschoren zum Kampf. Das aber entsprach nicht der Mode. Junge Männer in den Städten ließen die Haarpracht in langen Locken herabfallen und durch Öl glänzen. Schönheit und Ringen, das passte nicht zusammen. Bis einem unbekannten Ringer eine Idee kam. Er erschien in der Palaistra mit einer Lederkappe. Darunter steckte die Frisur, die zwar ruiniert war, sich aber nach dem Kampf wieder richten ließ. Dem Kontrahenten bot sich nun jedoch keine Angriffsfläche mehr. Um zu verhindern, dass die Kappe vom Kopf gerissen wurde, band der Träger sie mit Lederriemen unter dem Kinn zusammen. Der römische Dichter Martial schickte einem Freund eine solche Kappe mit den Worten: »Damit, wenn du im Schlammring deiner Pflicht nachkommst, dein gepflegtes Haar nicht schmutzig wird.« Diesen literarischen Beleg für Ringerkappen ergänzt der Fund einer Statue, die mit einer solchen Kappe dargestellt ist. Ihr Bildhauer war Etrusker und lebte in Italien in der heutigen Toskana. Eitelkeit bereitete nicht nur den Griechen Probleme. Dabei waren Ringer alles andere als schön. Die Gleichung, nach der ein Profiringer lebte, war: Körpermasse plus Kraft gleich Standfestigkeit. Glaubt man den Bildern auf Vasen und Tellern, waren Ringer fett und schwer. Ein bisschen sahen sie aus wie die japanischen Sumoringer, jene Fleischberge von bis zu 200 Kilogramm Gewicht, die selbst drei Männer normaler Statur nicht zu Fall bringen können. Eine solche Körperform musste mühsam erarbeitet werden. Wer fett sein wollte, musste essen, essen, essen. Diese Vorgabe mag auf den ersten Blick wirken wie eine Eintrittskarte ins Schlaraffenland, aber das permanente Verschlingen von Spanferkeln, Frikassee und Perlhuhn hing 97
jedem Leckermaul irgendwann zum Hals heraus. Nicht umsonst nannte der Philosoph Aristoteles diese Völlerei eine »Zwangsernährung«. In Olympia aber hatten dicke Ringer einen schweren Stand. Während die Kolosse die Stars in den Palaistren jeder Stadt waren, saßen sie bei den Sportfesten als Zuschauer auf den Tribünen. Ringen war Teil des Fünfkampfes. Wer darin bestehen wollte, musste nicht nur ein Meister im Raufen sein, sondern auch laufen, werfen und springen können. Mit über 100 Kilogramm auf den Hüften war das unmöglich. Traten zwei Ringer gegeneinander an, belauerten sie sich in gebückter Haltung, ein Bild, das heute noch bei Ringkämpfen zu sehen ist. Was es heute nicht mehr gibt: Ringen mit den Händen. Eröffneten die Ringer der Antike den Kampf, versuchten sie sich bei den Händen zu packen und die Arme des Gegners so zu verdrehen, dass dieser in die Knie sackte – eine gefährliche Technik. Griffen die Athleten nach den Händen des jeweils anderen, konnten Finger brechen. Wer dann keine Schmerzen aushalten konnte, für den war der Kampf vorbei. Im schmalen Regelwerk des olympischen Ringens gab es kein Verbot des Fingerbrechens. Wem der Knochen knackte, der hatte Pech. Er konnte versuchen, den Schmerz zu ertragen und weiterkämpfen, oder er konnte aufgeben. Dass der Wunsch zum Kampfabbruch in der Regel ausgerechnet durch das Heben des Zeigefingers signalisiert wurde, konnte unter Umständen Probleme bereiten. Das dicke Ende kam zum Schluss: Renkte sich ein Ringer ein Gelenk aus, war der Kampf vorbei. Das galt auch für Knochenbrüche, die so schwer waren, dass selbst ein hartgesottener Athlet nicht mehr weiterkämpfen konnte. In antiken Schriften ist zu lesen, dass der Kampf auch dann vorüber war, wenn einer der Ringer einen Schädelbuch erlitt oder unter den Griffen seines Gegners gestorben war. Der Täter hatte dann nicht etwa mit Strafen zu rechnen. Im Gegenteil: er wurde zum Sieger erklärt. Eindeutiger konnte niemand einen Kampf gewinnen. Ringen für Faule, auch das gab es. Da die Gegner in Olympia durch das Los bestimmt wurden, kam es vor, dass ein Ringer leer ausging, weil eine ungerade Zahl von Athleten angetreten war. In diesem Fall gewann der partnerlose Kämpfer die Runde, ohne einen Finger rühren – oder brechen – zu müssen. Ringer waren ganze Kerle, jedenfalls die meisten. Der ein oder andere Hasenfuß aber muss sich unter die olympischen Sportler gemischt haben. 98
Der Legende zufolge soll ein Ringer, dessen Name wegen der Schande nicht überliefert ist, in Olympia gegen Milon von Kroton angetreten sein. Milon war zu seiner Zeit einer der berühmtesten Sportler, beim Publikum beliebt, bei den Gegnern gefürchtet. Als Milon das Stadion betrat, wäre seinem Gegner das Herz in die Hose gerutscht, wenn er eine getragen hätte. Vor Angst zitternd gab Milons Kontrahent auf, ohne den Kampf überhaupt begonnen zu haben. Der feige Ringer war allein durch den Ruf seines Gegners in die Knie gezwungen worden – auch das war Sport in der Antike. Heute haben es Ringer einfacher. Die Gegner sind zwar immer noch harte Brocken, aber die Regeln schützen vor Verletzungen, und Angst haben die Kämpfer nur noch vor der Niederlage. Auch mit Krieg hat Ringen nichts mehr gemein, vielen Ringern mag die Herkunft ihrer Disziplin nicht einmal bekannt sein, so weit liegt sie in der Vergangenheit. Aber noch heute gibt es eine ursprüngliche Art des Ringkampfes, abseits von Turnhallen, Trainern und Trikots. In Rumänien pflegen Männer bis heute den Kures (sprich: Kuresch). Wie in der Antike reiben sie sich dabei mit Fett ein, da Olivenöl aber zu teuer ist, greifen die Sportler zu Schafsfett. Bei dem glitschigen Spektakel gibt es einen praktischen Preis zu gewinnen: ein Schaf.
Boxen Schicksalsschläge mitten ins Gesicht
Der Faustkampf war in Olympia eine ausschlaggebende Sportart. Boxen war hart und blutig. Zwei Fäuste und viel Stehvermögen war alles, was ein Faustkämpfer brauchte. Das Tänzeln heutiger Boxer hätte einen Kämpfer der Antike zum Lachen gebracht. Ausweichen galt als feige, das Publikum wollte Treffer sehen. Es stieg von den Rängen herab und ging mit den Kämpfern auf Tuchfühlung. Der Kreis der Schaulustigen war die einzige Begrenzung der Kampffläche. Sonst gab es keinen Ring. Somit waren taktische Bewegungen, wie der Versuch, den Gegner in die Ecke zu drängen, unmöglich. Faustkämpfer in Olympia standen unbeweglich wie Felsen und droschen aufeinander ein. Boxen tat weh. Schon die Kämpfe heutiger Boxer gehören zu den schmerzhafteren Disziplinen der Sportwelt. Von gefütterten Lederhandschuhen und Mundschutz wollten die Griechen aber nichts wissen. Sie kämpften mit harten Bandagen. Zu Beginn der olympischen Faustkämpfe wickelten die Athleten 3 Meter lange Lederriemen um Handgelenke und Knöchel, nicht etwa, um den Gegner zu schonen, sondern um zu verhindern, dass die eigenen Knöchel brachen. Diese »schön geschnittenen Riemen aus Ochsenhaut«, wie Homer sie beschreibt, kamen im 4. Jahrhundert vor Christus aus der Mode. Fortan schnürten die Boxer breite Lederplatten um die Faust. Der Vorteil lag auf der Hand: die Platten schützten den Kämpfer und waren überdies so hart, dass sie die Wirksamkeit der Schläge verdoppelten. Dieser Schlagring entwickelte in den folgenden Jahrhunderten ein großes Potenzial an Brutalität, wurde mit Dornen gespickt und mit Eisen und Blei ausgekleidet. Bei aller Gewalt bewiesen die Griechen Sinn für Humor und tauften die Faustriemen »myrmyrkes« (Ameisen), wegen ihrer prickelnden Wirkung auf der Haut. Was ein Boxer anrichten konnte, darüber schrieb der Dichter Theokrit in »Der Boxkampf des Polydeukes«. Hauptfiguren dieser Geschichte sind wieder 100
die Argonauten, jene Gruppe von Helden, die auch den Fünfkampf als Erste praktizierten. Dieses Mal landen die Seebären im Reich des Königs Amykos. Der herrscht über das Land der Bebryken und ist der Sohn des Gottes Poseidon – Amykos ist reich, mächtig und hat die übernatürlichen Kräfte seines Vaters geerbt. Zu allem Überfluss ist er ein Griesgram und setzt die Argonauten fest. Die Helden dürfen erst dann wieder in See stechen, wenn einer von ihnen Amykos im Faustkampf besiegt habe. Nun ist guter Rat teuer.
Die Helden wählen Polydeukes für den Zweikampf aus, einen Baum von einem Mann und ein Sohn des Zeus. Theokrit liefert ein eindrucksvolles Porträt des Kämpfers: »Ein Mann von unbezwingbarer Stärke. Groß von Gestalt, seine Ohren durch Faustkampfbinden zerschmettert. Mächtig erhob die gewaltige Brust sich, die Breite des Rückens, eisern war er an Fleisch, dem gehämmerten Götterkoloss gleich. Um den kernigen Arm starrten unter den Schultern straff die Muskeln hervor, wie Blöcke aus Granit, die ein reißender Gebirgsstrom walzend schliff.« Zunächst schlagen die Gegner nur mit Worten aufeinander ein. Jeder versucht, dem anderen Angst einzujagen, indem er mit seinen Taten prahlt. Dann bläst Amykos in ein Muschelhorn, um seine Untertanen als Zuschauer herbeizurufen. Die Boxer wickeln sich die Lederriemen um die Fäuste und »traten hervor in die Mitte und atmeten Mord und Vergeltung«. Als Boxkommentator der Antike liefert Theokrit einen dramatischen und ausführlichen Bericht des Kampfes: »Polydeukes, der Sprössling des Zeus, 101
rechts und links sich drehend, schlägt mit zerfleischender Faust schnell wechselnd. Im Angriff hemmt er das Ungeheuer, den Riesensohn des Poseidon. Amykos steht von Schlägen betäubt und räuspert Blut aus, purpurnes. Die Helden jauchzen nun alle zugleich, als sie die grässlichen Beulen um Mund und Wange erblicken. Schon engen die Augen das geschwollene Gesicht. Jetzt verwirrt ihn Polydeukes, er täuscht und droht mit Finten ringsumher; dann, sich ganz ratlos verstellend, schmettert er über die Nase die ballende Faust in die Brauen, dass am Schädel die Stirnhaut klaffend gelöst wird, der Geschlagene rücklings sinkend lang durch grüne Kräuter sich streckt.« Amykos kommt wieder auf die Füße. Die Kämpfer gehen erneut aufeinander los. »Wieder begann das Gefecht. Noch bitterer, als Amykos aufstand, und sie zerbläuten einander mit derb einhauenden Riemen. Aber nur gegen die Brust und den Hals und die Hüfte traf die Faust des Amykos, doch der unhemmbare Held Polydeukes quetschte ihm das ganze Gesicht mit schändenden Streichen.« Schließlich gelingt dem Argonauten der Knockout: »Polydeukes nun voller Begier, das große Werk zu vollenden, hält mit der Linken die linke Hand seines Gegners fest, schräg aus der Stellung gebeugt, und indem er mit der Rechten angreift, landet er seitwärts nach links einen gewaltigen Schwinger. Und beinahe trifft der den König verletzend. Dieser duckt rasch das Haupt, doch die nervige Rechte schmettert ihm links an die Schläfe, dass der Kopf zur Schulter wegkippt. Sofort schießt dunkel das Blut aus der klaffenden Schläfe. Linksher zerschlägt Polydeuk ihm den Mund, dass die Zähne erklirren, und, jetzt hitziger dreschend, verwüstet er jenem das Gesicht, bis er ringsum ihm die Wangen zermalmt.« Amykos geht zu Boden und hebt beide Arme zum Schutz vor den Kopf, weil er befürchtet, Polydeukes wolle weiter auf ihn eindreschen. Die Argonauten sind Sieger und dürfen die Insel verlassen. Wie ein Märchen liest sich der Faustkampf zwischen Polydeukes und Amykos. Eine rätselhafte Insel, beide Gegner Söhne der Götter, und ein dramatischer Showdown. Theokrits Text aber hat einen wahren Kern. Der Dichter schildert den Kampf so wirklichkeitsnah wie ein Augenzeuge. In der Palaistra wird der Dichter häufig solch blutige Szenen zu Gesicht bekommen haben, den Stoff, aus dem Legenden sind. Brutale Realität: Über den Faustkampf der Antike sind heute genügend Texte und Malereien erhalten, um das Bild eines blutrünstigen Sports nachzuzeichnen. Schlagen durften die Boxer mit der Faust, der Handkante und dem 102
Handballen. Verbotene Trefferzonen gab es nicht. Erlaubt war, was wehtat. Ein gefürchteter Hieb wurde von oben nach unten geführt. Traf dieser Brecher auf den Schädel des anderen, war es mit dem Kampf vorbei, der Geschlagene brach zusammen. Sogar ins Genick sollen sich die Faustkämpfer geschlagen haben – verständlich, dass mancher bei solchen Prügeln verstümmelt oder tot auf der Strecke blieb. Als Polydeukes den riesenhaften Amykos zu Boden schlägt, hebt dieser die Arme, um sich vor weiteren Hieben zu schützen. War der Held der Argonauten etwa ein Unmensch, der noch dann auf seinen Gegner eindrosch, wenn dieser wehrlos war? Nach damaligem Verständnis nicht. Amykos schützte sich zu Recht, wohl wissend, dass in der Antike ein Kampf nicht etwa vorüber war, weil einer der Kämpfer zu Boden ging. Erst, wenn der Gegner ein deutlich sichtbares Zeichen seiner Niederlage gab, hörte der andere auf, ihn zu malträtieren. Bewusstlosigkeit wurde als ein solches Zeichen akzeptiert – meistens jedenfalls. Es gab so wenige Tricks, die wirklich verboten waren, dass selbst der dumpfeste Schlägertyp sich die Regeln merken konnte. Wer den Gegner umklammerte und einen Ringkampf begann, bekam vom Kampfrichter Hiebe mit dem Stock, wer den Gegner festhielt ebenfalls, und wer versuchte, dem anderen Finger in Ohren, Nase und Augen zu bohren, lief Gefahr, disqualifiziert zu werden – obwohl gerade solche brutalen Einlagen das Publikum besonders verzückten. Das belegen ebenfalls Vasenbilder, bei denen Zweikämpfer häufig bei diesem Foul dargestellt sind. Erlaubt war nicht immer, was gefiel. Wenn zwei Männer sich schlagen, kocht die Wut hoch. Einen Faustkampf ohne Raserei, ohne Verzweiflung und Leidenschaft wollte niemand sehen. Mochten die Boxer technisch noch so perfekt sein – hätten die Kämpfer ihre Gefühle unter Kontrolle gehalten, das antike Publikum hätte sie ausgepfiffen. Einen Kampf zu bestreiten hieß, gegen einen Feind kämpfen. Von Fairness hatte in der Antike niemand etwas gehört. Vor dem Fight gab es kein Händeschütteln, keine Bezeugungen, dass man so ehrenhaft wie möglich kämpfen wolle. Gab der Kampfrichter das Zeichen, gingen die Boxer aufeinander los wie wilde Stiere. Ein Kopf-an-Kopf-Schlagen begann. Bauch, Brust, Nieren, Unterleib waren für antike Boxer nur Ziele, wenn der Kopf des Gegners nicht zu treffen war. Im Visier der Fäuste aber war in der Regel das Haupt des anderen. Die Kämpfer schlugen schnell und kräftig nach Nase, Augen, Kinn und Schläfen des ande103
ren, mit dem Ziel, diesen so rasch wie möglich kampfunfähig zu machen. Deckung gab es nicht. Die Zeit, die man zum Aufbau einer Verteidigung brauchte, genügte vielleicht schon, um den Kontrahenten zu Boden zu prügeln. Da war die beste Taktik, Schmerzen zu ertragen. Wer mehr einstecken konnte, konnte mehr austeilen und war klar im Vorteil. Ein Großteil des Boxtrainings bestand deshalb aus schmerzhaften Prozeduren wie Schlagen, Brennen und Zwicken, mit dem Ziel, den Athleten für die Hiebe im Stadion unempfindlich zu machen. Sogar der letzte Rest Fairness wurde beim antiken Faustkampf mit Füßen getreten. Einige Forscher meinen, dass Tritte erlaubt waren. Vornehmliches Ziel seien die Schienbeine der Gegner gewesen, eine der schmerzempfindlichsten Körperzonen, die zudem leicht brechen, da sie nur von wenig Gewebe geschützt sind. Ob die Boxer tatsächlich mit den Füßen auskeilten, ist allerdings umstritten. Vasenbilder zeigen solche Szenen, doch ist nicht eindeutig nachzuweisen, ob sie Boxer darstellen oder Pankratiasten, Athleten einer noch härteren Sportart. Die beste Verteidigung für einen Boxer war ein dicker Bauch. Wie der antike Schriftsteller Philostrat berichtet, fraßen sich Boxprofis einen gehörigen Schmerbauch an, den sie wie eine Pufferzone vor sich trugen: Der Gegner kam nur bis zum Wanst, die Arme langten nicht mehr an den Kopf. Boxer in Olympia müssen Fleischkolosse gewesen sein. Wer sich kein Fett anfraß, spielte mit dem Feuer. Gewichtsklassen gab es in keiner Sportart, auch im Boxen nicht. Gerade beim Faustkampf aber spielte das Gewicht die erste Geige. Als Fliegengewicht hatte ein Kämpfer zwar den Vorteil, wendiger zu sein als ein Schwergewicht, doch das Ausweichen beim Boxkampf war noch nicht erfunden und damit geringes Gewicht nicht von Nutzen. Die Oberhand behielt der Schwerere. Erst später, in römischer Zeit, begannen die Kämpfer, auf ihre Verteidigung zu achten. Nun hielten sich die Boxer die Fäuste vors Gesicht und teilten nur dann aus, wenn sie eine Lücke in der Deckung des Gegners entdeckten. Der schnelle Schlaghagel des Urboxens war vergessen. Boxen wurde lang und schmutzig. Bis zu drei Stunden sollen die Faustkämpfer aufeinander eingeschlagen haben, mit überraschend wenig Erfolg. Von dem römischen Boxer Melankomas wird berichtet, er sei ein Meister des Ausweichens gewesen und habe nach jedem Kampf unberührt den Ring verlassen, während sein Gegner bewusstlos am Boden lag. Solche Kämpfer strafte das Publikum mit Desinte104
Zwei Fäuste für die Kunst: Die berühmte Statue eines Faustkämpfers ist eine der wenigen heute bekannten Bronzeskulpturen der griechischen Antike. Wirklichkeitsnah hat der Bildhauer das zerschlagene Gesicht und die Faustwickel gestaltet.
resse, Faustkampf ging in der Beliebtheitsskala k.o. Nur gelegentlich blitzten noch einmal die alten Zeiten auf: Weil einige Boxkämpfe zu lange dauerten, sollen sich die Kämpfer darauf geeinigt haben, ohne Verteidigung weiterzuboxen, um dem Kampf ein rasches Ende zu machen. Wie zerschunden die Athleten von ihren Auswärtskämpfen heimkehrten, schildert schonungslos ein kurzer Text über einen olympischen Boxsieger, der an den römischen Kaiser Augustus gerichtet ist: »Dieser Olympionike da hatte einst, Kaiser Augustus, Wange und Braue und Nase, Ohren und Augenlider. Dann aber schrieb er als Boxer sich ein und hat alles verloren. Nicht einmal vom Gehöft des Vaters erbte er sein Teil, denn sein Bruder brachte ein Bild von ihm heim und da war er als ein Fremdling erkannt, ohne jede Ähnlichkeit.« Kein Einzelfall. Der Dichter Lucilius schrieb über den Faustkämpfer Stratophon: »Als Odysseus nach 20 Jahren die Heimat erreichte, erkannte sogar der Hund die Gestalt seines Herrn. Aber du, Stratophon, wirst nach kaum 105
vier Jahren des Faustkampfes nicht nur von den Hunden nicht wiedererkannt, sondern bist der ganzen Stadt unkenntlich. Würdest du dich selbst im Spiegel betrachten, müsstest du schwören: Fürwahr, das ist nicht Stratophon.« Schlimme Worte, die durch archäologische Funde bestätigt werden. Eine Amphore aus Athen trägt das Bild eines Boxers, dem das Blut in einem Schwall aus der Nase schießt. Die Statue des Faustkämpfers vom Quirinal, einem der sieben Hügel Roms, zeigt besonders schonungslos, wie ein Boxer in Olympia ausgesehen haben muss. Die Ohren der Bronzestatue sind zu sogenannten Blumenkohlohren zerschunden. Die Haut ist übersäht mit Narben, und Nase und Augen sind geschwollen. Nur der Schmerbauch fehlt, aber der mag aus künstlerischen Gründen geglättet worden sein. Schließlich ging es den Bildhauern der Antike um das Abbild des perfekten Körpers. Narben und Wunden störten nicht, ein Boxer trug sie als Zier. Harte Kerle durch und durch – einer der härtesten soll der Faustkämpfer Eurydamas von Kyrene gewesen sein. Von ihm wird berichtet, dass er die ihm ausgeschlagenen Zähne nicht etwa ausspie, sondern herunterschluckte. Eurydamas wollte dadurch verhindern, dass der Gegner die Wirksamkeit seiner Schläge bemerkte und Auftrieb bekam. Nicht alle Boxer waren schmerzfreie Kampfmaschinen, die mit dem Kopf durch jede Wand rannten und sich in der Öffentlichkeit nicht anders benahmen als im Stadion. Der Dichter Diogenes beschreibt einen gewissen Pythagoras von Samos, der so hieß wie ein großer griechischer Philosoph, aber nicht verwandt und nicht verschwägert mit ihm war. Dieser Pythagoras schlug sich nicht mit Worten, sondern mit Fäusten. Dennoch machte er seinem Namensvetter keine Schande. Pythagoras, der Boxer, erregte Aufsehen, als er bei den Olympischen Spielen von 588 vor Christus mit einer flotten Langhaarfrisur erschien und in einem schicken Purpurgewand durch Olympia stolzierte. Wie sein Äußeres soll auch sein Kampfstil gewesen sein. Pythagoras besiegte seine Gegner nicht durch Stärke und Kraft, sondern durch technische Perfektion. Das Publikum war so beeindruckt von diesem Ausnahmekämpfer, dass Diogenes ihm sogar eine Randnotiz in seiner Biografie des Philosophen Pythagoras einräumte.
Pankration Hickhack der harten Männer
»Sie müssen verschiedene Methoden des Strangulierens beherrschen. Sie greifen nach dem Knöchel eines Gegners und drehen ihm den Arm um, außerdem schlagen sie ihn und springen auf seinen Körper.« Diese Worte des Autors Philostrat sind nicht übertrieben. Keine Sportart der Griechen war so brutal wie das Pankration, und keine hatte so viele Zuschauer. Das gleichermaßen beliebte und gefürchtete Pankration war eine Mischung aus Boxen und Ringen. Was bei den verwandten Disziplinen erlaubt war, das durften auch die Pankratiasten: Schlagen, Treten, Klammern. Ihren eigenwilligen Charme verdankte die Sportart aber der Tatsache, dass es nur eine einzige Regel gab: das Bohren der Finger in die Augen oder andere Körperteile des Gegners war verboten. Alles andere blieb der Fantasie der Kämpfer überlassen. Die war bunt. Pankratiasten traten sich in die Genitalien, brachen sich gegenseitig die Knochen, kugelten Gelenke aus und zogen sich am Bart. Wer rasiert ins Stadion kam, war im Vorteil. Sogar Bisse sollen erlaubt gewesen sein. Die verbreitete Meinung unter den Griechen, dass nur Frauen mit den Zähnen kämpfen, hielt manchen Pankratiasten nicht davon ab, kräftig zuzubeißen. Ein berühmtes Beispiel gab der athenische König Alkibiades ab. Eines Tages übte er sich im Pankration und biss seinen Gegner herzhaft in die Hand. Der Gebissene rief: »Du beißt wie eine Frau, Alkibiades!« Darauf dieser: »Nein, wie ein Löwe!« Wer als Pankratiast etwas auf sich hielt, der lag schnell am Boden – mit Absicht, denn Stehen war gefährlich. Zu schnell konnte der Gegner einen Griff ansetzen, der den Kämpfer so zu Boden schmetterte, dass er besinnungslos war oder sich so verletzte, dass er aufgeben musste. Deshalb gingen beide Pankratiasten, kaum war das Startsignal ertönt, aufeinander los, drehten dem anderen Arme und Finger um und zwangen sich gegenseitig in die Knie. Nun begann das Spektakel erst richtig. 107
Im Sand war das Kämpfen ein Kinderspiel. Füße und Knie fanden Halt, Schieben, Heben und Ausweichen waren einfach zu bewerkstelligen – für das Publikum in einigen Städten zu langweilig. Es gab Palaistren, in denen kämpften die Pankratiasten auf Bohlen, die mit flüssigem Bienenwachs bestrichen waren. Hier glitschten und flutschten die Kämpfer über den Boden und fanden weder mit den Füßen Halt noch mit den Händen, denn auch beim Pankration schmierten sich die Athleten mit Öl ein. Wer den Kampf auf diesen Rutschbahnen nicht trainiert hatte, musste sich glatt geschlagen geben. Berüchtigt war der Leitergriff, eine Kriegstechnik. In der Schlacht soll dieser Trick der Griechen sogar ihre Feinde in die Flucht geschlagen haben. Der Dichter Lukian beschreibt ihn so: »Für den Fall, dass sie mit aufgerissenem Maul dastehen, stopf ihnen Sand in den Mund oder spring herum, um hinter sie zu kommen. Umklammere mit deinen Beinen ihren Bauch, presse deine Arme unterhalb ihrer Helme zusammen und stranguliere sie, bis sie tot sind.« Beim Pankration durfte das Opfer des Leitergriffs den Finger heben, zum Zeichen, dass es aufgab. Im Krieg galt diese Regel nicht. So einfach wie genial war auch der Fersentrick. Noch während die Kämpfer standen, bückte sich einer der Pankratiasten und fischte nach der Ferse des anderen. Bekam er sie zu packen, hob er sie hoch und warf den Gegner dadurch nieder. Der Fersentrick hatte einen Pferdefuß: War der am Boden Liegende durch den Sturz noch nicht lädiert genug, behielt der andere dessen Fuß im Griff und drehte so lange daran herum, bis das Bein aus dem Gelenk sprang. Spätestens dann war jeder Kampf entschieden. Trotz der rohen Gewalt fühlten sich die Pankratiasten erhaben wie die Unsterblichen, ging ihre Disziplin doch auf den Kampf der Götter mit den Titanen zurück. Bei diesem Ringen ging es um die Herrschaft über die Welt. Von den Menschen war zwar in dieser grauen Vorzeit noch nichts zu sehen, dennoch glaubten diese später, dass Herakles im Kampf mit dem Titanen Triton den Leitergriff angebracht hatte. Jedenfalls stellten Künstler diese beiden ersten Pankratiasten der Geschichte meist bei der Anwendung dieser Technik dar. Es mag Zufall sein, dass auch Triton ein Sohn des Gottes Poseidon war. Schon Amykos, der bekanntlich den ersten Boxkampf der griechischen Mythologie gegen die Argonauten verlor, war ein Spross dieses Fluss- und Meeresgottes. Das Kämpfen muss den Poseidon-Sprösslingen im Blut gelegen haben – das Verlieren auch. 108
Sieger gaben alles. Der vermutlich berühmteste Pankratiast war Arrhichion. Zweimal hatte er bereits in Olympia den Olivenzweig gewonnen und kam nun zu den Spielen, um auch das dritte Mal zu siegen. Damit wäre er einer der wenigen gewesen, denen dieser Hattrick gelang. Aber Arrhichion war entweder nicht in Form oder sein Gegner war ihm überlegen. Schon nach wenigen Minuten lag der Champion im Würgegriff am Boden. Aufgeben kam für ihn aber nicht infrage. Schon lief das Gesicht blau an, und bald verließen ihn die Kräfte. Da rief sein Trainer ihm zu, er solle bloß nicht aufgeben und stattdessen nach den Zehen seines Peinigers greifen. Mit letzter Kraft packte Arrhichion den Fuß des Gegners und brach alle daran befindlichen Zehen auf einmal. Der Würgegriff löste sich, der Gegner war vor Schmerz halb besinnungslos und gab auf. Zu früh und doch zu spät. Arrhichion war gestorben. Da aber der Tod in Olympia kein Grund für Sieg oder Niederlage war, ernannten die Kampfrichter den Toten zum Sieger. Arrhichion ging in die Reihen der legendärsten Helden von Olympia ein. Wer im Pankration gewinnen wollte, ohne zu sterben, musste nicht nur trainieren, sondern auch Diät halten. Anders als die Boxer waren Pankratiasten eher muskulös und schlank. Bei ihnen zählten Zähigkeit und Beweglichkeit mehr als Fett und Härte. Ein gewitzter Redner der Antike beschrieb einen ideal trainierten Pankratiasten so: Er sei besser zum Ringkampf geeignet als ein Boxer und zum Boxen besser geeignet als ein Ringer.
Pferdespiele Dem Tod eine Nüsternlänge voraus
Pferde waren wie eine Droge. Kein Sportfan der Antike konnte genug von ihnen bekommen. Sie waren schnell, elegant und wild, wer sie besaß, galt als reicher Mann. Homer gibt den Figuren seiner Ilias oft Beinamen wie »Rossebezwinger«. Damit war ein Mensch dieser Zeit ausreichend charakterisiert. Wem schnelle Pferde gehörten, der war ein Held, wer mit ihnen in Olympia Preise gewann, galt als gottgleich. Pferde brauchen Platz. Im Stadion des antiken Olympia hätten die Edelrosse gerade genug Raum gefunden, um im Dressur- oder Springreiten zu glänzen. Aber diese Sportarten waren noch nicht erfunden, Reiten bedeutete in der Antike Rennen und Geschwindigkeit. 680 vor Christus, als zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen auch Pferderennen stattfinden sollten, brauchte Olympia eine Rennbahn. Hippodrom hieß die Anlage, nach dem griechischen Wort »hippos« für Pferd. Bis heute sind ihre Überreste nicht gefunden worden. Zwar berichten viele Schriftsteller über die Pferderennbahn Olympias, aber der Zahn der Zeit hat das Hippodrom restlos abgenagt. Als Krümel für die hungrige Forschung fallen nur spärliche Texte vom Esstisch der Geschichte, auf die sich alle Rekonstruktionen berufen.
Wenn Mönche einen vom Pferd erzählen Eine alte Handschrift in Istanbul berichtet von dem Hippodrom Olympias. Der Text stammt aus dem 11. Jahrhundert nach Christus. Das ist alt, aber nicht alt genug. Als die Schrift verfasst wurde, gab es Olympia schon 700 Jahre lang nicht mehr. Der Autor kann also kaum Augenzeuge dessen gewesen sein, über was er schrieb. Trotzdem ist der Text wertvoll. In jenen Tagen, die wir heute 110
Mittelalter nennen, war es nicht mehr üblich, neue Ideen zu Pergament zu bringen und immer neue Bücher und Papyrusrollen herauszugeben. So etwas gab es nur in der Antike. Im Mittelalter aber war die Kunst des Schreibens fast in Vergessenheit geraten. Nur in Klöstern beherrschten die Mönche noch das Handwerk mit den Buchstaben. Jeden Tag stand ein Dutzend Geistlicher im Schimmer schwacher Talglichter an Pulten und kopierte die alten Schriften. Dazu gehörte vor allem die Bibel, aber auch das Wissen der Vergangenheit sollte erhalten werden. Maschineller Druck war noch nicht erfunden, Kopieren bedeutete Abschreiben. So saßen die Mönche große Teile ihres Lebens über alte Folianten gebeugt, schrieben sich die Finger wund und verdarben sich die Augen. Korrekturen gab es nicht. Wichtiger als Texttreue waren die vielen Bilder, die den Inhalt illustrierten und die wegen ihrer strahlenden Farben Illuminationen genannt wurden, Erleuchtungen. Die Illuminationen lenkten oft davon ab, dass sich Fehler einschlichen, und so schrieb einer den Irrtum vom anderen ab, und was ehemals als wahrer Text in die Schreibstube eines Klosters gekommen war, veränderte im Lauf der Jahrzehnte seinen Inhalt und kam nach Jahrhunderten als etwas völlig anderes wieder ans Tageslicht. Irren ist mönchlich. Jedem Lektor läuft es eiskalt den Rücken hinunter, wenn er die Geschichte des Massakers von Verden an der Aller hört. Dort soll um 775 nach Christus Karl der Große, einer der bekanntesten Könige des Mittelalters, 4 500 Sachsen gefangen genommen haben. Der König war so erzürnt über die Sachsen, die gegen ihn Krieg führten, dass er sie allesamt köpfen ließ. Das Blutbad von Verden ist heute in jedem Geschichtsbuch nachzulesen. In dem Ort selbst erinnert eine Reihe Gedenksteine an jenen furchtbaren Tag. Das echte Grauen aber ereignete sich nicht in Verden, sondern in der Schreibstube eines fränkischen Klosters. Dort kopierte ein unaufmerksamer Mönch das Wort »delocati« und verdrehte die Buchstaben so, dass »decolati« herauskam. Hieß das Letze »sie sind enthauptet worden«, stand ursprünglich in dem Text »sie sind umgesiedelt worden«. Aus dem durchaus menschenfreundlichen König Karl war ein blutrünstiges Monster geworden. Wie viele solcher Fehler heute in der Geschichtsschreibung kursieren, lässt sich nicht einmal erahnen. Mit Argusaugen lesen Wissenschaftler deshalb viele Texte, die aus den Schreibstuben des Mittelalters stammen. Besagte Schrift aus Istanbul hat eine solche Herkunft. Auf der einen Seite fassen Forscher sie nur mit spitzen Fin111
gern an, auf der anderen ist der Text aber eine der wenigen Quellen zum Hippodrom Olympias. Selbst wenn er voller Fehler stecken würde, wäre er doch von unschätzbarem Wert. Er berichtet von einer Anlage von gewaltiger Größe.
Der Nürburgring der alten Welt Ellbogenfreiheit für Reiter und Wagenlenker gab es auf der Pferderennbahn Olympias genug. 40 Rennwagen passten nebeneinander ins Hippodrom, 200 Meter war die Bahn breit und 600 Meter lang. Wie die Sportler beim Doppellauf, so rannten auch die Pferde hin und zurück, das entsprach bei einfacher Wiederholung einer Strecke von 1 200 Metern. Zwei Säulen markierten die Wendepunkte. Der Platz dazwischen war frei, ein Stoppelfeld, das kurz vor dem Rennen gefegt wurde. So eine Rennbahn war schlicht, aber übersichtlich. Ein Musterbeispiel griechischen Erfindungsreichtums hingegen war die Startvorrichtung. Beim Wagenrennen gab es das Problem, dass alle Wagen in einer Reihe stehen mussten, um gleichzeitig zu starten. Das ging nicht ohne Unfälle ab und manches Rennen war vorbei, ehe es begonnen hatte. Noch heute starten Formel-1-Piloten nicht nebeneinander. Stattdessen fahren sie vor dem Rennen die besten Rundenzeiten aus, um damit festzustellen, wer beim Start die besten Plätze bekommt. Wäre das Qualifying der Formel 1 zur Zeit des antiken Olympia bereits erfunden gewesen, hätten die Griechen Beifall geklatscht und dem Erfinder dieses Systems ein Denkmal errichtet – um ihm dann zu zeigen, dass ihre Lösung die bessere ist. So schlicht die Rennbahn Olympias war, so ausgeklügelt war der Startmechanismus. Als der Reiseschriftsteller Pausanias das Hippodrom von Olympia sah, war er von der Startanlage so beeindruckt, dass er dem Rest der Rennbahn nur wenige Worte widmete, den Start aber im Detail beschrieb: »Die Startanlage hat die Form eines Schiffsbugs, und sein Sporn (seine Spitze) ist gegen die Rennbahn gerichtet. Ein Delfin aus Bronze ist auf einer Stange ganz an der Spitze des Sporns angebracht. Jede Seite der Startanlage ist über 400 Fuß lang, und in ihnen sind Nischen eingebaut. Um einen Platz in diesen Nischen losen die Pferde, die zum Wettkampf antreten. Vor den Wagen oder auch den Reitpferden ist ein Tau als Startschranke gespannt. Ein 112
Altar aus ungebrannten Ziegeln, außen verputzt, wird zu jeder Olympiade in der Mitte des Bugs errichtet. Auf dem Altar steht ein bronzener Adler, die Flügel ganz weit ausgebreitet. Der Rennleiter kann nun den Mechanismus in dem Adler bewegen. Wenn er bewegt wird, fliegt der Adler in die Höhe, sodass er den Zuschauern sichtbar wird, und der Delfin fällt zu Boden. Im gleichen Moment senken sich nun die Seile, welche die Pferde zurückhalten, an den beiden äußeren Enden des Bugs. Die Pferde, die in diesen ersten Boxen stehen, laufen los. Im Lauf kommen sie auf die Höhe der Pferde, denen das Los die zweiten Plätze zu beiden Seiten des Schiffbugs zugeteilt hat, und nun senken sich auch die Startseile. So geht es in derselben Weise bei allen Pferden, bis sie sich am Sporn des Bugs, wenn der Wagen an der Spitze schließlich starten kann, alle auf der gleichen Höhe befinden. Von da an beginnt die Schaustellung der Kunst der Lenker und der Schnelligkeit der Pferde.«
Als Meisterwerk der Technik war diese Startanlage in ganz Griechenland und über seine Grenzen hinaus berühmt. Ihr Erfinder, ein Mann namens Kleoetas, war ein Schlauberger ohne Gleichen. Er tüftelte nicht nur die Anlage in Olympia aus, es gelang ihm obendrein, seine Landsleute dazu zu bewegen, ihm für diese Leistung eine Ehrenstatue samt Inschrift zu gießen und diese mitten in Athen aufzustellen. Nicht jeder berühmte Olympionike musste Sportler sein. Die Griechen liebten es schlicht. Wie schon die Athleten nur in die Klassen 113
Jugendliche und Erwachsene unterteilt waren, gab es auch für Pferde bloß zwei Schwierigkeitsgruppen: Fohlen und die offene Klasse der ausgewachsenen Rosse. Jede Klasse trat im Zweiergespann und im Vierergespann an, die Streckenlänge richtete sich danach, was den Pferden zugemutet werden konnte. Als einfachstes Rennen galt das Zweiergespann der Fohlen, die nur 4 Kilometer laufen mussten. Anstrengender für die Reiter und aufregender für die Zuschauer war der Lauf der Vierergespanne in der offenen Klasse. 13 Kilometer mussten Jockeys und Pferde dabei durchstehen – ein Schwergewicht des Rennsports. Was heute für die Formel 1 gilt, galt schon beim Wagenrennen in Olympia: Ein Rennwagen musste möglichst leicht sein, ein Federgewicht auf zwei Rädern. Das erreichten die griechischen Konstrukteure zum einen durch die geringen Ausmaße der Rennwagen. Sie waren so klein, dass der Lenker aufrecht stehend gerade noch Platz darin fand. Überdies waren die Wagen aus Holz oder Korbgeflecht, bunt bemalt und mit Ledergurten verstärkt. Viel Schutz boten sie nicht. Krachte das Gespann in die Bande, splitterte der Wagen in tausend Stücke. Manch ein Jockey mag sich gewünscht haben, den Wagen mit Metallplatten zu verstärken, aber jedes Gramm Gewicht warf ihn mehrere Meter zurück. Ohne die Bereitschaft, das Leben aufs Spiel zu setzen, brauchten Wagenlenker das Hippodrom Olympias erst gar nicht zu betreten. Der Krieg stand auch beim Wagenrennen Pate. Streitwagen waren in jeder frühen Hochkultur, in Ägypten, Babylonien, Assyrien, bei den Griechen und Römern, die stärkste Waffe in der Schlacht. Während einfache Soldaten nur langsam die Position wechseln konnten, rasten die Streitwagen durch die feindlichen Linien und waren schon wieder fort, kaum dass der Gegner reagieren konnte. Der klassische Kriegsstreitwagen war etwas größer als die Modelle für die Rennbahn. Auf ihm mussten zwei Menschen Platz finden: der Lenker und ein Bogenschütze, der in voller Fahrt Pfeile verschoss. Das hört sich einfach an. Aber es gab keine Straßen. Geschichtsforscher gehen heute davon aus, dass der Bogenschütze häufig kopfüber aus dem Wagen purzelte. Mit Pfeil und Bogen hatte er alle Hände voll zu tun, Festhalten war unmöglich. Rumpelte der Streitwagen durch ein Schlagloch oder über einen großen Stein, ging der Schütze bisweilen über Bord. Einen Führerschein für Streitwagen gab es zwar nicht, ein eingespieltes Team mussten Schütze und Lenker dennoch sein. Die ersten Streitwagen waren technisch weniger ausgereift als eine Seifenkiste. Die Räder hingen an 114
einer starren Achse, das bedeutete, der Wagen fuhr nur geradeaus. Sollten die Pferde die Richtung wechseln, hieß es anhalten, aussteigen und mit vereinten Kräften den Wagenkasten in die neue Fahrtrichtung drehen. Immerhin war es damit fast unmöglich, versehentlich in die falsche Richtung zu fahren und sich unterwegs zu verirren.
Mit Vollgas in den Tod Zuschauer im Hippodrom erlebten ein antikes Disneyland. Der Bronzeadler flog in die Luft, der künstliche Delfin erwachte zum Leben, die Startanlage erledigte ihre Aufgaben von selbst wie ein Computer. Einen Augenblick später war die Rennbahn erfüllt von wirbelnden Hufen, Anfeuerungsrufen, bunten Bändern und Wimpeln. Manch einer hoffte auf den Sieg seines Favoriten. Viele aber werden einen der sensationellen Unfälle herbeigesehnt haben. Davon gab es viele. Pindar, der bestbezahlte Public-Relations-Dichter seiner Zeit, erwähnt in der Lobpreisung eines Mannes namens Karrhotos, dass von 40 Wagen, die beim Pferderennen starteten, nur einer unversehrt das Ziel erreichte. Alle anderen waren auf der Strecke geblieben, ihre Piloten schwer verletzt oder tödlich verunglückt. Wer im Hippodrom die Pferde laufen ließ, spielte mit dem Tod. Die ersten Minuten des Rennens waren ein Himmelfahrtskommando. Jeder wollte als Erster die Wendemarke am anderen Ende der Bahn erreichen, zum einen, um an der Spitze des Feldes zu liegen, zum anderen, um der gefährlichsten Situation des Rennens zu entgehen. Um Zeit zu gewinnen, versuchte jeder Wagenlenker und jeder Jockey so nah wie möglich um die Wendesäule herumzumanövrieren. Mit einem Mal rasten alle Pferde von den Mittel- und Außenbahnen auf einen Punkt an der Innenbahn zu. Bremsen gab es nicht. In dieser brenzligen Situation halfen nur Geschick, Todesverachtung und ein guter Draht zur Glücksgöttin Fortuna. Wenn der Moment an der Wendemarke kam, hieß es, Augen auf und durch. Augenzeugen der Antike berichten von furchtbaren Unfällen. Der Faszination des Schrecklichen konnten sich auch die größten Dichter Griechenlands nicht entziehen. Sophokles berichtet in seiner Tragödie Elektra von einer solchen Szene: »So aufgereiht, wie die bestellten Kampfesrichter die Lose warfen, stürmten 115
sie beim Stoß der ehernen Trompete los. Zurufend ihren Rossen schwangen sie die Zügel und die ganze Bahn erfüllte sich von dem Getöse der rasenden Wagen, der Staub flog auf, und wie in eins vermengt, sparten sie die Peitschen nicht, dass einer des anderen Nabe überrunde und der Pferde schnaubende Nüstern. Denn um der Lenker Rücken, wie um der Räder Kränze, dampfte der Rosse Atemhauch.« Wagen, Pferde und Piloten erreichen die Wendesäule. Es geht um den Sieg, um Leben und Tod: »Doch jener, sich hart an die letzte Wendesäule drängend, die Radnabe dicht daran, dem rechten Pferd die Zügel lassend, hielt kurz das innere. Aufrecht standen alle Wagen noch, da geht des Ainianers Füllen durch, und aus der Kehre, wo die sechste Runde sich zur siebten schon vollendet, prall’n sie mit grader Stirn auf das barkäische Gefährt. Und, als Folge dieses Fehlers, rasen alle ineinander.« Massenkarambolage. Einige geschickte Fahrer, die von hinten kommen, manövrieren um das Chaos aus Pferden, Männern und zerstörten Wagen herum. Das Unglück aber schlägt noch einmal zu: »Da stieß er, wie er den linken Zügel dem wendenden Rosse freigab, unvermerkt die Wendesäule an und es brach der Achse Nabe mittendurch. Er glitt vom Wagensitz, verstrickte
Kinotricks im Hippodrom Noch im 20. Jahrhundert setzte die Filmindustrie dieser tödlichen Sportart ein Denkmal. Der Monumentalfilm Ben Hur zeigte 1959, wie Wagenrennen in der Antike ausgesehen haben könnten. Bis heute gilt die Szene auf der Pferderennbahn als Meilenstein der Filmgeschichte. Kaum bekannt ist hingegen, dass der US-amerikanische Regisseur William Wyler bei der Inszenierung ein bisschen mogelte. Sowohl Held Ben Hur als auch seine Konkurrenten auf der Rennbahn fahren mit Vierspännern durch das Hippodrom. Um den Sieg zu erringen, sind sich die Schurken des Films für keinen miesen Trick zu schade. Sie versuchen, Ben Hur in voller Fahrt mit der Peitsche zu schlagen. Dabei geraten die Räder der Wagen aneinander und brechen. Spannend gefilmt, aber ein Zuschauer aus der Antike hätte verärgert das Kino verlassen, wohlwissend, das dies faktisch unmöglich war. Solche Unfälle passierten nur an
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in die Riemen sich und wurde mitgeschleift. Die Füllen stoben auseinander, als er zu Boden fiel. Hellauf schrie das Volk, als es ihn stürzen sah, welch Unheil ihn nach solchem Ruhm ergriff, zu Boden bald geschleudert, bald weit emporgerissen mit hochgereckten Beinen, bis ihn die Wagenlenker, mit Mühe nur die Pferde haltend, vom Blut ganz überströmt befreiten, dass selbst die Freunde den entstellten Leib nicht mehr erkennen konnten.« Wer nun denkt, die edlen Griechen hätten sich angewidert von solch furchtbaren Szenen abgewandt, ist schief gewickelt. Ein Pferderennen, bei dem die Gefahr dem Publikum nicht auf der Haut prickelte, galt als langweilig. Doch alles Geschick und alle Vorsicht, Erfahrung mit den Pferdestärken, Robustheit oder Todesmut halfen nichts gegen die bösen Mächte, die offenbar ebenfalls im Hippodrom ansässig waren: Auf der Rennbahn Olympias spukte ein Pferdeschreck. Der hauste in einem Altar, der am Rand der Bahn aufgestellt war. Sobald die Pferde daran vorbeigaloppierten, erschreckten sie sich. Einige kamen nur für einen Moment aus dem Tritt, andere aber liefen kreuz und quer, kippten den an ihnen hängenden Wagen um und seinen Lenker aus oder verursachten Auffahrunfälle. Das Publikum taufte den unheilvollen Altar nach dem darin wohnenden Gespenst »Pferdeschreck«. Aus Respekt vor
der Wendemarke. Auf offener Strecke war es nicht möglich, die Wagen gegeneinanderkrachen zu lassen. Als Seitenaufprallschutz dienten die Pferde. Vier auf der einen und vier auf der anderen Seite, das bedeutete, je zwei Pferde eines Wagens liefen nebeneinander her. Die Wagen aber waren schmal und eng und rasten schlank wie ein Kometenschweif hinter den vier Pferdestärken her. Hätten sich die Vehikel auf offener Strecke berühren sollen, die Pferde hätten sich querstellen müssen. Was in der Antike als Lebensversicherung galt, war für das Filmteam von Ben Hur ein Problem. Die Tricktechniker fanden eine einfache Lösung: Sie spannten am Wagen Ben Hurs zwei Pferde aus, damit sich der Held und sein Gegenspieler in voller Fahrt nähern konnten. Im Film ist das nur für wenige Sekunden erkennbar. Der Zuschauer ist viel zu sehr von dem Duell der Wagenlenker gefesselt, um Pferde zu zählen. So bleibt der Kunstgriff unbemerkt. Ben Hur schubste seine Gegner von der Bahn – Happy End im Hippodrom.
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den Göttern blieb der Stein stehen, über Jahrhunderte verunglückten Pferde wegen eines Aberglaubens. Dabei hätten die Griechen nur einen Blick in den Himmel werfen müssen. Der »Pferdeschreck« war unschuldig. Wie Forscher aus den Beschreibungen des Stadions herausgelesen haben, liefen die Pferde zunächst eine Bahn in Richtung Süden, die Sonne brannte ihnen die gesamte Zeit über in den Augen. Als sie den Altar erreichten, der im Süden des Hippodroms gestanden haben muss, waren sie von der Sonne vollends geblendet und sahen nicht mehr, wohin sie liefen. Das Geschrei der Menge, die Schläge mit der Peitsche, der Geruch der anderen Tiere nur eine Handbreit entfernt gaben manchem Renner den Rest. Nerven rissen, die Rosse gingen durch. Von einem Pferdeschreck keine Spur.
Ein Sport für Faule Wagenrennen kosteten keinen Schweiß, sondern Geld. Keineswegs stiegen die Rennstallbesitzer persönlich in den Wagen und setzten Leib und Leben für den Sieg in Olympia aufs Spiel. Das erledigten Profis, angeheuerte Wagenlenker oder bezahlte Sklaven. Starben die unter den Hufen der Pferde, weinte ihnen kaum jemand eine Träne nach – Berufsrisiko. Gewannen sie das Rennen, erhielten sie eine kleine Anerkennung wie zum Beispiel ein buntes Siegerband. Den begehrten Olivenzweig und den Ruhm Olympias aber erhielt der Besitzer der Pferde. Reiten konnte schließlich jeder, teure Pferde halten aber war ein Privileg. Wagenrennen glichen einem Lotteriespiel. Je mehr Lose man kaufte, desto höher die Gewinnchance. Die Lose des Hippodroms hatten Hufe und Speichenräder. Ein Rennstalleigner durfte so viele Wagen auf die Piste schicken, wie er sich leisten konnte. Eine Begrenzung nach oben gab es nur durch die immensen Kosten, die mit einem Rennwagen verbunden waren. Ein einziges Pferd kostete im 5. Jahrhundert vor Christus etwa 1 200 Drachmen. Dafür musste ein Handwerker in Athen drei Jahre arbeiten. Von dem Athener Politiker Alkibiades ist bekannt, dass er 416 vor Christus sieben Wagen in Olympia an den Start gehen ließ. Der Erfolg machte ihn zum größten Champion aller Zeiten, seine Pferde gingen auf den Plätzen eins, zwei, drei und vier durchs Ziel, eine Leistung, die nach Alkibiades niemand wiederholte, vermutlich aus Angst, sich finanziell zu ruinieren. 118
Geld machte siegreich. Der Redner Isokrates brachte das Verhältnis von Wohlstand und Pferderennen auf den Punkt, als er sagte, Pferdezucht sei etwas, »was nur den vom Schicksal Begünstigten möglich, dem einfachen Manne aber verwehrt ist«. Wollten die Griechen denn keine Helden sehen? Sie wollten sehr wohl. Trotz allen Mammons und teuren Rassegäulen galt im Stadion von Olympia nur der als Supersieger, der in seinen eigenen Wagen stieg und persönlich die Peitsche knallen ließ. Solche Gelegenheiten gab es allerdings selten.
Die Rennstallbesitzer hingen am Leben und an ihren Rossen. Kimon von Athen gewann im 6. Jahrhundert vor Christus dreimal hintereinander das Wagenrennen in Olympia, ohne selbst auf der Bahn gewesen zu sein. Aus Dankbarkeit ließ er seine Pferde nach ihrem Tod in der Familiengruft bestatten.
Rennbahnstars mit langen Ohren Ein flotter Vierspänner musste es nicht gleich sein. Wem Wagenrennen zu teuer waren, der gab einem einzelnen Pferd die Sporen. Wenn das Wagenrennen in Olympia vorüber war, war die Reihe an den Jockeys der Pferderennen. Praktisch: Die Bahn war aufgewühlt von den Hufen und Wagenrädern der Vorgänger. Jetzt konnten sich die Rennpferde austoben. Nicht herunterzufallen war eine Kunst. Auch in vollem Galopp hatte der Jockey keinen Sattel. Steigbügel gab es ebenfalls nicht. Nur das Halfter half beim Festklammern. Ohne diese Werkzeuge war es kaum möglich, das Pferd zu beherrschen, aber die antiken Reiter waren Künstler hoch zu Ross. Beim einfachen Rennen galoppierten sie mit Hochgeschwindigkeit durch das Hippodrom. Die Kür aber kam beim »Abates«, einer Disziplin, wie sie heute nur aus Wildwestfilmen bekannt ist, in denen amerikanische Ureinwohner 119
ihre Kunststückchen zu Pferde zeigen. Beim antiken Abates musste der Reiter in vollem Galopp vom Pferd springen und eine kurze Strecke neben dem Tier herlaufen, bevor er wieder aufsaß. Anhalten war verboten. Das war eine Meisterleistung, da die Reiter mit einem Satz aufspringen mussten. Festhalten ging nicht. Den Steigbügel erfand erst Karl der Große, aber bis dahin vergingen noch knapp 1 000 Jahre. Edle Rosse waren teuer. Wie gut, dass es in Olympia auch eine Sparversion des Wagenrennens gab. Dabei zogen Maultiere den Karren durch den Dreck. Die Langohren sind das Ergebnis einer Kreuzung zwischen Pferd und Esel und brachten von beiden Elternteilen gewisse Eigenschaften mit nach Olympia. Sie waren zäh, schnell, günstig, genügsam und störrisch. Nach 14 Olympischen Spielen war Schluss. Das Maultierrennen wurde abgeschafft. Daran haben die Tiere wohl selbst am wenigsten Schuld. Stattdessen sollen die Maultiere den Eleern schwer im Magen gelegen haben. Nach einer lokalen Legende lag auf diesen Tieren ein Fluch der Götter, und die wollte niemand
Was für ein Zirkus! Um ein Pferdehaar wäre sogar das Römische Reich wegen dieser Sportart untergegangen. Im 7. Jahrhundert nach Christus wurde Rom von Konstantinopel aus von einem Kaiser regiert, der Senat aber war in der Hand so genannter Zirkusparteien. Das waren politische Gruppen und zugleich die Teams der Wagenrennen. Gäbe es heute noch derart heikle Verbindungen, wären Ferrari und die SPD, Mercedes und die CDU oder Renault und Bündnis 90/Die Grünen ein- und dasselbe. Wie heute trugen auch die Zirkusparteien eine Farbe, sie nannten sich sogar danach. Es gab die Roten, die Grünen, die Blauen, später kamen noch die Goldenen und die Silbernen dazu. Bei den Rennen schwenkten die etwa 25 000 Zuschauer Fahnen und Wimpel in der jeweiligen Farbe ihrer Fraktion. Bunter konnte Politik nicht sein. Jede Zirkuspartei verfügte über eigene Ställe, Materialschuppen, Trainingszentren, Pferde, Wagenlenker und Hilfspersonal. Bezahlt wurde so ein sündhaft teurer Rennstall von einem Konsul, dessen Beliebtheit stieg, wenn sein Team gewann. Da flogen nicht nur die Hufe, sondern bisweilen auch die Fäuste. Wer etwa Fan der Blauen war, der verachtete die Anhänger aller anderen Farben. Das römische Reich stand unter Dampf. Es dauerte nicht lange, da kochte die Suppe aus Politik und Pferderennen über.
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erzürnen, schon gar nicht zu Zeiten der Spiele. Das Maultierrennen einfach abzuschaffen ging allerdings auch nicht. Dagegen protestierten die Griechen aus Süditalien, die für ihre erstklassigen Maultiere berühmt waren, und die Rennen in Olympia der Reihe nach gewannen. Die Debatte wogte hin und her. Schließlich aber gaben sich die Maultierfans geschlagen. Vorstellbar, dass die Eleer der Entscheidung dadurch nachhalfen, dass sie einen Goldesel nach Süditalien schickten.
Bestechung, Fluch und Gift im Trog Selbst die reichsten Pferdebesitzer waren nicht immun gegen Aberglauben. Wie heute Gläubige beten, damit ein Wunsch in Erfüllung geht, so riefen auch die Rennstallbesitzer die Götter an. Während aber heutige Gebete keine archäologischen Spuren hinterlassen, haben die Wunschträume der Antike
Die Blauen waren die Lieblinge des römischen Politikers Justinian, aber nur, solange sie ihm nützlich waren. Nach seiner Ernennung zum Kaiser begann Justinian damit, die Macht aller Zirkusparteien zu beschneiden. Kein Mittel schien dem Imperator drastisch genug. Unruhestifter der Zirkusparteien ließ er verhaften und hinrichten. Doch der Kaiser hatte die Rechnung ohne die Götter gemacht. Eines Tages standen zwei Verurteilte unter dem Galgen und sollten gehängt werden. Beide überlebten. Bei dem einen riss der Strick, bei dem anderen ging der Galgen zu Bruch. Für die Schaulustigen war der Fall klar: ein Zeichen Gottes. Die antiken Götter waren zu dieser Zeit zwar bereits durch den christlichen Glauben ersetzt worden, an Zeichen und Wunder glaubten die Menschen aber nach wie vor. Sie forderten die Freilassung der Gefangenen. Doch die waren bereits von Mönchen in Gewahrsam genommen und dem Zugriff der Menge und damit der Freiheit entzogen worden. Der Mob tobte vor Zorn. Jetzt kam es für den Kaiser Schlag auf Schlag. Drei Tage später strömten mehrere zehntausend Anhänger der Zirkusparteien ins Stadion in der römischen Hauptstadt Konstantinopel, wo die Spiele anlässlich der Iden – der Monatsmitte – des Januars abgehalten werden sollten. Die Stimmung war explosiv. Die beiden Verurteilten gehörten jeweils den Grünen und den Blauen an. Beide Fraktionen, sonst spinnefeind, wollten nun dasselbe, die Freilassung der von
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die Zeiten überdauert. Die Pferdeherren ritzten ihre Hoffnungen auf Tontafeln, legten sie sorgsam in Holzkästchen und versteckten sie an magischen Orten. Das mochten Brunnen sein, in denen nach antiker Vorstellung Geistwesen lebten, oder der Boden der Pferderennbahn. Ein dort vergrabenes Zaubertäfelchen, so hofften die Rennbosse, würde dafür sorgen, dass das eigene Pferd gewann, die anderen lahmten oder aus der Bahn geworfen wurden. Eine hinterhältige spirituelle Taktik, die besonders gern in der Nacht vor dem Rennen praktiziert wurde, wenn niemand zusah, wie die Spitzbuben die Schadenstafeln im Hippodrom vergruben. Der Trick aber war allgemein bekannt und so wird es zu nachtschlafender Stunde auf der Pferdrennbahn zugegangen sein wie in einem Hühnerstall. Der Hokuspokus im Hippodrom war ein offenes Geheimnis. Wem das gegenseitige Verfluchen zu unsicher war, der griff zu handfesteren Mitteln, um den Gegner unschädlich zu machen. Bestechung war ein
Gott Begnadigten, und beide Fraktionen hatten denselben Gegner: Kaiser Justinian. Der brachte das Fass zum Überlaufen. Alles blieb normal im Stadion – zunächst. Die Pferderennen schlugen die Menge wie gewohnt in Bann. Das hatte Kaiser Justinian wohl auch gehofft, aber er hatte die Rechnung ohne die erhitzten Gemüter gemacht. Nach dem 22. Durchlauf skandierten die Fraktionen, der Kaiser möge die Gefangenen freilassen. Das Reich stand vor einer Revolte. In dieser brenzligen Situation beging der Kaiser einen der schwersten Fehler seiner Karriere. Er antwortete nicht. Alles hätten die Menschen ertragen, Ablehnung, Schimpf und Schande, aber die Missachtung ihrer Bedürfnisse – das war zu viel. Noch am selben Tag griff ein johlender Mob den Amtssitz des Stadtpräfekten an. In der Hauptstadt brach die Hölle los. Brände flackerten auf. Das Palastviertel, die Senatskurie, die Unterkünfte der Palastwache, das Kaiserforum, die Kirchen Hagia Sophia und Hagia Eirene gingen in Flammen auf. Das Volk strömte auf der Pferderennbahn zusammen, um einen neuen Kaiser auszurufen. Nun griff Justinian hart durch. Er befahl seine Soldaten in das Stadion und ließ sie ein Massaker unter den Rebellen anrichten. 30 000 Menschen sollen in dem Blutbad umgekommen sein. Anschließend war es vorbei mit der Macht der Zirkusparteien. Der Kaiser herrschte so, wie es ihm gefiel. Die Senatoren mussten sich neue Kniffe ausdenken, um das Volk auf ihre Seite zu ziehen. Vom Pferderennen hatten die römischen Politiker fürs Erste die Nase voll.
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gängiges Mittel, um die eigenen Pferde sicher nach Hause zu bringen. Ein Jockey, der sich von seinem Herrn schlecht behandelt fühlte oder zu kurz gehalten wurde, war empfänglich für die Geldgeschenke anderer Pferdebesitzer. So ein Beutel Gold wirkte Wunder, und der favorisierte Starjockey fiel beim nächsten Rennen aus unerfindlichen Gründen auf den letzten Platz. Verboten waren Bestechungen gewiss, aber sie konnten nur in wenigen Fällen nachgewiesen werden. Wenn nichts mehr half, half nur Gewalt. Des Nachts schlichen zwielichtige Gestalten durch die Ställe von Olympia und tuschelten mit den Stallburschen. Die machten bei solchen Gelegenheiten ihr Glück. In die eine Hand bekamen sie einen Sack Münzen, in die andere eine Phiole Gift. Die Kunst der Giftmischerei war in der Antike so weit verbreitet wie fortgeschritten. In Kräutergärten wuchsen Schierling, Aconit und Blauer Eisenhut, aus denen sich tödliche Substanzen mischen ließen. Diese Gifte fällten jedes Pferd, da half auch keine Rossnatur.
Dichten, dudeln, Steine werfen Olympische Randerscheinungen
Die Jagd nach dem Olivenzweig trieb immer buntere Blüten. Nie schien das Programm der Spiele gut genug, ständig waren andere Sportarten modern, immer wieder rief das Publikum nach Neuem. Diesen Forderungen gaben die Organisatoren in Olympia zwar oft nach, aber die meisten dieser Sprösslinge verwelkten schnell.
Eine dieser Schnapsideen war es, das Pankration, die härteste Disziplin der Sportwelt, für Jugendliche zu veranstalten. Weder ertrugen die olympischen Knaben die Schmerzen noch widerstanden sie harten Griffen so gut wie Erwachsene, die mehr Muskeln und Fett auf den Rippen trugen. Ohne natürliche Rüstung muss so mancher junge Schwerathlet auf einer Bahre aus dem Stadion getragen worden sein. Das Pankration für Jugendliche gab es jedenfalls nur ein einziges Mal. Danach verschwand dieses Hirngespinst auf Nimmerwiedersehen in einem dunklen Winkel der Geschichte. Dem einen schmerzte beim Sport der Kopf, dem anderen schmerzten die Ohren. Der Wettkampf der Trompeter und Herolde sollte die sportlichen Disziplinen um einen künstlerischen Wettkampf ergänzen. Damit es richtig krachte, traten die Musiker in der Echohalle auf, einem Bauwerk am Rand des Stadions, das seinem Namen alle Ehre machte. Was man in diese Säulenhalle hineinrief, schallte siebenfach wieder zurück. Solch ein Superecho war wie geschaffen für einen antiken Musikantenstadl. Trompeten gab es nicht, jedenfalls nicht in ihrer heutigen Form. Griechi124
sche Blasmusiker spielten auf dem Doppelaulos. Das war eine lange Flöte aus Holz, Knochen oder Metall. Wer das Instrument beherrschte, steckte sich zwei Flöten in den Mund – eine in jeden Mundwinkel – und spielte beidhändig drauflos. Obwohl der Doppelaulos nur wenige unterschiedliche Töne hervorbrachte, lauschten die Griechen ihm gern. Als furchtbar hässlich empfanden sie es allerdings, wenn die Musiker beim Spielen ihre Wangen aufblähten. Solch entstellte Gesichter erschreckten die Menschen der Antike: Ohne gut aussehende Künstler klang die schönste Musik wie das Jaulen des Höllenhundes Zerberus. Doch zum Glück half ein altes Hausmittel. Gegen Fratzen banden sich die Spieler des Doppelaulos ein Tuch um das Gesicht und verknoteten es so stramm, dass die Froschbacken sich gar nicht erst bilden konnten. Vater des Musikwettbewerbs war, wie beim Kämpfen, Laufen, Werfen und Springen, der Krieg. Zog eine Truppe in die Schlacht, marschierte ein Doppelaulosbläser voran, gab den Takt vor und stimmte die Soldaten mit seinen Weisen auf den Kampf ein. Überall auf der Welt gibt es diese Verbindung von Musik und Kampf, meist begleiten Trommler und Trompeter das Heer, in der modernen Form gehören sogar ganze Musikkapellen zur Truppe. Sie ziehen allerdings nicht mehr in die Schlacht, sondern unterhalten die Bataillone und repräsentieren sie mit Paradeuniformen in der Öffentlichkeit. Bei den Griechen war die Verbindung zwischen Musik und Kampf noch direkter, die Idee, dass sich auch die Musiker einer Truppe in Olympia messen sollten, lag deshalb nahe. In der Antike mussten sogar die Musen Wehrdienst leisten. Über diese merkwürdige Disziplin im olympischen Programm mochte jeder denken, was er wollte, sie war mit Sicherheit die lauteste. Natürlich gewannen auch die besten Bläser einen Olivenzweig, aber es gab noch einen ehrenvollen Preis. Der Sieger im Wettbewerb der Trompeter und Herolde durfte bei den Laufwettbewerben im Stadion den Startschuss blasen. Die Musik lockte weitere Künstler nach Olympia. Bald stand eine Schar von Dichtern vor dem heiligen Bezirk Schlange. Sie hatten alle Register der antiken Schreibkunst gezogen und Oden und Epigramme, Tragödien und Komödien erdacht, die sie nun vortragen wollten – zu Ehren der Götter und wohl auch ein wenig, um berühmt zu werden. Bei den Organisatoren in Elis stieß die Idee vom Dichterwettstreit auf offene Ohren. Eine olympische Disziplin für Schriftsteller wurde zwar nicht daraus, aber die Dichter durften am ersten Tag der Olympischen Spiele ihre Werke vortragen. Echte Perlen antiker 125
Dichtkunst scheinen nicht darunter gewesen zu sein, denn bis heute ist von diesem Wettdichten nur bekannt, dass es stattgefunden hat. Die Unsterblichkeit hatten in Olympia nur die Athleten gepachtet. Noch eine Sportart schaffte es nicht in die Reihen der offiziellen Disziplinen Olympias. Das hielt aber niemanden davon ab, sich damit am Rande des heiligen Hains zu unterhalten. Beim Steinwurf versuchten die Wettstreiter, runde Steine so weit wie möglich zu werfen. Damit unterhielten sich die Zaungäste, wenn das Stadion gerade gefegt wurde, die nächste Mahlzeit noch vor sich hin köchelte und auch keine Prozession zum nächsten Tempel die Langeweile vertrieb. Dann war die Zeit des Steinwurfs, des »lithobolos«, wie die Griechen sagten. Darin verbirgt sich das griechische Wort »lithos« für Stein. Es begegnet dem modernen Menschen heute noch in Worten wie Lithografie, dem Steindruckverfahren, oder dem Neolithikum, der Jungsteinzeit. Der »lithobolos« bot dem Publikum Olympias die Möglichkeit, sich untereinander zu messen, so wie es die Profisportler im Stadion taten. Nur einen Steinwurf vom Stadion entfernt flogen Kiesel, Gneis und Quarzbröckchen durch die Luft, jubelten sich die Zuschauer gegenseitig zu und fanden heraus, wer von ihnen den besten Wurfarm besaß – die wahren Amateure Olympias. Sogar beim Steinewerfen ließen sich die Besten mit kleinen Gedichten verewigen. Einen Stein samt darauf eingeritzten Worten fanden Archäologen im 20. Jahrhundert. Der Text lautete »Bubon, der Sohn des Pholos, warf mich mit einer Hand über seinen Kopf.« Der Stein wog 143,5 Kilogramm. Aufschneiderei war schon in der Antike ein beliebtes Handwerk. Bei so viel Erfindungsreichtum – wieso spielten die Griechen in Olympia nicht Tennis, warum nicht Fußball, Handball, Baseball oder Beachvolleyball? Kannten die keine Bälle? Doch, sie kannten. Bälle waren aus Stoff oder Leder und genauso rund wie heute. Aber sie galten als Spielzeug für Kinder. In Olympia mit einem Ball aufzutauchen hätte bedeutet, sich lächerlich zu machen. Die Athleten Olympias sollten den besten Kriegern nacheifern, nicht den Jungen und Mädchen, die in den Straßen ihres Dorfes Ball spielten. Sport und Spaß waren im alten Griechenland nicht dasselbe. Dabei gab es spannende Ballspiele genug. Beim Ephedrismos trugen sich die Spieler Huckepack und warfen sich gegenseitig die Bälle zu. Beim Aporrhaxis ging es darum, den Ball gegen eine Wand prallen zu lassen und wieder aufzufangen – der Großvater des Squash. Das Uraniaspiel verlangte von den Mitspielern, den Ball so hoch wie möglich in die Luft zu werfen und ihn 126
anschließend wieder aufzufangen. Geschicklichkeit war wichtiger als Kraft und Ausdauer. Tatsächlich mussten diese Ballspiele den Vergleich mit der in Olympia beliebten Schwer- und Leichtathletik scheuen. Wie das Publikum, verwöhnt von Blut und Knochenbrüchen, reagiert hätte, wenn ein einzelner Sportler im Stadion einen Ball in die Höhe geworfen hätte, ist leicht vorstellbar. Die Organisatoren der Olympischen Spiele riskierten keine Unruhen auf den Tribünen. Ballspiele blieben draußen.
Auf Biegen und Brechen Spiele ohne Regeln
Zeus ist heute schlecht gelaunt. Furchteinflößend steht er, groß wie zwei Männer, im Buleuterion Olympias, dem Haus des Olympischen Rates. Für alle Fälle hält der Gott Blitze in beiden Händen, die jeden vernichten, der ihm krumm kommt. Mit aufgerissenen Augen schaut er auf die Männer zu seinen Füßen herab. Die Sterblichen bemühen sich, es dem griesgrämigen Zeus recht zu machen. Sie schlachten einen Eber und opfern das Fleisch in einem Feuer. Dann treten sie vor der Riesenstatue des olympischen Obergottes zusammen, Athleten und Trainer und sogar ihre Väter und Brüder, und schwören hoch und heilig. Sie schwören, bei den Olympischen Spielen in keinem Punkt von den Regeln abzuweichen, so wahr ihnen Zeus helfe. Dann verlassen sie den Kultraum gemessenen Schrittes. Zurück bleibt Zeus. Er kennt seine Pappenheimer. Schwören können sie gut, aber betrügen können sie noch besser. Olympia war ein Paradies für Trickser und Mogler. Der Einsatz war hoch, viele opferten viel Geld, um bis zur Olympiareife trainieren zu können. Ebenso hoch war der Preis: ein Leben im Luxus und Ruhm in ganz Griechenland. Da kam jeder Fallstrick für den Gegner gelegen. Ein unerlaubter Stoß mit dem Ellbogen, schon wand sich der andere auf dem Boden, ein ausgestrecktes Bein, schon purzelte der Gegner in den Staub. Zeus sah nicht alles. Wie gut, dass er Stellvertreter hatte.
Die Kampfrichter – Könige für fünf Tage Schiedsrichter müsste man sein. Die Unparteiischen in Olympia waren die Stellvertreter des Zeus und Könige der Spiele. Zwar trugen sie keine Krone – die kannte in der Antike noch niemand –, aber dafür einen Purpurmantel. Die blaurote Farbe war das Zeichen der Könige. Die Kampfrichter in Olympia 128
waren unumschränkte Herrscher des Sports und die Platzhirsche im Statuen wald. Kampfrichter waren keine Heiligen. Sie waren bestechlich und machten auch bei den Entscheidungen Fehler. Deshalb gab es einen Oberaufseher, der über neun Kollegen wachte. Die teilten sich die Aufgaben im Stadion und Hippodrom. Drei achteten auf die Pferderennen, drei auf den Fünfkampf und drei auf die übrigen Spiele. Um die Gefahr der Bestechlichkeit so gering wie möglich zu halten, musste ein Kampfrichter ein Adeliger sein. Nur Reichtum schütze vor den Verlockungen von noch mehr Reichtum, meinten die Griechen. Sie lagen falsch. Macht macht erfinderisch. Einige Kampfrichter legten die olympischen Gesetze auf originelle Art und Weise aus. Sie hatten zwar einen heiligen Eid vor Zeus geschworen, laut dem sie unparteiisch richten sollten. Aber nirgendwo stand etwas davon, dass sie nicht selbst an den Spielen teilnehmen durften. So schickten einige unverfrorene Kampfrichter tatsächlich die eigenen Pferde zum Wagenrennen Olympias, saßen beim Rennen auf der Kampfrichtertribüne und entschieden, wer der Sieger war. Das ging eine Zeit lang gut. Als aber um 372 vor Christus einer von ihnen auffallend viele Wettbewerbe gewann, zogen die Eleer einen Strich unter dieses Kapitel olympischer Korruption. Unparteiisch zu sein galt in Griechenland als Tugend. Wie der Olympische Friede war auch die Neutralität der Kampfrichter der Exportschlager von Elis. Dank des Mythos Olympia galten die Eleer in ganz Griechenland als untadelig und ehrenhaft. Kein Wunder also, dass sie mit Argusaugen darauf achteten, dass dieses Image keine Schrammen bekam. Wie Athleten das Ringen, Boxen oder Laufen trainierten, so übten sich die Eleer in der Gerechtigkeit, jedenfalls für den Zeitraum der Olympischen Spiele. Ebenso wie es für die Sportler Trainer gab, gab es für die Kampfrichter Berater. Der berühmteste Experte in Sachen Gerechtigkeit war im 6. Jahrhundert vor Christus der ägyptische Pharao Psammetich II. Zu ihm schickten die Eleer eine Delegation, um einen Rat zu bekommen, wie sie noch unparteiischer werden könnten. Der Pharao erwies sich tatsächlich als weiser Mann, aber auf andere Art, als die Eleer erhofft hatten. Er meinte, wenn sie wahrhaftig unparteiisch sein wollten, dürften die Eleer an den Olympischen Spielen gar nicht mehr teilnehmen. Die Delegation soll nie wieder in Ägypten aufgetaucht sein. 129
Die Gerechtigkeit war zeitlich begrenzt. Für die Dauer der Olympischen Spiele bemühten sich die Eleer darum, die hohe Kunst der Neutralität auf die Spitze zu treiben. Wenn aber der letzte Athlet Olympia wieder verlassen hatte und für vier Jahre Ruhe einkehrte, hingen auch die Eleer ihre Unparteilichkeit wieder an den Nagel und waren so ungerecht wie jeder andere Mensch. Der spartanische König Agis soll einmal über die berühmten Kampfrichter gesagt haben: »Was tun sie eigentlich so Bewundernswertes, wenn sie an einem einzigen Tag in vier Jahren Gerechtigkeit ausüben?« Die bissige Bemerkung hatte einen Hintergrund. Agis war zu dieser Zeit nicht gut auf die Eleer zu sprechen, weil die Athleten seines Reiches kaum noch Siege in Olympia errangen. Schuld daran hatten in den Augen der Spartaner natürlich die Schiedsrichter. Manche Tradition im Sport ist älter, als man denkt.
Bußgeld oder Peitsche Viel Arbeit hatten die Kampfrichter nicht. Regeln gab es nur wenige, genau hinsehen musste deshalb niemand. Wenn jedoch einmal ein Betrüger in flagranti erwischt wurde, hagelte es harte Strafen. Die rote Karte der Antike war der Stock. Mussten die Kampfrichter bei einem Wettkampf einschreiten, zückten sie eine lange Rute, deren Ende gegabelt war. Ein Schlag damit hatte den gefürchteten Teppichklopfer-Effekt, er tat höllisch weh. Verletzt wurde allerdings niemand und der Wettkampf ging ohne Unterbrechung weiter. Die schnelle Züchtigung war nur eine Verwarnung. Wer auf sie nicht hören wollte, musste fühlen – dem Schiedsgericht in Olympia stand ein kleines Arsenal von Bestrafungen zur Verfügung. Schlimme Schummler bekamen die Peitsche zu kosten und mussten sich in der Öffentlichkeit mit Lederriemen schlagen lassen. Das tat weh, aber Schmerz war für einen Olympioniken nichts Schlimmes und ging vorbei. Was blieb, war die Blamage. Auspeitschen war eine Strafe, die sonst nur Sklaven über sich ergehen lassen mussten, niemals wurde in Griechenland ein freier Mann öffentlich gezüchtigt. In Olympia war diese Art der Strafe deshalb besonders gefürchtet. Da war es vorbei mit Ruhm und Ehre. Wer beim Mogeln erwischt wurde, für den verwandelte sich der Traum vom Sieg in einen Albtraum der Schande. Es ging auch harmloser. Die Kampfrichter verdonnerten olympische Schwindler auch zu Geldbußen, die allerdings so hoch waren, dass sie mehr 130
schmerzten als die öffentliche Peitsche. Zu spüren bekam das der berühmte Schwerathlet Theagenes, der sich in Olympia ein wenig übernommen hatte. Er war für den Faustkampf und das Pankration angemeldet. Beim Boxen legte Theagenes noch richtig los und schmetterte seinen Gegner mit voller Wucht zu Boden. Für das Pankration aber reichten anschließend die Kräfte nicht mehr. Nach einigen Runden ließ Theagenes merklich nach. Trotzdem gewann er das Match. So ging das nicht. Die Kampfrichter erkannten zwar den Sieg an, aber sie meinten, Theagenes habe zu wenig Einsatz gezeigt, das Publikum gelangweilt, den Gegner blamiert und den olympischen Gedanken der besten Leistung in den Schmutz gezogen. Die Strafe: 12 000 Drachmen, eine riesige Summe. Schon eine einzige Drachme pro Tag reichte aus, um eine vierköpfige Familie zu ernähren. Der Rüffel kostete so viel wie 30 Jahreseinkommen eines normalen Arbeiters. Das tat sogar einem gut verdienenden Sportprofi wie Theagenes weh. Geradezu unverschämt mogelte ein alter Mann namens Lichas. Der Spartaner wollte sein Pferdegespann beim olympischen Wagenrennen anmelden. Sparta aber war zu dieser Zeit, um 420 vor Christus, von den Spielen ausgeschlossen. Der Stadtstaat hatte mitten in der schönsten Waffenruhe mit den Säbeln gerasselt und einen Krieg angezettelt. Flugs hatten die Eleer Sparta für die Spiele gesperrt. Pech für Lichas, der viel Zeit und Geld in seine Pferde investiert hatte, damit sie in Olympia antreten konnten. Aber die Bürger Spartas waren nicht nur für ihre Kampfeslust berüchtigt, sondern auch für ihre Gerissenheit. Lichas griff zu einem Trick. Er log, dass sich die Balken bogen. Bei der Anmeldung für das Wagenrennen behauptete der Spartaner frech, er stamme aus Theben. Reisepässe, Personalausweise oder Geburtsurkunden gab es nicht. Was zählte, war das Wort eines Mannes (niemand glaubte einer Frau). Wenn Lichas also sagte, er sei Thebaner, so war das für das olympische Komitee gut genug. Der Schwindel flog auf. Als der Wagen des Lichas gewann, rannte dieser im Siegestaumel über die Rennbahn, jubelte und wollte den Preis einheimsen. Seine Freunde, Verwandten und Kollegen aus Sparta jubelten ihm ebenfalls zu. Wenn das noch nicht reichte, Lichas als Spartaner zu entlarven, so genügte es spätestens, als der Alte seinen Wagenlenker mit einer Siegerbinde schmückte, auf der die Farben Spartas zu sehen waren. Für die Kampfrichter war das Maß voll. Ungeachtet seines Alters wurde Lichas öffentlich ausgepeitscht. 131
Die Bestrafung hatte Folgen. Die Spartaner waren ohnehin nicht gut auf die Eleer zu sprechen, da drohte die Episode mit Lichas, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Die gespannte Situation war drauf und dran, sich in einem Krieg zu entladen. Was tun? Der Alte war mit Schimpf und Schande aus Olympia fortgejagt worden. Ihn zurückzuholen und sich zu entschuldigen war für die Kampfrichter unmöglich. Sie und ihre Nachfolger wären für alle Zeiten unglaubwürdig. Aber nicht umsonst ist die Diplomatie eine Kunst, deren berühmteste Fachkräfte aus Griechenland stammten. Elegante Lösung: Die Kampfrichter sprachen den Thebanern den Sieg zu. Lichas aber durfte eine Siegesstatue für sich im heiligen Hain Olympias aufstellen lassen. Die Wogen glätteten sich. Sieger blieb die Klugheit. Korrupte Sportler sind unverbesserlich. Etwa 100 Jahre, nachdem Lichas seine Tracht Prügel bekommen hatte, war die Reihe an Kallippos, einem Fünfkämpfer aus Athen. Ihm konnte nachgewiesen werden, dass er seinen Gegner bestochen und deshalb den olympischen Pentathlon gewonnen hatte. Ein Skandal. Das Publikum schrie auf und rief nach Bestrafung, die Kampfrichter zückten die Peitsche. Dann machte die Regierung Athens einen großen Fehler. Die Athener nahmen ihren Recken in Schutz. Sie behaupteten, Kallippos habe nach den Regeln gekämpft, von Bestechung keine Spur, die Kampfrichter hätten Tomaten auf den Augen. Die so beschimpften Unparteiischen ärgerten sich nicht weiter mit Kallippos herum. Jetzt hatten sie einen viel größeren Fisch an der Angel: Athen. Sie verzichteten darauf, den Fünfkämpfer auszupeitschen, und erteilten stattdessen Athen einen Rüffel. Die Polis sollte zahlen. Nun war die Reihe wieder an Athen. Der Rat der Stadt weigerte sich standhaft, das Urteil anzuerkennen. Wer war der Meister der Dickköpfigkeit? Athen und Elis trugen eine neue Art von Wettkampf aus. Er nahm olympische Dimensionen an. Eine Einigung war nicht in Sicht. Athen fürchtete, langfristig von den Olympischen Spielen ausgeschlossen zu werden. Die Eleer fürchteten, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie eine Strafe nicht durchsetzen konnten. Schließlich wandten sich die Streithähne an die Götter. Die Athener gingen nach Delphi und ließen sich vom dortigen Orakel verraten, was zu tun sei. Damals wusste jedes Kind, dass die Sprüche der Pythia, des Mediums in Delphis Apollontempel, so verschraubt waren, dass die Antwort meist eine Frage der Ausle132
gung war. Darauf mögen die Athener gehofft haben. Aber das Orakel machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Es gab den Eleern Recht. Athen war geschockt. Zähneknirschend zahlten die Stadtväter die Strafe, und die hatte sich gewaschen. 16 Bronzestatuen musste der Stadtstaat in Olympia aufstellen. Auch wenn die Sportfans der Antike in der Regel keine Rekorde zählten, mit 16 Bronzebildnissen auf einmal hatte Athen eine Höchstleistung aufgestellt. Natürlich ließen es sich die Eleer nicht nehmen, diesen Statuenwald wie ein Mahnmal am Stadioneingang aufzupflanzen. Hier gingen fast alle Athleten der Spiele entlang, hier standen sie und warteten darauf, dass sich das Stadiontor öffnete, und währenddessen hatten sie genug Zeit, die Inschriften auf den Sockeln der Bußebildnisse zu lesen: »Einen Sieg in Olympia erringt man mit der Schnelligkeit der Füße und mit Körperkraft, aber nicht mit Geld.«
Die korrupten Unbestechlichen Bestechung kam in den besten Familien vor. Der Dichter Philostrat kennt die Gründe dafür: »Die einen verkaufen ihren Ruhm, wie ich glaube, weil sie viel brauchen, die anderen müssen sich einen mühelosen Sieg kaufen, weil sie ein weichliches Leben führen.« Dann beklagt Philostrat die Zustände bei den Spielen in Delphi und Korinth: »Den Kranz des Apollon und Poseidon aber, um welchen die Götter selbst sich gewaltig bemühen, kann man ungestraft verkaufen, ungestraft kaufen, und nur bei den Eleern gilt der Ölkranz nach altem Glauben noch für unantastbar.« Wenn Philostrat geahnt hätte, dass sogar die Eleer nicht makellos waren, er hätte sie in den Hades, die griechische Unterwelt, gewünscht. Wie ihre Nachbarn aus den anderen Stadtstaaten erlagen die Eleer gelegentlich den Verlockungen des schnellen Geldes. Im Jahr 12 vor Christus, die römischen Kaiser herrschten zu dieser Zeit schon über Griechenland, trafen in einer verschwiegenen Taverne nahe Olympia zwei Männer zusammen. Beide hatten Söhne, die in den nächsten Tagen im Stadion gegeneinander ringen sollten. Einer von ihnen, Damonikos, war Eleer und gehörte damit zu jenen Griechen, von denen alle anderen annahmen, sie seien die Reinsten und Ehrlichsten. Nicht so Damonikos. Er tuschelte mit Sosandros, dem Vater des gegnerischen Ringers, und schlug ihm einen Handel vor. Wenn der 133
Sohn des Damonikos den Ringkampf gewinnen würde, würde der Sohn des Sosandros einen Batzen Geld bekommen. Dem einen die Ehre, dem anderen der Reichtum – beide könnten zufrieden sein. Sosandros schlug ein. Die Söhne kämpften wie abgesprochen und des Damonikos Sohn gewann. Zum Unglück der Betrüger aber gab es eine undichte Stelle in dem Komplott, und die Kampfrichter Olympias bekamen Wind von dem Betrug. Sie verurteilten die falschspielenden Väter dazu, je eine sündhaft teure Statue zu Ehren des Zeus im heiligen Hain aufzustellen. Die Söhne kamen mit der Schande davon. Am schlimmsten aber wog, dass ein Eleer versucht hatte, in Olympia zu betrügen. Noch 150 Jahre später, als der Reisejournalist Pausanias Olympia besuchte und von dem Skandal hörte, war er so entsetzt, als wäre es am Tag zuvor geschehen: »Wundern muss man sich so schon, dass jemand vor dem Gott in Olympia gar keine Scheu hat und für den Wettkampf Geschenke annimmt und gibt, aber noch mehr muss man sich wundern, wenn das sogar jemand von den Eleern selbst schon gewagt hat.« Kampfrichter zu sein war ein harter Job. Schon Bestechungen zu entdecken und anzuzeigen war schwierig, wie der Fall des Kallippos zeigt, und auch um Falschspieler zu entlarven brauchte ein Neutraler Falkenaugen. Das schlimmste Elend für einen Kampfrichter konnte es sein, in einem Wettkampf den Sieger bestimmen zu müssen. Nicht immer gingen die Läufer mit zwei Sekunden Abstand durchs Ziel, nicht immer ging nur ein Ringer zu Boden. Die Zielkamera gab es noch nicht, es galt, was die Kampfrichter sahen. Das war bisweilen nicht viel. Im Stadion saßen sie auf ihren Sitzen in der Mitte der Tribüne. Die Start- und Zielschwellen waren so weit davon entfernt wie bei einem Fußballfeld der Strafraum vom Mittelkreis. Bei den Kampfspielen standen die Boxer, Ringer und Pankratiasten zwar direkt vor den Sitzen der Kampfrichter, aber selbst wenn die Unparteiischen mit der Nase im Geschehen steckten, sahen sie oft nur die Hälfte. Gerechtigkeit ist kompliziert. Nicht immer liegt der Fall klar, sind Gut und Böse voneinander zu unterscheiden wie Feuer und Wasser. Im Fall der Boxer Kreugas und Damoxenos zeigten die Kampfrichter, wie sehr sie auf Einhaltung der Regeln pochten. Die beiden Schwerathleten hieben bei den Spielen von Nemea schon geraume Weile aufeinander ein. Ein Ende war nicht abzusehen. Die Kämpfer bluteten schon aus zahlreichen Wunden, die Augen waren geschwollen, das Publikum wollte eine Entscheidung. Wie bei solchen Fällen üblich, ließen die Schiedsrichter den Kampf anhalten und erklärten, die 134
Boxer mögen so lange ohne Gegenwehr aufeinander einschlagen, bis einer am Boden lag, und zwar abwechselnd. Das Elfmeterschießen der Faustkämpfer begann. Kreugas holte als Erster aus und landete einen Schwinger auf der Nase seines Gegners. Der taumelte zwar, fing sich aber wieder. Nun war die Reihe an Damoxenes. Er forderte Kreugas auf, die Arme über den Kopf zu nehmen, und dieser musste gehorchen. Was führte Damoxenes im Schilde? Statt den Wehrlosen zu schlagen, rammte er diesem die ausgestreckten Finger in die Seite. So viel Kraft lag in dem Stoß, dass die Finger in den Leib eindrangen. Getrieben von der Gier nach dem Sieg ließ Damoxenes nun keineswegs von seinem Opfer ab. Er packte die Eingeweide des Kreugas und riss sie ihm aus dem Körper. Der Gemarterte starb auf der Stelle. Derber konnte ein Foul nicht sein. Heute drohten einem Boxer Mordanklage, Gefängnis und der lebenslängliche Ausschluss von allen Kämpfen. Die Kampfrichter in Olympia sahen die Sache anders. Der Tod des Kreugas war bedauerlich, aber das gehörte zum Berufsrisiko. Damoxenes hatte sich richtig verhalten, der Stoß gehörte nicht zu den verbotenen Griffen. Trotzdem verpasste der Totschläger den Olivenzweig um Haaresbreite. Denn als er mit den Fingern im Leib des Kreugas herumgewühlt hatte, hatte er einen zweiten Griff getan. Erlaubt war aber nur einer. Der Fall lag klar. Damoxenes wurde disqualifiziert. Sieger des Kampfes war Kreugas, auch wenn er sich über diese Ehre nicht mehr freuen konnte.
Schiebung beim Profitransfer Wer den Sieg Olympias heimtrug, war reich und berühmt. Von der Sahnetorte der Ehre schnitten sich auch die Stadtstaaten ein großes Stück ab. Auf dem Sockel jeder Siegerstatue prangte der Name Athens, Spartas, Thebens oder eines anderen Ortes. Die olympischen Sieger schenkten ihrer Heimat Ruhm und Prestige. Dafür zogen die Ratsherren der Stadtstaaten die Spendierhosen an. Die berühmtesten Söhne einer Stadt aber waren oft gar keine einheimischen Gewächse. Boxte ein Schwerathlet für Theben, mochte er durchaus aus Sparta kommen. Ein Läufer, der für Korinth die Beine schwang, war vielleicht in Athen zu Hause. Die Spitzensportler spielten Bäumchen-wechsle-dich. Ein 135
gewisser Astylos gewann im 5. Jahrhundert vor Christus den olympischen Ölzweig im Langstreckenlauf und im Waffenlauf. Er kam aus Kroton, einer Stadt in Süditalien, die sich vier Jahre lang stolz mit dem Sieg brüstete und bei keinem Empfang fremder Staatsgäste versäumte, darauf aufmerksam zu machen. Bei den nächsten Olympischen Spielen trat Astylos wieder an, als Favorit in seinen Disziplinen wird die Menge ihm lauthals zugejubelt haben. Aber dieses Mal kam Astylos nicht mehr aus Kroton, sondern aus Syrakus auf Sizilien. War er etwa umgezogen? Tatsächlich hatte der Sportler seinen Wohnort verlegt, aber es war nicht das frische Meeresklima, das ihn auf die Insel gelockt hatte, sondern Geld. Die Syrakusaner hatten Astylos eingekauft, so wie sich heute ein Fußballverein seine Spieler aus der ganzen Welt beschafft. Das war verboten. Aber die Kampfrichter prüften nicht nach. Für sie galt: Wer zu Ehren des Zeus in Olympia startet, der lügt seine Stellvertreter nicht an. Pech hatte, wer die Gutgläubigkeit ausnutzte und aufflog. Ärger bekamen die Abtrünnigen hingegen mit ihren ehemaligen Landsleuten. Als Astylos für Syrakus in Olympia gewann, waren zwar die Schlachtenbummler seiner Wahlheimat begeistert, aber die Krotoner entsetzt. Sie reisten nach Hause, kippten die Ehrenstatue des Astylos um und beschlagnahmten seine Villa. Diese soll zu einem Gefängnis umgebaut worden sein, vermutlich um sicherzugehen, dass der Verräter, sollte er jemals wieder nach Kroton kommen, eine ihm gebührende Unterkunft vorfände.
Sport und Politik Olympia war keine Luftblase, in der die täglichen Probleme der Menschen und Stadtstaaten außen vor blieben. Die Massen, die nach Elis strömten, trugen ihre Sorgen und Nöte im Gepäck. Sportler zogen alle Register, um den Sieg zu erringen. Herrscher legten sich ins Zeug, um Olympia vor ihren politischen Karren zu spannen. Der Staat, dem die Götter gewogen waren, hatte auf dem diplomatischen Parkett den besten Platz. Politik kommt von Polis. Die Kunst, einen Staat zu lenken, stand in den Tagen Olympias in voller Blüte. Zum täglichen Geschäft gehörte der Putsch, der Versuch, mit Gewalt die Macht im Staat zu übernehmen. Sogar bei solchen Praktiken spielte Olympia eine Rolle. 136
Der olympische Ölzweig verschaffte Macht. Wer ihn gewann, war beliebt, und schon bei den alten Griechen war es für einen Politiker wichtig, auf der Beliebtheitsskala seiner Untertanen den Spitzenplatz einzunehmen. Ein König, den niemand mochte, saß auf einem wackligen Thron. Das wusste auch der Athener Kyklon. Er gewann in den frühen Tagen Olympias, um 636 vor Christus, den Doppellauf. Vier Jahre lang war Kyklon in Athen ein gefeierter Star. Wo er auftauchte, versammelte sich eine Menschenmenge, jeder Athener war stolz, den Supersportler in seinem Haus als Gast begrüßen zu dürfen, jedes Fest des Athener Jetsets war nur dann Tagesgespräch in den Straßen, wenn Kyklon erschien. Ruhm macht wichtig, aber er kann einem Sportler auch zu Kopf steigen. Kyklon wollte Macht, er schmiedete ein Komplott. Günstigerweise war sein Vater Tyrann von Megara, einer Stadt, die zur Polis Athen gehörte. Von ihm lieh sich der Olympiasieger einen Haufen Söldner. Gewappnet mit Schlagkraft auf der einen und seiner Beliebtheit auf der anderen Seite, setzte Kyklon alles auf eine Karte. Ausgerechnet am Tag des Zeusfestes, als in Olympia die Spiele begannen, marschierten die Rebellen mit gezückten Waffen auf die Akropolis in Athen und besetzten das Wahrzeichen der Stadt. Bis dahin lief alles nach Plan. Kyklon war drauf und dran, Herrscher über Athen zu werden. Doch dann machten ihm seine künftigen Untertanen einen Strich durch die Rechnung. Die Athener akzeptierten Kyklon nicht als Herrscher, Olympiasieg hin oder her. Ein guter Sportler macht noch keinen Staatsmann – das wusste in Athen jedes Kind. Spätestens jetzt wäre die Reihe an Kyklon gewesen, die Waffen niederzulegen, die Akropolis zu räumen und zu versuchen, seinen Ruf wiederherzustellen. Aber daran dachte der Rebell nicht. Trotzig blieb er auf der Akropolis sitzen. Damit ließ er den Athener Bürgern keine Wahl. Geschlossen marschierten sie los, mit dem Vorsatz, Kyklon ein weiteres Mal zu einem rekordverdächtigen Lauf anzutreiben – zu den Stadttoren hinaus. Die Akropolis erlebte ein Blutbad. Die Schlacht wogte hin und her zwischen Tempeln und Palästen. Dann gewannen die Athener die Oberhand. Kyklon und die ihm verbliebenen Söldner mussten die Flucht ergreifen. Vielleicht hätte der Unruhestifter überlebt, wenn er tatsächlich aus der Stadt gerannt wäre. Stattdessen flüchtete er sich an einen Altar der Athene. Das war ein heiliger Ort. Niemand, der Schutz suchte, durfte nach dem Gesetz dort verfolgt oder gar getötet werden. Aber Kyklon hatte die Rechnung ohne die Athener 137
gemacht. Immerhin hatte der Rebell Zeus persönlich beleidigt, indem er am Festtag des Gottes eine Revolte plante. Wie konnten die Götter nun diesem Frevler an einem Altar Schutz gewähren? Rasend vor Wut stürmten die Athener den Tempel, in dem sich Kyklon verbarg, und steinigten ihn zu Tode. Ein Sieg in Olympia macht nur den Namen eines Sportlers unsterblich.
Wem gehört Olympia? Kalter Krieg in der Antike: Zwischen den griechischen Großmächten Athen und Sparta brannte die Luft. Jeder beanspruchte die Führungsrolle über die anderen Stadtstaaten für sich. Dann, um 431 vor Christus, entluden sich die angestauten Aggressionen und die beiden politischen Riesen erklärten sich den Krieg. Das Ringen der Supermächte war wie ein Sog, der jeden auf der Halbinsel Peloponnes erfasste. Der Peloponnesische Krieg machte auch vor den Toren Olympias nicht Halt. Die Eleer pfiffen auf ihre Neutralität und stellten sich auf die Seite Athens. Was sie zu diesem Schritt veranlasste, ist nicht bekannt und bis heute eine harte Nuss für Historiker. Vielleicht wollten die Eleer Sparta eins auswischen, weil sich die Spartaner in den Jahrhunderten zuvor wie Platzhirsche in Olympia aufgeführt hatten. Das Ergebnis der verlorenen Unparteilichkeit kennt hingegen jeder Olympiaforscher. Sparta rasselte mit den Waffen und drohte, Elis anzugreifen. Olympia wäre eine lohnende Beute gewesen. Der heilige Hain des Zeus in Händen der Spartaner – das wäre etwa so, als hätte die Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs den Vatikan besetzt. Gefahr war im Verzug. Aber die Eleer sorgten vor. Soldaten besetzten Olympia. Die Eleer riefen Athen zu Hilfe und Athen kam. Bei den Spielen des Jahres 424 vor Christus zogen Zuschauer und Athleten durch ein Spalier aus Truppen in den heiligen Hain. Die Athener waren bis an die Zähne bewaffnet, weil sie einen Angriff Spartas befürchteten. Das Sportfest des Friedens verkam zum Muskelspiel der Mächte. Während in Olympia die Athleten rangen, schlugen Athen und Sparta noch Jahrzehnte aufeinander ein. Von 431 bis 404 vor Christus dauerte der Peloponnesische Krieg mit Unterbrechungen. Olympia spielte darin immer wieder eine Rolle. So polterte der athenische Staatsmann Alkibiades, er verlange den Oberbefehl über die Flotte Athens, um damit Sizilien anzugreifen. Warum 138
ausgerechnet er? Auf diese Frage war Alkibiades vorbereitet. Immerhin sei er Olympiasieger – und was für einer. Bei den Spielen von 416 vor Christus habe er sieben Wagen beim Pferderennen starten lassen. Niemand habe damit gerechnet, dass Athen nach so vielen Jahren Krieg noch so reich sei. Das Argument zog. Die Athener ernannten Alkibiades zum Anführer. Sport macht mächtig. »Das kann ich auch«, mag sich manch griechischer Fürst gedacht und sein politisches Glück in Olympia gesucht haben. Einer davon war Dionysios II. von Syrakus, jener Kolonie auf Sizilien, in welcher der Herrscher seine Untertanen wie ein Tyrann, also mit absoluter Macht, regierte. Das stank den anderen Griechen. Sie waren stolz auf die von ihnen erfundene Demokratie, bei der viele das Mitspracherecht hatten. Auch die Oligarchie, die Herrschaft weniger, oder die Aristokratie, die Regierung einer Adelsgruppe, galten als akzeptabel. Aber die Art, in der Dionysios sich in seinem Reich aufführte, war nicht gesellschaftsfähig. Doch Syrakus war weit weg. In der griechischen Heimat war Dionysios zwar bekannt, aber an seinen politischen Praktiken störte sich niemand so sehr, dass man aktiv geworden wäre. Bis der Tyrann sich an Olympia vergriff. Bei den Spielen von 388 vor Christus tauchte eine Delegation aus Syrakus in Elis auf und ließ die Puppen tanzen. Ein ganzer Hofstaat zwängte sich zwischen den Zelten der einfachen Leute hindurch. Sie errichteten eine eigene Zeltstadt am Fuß des Stadions. Protziger ging es nicht: Die Syrakusaner trugen purpurfarbene Gewänder – die Farbe der Könige – und hausten in Zelten, deren Stoff mit Goldfäden durchwirkt war. Dionysios kam zwar nicht persönlich zu den Spielen, aber er schickte seinen Bruder Thearides, und mit ihm eine ganze Reihe von Vierergespannen. Damit wollte Dionysios erstens den Sieg auf der Rennbahn garantieren, zweitens seinen Reichtum zur Schau stellen und drittens zeigen, dass er genauso mächtig war wie einst Alkibiades. Krönung des Auftritts war ein Vortrag von Gedichten. Dionysios höchstpersönlich hatte die Verse für die Olympischen Spiele geschmiedet und ließ sie nun von erlesenen Rednern vortragen. Die Mietpoeten gaben ihr Bestes. Aber auch der begabteste Redner macht aus einem schlechten Text keine Literatur. Die Dichtkunst des Dionysios fiel beim Publikum durch, ebenso wie das großspurige Auftreten der Delegation. Anfangs schauten die Olympiagäste noch staunend zu, was sich da vor ihren Augen und Ohren abspielte. Als aber die armseligen Dichtungen kein Ende nahmen, war das Maß voll. 139
Die Zuschauer gingen auf die Barrikaden. Was ihnen da als feinste Dichtkunst geboten wurde, war eine Beleidigung der Musen. Alle fühlten sich für dumm verkauft. Zunächst kicherten einige, dann lachten viele, schließlich wurden die Syrakusaner ausgebuht und verspottet. Der Dichter Lysias erhob sich, er gehörte zu den einfachen Olympiabesuchern, und forderte die Eleer auf, sie mögen den gottlosen Tyrannen und seine Meute für immer von den Olympischen Spielen ausschließen. So weit kam es nicht. Die Worte des Lysias hatten tausendmal mehr Zündstoff als die flachen Verse des Dionysios. Die Zuschauer leckten Blut und stürzten sich auf die Zelte der Syrakusaner. Die Delegation wurde verprügelt, ihr angeberischer Klimbim niedergerissen und zertrampelt. Aus einem Propaganda-Trick war der Beweis geworden, dass die Griechen kritisch genug waren, um mit frechen Politikern hart ins Gericht zu gehen. Nach dieser Eskapade dauerte es nicht lange, bis Gewalt, Krieg und Politik erneut in Olympia das Zepter schwangen. Die Arkader, ein griechisches Volk, waren erstarkt und spannen eine Intrige mit den Griechen aus Pisa. Ziel des Komplotts war Olympia, das zwar seit Urzeiten von den Eleern beherrscht wurde, das aber die Pisaten für sich beanspruchten. Immerhin waren zwei der legendären Gründer Olympias, König Iphitos und König Oinomaos, Herrscher Pisas gewesen. 365 vor Christus schlugen die Verbündeten los. Sie drangen in das Heiligtum ein und besetzten es mit Waffengewalt. Dann errichteten sie ein Lager auf dem Kronoshügel, plünderten die Tempelschätze und finanzierten mit der Beute ein Söldnerheer, das nun in Olympia Furcht und Schrecken verbreitete. Der Frevel hatte blutige Folgen. Die Eleer hielten zunächst die Füße still. Sie warteten ab, ob die Invasoren tatsächlich die Unverfrorenheit besaßen, bei den anstehenden Olympischen Spielen den heiligen Hain mit Waffengewalt besetzt zu halten. Das taten sie. Als 364 vor Christus die Zuschauer zu den Spielen kamen, bot sich ihnen ein befremdliches Bild. In Olympia schoben Soldaten Wache. Mehr Söldner als Sportler waren zu sehen. Einige mutmaßten sogar, die Arkader würden die Spiele abblasen, aber da lagen sie falsch. Für die Besatzer gab es kein besseres politisches Mittel als die Olympischen Spiele, um allen Griechen zu zeigen, wer im Land die Hosen anhatte. Die Eleer waren blamiert. Jetzt fiel auch ihnen nur noch ein Mittel ein, das Gesicht zu wahren. Elis griff zu den Waffen. Ausgerechnet im heiligen Hain prallten die Feinde aufeinander. Die Schlacht wogte hin und her. Nie zuvor war Blut in der Altis vergossen worden – abge140
sehen von dem der Opfertiere. Das Publikum war zunächst entsetzt. Die Waffenruhe der Olympischen Spiele war mit Füßen getreten. Glaubt man dem römischen Schriftsteller Diodor, blieben die Zuschauer jedoch von dem Gemetzel verschont. Sie sollen sogar auf den Tribünen gesessen haben. Statt beim Waffenlauf schauten sie nun beim Waffengang zu. Sie »applaudierten in aller Ruhe dem tapferen Verhalten beider Seiten«, schreibt Diodor. Sieger blieben die Arkader. Elis erlebte die schlimmste Schlappe in der Geschichte der Olympischen Spiele. Das Sportfest fand nach dem Blutbad allerdings nach allen Regeln der Kunst und in voller Länge statt. Den letzten Versuch, sich der Olympischen Spiele zu bemächtigen, unternahmen die Römer. Der römische Konsul und Diktator Sulla wusste genau, dass Griechenland und Olympia bei seinen Landsleuten als Tummelplätze für Tugendbolde galten. Zwar beherrschte zu dieser Zeit, um 80 vor Christus, Rom die Griechen. Aber auch unter der Knute der Römer galt die Kultur der Hellenen noch als unübertroffen. Römische Bildhauer strebten den griechischen Meistern nach, die römischen Intellektuellen sprachen Griechisch miteinander und Kunstsammler ließen Schiffsladungen voller Vasen und Skulpturen aus dem Mutterland europäischer Kultur in die römische Metropole am Tiber schaffen. Griechenland war in. Sulla setzte noch einen drauf. Während sich die römische Oberschicht mit Kunstwerken begnügen musste, die einzelne Sportler zeigten, holte der Diktator gleich die ganzen Olympischen Spiele nach Rom. Die Hauptstadt spielte verrückt. Endlich konnte jeder einfache Römer die legendären Spiele selbst miterleben, ohne eine wochenlange Reise nach Griechenland auf sich nehmen zu müssen. Olympia in Rom – das hatte es noch nie gegeben, und es sollte eine Einmaligkeit bleiben. Sulla starb zwei Jahre später. Seine Nachfolger hatten von dem Budenzauber die Nase voll und ließen die Spiele dort, wo sie hingehörten, am Fluss Alpheios. Die Römer mussten sich künftig wieder mit Gladiatorenkämpfen und Tierhetzen begnügen.
Helden und Versager
Olympia war eine Starmaschine. Wer sich ins Getriebe des Sportspektakels hineinwagte und nicht zwischen den Rädern zu Staub zermahlen wurde, kam als Berühmtheit wieder heraus. Der Arnold Schwarzenegger der Griechen war im 5. Jahrhundert vor Christus Milon von Kroton aus Süditalien. Schon als Knabe gewann der Ringer in Olympia den Kranz, fünf weitere Siege folgten. Aber Milons Sammlung anderer wichtiger Siege war noch viel größer. Mehr als 25 Mal soll er bei den griechischen Sportfesten Erster im Ringen geworden sein. Sein Name war so legendär wie seine Kraft. Jeder griechische Mann wäre gern ein Milon gewesen, jedes Kind auf den Straßen Athens, Korinths oder Spartas ahmte den Kraftprotz nach. Für viele war er ein neuer Herakles. Pausanias hörte in Olympia manche Absonderlichkeit über Milon, darunter Anekdoten über die Kraft des Riesenringers, und schrieb sie auf: »Er gewährte auch folgendes Schauspiel: er band sich eine Saite um die Stirn, wie man sich eine Binde oder einen Kranz umbindet; dann hielt er den Atem in den Lippen zurück und füllte die Adern des Kopfes mit Blut, und sprengte so durch die Kraft der Adern die Saite. Man erzählt ferner, er habe den rechten Arm von der Schulter bis zum Ellbogen im rechten Winkel ausgestreckt, sodass der Daumen aufwärts gerichtet war, die übrigen Finger jedoch der Reihe nach aneinander lagen; niemand aber konnte mit der größten Gewalt den zuunterst befindlichen kleinen Finger von seiner Stelle bewegen.« Heldentaten machen hungrig. Das Interesse an Milons Leben war so groß, dass sogar sein Appetit bunten Stoff für Mythen hergab. So dichtete der Autor Dorieus dem Superstar des Ringkampfes folgende Fressgeschichte an: »Milon war aus solchem Holz geschnitzt, dass er beim Fest des Zeus eine vier Jahre alte Kuh hochhob und sie auf seinen Schultern trug, als sei sie ein neugeborenes Kalb. Damit ging er zwischen den Festgästen umher, und er hob die Kuh 142
hoch über seinen Kopf. Alle waren wie gebannt, als er die Kuh zum Priester Pisas brachte, der für die Opfer zuständig war. Und seine Kuh war einzigartig, und als sie zerlegt war und gebraten, saß Milon nieder und aß sie ganz allein.« Mahlzeit. Eine Kuh scheint für Milon von Kroton nur eine Vorspeise gewesen zu sein. In den Texten des Schreibers Theodoros finden sich Passagen, nach denen Milon 20 Mal ein »mna« Fleisch am Tag aß. Diese Maßeinheit entspricht etwa dem Drittel eines Kilogramms. Milon brauchte demnach 6 Kilogramm Fleisch am Tag, um sich fit zu halten. Diese Menge entspricht 30 Schnitzeln. Trocken bekam er das nicht herunter. Zum Nachspülen schluckte der Schwerathlet 36 »kotyle« Wein, der mit Wasser verdünnt war. Ein »kotyle« wird heute mit einem Sechstel Liter verglichen. Milon konnte also am Tag 6 Liter trinken. Dieser Mann legte Höchstleistungen hin, ohne überhaupt ein Stadion betreten zu müssen. Milon langte nicht nur kräftig zu, er war auch schlagfertig. Bei einem seiner Siege trat der Gegner nicht an – er mag angesichts des Kraftmeiers Milon die Hosen voll gehabt haben. Den Regeln zufolge gewann Milon kampflos. Aber die Götter waren an diesem Tag zum Scherzen aufgelegt. Als Milon zur Siegerehrung schritt, ließen sie ihn ausrutschen. Vor dem rappelvollen Stadion fiel der Supersportler auf die Nase. Die Menge lachte, ulkte und meinte, er könne nun den Siegerkranz nicht entgegennehmen, da er doch noch zu Boden geworfen worden sei. Milon klopfte sich den Sand von den Schultern und wies darauf hin, dass Ringer erst dann verlieren, wenn sie dreimal am Boden waren. Er entgegnete: »Nicht dreimal, einmal liege ich. Den Rest bringe mich ein anderer zu Fall.« Damit war der Fall erledigt. Bei seinem letzten Kampf in Olympia musste sich Milon im Alter von etwa 40 Jahren einem jüngeren Ringer namens Timotheos geschlagen geben. Aber Milons Ruhm war so groß, dass es dem Publikum gleichgültig war, ob er siegte oder verlor. Nach dem Kampf beachtete die Menge Timotheos nicht weiter, stürmte auf Milon zu und trug ihn auf den Schultern durch das Stadiontor in den heiligen Hain. Timotheos soll mitgejubelt haben. Was blieb ihm anderes übrig? Sogar das Ende Milons ist ein Mythos und erinnert an ein Märchen der Brüder Grimm. Eines Tages, es sollte sein letzter sein, trainierte Milon in einem Wald. Dabei entdeckte er einen gefällten Baumstamm. Die Holzarbeiter waren nicht mehr zu sehen, aber sie hatten der Länge nach Keile in den 143
Stamm getrieben, um ihn später spalten zu können. Milon fand, ein solcher Baum sei gerade das rechte Trainingsgerät für ihn. Er zog die Keile heraus, griff in den Spalt und versuchte, den Stamm mit reiner Muskelkraft auseinanderzureißen. Doch seine Finger waren zu dick. Sie blieben in dem Holzspalt stecken. So sehr Milon auch drückte, zog und zerrte – er bekam seine Hände nicht wieder frei. Pech für ihn, dass auch die Holzarbeiter nicht zurückkamen. Dafür stöberten Milon in der Nacht wilde Tiere auf. Sie sollen den Wehrlosen verschlungen haben – das Ende einer Legende.
Die Hammerfaust und das reiterlose Pferd Der Verlust Milons traf die griechische Sportwelt schwer. Zum Glück gab es Stars, die in die großen Fußstapfen treten konnten. Einer von ihnen war Diagoras. Auf der Insel Rhodos war dieser Ausnahmeathlet zu Hause, dort hatte er das Boxen gelernt und zwar besser als jeder andere Insulaner. Als er seine Kunst bei den großen griechischen Sportfesten unter Beweis stellte, hatte er durchschlagenden Erfolg. Diagoras gewann 464 vor Christus in Olympia, danach zweimal in Nemea und viermal in Korinth und Delphi. Diagoras trug den Beinamen »der gute Boxer«, den er seiner Art zu Kämpfen verdankte. Zur Freude des Publikums soll Diagoras fast gänzlich auf eine Verteidigung während des Kampfes verzichtet haben. Diesem Mann lag das Boxen im Blut, und diese Leidenschaft gab er an seine Söhne weiter. Der Vater war bereits in Sportrente, als seine Söhne das Stadion Olympias unsicher machten. Akusilaos, der ältere Sohn, gewann 452 vor Christus den Olivenzweig, die große Stunde der Familie aber schlug vier Jahre später, als Akusilaos und sein Bruder Damagetos am selben Tag in Olympia triumphierten. Vater Diagoras, der auf der Tribüne saß, muss der Atem gestockt sein. Bei der Siegesfeier sollen die Söhne ihren Vater auf den Schultern durch Olympia getragen und ihn mit den Olivenkränzen bekrönt haben. Dabei soll Diagoras vor Freude gestorben sein. Was die Legende nicht erzählt: Diagoras’ Söhne gingen in die Politik, und zwar in ihre handfeste Variante. Beim Krieg zwischen Athen und Sparta schlug sich der jüngste Sohn, Dorieus, auf die Seite Athens, stattete mit eigenen Mitteln ein Kriegsschiff aus und schlug die Spartaner auf See in die Flucht. Sein Ruf half ihm im Krieg auf zweierlei Weise. Zum einen fürchteten die Sparta144
ner Diagoras Erben, deren Name für Furchtlosigkeit, Kraft und Unbesiegbarkeit stand. Zum anderen ehrten sie die Sportler aus demselben Grund. Als Dorieus später während des Peloponnesischen Krieges gefangengenommen wurde, ließen ihn die Spartaner auf Bitten Athens wieder frei. Niemand wollte einem solchen Helden Schmach antun und damit den Zorn der Götter auf sich laden. Die Großen Olympias waren unantastbar. Alles andere als unantastbar waren ihre Gegner. So konnte kaum ein olympischer Boxer gegen jenen Mann bestehen, der den Beinamen »die Hammerfaust« trug. Solche Pseudonyme sind noch heute in Mode. Aber Glaukos von Karystos trug seinen Titel zu Recht. Die Karriere des Glaukos begann auf einem Acker. Dort arbeitete er mit dem Pflug, doch eines Tages brach die Pflugschar ab. Was tun? Das Haus der Familie, wo es Werkzeug gab, war weit. Also vertraute Glaukos auf seine Kraft und schlug die Pflugschar mit der bloßen Faust wieder fest. Der Vater, der seinen Sohn beobachtete, traute zunächst seinen Augen nicht, aber als er sich von dem Schreck erholt hatte, kam ihm eine Idee. Der Sohn war ein Naturtalent. Statt ihn seine Kräfte auf dem Feld verschwenden zu lassen, schickte er ihn nach Olympia. Der Bauernsohn Glaukos verwandelte sich in die »Hammerfaust«. Aller Anfang ist schwer, das gilt auch für Boxer. Glaukos bekam Schläge. Jeder seiner Gegner in Olympia setzte ihm schwer zu, das Gesicht schwoll ihm an, die Nase blutete, die Augenbrauen platzten auf, der Leib war gezeichnet von Kratzern und blauen Flecken. Aber Glaukos hielt durch. Er gewann jeden Kampf, dann kam es zur entscheidenden Begegnung. Wer im Finale der Faustkämpfer siegte, würde den Olivenzweig gewinnen. Glaukos aber taumelte bereits. Seine Fingernägel kauend beobachtete der Vater im Publikum, wie es mit dem Sohn bergab ging. Da rief er Glaukos zu: »O Sohn, dem vom Pfluge!«, und Glaukos erinnerte sich. Er verpasste seinem Gegner einen Schlag, als wolle er mit der Faust Eisen auf Eisen nieten. Das hielt der stärkste Boxer nicht aus. Glaukos’ Gegner ging k. o. Der junge Bauernsohn gewann den Ölzweig und erhielt seinen gefährlich klingenden Spitznamen. Als er viele Jahre später starb, begruben ihn seine Landsleute auf einer kleinen Insel, die bis heute »Insel des Glaukos« heißt. Der Ruhm der Hammerfaust war hieb- und stichfest. Nicht jede Berühmtheit Olympias lief auf zwei Beinen. Aura war eine Stute und das beste Pferd im Stall des Pheidolas. Aber Aura war wild und lustlos. 145
Als Pheidolas sie trotzdem zum Rennen in Olympia anmeldete, kam es zur Katastrophe. Kaum waren die Pferde aus der Startanlage geprescht, bockte Aura und warf ihren Jockey ab. Das Publikum grölte, aber nicht lange. Die reiterlose Stute setzte das Rennen fort. Sie wendete korrekt um den Wendepunkt und beschleunigte, als sie die Trompete hörte, den Lauf noch. Die Jockeys mit ihren Pferden blieben in einer Staubwolke zurück. Aura erreichte als Erste die Kampfrichter und gewann das Rennen. Sie wurde zu einer Legende. Noch die Söhne des Pheidolas gewannen durch das Wunderpferd die Rennen in Olympia – fortan ging Aura allerdings mitsamt Jockey durchs Ziel. Sie erhielt als einziges Pferd eine eigene Statue im heiligen Hain.
Peinlicher Ruhm Mancher Olympionike hoffte, Ruhm sei vergänglich. Nicht jeder, über den die Griechen sprachen, war ein Held. So, wie spektakuläre Kämpfe die Gerüchteküche brodeln ließen, sorgten auch peinliche Auftritte für einen fragwürdigen Ruf. Einer, der sich nicht gerade mit Ruhm bekleckerte, war Sarapion, ein Pankratiast aus Alexandria. Er war den weiten Weg von Ägypten angereist, um in Olympia gegen die Besten seines Fachs anzutreten. Aber im Stadion von Elis muss Sarapion festgestellt haben, dass Pankration in Alexandria und Pankration in Olympia offenbar zwei verschiedene Sportarten waren. Statt auf den Siegespreis zu schielen, gab Sarapion Fersengeld. So schnell wie möglich buchte er eine Schiffspassage nach Hause. Sein Gegner gewann den Ölzweig, er selbst einen Haufen Schande. Das sei nicht genug, meinten die Kampfrichter. Sie verurteilten Sarapion wegen Feigheit und Frevel am olympischen Zeus zu einer so hohen Geldstrafe, dass der Sportler sich noch zu vielen Wettbewerben anmelden musste, um durch die Siegesprämien das Bußgeld zusammenzubekommen. Zweifelhaften Ruhm erntete ein Ringer namens Sostratos. Er hatte die Technik perfektioniert, beim Beginn des Kampfes die Hände des Gegners zu packen und ihn in den ersten Sekunden zu Boden zu zwingen. Anders als die Kollegen der Ringerzunft erreichte Sostratos das aber nicht dadurch, dass er den Arm des anderen umdrehte, er brach dessen Finger am oberen Gelenk. Kaum ein Ringer konnte danach noch weiterkämpfen, mochte er noch so hart im Nehmen sein. So wie die »Hammerfaust« verdiente sich auch Sostratos 146
damit einen Kampfnamen: »Fingerspitze«. Viele Gegner sollen das Stadion erst gar nicht betreten haben, wenn Sostratos dort auf sie wartete. Das war effektiv, aber unehrenhaft. Das Publikum wurde um den Kampf geprellt, die Götter waren unzufrieden, einziger Gewinner war Sostratos, der Kranz um Kranz in seine Heimat Sikyon brachte, für jeden gebrochenen Finger einen. Das Urteil der Nachwelt war entsprechend vernichtend. Pausanias fand die Technik des Sostratos feige und meinte, dass nur solche Kämpfer derartige Tricks beherrschen müssten, die unfähig seien, den Gegner ehrenhaft zu Boden zu werfen. Die vielen Opfer der »Fingerspitze« hätten zustimmend genickt.
Einer, der nicht mehr hätte nicken können, war Ikkos, der Gegner des Boxers Kleomedes. Beim Kampf der beiden Schwergewichte schlug Kleomedes seinen Gegner tot. Deutlicher konnte ein Sieg nicht sein. Kleomedes muss bereits den Kranz auf dem Kopf gefühlt haben, als die Kampfrichter ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Erklärter Gewinner war der erschlagene Ikkos. Kleomedes, so meinten die Unparteiischen, habe unfaire Mittel eingesetzt. Für den Totschläger war das zu viel: Die Enttäuschung setzte Kleomedes dermaßen zu, dass er dem Wahnsinn verfiel.
Der unbeherrschte Herrscher Die Olympischen Spiele zogen Prominente an wie eine Laterne die Mücken. Nirgendwo sonst konnten sich Ruhmsüchtige vor so vielen Menschen präsen147
tieren wie hier; nirgendwo sonst ließen sich besser Reden halten, Verse vortragen und Ränke schmieden. Wer in Olympia gut ankam, war ein Star – das galt für Sportler, Dichter und Philosophen gleichermaßen. Alle kamen sie nach Elis: die Philosophen Sokrates, Platon, Aristoteles und Pythagoras. Hippokrates, der Vater der Medizin, ließ sich im heiligen Hain blicken. Alexander der Große schaute den Kämpfen zu und der athenische Staatsmann Themistokles ließ sich in Olympia von der Menge für seinen Sieg über die Perser derartig feiern, dass von den Wettkämpfen niemand mehr Notiz nahm. Der schrägste Vogel aber, der jemals in Olympia auftrat, war der römische Kaiser Nero. Der Imperator liebte große Auftritte. In Rom war er schon vor seinem Regierungsantritt für seine Eskapaden berühmt. Seit er Kaiser war, erkannten die Römer ihre Stadt nicht wieder. Nero ließ ganze Viertel abreißen, um auf den Trümmern einen Palast bauen zu können, der Domus Aurea, das Goldene Haus, genannt wurde – zu Recht. In der Eingangshalle des Luxusdomizils erschreckte den Besucher eine Statue des Kaisers, die 30 Meter hoch war. Die ganze Anlage war so groß, dass in ihrer Mitte ein See angelegt werden konnte, um den künstliche Wiesen, Weiden, Weinberge und Wälder wuchsen. In den Speisesälen gab es bewegliche Zimmerdecken aus Elfenbein, durch die Blumen hinabgeworfen und Parfüm versprüht werden konnte. Der Lieblingsraum des Kaisers war rund und bewegte sich ständig im Kreis, sodass sich die Aussicht veränderte und Nero nicht durch die immer gleichen Ansichten auf Rom gelangweilt wurde. Zu dick aufgetragen? Das fand der Kaiser überhaupt nicht. Als die Bauarbeiten abgeschlossen waren und Nero das Goldene Haus bezog, soll er gesagt haben, endlich könne er unter Umständen wohnen, die eines Menschen würdig seien. Als dieser Mann Olympia ins Visier nahm, ging alles in Elis drunter und drüber. Als Erstes wurden die Olympischen Spiele verschoben. Das hatte es noch nie gegeben. Aber Nero war ein Mann, dem niemand einen Wunsch abschlagen konnte – zumal Rom zu dieser Zeit Griechenland beherrschte und der Kaiser aus der Tiberstadt auch der Regent der Griechen war. Nero hatten einen großen Plan. Er wollte an allen vier panhellenischen Spielen teilnehmen, bei allen vieren den Ölzweig gewinnen und als einer der gefeiertesten Menschen seiner Zeit nach Rom zurückkehren. Er hatte es nötig. Daheim waren seine Eskapaden nicht sonderlich beliebt, also musste der Kaiser Imagepflege betreiben. Griechenland lag ihm zu Füßen. 148
Der Kalender drohte Nero einen Strich durch die Rechnung zu machen. Für seine Auftritte in Olympia, Nemea, Delphi und Korinth hätte der selbst ernannte Superstar jedes Jahr einmal nach Griechenland reisen müssen. Das war selbst dem mächtigsten Mann der Welt zu viel – und vermutlich zu mühsam. Auf einen Wink des Kaisers hin legten die Griechen ihre vier Sportfeste in einem Jahr zusammen. Alles, was Nero nun auf sich nehmen musste, war eine Reise vom Osten des Peloponnes zum Westen, eine gemütliche Kutschfahrt mit Stopp in den großen Heiligtümern. Nero verwandelte die erhabenen Stätten in ein Disneyland. Die Olympischen Spiele des Jahres 65 nach Christus standen im Schatten des Imperators. Nero, von seinen Künsten als Dichter und Sänger überzeugt, nahm nicht nur am Wettkampf der Trompeter und Herolde teil, er erfand überdies einen eigens für ihn eingerichteten Wettbewerb der Dichter. Selbstverständlich trat der Herrscher persönlich gegen die besten Poeten des Landes an – mit Selbstverfasstem. Wie selbstverständlich gewann er nicht nur diesen, sondern auch alle anderen Wettkämpfe – obwohl seine Verse in der gesamten griechisch und lateinisch sprechenden Welt als besonders scheußlich galten. Niemand aber wagte, den Kaiser zum Verlierer zu erklären, zumal der Herrscher als unbeherrscht galt und mit Todesurteilen schneller bei der Hand war als mit einem guten Gedicht. So war guter Rat teuer, als der Selbstverliebte auch noch beim Wagenrennen antreten wollte. Die Kampfrichter und die Organisatoren schwitzten Blut und Wasser. Im Dichten war Nero einfach zum Sieger zu erklären. Musenkunst war schließlich Geschmackssache. Aber ein Pferdebesitzer, dessen Wagen nicht als Erster durchs Ziel ging, hatte eindeutig verloren, daran ließ sich nichts drehen. Noch während die Kampfrichter nach einem Ausweg aus dem Dilemma suchten, trat Nero vor die Zuschauermenge und verkündete lauthals, er werde persönlich den Vierspänner lenken. Über Olympia zogen dunkle Wolken auf. Alle Überredungskunst half nichts. Der Kaiser stieg in den Wagen. Ein Vierspänner war ihm nicht genug, deshalb ließ er zehn Pferde anspannen. Das machte Eindruck, erforderte aber auch Geschick. Zwischen vier PS und zehn PS vor einem klapprigen Holzwagen lag ein so großer Unterschied wie heute zwischen einem Sportflitzer und einem Raketen-Auto. Zehn Pferde in vollem Galopp in der Spur zu halten und sie an der Wendemarke auch noch drehen zu lassen war eine Kunst, die sich nur wenige Jockeys zutrauten. Nero schlug 149
alle Warnungen in den Wind. Er war römischer Kaiser und als solcher ein Gott. Was sollte ihm schon passieren? Die Pferde und das Unglück nahmen ihren Lauf. Das Startsignal läutete, die Wagen schossen aus den Boxen. Wenige Sekunden später lag der Kaiser erst vorn und dann am Boden. Die Pferde waren ihm durchgegangen und hatten ihn aus dem Wagen geschleudert. Flugs eilten seine Sekundanten zu Hilfe und hoben den Lädierten wieder in das, was von dem Renngefährt noch übrig geblieben war. Aber der Kaiser war so geschwächt, dass er nicht einmal zu Fuß über die Ziellinie gekommen wäre. Das Rennen war vorbei. Der Fall lag klar: Nero hatte verloren. Aber der römische Gottkaiser war anderer Meinung. Er ließ sich als Sieger ausrufen. Mit großem Prunk und lautem Pomp feierte Nero seinen einmaligen Auftritt in Olympia. Das Publikum wird unter den grimmigen Blicken der römischen Legionäre artig Beifall geklatscht haben. Dann zog der Kaiser heimwärts nach Rom. Sein Größenwahn war noch lange nicht gestillt. Zuhause am Tiber bereitete sich Nero selbst einen Empfang. Er näherte sich der Stadt in einem Triumphzug mit allen Schikanen. Kriegsgefangene zogen zu Hunderten in Ketten an der römischen Bevölkerung vorbei. Opfertiere trotteten im Gefolge des Imperators zur Schlachtbank. Es regnete Blumen und Geschenke. Das römische Volk staunte nicht schlecht, obwohl es Triumphzüge schon oft genug erlebt hatte. Doch dieses Mal sollte alles anders werden. Nero trat auf als Periodonike – dieser Ehrentitel wurde Athleten verliehen, die alle vier panhellenischen Spiele in einem Umlauf gewonnen hatten. Nie zuvor oder danach war dies einem römischen Kaiser geglückt – und auch Nero trug diesen Titel nicht wirklich zu Recht. Doch von den merkwürdigen Ereignissen auf der Rennbahn Olympias und anderen Absonderlichkeiten in Nemea, Delphi und Korinth hörte in Rom niemand. Nero war ein Held. Als solcher war es üblich, nicht durch das Tor in die Stadt einzureisen, sondern eine Bresche in die Mauer zu schlagen. Alle Olympiasieger machten das so. Sie zeigten damit: Diese Stadt braucht keine Mauern mehr, weil ein Sieger aus Olympia in ihr wohnt. Natürlich ließ Nero sich eine so große Geste nicht nehmen. Aber Roms Mauern waren die mächtigsten ihrer Zeit. Ein ganzer Bautrupp musste her, um das Bauwerk zu durchlöchern und eine Aussparung zu schaffen, durch die ein ganzer Triumphzug hindurchpasste. 150
Der Schuss ging nach hinten los. Nero stieg keinesfalls im Ansehen der Römer, wie er erhofft hatte. Stattdessen hagelte es Kritik. Unglücklicherweise war der Kaiser den Griechen für seine Siege so dankbar gewesen, dass er ganz Griechenland von den Steuern befreite. So recht das den Griechen gewesen sein mag, der römische Senat kochte vor Wut. Aber er musste dem Treiben machtlos zusehen. Drei Jahre später war der Zauber vorbei. Nero wurde ermordet. Sein Nachfolger ließ kein gutes Haar an ihm. Die Griechen mussten auch wieder Steuern zahlen. Sie rächten sich. Für die Schande, die der selbstverliebte Kaiser über die Olympischen Spiele gebrachte hatte, strichen sie seinen Namen nachträglich aus den Siegerlisten. Die Spiele von 65 nach Christus hießen nicht länger »Spiele des Nero«, und auch die Kampfrichter, die sich von den Römern hatten nötigen lassen, den Herrscher zum Sieger auszurufen, mussten bluten – wenn auch nur finanziell. Der neue Kaiser Roms, Galba, zwang die parteiischen Neutralen dazu, 250 000 Drachmen Strafe zu zahlen, weil sie mit ihren Entscheidungen zugunsten Neros Zeus verspottet hatten. In Olympia kehrte wieder Frieden ein. Auf Stars in der Manege wollten die Griechen fürs Erste verzichten.
Kein Blumentopf für Quotenfrauen
In den heiligen Hainen Olympias hatten verheirate Frauen nichts verloren. Dies hätte gegen göttliches Gesetz verstoßen. So blieb der Griechensport Männersache, auf Frevlerinnen warteten harte Strafen. An der Straße nach Olympia liegt der steile Berg Tyaion. Von dessen Spitze, so berichtet Pausanis, wurden verheiratete Frauen hinuntergestürzt, die bei den Olympischen Spielen entdeckt wurde. Jungfrauen hingegen durften durchaus bei den Spielen zusehen. Das mag mit dem Fruchtbarkeitsritus zusammenhängen, der in den frühen Tagen Olympias an Ort und Stelle gefeiert wurde. Aber der griechische Redner Dion Chrysostomos berichtet, er habe in Olympia auch »Frauen zweifelhaften Charakters« entdecken können. Liebe und Erotik gehörten zum Leben der Griechen dazu – auch in Olympia. Anders sah es aus, wenn es um die aktive Teilnahme an den Spielen ging. Hier gaben die Griechen kein Pardon. Frauen blieben draußen – jedenfalls solange die Männer sportelten. Aber wenn es ruhiger wurde in Olympia, schlug die Stunde des Frauensports. Die Heraia, die Spiele der Hera, hießen die Olympischen Spiele für die Damen. Auch die Heraia fanden alle vier Jahre statt. Viele Details sind von ihnen nicht überliefert, das liegt vermutlich daran, dass die Geschichtsschreibung fest in Männerhänden lag. Alle vier Jahre trafen sich die sportlichsten Griechinnen in Olympia und liefen um die Wette. Es gab nur eine Disziplin, für welche die Laufbahn um 20 Meter gekürzt wurde. Wie bei den Männern bekamen die Siegerinnen einen Kranz aus Olivenzweigen und Teile eines Opferstiers, die sie der Hera weihten. Wer gewann, stiftete dem Heratempel überdies ein Gemälde, die weibliche Variante der Siegerstatue. Viel Ruhm ernteten die Läuferinnen der Heraia nicht, der blieb den Männern vorbehalten. Das schien einigen ehrgeizigen Griechinnen nicht zu passen. Wenn schon nicht persönlich, dann sollte wenigstens der Sohn zu Ehren 152
kommen. Das dachte sich eine Griechin namens Kallipateira. Der Sport lag ihr im Blut. Immerhin war sie die Tochter des berühmten Boxers Diagoras von Rhodos. Kallipateira hatte einen Traum: Ihr Sohn Peisirodos sollte in die Handriemen des Großvaters schlüpfen und ein berühmter Sportler werden. Wer konnte den Jungen besser trainieren als seine Mutter? Der große Tag kam, Peisirodos durfte nach Olympia. Seine Mutter dachte nicht daran, daheim zu warten. Sie verkleidete sich als Mann, gab sich als Trainer aus und mischte sich unters Volk. Peisirodos kämpfte tapfer – und gewann. Betrunken vor Glück stürzte Kallipateira auf ihren Sprössling zu, um ihn zu umarmen. Unglücklicherweise verrutschte bei ihren Glückssprüngen ihr Gewand und sie stürzte. Der Jubel der Menge verstummte. Bestürzt schauten die Männer auf die entblößte Frau, die zu ihren Füßen lag wie ein niedergestreckter Boxer. Die Kampfrichter zückten bereits die Peitsche und riefen nach den Waffen, da besannen sich die Organisatoren Olympias eines Besseren. Kallipateira war die Tochter eines der berühmtesten Boxer Olympias, ihre Brüder waren Olympiasieger, ihr Sohn seit wenigen Augenblicken ebenfalls. Einer Person mit solchem Ruf sollte die Schande erspart bleiben. Kallipateira wurde ungestraft nach Hause geschickt. Olympia aber erhielt an diesem Tag eine neue Regel: Künftig mussten sich alle Trainer den Kampfrichtern einmal nackt präsentieren. Nicht überall waren Frauen vom Sport ausgeschlossen. In Sparta, dem Stadtstaat im Süden, war es sogar erwünscht, dass sich Frauen durch Leibesübungen abhärteten. Dort herrschte die Ansicht, dass nur zähe Mütter auch zähe Söhne hervorbringen konnten. Ähnlich sah es der griechische Philosoph Platon, der bemerkte, dass die Ausbildung der Frauen im Schwertfechten und Laufen zu seinem Bild vom idealen Staat unbedingt dazugehörte, jedenfalls solange die Damen »angemessen« gekleidet waren. Dennoch: Sport blieb überwiegend Männersache, bis in die Neuzeit. Noch im 20. Jahrhundert waren Frauen von Leibesübungen weitgehend ausgeschlossen. Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit gab es keine Frauenwettkämpfe, kurz darauf, bei den Spielen des Jahres 1900, durften die Damen immerhin Tennis spielen. Die Rackett-Schwingerinnen waren Aushängeschilder einer von Männern beherrschten Sportwelt. Das änderte sich lange nicht. Die Spiele von 1904 warteten mit Frauen beim Bogenschießen auf, dafür wurden die Tennisdamen abgeschafft. Erst 1928 wagte das Olympische Komitee einen großen Schritt in Richtung Frauensport und ließ Frauen eine 153
Distanz von 800 Metern laufen. Als die Herren Organisatoren den Erschöpfungszustand der Athletinnen sahen, entsprach dieses Bild so wenig ihrer Vorstellung einer Frau, dass die Disziplin sofort wieder abgeschafft wurde. Es dauerte lange, bis der Schock überwunden war. Der erste Marathonlauf für Frauen fand erst 1984 statt. In Hinsicht auf den Frauensport hat der Geist der antiken Spiele wohl am längsten überlebt.
Kämpfen, bis der Notarzt kommt
Sport war schon in der Antike Mord. Knochenbrüche, ausgequetschte Augen und abgerissene Finger gehörten zum Profisport dazu wie heute die Bänderdehnung und der Tennisarm. Überraschend, dass in den alten Berichten über das Treiben in Olympia nie ein Arzt erwähnt wird. Die Medizin steckte in der Antike zwar noch in den Kinderschuhen, aber es gab sie. Orte wie Olympia, in denen der menschliche Körper an die Grenzen der Leistungs- und Leidensfähigkeit getrieben wurde, müssen für die Forscher in Sachen Medizin ein Eldorado gewesen sein. Zum Beispiel Leontiskos: Der Schwerathlet war im 5. Jahrhundert vor Christus einer der gefürchtetsten Gegner im Pankration, jenem Kampfsport, bei dem fast alles erlaubt war. Von dieser Regel machte Leontiskos regen Gebrauch. Er beherrschte einen Kunstgriff, bei dem er die Finger des Gegners packte und sie so lange drückte, bis sie brachen. Nach dem Bruch quetschte Leontiskos so lange weiter an den Fingern herum, bis der Gegner aufgab. Zweimal wurde der Pankratiast mit dieser Technik Olympiasieger und als schlimmer Finger seiner Zunft berühmt. Die gepeinigten Gegner des Leontiskos müssen sich sofort in das Zelt eines Arztes geflüchtet haben. War kein Sanitäter zur Hand, griff der Trainer ins Verbandskästchen, oder der Athlet – falls er allein in Olympia war – versorgte sich selbst. So galt das Einrenken eines ausgekugelten Schultergelenks als Lappalie, etwas, das der Verletzte durchaus ohne fremde Hilfe wieder hinbiegen konnte. Tatsächlich kennt die Geschichte der Medizin viele Ärzte der griechischen Klassik, die Sportler betreuten oder selbst Sportler waren; so Ikkos von Tarent, der eine Abhandlung über den Sport und den menschlichen Körper verfasste. Ikkos wusste, worüber er schrieb: 444 vor Christus war er persönlich Sieger im Fünfkampf und mag, um dieses Ziel zu erreichen, alle erdenklichen Blessuren erlitten haben – Selbstversuch eines Forschers. 155
Ging es nach den griechischen Entdeckern der Heilkunst, konnte Sport nicht brutal genug sein. Galen, der um 170 nach Christus wirkte, arbeitete als Gladiatorenarzt. Mehr Wunden und Brüche konnten Ärzte höchstens als Kriegssanitäter bei den Legionären behandeln, da war der Job bei den Gla diatoren ungefährlicher. Galen lernte und schlussfolgerte so viel, dass er heute neben Hippokrates zu den bedeutendsten Ärzten der Antike zählt. Vom Zustand der Topathleten war Galen entsetzt. Insbesondere Schwerathleten seien »lahme, krumme, zerschmetterte oder gänzlich verstümmelte« Menschen. Von Fitness keine Spur. Die Spitzensportler seiner Zeit waren dem Arzt zufolge solche Waschlappen und so verkommen, dass Schweine alltagstauglicher seien als sie. Harte Worte, aber vermutlich wahr.
Fleischklopse im Schlaraffenland Ein Schwerathlet war ein Nimmersatt. Von Milon von Kroton wird berichtet, er habe am Tag gut 6 Kilogramm Fleisch und ebenso viel Brot gegessen und
Medizin in der Antike Zur Zeit der Olympischen Spiele war der menschliche Körper eine Landkarte mit vielen weißen Flecken. Vom Blutkreislauf hatte noch niemand gehört und die Narkose blieb ein Traum von Chirurgen und Patienten. Wer krank war, betete zu Asklepios, dem griechischen Heilgott mit Vollbart und Stab, dessen wichtigstes Heiligtum in Epidauros stand, zwei Tagesreisen von Athen entfernt. Epidauros war Anziehungspunkt für Kranke aus dem gesamten Mittelmeerraum. In den Tempeln opferten Kranke oder deren Angehörige, was der heimische Stall an Ziegen, Schafen und Schweinen hergab. Im Theater – bis heute vollständig erhalten – erlebten die Kurgäste Aufführungen zu Ehren des Asklepios. Ärzte schwirrten von Krankenlager zu Krankenlager und verordneten vor allem zwei Arzneien: Kühle und Ruhe. Beim Gesundheitsschlaf in einem Sanatorium namens Abaton sollte den Kranken der Heilgott im Traum erscheinen und ihnen verraten, welche Heilmethode für ihr Gebrechen am wirkungsvollsten war. Kurbetrieb auf Griechisch. Gesundheit ist ein Dauerbrenner. Epidauros und der Asklepioskult wurzelten so tief im Boden der griechischen Kultur, dass sie bis heute wirken. In Gor-
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dazu 6 Liter Wein getrunken. Diese Völlerei hatte System: Wer schwer war, fiel nicht um. Nicht von ungefähr trugen Sportarten wie Boxen, Ringen und Pankration den Namen Schwerathletik. Ihre Protagonisten waren Kolosse, griechische Varianten der japanischen Sumoringer, Monstren der Arena, an denen Schläge und Stöße wirkungslos verpufften. Der antike Autor Philostrat beobachtete, wie die Sportler »vor ihren Übungen vollgepfropft wie libysche oder ägyptische Mehlsäcke dasitzen«. Beweglichkeit war unerwünscht. Sportler ließen es sich schmecken. Wer viel isst, leistet viel. Auf diese Idee kam der griechische Arzt Hippokrates um 400 vor Christus. Er entdeckte als Erster, dass Ernährung und Energie zusammenhängen. Noch wussten Hippokrates und seine Zunftgenossen nichts von Mineralien und Vitaminen, von ungesättigten Fettsäuren und den geheimen Lagern des Cholesterins im Körper. Sie verordneten Brot, Öl und Wein in rauen Mengen. Die Gleichung war einfach: Nur, wer oben viel einwirft, bei dem kommt unten auch viel Leistung heraus. Krach um die Kost – über die richtige Zusammenstellung des Ernährungs-
tys, den Ruinen eines Asklepiosheiligtums in den Bergen Arkadiens, legen die Menschen immer noch Blumen auf die Reste eines Altars, um den Heilgott um Hilfe zu bitten oder ihm für die Genesung eines Kranken zu danken. Gute Ärzte vergisst man nicht. Den Göttern vertrauten die Heiler der Antike, wenn sie mit ihrem Latein am Ende waren. Das Vokabular der Medizin aber wuchs mit jeder Entdeckung. Alkmaion von Kroton fand um 500 vor Christus heraus, dass Nerven vom Auge zum Gehirn verlaufen, Diokles von Karystos entdeckte um 300 vor Christus den Harnleiter und die Eierstöcke, zur selben Zeit unterschied Praxagoras zwischen Arterien und Venen. Irrtum nicht ausgeschlossen: Derselbe Praxagoras behauptete, Arterien dienten nicht zum Transport des Blutes, sondern der Luft im Körper, ähnlich den Bronchien. Allerdings, so behauptete der Forscher, fließe durch die Arterien keine schnöde Atemluft, sondern Pneuma, eine mystische Kraft, der Lebensnektar des menschlichen Körpers. Körpersäfte ließen die Gemüter kochen. Der Heilkundige Hippokrates wanderte durch Griechenland und grübelte an Krankenbetten über die Ursachen der Leiden, die er zu kurieren versuchte. Schließlich kam ihm die Idee der
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plans stritten schon damals Ärzte, Sportler und Gourmets. Sogar Dichter mischten sich in die Debatte ein und behaupteten, Brot sei »das Mark der Männer«. Das jedenfalls verkündete Homer, 300 Jahre vor Hippokrates. Als ein Trainer namens Pythagoras damit begann, seinen Schützlingen Fleisch zu verordnen, war guter Rat teuer. Fleisch war kostspielig, für manchen sogar unerschwinglich. Da aber gerade in Olympia Fürsten und gut verdienende Profisportler auftraten, dürften deren Näpfe täglich mit Lende, Keule, Ragout, mit Rippchen, Rücken und Roulade gefüllt gewesen sein, die in fetter Sauce trieben. Philostrat hielt davon nichts. In seinen Augen waren die Athleten »Vielfraße mit einem Magen ohne Boden«. Fleisch oder Brot – auf den Teller kam, was der Trainer verordnete. In der Frühzeit Olympias schlangen die Sportler Käse, Weizenbrot und getrocknete Feigen in sich hinein. Kein Wunder, es gab nur Leichtathletik und beim Laufen, Springen und Speerwerfen waren Dicke nicht gefragt. Erst als Boxen und Ringen zu olympischen Disziplinen aufstiegen, kam Fleisch auf den Tisch, allerdings rümpften gerade Mediziner die Nase. Der prominente Arzt Galen empfahl statt der Cholesterinbomben gekochte Bohnen zum Muskelaufbau.
Viersäftelehre. Die Gesundheit des Menschen, meinte Hippokrates, sei von vier Körpersäften abhängig: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Nur, wenn die vier Säfte im Einklang seien, sei der Mensch gesund. Fließe von einem der Säfte zu wenig durch den Körper, drohe Gefahr. Dann entstehe eine Masse, die der Herd für alle Krankheiten sei. Behandeln lasse sich diese Masse nur durch kochen. Das erledige der Körper im Regelfall selbst und scheide aus, was ihn krank mache: Eiter, Schweiß, Erbrochenes, Harn, Stuhl und Menstruationsblut. Schleim fließe beim Schnupfen von selbst aus der Nase, bemerkte Hippokrates, man müsse ihn nur lassen. Erst, wenn die Säfte nicht aus dem Körper kämen, sei es Aufgabe des Arztes, nachzuhelfen. Um einen Blutüberschuss zu beseitigen, empfahl der Arzt Galen dementsprechend den Aderlass, also das Abzapfen des Blutes, zum Beispiel durch das Aufsetzen von Blutegeln. Hippokrates lag gar nicht mal so falsch mit seiner Idee von den vier Säften, so merkwürdig sie aus heutiger Sicht auch klingen mag. Immerhin war sie für die Medizin so bahnbrechend, dass sie 2 000 Jahre lang die Heilkunde beherrschte. Erst im 19. Jahrhundert verschwand die Lehre des antiken Arztes endgültig aus der wissenschaftlichen Medizin. In der Naturheilkunde bleibt sie als Humoralpathologie bis heute von Bedeutung.
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Das mag in den Augen der ersten Ernährungswissenschaftler eine interessante Diät gewesen sein. Bei den Athleten wird sich Galen mit diesem Vorschlag keine Freunde gemacht haben.
Verrenkte Knochen für Homer Sportplätze und Schlachtfelder waren die Schulen der Mediziner, beide glichen sich bisweilen aufs Haar. Fleischwunden, ausgerenkte Gliedmaßen und Knochenbrüche trugen Athleten ebenso wie Krieger davon. Trainer und Generäle mögen ihre Mannen vor dem Einsatz zur Untersuchung geschickt haben, um sie in Topform zu wissen und Niederlagen vorzubeugen. Den Ärzten war es recht. Leichter war es, einen verletzten Arm einzurenken, eine Platzwunde zu vernähen oder einen Bruch zu schienen, als den Ursachen einer Krankheit im Innern des Körpers nachzuhorchen. Als 430 vor Christus die Pest in Athen wütete, mussten die Heiler hilflos zusehen, wie ein großer Teil der Stadtbevölkerung an der Seuche starb. Epidemien wie Pocken, Fleckfieber und Ruhr waren Schrecken, gegen die kein Kraut gewachsen war. Ging es allerdings um sichtbare Verwundungen, insbesondere um Sportverletzungen, liefen die Ärzte zu Höchstform auf. Eines der ältesten Gesundheitsbücher ist deshalb eine Anleitung zum Einrenken von Gelenken. Peri arthron heißt das Werk, Über die Gelenke, es geht auf die Zeit um 300 vor Christus zurück. Darin zeigen Bilder, dass die Ärzte mit ihren Patienten nicht zimperlich zu Werke gingen. Um einem Kranken die Wirbelsäule einzurenken, hingen ihn Krankenpfleger mit dem Kopf nach unten an den Füßen auf und zogen ihn derart an einer Leiter empor, dass die Wirbel über die Sprossen liefen. Eine andere Behandlungsmethode war es, den Patienten auf einem Streckbett zu fesseln und seinen Körper mit Winden zu dehnen, während der Arzt über ihm stand und mit der Ferse in die Wirbel trat. Schauderhaft, aber wirkungsvoll. Mancher auf diesen Apparaten geschundene Sportler mag sich den Fortschritt der Medizin herbeigesehnt haben. Tinkturen und Cremes gab es bereits, einige halfen sogar. Der berühmte Arzt Galen erfand Pasten gegen die Wehwehchen der Leistungssportler. Seine »Braune Olympiasalbe« gegen Muskelzerrungen soll ganz schmerzfrei auf die Haut aufzutragen gewesen sein. Das Rezept ist überliefert: Kadmium, Opium, Antimon, Zinkoxyd, Weih159
rauch, indische Aloe, Safran, Myrrhe und ein rohes Ei. Viele dieser Zutaten sind noch heute in der Pharmazie gebräuchlich. Die Ärzte der Antike waren Tausendsassas ihrer Zunft. Aber gegen die Schande des Verlierens und die Peinlichkeit eines Sturzes half nur Gelächter. Homer schreibt in der Ilias von einem Wettlauf zwischen Odysseus und Ajax. Die Gegner lieferten sich einen spannenden Wettkampf, da strauchelte Ajax kurz vor dem Ziel in einen Fladen der Opferstiere, »und mit Rindermist füllten sich ihm Mund und Nasenlöcher«. Ajax war um eine Ausrede nicht verlegen, er stand auf, »den Mist von sich speiend, und sagte: ›Nein doch! Wahrhaftig, da hat mir die Füße beschädigt die Göttin, die ja auch sonst wie eine Mutter dem Odysseus beisteht und ihm hilft!‹ So sprach er. Die aber lachten alle über ihn vergnügt.« Humor war schon bei Homer die beste Medizin.
Eine Werkstatt für ein Wunder
Götter brauchen ein Zuhause. Wie heute die Christen in die Kirche und die Muslime in die Moschee, gingen die Anhänger der antiken Götterwelt in den Tempel, um dort ihrem Gott nahe zu sein. Mit einem Unterschied: Ein gläubiger Mensch des Altertums konnte sich aussuchen, welchen Gott er verehrte. Manche hatten einen Lieblingsgott, andere riefen jenen Gott an, der gerade für ihre aktuellen Nöte zuständig war. So galt natürlich Eros als Sachverständiger für Liebesdinge – in Rom hieß er Amor –, für das Glück in der Schlacht war Ares zuständig, dessen römischer Verwandter Mars hieß. Obergott und Herrscher über alle anderen Götter war Zeus. Auch ihn verehrten die Römer, die ihm den Namen Jupiter gaben. Zeustempel gab es in vielen antiken Städten. Nirgendwo aber stand ein so großes Gotteshaus für den Blitzeschleuderer wie in Olympia. In einem so luxuriösen Marmortempel, wie er zwischen den Flüssen Alpheios und Kladeos aufragte, konnte ein Gott Urlaub machen. Zunächst aber lebte Zeus in Sack und Asche. In den frühen Tagen der Olympischen Spiele gab es noch keinen Prunktempel, stattdessen ehrten die Priester der Eleer ihren Schutzpatron, indem sie Opfertiere unter freiem Himmel schlachteten. Je mehr, desto besser. 100 Stiere sollen zu Beginn der Spiele getötet worden sein. Teil des Schlachtfestes war es, die Beine der Stiere zu verbrennen. Dafür gab es den Aschealtar des Zeus. Er war seit Urzeiten in Betrieb und war durch die Asche Tausender Stierbeine auf eine imposante Höhe von 7 Metern angewachsen, der Sockel des Kegels soll einen Umfang von 40 Metern gehabt haben. Eine Treppe lief um das Monument herum, damit die Priester die Zeremonie an der Spitze vollziehen konnten. Das war möglich, weil die Asche durch Feuchtigkeit zu einer harten Masse verklumpt war. So konnte es nicht weitergehen, meinten die Eleer im 5. Jahrhundert vor Christus. Alle vier Jahre kam ein Gott wie Zeus nach Olympia, und alles, was sie ihm bieten konnten, war ein Haufen Schutt und Asche – wenn auch in 161
göttlichen Dimensionen. Ein Tempel musste her. Wie gut, dass gerade Krieg herrschte. Die Eleer schlugen sich mit ihren Nachbarstädten und waren so erfolgreich, dass sie das göttliche Traumhaus durch die Kriegsbeute finanzieren konnten. Schlitzohrig rieben sie sich die Hände. Ihre Feinde waren allesamt Anhänger der Hera gewesen, der Gattin des Zeus. Bei Zeusens hing gelegentlich der Haussegen schief, und so lebten auch die Anbeter der Götter in verschiedenen Lagern. Es muss den Eleern eine diebische Freude bereitet haben, von den geraubten Reichtümern der Hera-Anhänger ausgerechnet einen Zeustempel bauen zu lassen. Zehn Jahre dauerte es, bis die Pläne des Architekten Libon in Stein gemeißelt waren. 456 vor Christus konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Es war gigantisch. Der Tempel war 20 Meter hoch und stand auf 34 Säulen, jede davon mit einem solchen Durchmesser, dass drei nebeneinander liegende Männer in ihnen hätten verschwinden können. Das Gebäude war in schillernden Farben bemalt. Blau, Rot und Gold leuchteten dem Betrachter in die Augen. Am Dach hingen 100 Wasserspeier in Form von Löwenköpfen. Wenn es regnete, war der Tempel von einem Vorhang aus Wasser umgeben. In den Giebeln standen meterhohe Skulpturen, die Szenen der griechischen Mythologie zeigten – darunter Pelops und Oinomaos, die mit ihrem tödlichen Wagenrennen die Olympischen Spiele gegründet haben sollen. Das eigentlich Wunderbare an dem Ausnahmebau aber war im Innern zu sehen. Wer den Tempel betrat, fand sich wieder in einer halbdunklen Kammer. Marmor und Muschelkalk kühlten die Luft und vor dem Besucher saß Zeus leibhaftig. 13 Meter ragte er in die Höhe, dabei stand er nicht einmal aufrecht. Zeus saß auf einem Thron. Wäre sein Abbild zum Leben erwacht und aufgestanden, der Kopf hätte die Tempeldecke durchstoßen. Kein Wunder, dass diese Statue zu ihrer Zeit zu den sieben Weltwundern gezählt wurde. Phidias hieß der Vater dieses künstlichen Gottes. Der Bildhauer war im 5. Jahrhundert vor Christus der Star der Kunstszene. Auf der Akropolis in Athen hatte Phidias ein Standbild der Athene geschaffen, das Scharen von Kunstliebhabern in die Stadt zog. Wenn es einen Mann gab, der einen Zeus in der geplanten Größe herstellen konnte, dann war er es. Als Phidias nach Olympia kam, wird er lange nachgedacht haben. Die Herausforderung war so groß, wie es die Statue werden sollte. Versagen kam nicht in Frage, ganz Griechenland hätte über den Mann gelacht, dessen Zeusbildnis in sich zusammengestürzt war. Phidias musste seiner Sache sicher 162
Ein Puzzle für Giganten: Jedes Bruchstück der umgestürzten Säulen des Zeustempels ist so hoch wie ein ausgewachsener Mann.
sein. Er beriet sich mit den Eleern. Über die Höhe des Honorars, das er für die Arbeit bekommen sollte, sind keine Dokumente erhalten. Wohl aber forderte Phidias, dass ihm ein eigenes Haus gleich neben dem Zeustempel errichtet werden sollte. Nicht etwa, dass der Bildhauer darin wohnen wollte. Er ließ die bis dahin größte Werkstatt in der Geschichte der Bildhauerei bauen. Zeus brauchte ein Dach über dem Kopf. Gold und Elfenbein waren die Stoffe, aus denen ein Gott geschnitzt sein musste – jedenfalls einer, der so hoch hinauswollte wie Zeus. Dass Phidias’ Wahl bei der Herstellung der Kultstatue auf diese Materialien gefallen war, hatte zum einen optische, zum anderen praktische Gründe. Marmor oder Bronze wären die Alternative gewesen, doch beide Materialien waren zu schwer für einen Giganten von diesem Format. Erst Jahrhunderte später gelang es griechischen Bildhauern, mit dem Koloss von Rhodos eine Bronzestatue von 30 Metern Höhe zu gießen. Tatsächlich stürzte der Koloss nicht ein, bis ein Erdbeben das Wunder in die Knie zwang. Zeus hingegen saß fest im Sattel. Das verdankte die riesige Götterstatue einem schnöderen Stoff als Gold und Elfenbein. Zeus war innen hohl. Heute vermuten Wissenschaftler, dass 163
der Gigant im Inneren von einem Holzgerüst gestützt wurde. Nachweisen kann das zwar niemand, aber eine Räubergeschichte lässt Rückschlüsse auf die Konstruktionsart des Riesengottes zu. Wer da nach Zeus seine Hand ausstreckte, war der römische Kaiser Caligula. Caligula liebte es üppig. Glaubt man seinen Biografen, ließ der Kaiser in Rom die Puppen tanzen. Einen Großteil der Staatskasse soll Caligula in wenigen Jahren nur zum Vergnügen durchgebracht haben. Kein Schauspiel konnte ihm groß genug sein. Was also lag näher, als eines der sieben Weltwunder nach Rom zu holen? Zeus selbst sollte dem Wink des Kaisers folgen. Caligula wollte die Statue aus Olympia an den Tiber schaffen. In Olympia waren die Eleer von diesem Einfall wenig begeistert. Um nichts in der Welt wollten sie ihren Zeus abgeben, schon gar nicht an die Römer, die Griechenland besetzt hielten und auf die jeder Grieche mit Verachtung herabsah. Aber des Kaisers Wille war Gesetz. Caligula befahl den Abbau des monumentalen Zeus im Tempel von Olympia. Ein Problem hatte er dabei nicht bedacht: den Respekt seiner Untertanen vor den Göttern.
Die Bauten Olympias
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Die Zeit hat aus dem ehemals prachtvollen Olympia eine Ruinenstätte gemacht. In mühsamer Arbeit haben Archäologen die Steine gesammelt und versuchen
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Es war schon schwierig genug für die Römer, Arbeiter zu finden, die diesen wohl größten Tempelfrevel der Geschichte auf sich nehmen wollten. Als sie endlich einen Haufen handfester Unerschrockener zusammenhatten, versammelte sich der Demontagetrupp vor Zeus, packte das Werkzeug aus und versuchte, die schlotternden Knie unter Kontrolle zu bringen. Von weit oben sah der Göttliche zornig auf sie herab. Es muss die Männer viel Überwindung gekostet haben, an der Statue hinaufzuklettern, um an die Befestigungen zu gelangen. Sie zogen und zerrten an dem zu dieser Zeit schon 500 Jahre alten Kunstwerk, da begann Zeus zu ächzen und zu stöhnen. Der Riese schien zum Leben zu erwachen. So schnell sie konnten, rannten die Abräumer davon. Nie wieder soll jemand versucht haben, den Frevel zu wiederholen. Die Geschichte vom Gott, der angesichts der Schänder zum Leben erwacht, machte die Runde im Mittelmeerraum und hielt sich bis in die Gegenwart. Als die Legende im 20. Jahrhundert Archäologen zu Ohren kam, glaubten die durchaus, was sich in Olympia in den Tagen Kaiser Caligulas abgespielt haben soll. Die Wissenschaftler hatten auch eine
bis heute, ihren ursprünglichen Sitz zu ermitteln. Wie leicht sich Irrtümer in dieses Puzzlespiel einschleichen können, zeigt der Bau des Theokoleon. Dieses Gebäude hielten die Ausgräber lange für einen Versammlungsort der Priester, bis sich herausstellte, dass es sich um einen Werkzeugschuppen gehandelt haben könnte. Die großen Bauten aber sind klar erkennbar. Sie zählten in ihren besten Tagen zu den berühmtesten Gebäuden der griechischen Welt. Heratempel (1): Heute ist der Heratempel ein Schatz für Archäologen, weil er das älteste Bauwerk Olympias ist und von ihm noch viele Reste erhalten sind. Der Tempel wurde im 6. Jahrhundert vor Christus gebaut, noch vor dem großen Zeustempel. Wie andere Gebäude dieser Zeit errichteten die Architekten den ersten Bau aus Holz. Noch konnte niemand ein solches Gebäude aus Stein bauen. Aber allmählich lernten die Griechen diese Kunst. Vorsichtig tauschten sie eine Holzsäule am Heratempel nach der anderen gegen Steinsäulen aus. Weil das lange dauerte, sah am Schluss jede Säule des Heratempels anders aus. In seinem Innern stand ein Tisch, auf dem die Siegerkränze für die Olympioniken warteten. Noch heute ist er in Betrieb: In seinen Ruinen entzünden Griechinnen alle vier Jahre die Fackel des Olympischen Feuers, die von hier aus zum Austragungsort der Spiele getragen wird. Zeustempel (2): Der 64 Meter lange Tempel war nicht nur das größte, son-
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Erklärung: Zeus musste innen von einem Holzgerüst gestützt worden sein, das zur Zeit des Tempelfrevels bereits alt und morsch war. Als die Diebe versuchten, die Statue zu bewegen, geriet die Konstruktion in seinem Inneren ins Schwanken, bis sich die Balken bogen. Das Holz ächzte, nicht der Gott. Ob nun ein physikalisches Phänomen die Langfinger in die Flucht schlug oder ob tatsächlich Zeus seine Hand im Spiel hatte, ist einerlei. Das Ergebnis war dasselbe: Die römischen Herrscher ließen die Finger von Olympia. Jedenfalls fürs Erste. Außen hui, innen Holz – das war der Zeus Olympias. Ohne Pflege wäre der Koloss allerdings bald verkommen. Vor allem das Elfenbein bereitete den Hausmeistern des heiligen Hains Probleme. Zeus war aus einer so großen Menge des Materials aus Elefantenstoßzähnen gebaut, dass ein antiker Gelehrter meinte, die Natur habe nur wegen der Zeusstatue die Elefanten hervorgebracht. So schön das Material auch glänzte, es litt unter der Hitze dern auch das schönste Bauwerk Olympias und bildete den Mittelpunkt der kultischen Handlungen. Am vierten Tag der Spiele zog eine feierliche Prozession in den Tempel ein, nachdem alle 70 Altäre im heiligen Bezirk besucht worden waren. Philippeion (3): Ein Ehrenmal für sich selbst begann König Philipp von Makedonien. Nicht nur hatte er in Olympia beim Wagenrennen gewonnen, er hatte auch Athen und Theben im Krieg besiegt. Dafür nahm sich Philipp 338 vor Christus etwas heraus, was niemand zuvor gewagt hatte. Er baute einen kleinen Tempel mitten in den heiligen Bezirk, neben dem Tempel des Zeus, in dem er Statuen seiner Familienmitglieder aufstellte. Philipp wurde bald darauf ermordet, aber niemand wagte, den Bau wieder abzureißen, denn Philipps Sohn erwies sich als der mächtigste Mann der griechischen Antike – Alexander der Große. Schatzhäuser (4): Kleine Bauten für große Reichtümer standen auf einer Erhebung längs des Weges ins Stadion. In den Minibanken bewahrten die griechischen Stadtstaaten kostbare Weihegeschenke und bare Münze auf. Besonders die Kolonien hatten hier ihre Rücklagen, die ihnen in Notzeiten helfen sollten. Die Geldanlage war todsicher – selbst der abgebrühteste Bankräuber wäre vor einem Fischzug im heiligen Hain zurückgeschreckt. Stadion (5): Das Herz Olympias und das aller Zuschauer schlug im Stadion. Hier hatten Fans und Sportler viel Raum. Mit Platz für 40 000 Zuschauer war das Stadion Olympias das größte seiner Art in der griechischen Welt. Bahn und
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Griechenlands und drohte auszutrocknen und Risse zu bekommen. Hätte sich niemand um Zeus gekümmert, der Gigant wäre auseinandergefallen. Wie aber ist eine solche Statue zu pflegen? Feuchtigkeit musste her, aber die war in Olympia so kostbar wie Gold und ebenso selten. Doch Phidias, der Baumeister des Wunderwerks, hatte auch daran gedacht. Zu Füßen des Zeus schwappte in einem Becken literweise Olivenöl. Doppelter Vorteil: Die Dämpfe des Öls hielten das Elfenbein feucht und glänzend, gleichzeitig spiegelte sich die Statue im Öl und wirkte dadurch noch größer und schöner. Ideen muss man haben. Zeus war eine Zugnummer. Wen die Spiele nicht nach Olympia lockten, der kam wegen der Skulptur. Gewundert haben wird sich mancher, der sich eine 13 Meter hohe Statue viel kleiner vorgestellt hatte, als sie wirkte. Reiseschreiber Pausanias notierte zu den Füßen des Zeus: »Obwohl ich weiß, dass die Höhen- und Breitenmaße des Zeus von Olympia aufgezeichnet sind, kann Tribünen wuchsen mit den steigenden Anforderungen der Spiele. In seiner über eintausendjährigen Geschichte wurde das Stadion fünfmal erweitert. Hippodrom (6): Die große Unbekannte in der Geschichte Olympias ist die Pferderennbahn. Da nur wenige Bauteile auf ihr standen und diese zudem aus leicht vergänglichem Holz bestanden, haben sich keine Reste erhalten. Wissenschaftler knobeln bis heute daran, wo genau das Hippodrom gelegen haben könnte. Gymnasion (7) und Palaistra (8): Hier flogen die Beine und die Fäuste, aber nur zum Spaß. Der Übungsplatz war eine Luxusanlage mit überdachter Rennbahn und Umkleideräumen in Marmor, die in Griechenland ihresgleichen suchte. Echohalle (9): Schatten und Kühle spendete das 98 Meter lange Bauwerk mit seinen langen Säulenreihen. Wie man in die Halle hineinrief, so schallte es hinaus: Der Ton soll sich in dem leeren Raum siebenfach gebrochen haben. Buleuterion (10): Hochoffiziell ging es im Amtsgebäude des Olympischen Rates zu. Im Rathaus Olympias tagten Organisatoren und Kampfrichter, hier schworen die Athleten, ihre Trainer und Angehörigen vor einer Statue des Zeus, dass sie sich bei den Spielen an die Regeln halten würden. Leonidaion (11): Der reiche Kaufmann Leonidas von Naxos ließ diese Herberge errichten, in der die Reichen der Antike gleich neben der Mauer zum heiligen Hain übernachten konnten. Das Luxushotel hatte sogar einen eigenen Teich mit Wasserspielen im Innenhof.
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ich doch die Männer, welche die Messungen vorgenommen haben, nicht loben. Ihre Angaben bleiben nämlich hinter dem Eindruck, den das Kultbild auf den Betrachter macht, weit zurück.« Zuletzt fiel Zeus doch der Gier der Römer zum Opfer. Die herrschten im 4. Jahrhundert nach Christus schon nicht mehr von Rom, sondern von Byzanz aus, der Stadt, die heute Istanbul heißt und in der Türkei liegt. Dorthin verschleppte ein reicher Römer den Zeus des Phidias, an dem zu dieser Zeit bereits der Zahn der Zeit genagt hatte – immerhin war die Statue bereits 900 Jahre alt. Sie überstand zwar den Transport und soll in Byzanz einen Altersruhesitz in einem Privathaus erhalten haben. Doch ein Jahrhundert später, 475 nach Christus, brach ein Feuer in der Stadt aus. Das war keine Seltenheit. Die meisten Häuser waren aus Holz gebaut. In der Hitze der Sommermonate waren die Wände so trocken, dass ein Funken genügte, um ein ganzes Stadtviertel in Brand zu setzen. Zeus nahm ein tragisches Ende. Nachdem er fast 1 000 Jahre als Weltwunder in Olympia bestaunt worden war, verbrannte er im Privatpalast eines reichen Römers. Der Zeustempel teilte sein Schicksal. 40 Jahre, nachdem der große Zeus vernichtet worden war, ging auch sein Haus im heiligen Hain Olympias in Flammen auf. Zu dieser Zeit war der heilige Ort in Elis, jahrhundertlang das Zentrum der griechischen Welt, schon lange verlassen.
Der wiederbelebte Sportsgeist Olympia in der Neuzeit
Olympia lebt ewig, der Meinung waren jedenfalls die Dichter der Antike. Für den Gedanken des Sportfestes mag das gelten. Für den heiligen Hain und seine umliegenden Bauten aber dauerte die Ewigkeit nur bis 393 nach Christus. Dann kam das Christentum. Die alten Götter hatten ausgedient. Als der römische Kaiser Theodosius das Christentum zur offiziellen Religion in seinem Reich erklärte, verbat er gleichzeitig alle früheren Kulte. Die galten ab sofort als »heidnisch« und waren tabu. Die Olympischen Spiele hatten das Pech, unter dieses Verbot zu fallen. Sie wurden zu Ehren des Zeus abgehalten, einem Gott, den es nach den Regeln der Christen nicht mehr geben durfte. Mit einem Mal blieben in Olympia die Zuschauer aus. Bald gehörten die Statuen von Zeus und Konsorten zum alten Eisen. Ein Nachfolger des Kaisers, Theodosius II., ließ es nicht beim reinen Verbot der Kulte, er verfolgte auch die letzten Anhänger der alten Götter und ließ ihre Tempel niederbrennen. Die fanatischen Anhänger des neuen Glaubens machten vor der großen Vergangenheit ihrer Landsleute nicht halt. 426 ging in Olympia der Zeustempel in Flammen auf. Das größte Monument der Spiele und ein Meilenstein menschlicher Kulturgeschichte brannte nieder. Zurück blieb ein qualmender Trümmerhaufen. Niemand räumte mehr auf, Stadion, Pferdrennbahn, Altis, der heilige Hain lagen verlassen wie eine Geisterstadt. Wo jahrhundertelang die Fans gejohlt hatten, pfiff nur noch der Wind durch die Ruinen. Der ein oder andere Verehrer des Zeus mag sich noch in die Altis gestohlen haben, um seinem Gott ein Opfer zu bringen. Die Anlage aber war nicht mehr zu retten. Was die Flammen übrig ließen, verschlang die Natur. Kladeos und Alpheios, die beiden Flüsse um Olympia, waren stets Lebensspender gewesen, nun machten sie mit der Geschichte des Ortes kurzen Prozess. Im Lauf einiger Jahrzehnte 169
traten die Flüsse über die Ufer und rissen mit sich, was nicht mehr niet- und nagelfest war. Statuen, Säulen und ganze Teile des Gymnasions verschwanden in den Fluten. Zu allem Unglück lösten sich auf dem Kronoshügel immer wieder dicke Brocken Felsgestein und stürzten auf die Gebäude herab. Was nach diesen Katastrophen noch von Olympia übrig war, ging im 6. Jahrhundert nach Christus bei zwei schweren Erdbeben endgültig zu Bruch. Die olympischen Flüsse deckten die Narbe mit einer Schlammschicht zu, die im Lauf der Zeit auf 4 Meter anwuchs. Auf den fruchtbaren Ablagerungen wucherten bald Gräser, Sträucher und Bäume. Nicht einmal ein Bruchstück Marmor ragte aus der neu entstandenen Landschaft hervor. Der Ort Olympia geriet in Vergessenheit.
Raue Sitten in Großbritannien Der Ort war verschwunden, an die Spiele und Spektakel aber erinnerten die unsterblichen Texte der Olympiafans. Zwar reiste niemand mehr nach Elis, die Griechen aber liebten den Sport noch immer und trafen sich andernorts zu Wettkämpfen. Schon zu den Glanzzeiten Olympias gab es Anfragen anderer Stadtstaaten an die Eleer, auch andere Spiele »olympisch« nennen zu dürfen. Dieser Bitte wurde mit einer Geldspende Nachdruck verliehen. Olympia blieb eine Qualitätsmarke. Der Sportsgeist blieb lebendig. Den ersten ernsthaften Versuch, die Spiele wiederzubeleben, gab es nicht in Griechenland und auch nicht in Rom, sondern in Großbritannien. Ein Rechtsanwalt namens Robert Dover hatte eine Idee. Er schlug dem englischen König, damals Jakob I., vor, ein Sportfest im Geist der Antike zu veranstalten. Damit wollte Dover zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen lag ihm daran, die Wehrtüchtigkeit der Briten auf die Probe zu stellen und mit reizvollen Preisen dafür zu sorgen, dass sich die Männer für den Kriegsfall fit hielten. Zum anderen war Politik der Motor für Dovers Olympiade. Die Puritaner, eine Partei, die gegen den König agierte, rümpften zu dieser Zeit die Nase und klagten, Sport sei den Briten nur Anlass für Trunkenheit, Feiern und Unsittlichkeiten. Dover wollte sie eines Besseren belehren und beschwor den antiken Sportsgeist. Unter dem Banner der »Olympick Games« trommelte Robert Dover eine Meute britischer Sportler und Zuschauer in der Nähe des Ortes Chipping 170
Campden zusammen. Im Sinn der alten Griechen und des Wehrsports musste die Athleten Laufen, Springen und Ringen. Als moderne Dreingabe hatte Dover noch Fechten und Jagen auf die Liste der Disziplinen gesetzt. Sogar Hammerwerfen mussten die Teilnehmer. Im Gegensatz zu dem heutigen Gerät dieser Sportart schleuderten die britischen Olympioniken einen echten Hammer durch die Luft. Im Zeichen des Zweikampfs standen bei den »Olympick Games« die Sportarten »Schienbeintreten« und »Knüppelkampf«, und sogar Frauen durften teilnehmen. Sie maßen sich beim »Wetttanzen« oder dem »Kittellaufen«, bei dem es als Preis einen schönen Kittel zu gewinnen gab. Es war an alles gedacht, sogar die Puritaner erschienen, um dem Treiben zuzusehen und sich davon überzeugen zu lassen, dass Sport und Anstand sogar nach ihrem Dafürhalten miteinander vereinbar seien. Aber Robert Dover und der englische König hatten die Rechnung ohne die Feststimmung ihrer Untertanen gemacht. Die Briten machten ein Fass auf. Statt ehrfürchtig den Leibesübungen zuzusehen, tanzte die Menge und betrank sich. Ein großer Bau aus Holz, der an ein Schloss erinnern sollte, war gezimmert worden, um ihn herum hatten Wirte, Wanderärzte, Musikanten, Akrobaten und Hausierer ihre Zelte aufgeschlagen. Ein als Homer verkleideter Musiker ging umher, spielte eine Leier und sang Loblieder auf Olympia. Angesichts dieses Jahrmarkts müssen die Puritaner entsetzt gewesen sein – und einer Ohnmacht nahe, als sie sahen, dass die Frauen beim Kittellaufen ihr Röcke hoben, um besser rennen zu können. Politisch waren die »Olympick Games« ein Reinfall. Der König hatte seine politischen Gegner nicht zum Schweigen, sondern zum Aufschreien gebracht. Den Briten war es gleich. Sie fanden das Fest so gelungen, dass sie es künftig wiederholten. Bis 1852 gab es die britische Ausgabe der Olympischen Spiele, die auch Cotswold Games hießen, jedes Jahr. Ähnlich wie die echten Olympischen Spiele geriet auch das britische Sportfest nie in Vergessenheit. Eine Gruppe britischer Sportsfreunde belebte das Fest 1965 wieder und hatte damit großen Erfolg.
Olympia lebt Krieg blieb der Motor der Olympischen Spiele. Während die Briten Partys feierten, ging es auf dem europäischen Kontinent bierernst zu. Preußen und 171
Frankreich lagen um 1870 im Krieg. Die Franzosen verloren die entscheidende Schlacht bei Sedan und mussten sich den Preußen ergeben. Die Schmach war groß und wurde umso größer, als die Preußen die Frechheit besaßen, ausgerechnet im französischen Königsschloss von Versailles nahe Paris ihren König zum Kaiser krönen zu lassen. Wie konnte Frankreich so tief sinken? Ein junger französischer Adeliger namens Pierre de Coubertin machte sich seine eigenen Gedanken und kam zu einer einfachen Lösung: Die Franzosen waren nicht so gut trainiert gewesen wie die Preußen und hatten den Krieg deshalb verloren. Das sollte sich nicht wiederholen. Coubertin hatte eine Idee. Olympia sollte wiederauferstehen. Diesen Spleen brachte er von einer Reise nach Großbritannien mit. Dort gehörte Sport zur Erziehung junger Menschen. Die Schule der englischen Stadt Rugby hatte Sport sogar als Fach eingeführt, so etwas hatte es nie zuvor gegeben. Coubertins Idee von Olympia zündete, als der Franzose die Ortschaft Much Wenlock besuchte. Dort hielt eine »Olympian Society«, eine olympische Gesellschaft britischer Gentlemen, regelmäßig Wettkämpfe im Namen der antiken Vorbilder ab. Das, so meinte Coubertin, konnten die Franzosen auch. Zum Dank für die Inspiration pflanzte der Besucher eine Eiche in Much Wenlock und seine Idee in die Welt. Niemand hörte zu. Sport und Erziehung – danach stand den Franzosen nicht der Sinn. Sie hatten andere Probleme. Die Wirtschaft krankte, Preußen machte politischen Ärger. Coubertin aber gab nicht auf. Als ein Kongress französischer Sportler an der Pariser Universität Sorbonne tagte, witterte der Olympiafan seine Chance. Er trat vor die versammelte Mannschaft und präsentierte seinen Einfall, in der Hoffnung, Begeisterungsstürme auszulösen. Das Ergebnis aber war niederschmetternd. Niemand wollte Olympia in Frankreich wiederbeleben. Coubertin zog hängenden Kopfes davon, aber sein Sportsgeist verbat es ihm, aufzugeben. Zwei Jahre später trafen sich Sportler aus 79 Ländern in Paris. Diesmal wollte Coubertin alle Register ziehen, um die Sportfunktionäre für Olympia zu begeistern. Vielleicht, so mag er überlegt haben, genügt es nicht, sich an ein Rednerpult zu stellen. Sportler machen keine großen Worte. Also sorgte der Adelige für andere Eindrücke. Er organisierte ein Bankett und ließ den Geist Olympias aufleben: Während die Herren Sportler tafelten, beleuchteten 1 000 Fackeln die Nacht, Schaukämpfe, Pferderennen und Feuerwerke beeindrucken die Besucher. Als Coubertin nochmals auf seine Idee vom Sportfest 172
der alten Griechen hinwies, fraßen ihm die Gäste aus der Hand. Olympia müsse erneuert werden, riefen sie. Coubertin war am Ziel seiner Wünsche. Dabei hatte er allerdings ein wenig geflunkert. Olympia sei ein Fest der Fürsten gewesen, soll Coubertin der Versammlung gesagt haben. Vor ihm saßen keine einfachen Angestellten oder Arbeiter, sondern die Creme der französischen Gesellschaft. Also machte Coubertin den Geldgebern Olympia schmackhaft, indem er betonte, dass im originalen Olympia nur Aristokraten gekämpft hätten – eine Behauptung, die nicht gänzlich falsch ist, aber verschweigt, dass Olympioniken im alten Griechenland auch später Berufsboxer und -ringer waren, Arbeiter also, die es auf das Preisgeld abgesehen hatten und deren Blut nicht blau war, sondern rot war. Aber im Fackelschein des großen Festes von 1892 blieben solche historischen Feinheiten im Dunkeln. Die Idee wurde Wirklichkeit. Mit Finanzspritzen des französischen Adels wiederbelebt, begann das Herz Olympias 1896 erneut zu schlagen. Griechenland war zum Ort des Neubeginns gewählt worden. Das historische Olympia selbst war zu diesem Zeitpunkt zwar bereits wiederentdeckt, doch lag es noch so weit unter Schwemmsand begraben, dass es nur Archäologen als Tummelplatz dienen konnte. Coubertin und seine Spiele zogen nach Athen. Gänzlich griechisch ging es bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit zu. Eigens für das Ereignis hatte ein griechischer Kaufmann ein Marmorstadion bauen lassen und darauf geachtet, dass die Architektur an antike Anlagen dieser Art angelehnt war. Griechisch waren auch die Zuschauer. Die Spiele waren gerade geboren und alles andere als berühmt. Niemand pilgerte für ein solches Sportspektakel nach Athen, zumal Reisen gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch immer ähnlich mühsam war wie in den Tagen des alten Olympia. Immerhin kamen 100 000 Zuschauer, die meisten waren Griechen. Die Spiele lieferten ihnen einen Grund zum Feiern. Sieger im Langstreckenlauf wurde ein Landsmann. Das Publikum in Athen feierte Spyridon Louis so frenetisch, dass man meinen konnte, Milon von Kroton sei auferstanden. Nach 1 500 Jahren weckte ein Grieche den Geist Olympias in seinen Landsleuten, und die versprachen dem Laufstar Belohnungen, wie sie auch in der Antike üblich waren. Ein Großgrundbesitzer schenkte Louis ein kleines Landgut, ein Barbier versprach, ihn bis ans Lebensende kostenlos zu rasieren, andere sagten kostenlose Mahlzeiten, Getränke und Theaterplätze zu, ein Hutmacher garantierte Louis sogar Kopfbedeckungen bis 173
zum Todestag. Dabei hatte der so Beschenkte gar nicht zu den Favoriten des Rennens gehört, sondern die Amerikaner und Briten. Sie waren die einzigen gewesen, die sich durch intensives Training auf die Spiele vorbereitet hatten. Der Startschuss für die Olympischen Spiele der Neuzeit war gefallen. Gehört hatten ihn noch nicht viele. Sogar die Sportler, die bei den zweiten Spielen in Paris teilnahmen, das war im Jahr 1900, wussten nicht, dass sie Olympioniken waren. Das Sportfest war trotzdem erfolgreich, wohl auch, weil so merkwürdige Disziplinen wie Hindernisschwimmen und Ballonwettfahren die Zuschauer begeisterten. Wie der antike Odysseus, der viele Irrfahrten auf sich nehmen musste, fühlten sich einige Läufer bei den Spielen in Paris. An jenem 19. Juli 1900 war es heiß in Paris. Die Stadt lag unter eine Hitzeglocke und dampfte mit 38 Grad Celsius vor sich hin. Kein Wetter für Wettläufer. Die Olympioniken traten trotzdem an. Sie brauchten neben Ausdauer viel Ortskenntnis: Das Rennen ging quer durch die französische Metropole und der Weg war schlecht ausgeschildert. Nach dem Startschuss liefen alle kreuz und quer. Der Schwede Ernst Fast verlief sich hoffnungslos in den Gassen von Paris. In der Not tat er das Nächstliegende und fragte einen Gendarmen nach dem Weg. Ob es nun daran lag, dass Fast nicht genug Französisch konnte oder ob der Gendarm sich schlichtweg irrte, ist nicht bekannt, aber der Polizist schickte den Sportler auf die falsche Fährte. Der verlor das Rennen und der Gendarm seine Selbstachtung. Der Legende nach soll sich der Schutzmann sein Missgeschick so sehr zu Herzen genommen haben, dass er sich kurz darauf erschoss. Anderen Olympioniken der Pariser Spiele erging es keinen Deut besser. Der US-Läufer Arthur Newton glaubte sich auf dem richtigen Weg und wähnte sich schon als Sieger, weil ihn niemand überholte. »Warum einige vor mir da waren, wird mir ewig ein Rätsel bleiben«, soll er gesagt haben. Gewonnen hat diesen denkwürdigen Lauf – wie zu erwarten – ein Einheimischer. Der Bäckerbursche Michel Théato kannte die Stadt wie seine Westentasche und vermutlich auch die besten Abkürzungen – Goldmedaille für Ortskenntnis. Pierre de Coubertin muss sich am Ziel seiner Wünsche gefühlt haben, als die vierten Spiele von 1908 so viele Sportler und Zuschauer anlockten wie nie zuvor. 2 000 Sportler aus 22 Nationen traten in London an, um den jeweils besten ihrer Disziplin zu bestimmen. Wie in Athen war der Marathonlauf Publikumsmagnet Nummer eins. Ausgerechnet am Ende der Langstrecke kam 174
es zum ersten Skandal in der Geschichte der modernen Olympischen Spiele. Dabei hatte es der Schuldige doch nur gut gemeint. Die Läufer rannten schon eine Weile, sie waren am Ende ihrer Kräfte, da kam das Ziel in Sicht. An der Spitze rannte der Italiener Dorando Pietri, 42 Kilometer hatte er bereits zurückgelegt. Das Publikum raste, Pietri aber lief immer langsamer. Kurz vor der Zielgeraden drohte der Italiener zusammenzubrechen. Tatsächlich knickten ihm mehrfach die Beine weg, aber er rappelte sich immer wieder hoch. Da fasste sich einer der Kampfrichter ein Herz und Pietri am Arm und schob und zog den Erschöpften die letzten Meter ins Ziel. Disqualifizierung. Die Medaille gewann zwar der US-Läufer Johnny Hayes, den Jubel der Zuschauer aber der zähe Italiener und sein barmherziger Helfer. Mit dem Chaos beim Lauf durch Paris waren die Irrfahrten des modernen Olympia endgültig beseitigt. Pierre de Coubertin ließ die Flagge einholen, die über den ersten vier Spielen geflattert hatte, und ersetzte sie durch eine neue. Er selbst hatte das Design geliefert: fünf Ringe, die ineinander greifen, jeder mit einer anderen Farbe. Nach der allgemeinen Auffassung sollten die Kreise für die fünf Weltkontinente stehen, die sich in Olympia friedlich vereinen. Die Farben der Flagge wählte de Coubertin angeblich so aus, dass jedes Land der Welt mit mindestens einer Farbe in der Flagge vertreten wäre – daher die Zusammensetzung blau, gelb, schwarz, rot und grün sowie das Weiß des Hintergrunds. Das Symbol ist bis heute das Erkennungszeichen der Olympischen Spiele. Coubertin, der Herr der Spiele, war zum Herrn der Ringe geworden. Aus dem friedlichen Miteinader der Nationen wurde zunächst nichts. 1914 explodierte das politische Pulverfass in Europa und der Erste Weltkrieg brach aus. Die Spiele wurden abgesagt. Zwar kamen die ehemals verfeindeten Staaten nach dem Frieden von 1918 wieder zum Sportfest zusammen, aber bereits die Spiele von 1936 in Berlin fanden unter den Bannern des deutschen Faschismus statt. Freigeister jubelten, als ausgerechnet unter den Augen derjenigen, die sich Herrenmenschen nannten und andere Menschenarten ablehnten, der farbige Läufer Jesse Owens zum Star der Spiele wurde. Der Olympische Gedanke triumphierte über Politik und Engstirnigkeit. So hatte Coubertin sich das vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt aber war der Vater der Spiele längst nicht mehr aktiv. Nach 35 rastlosen Jahren war er 1925 zurückgetreten. Nie wieder nahm Coubertin an den Spielen teil oder besuchte eine Sitzung des Olympischen Komi175
tees. Er wollte nicht als graue Eminenz erscheinen und Gefahr laufen, seine Nachfolger zu schulmeistern. Dafür machte Olympia seinem Geburtshelfer ein großes Abschiedsgeschenk. In Elis waren die Ausgrabungen der antiken Sportstätte so weit fortgeschritten, dass die Anlage eingeweiht werden konnte. 1927 erwachte das alte Olympia zu neuem Leben. Was vom Stadion, den Tempeln und den anderen Bauten übrig geblieben war, empfing wieder Besucher. Zwar kamen nun Wissenschaftler und Touristen, aber der ein oder andere versuchte sich auch als Sportler und probierte entlang leerer Tribünen die Stadiondistanz zu laufen. Zu Ehren Pierre de Coubertins stellten die Griechen einen Marmorobelisken in Olympia auf, die moderne Variante einer Siegerstatue. Als der französische Adelige 1937 starb, ließ er sein Herz im antiken Olympia bestatten. Dort hatte er es ohnehin Jahre zuvor, wie Tausende Griechen in der Antike, verloren.
Anhang
Zeittafel der olympischen Disziplinen Je mehr Ruhm die Olympischen Spiele nährten, desto mehr wuchs das Sportfest über sich hinaus. Genügten in den frühen Tagen Olympias nur ein oder zwei Laufwettbewerbe, kamen im Fortgang der Jahrhunderte immer mehr Sportarten hinzu. Die Olympiaforschung kennt heute die folgende Liste von Disziplinen und die Daten ihrer Einführung: Stadionlauf (Kurzstreckenlauf) Diaulos (Kurzstreckenlauf von doppelter Länge) Dolichos (Langstreckenlauf) Fünfkampf und Ringen Boxen Wagenrennen mit Vierspännern Pankration und Pferderennen Laufen und Ringen für Jugendliche Fünfkampf für Jugendliche Boxen für Jugendliche Waffenlauf Rennen für Maultiergespanne Stutenrennen Wagenrennen der Zweispänner Wettbewerb der Herolde und Trompeter Wagenrennen für Vier-Fohlen-Gespanne Wagenrennen für Zwei-Fohlen-Gespanne Fohlen-Rennen Pankration für Jugendliche
776 v. Chr. 724 v. Chr. 720 v. Chr. 708 v. Chr. 688 v. Chr. 680 v. Chr. 648 v. Chr. 632 v. Chr. 628 v. Chr. 616 v. Chr. 520 v. Chr. 500 v. Chr. 496 v. Chr. 408 v. Chr. 396 v. Chr. 384 v. Chr. 268 v. Chr. 256 v. Chr. 200 v. Chr.
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Zeittafel der griechischen Geschichte Um 2 000 v. Chr.:
Auf Kreta ist die erste Hochkultur in der Ägäis entstanden. Die Minoer errichten prachtvolle Königspaläste.
1 600 bis 1 400 v. Chr.: In Knossos auf Kreta entsteht der Luxuspalast von König Minos. Der Legende nach soll der Minotaurus, ein sagenhaftes Stiermonster, dort sein Unwesen treiben. Um 1 500 v. Chr.:
Die Minoer auf Kreta verfügen als erste Menschen im Mittelmeerraum über eine Schrift. Sie heißt »Linear A« und wird zur Grundlage des heutigen Schrifttums.
Um 1 450 v. Chr.:
Die Folgen eines Vulkanausbruchs auf der nahen Insel Thera (heute Santorin) setzen der Kultur auf Kreta so schwer zu, dass sie in den folgenden Jahrzehnten untergeht.
1 400 – 1 200 v. Chr.:
Auf dem griechischen Festland steigt Mykene zur neuen Großmacht auf.
Um 1 200 v. Chr.:
Der Krieg um Troja entbrennt. Das Ereignis wird zur größten Legende der Griechen und von dem Dichter Homer in seinem Epos Ilias aufgeschrieben. Heute ist die Existenz Trojas historisch nachgewiesen. Von einem Krieg oder dem Trojanischen Pferd fehlt aber eine gesicherte Spur.
Um 1 200 v. Chr.:
Fremde Völker wandern in Griechenland ein. Die sogenannten Dorer vernichten die Kultur der Mykener. In der Ägäis bricht ein dunkles Zeitalter an.
Um 800 v. Chr.:
Homer schreibt die Ilias.
776 v. Chr.:
Zum ersten Mal sind die Festspiele in Olympia belegt.
753 v. Chr.:
Der Legende nach wird in diesem Jahr Rom gegründet (»Sieben Fünf Drei – Rom schlüpft aus dem Ei«).
735 v. Chr.:
Siedler aus Griechenland gründen die erste griechische Kolonie auf Sizilien.
Um 650 v. Chr.:
Auch am Schwarzen Meer entstehen griechische Kolonien.
Um 600 v. Chr.:
Auf der Insel Ägina werden die ersten griechischen Münzen geprägt.
594 v. Chr.:
Der Staatsmann Solon leitet eine radikale Erneuerung der
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Gesellschaft Athens ein. Er unterteilt die Bevölkerung in vier Klassen, die unterschiedliche Rechte und Pflichten haben. 582 v. Chr.:
Zum ersten Mal feiern die Griechen in Delphi die Pythischen Spiele.
573 v. Chr.:
Die Nemeischen Spiele finden zum ersten Mal statt.
508/507 v. Chr.:
Unter Führung des Aristokraten Kleisthenes führt die Volksversammlung Athens die erste demokratische Regierung ein. Zuvor hatte ein Tyrann Athen beherrscht.
500 v. Chr.:
Griechische Städte an der Küste Kleinasiens (der heutigen Türkei) rebellieren gegen die Herrschaft der Perser. Die Perserkriege brechen aus.
490 v. Chr.:
Die Griechen besiegen die Perser in der Schlacht bei Marathon.
480 v. Chr.:
Ein kleiner Trupp spartanischer Soldaten unter Führung ihres Königs Leonidas nimmt es mit der Übermacht des persischen Heeres auf. Die 300 Spartaner können die Perser vom Durchmarsch durch einen Gebirgspass abhalten, bis sie verraten werden. Daraufhin erobern die Perser Athen.
479 v. Chr.:
Die Griechen unter der Führung Spartas besiegen die Perser bei Platäa. Die Perserkriege sind beendet.
461 v. Chr.:
Der Staatsmann Perikles führt den Stadtstaat Athen zur höchsten Blüte. Die klassische griechische Kultur erreicht den Höhepunkt.
457 v. Chr.:
In Olympia ist der Zeustempel vollendet. Die darin befindliche Statue des Göttervaters Zeus zählt zu den sieben Weltwundern der Antike.
447 v. Chr.:
Auf der Akropolis in Athen beginnen die Arbeiten an dem bis heute berühmten Tempel der Göttin Athena Parthenos, dem Parthenontempel.
431 v. Chr.:
Zwischen Athen und Sparta bricht der Peloponnesische Krieg aus, der Griechenland grundlegend verändert.
404 v. Chr.:
Spartaner erobern Athen. Der Peloponnesische Krieg ist beendet. Die Demokratie wird abgeschafft.
399 v. Chr.:
Der Gelehrte Sokrates wird wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt. Er gilt als Begründer der Philosophie.
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Um 370 v. Chr.:
Der Arzt Hippokrates stirbt. Er ist der erste Mediziner, der versucht, die Ursachen von Krankheiten zu erforschen und sie nicht ausschließlich auf religiöse und magische Hintergründe zurückzuführen.
336 v. Chr.:
König Philipp II. von Makedonien wird ermordet. Als Nachfolger besteigt sein Sohn Alexander den Thron. Er erobert in den nächsten 13 Jahren Persien und gelangt bis Indien. Seine Taten bringen ihm den Namen Alexander der Große ein.
323 – 146 v. Chr.:
Das von Alexander geschaffene Weltreich zerbricht nach dem Tod des Königs. Alexanders Feldherren streiten sich in den Diadochenkriegen um das Erbe. In dieser Zeit breitet sich die Kultur der Griechen über den Mittelmeerraum aus. Das Zeitalter des Hellenismus, von Hellas (Griechenland), beginnt.
Um 280 v. Chr.:
Zwei weitere Weltwunder der Antike entstehen: Der Leuchtturm von Alexandria und der Koloss von Rhodos.
270 v. Chr.:
Der Gelehrte Aristarchos von Samos findet heraus, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern umgekehrt die Erde um die Sonne. (Es dauert jedoch noch fast 1 500 Jahre, bis sich diese Erkenntnis tatsächlich durchsetzt.)
Um 150 v. Chr.:
Ein unbekannter griechischer Bildhauer schafft die berühmte Venus von Milo. Obwohl die Statue heute nicht mehr vollständig erhalten ist, gilt sie als Höhepunkt der griechischen Kunst.
146 v. Chr.:
Die Römer erobern Korinth. Der Fall der Stadt markiert den Beginn der römischen Herrschaft über Griechenland.
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Wer weiterlesen will Wolfgang Decker: Sport in der griechischen Antike, München 1995. Carl Diem: Ewiges Olympia. Quellen zum olympischen Gedanken, Minden 1948. Alfred Mallwitz: Olympia und seine Bauten, Darmstadt 1972. Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst, München 2004. Judith Swaddling: Die Olympischen Spiele der Antike, Stuttgart 2004. Karl-Wilhelm Weeber: Die unheiligen Spiele. Das antike Olympia zwischen Legende und Wirklichkeit, München 1991. Ulrich Wegner: Olympische Götterspiele. Wettkampf und Kult, Ostfildern 2004. Ingomar Weiler: Der Sport bei den Völkern der Alten Welt, Darmstadt 1981.
Bildnachweise ANE/Andreas Neumann: S. 164 Dirk Husemann: S. 32, 63, 163 picture alliance/akg-images, John Hios: S. 8 picture alliance/dpa/dpaweb: S. 77 picture alliance/akg-images, Erich Lessing: S. 105
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Register
Abates 119, 120 Achilles 13, 21, 71, 84, 96 Adelige 51, 53, 129, 172, 176 Ägäis 34, 178 Agesilaos 48, 49 Ageus 57 Agis 130 Agora 35, 36, 56, 62, 67 Ägypter 12, 24, 52 Ajax 95, 96, 160 Akropolis 33, 36, 137, 162, 179 Alexander der Große 9, 13, 21, 27, 35, 44, 55, 148, 166, 180 Alexandria 47, 146, 180 Alkibiades 53, 64, 107, 118, 138, 139 Alpheios 13, 15, 86, 141, 161, 169 Altersklassen 47, 48 Altis siehe auch heiliger Bezirk 49, 140, 169 Amykos 101–103, 108 Anacharsis 64–65 Apite 8, 9, 10, 76 Apollon 13, 20, 21, 23, 24, 132, 133 Apollonios 47 Aporrhaxis 126 Ares 13, 18, 161 Argonauten 84, 85, 101–103, 108 Argos 50, 57 Aristophanes 35, 53 Arkader 140–141 Arkadien 46, 73, 157 Arrhichion 109 Ärtze 52, 155–160 Asklepios 156, 157 Athene 14–17, 53, 137, 162
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Augias 15 Aura 145–146 Ballspiele 126–127 Barbaren 9, 33, 44–45, 64–65 Bauten Olympias 164–166, 169, 176, 180 Ben Hur 116–117 Bestechung 121–123, 132–134 Boxen 48, 53, 54, 64, 72, 81, 93, 95, 100–106, 107, 109, 129, 131, 144, 150, 157, 188 Bronzestatue 55, 92, 105, 133, 163 Buleuterion 128, 167 Bußgeld 130–132, 146 Caligula 164, 165 Chariklea 82–83 Christen 30, 161, 169 Churro, Victoriano 82 Coubertin, Pierre de 10, 172–176 Damonikos 133–134 Dampfbad 66–68 Deianeira 16 Delphi 20–21, 39, 50, 55, 57, 64, 77, 81, 92–93, 132–133, 144, 149, 150, 179 Demeter 9, 18 Diagoras 144–145, 153 Diaulos siehe auch Doppellauf 51, 177 Dion Chrysostomos 37, 152 Dionysios II. 139–140 Diskuswurf 35, 36, 86–89 Dolichos siehe auch Langstreckenlauf 78, 79, 177 Doppelaulos 124–125 Doppellauf siehe auch Diaulos 51, 57, 78, 81, 83, 112, 137
Dorieus 142–145 Dover, Robert 9, 170–171 Echohalle 124, 167 Ephedrismos 126 Epidauros 59, 77, 156 Epiktet 29, 33, 37, 59 Eubotas 49–50 Eurystheus 14–15 Eurytos 19–20 Faustkampf siehe auch Pentathlon 13, 60, 73, 95, 100–106, 131, 135, 145 Faustriemen 100 Flagge 73, 175 Fohlen-Rennen 114, 177 Frauensport 152–154 Fünfkampf 52, 84–99, 101, 129, 132, 155, 177 Galen 156–159 Geldstrafe 47, 146 Gewichtsklassen 48, 104 Glaukos 145 Goldenes Vlies 84–85 Gymnasion 62–66, 71, 73, 91, 167, 170 Halteres 93–94 heiliger Bezirk siehe auch Altis 16, 26, 29, 31, 32, 44, 49, 51, 125, 166 Heliodor 81–83 Hellenen 86, 92, 141 Hera 14–17, 23, 152, 162 Heraia 152 Herakles 13–23, 27, 31, 68, 75, 85, 108, 142 Heratempel 152, 165 Herodot 9, 44 Hippodameia 18–19 Hippodrom 110–123, 129, 167 Hippokrates 9, 148, 156–158, 180 Homer 22–25, 69–70, 86, 95–96, 100, 110, 158, 159–160 Iphitos 19–23, 140 Isthmische Spiele 39 Jugendliche 48, 85, 91, 114, 124, 177 Justinian 121–122 Kallipateira 153
Kallippos 132–134 Kladeos 13, 32, 161, 169 Koloss von Rhodos 163, 180 Konstantinopel 9, 120, 121 Korinth 18, 28, 37, 39, 46, 55, 64, 72, 93, 133, 135, 142, 144, 149, 150, 180 Kreta 12, 69, 178 Kreugas 134–135 Kronos 13, 15, 16, 17 Kronoshügel 16, 75, 140, 170 Kyklon 137–138 Langstreckenlauf siehe auch Dolichos 28, 52, 79, 83, 136, 173, 177 Leichenspiele 23–26 Leitergriff 108 Leonidaion 167 Leonidas von Rhodos 78, 83 Leontiskos 155 Lichas 131–132 Lukian 33, 64, 108 Marathon 40–43, 79, 154, 174, 179 Massaker von Verden 111 Maultiere 120–121, 177 Medizin 9, 148, 155–160, 180 Milon von Kroton 99, 142–144, 156, 173 Nero 9, 148–151 Odysseus 13, 22–24, 70, 95–96, 105, 160, 174 Oinomaos 18–19, 22, 140, 162 Olivenkranz 49, 57, 59, 83, 144 Olivenöl 52–53, 55, 61, 97, 99, 167 Olymp 12, 17 Olympick Games 9, 170–171 Olympische Spiele der Neuzeit 10, 40–43, 57, 78, 153, 169–176 Olympischer Friede 22, 28, 37, 41, 129 Olympischer Rat 128, 167 Olympisches Feuer 40–41, 167 Orakel von Delphi 20–22, 132–133 Orsippos von Megara 69 Palaistra 62–65, 68, 69, 96, 97, 102, 167 Palmzweig 47, 49, 55, 82–83 Pankration 54, 73, 81, 107–109, 124, 131, 146, 155, 157, 177
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Pausanias 43, 85, 112, 134, 142, 147, 152, 167 Peloponnesischer Krieg 91, 138, 145, 179 Pelops 17–19, 22, 23, 24, 162 Pentathlon siehe auch Fünfkampf 85, 132 Perser 24, 27, 40, 44, 48, 89, 148, 179 Pferderennen 37, 45, 52, 110–123, 129, 139, 172, 177 Phaullos 88, 92, 95 Phidias 162–163, 167, 168 Philippeion 166 Philostrat 73, 104, 107, 133, 157–158 Pindar 42, 57–59, 89, 115 Pisa 18, 20, 22, 37, 86, 140–143 Platon 9, 34, 71, 148, 153 Politik 11, 28, 118, 120–122, 136–138, 140, 144, 170, 175 Polydeukes 100–103 Poseidon 18, 101, 102, 108, 133 Preisgeld 9, 53–54, 85, 173 Puritaner 170–171 Pythagoras von Samos 105–106 Pythia 20–21, 132 Regeln 9, 97, 99, 103, 128–141, 143, 167, 169 Reisen 13, 27–30, 173 Rennwagen 112–118 Ringen 13, 42, 52, 54, 64, 72, 73, 84, 85, 93, 95–99, 107, 108, 129, 138, 142, 157, 158, 171, 177 Rom 21, 33, 55, 66, 120, 141, 148–150, 161, 164, 168, 170, 178 Römer 12, 21, 24, 26, 33, 45, 52, 66–67, 141, 148–151, 161, 164–168, 180 Sarapion 146 Schadenstafeln 122 Schatzhäuser 166 Schönheitsideal 35–36, 61, 70–71 Sieben Weltwunder der Antike 162, 164, 168, 179, 180 Siegespreis 47, 53, 57, 82, 146 Sokrates 9, 64, 69, 147, 179 Solon 45, 56, 64–65, 178
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Sonnenschutz 52, 61 Sostratos 146–147 Sparta 20, 22, 28, 34, 37, 48, 69, 85, 91, 93, 131, 135, 138, 144, 153, 179 Speerwerfen 89–92, 93, 158 Spiele in Nemea 39, 55, 64, 72, 93, 134, 144, 149, 150, 179 Spitzhacke 60–61 Stadionlauf 8, 50, 51, 69, 75–78, 79, 83, 177 Startanlage 112–115, 146 Startschwelle 7–10, 69, 76, 79 Steinwurf 126 Streitwagen 72, 114–115 Sulla 141 Syrakus 58, 136, 139–140 Tantalos 17–18, 33 Tarahumara 81–82 Tartaros 13, 17 Thales von Milet 30–31 Theagenes 54–55, 82–83, 131 Theben 28, 37, 131, 135, 166 Theodosius 12, 169 Theokrit 100–102 Thermen 66–67 Trainingslager 26, 46, 59–61, 62, 63 Tribüne 9, 11, 37, 39, 75, 77, 98, 127, 134, 141, 144, 167, 176 Tricks 17, 77, 96, 103, 128, 147 Troja 24, 33, 70, 71, 86, 96, 178 Uraniaspiel 126 Vierspänner 116, 119, 149, 177 Waffenlauf 77, 79–82, 83, 136, 141, 177 Wagenrennen 17–19, 22, 37, 42, 53, 72, 112–123, 129, 131, 149, 162, 166, 177 Wasserversorgung 31–34 Weitsprung 92–94 Wendemarke 78, 115, 117, 149 Wettkampf der Trompeter und Herolde 124–125, 149, 177 Zeustempel 10, 30, 161–168, 169, 179 Zielschwelle 9, 62, 78, 134 Zirkuspartei 120–122