Hans J. Alpers/Ronald M. Hahn
Raumschiff außer Kontrolle Erster Teil
Das Raumschiff der Kinder
ENSSLIN & LAIBLIN VER...
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Hans J. Alpers/Ronald M. Hahn
Raumschiff außer Kontrolle Erster Teil
Das Raumschiff der Kinder
ENSSLIN & LAIBLIN VERLAG REUTLINGEN
Titelfoto: Vincent DiFate, New York (Mit freundlicher Erlaubnis der Agentur Utoprop, Hamburg) Umschlaggestalltung: Studio Ariane
©Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1985. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Vertrags, der Rundfunk- und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Satz: ensslin-typodienst. Reproduktion: Grafische Kunstanstalt Willy Berger, Stgt.-Feuerbach. Gesamther stellung: Ebner Ulm. Printed in Germany. ISBN 3-7709-0593-8
Im Plastikwald Die Maus kroch schnuppernd aus ihrer Höhle. Harpo Trumpft hielt den Atem an. Seine Finger umklammerten den Griff des Keschers vor Aufregung so fest, daß die Haut an den Knöcheln ganz weiß wurde. Anca zuckte mit einer Schulter, weil dort der Pullover auf der Haut kratzte. Harpo strafte seine Schwester mit einem ärgerlichen Blick. Zum Glück hatte die Maus die Bewegung nicht bemerkt. Sie schob ihren mit grellrotem Fell bedeckten kleinen Körper beinahe sorglos vollständig aus dem Unterschlupf, wirbelte mit der witternden Nase etwas Staub auf und verschwand unter dem Blatt einer Plastikpflanze. Nur der Schwanz schaute noch hervor. Auf diesen Moment hatte Harpo gewartet. Vorsichtig balancierte er den Kescher, bis er genau über der Stelle schwebte, die von dem Mäuseschwanz markiert wurde. Er wollte den Kescher mit einer blitzschnellen Bewegung über das Tier stülpen - aber im gleichen Moment verlor er den Halt unter den Füßen. Mitten im sandigen Boden hatte sich ein Krater gebildet, in den der lockere Sand wie Wasser floß, den zappelnden Harpo mit sich reißend. Im ersten Moment konnte Anca überhaupt nicht begreifen, was dort vor ihren Augen geschah. Sie hatte erwartet, daß ihr Bruder mit einem Triumphschrei in den Kescher greifen und ihr stolz die gefangene Maus zeigen würde. Statt dessen tat sich der Boden auf und verschlang den Jungen. Die Maus flitzte wie ein geölter Blitz in das Dickicht der Plastikpflanzen. Wie hypnotisiert starrte Anca auf den Kescher, der am Rande des Sandtrichters lag. »Hilfe! Hilfe!« Harpos Rufe lösten die Erstarrung. Ängstlich beugte sich Anca über den Trichter und versuchte in die Tiefe zu spähen. Aber man sah nur ein dunkles Loch, das wie ein schräger und ziemlich steiler Tunnel unter das Gebüsch führte. Von den Rändern abbrechende Sandbrocken warnten das Mädchen 5
gerade noch rechtzeitig davor, einen weiteren Schritt zu tun. »Harpo!« rief Anca. »Ist dir etwas passiert? Harpo, antworte doch!« Aber der Junge hörte ihre dünne Stimme vermutlich gar nicht. Er schrie viel zu laut und ohne Pause. Einzelne Wörter wie: »Nein!« — »Holt mich raus!« — »Ich habe Angst!« konnte man gerade noch verstehen, aber das meiste ging in unartikuliertem Kreischen unter. »Harpo, beruhige dich doch! Ich hole Hilfe!« Anca war erst zwölf Jahre alt, und ihr Bruder war sechzehn. Seit dem Tod der Eltern - beide starben bei der Reaktor-Katastrophe von Sao Paulo vor sechs Jahren - waren die Kinder nur aufeinander angewiesen. Meist war Harpo der Beschützer der Schwester. Aber jetzt kam es allein auf sie an, das wußte Anca. Sie fühlte sich verzweifelt und hilflos. Tränenblind rannte sie den Pfad entlang, ohne überhaupt zu bemerken, daß ihr die Blätter und Ranken der künstlichen Pflanzen ins Gesicht peitschten. Während sie lief, formte sich undeutlich ein Bild in ihrem Innern. Sie sah das Tal der Wigwams mit den Freunden vor dem Feuer. Dorthin mußte sie laufen. Die Freunde würden Rat wissen. Aber der Weg war lang. Wenn nur Harpo inzwischen nichts geschah! Ihr einziger Trost war, daß es hier keine gefährlichen Tiere gab. Aber wußten sie das wirklich so genau? Sie prallte urplötzlich mit etwas zusammen, das eigentlich flauschig und weich war, bei diesem ungestümen Aufprall aber doch einen ziemlich harten Widerstand bot. Sowohl Anca als auch das Ding fielen ins Dickicht. Benommen richtete sich das Mädchen auf. Auf der anderen Seite des Weges kroch ein unglaublich dicker grüner Bär zwischen den Blättern hervor, das heißt, im ersten Moment hätte man ihn für einen Bären halten können. »Hoppla, kleines Fräulein«, brummte das Wesen und half ihr beim Aufstehen. »Du hast es aber eilig.« Der Bär war kein Bär. Schließlich haben lebendige Bären kein grünes Fell. Wenn man genau hinsah, erkannte man die Nahtstellen der Plüschhülle. Und aus den Bärenaugen blickte weder Sanftmut noch Wildheit, sondern das gleichmütige Leuchten einer elektronisch gesteuerten Sehzelle. Ein Roboter oder - wegen der grünen Verkleidung von den Kindern so genannt ein Grüner. Normalerweise hätte sich Anca an ihm vorbeigedrückt, denn wie alle im Tal der Wigwams war sie mißtrauisch gegen diese elektroni6
schen Aufpasser und Lehrer, die wie Plüschtiere aussahen. Aber schließlich ging es um etwas Wichtiges. »Schnell«, keuchte sie. »Mein Bruder ist in ein Sandloch gefallen und kann allein nicht wieder heraus.« »Sandloch?« wiederholte der Grüne. »Das werden wir gleich h aben. Zeig mir die Stelle.« Aufgeregt lief Anca dem Grünen voraus. Es fiel ihm schwer, dem Mädchen zu folgen. Er war um einen Kopf kleiner als Anca und hatte kürzere Beine. Als sie den Trichter erreichten, glaubte Anca für einen Moment, daß jemand dem Bruder etwas angetan hatte. Denn alles war ruhig. »Harpo!« rief sie, so laut es ging. Erleichtert hörte sie ein leises Wimmern als Antwort. »Es dauert nicht mehr lange«, versprach das Mädchen. »Ein Grüner ist hier und wird dir helfen.« Das war ihr so herausgerutscht. Als artiges Mädchen hätte sie »Lehrer« sagen müssen. Doch der Roboter zeigte keine Reaktion. »Ein stillgelegter Ventilationsschacht«, erklärte er, nachdem er die Ränder des Trichters untersucht hatte. »Der Sand muß sich im Laufe der Zeit über die Pflanzenblätter gelegt und den Eingang verdeckt haben.« Unter seinem linken Ohr machte sich ein hellgrünes Glimmen bemerkbar. Aha, dachte Anca, jetzt ruft er über Funk Unterstützung herbei. Die Kinder hatten gelernt, fast alle Verhaltensweisen der Grünen zu deuten. Einige Minuten später, während sie noch beruhigend in den Trichter hineinsprach, öffnete sich etwa hundert Meter entfernt eine Wand, die bisher fugenlos erschienen war, und spuckte vier weitere Grüne aus. Einer trug ein dünnes Drahtseil, ein anderer eine Handwinde. Ohne sich lange aufzuhalten, ließ sich einer der Roboter in den Trichter gleiten. Die anderen warfen das Seilende hinab, befestigten das Seil an der Winde und zogen wenig später den Grünen und Harpo unter den Büschen hervor. Erleichtert umarmte Anca ihren Bruder. Er wirkte etwas erschöpft, sonst aber ganz normal. Nichts erinnerte mehr an den kreischenden, jammernden Jungen in der Tiefe. Anca wußte aber, daß diese panische Angst kein Traum war. Sie erlebte es nicht zum ersten Mal. Harpo war krank wie so viele Kinder der Erde, die in ihrer Umwelt nicht glücklich sein konnten. Niemand durfte außerhalb der Städte spielen, und in den Städten war es höllisch eng. Im Grunde lebten sie in einem muffigen Gefängnis. Manche Kinder quälten 7
Alpträume. Auch Harpo. Er litt unter Fallangst und Schwindelgefühlen, aber am schlimmsten wurde es, wenn er sich im Dunkeln alleingelassen fühlte. Deshalb hatte man ihn auf dieses Raumschiff geschickt, und Anca, die gesund war, durfte mit. Einsichtige Ärzte hatten erkannt, daß die Geschwister zusammenbleiben wollten. »Findet ihr allein zurück, oder soll ich euch zu eurer Siedlung begleiten?« fragte der erste Grüne. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, antwortete Harpo hastig. »Und vielen Dank.« Es fiel ihm nicht leicht, dem Grünen zu danken. »Wir werden den Schacht so absichern, daß sich das nicht wiederholen kann«, versicherte der Grüne. Wie übergroße Teddybären watschelten die Roboter davon und verschwanden hinter jener verborgenen Tür in der Wand. »Am besten erzählen wir den anderen gar nichts davon«, meinte Harpo, dem seine Angst, wie die Hilfe der Grünen, unangenehm war und der nicht weiter darüber reden wollte. »Wenn du meinst«, sagte Anca. Eigentlich verstand sie nicht, wie man sich für eine Krankheit schämen konnte. Harpo wollte ihr gerade den Kescher abnehmen, als sie plötzlich eine blitzschnelle Bewegung damit ausführte. »Juchhu!« rief sie und hielt den zappelnden Fang in die Höhe. »Jetzt haben wir die Maus doch noch gefangen!« »Klasse!« Harpo freute sich. Ihm war entgangen, was Anca aus den Augenwinkeln erspäht hatte: daß die Maus neugierig ihr Versteck verlassen hatte. Furchtlos griff Harpo in den Kescher und zog das strampelnde Tierchen heraus. Er betrachtete es eine Weile und hielt es dann an sein Ohr. »Ach«, sagte er ganz enttäuscht. »Alles umsonst. Die Maus summt.« Er reichte Anca das Tier. Tatsächlich: Die Maus summte. Und wenn man genau hinsah, konnte man auch die winzigen Metallgelenke an den Beinchen erkennen. Achtlos setzte Anca den kleinen Roboter-Mechanismus auf den Boden. Wie eine echte Maus flitzte das künstliche Wesen in die Höhle zurück; schließlich besaß es ein kleines Computer-Gehirn, das ihm die Verhaltensweisen einer Maus aufprägte. »Schade«, meinte Harpo. »Jetzt habe ich keine Lust mehr, noch einmal auf Jagd zu gehen.« 8
»Aber Micel hat auf Deck 28 einen richtigen Frosch gesehen«, erinnerte Anca. Ob das nun Trotz war oder der Versuch, ihn zu trösten, wußte Harpo nicht so genau. »Micel Fopp ist ein Angeber«, gab er deshalb zurück. »Wenn ein Telepath die Gedanken anderer Kinder liest, dann gibt er deren Erlebnisse immer gleich als die eigenen aus. Micel war nie im Leben auf Deck 28. Also kann er dort auch keinen Frosch gesehen haben.« »Dann eben nicht. Aber einer auf dem Schiff hat einen lebendigen Frosch gesehen«, trumpfte Anca auf. »Hm«, machte Harpo. Er ärgerte sich, daß seine kleine Schwester recht hatte. »Wir wollen gehen«, lenkte er deshalb ab. »In zwei Stunden wird es dunkel.«
Die Schlange Harpo ging den Pfad entlang. Anca folgte ihm. Sie mußte laufen, um mit dem Bruder Schritt halten zu können. Das Mädchen glich Harpo äußerlich nicht sehr. Sie hatte schwarzes Haar, das glatt und voll ihr zierlich geschnittenes Gesicht umrahmte und so lang war, daß es fast bis an die Hüften reichte. Obwohl alles an Anca klein und niedlich wirkte, neigte sie doch ein wenig zur Rundlichkeit, was ihr den Spitznamen Pummelchen eingetragen hatte. »Ich habe Hunger«, beschwerte sie sich nach einer Weile. »Es ist nicht mehr weit«, antwortete Harpo. »Sicherlich wartet am Wigwam auf uns ein großer Topf Bohnensuppe.« Wenn man es genau nahm, dann war das mehr ein Wunschdenken. Harpo aß Bohnensuppe leidenschaftlich gern. Aber mit ihr war heute kaum zu rechnen, denn Karlie Müllerchen, der Riese, hatte Küchendienst. Und der aß für sein Leben gern Kartoffelpuffer. Brrr ... Der Pfad schlängelte sich wie eine dünne schwarze Linie durch das farbenfrohe Dickicht der Plastikpflanzen. Störende Blätter und Ranken bog Harpo mit dem dünnen Metallstab zur Seite, den er vor einigen Wochen gefunden hatte und seitdem immer bei sich trug. 9
So unübersichtlich der Dschungel auch wirkte: Weder Harpo noch Anca machten sich Sorgen, wie sie von hier in das Tal der Wigwams zurückfinden würden. Sie kannten sich auf diesem Deck aus wie ein Floh in der Westentasche. Als sie vor zwei Jahren auf das Schiff gekommen waren, hatten sie noch jede Einzelheit bestaunt: die violetten Rhabarberblätter, dick und groß wie Polsterkissen und genauso weich und elastisch; das hüfthohe Gras mit den gelben und blauen Halmen, die in jeweils einer Farbe ein Quadrat formten und zusammen eine Fläche bildeten, die aus der Ferne wie ein Schachbrett mit gelben und blauen Karos aussah. Es gab Bäume, Schlingpflanzen und viele Blumen, unterschiedlich in Form und Größe und bunt wie durcheinandergeworfene Farbnäpfe eines Malkastens. In dieser Deckzone hatten die Alten alles so farbenfroh wie nur möglich gestaltet. Selbst die Wände waren mit leuchtenden Farben bemalt. Dort a llerdings schimmerte an einigen Stellen rostiges Metall durch. Die Farbe war im Laufe der Zeit brüchig geworden und bröckelte ab. Die Plastikpflanzen wirkten hingegen frisch wie am ersten Tag. Es gab Bezirke auf diesem Deck Nummer 27, die anders aussahen. Etwa das Tal der Wigwams. Dort sah man nur grünblaues Plastikgras und einen strahlendgelben »Himmel« mit einer künstlichen Sonne, die am Ende des Tages erlosch. Manchmal machte es Harpo Spaß, sich zwischen diesen bunten Pflanzen zu bewegen. Aber es gab auch Tage, an denen er sie nicht ausstehen konnte und sich in Ecken zurückzog, wo es nichts gab als graue Felsbrocken. Alle Kinder waren sich darin einig, daß es ihnen auf dem Schiff besser gefiel als zwischen den grauen Betonklötzen der irdischen Städte oder dem kahlen Umland. Unvernünftige Fabrikbesitzer hatten so lange giftige Gase und Flüssigkeiten in Luft und Wasser geleitet, bis die Menschen krank wurden und fast alle Tiere und Pflanzen starben. Riesige Maschinen mußten fortan die Aufgaben übernehmen, die früher den Pflanzen zugefallen waren. Sie wandelten Kohlensäure in den lebensnotwendigen Sauerstoff um und fraßen dabei gewaltige Energiemengen in sich hinein. Doch so sehr sich die Wissenschaftler und Gärtner auch ab mühten: Die wenigen Tiere und Pflanzen, die die Umweltverschmutzung über10
lebt hatten, kümmerten in überdachten Schutzgebieten vor sich hin und wollten an der freien Luft nicht mehr gedeihen. Die meisten Kinder an Bord des Schiffs hatten noch niemals frische Pflanzen und lebendige Tiere gesehen und freuten sich über den Ersatz aus Kunststoff, den sie hier vorfanden. Nicht so Thunderclap Genius. Er dachte anders und hatte seine Freunde mit seinen Ideen angesteckt. Der blasse Junge, der sich nur in seinem automatischen Rollstuhl vorwärtsbewegen konnte, war einmal in einem Erholungsheim gewesen, zu dem ein Zoo mit richtigen Tieren und Pflanzen gehörte. Seitdem litt er unter einer unstillbaren Sehnsucht nach lebendigen Geschöpfen und verachtete den bunten Kunststoff, der nicht altern mußte. Er war vor Aufregung ganz und gar aus dem Häuschen geraten, als Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten Sinn, von dem richtigen Frosch erzählte, den er gesehen haben wollte. Nur mühsam hatten die anderen Kinder Thunderclap davon abhalten können, mit seinem Rollstuhl einen Weg nach Deck 28 zu suchen. Seltsam, daß sich auf dem Schiff lebendige Tiere aufhalten sollten. Wie waren sie hergekommen? Wovon ernährten sie sich? Diese Gedanken gingen Harpo Trumpff durch den Kopf. Er war damit so stark beschäftigt, daß er Sekunden brauchte, ehe er realisierte, daß Anca aufschrie. Harpo wirbelte herum und machte ein schreckliches Gesicht. Aber nur deshalb, weil ihn Pummelchens piepsende Stimme aus seinen Überlegungen gerissen hatte. »Das ist doch - das ist doch eine Schlange!« rief Anca und deutete auf eine Stelle im Plastikgebüsch. Im ersten Moment konnte Harpo überhaupt nichts erkennen. Aber dann bemerkte er zwischen zwei dicken Blättern ein kleines, hellbraunes Tier, nur halb so lang wie sein Unterarm. Durch Ancas lautes Rufen aufgescheucht, ringelte es sich gerade tief in das Dickicht hinein. »Nicht entkommen lassen!« schrie Harpo. »Es gibt keine Roboterschlangen an Bord. Die ist echt!« Er stürzte hinterher und brach ungestüm die Plastikblätter auseinander. Anca folgte ihm und durchsuchte ein verfilztes Gestrüpp. »Sie kann noch nicht weit sein«, versicherte sie eifrig und kroch selbst wie eine Schlange über den Sandboden.
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Der gelbe Sand und die bunten Gräser und Blätter halfen der Schlange, ein sicheres Versteck zu finden. Die Färbung ihres Körpers hob sich kaum von der Umgebung ab. Harpo klopfte mit seinem Metallstab gegen die Büsche und hoffte darauf, daß sich die Schlange weiterschlängeln und dadurch verraten würde. Aber das Manöver blieb erfolglos. Ärgerlich wollte er sich abwenden, als ihm Ancas Stimme erneut durch Mark und Bein fuhr. »Hier ist sie! Harpo, komm schnell, ich habe sie. Au!« »Was ist denn?« rief Harpo verdutzt und rannte zu Anca hin. »Ich glaube, sie hat mich gebissen«, sagte Anca mit zusammengepreßten Lippen, um aufkommende Tränen zu unterdrücken. Sie hielt ihren linken Fuß hoch. »Dort!« rief sie und zeigte auf ein Gebüsch. »Laß sie nicht entkommen. Wir wollen sie doch den anderen zeigen.« »Ach, das ist jetzt nicht mehr so wichtig«, meinte Harpo und kümmerte sich besorgt um das Mädchen. »Wir sind ganz schön leichtsinnig gewesen«, sagte er. »Hätte uns auch früher einfallen können, daß Schlangen kein Spielzeug sind.« Auf den ersten Blick konnte er an dem nackten Fuß - wie alle Kinder lief auch Anca stets barfuß - nichts Besonderes erkennen, aber dann entdeckte er eine winzige Bißwunde. Sekundenlang fühlte er sich hilflos. Wäre Thunderclap Genius mit seiner Begeisterung für Tiere und Pflanzen nicht gewesen, hätte er auch nach drei Stunden nicht gewußt, was zu tun war. So entsann er sich jedoch an einen der endlosen Vorträge des Jungen im Rollstuhl. »Manche Schlangen sind giftig«, hatte Thunderclap gesagt. »Man muß versuchen, das Gift auszusaugen, damit es nicht in den Blutkreislauf gerät. Und man darf, wenn man von einer giftigen Schlange gebissen wurde, nicht wegrennen, weil sich das Gift dann noch schneller im Körper verteilt.« Thunderclap war sicherlich noch weiter in Einzelheiten vorgedrungen, aber Harpo hatte nur diese Sätze im Gedächtnis behalten. Er mußte etwas tun, das war klar. Denn ein zweites Mal würden sie heute kaum das Glück haben, in einer Notlage auf einen Grünen oder gar einen Alten zu stoßen. Ja, die Alten in ihren weißen Kitteln, mit ihren Spritzen, Tabletten und Abhorchgeräten. Die hätten das Problem in Minutenschnelle aus der Welt geschafft. Doch die saßen in ihrer Zentrale, irgendwo im Schiff, weit weg vermutlich. 12
»Stillhalten!« befahl Harpo und beugte sich über das Bein seiner Schwester, die jammernd auf den Pfad zurückgekrochen war. Er preßte seinen Mund auf die Wunde und begann mit aller Kraft zu saugen. Eine salzige Flüssigkeit sammelte sich schnell in seiner Mundhöhle. Harpo spuckte sie aus. Dort wo er gesaugt hatte, war der Fuß ganz rot geworden, außerhalb dieser Zone hingegen weiß, weil hier das Blut fehlte. Noch einmal lutschte er an Ancas Wunde, bis er nicht mehr konnte. Leider hatte Thunderclap nicht erwähnt, wie lange man saugen mußte. Harpo versuchte zu verbergen, daß er Angst um Anca hatte. Sie mußten so schnell wie möglich zu den Freunden zurück. Und von dort zu den Grünen. Die würden auf jeden Fall helfen. Hoffentlich war kein Gift im Blut geblieben, hoffentlich wirkte es nicht tödlich, hoffentlich ... Harpos Gedanken b ewegten sich wie in einem rasenden Kreisel. »Kannst du gehen?« fragte er. »Komm, ich stütze dich.« »Laß nur«, antwortete Anca tapfer. Sie blickte Harpo mit großen, leuchtenden Augen vertrauensvoll an. Als sie zum ersten Mal auftrat, sah ihr Bruder jedoch sofort, daß sich ihr Gesicht schmerzlich verzog. »Leg deinen Arm um meine Schultern«, ordnete er an. »Wir h aben es nicht mehr weit.« Anca tat, was er verlangte. Humpelnd bewegte sie sich an seiner Seite. Sie kamen nur langsam voran. Harpo dachte nur daran, daß der Schwester nichts geschehen durfte. Flüchtig überlegte er, daß sie ein richtiges Tier an Bord des Raumschiffs gesehen hatten und daß nach diesem Biß überhaupt nicht mehr daran zu zweifeln war, daß die Gerüchte auf Tatsachen beruhten. Robottiere würden niemals b eißen. Aber er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich auf den vor ihnen liegenden Weg. Für alles andere war später noch Zeit.
Das Tal der Wigwams »Das ist doch ... das sind doch ... ei der Dauz ... wenn das nicht ... ich glaub', mich trifft der Psychoschlag ...«, quakte jemand, als Harpo und Anca den Dschungel verließen und in das Tal der Wigwams traten. 13
»Lonzo! Gott sei Dank!« rief Harpo. »Du mußt uns helfen! Anca ist von einer richtigen Schlange gebissen worden. Kannst du uns helfen? Oder m üssen wir zu den Grünen?« Im letzten Moment verkniff Harpo sich den Zusatz »Zu den anderen Grünen«. Das hörte Lonzo gar nicht gern, da er sich für einen Menschen hielt und sich auch so benahm. Es wäre unfair gewesen. Gewiß, Lonzo war ein Roboter wie die a nderen Grünen auch, aber er war auf der Seite der Kinder, während die anderen auf der Seite der Erwachsenen standen. Nachdem sie gemerkt hatten, daß ihr Kollege Lonzo die Plüschverkleidung abgelegt hatte und nicht länger ihren Befehlen gehorchte, wollten die Grünen ihn fortbringen. Aber die Kinder hatten ihren Freund versteckt. Niemand hatte das Recht, ihn fortzunehmen und gegen seinen Willen in einen verkleideten Teddybären zu verwandeln. »Schlangenbiß?« fragte Lonzo. »Potz Galaxis!« Er beugte sich über das Bein. »Nicht verzagen - Lonzo fragen!« »Kannst du uns helfen?« wiederholte Harpo seine Frage. »Mir sollen gleich die Ohren abfallen, wenn ich das nicht kann«, knurrte Lonzo. Zwar besaß er überhaupt keine sichtbaren Ohren an seinem glatten, kugelförmigen Körper, aber er meinte es ernst. Harpo sah, wie der kleine Roboter im unteren Bereich seines blitzblanken Körpers ein paar Instrumente ausfuhr und sich damit an Ancas Bein zu schaffen machte. Das Mädchen guckte ein bißchen bange, aber sie weinte nicht. »Wirst du mir auch nicht weh tun?« fragte sie nur ein wenig besorgt. Sie mochte Lonzo gern, aber das war nicht außergewöhnlich. Alle Kinder im Wigwamtal mochten ihn. »Aber nicht doch, mein kleines, dickes Pummelchen«, krächzte Lonzo beruhigend. »Wie könnte ich denn, wo ich dich so gern habe wie meine e igene Tochter?« »Du hast mich schon wieder Pummelchen genannt!« fuhr Anca wie von einer Hornisse gestochen zornig auf. »Du weißt doch, daß du mich nicht Pummelchen nennen ... Aaaauuuuh!« »Operation geglückt, Patient gerettet«, krähte Lonzo. »Macht drei Pfennig achtzig. Ich schicke die Rechnung.« 14
Seine Tentakelarme wirbelten so schnell durch die Luft, daß man sie einzeln gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Dann hielt er inne. Ancas Bein war bereits verbunden. »Blutanalyse: kein Gift. Wunde desinfiziert. Verband mit Heilkulturen angelegt«, schnarrte er herunter. Im nächsten Moment schlug Lonzo ein Rad mit seinen Tentake larmen. »Kein Arzt zur Stelle - ruft Lonzo, gelle?« blubberte es aus der Mitte des Metallknäuels. Der Roboter verschwand mit glucksenden Geräuschen zwischen den Dschungelpflanzen. »Ein verrückter Kerl«, sagte Harpo lachend. Er wußte, daß man sich auf Lonzo verlassen konnte. Lonzo hatte eigenartige Angewohnheiten entwikkelt und zweifellos einen Defekt in seinem positronischen Gehirn. Aber man konnte jederzeit auf ihn setzen, wenn Not am Mann war. »Hallo, meine Kleinen«, kam eine zaghafte Stimme aus einem Grasbüschel. »Trompo!« jauchzte Anca, noch bevor sie ihren kleinen Spielgefährten zwischen den blauen Halmen entdeckt hatte. Ihre Verletzung hatte sie im gleichen Moment vergessen. Sie kniete nieder und glättete mit den Händen die Halme am Rande des Weges. Ein seltsames kleines Wesen stolzierte mit hocherhobenem Rüssel auf das Mädchen zu und ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen. Trompo glich bis auf die langen, pelzbedeckten Schlappohren in beinahe allen Einzelheiten einem irdischen Elefanten - aber er war nicht größer als ein Kätzchen und genauso anschmiegsam. Trompo war ihnen allen ein Rätsel geblieben, obwohl er länger im Wigwamtal lebte als die Kinder. Er war kein Robottierchen und stammte auch nicht von der Erde. Vielleicht hatte ihn ein Raumfahrer vor langer Zeit von einem anderen Planeten mitgebracht und hier ausgesetzt oder vergessen. Jedenfalls konnte er sprechen. Die seltsamen Trompetentöne, die Trompo von sich gab, wenn eines der Kinder ein Lied anstimmte, hatten ihm zu seinem Namen verhelfen. Die Kinder kannten aus alten Filmen die riesigen Elefanten, die einst in Afrika und Indien gelebt hatten. Nun waren sie ausgestorben, und zwar, wie die Kinder gelernt hatten, bereits bevor das große Sterben der Pflanzen und anderen Tiere auf der Erde eingesetzt hatte. Elfenbeinjäger hatten sie wegen 15
ihrer Stoßzähne gnadenlos verfolgt, und Sonntagsjäger, die überall auf der Erde nach einem Nervenkitzel suchten, hatten sie abgeknallt. Auch Trompo besaß Stoßzähne, die aber so winzig wie alles a ndere an ihm waren. Er erzählte niemals, woher er kam und was er bei den Kindern suchte. Aber es schien ihm im Tal der Wigwams zu gefallen, denn er blieb. Er war ebenso intelligent wie die menschlichen Talbewohner, doch wie Lonzo hatte er größtenteils Unsinn im Kopf. Anca sah schon lange nicht mehr so blaß aus wie kurz nach dem Schlangenbiß. Sie humpelte zwar, mußte sich aber nicht mehr auf Harpo stützen. Mit Trompo auf dem Arm folgte sie dem Bruder, der zu den Zelten schlenderte und dabei seinen leeren Kescher um den Finger wirbelte. Das Tal bestand eigentlich nur aus einer Mulde mit Sand und blaugrünem Gras sowie einer Kunstsonne darüber. In der Mitte der Mulde standen drei Zelte aus künstlichem Leder. Sie waren nach Indianerart erbaut: kegelförmig, mit herausragenden Stangen und einem zum »Himmel« offenen Rauchfang. Hier lebten Harpo und seine Freunde. Vor dem größten Wigwam loderte ein Feuer, über dessen Flammen an einem Eisenhaken eine große Pfanne hing. Es machte eigentlich wenig aus, daß die Kinder inzwischen herausgefunden hatten, wie das Feuer entstand: durch mehrere Düsen im sandigen Boden, a us denen Gas drang. Natürlich hätte ihnen ein Holzfeuer - wie sie es aus den Indianergeschichten kannten mehr Spaß gemacht. Aber Holz gab es nicht auf dem Schiff, selbst auf der Erde kaum noch. Trotzdem war es schön, das Fe uer zu sehen und sich daran die Hände zu wärmen. Im Tal roch es nach ... »Kartoffelpuffer!« rief Harpo mit gespielter Verzweiflung. Er hatte es doch gleich geahnt. »Was dagegen?« begrüßte ihn Karlie Müllerchen, der fast zwei Meter zwanzig große, riesenwüchsige Junge mit kieksender Fistelstimme und dünnem Kinnbart. Die lebensfeindliche Umwelt der Erde hatte bei seinen Eltern genetische Schäden hervorgerufen. Wenn das jungenhafte Gesicht nicht gewesen wäre, hätte man ihn für einen Erwachsenen halten können. Aber Karlie war gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden. Verzückt leckte er sich jetzt die Lippen, als er die Produkte seiner Bratkunst in der Pfanne betrachtete und dann mit einer gewaltigen Gabel wendete. 16
Thunderclap Genius saß neben dem Feuer und sah beim Braten zu. Karlie und er waren gleichaltrig, boten aber wohl den denkbar größten Kontrast. Während Karlie wie eine Bohnenstange in die Höhe geschossen war, erkrankte Thunderclap als kleiner Junge an einer der neuen Krankheiten, die so schnell und zahlreich auftauchten, daß die Wissenschaftler machtlos dagegen waren. Thunderclaps Körper war klein wie der eines Siebenjährigen und bis auf die Arme und den Kopf beinahe bewegungsunfähig. »Wenn Karlie den Koch macht, gibt es aber auch ewig Kartoffelpuffer«, maulte Harpo. »Wenn gewisse andere Leute kochen, gibt es dagegen immer diese dünne Brühe, die uns als Bohnensuppe verkauft wird«, zahlte es ihm der Lange heim. »Ist doch sowieso egal«, meinte Thunderclap, »der Grundstoff ist in jedem Fall Synthofood und enthält die gleichen Nährwertstoffe.« »Aber auch synthetische Kartoffelpuffer schmecken eben wie Kartoffelpuffer«, beharrte Harpo trotzig. »Thunderclap!« platzte nun Anca heraus. »Stell dir nur vor: Mich hat eine richtige Schlange gebissen! Wahrscheinlich muß ich sogar sterben!« Im gleichen Moment versuchte sie ein bißchen zu weinen, was ihr aber nicht gelingen wollte, weil sie die Sache gar nicht mehr so ernst nahm, seitdem Lonzo ihr Bein verbunden hatte. Und die Schmerzen hatten auch nachgelassen. Außerdem war es schwierig, im gleichen Satz Triumph und Schmerz unterzubringen. Leider. Immerhin verfehlten Ancas Worte nicht die nötige Wirkung. »Was!« schrie Thunderclap Genius und richtete sich in seinem Rollstuhl auf. Seine Augen begannen zu glühen. »Das mit der Schlange ist wahr«, schwächte Harpo ab. »Aber von Sterben kann überhaupt nicht die Rede sein.« »Ich fühle mich aber schon ganz matt.« »Unsinn!« beharrte Harpo. »Lonzo hat sie versorgt. Es ist alles in Ordnung.« Dennoch sah man ihm an, daß ihn seine Schwester ganz schön erschreckt hatte. »Na ja«, schränkte Anca ein, »vielleicht überlebe ich es wirklich, aber dann nur um Haaresbreite.« 17
»Erzähl von der Schlange«, befahl Thunderclap aufgeregt. »Da seht ihr es: Es gibt doch richtige Tiere an Bord!« »Für mich ist das nichts Neues«, meinte Micel Fopp, der gerade aus dem Wigwam getreten war und der Unterhaltung unbewegt zuhörte. Er tat gelangweilt, aber man sah ihm an der Spitze seiner kleinen, krummen Nase an, daß er nur schauspielerte. Immerhin hatte er gegenüber den anderen Kindern den Vorteil, daß er nicht darauf warten mußte, bis Anca ihre Geschichte erzählte. Er konnte nämlich Gedanken lesen. Talente wie seines waren ebenfalls Produkte der irdischen Lebensbedingungen, verursacht wahrscheinlich durch die radioaktive Strahlung der zu Versuchszwecken gezündeten Atombomben und die zahlreichen Schäden an Atomkraftwerken. Man wußte nicht genau, ob Gedankenlesen Segen oder Fluch war, aber auf jeden Fall litten Telepathen — wie man diese Menschen nennt — besonders unter einer unfreundlichen Umgebung. Deshalb war Micel an Bord des Schiffes. Doch es gab noch einen zweiten Grund, der ebenfalls auf radioaktive Strahlung zurückzuführen war: Seine Arme hingen kraftlos und verkrüppelt an seinem Körper, kaum halb so groß wie bei anderen Kindern. »Sie hat übrigens recht: Es war eine Schlange«, fügte Micel hinzu, ließ seine braunen Augen unter dem struppigen schwarzen Haar pfiffig aufblitzen und setzte sich an das Feuer. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß er die Szene in Ancas Gedächtnis »nachgelesen« und nun selbst einen Eindruck von der Schlange gewonnen hatte. Sollte er auch von Harpos Abenteuer im Ventilationsschacht erfahren haben, so schwieg er jedenfalls darüber. »Anc-cc-ca soll erz-z-zählen«, stotterte Brim Boriam. Er war hinter Micel aus dem Zelt gekommen, ein vierzehnjähriger Junge wie Micel, aber schwarzhäutig, mit weißen Zähnen und krausen Haaren, die eigentlich gar nicht so lang waren, den Kopf aber wie ein Helm umschlossen. Er hatte eine lustige, dicke Nase und ein breites, freundliches Grinsen wenn man ihn mal zum Lachen bringen konnte. Niemand machte sich über sein Stottern lustig. Sie hatten sich alle längst daran gewöhnt, daß Brim stotterte, wenn er aufgeregt war. Und je weniger die Kinder auf seinen Sprachfehler achteten, desto sicherer wurde Brim. Denn eigentlich war es vor allem Angst vor seiner Umgebung, die ihn stottern ließ. Und natürlich - das war die Meinung aller Kinder im 18
Wigwamtal war es sowieso beknackt, über Stotterer zu lachen. Niemand ist vollkommen - die Lacher am allerwenigsten.
Einer fehlt Jetzt hatten sich alle Kinder um das Feuer versammelt und lauschten aufgeregt Ancas Erzählung. Sie schmückte sie aus und würzte sie mit ruhmreichen Einzelheiten. Brim Boriam und Karlie Müllerchen, Thunderclap Genius, Fidel Flottbek und Fantasia Einstein, selbst Trompo und Lonzo hörten aufmerksam zu. Nur Lucky Cicero lächelte wie immer glücklich vor sich hin und verstand nicht, worum es ging. Über ihren Gefährten Lucky wußten die Kinder kaum mehr, als daß er ungefähr zehn Jahre alt und ein Mongoloide war. Das war die Schwierigkeit: Man kam an ihn einfach nicht heran, konnte sich kaum mit ihm unterhalten und ihm höchstens ein freundliches Lächeln schenken. Lucky war ein hübscher Junge mit großen, tiefschwarzen Augen und dichten braunen Locken. Er hatte ein glattes, zierlich geschnittenes G esicht, doch was sich hinter seiner Stirn abspielte, konnte selbst Micel nur selten erfahren. Lucky war gehirnkrank. Aber alle liebten ihn, denn er war der Freundlichste und Sanftmütigste unter ihnen. Harpo und Micel sahen sich während Ancas Bericht vielsagend an, schwiegen aber, wenn das Mädchen besonders dick auftrug. Aus der fünfzehn Zentimeter langen Schlange war im Laufe der Erzählung eine sehr dicke und lange Boa constrictor geworden, die von dem Mädchen nach heldenhaftem Kampf in die Flucht geschlagen worden war. »Oh, Pummelchen«, kommentierte Lonzo knarrend, wackelte mit dem stählernen Kopf, der wie ein poliertes Ei aussah, und fuhr zum Spaß am obersten Punkt eine Antenne mehrmals aus und wieder ein. »Du bist ein weiblicher Tarzan. Ich hätte das niemals in dir verm utet, mein kleines Schmusekätzchen.« »Du glaubst mir nicht?« protestierte Anca zornig. »Und außerdem sollst du mich nicht immer Pummelchen nennen!« »Aber natürlich glaube ich dir, Pum ... äh, mein Schätzchen«, versicherte Lonzo eilig und tat zerknirscht. »Ich will sofort meinen Kopf aufessen, wenn das nicht wahr ist.« 19
»Nein, nicht Kopf aufessen«, weinte Lucky. Diesen Satz hatte er verstanden. »Er tut es ja gar nicht, Lucky«, versicherte Fantasia. »Lonzo hat ja gar ke inen Mund. Er macht doch nur Spaß.« Lucky verstand »Spaß« und freute sich. »Das ist lustig.« Auch Fantasia freute sich. Über das schmale, weiße Gesicht des Mädchens glitt ein Lächeln. Es war ihr wieder einmal gelungen, Luckys Ängste zu verscheuchen. »Die Kartoffelpuffer sind jetzt fertig«, meldete Karlie, der nur auf das Stichwort »Essen« gewartet hatte. Er schlug energisch gegen einen großen Gong neben der Feuerstelle. »Seltsam«, sagte er dann. »Sonst ist Ollie beim Essen doch stets der erste.« »Oliver! Oliver! Oooollliiie!« riefen die Kinder, so laut sie konnten, aber niemand antwortete ihnen. »Vielleicht hat er ein Gelübde abgelegt, niemals mehr zu essen?« vermutete Micel. »Und er versteckt sich, damit es ihm nicht so schwerfällt.« »Ach wo«, antwortete Karlie. »Solch ein Gelübde würde der niemals ablegen.« »Bin ich mir nicht so sicher. Denkst du nicht mehr an das Gelübde, zehn Jahre lang zu schweigen?« »Er hat es nur zehn Minuten ausgehalten«, entgegnete Karlie grinsend auf diese Bemerkung von Fidel. »Aber wir sollten jetzt wirklich mit dem Essen beginnen. Wir lassen für Ollie eine reichliche Portion übrig.« »Na?« zweifelte Harpo, der den guten Appetit des Riesen kannte. Kein Wunder, Karlie Müllerchen brauchte eine Menge Kalorien bei seiner Größe. »Bei meiner Ehre als Küchenchef«, schwor Karlie, teilte die ersten Portionen aus und machte sich dann selbst schmatzend über einen Stapel Puffer her. Selbst Harpo langte tüchtig zu und vergaß seine geschätzte Bohnensuppe. Der lange Marsch durch den Plastikdschungel hatte ihn doch hungrig gemacht. Und wenn man richtigen Hunger hat, schmeckt eigentlich alles. »Wir suchen gleich nach dem Essen weitere Tiere«, schlug Micel Fopp vor, der von Fantasia gefüttert wurde, weil er mit seinen kleinen, kraftlosen Händchen die Gabel nicht halten konnte. Da Fantasia gleichzeitig auch ein Auge darauf hatte, daß Lucky zu seinem Recht kam, mußten die Freunde sie 20
gelegentlich daran erinnern, auch selbst etwas zu essen. An der fehlenden Nahrung lag es allerdings nicht, daß die Rothaarige so dünn war. Und ihre Fürsorge ließ sie sich von keinem abnehmen. »Es wird bereits dunkel«, erinnerte sie. »Dann eben morgen früh.« »Aber nur, wenn die Aufgaben gemacht sind«, entgegnete das Mädchen mit den Sommersprossen und den schmalen Lippen. »Morgen nachmittag kommen die Grünen, das wißt ihr ja. Wenn wir die Aufgaben nicht gelöst haben, wird es Ärger geben. Vielleicht reißen sie uns sogar auseinander.« Fantasia hatte nicht übertrieben. Die Grünen kamen zweimal in der Woche, holten die Rechenaufgaben und Bastelarbeiten ab, unterrichteten die Kinder und stellten ihnen neue Aufgaben. Man vermutete, daß die Grünen mit den Lösungen zu den Alten gingen. Und wenn die nicht zufrieden waren, konnte die Weisung kommen, die Gruppe aufzulösen. Das war anderen Kindergruppen auf anderen Decks bereits passiert, wie Micel in Erfahrung gebracht hatte. »Wir machen morgen früh erst einmal die restlichen Aufgaben«, entschied Thunderclap. Alle waren seiner Meinung, denn schließlich liefen ihnen die Tiere ja nicht weg. Daß sie beieinander blieben, war viel wichtiger. Übermorgen war schließlich auch noch ein Tag. »Anca und Harpo wissen noch gar nicht, was Brim gesehen hat«, stieß Fidel plötzlich hervor. Seine Augen leuchteten begeistert wie selten. Er hatte lange Zeit Schwierigkeiten gehabt, mit anderen Kindern Freundschaft zu schließen, weil er überall Feinde sah, die ihm an den Kragen wollten. »Ja, Brim soll noch einmal erzählen«, stimmten die anderen zu. Die Kunstsonne war bereits merklich dunkler geworden, und in zehn Minuten würde sich die Nacht über das Tal der Wigwams und die Dschungellandschaft von Deck 27 senken. Aber das machte nichts. Es war schön, im Schein des Feuers zu hocken und Geschichten zu erzählen. Brim war nervös geworden, weil sich die Aufmerksamkeit aller nun ihm zuwendete, aber nach den ersten Sätzen wurde er ruhiger, »l-i-i-ch hab' die St-st-station der Gr-grü-grünen beobachtet«, sagte er. »Ihr wißt schschschon, am Antigravlift. Plötzlich kamen zwei Alte aus dem Lift und ginginggingen zur Station. Sie wirkten ziemlich nervös. Der eine schwitzte so, daß er dauernd mit einem Tuch über das Gesicht fahren mußte.« 21
»Vergiß nicht den anderen«, unterbrach Fidel. »Das war Doktor Einbein«, fuhr Brim fort. Ja, den kannten alle in der Runde: den kleinen Arzt mit der Beinprothese, der jedes Kind bei seinem Eintreffen auf dem Schiff untersucht hatte. Im Gegensatz zu den kühlen Blicken der anderen Ärzte und Wissenschaftler lag auf seinem Gesicht meistens ein Lächeln, wenn er mit den Kindern sprach. »Ja, ja«, erzählte Brim weiter. »Die beiden wurden von einem Grünen bis ganz in die Nähe meines Verstecks geführt. Ich sah erst jetzt, d-d-d-daß d-dd-dort ein weiterer Grüner im Gras lag. Er bewegte sich nicht. Der schwitzende Alte öffnete seinen Rumpf, probierte eine ganze Zeitlang daran herum und setzte mehrere Teile neu ein, bis sich der Grüne endlich wieder bewegte. Eigenartig war aber der Satz, den der schwitzende Mann zu Doktor Einbein sagte, als die beiden gingen: 'Das war erst der Anfang. Wir werden noch unser blaues Wunder erleben!'« »Doll!« kommentierte Harpo. Das war wirklich eigenartig. Es waren schon früher gelegentlich Grüne repariert worden, aber niemals in Sichtweite der Kinder. Man brachte die Grünen dann an irgendeinen unbekannten Ort im Schiff, und später kamen sie zurück und waren wieder ganz in Ordnung. Und dann diese Bemerkung ... Karlie Müllerchen schielte nach den kalten Kartoffelpuffern, die für den kleinen Oliver gedacht waren und leckte sich verstohlen die Lippen. »Mein Gott«, sagte er plötzlich. »Ollie ist immer noch nicht zurück. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen.« Auch die anderen hatten ein ungutes Gefühl. So lange fortzubleiben, das war auch für Oliver ein ungewöhnliches Verhalten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in der Gruppe, daß die Nacht im Tal der Wigwams verbracht wurde. Ob sich Ollie verlaufen hatte? Schwer vorstellbar, denn obwohl er mit elf Jahren einer der Jüngsten war, kannte er sich doch auf dem Deck aus wie in der eigenen Hosentasche. »Dem heizen wir aber ein, wenn er wieder auftaucht«, verkündete Karlie. Eigentlich sagte er es nur, um die plötzlich gedrückte Stimmung aufzulokkern. Und die restlichen Puffer ließ er auch liegen. Im Moment konnten sie nichts anderes tun, als schlafen zu gehen. Am Morgen würden sie den kleinen Oliver suchen. 22
Ein ungewöhnlicher Zwischenfall An diesem Morgen regte sich im Tal der Wigwams das Leben zeitiger als gewöhnlich. Karlie kletterte als erster schlaftrunken zum Vorratsbunker. Wenig später duftete es nach heißem Kakao und knusprigen Brötchen. Synthofood natürlich, aber es schmeckte. Noch bevor die Kunstsonne den vollen morgendlichen Leuchtwert erreichte, saßen sie alle beim Frühstück. Die Kinder verhielten sich ungewöhnlich still. Oliver blieb verschwunden. Niemand konnte sich erklären, wo er steckte. »Vielleicht ist er ausgerückt, weil er Schlangenbisse für ansteckend hält«, witzelte Micel und spielte damit auf Ollies eingebildete Krankheiten an. Es gab wenig auf der Welt, gegen das der kleine Oliver nicht allergisch zu sein vorgab. Wenn jemand krank wurde oder auch nur Bauchweh hatte, glaubte der winzige Krauskopf in der nach Indianerart fransenverzierten Lederhose im nächsten Moment an sich selbst bereits die gleichen Symptome wahrzunehmen. Obwohl Micel ein Gedankenleser war, konnte er der Gruppe nicht helfen. Seine Talente waren noch nicht so weit entwickelt, daß er in der Lage war, gezielt nach den Gedanken eines bestimmten Menschen zu suchen. Es gelang ihm zwar meistens, die Gedanken der Leute in seiner Nähe zu empfangen, und manchmal fing er auch Eindrücke auf, die aus der Ferne kamen. Aber das war auch alles. Die Gruppe hatte beschlossen, nach dem verschwundenen Freund zu suchen. Auch wenn die Aufgaben liegenbleiben mußten. Sie würden es den Grünen schon erklären. Was mochte nur geschehen sein? Unbekannte Gefahren gab es doch eigentlich nicht. Zumindest hätte jedes der Kinder noch vor ein paar Tagen so geredet. Jetzt waren sie alle nicht mehr ganz so sicher. Es gab Schlangen und Frösche auf dem Schiff. Auch größere Tiere? Auf der Erde hatte es große Raubtiere gegeben ... Wenn dem Jungen nichts zugestoßen war, blieb eigentlich nur noch die Erklärung, daß er, von einem plötzlichen Entdecke rdrang befallen, in eines 23
der anderen Decks hinab- oder hinaufgestiegen war und sich dort verirrt hatte. Ober gab es noch eine andere Möglichkeit? Wenn es nur nicht so schwierig gewesen wäre, sich mit Lucky Cicero zu unterhalten. Wann immer der Name Oliver fiel, horchte er auf und murmelte das Wort »Grüne«. Aber er war nicht in der Lage, sich näher zu erklären. Thunderclap und Lucky blieben bei den Wigwams zurück. Die anderen Kinder streiften in Zweiergruppen durch das Deck. Auch Lonzo ließ es sich nicht nehmen, mit den Freunden zu suchen. Trompo wollte gerne mit, aber er konnte den anderen nur mühsam folgen. Da Lucky unbedingt mit ihm spielen wollte, löste sich das Problem von selbst. Anca und Harpo zogen gemeinsam los, um nach dem so rätselhaft verschwundenen Jungen zu suchen. Lonzo hatte vorher Ancas Wunde neu verbunden. Die Stelle heilte bereits, und Anca fühlte sich wieder quietschfidel. Sie verfolgte sogar den gackernden Lonzo ein Stückchen, weil er sie in den Po gekniffen hatte. Und da jetzt ein anderes Problem die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft in Anspruch nahm, strengte sie sich auch nicht besonders an, durch Humpeln und Stöhnen Eindruck zu schinden. Insgeheim war sie allerdings der Meinung, daß man ihren Schlangenbiß entschieden zuwenig beachtet hatte. Aber was sollte man machen? Wochenlang geschah auf Deck 27 gar nichts, und dann jagte eine Sensation die andere. Thunderclap hatte von irgendwoher eine Karte ihres Decks hervorgezaubert und jeder Gruppe einen Suchbezirk zugeteilt. Er war der geborene O rganisator, das mußten alle neidlos zugeben. Es machte den Geschwistern nichts aus, daß sie eines der langweiligsten Gebiete zugewiesen bekamen. Schließlich wollten sie keine Entdeckungsreise unternehmen. Noch nicht. Die Expedition in andere Decks stand für die nächsten Tage auf dem Programm, falls man Ollie bis dahin nicht gefunden hatte. Die Südzone war das Revier der beiden. Hier gab es mehrere Kilometer lang nur Sand und Felsbrocken, und ganz am Ende, an der Wand des Schiffes, so etwas wie eine Oase mit Plastikpalmen und einem idyllischen See. Das Gelände war schwierig. Immer wieder sanken ihre Füße tief in den ge lben Sand ein. Die Dünen und Felsen erschwerten den Überblick. Sie durch24
streiften das Terrain mehrmals, bis sie sicher waren, daß ihr Freund dort bestimmt nicht steckte. Sie wurden müde, die Füße taten weh. Nicht zum erstenmal wunderte sich Harpo, daß die Decks so riesig waren. Das Schiff hatte einige hundert dieser Decks. Und gemessen an den gewaltigen Dimensionen des Schiffes lebten nur verschwindend wenige Kinder hier - zumindest wenn man davon ausging, daß auf jedem Deck nur eine Gruppe existierte. Ob es stim mte, daß man von Anfang an beabsichtigt hatte, das Schiff für die Gesundung verhaltensgestörter Kinder einzusetzen? Harpos und Ancas Großeltern - bei denen sie seit dem Tod ihrer Eltern gelebt hatten - wohnten auf der Erde in einer winzigen Wohnung mitten in einem Block, in dem es Tausende solcher Wohnungen in endlosen Korridoren aneinandergereiht gab. Wenn sie aus dem Fenster sahen, guckten sie auf einen anderen Block und rechts und links auf weitere. Für sie war es unglaublich, daß zehn Kinder ein ganzes Schiffsdeck für sich allein hatten. Aber auch hier sollte es bald anders aussehen. Die Beamten der Psychologischen Abteilung hatten den Großeltern alles erklärt, und einiges davon war in Harpos Gedächtnis haften geblieben: Sie bildeten die Vorhut für viele hunderttausend Kinder, die später einmal in Gruppen auf dem Schiff leben sollten. Dann würde es hier so eng werden wie auf der Erde. Vorausgesetzt natürlich, das Experiment glückte. »Es hat keinen Zweck«, sagte Harpo schließlich. »Sicher haben die anderen ihn längst gefunden«, stimmte Anca zu. Sie waren hundemüde und hatten keine Lust mehr. Aber sie hätten weitergesucht, wenn ihnen nur noch ein Winkel eingefallen wäre, den sie vergessen haben konnten. Ermattet traten sie den Rückweg an. »Sieh mal«, meinte Anca plötzlich, als sie ihr Suchgebiet verließen und dabei erneut in die Nähe einer Metallwand des Raumschiffs kamen. »Na und?« fragte Harpo, als er die Stelle in Augenschein genommen hatte, auf die Anca deutete. »Eine Tür, schon ziemlich verrostet. Müßte mal wieder gestrichen werden.« Es gab so viele solcher Türen auf dem Deck. Ihr Zweck blieb weitgehend unbekannt, und auf jeden Fall waren sie alle fest verschlossen. Moment mal, diese Tür ... »Sie steht vor«, sagte Anca aufgeregt. 25
Neugierig näherten sich die beiden. Ja, wirklich, die Tür war nur angelehnt. Harpo vergrößerte den schon bestehenden Spalt und lugte in den Raum, der hinter der Tür lag. »Oh!« entfuhr es ihm. »Das müssen wir uns ansehen.« Er nahm Anca bei der Hand und zog sie hinter sich hinein. Die Tür schloß er wieder bis auf den Spalt, der vorher ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Er achtete darauf, daß sie nicht ins Schloß fiel und ihnen den Rückweg versperrte. Sie befanden sich in einem kleinen, engen Gang. Auf dem Metallboden lag ein Läufer aus Kunstfasern. Von den Wänden herab leuchteten mattgelbe Lampen. »Weiter«, flüsterte Harpo. Was ihn interessierte, lag am Ende des Ganges: ein größerer Raum und dahinter noch ein weiterer. Atemlos traten die Kinder ein. Auch hier tauchten Wandlampen das Innere in ein sanftes, angenehmes Licht. Der Boden bestand aus einem weichen, schwammigen Kunststoff, in dem man beim Gehen einige Millimeter versank. Eine Wand war mit dicht gefüllten Bücherregalen bedeckt, eine andere mit schrankähnlichen Fächern und Türen davor. In der Mitte des Raumes lagen einige Sitzpolster, auf denen man es sich gemütlich machen konnte. Über der Eingangstür stand in einer Konsole ein Bildschirm. Im Nachbarraum sah man verschiedene Küchengeräte. »Laß uns lieber schnell verschwinden«, flüsterte Anca. »Diese Räume werden bestimmt von den Alten benutzt.« Die Schwester hatte recht. Und die Alten würden ihre Neugier bestrafen, wenn sie die Kinder entdeckten. »Einen Moment noch«, bat Harpo. Er spähte in den nächsten Raum, in der Hoffnung, dort vielleicht den kleinen Oliver zu finden. Doch er sah nur schmutziges Eßgeschirr. Überhaupt wirkte es unaufgeräumt. »Sieh doch«, rief Anca leise, »ein Kleid!« Sie hielt ein gelbes Kleid mit weißen Rüschen in der Hand. Der Größe nach zu urteilen, mußte es einer Alten gehören. »Es lag hinter den Polstern«, erklärte das Mädchen. »Und in einem der Schrankfächer ist Unterwäsche.« 26
Dann hörten sie Schritte und ein Rascheln. Es kam von jenseits der Küche, wo Harpo eine weitere Tür entdeckt hatte. »Nichts wie weg«, raunte Harpo. Die beiden rannten zur Tür, schlüpften ins Freie, stießen die Tür wieder zu und hasteten ins nahe Dickicht. Atemlos beobachteten sie die Tür. Eine Weile verging, ohne daß sich etwas rührte. Harpo und Anca wollten sich schon aus dem Staub machen, als sich die Tür schließlich doch noch bewegte. Für ein oder zwei Sekunden erschien dort ein Gesicht und blickte nach draußen. Dann wurde die Tür ins Schloß gezogen. Viel hatte man nicht erkennen können, aber Harpo prägten sich ein paar seltsam erschreckte Augen im Gesicht einer jungen Frau mit blonden Haaren ein. Es fiel den Geschwistern schwer, sich einen Reim auf dieses Erlebnis zu machen, sooft sie auf dem Rückweg auch über jede Einzelheit sprachen. Die anderen Kinder waren ebenfalls erstaunt und ratlos, als sie davon hörten. Aber viel mehr im Vordergrund stand, daß sie den kleinen Oliver nirgends gefunden hatten. Die anderen Gruppen waren bereits früher zurückgekehrt. Alle guckten enttäuscht, als Harpo und Anca allein in das Tal kamen. Ollie blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Ollie kehrt zurück Dafür gab es eine andere erregende Neuigkeit! Fantasia und Micel hatten einen weiteren Grünen gefunden, der sich nicht mehr bewegte. Das helle Funkeln in seinen Sehlinsen war erloschen. Das bedeutete, daß er tot oder außer Betrieb war, wie immer man das nennen wollte. Seltsam war nur, daß die anderen Grünen ihn nicht abgeholt hatten! Die große Uhr über dem Vorratsbunker zeigte auf zwei. Thunderclap hatte Karlies Küchendienst übernommen und ein Reisgericht mit viel Rindfleisch gekocht. Einige der anderen Kinder hatten bereits gegessen, aber es war noch mehr als genug für die Nachzügler da. Für die Aufgaben war es jetzt zu spät. Die Grünen würden exakt um vier Uhr eintreffen. In den verbleibenden zwei Stunden konnten sie die Arbeiten 27
nicht schaffen. Sie beratschlagten, wie man den Grünen das seltsame Verschwinden des kleinen Oliver beibringen sollte. »Sie hetzen uns die Alten auf den Hals«, prophezeite Fidel. »Na und?« meinte Fantasia trotzig. »Wenn die Alten uns helfen können? Willst du vielleicht, daß Ollie verschwunden bleibt?« Fidel sah stur zu Boden und schwieg. Sie alle wußten, daß er die Erwachsenen haßte. »Der Streit ist sinnlos«, griff Thunderclap schlichtend ein. »Die Grünen wären nicht die Grünen, wenn sie nicht auf den ersten Blick bemerkten, daß jemand fehlt. Was soll's also?« »Grüne?« sprach Lucky dazwischen. Er nickte und fügte hinzu: »Ollie! Ja.« Ein nachdenklicher Zug lief über das Gesicht von Micel Fopp. Er verharrte einige Sekunden regungslos, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es nur so klatschte. »Oh, Mann!« stöhnte er. »Daß ich nicht gleich auf die Idee gekommen bin. Ich bin doch wirklich ein Schussel.« »Ich will sofort meinen Kopf aufessen, wenn das nicht wahr ist«, gab Lonzo ihm recht. »Du bist ein elender Klaubruder«, knurrte Micel ihn an. »Diesen Spruch hast du dir gar nicht selbst ausgedacht, sondern bei Charles Dickens aufgepickt.« »Heute so und morgen gestern«, philosophierte Lonzo. Aber er machte einen ertappten Eindruck. »Www-wolltest du uns nicht etw-w-was Wichtiges mitteilen?« erinnerte Brim Boriam. Seine großen Augen funkelten neugierig aus dem schwarzen Gesicht. »Ich habe Luckys Gedanken gelesen«, verkündete Micel mit wichtigtuerischer Stimme. »Und wißt ihr, was ich dabei herausgefunden habe?« »Ja.« Lucky nickte. Entweder hatte er verstanden oder n ur seinen Namen gehört. Jedenfalls strahlte er. »Die Grünen haben Oliver abgeholt«, fuhr Micel lakonisch fort. »Eine Abordnung von vier Grünen war es. Sie sagten, sie müßten ihn zu den Erwachsenen bringen, um einige Tests mit ihm durchzuführen.« »Diese verfluchten Alten!« schimpfte Fidel. 28
»Ach geh«, meinte Harpo. »Es ist doch nicht alles schlecht, was sie tun.« Aber insgeheim fürchtete er wie die anderen, daß es nur einen Grund für das überraschende Eingreifen der Grünen geben konnte: Ollie sollte aus der Gruppe entfernt werden. Wahrscheinlich würden sie ihn niemals wiedersehen. Trompo raste wie ein Wiesel über Ancas im Sand ausgestreckten Körper. Anca mußte lachen, weil die winzigen Füßchen des Wesens sie kitzelten. Sie blickte zu der Uhr über dem Vorratsbunker hinüber. »He!« entfuhr es ihr. »Seht doch mal. Es ist zwanzig nach vier, aber die Grünen sind noch nicht aufgetaucht!« Alle schauten hin. Tatsächlich! Das war außergewöhnlich, denn die Grünen hatten sich bisher niemals verspätet. Was mochte sie aufgehalten haben? Im gleichen Moment tauchte eine kleine Gestalt am Eingang der Talmulde auf. Ein Grüner? Im ersten Augenblick konnten sie es nicht erke nnen. »Ollie!« jubelte Fantasia und eilte dem Jungen mit wehendem Haar entgegen. Die anderen folgten ihr lärmend. Kein Zweifel: Es war Oliver. Bege istert schlugen sie dem Kleinen auf die Schultern. »Mann, hab' ich 'n Durst!« krähte der kleine Oliver. »Ich könnt' 'n ganzes Pferd aufessen, so müde bin ich!« Er rang nach Luft. »Hoffentlich hab' ich mir bei dem Marsch nicht wieder jede Menge Krankheiten aufgehalst. Ich fühle mich schon ganz mies.« Bevor er Gelegenheit hatte, weiter von seinen Beschwerden zu berichten, drückten ihn die einen ins Gras, während die anderen die Reste von Thunderclaps famoser Mahlzeit zusammenkratzten. Es war schon kalt, aber für ausgehungerte Wanderer wie den kleinen Oliver war das kein Hindernis, mit Appetit zu essen. »Wo warst du denn?« überfielen ihn die Freunde. »Wir haben auf dem ganzen Deck nach dir gesucht!« »Haben dich die Grünen zu den Alten gebracht?« »Du sollst nicht so schlingen. Das ist ungesund!« »Wie sieht es in der Zentrale aus?« »Was macht der Chefpü-püsch-püschologe?« Ollie genoß die Aufmerksamkeit, die ihm sonst nur selten zuteil wurde. Als Jüngster in der Gruppe wurde er eigentlich mehr als dankbares Publi29
kum für die Angebereien der Älteren angesehen. Er murmelte undeutlich mit vollem Mund. »Waaaas?« erkundigten sich die Zuhörer. Trompo turnte sich an den glücklich wiedergefundenen Vermißten heran. Er trug eine große Flasche mit einem Saft aus allerlei Heilkräutern im Rüssel und mußte sich redlich damit abschleppen. Jedermann wußte, daß Ollie auf diese Medizin als Allheilmittel schwor. Dankbar tätschelte er Trompos Köpfchen, nahm die Flasche und kraulte dem kleinen Gefährten die Ohren. Nachdem er den letzten Bissen hinuntergewürgt hatte, schraubte er die Flasche auf und roch verzückt daran. »Nur das kann mich noch retten! Trompo - du bist ein wahrer Kumpel«, seufzte er. »Ich hab', glaub' ich, 'n gefährlichen Hautausschlag.« Er deutete auf einen einsamen Pickel auf der glatten Haut seines Armes. »Den armseligen Pickel hattest du gestern schon«, bemerkte Karlie trokken. »Nun ist es aber genug«, schimpfte Thunderclap Genius. »Würdest du uns vielleicht freundlicherweise erklären, was vorgefallen ist?« »Soll ich es tun?« grinste Micel, der natürlich schon alles wußte, weil er Ollies Gedanken gelesen hatte. »Nee!« protestierte Ollie entschieden. Er befürchtete, aus dem Brennpunkt des Interesses zu rücken. »Dann mal los«, meinte Fidel Flottbek, der so ungeduldig war wie die anderen. »Is' ga' nich' viel zu erzählen«, sagte der kleine Oliver. »Die Grünen haben mich geholt und auf ihre Bas ... Bis ...« »Basis«, half Thunderclap aus. »... auf ihre Basis gebracht«, vollendete Ollie den Satz. »Und dann war auf einmal Sense.« »Was heißt hier Sense?« regte sich Thunderclap auf. »Kannst du nicht deutlicher werden?« »Na ja, die kippten einfach um, bums!« Ollie verzichtete nicht auf eine kleine Einlage und demonstrierte, wie die Roboter im Teddybärenfell zu Boden gefallen waren. »Und dann?« fragten die Umstehenden, nachdem sie sich von ihrem Lachanfall erholt hatten. »Dann hab' ich Mücke gemacht!« 30
»Mücke?« fragte Brim Boriam verständnislos. Er hatte diese Redensart noch nie gehört. »Ich bin abgehau'n«, erklärte Ollie. »Ausgebüxt. Hab' mich auf die Socken gemacht. Verstehste?« »Und die Grünen?« fragte Fidel aufgeregt. »Na, die waren doch kaputt«, sagte Ollie. »Du meinst, sie kippten nicht nur um, sondern waren endgültig im Eimer?« forschte Harpo nach. »Genau!« antwortete Micel für den kleinen Oliver. »Ich schätze, daß wir hier vorläufig keinen Grünen mehr sehen. Es hat sich ausgegrünt!« »Dann hab' ich mich zu euch durchgekämpft«, holte der kleine Oliver zu einer längeren Erlebnisschilderung aus. »Zuerst kam ich ...« »Später«, unterbrach Micel. »Ist euch eigentlich schon aufgefallen, daß es zwanzig nach vier ist?« »Na und?« fragte Harpo verständnislos. »Weil es schon zwanzig nach vier war, als Ollie auftauchte«, antwortete Micel. »Deshalb!« »Dann ist die Uhr stehengeblieben!« rief Fidel. »Du merkst aber auch alles.« In diesem Moment geschah etwas, das die Kinder zutiefst e rschreckte. Der Boden von Deck 27 begann heftig zu zittern. Ein harter Stoß folgte. Die Kinder purzelten durcheinander, und zwei ihrer drei Wigwams stürzten krachend in sich zusammen. Ein quietschendes Geräusch drang in ihre O hren und wurde so laut, daß es fast weh tat. Dann folgte ein erneuter Stoß. Und dann war Stille.
Aufbruch zur Basis der Grünen Der Schreck war ihnen ganz schön in die Glieder gefahren. Zum Glück war er größer als der meßbare Schaden. Die Kinder kamen mit Beulen und blauen Flecken davon. Am ärgsten hatte es Thunderclap Genius erwischt. Der Rollstuhl war u mgestürzt und hatte den Jungen unter sich begraben. Nach dem zweiten Stoß kümmerten sich alle um den Bedauernswerten und halfen ihm auf. Eine 31
Chromstange des Rollstuhls hatte sich leicht verbogen, ohne daß dadurch jedoch die Funktion beeinträchtigt wurde. Mit Jammern hielt sich Thunderclap nicht lange auf. Er strich nur ab und zu mit den Fingerspitzen über seine Stirn, auf der sich ein dickes, rotblaues Hörn zu bilden begann. Da solche Beulen nach einer Weile in allen Rege nbogenfarben schillern, erregen sie eher Spott als Mitleid. Aber rasch merkten die Kinder, daß nun andere Probleme anstanden, als sich über rotblaue Hörner lustig zu machen. Jeder wußte, daß ein Raumschiff, welches in einer festgesetzten Parkbahn die Erde umkreist, nicht von einem Erdbeben erschüttert werden kann. Erdbeben sind die Folgen von Spannungen der Erdkruste, die deshalb entstehen, weil die feste Erdoberfläche nur eine verhältnismäßig dünne Schale über dem feurig-flüssigen Erdkern ist. Wenn sich im Erdkern mit starken Energieentladungen verbundene Prozesse abspielen, dann kommt es zu Eruptionen, die sich mal als Vulkanausbrüche, mal aber auch als Beben äußern. Aber im Weltraum? Auch das Schiff, auf dem sich die Kinder befanden, besaß einen »feurigen Kern«: einen Atomreaktor, der die Energie für den Antrieb und alle Lebensprozesse lieferte. Doch soweit sie wußten, war er von dicken Bleiwänden ummantelt. Der Atomreaktor hatte keine Chance gegen sie. Und außerdem lief er auf kleiner Leistung, weil sich das Schiff auch ohne Antrieb im Orbit der Erde stabilisierte. Wenn die Kreisbahn von den Wissenschaftlern auf der Erde richtig berechnet war, hielten sich die Anziehungskraft der Erde und die Fliehkraft aus der Eigengeschwindigkeit die Waage. »Etwas ist geschehen!« sagte Thunderclap nur. Mehr wußte er nicht. Woher sollte er auch? Ohne daß jemand Kommandos geben mußte, kümmerten sich die Kinder zunächst einmal um die zusammengebrochenen Wigwams. Zwei Stangen waren geknickt, aber sie schafften es, die Zelte wieder aufzustellen. Harpo machte sich S orgen. Die ersten Probleme traten auf. Einige der Grünen waren ausgefallen. Vielleicht sogar alle. Zwei der Wigwamstangen konnten nicht mehr verwendet werden, und Ersatz gab es nicht. Doch das war im Moment nicht weiter schlimm. Aber was sollte werden, wenn die Nahrungsmittel im Vorratsbunker aufgebraucht waren und kein 32
Ersatz eintraf? Wenn sich niemand auf Deck 27 blicken ließ, kein Grüner und keiner von den Alten? Zum erstenmal wurde ihm so richtig bewußt, daß sie in einem gewaltigen Raumschiff lebten, das über der Erde schwebte. Vielleicht stürzte es bereits dem überbevölkerten Planeten entgegen? Auf sich selbst gestellt waren sie im Grunde doch hilflos. Obwohl sie eine ganze Menge Neues dazugelernt hatten, seit sie nicht mehr in den Betonkolossen der Erde lebten. Thunderclap mochte von ähnlichen Gedanken geplagt sein. »Du solltest mal ausprobieren, ob das Feuer noch in Ordnung ist«, bat er Karlie. Karlie drehte an den Hähnen, die das Gas ausströmen ließen und bei Betätigung gleichzeitig einen Zündfunken freisetzten. Nichts geschah. »Wir haben kein Feuer mehr!« rief Karlie erschrocken. Thunderclap schwieg. Er schien damit gerechnet zu haben. »Wir werden eben ohne Feuer auskommen müssen - für eine Weile«, warf Harpo ein. Erwirkte ruhig, war es aber nicht. Sie hatten sich zu sehr darauf verlassen, daß ihnen die gebratenen Tauben in den Mund flogen. Nein, nicht ganz so. Ein gewisses Maß an Selbständigkeit hatten sie dadurch erlangt. Aber immer noch nahmen sie Sachen als gegeben hin, die so selbstverständlich gar nicht waren. Vielleicht mußten sie sich jetzt an ganz neue Maßstäbe gewöhnen. »Micel«, beschwor Harpo seinen Freund. »Kannst du uns nicht sagen, was geschehen ist?« Der Gedankenleser senkte den Blick, als sich mehrere Auge npaare auf ihn hefteten. »Es tut mir leid«, sagte er leise und ließ seine verkümmerten Ärmchen traurig hängen. »Ihr erwartet zuviel von mir. Ich spüre nichts.« Fidel Flottbek, der sich bisher aus den Gesprächen herausgehalten hatte, meldete sich zu Wort. Er hatte eine Weile nachgedacht. »Gehen wir mal davon aus«, sagte er, »daß die Grünen nicht wiederkommen, daß sie niemals wiederkommen. Wißt ihr, was das heißt?« Er sah sich fragend im Kreis um, aber niemand hatte Lust, ihm zu antworten. »Das bedeutet«, gab er sich triumphierend selbst die Antwort, »daß wir unabhängig und frei sind! Niemand erteilt uns Befehle, niemand sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben, niemand zwingt uns, Rechenaufgaben und Bastelarbeiten zu erledigen!« 33
Vor Begeisterung hatte er immer schneller geredet und war laut geworden wie ein Politiker bei einer Wahlrede. »Langsam«, bremste Harpo. »Die Grünen sind nicht die Herren auf diesem Schiff, Fidel. Du hast die Alten vergessen!« »Wenn die Grünen nicht mehr funktionieren«, unterstützte Micel Fidels Überlegungen, »werden die Alten alle Hände voll zu tun haben, das Schiff unter Kontrolle zu halten. Um uns werden sie sich dann nicht mehr kümmern.« »Zerbrecht euch nicht die Köpfe«, meinte Anca. »Wir werden früh genug feststellen, wer recht hat.« »Jawoll«, pflichtete der kleine Oliver bei. »Und solange m achen wir Ferien! Juchhuuu!« Thunderclap wiegte zögernd seinen Kopf. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte er. »Ich finde, ihr seht die Sache zu rosig. Überlegt doch mal: Was den Grünen oder den Alten gefährlich wird, das kann auch uns in Gefahr bringen.« »Richtig!« hakte Harpo sofort ein. Er scharrte unruhig mit den Füßen. »Statt hier rumzusitzen, sollten wir lieber eine Expedition zusammenstellen und herauszufinden versuchen, was wirklich los ist! Und dann wäre es noch gut, wenn wir mit den Gruppen auf anderen Decks Kontakt aufnehmen. Wir könnten uns gegenseitig helfen.« »Als erstes wollen wir eine Ratsversammlung einberufen, in der jeder Sitz und Stimme hat«, rief Karlie begeistert. »Eine gute Idee!« »Mensch, Karlie, du hast ja mächtig was drauf!« Alle waren mit Feuereifer dabei. Das Tal der Wigwams war ein eigener Staat geworden, dessen Bewohner demokratisch darüber abstim mten, was weiter geschehen sollte. »Auch Lonzo und Trompo müssen mitentscheiden«, forderte Anca energisch. »Klar, Mensch«, stimmten die anderen zu. »Sie haben die gleichen Rechte wie wir alle!« Niemand hatte etwas gegen diesen Vorschlag einzuwenden. »Lonzo«, fragte Thunderclap den fast kugelrunden Roboter, der auf seinen elastischen Beinen herantanzte, »du wirst mir nicht böse sein, wenn ich dich 34
danach frage, nicht wahr? Warum bist du nicht von dem Schicksal der anderen Roboter betroffen?« Die Kinder erwarteten, daß Lonzo nun wieder steif und fest behaupten würde, daß er gar kein Roboter sei, sondern ein Mensch. Aber nichts dergleichen kam. »Vielleicht deshalb, weil ich nicht mehr der Zentralschaltung des Großen Elektronengehirns unterstehe«, gab Lonzo unerwartet ernsthaft zur Antwort. »Ich bin ganz auf mich allein gestellt, weil die Funkverbindung zwischen mir und der Zentralschaltung kaputt ist. Die anderen Roboter bekommen ihre Befehle vom Großen Elektronengehirn.« Nachdenklich und mit in Falten gelegter Stirn sagte Thunderclap: »Könnte es sein, Lonzo, daß es am Großen Elektronengehirn liegt, daß die Grünen nicht mehr funktionieren?« Und Harpo fügte hinzu: »Und der Stoß von vorhin? Könnte er auch dadurch ausgelöst worden sein?« Lonzo klickte nervös. Zum erstenmal, seit er sich selbst das Bärenfell über die Ohren gezoge n hatte, benahm er sich nicht wie ein Clown. Dann gab er zur Antwort, wobei er fast traurig mit seinen Tentakeln wedelte: »Meine Speicherbänke sagen mir, daß es am Großen Elektronengehirn liegen muß. Es hat offenbar einen Defekt. Seine Verbindung zu den Grünen ist unterbrochen.« Die Kinder schwiegen ratlos. Jedes einzelne von ihnen außer Lucky Cicero, der so aussah, als würde er gleich anfangen zu weinen - machte sich seine Gedanken. Lucky merkte genau, wenn die anderen etwas bedrückte. Wenn das Elektronengehirn ausgefallen war, bedeutete das eine große Gefahr für das Schiff und seine Besatzung. Und leider war es nun, nach Lonzos Aussage, nicht mehr von der Hand zu weisen, daß der riesige Schiffscomputer, der nahezu alles steuerte, seinen Geist ausgehaucht hatte. »Ob das Schiff nun steuerlos ist?« fragte Harpo in das Schweigen hinein. »Die Alten sind doch noch da«, meinte Anca zaghaft, als erwarte sie von ihnen die Rettung. »Hast du überhaupt schon mal einen von denen gesehen?« fragte Fantasia zweifelnd.
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Der kleine Oliver war blaß geworden, und sogar Thunderclap G enius, der Junge, der von ihnen allen am meisten wußte und der Besonnenste war, bekam blasse Lippen. »Wir müssen nachsehen, was genau geschehen ist«, schlug Harpo vor und stand auf. »Zuerst sollten wir zur Basis der Grünen gehen und herausfinden, ob sie wirklich außer Betrieb sind. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.« Sein Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. »Hat jemand einen Gegenvorschlag?« Einen Gegenvorschlag hatte niemand. Die Abstimmung ergab, daß Harpos Vorschlag einstimmig angenommen war. Blieb nur die Frage, wer an der Forschungsreise teilnehmen sollte, da es natürlich keinen gab, der gerne zurückblieb. Aber alle zusammen konnten sie nicht gehen, weil das zuviel Gepäck und noch mehr Umstände erforderte, falls wirklich Gefahren drohten. Die Existenz der Schlange hatte noch keines der Kinder vergessen ... Thunderclap sagte: »Lonzo soll vorschlagen, wer von uns mit zur Basis der Grünen geht. Er ist der einzige Neutrale unter uns, weil er Gefühle wie Abenteuerlust nicht kennt und deshalb eine unbeeinflußte Auswahl treffen kann.« Nach diesen Worten gebärdete sich Lonzo wie in alten Tagen. »Ich und keine Abenteuerlust?« krächzte er. »Ha ... soll ich euch erzählen, wie ich mit dem alten Käpt'n Kidd gegen Kunibert Krötenschreck und seine fiesen Piraten kämpfte? Auf allen neun Weltmeeren? Ich könnte Dinge erzählen, daß euch die Haare zu Berge stehen ...« Der quäkende Tonfall, in dem er das sagte, löste die b edrückte Stimmung der Kinder. Lachend hielten sich Harpo und seine Freunde die Bäuche. Der ulkige Eisenmann hatte zu jeder Bemerkung eine kleine Geschichte parat. Und er schreckte auch nicht davor zurück, furchtbar aufzuschneiden, wenn es galt, seine witzigen Erzählungen an das Publikum zu bringen. Wer hatte je von neun Weltmeeren gehört - wo es doch nur sieben gab, von denen vier nichts anderes waren als stinkende, längst tote Kloaken, in denen keine Fische mehr lebten. Lonzo schritt mit vor der Metallbrust gekreuzten Tentakeln würdevoll auf und ab. Dann, als sei er Admiral Piratenschreck persönlich, fuhr er fort: »So eine Expedition ist eine nervenaufreibende Sache, meine Freunde! Daran können nur Leute teilnehmen, die das Herz nicht in der Hose aufbewahren. 36
Und gewieft müssen Expeditionsleute sein, furchtlos und allen Eisverkäufern des Universums gegenüber standhaft bleiben!« Er drehte sich um und schnarrte: »Wir brauchen zuerst j emanden, der jede Gefahr riecht. Und das ist Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten Sinn!« »Au ja!« sagte Micel freudig. »Und jemanden, der stark ist.« Lonzos Blick fiel auf Anca, die sich hinter der Rückenlehne von Thunderclaps Rollstuhl verkriechen wollte, weil sie schon ahnte, was nun kam. »Anca hat eine Riesenschlange in die Flucht geschlagen«, kicherte Lonzo. »Sie soll die Zweite sein!« »Ja«, hauchte das Mädchen. Anca fühlte sich jetzt eigentlich gar nicht mehr so stark wie noch am Tag vorher. Dennoch freute sie sich, an dieser aufregenden Expedition teilnehmen zu dürfen. »Dazu einen Jungen, der den genauen Weg zur Basis der Grünen kennt!« »Ich! Ich!« rief der kleine Oliver. »Ich war schon mal da. Ich kenn' den Weg!« »Richtig«, bestätigte Harpo. Die anderen nickten. »Und der Vierte im Bunde«, sagte Lonzo, »welche Fähigkeiten sollte der haben?« Er schaute fragend in die Runde und wartete auf Vorschläge, wobei seine roten Kunstlichtäuglein flacke rten. »Furchtlos soll er sein!« trompetete Trompo, der es sich auf Thunderclaps Schoß bequem gemacht hatte. »Und der Furchtloseste von allen ist Harpo Trumpff!« Harpo glaubte vor Schreck im Boden zu versinken.
Eine geheimnisvolle Botschaft Die Basis der Grünen lag in nördlicher Richtung hinter dem felsigen Land. Da das Schiff einen eigenen Magnetpol besaß, konnte man die Himmelsrichtungen der Erde beibehalten und sich mit einem Kompaß orientieren. Die Kinder durchquerten zunächst ein Wäldchen und gelangten in die graubraune, felsige Öde, die sich fast einen Kilometer lang hinzog, ehe sie wieder in eine Grünzone überging. 37
Als das Grünland sich vor ihnen abzeichnete, deutete Harpo, der die Gruppe anführte, nach unten. Die grünlackierte Schiffswand schnitt die Landschaft abrupt ab. Sie ragte in zweihundert Meter Entfernung empor. Und in ihr befand sich das große, schwarze, runde Loch, das den Eingang zum Lift bildete, der zu den anderen Decks führte. Direkt neben dem schwarzen Loch standen vier kleine, aus künstlichem Holz hergestellte und dennoch echt wirkende Blockhütten: Die Basis. Die Schornsteine rauchten nicht. Alles wirkte verlassen. Die Türen der Hütten waren geschlossen, und vor dem malerisch aussehenden alten Ziehbrunnen, der auf dem Vorplatz der Basis stand, lag der Körper eines Grünen auf dem Rücken, leblos und starr. Das rechte Knie des künstlichen Wesens war leicht angewinkelt, und ein Arm ragte steil in die Luft, als sei der Roboter mitten in der Bewegung abgeschaltet worden. Der kleine Oliver sagte, während sie vorsichtig den Hügel hinabstiegen: »Zwei haben mich abgeholt. Wo ist denn der andere?« Sie entdeckten ihn bald. Er lag hinter dem Brunnenrand. Auch er rührte sich nicht. Sein grünes Fell war staubig und verschmutzt. Die Äuglein, die sonst so listig blitzen konnten, waren erloschen. Harpo kniete neben den Grünen nieder und untersuchte sie, während Micel neben ihm stand und seine Gedankenströme in die Umgebung hinausschickte. »Liest du was?« platzte Anca heraus, die beobachtet hatte, daß sich Micels Blick versonnen nach innen gekehrt hatte. Micel schüttelte den Kopf. »Es ist alles tot.« »Haben die Grünen überhaupt Gedanken?« fragte Harpo, als sie die erste Hütte betraten. Die Kleincomputer, die hier herumstanden, hatten ihre Tätigkeit eingestellt. Auch sie waren abgeschaltet. »Richtige Gedanken haben sie nicht«, erklärte Micel stirnrunzelnd, als müßte er sich selbst erst über die Antwort klarwerden. »Aber ich konnte schon mal was von ihnen hören. Ein Kitzeln in meinem Kopf ...« »Ein Kitzeln?« fragte Harpo verblüfft. »Ein Kitzeln im Kopf?« Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Micel zuckte mit den Achseln. »Kein echtes Kitzeln ... Ach, ich kann es dir nicht erklären. Das ist genauso schwierig, als müßtest du einem Blinden eine 38
Farbe erklären. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Jedenfalls spüre ich hier nichts.« »Hab' ich doch gesagt, daß sie im Eimer sind«, meinte Ollie. Neugierig betrachteten die Kinder die seltsamen Instrumente. Mit der Inneneinrichtung der Hütten hatten sich die Alten nicht sonderlich viel Mühe gegeben. Die Wände sahen kalt und grau aus. Nur die Maschinen blitzten vor Sauberkeit. Sie waren verchromt wie medizinische Instrumente oder ganz teure Autos und besaßen so viele Knöpfe, Schalter und Tasten, daß Harpo fast schwindlig wurde, als erden zaghaften Versuch unternahm, sie zu zählen. Anca deutete auf einen kleinen Bildschirm, auf dessen Sichtfläche sich ein winziger weißer Punkt abzeichnete. »Seht nur«, rief Micel aufgeregt und zeigte ebenfalls darauf. Täuschten sie sich oder wurde der Punkt tatsächlich größer? Das Gerät summte leise. Die Kinder wußten, daß man es dazu benutzte, mit anderen Menschen zu reden. Ein gewöhnlicher Bildschirm wie beim Fernsehen war das nicht. In gewisser Hinsicht konnte man das Gerät als Weiterentwicklung des Telefons bezeichnen. Der Unterschied war, daß man den Gesprächspartner nicht nur hören, sondern auch sehen konnte. Visiophon wurde das Gerät genannt. Der weiße Punkt war zuerst nicht größer als eine Erbse, aber erwuchs tatsächlich. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Verzerrte Linien huschten über die Mattscheibe. Das Gerät summte etwas lauter als vorhin, aber das Geräusch war immer noch so leise, daß man schon den Atem anhalten mußte, um es überhaupt wahrzunehmen. »Jemand versucht, hier anzurufen!« rief Harpo. Er fuchtelte nervös mit der rechten Hand durch die Luft und tastete dann nach den kleinen weißen Schaltknöpfen an der Vorderseite des Visiophons. Aber so recht traute er sich nicht. »Soll ich mal versuchen, das Bild richtig reinzukriegen?« »Paß auf«, raunte Anca. »Vielleicht machst du es kaputt.« Diese Bemerkung seiner Schwester hätte Harpo unter normalen Umständen vielleicht wütend gemacht, aber jetzt störte er sich nicht daran und ging so sanft zu Werke wie niemals zuvor. Für zwei Sekunden blieb das Bild stehen. Erfreut bemerkten die Kinder, daß das Gesicht eines Mannes sichtbar wurde. Er war dunkelhäutig wie Brim Boriam, trug jedoch einen buschigen Bart. Und das war etwas, zu dem es bei Brim noch nicht gereicht hatte. 39
Dann verschwand das Bild wieder. Harpo fluchte wie ein Matrose, der sich auf allen sieben Weltmeeren herumgetrieben hatte. Das Visiophon begann zu knattern. Harpo verstummte. Erneut erschienen die farbigen Linien. Der bärtige Schwarze war zurück. »Geschafft!« freute sich Harpo. Das Gesicht des Mannes auf dem Bildschirm zeigte für einen Moment Freude. Zweifellos hatte er auf seinem Visiophon jetzt die Gruppe der Kinder im Bild. Dann lief jedoch ein Schatten über sein Gesicht. Er bewegte die Lippen, begann hastig zu sprechen und ruderte wild mit den Händen durch die Luft. Es sah komisch aus, wie er sich abmühte, ihnen etwas mitzuteilen, ohne daß man ihn verstand. Wider Willen mußten die Kinder lachen. »Was will er denn?« fragte Ollie schließlich. Er stand breitbeinig vor dem Bildschirm und bohrte in der Nase. »Uns etwas sagen«, zischte Anca. Sie hatte als erste den Ernst der Lage erfaßt. »Man kann ja nichts verstehen, Harpo! Kannst du nicht noch einmal an den Knöpfen drehen?« Harpo zögerte. Er kannte sich mit dieser Anlage nicht so gut aus, wie er zuerst gedacht hatte. Außerdem hatte er Angst davor, die Verbindung zu dem Unbekannten zu unterbrechen. Was sollte er nur tun? Der Retter konnte Micel sein. »Kannst du seine Gedanken lesen?« wisperte Harpo dem Freund hastig ins Ohr. »Erfahren, was der Mann will?« Ehe Micel noch antworten konnte, veränderte sich die Szene erneut. Der Bärtige hatte jetzt wohl bemerkt, daß man ihn nicht hören konnte. Er deutete mit dem rechten Zeigefinger auf seinen Mund. Dann auf seine Ohren. Schließlich zeigte er aus dem Bildschirm heraus auf die Kinder, schüttelte fragend den Kopf und hob die Schultern. »Er will wissen, ob wir ihn hören können«, sagte Micel. »Neeeiiiin!« Auch die anderen fielen in den Ruf ein und schüttelten wild mit den Köpfen. Die Reaktion des Mannes war erstaunlich. Sein Gesicht spiegelte Verzweiflung. Er stand auf. Für einen Augenblick zeigte die Kamera nur seinen breiten Brustkorb mit den blanken Uniformknöpfen, bis die Automatik die Linse verstellt hatte. Der Mann bewegte sich im Raum auf und ab wie ein gefangener Tiger und raufte sich gelegentlich die Haare. Dann griff er zu einem Raumanzug, der an einem Wandhaken hing, und zog ihn an. 40
Ehe er den Helm aufsetzte, blickte er noch einmal in das Aufnahmeobjektiv. Er wirkte unendlich traurig. Drei oder vier Sekunden lang schaute er so. Dann wandte er sich ab und schlug mit der geballten Rechten in den offenen Handschuh der linken Hand. Er machte eine Bewegung mit beiden Armen, die bedeuten mochte, daß etwas explodierte. Mit dem Daumen zeigte er mehrmals nach unten und auf die Kinder. Schließlich setzte er seinen Helm mit wehmütigem Gesicht auf, winkte noch einmal und verließ den Raum. Eine Metalltür schloß sich hinter ihm. Staunend hatten die Kinder die Szene verfolgt. Jetzt starrten sie sich gegenseitig an. »Wer war das?« platzte der kleine Oliver heraus. »Den hab' ich noch nie gesehen. War das vielleicht der Püschologe?« »Er hatte eine Uniform an. Das war kein Arzt, nicht, Harpo?« meinte Anca. In ihrer Stimme schwang deutlich Angst mit. Harpo legte seinen Arm um die Schulter seiner Schwester, um sie zu beruhigen. Micel schien der einzige zu sein, den die Szene nicht aus der Ruhe gebracht hatte. Seine Augen hatten jenen seltsamen abwesenden Ausdruck, den sie immer annahmen, wenn er sich auf weit entfernte Gedanken zu konzentrieren versuchte. Ehe ihn Harpo fragen konnte, sagte er schulterzukkend: »Er war zu weit weg, Harpo. Viel zu weit. Ich konnte nichts in ihm lesen. Da war nur so ein komisches Gefühl ...« Micel schüttelte sich, als liefe ein kalter Schauer über seinen Rücken. »Was für ein Gefühl? Micel!« rief Harpo heiser. Er spürte, daß die Angst in ihm wuchs. Gänsehaut bedeckte seine nackten Arme. Micel antwortete nicht. Er verließ die Hütte als erster und ging vor dem Brunnen nachdenklich auf und ab. Dabei murmelte er etwas, das weder Harpo noch die anderen verstanden. Was hatte Micel aufgefangen? Andere Dinge nahmen nun die Aufmerksamkeit der Kinder in Anspruch. Der kleine Oliver hatte - neugierig wie er war - an der Türklinke der zweiten Hütte gerüttelt. Plötzlich sprang die Tür auf, und ein Knäuel kleiner Tiere schoß ins Freie. Geschickt wichen die Tiere den Kindern aus und rasten ins freie Land hinaus, als ginge es um ihr Leben. Harpo machte einen Satz und erwischte ein schwarzes Kätzchen, das sich verzweifelt bemühte, ihm zu entwischen. 41
»Eine Katze! Eine richtige Katze!« Ollie war außer sich vor Freude. Ancas Blicke folgten den anderen Tieren, von denen die meisten schon aus dem Blickfeld geraten waren. Sie sah aber noch zwei langhaarige Hunde, einen kleinen tolpatschigen Bären mit schneeweißem Fell, drei Eichhörnchen und eine laut quakende Ente, die auf ihren Plattfüßen davonwatschelte und dabei mit den Flügeln schlug, als wollte sie sich jeden Moment in die Luft erheben. Dann hatten sich die Tiere hinter Plastiksträuchern, Hecken und Steinen versteckt. Nur die Ente hörte man noch eine Weile aus der Ferne quaken. Micel sagte: »Das ist keine Katze, Ollie. Das ist eine verkleidete Robotmaschine.« Harpo, der das leise Summen des Tiers ebenfalls bemerkt hatte, gab es frei. Allmählich glaubte er nun wirklich nicht mehr daran, daß es auf diesem Schiff etwas Echtes gab, etwas, das nicht in einer Fabrik nachempfunden worden war. Aber dann fiel ihm wieder die Schlange ein, die Anca gebissen hatte. In der zweiten Hütte lagen zwei weitere Roboter auf dem Boden und rührten sich nicht mehr. Die Aufgaben, die sie für die Kinder vorbereitet hatten, lagen auf dem Boden verstreut, als seien sie ihnen aus den Händen gefallen. Harpo bückte sich und hob einen der vorgedruckten Zettel auf. Geometrie. Er schüttelte sich. »Wir können hier wohl nichts m ehr tun«, hörte er Micel hinter sich sagen. »Wollen wir nicht zurückgehen?« Anca stimmte ihm zu, während Ollie in den Schubladen herumkramte und stoßweise Papier und Bücher zutage förderte, die er kichernd zu Boden warf. »Keine Aufgaben mehr!« rief er jubelnd. »Das ist der schönste Tag in meinem Leben!« Zusammen mit Anca legte er einen Indianertanz aufs Parkett, wobei jeder der beiden sich redlich bemühte, den anderen im Freudengeheul an Lautstärke zu übertreffen. Micel, der ebenfalls gerne mitgemacht hätte, aber wegen seiner verkürzten Ärmchen nicht so konnte, wie er wohl wollte, stellte fest, daß Harpo ein ziemlich bedrücktes Gesicht machte. »Was hast du?« fragte er. »Freust du dich nicht, daß wir jetzt tun und lassen können, was uns gefällt?« 42
»Doch, doch«, sagte Harpo zögernd. »Aber ... ich habe nicht vergessen, Micel. Der Mann auf dem Bildschirm. Dein komisches Gesicht und deine Andeutungen. Ich weiß, daß du uns etwas verschweigst. Du weißt mehr, als du zugeben willst, stimmt's?« »Du hast recht, Harpo«, gab Micel nun zu. »Ich weiß jetzt, welches Gefühl der Mann hatte, als er den Raumanzug anzog und ging.« »Und? Heraus mit der Sprache. Du mußt es uns sagen. Wir sind deine Freunde.« »Nun ... ich wollte es nicht für mich behalten. Aber ich war meiner Sache nicht sicher.« Micel druckste ein bißchen her um. Die Freunde hatten recht. Das Geheimnis ging sie alle an, nicht nur ihn allein. »Das Schiff hat sich aus seiner Erdumlaufbahn losgerissen, Harpo«, erläuterte er und stellte insgeheim erstaunt fest, daß es ihn erleichterte, darüber zu sprechen. »Es ist völlig außer Kontrolle. Die Erwachsenen sind anscheinend alle geflüchtet. Und der letzte Mann - der auf dem Bildschirm hatte Angst ... Angst um uns, weil ihm keine Zeit mehr blieb, uns hier herauszuholen ...« Anca und der kleine Oliver hörten auf zu tanzen. Micel drückte seinen Kopf an Harpos Brust und begann zu weinen. Auf dem Rückweg sprachen sie kein Wort.
Vorstoß nach Deck 28 Das Plastikparadies, in dem die Kinder bisher gelebt hatten, e rschien ihnen nun, nachdem sie genau wußten, was geschehen war, gar nicht mehr so rosig. Im Gegenteil: Jede rostige Stelle an den Wänden fiel ihnen plötzlich auf, und auch der Duft, den die zahllosen bunten Blumen, Pflanzen und Gewächse ausströmten, kam ihnen künstlich vor. Die kleinen, putzigen Tierchen, die sich gelegentlich ins Wigwamtal verliefen und aus schützender Entfernung den Kindern zusahen oder manchmal mit ihnen spielten, erschienen ihnen leblos. Nur Lucky Cicero, der kleine Mongoloide, der geistig zurückgeblieben war, schien von alledem nichts zu merken. Er konnte sich über fast alles 43
freuen. Er tobte mit Trompo über die künstliche Wiese, lag unter den Strahlen der künstlichen Sonne oder jagte den Eichhörnchen nach, die sich im Geäst nahegelegener Bäume tummelten. Nachdem die Kinder drei Tage lang vor sich hingedämmert hatten, sagte Thunderclap Genius nachdenklich: »Ich glaube, die Sonne ist nicht mehr so warm wie früher.« Erschreckt schauten die Kinder auf. Der gelbe Ball, der tagtäglich die gleiche Bahn über die hohe Decke des Himmels zog, erschien den meisten von ihnen unverändert. Oder doch nicht? Zweifel stiegen auf. Karlie Müllerchen, den nicht einmal mehr - ohnehin kalte - Kartoffelpuffer erfreuen konnten, meinte, das könne Einbildung sein. Aber sicher war er nicht. Lonzo hatte sich seit dem letzten Tag nicht mehr sehen lassen, weil er den kuriosen Plan entwickelt und verkündet hatte, einen Piratenschatz zu suchen, den er angeblich vor zweihundert Jahren hier in der Nähe vergraben hatte. Aber es war ihm nicht gelungen, die Schar der Jungen und Mädchen mit seiner Begeisterung a nzustecken. Schließlich zog er ganz allein los. Anca hatte sich beim Herumtollen einen klassischen Dreiangel in die Jeans gerissen. Thunderclap, der die Vorräte verwaltete, gab ihr neue Jeans und Micel ein anderes Hemd für sein abgenutztes altes. Dabei machte er ein ernstes Gesicht. Gewiß, noch gab es genügend Vorräte. Aber sie würden lernen müssen, mit allem sorgfältig umzugehen. Als erstes mußten sie damit beginnen, die Wäsche selbst zu waschen — jetzt gab es keine Grünen mehr, die schmutziges Zeug abholten und frische Wäsche brachten. »Es ist gar nicht so schön, wenn man keine Aufgaben hat«, klagte der kleine Oliver und zupfte Fantasia Einstein am Ärmel ihrer bunten Bluse. »Kannst du mir nicht'n paar Rechenaufgaben stellen?« Harpo lächelte. Die erwartete Gemütlichkeit, mit der alle Kinder gerechnet hatten, war nicht eingetreten. Im Gegenteil: Man langweilte sich mit der Zeit, weil alles das, was man sonst nicht tun konnte, nicht mehr aufregend war, wenn man es jeden Tag machte. Harpo selbst hatte sich eigentlich vorgenommen, jeden Tag schwimmen zu gehen und die Plastikfische im See in die Schwänze zu zwicken, weil sie dann zu quieken anfingen. Aber er war nur einmal hingegangen. Jeden Tag dasselbe Vergnügen machte bald keinen Spaß mehr. »Ich habe einen Plan«, sagte Thunderclap plötzlich. »Kommt doch mal alle her!« 44
Seinem leicht geröteten Gesicht sah man an, daß er Feuer und Flamme war. Die Kinder scharten sich um ihn, auch Lucky, der aus der Ferne gesehen hatte, daß eine Versammlung stattfand, kam herbeigelaufen. »Ihr wißt alle«, begann Thunderclap, während er seinen automatischen Rollstuhl in die richtige Position bugsierte, »daß es auf den anderen Decks noch weitere Gruppen gibt. Warum nehmen wir unseren ursprünglichen Plan nicht wieder auf und stoßen bis zum nächsten Deck vor?« »Ja!« unterbrach ihn Brim begeistert. »Vielleicht ww-wissen d-die anderen m-m-mehr!« Seine Augen leuchteten. »Vielleicht«, meinte Fantasia mit leuchtenden Augen, »sind nur die Grünen auf unserem Deck kaputt?« »Dieses Mal bin ich aber mit dabei!« rief Karlie. »Ich fange schon mal an, Proviant zusammenzupacken!« »Kartoffelpuffer!« schrie der kleine Oliver. »Nimm sie nur alle mit! Ich bleibe hier und esse zusammen mit Thunderclap sechs Tage lang nur Salami!« Die anderen lachten. Natürlich hatte Karlie nur einen Scherz gemacht. »Thunderclap hat recht«, stimmte auch Harpo zu. Er baute sich im Kreis der anderen auf und stemmte die Arme in die Hüften. »Es hilft uns nichts, wenn wir hier rumgammeln und darauf warten, daß etwas passiert. Es ist wahrscheinlich, daß wir Kinder allein auf dem Schiff sind. Die Erwachsenen haben uns verraten. Wenn wir uns gegenseitig helfen, können wir vielleicht ein paar Grüne finden, die das Gehirn wieder in Ordnung bringen! Vielleicht können wir sogar Hilfe von der Erde herbeifunken.« »Wenn wir die Zentrale finden«, sagte Fidel Flottbek finster. Ihm schien das gar nicht zu gefallen. Er war auf die Alten nicht gut zu sprechen. Seine Eltern hatten ihn als Baby in ein Kinderheim gesteckt, weil sie ihn nicht h aben wollten, und er hatte nie ein richtiges Zuhause gekannt. Das war auch der Grund, daß er auf der Erde oft andere Kinder verprügelt hatte, als sie ihn einen Zigeuner nannten. Seit Fidel auf dem Schiff war, hatte er sich gebessert, aber die Erwachsenen konnte er immer noch nicht leiden. Für ihn waren sie alle gleich, und das bedeutete: gleich schlecht. Thunderclap sah Fidel an. »Ich habe noch gar nicht alles aufgezählt, was auf uns zukommen kann, wenn wir weiterhin so in den Tag hineinleben, Fidel. Sicher möchtest auch du nicht, daß hier alle Lichter ausgehen und wir nichts mehr zu essen haben, weil die Maschinen nicht mehr arbeiten. Denk 45
nur daran, welche Probleme wir allein deshalb haben, weil das Gas nicht mehr strömt. Und das war vielleicht nur ein kleiner Vorgeschmack. Stell dir vor, eines Tages fällt die Sonne dort oben aus ...« Er deutete auf die Plastikbäume. »Wir können sie nicht essen. Was ist, wenn unsere Vorräte erschöpft sind? Wovon sollen wir uns ernähren?« Harpo nickte. »Wenn das Große Gehirn gestört ist, werden nach und nach alle anderen Mechanismen ausfallen, zumindest die komplizierten.« »Wir kommen schon durch«, beharrte Fidel trotzig, aber seine Stimme klang unsicher. »Aber du mmm-mm-mußt doch einsehen, daß sich nn-nnnnicht alle P-pppp-probleme so einfach lösen lassen wie der Verlust des Feuers«, warf Brim aufgeregt ein. »Richtig«, stimmte Anca zu. »Und selbst was das Feuer betrifft ... Karlie mag es ja egal sein, ob seine Kartoffelpuffer warm oder kalt sind ...« »Ist nicht wahr!« unterbrach Karlie protestierend. »So richtig heiß sind sie am besten!« »... ich sehne mich jedenfalls nach einem richtig warmen, dampfenden Kakao«, beendete Anca ihren Satz. »Nun laßt doch mal die Kartoffelpuffer und den Kakao aus dem Spiel«, schimpfte Thunderclap. »Na, ihr habt ja irgendwie recht«, brummte Fidel. Natürlich wollte auch er nicht, daß sie eines Tages in totaler Dunkelheit vor Hunger sterben mußten. Und vor allen Dingen wußte er, daß Harpo, der Junge, der am gesündesten und kräftigsten wirkte, ganz schreckliche Angst vor der Finsternis hatte vor allem dann, wenn niemand bei ihm war. Und Thunderclap? Wenn es dunkel wurde, konnte er mit seinem Rollstuhl nicht mehr gefahrlos durch die Gegend fahren. Die Kameraden in der Gruppe waren Fidels erste Freunde, sonst hatte er in allen anderen Menschen immer nur Gegner gesehen. Er wollte nicht, daß seine Freunde litten. Widerwillig gestand er sich ein, daß es zumindest einiges gab, was an den Alten nicht so übel war. Die Kinder stimmten über Thunderclaps Vorschlag ab. Alle waren für die Expedition, auch Fidel. Selbst Trompo hob zustimmend seinen kleinen Rüssel. 46
Sie machten sich sofort daran, eine zweite Expeditionsgruppe auf die Beine zu stellen, die dieses Mal versuchen sollte, an der Basis der Grünen vorbei in das schwarze Loch zu gelangen. Das führte, soweit ihnen bekannt war, zum Antigravlift, in dem man schwerelos wurde und langsam nach oben oder unten schweben konnte, bis zum nächsten Deck. Es war anzunehmen, daß die zweite Expedition länger unterwegs sein würde als die erste. Entsprechend viel Proviant mußte eingepackt werden. Fantasia füllte mehrere Flaschen mit kaltem Tee, und Karlie stellte die Verpflegung zusammen. Bei der Durchsuchung des Vorratsbunkers stellte sich heraus, daß die Gruppe nur noch für knapp drei Wochen zu essen hatte. Sie waren also gezwungen, sich schnellstens nach anderen Vorratsquellen umzuschauen. »Ich habe mal gehört«, sagte Karlie, »daß es auf jedem Zwischendeck ein Lebensmittellager geben soll. Da muß Essen für Jahrzehnte gelagert sein.« Da die Ausrüstung getragen werden mußte, teilte man der Expedition die körperlich stärksten Kinder zu: Harpo und Anca, Brim Boriam und Karlie. Und weil sich jemand um Thunderclap und Micel kümmern mußte, die allein ziemlich hilflos waren, blieb Fidel mit Fantasia und dem kleinen Oliver freiwillig zurück. Auch Lonzo tauchte noch auf, mit Lucky an der Hand. Also hatte er schließlich doch noch einen Gefährten bei der Schatzsuche gehabt. Natürlich kehrten die beiden mit leeren Händen zurück. Aber Lonzos kugelrunder Metalleib war über und über mit wieselflinken Eichhörnchen bedeckt, als er mit Lucky unter den Büschen hervorkroch. »Hißt die Flagge!« krächzte Lonzo. »Das Schiff legt sofort zur neuen Schatzsuche ab. Täterätää!« Er brachte so etwas wie ein Trompetensolo zustande, in das Trompo mit seinem dünnen Stimmchen einfiel. Lucky lächelte glücklich und winkte der Gruppe zu, bevor er wieder hinter den Felsen verschwand. Genius folgte der Expedition mit seinem blitzschnellen Rollstuhl so weit, bis der Boden eine gefahrlose Rückkehr nicht mehr zuließ. Er gab noch ein halbes Dutzend gute Ratschläge und fuhr dann traurig zurück. Es dauerte diesmal nicht so lange, bis die Kinder die Basis der Grünen erreicht hatten. Früher hatten sie sich nicht so gern hier aufgehalten, weil sie genauso dachten wie die meisten Kinder auf der Erde: Hier wohnten ihre Lehrer. Und wer geht schon gern nach Schulschluß am Haus seines Lehrers vorbei? Manchmal hatten sie kichernd auf den Hügeln gelegen und die 47
Grünen nach Indianerart beobachtet. Dabei hatten sie dem entfernten Rattern der Fernschreiber gelauscht, mit denen die Grünen ihre Ergebnisse zu den Alten hinauf- oder hinunterfunkten - niemand wußte ganz genau, wo sie auf dem riesigen Schiff lebten. Karlie und Brim, die zum erstenmal die leblosen Grünen aus der Nähe sahen, schüttelten sich. Irgendwie hatten sie die kleinen Maschinenbären doch gemocht. Am Eingang des Liftlochs hielten sie an. Brim hielt Harpo eine Taschenlampe hin. Er hatte offenbar nicht weniger Angst vor der Dunkelheit als die anderen. Wer wußte schon, was sie in diesem dunklen Schacht erwartete? Harpo gab sich mutig, obwohl er insgeheim fürchtete, daß ihn in der Dunkelheit wieder diese entsetzliche Furcht befallen würde. »Geht jemand mit?« fragte er schüchtern. Karlie trat vor. Er schlang ein Seil um seinen Bauch und befestigte das andere Ende an Harpos Gürtel. Zusammen gingen sie dann zögernd in die Dunkelheit hinein, während Anca und Brim beim Gepäck blieben. Geisterhaft huschte der bleiche Schein der Taschenlampe über die röhrenförmige Metallwand. Hier hatte man sich keine Mühe gegeben, eine natürliche Landschaft vorzutäuschen. Harpo und Karlie hatten das Gefühl, in einem Metallrohr zu stehen, und genau das war der Gang ja auch. Unwillkürlich duckten sich die beiden Jungen, obwohl genügend Platz vorhanden war, selbst für den langen Karlie. Harpo hatte Angst, aber er bemühte sich, sie nicht zu zeigen, denn Karlie war ja bei ihm. Er wußte nicht, wie es kam, daß ein Junge in seinem Alter noch Angst im Dunkeln haben konnte, aber er hatte von klein auf Angst gehabt, allein und ohne Licht in ein schwarzes Loch zu fallen. Überhaupt hatte er Angst vor dem Hinfallen, und manchmal, wenn er ausrutschte, wurde er sofort bewußtlos und konnte sich hinterher nicht mehr an alles erinnern, was geschehen war. Die Schritte der beiden Jungen klangen hohl und geisterhaft. Nahm der Weg denn überhaupt kein Ende? Der Lichtstrahl traf plötzlich auf ein rechteckiges Schild, das an zwei Ketten befestigt von der Decke herabhing. Die Leuchtbuchstaben waren längst erloschen, aber dennoch vermochten Harpo und Karlie zu lesen, was dort stand: 48
SIE VERLASSEN DECK 27 BITTE BEDIENEN SIE DIE ANTIGRAVSCHALTUNG NUR UNTER HINZUZIEHUNG EINES FACHINGENIEURS! »Da haben wir den Salat!« fluchte Karlie. »Woher sollen wir einen Fachingenieur nehmen? Wir haben ja nicht einmal einen Ingenieur, der kein Fach ist!« Enttäuscht gingen sie einige Schritte weiter. Vor ihnen ragte ein zweiteiliges, eisernes Tor auf, an dessen rechter Hälfte ein kleiner schwarzer Kasten hing. Der Strahl der Taschenlampe huschte über mehrere Knöpfe. Sie leuchteten auf. Darunter waren kleine Schilder mit Funktionshinweisen angeschraubt. »Verstehst du das?« fragte Karlie. Harpo überlegte eine Weile. Er versuchte sich daran zu erinnern, was der Grüne vor zwei Jahren getan hatte, als er Harpo nach Deck 27 führte, aber es gelang ihm nicht. Was TOR ÖFFNEN und TOR SCHLIESSEN bedeutete, war klar. Wenn man nach OBEN wollte - und Deck 28 lag oben - mußte man auf AUFSTIEG drücken. Soweit gab es keine Möglichkeit, etwas falsch zu machen. Was aber bedeutete der rätselhafte schwarze Knopf unter der Aufschrift ZIEL DECK 00031000? Karlie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es o rdentlich klatschte. »Bin ich bematscht«, sagte er zu Harpo. »Die Sache ist doch so klar wie die Brühe, die du uns immer als Bohnensuppe vorsetzt! Damit stellst du das Deck ein, auf das du gebracht werden willst!« Schnell hasteten die beiden Jungen zurück. Sie informierten Anca und Brim, schulterten dann eilig das Gepäck und liefen sofort den Röhrenweg zurück. Nervös warteten sie, als Harpo die einzelnen Knöpfe bediente. Zischend und etwas schwerfällig, wie sie alle bemerkten, öffnete sich die linke Torhälfte um einen Meter. Dunkelrotes Licht drang heraus. Für einen Moment waren die Kinder geblendet. Dann sagte Anca erschreckt: »Aber ... aber das ist ja ein bodenloses Loch!« Die Kinder gingen auf die Knie nieder und starrten in die Tiefe. Alle hatten einen Antigravlift benutzt, als sie auf das Schiff gebracht wurden. Aber damals hatte ein Grüner sie an der Hand gehalten, und alles war so schnell 49
gegangen, daß für Angst keine Zeit blieb. Daß der Antigravlift aus einem bodenlosen Abgrund bestand, war ihnen überhaupt nicht klargeworden. Bebend starrten sie hinab. Vor ihnen lag ein endloser Schacht, der rund und glatt war und einen Durchmesser von vielleicht drei Metern hatte. Wenn man in einen tiefen Brunnen schaut, kann man unten in weiter Ferne die Wasser Oberfläche glitzern sehen, und ein hinabgeworfener Stein kündigt irgendwann durch sein Aufplatschen an, daß der Brunnenschacht nicht ins Leere führt. Aber dieser Schacht hier schien ohne Anfang und Ende. »Kein Grund, in die Hosen zu machen«, faßte sich Harpo als e rster. Seine kleine Schwester hatte sich an ihn geklammert. Er streichelte ihr zärtlich über das glatte, schwarze Haar. »Die Schwerkraft ist hier aufgehoben. Wahrscheinlich führt der Antigravschacht quer durch das ganze Schiff. Man kann ruhig in den Schacht springen und fällt trotzdem nicht nach unten.« Er zeigte auf die Schalttafel. »Wenn ich hier Deck 00028000 programmiere, trägt uns der Antigrav nach oben.« Innerlich fühlte ersieh längst nicht so kühn, wie seine Stimme klang, es war richtig, was er sagte. Aber würde der Schacht so funktionieren, wie er sollte? Es gab Dinge auf dem Schiff, die nicht mehr funktionierten: Feuerstellen, Roboter ... Anca schüttelte sich. Zweifellos hatte sie ähnliche Gedanken. Auch Brim schluckte und blickte Karlie fragend an, der ebenfalls nicht den Eindruck machte, als sei er von Harpos Worten restlos überzeugt. Harpo sah ein, daß Worte in diesem Fall wertlos waren. Um zu b eweisen, daß man in diesem Schacht tatsächlich langsam nach oben oder unten schweben konnte, stand er auf und drückte so lange den Knopf unter dem Zählwerk, bis die Skala anzeigte, daß der Antigrav auf Deck 00028000 programmiert war. Dann warf er seinen Rucksack in den Schacht hinein. Mit staunenden Augen folgten Anca, Brim und Karlie dem Gepäckstück, das gemächlich nach oben segelte, bis es verschwunden war. »Na?« fragte Harpo und konnte in seiner Stimme nicht eine dicke Portion Stolz und Selbstzufriedenheit unterdrücken. »Ich habe keine Angst«, sagte Brim tapfer und ohne zu stottern. Er verschwand im Schacht. Wenige Sekunden später hörten die anderen ihn jauchzen, als er nach oben schwebte und dabei wild mit den Armen ruderte. »Ich fliege!« rief er. »Ich fliiiege! Juchhuuu!« 50
Ein Schatten in der Finsternis Deck 28 unterschied sich von Deck 27 für die Neuankömmlinge so gut wie überhaupt nicht: Auch hier gab es am Eingang eine Basis der Grünen. Flachland erstreckte sich einige hundert Meter weit bis zu aufragenden Hügeln. Dort standen Bäume, wuchsen Sträucher und Plastikblumen, und ein wenig landeinwärts plätscherte munter ein Bächlein, das irgendwo im Boden verschwand und dort von mächtigen Pumpen auf unterirdischen Wegen wieder zur Quelle geleitet wurde, wo es erneut aus dem Boden sprang. Die Kinder schenkten der Basis der Grünen keine große Aufmerksamkeit, weil sofort zu sehen war, daß hier alles genauso außer Betrieb war wie auf Deck 27. Sie machten sich deshalb sofort auf den Weg ins Inland, um nach der anderen Kindergruppe zu suchen. Weit kamen sie jedoch nicht, denn bald begann es zu dämmern. Die künstliche Sonne, die hier die bunte Landschaft mit ihren warmen Strahlen überwarf, wurde ausgeblendet, als sie das Ende des Decks erreicht hatte. Gemeinsam schlugen die Kinder auf einer Waldlichtung ein Lager auf. Karlie, der wegen seiner Größe und Stärke das meiste Gepäck getragen hatte, rollte Decken aus und organisierte zusammen mit Anca das Abendessen. Harpo, dem die Umgebung nicht ganz geheuer vorkam - was wohl daran lag, daß er es nicht liebte, in der Dunkelheit ohne die schützenden Wände eines Wigwams zu schlafen - lief eine Weile ziellos hin und her. Bereits beim Betreten von Deck 28 hatten sie alle laut nach versteckten Kindern gerufen, aber niemand hatte geantwortet. Das war mehr als seltsam, denn so groß waren die Decks auch wieder nicht. Wahrscheinlicher wäre gewesen, daß eines der Kinder dieser anderen Gruppe den Ruf gehört hätte. Soweit Harpo wußte, betrug die größte Länge von Deck 27 etwa zehn Kilometer, während die schmälste Stelle zwei Kilometer breit war. Da es relativ wenig Geräusche gab, die eine Stimme verschlucken konnten, und die niedrigen Decken und die seitlichen Begrenzungen den Schall weiterleiteten, waren Rufe kilometerweit hörbar. Nach dem Essen legten sie sich hin und schliefen. Karlie, der unbedingt Wache halten wollte, weil er befürchtete, in der Dunkelheit könne sich viel51
leicht jemand an ihnen vorbeischleichen und auf rätselhafte Weise den Lift außer Betrieb setzen, nickte nach einer Weile ebenfalls ein und b egann wie ein Sägewerk zu schnarchen. Was wiederum Harpo aus den schönsten Träumen riß. Er fuhr auf und musterte verstört die dunkle Umgebung. Unter freiem Himmel war es finster wie in dem schwarzen Loch. Aber was war das? Ein Schatten in der Finsternis? Bog dort nicht jemand ganz in der Nähe die dünnen Zweige eines Plastikstrauchs auseinander? Betrachteten nicht bohrende Augen die Schläfer und den e inen, der nicht mehr schlief? Harpo schüttelte den Kopf, als könne er die unheimliche Vision vertreiben. Er war ein Narr. Wer sollte zu dieser Stunde um ihr Lager schleichen? Es mußte pure Einbildung sein. Und dennoch ... Waren nicht Schritte zu hören? Und dieses schleifende Geräusch? Das Knacken zerbrechender Zweige? Harpo wußte, daß Plastikzweige niemals knackten. Einen echten Zweig hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, geschweige denn, ihn knacken gehört. Wie kam er nur darauf, daß Zweige knackten, wenn man auf sie trat! Er erinnerte sich, daß er vor langer Zeit auf der Erde einen Film gesehen hatte. Ja natürlich, das war's. Dort hatten Zweige geknackt, als sich Feinde des Helden aus dem dunklen Wald heranschlichen ... Mitten in diesen Überlegungen fielen ihm die Augen zu, und der Kopf sank nach hinten. Er träumte von Robin Hood, der die Armen beschützte und die feinsten Edelleute auf den Burgen bekämpfte. Als er am Morgen aufwachte, fand er sich eng gegen die Körper der Freunde geschmiegt. Behutsam löste er seine Hand aus Ancas Hand. Sie schien noch zu schlafen. Aber zog nicht ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht? Und sah sie ihn nicht mit besonders blanken, fröhlichen Augen an, als sie erwachte? Auf jeden Fall hatte ihm die Nähe Ancas und der Freunde sehr geholfen, mit der Dunke lheit fertigzuwerden. »Sapperlot!« schrie Karlie und sprang auf. Verschlafen wischte sich Anca die Augen. »Uuuuuaah!« machte Brim Boriam wie ein Grizzlybär und gähnte. Anca fragte: »Ist was?« Harpo schüttelte seine langen Haare und setzte sich auf. »Man hat uns beklaut«, stieß Karlie empört hervor. 52
»Seht ihr? Ein ganzes Brot ist weg, und auch eine von unseren Teeflaschen!« Erschreckt rief Harpo: »Bist du sicher, daß die Sachen fehlen, Karlie?« »Aber Harpo!« Karlie war entrüstet und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich als unser bester Koch hüte den Proviant wie meinen Augapfel!« Brim und Anca lachten. »Na, das mit dem besten Koch wollen wir mal links liegen lassen«, meinte Harpo grinsend. »Aber wer sollte uns schon beklauen? Und warum?« »Vielleicht war es ein hungriges Tier?« warf Anca ein. »Oder ein Grüner?« meinte Harpo augenzwinkernd. »Künstliche Tiere mögen kein Brot«, widersprach Karlie energisch. »Und Tee trinken sie schon gar nicht! Grüne sind mit Batterien zufrieden - glaube ich.« »Aber echte?« Anca sah ihn zweifelnd an. Da es auf der Erde kaum noch echte Tiere gab, war sie sich nicht sicher, ob richtige Tiere Tee mochten. Oder zogen sie Nahrungstabletten vor? Irgend etwas mußten sie ja essen. Harpo fiel plötzlich ein, was er am Abend zuvor beobachtet zu haben glaubte. Nachträglich konnte er aber nicht mehr genau a useinanderhalten, ob er wirklich etwas gesehen und gehört hatte oder ob er nur geträumt hatte. Er erzählte den anderen, was er wußte. Die staunten nicht schlecht. »Warum hast du uns nicht geweckt?« fragte Karlie verdrießlich, der Harpo nicht abkaufen wollte, daß er als Wachmann eingeschlafen war und obendrein noch einen halben Wald Holz abgesägt hatte. Aber damit kam er bei Brim und Anca nicht durch: Daß er schnarchte wie ein Weltmeister, das wußten sie alle nur zu gut. »Ich war mir nicht sicher«, sagte Harpo und wurde ein bißchen rot. »Ich wollte mich nicht lächerlich machen und euch mit irgendwelchen Einbildungen den Schlaf rauben.« »Ach, ist doch auch egal«, lenkte Karlie wieder ein. »Ich schlage vor, daß wir erst einmal zünftig baden gehen, im Bach dort drüben. Mensch, Leute: Wißt ihr überhaupt, daß das unser erstes Bad im wilden Pionierland ist ...« Jubelnd liefen die anderen ihm nach, hatten gegen seine langen Beine aber keine Chance. Doch der Bach war trocken. Entsetzt standen die vier Freunde vor dem leeren Bachbett. Am Abend zuvor hatte es dort noch so lustig geplätschert. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß 53
es ihnen vorhin schon ungewöhnlich still vorgekommen war. Natürlich, das Murmeln des Baches hatte gefehlt. »Das ist doch ...« sagte Anca verblüfft. »Ich glaub', mein Schwein pfeift!« »Wwww-wasser ist weg!« Brim rieb sich die Augen, als dürfe er ihnen nicht mehr trauen. Aber davon kehrte das Wasser auch nicht zurück. Harpo biß sich nervös auf die Unterlippe. Es wurde ja wirklich immer verzwickter! Kam es am Ende doch so, wie Thunderclap es mit düsteren Farben geschildert hatte? Stellten die untergeordneten Maschinen nach und nach die Arbeit ein? Das Wasser war versickert, weil die Pumpen nicht mehr liefen. Und die Pumpen liefen nicht mehr, weil die Energie ausblieb, mit denen sie angetrieben wurden. »Es ist kalt hier«, sagte Anca plötzlich und rieb sich fröstelnd die Arme. »Ich glaube, die Gruppe, die hier wohnt, ist schon lange weg. Vielleicht sind sie auf unser Deck hinabgestiegen?« Auch die a nderen meinten nun, daß es lange nicht mehr so warm wie am Vortag war. Die Sonne strahlte zwar noch immer, aber es kam ihnen so vor, als hätten die Strahlen an Kraft verloren. Und zog die Sonne nicht ein wenig dunkler als gewöhnlich ihre Bahn am Himmel des Decks? Und sah sie nicht sogar kleiner aus als sonst? Schnell packten Harpo, Anca, Karlie und Brim die Sachen und machten sich auf den Rückweg zum Antigrav. Sie zweifelten nun nicht mehr daran, daß auf Deck 28 bald eine Katastrophe ausbrechen würde. Der Weg führte sie diesmal am Ufer des ausgetrockneten Baches entlang. Hier konnten sie am ehesten damit rechnen, auf Angehörige der anderen Gruppe zu stoßen. Sie fanden mehr als hundert leblose Plastikfische, die an der trockenen Landluft bereits steif geworden waren und sich wie poröse Gummiklumpen anfühlten. Harpo steckte einen davon in seinen Rucksack, um ihn Thunderclap zu zeigen. An der Basis hatte sich nichts verändert. Ein Eichhörnchen lief zutraulich auf die Kinder zu und sprang auf Ancas Hand, als das Mädchen sich hinabbeugte. Das kleine Robotwesen wirkte verstört, als könne es die veränderte Welt nicht mehr begreifen. »Armes kleines Maschinchen«, meinte Anca. Als sie in dem dunklen Loch verschwanden, um nach einem a nderen Deck zu schweben, glaubte Harpo zwischen den Büschen in der Nähe der Basis 54
eine schattenhafte Gestalt zu sehen, die sich eilig wegduckte. Aber sicherlich war es nur eine Einbildung. Deck 00029000: Hier war es duster wie in Harpos Hosentasche. Die Freunde steckten die Nasen durch die Schachttür und gingen einige Meter weit. Harpos Taschenlampe blitzte auf. Karlie fluchte und fiel hin. Als er wieder aufstand, hielt er einen Rucksack in der Hand. »Mann!« schimpfte er. »Kannst du denn nicht besser aufpassen, Harpo?« »Ich?« machte Harpo erschreckt. »Ich habe doch gar nichts ...« »He, Moment!« rief Karlie plötzlich. »Ist das etwa gar nicht dein Rucksack, über den ich gerade gestolpert bin?« Harpos Lampe warf einen Lichtkegel auf einen grünen Beutel. Ein Namensschild baumelte daran. Derjenige, der ihn verloren hatte, trug den Namen Lori Powitz. Aber Lori Powitz konnte natürlich auch ein Mädchenname sein. »Hier ist niemand mehr. Wahrscheinlich ist der Rucksack auf der Flucht verlorengegangen. Wir nehmen ihn mit«, entschied Karlie. Deck 00030000: Dieses Deck war, wie die Kinder auf den ersten Blick feststellten, noch nicht einmal voll ausgebaut. Ein riesiger schwarzer Raum, der kein Ende zu haben schien, erstreckte sich vor ihnen. Neben dem Eingang standen mehrere Baumaschinen und einige hundert Kisten und Materialstapel. Das Deck wirkte wie eine riesige, leere Blechkiste, war farblos und roch nach rostigem Stahl. Angewidert rümpfte Brim die Nase. »Baust-stelle«, meinte er geringschätzig. »Nn-noch nn-nicht fertig!« »Wollen wir noch weitergehen?« fragte Anca. Sie begann allmählich unruhig zu werden. Was würde sein, wenn sie den Rückweg nicht mehr fanden? Wenn der Antigrav aussetzte, wie die Pumpen unter dem Bächlein ausgesetzt hatten? Es war nicht auszudenken! Was sie am meisten beschäftigte, war die Frage, wo die anderen Kinder steckten. Zumindest auf den Decks 28 und 29 hatten welche gelebt, das stand fest, denn Micel konnte gelegentlich die Gedanken anderer empfangen. Waren sie noch weiter nach oben gefahren? Oder hatten sie den Weg abwärts genommen und befanden sich schon längst in sicherer Obhut bei Thunderclap und den anderen? 55
Das bekannte Unbekannte »Ein Deck durchsuchen wir noch«, hatte Harpo vorgeschlagen. Die Überraschung der Kinder war groß, als sie feststellten, daß sich dieses Deck 00031000 von allen, die sie bisher besucht hatten, unterschied. Zunächst einmal gab es hier kein freies Land. Sie passierten das Tor der Einstiegsröhre und stießen auf eine weitere Tür. Im G egensatz zu denen, die sie bisher kennengelernt hatten, schien diese Tür aus Holz oder Plastik zu sein. Sie besaß keine Klinke, sondern nur eine kreisrunde, einen Zentimeter versetzte Vertiefung, über der ein kleines Schild angebracht war. DRÜCKEN stand darauf. Karlie faßte sich ein Herz und preßte seinen Daumen gegen die Scheibe. Sie gab nach. Sanft schwang die Tür auf. Dahinter lag ein enger Korridor im Halbdunkel. Vereinzelte Notlichter brannten. Mehr als zwei Dutzend Türen zweigten von dem Korridor ab, und auf jeder befand sich ein Schild. Aufgeregt liefen die Freunde den Gang entlang und lasen: METEORITENKONTROLLE ASTROGATIONSZENTRALE III NACHSCHUBDEPOT EINHEIT B-VIII Das waren mehr als seltsame Wortkombinationen. Keines der Kinder verstand so recht, was die Namen zu bedeuten hatten, aber ein jedes verm utete, daß sich Bedeutsames dahinter verbarg. »Ob das die Zentrale der Alten ist?« fragte Anca schüchtern. Ihr kam die Totenstille unheimlich vor. Karlie zeigte auf eine elektrische Uhr am Ende des Ganges. Ihre Zeiger standen auf zwanzig nach vier, wie die Uhr auf ihrem Deck. »Hier ist bestimmt niemand mehr«, vermutete Harpo. Er legte beide Hände trichterförmig an den Mund und schrie: »Hallo? Ist da jemand? Hallo!« Keine Antwort. Nun versuchten sie es gemeinsam. Mehrere Minuten lang bemühten sich die Kinder, eventuelle Bewohner des Decks auf sich aufmerksam zu machen, aber ohne Erfolg. Erschöpft hielten sie inne. Sie berieten eine Weile, was sie tun sollten. Karlie machte den Vorschlag, die einzelnen Türen zu öffnen und nachzusehen, was sich in den dahinter56
liegenden Räumen verbarg. Sie hatten ein bißchen Angst vor dem Unbekannten. Oder auch nur vor einer strengen Stimme, die rufen könnte: »Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!« Aber schließlich zögerten sie nicht länger - und hatten Glück. Bereits die erste Tür war unverschlossen. Neugierig steckten sie ihre Köpfe durch den Türspalt. Die Wände wurden von Regalen verdeckt, auf denen unzählig viele Metallkisten lagerten. Es war ungemütlich kalt in dem Raum. In der Mitte stand ein hufeisenförmiger Metalltisch, davor ein gepolsterter Schwenksessel. Auf der Tischplatte lagen allerlei Papiere verstreut. »Pschscht!« machte Brim plötzlich und legte einen Finger an die Lippen. »Hört ihr?« Die Gruppe erstarrte augenblicklich und horchte. Waren das nicht ... ? Natürlich, vom Gang her näherten sich Schritte. Atemlos starrten die Kinder zur Tür, die einen Spalt offen stand. Ein Schatten fiel durch den Türspalt in den Raum. Langsam wurde die Tür aufgezogen. Eine kleine Gestalt e rschien in der Türfüllung. »Ollie!« stieß Anca überrascht und erlöst hervor und eilte auf den Jungen zu. »Wie kommst du denn hierher?« fragte Harpo verdutzt. »War mir zu langweilig«, meinte der kleine Oliver, nachdem er sich aus Ancas Armen befreit hatte. »Da hab' ich mir gesagt, guckste mal, was die Kumpels so treiben.« »Mann, du hast 'ne Art, zu antworten«, schimpfte Karlie. Nach einigem Hin und Her gelang es Harpo und Anca, aus dem kleinen Oliver herauszulocken, daß er allein zum Antigrav gegangen war und zufällig Zeuge wurde, wie sie von Deck 30 auf 31 überwechselten. Da er wie ein Fuchs aufgepaßt hatte, wie die Grünen den Lift bedienten, machte er sich keine großen Gedanken über die Gefahren eines Antigravlifts und folgte den Freunden. Nachdem sich die Aufregung über den Neuankömmling gelegt hatte, studierten sie gemeinsam den Raum. Mißtrauisch näherte sich Ollie den Papieren, in denen er Rechenaufgaben vermutete. Überrascht erkannte er, daß es sich um Listen handelte, auf denen jemand etwas mit einer schwer leserlichen Handschrift eingetragen hatte. »Milchpulver-Bestand«, las er mühsam buchstabierend. 57
»He, was soll das sein?« »Milchpulver braucht man für Kakao«, erwiderte Anca und hob eine weitere Liste auf, während die anderen sich neugierig mit den Regalen beschäftigten. An den Kisten waren Etiketten angebracht. »Mann, ein Vorratsbunker!« freute sich Karlie. »Und was es hier alles für leckere Sachen gibt.« Mit der Zunge über die Lippen fahrend raste er an den Regalen entlang. »Salami, Eier, Mehl - Kartoffelpuffer!!« Harpo stöhnte. »Das erinnert mich daran, daß ich einen ungeheuren Hunger habe«, fuhr Karlie seufzend fort. »Könnten wir nicht ...« Er schaute sich suchend um, konnte aber keine Kochgelegenheit entdecken. Einstweilen schob er deshalb ein paar kalte Kartoffelpuffer in den Mund. Harpo, der eine Weile vor dem Tisch-Visiophon gestanden hatte und sich nachdenklich das Kinn rieb, sagte plötzlich: »Mhmm, sagt mal - kommt euch das hier nicht irgendwie bekannt vor?« Die anderen schüttelten die Köpfe. »Wie meinst du das?« fragten sie. »Ich weiß nicht«, meinte Harpo achselzuckend. »Aber mir kommt dieser Raum merkwürdig vertraut vor. Als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Dabei war ich sicher noch niemals hier. Vielleicht gab es mal einen ähnlichen Raum in einem Film - halt! Jetzt fällt es mir ein!« Er klatschte in die Hände und stellte sich hinter das Visiophon. »Diese Wand, diese Regale! Das war der gleiche Hintergrund, vor dem der schwarze Mann stand, den wir auf dem Bildschirm in der Basis der Grünen gesehen haben.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ja, so war's. Ich erinnere mich jetzt genau. Von hier aus hat der Mann versucht, uns anzurufen!« »Klar!« rief der kleine Oliver. Auch er glaubte, den Raum wiederzuerke nnen. Nur Anca war sich nicht so sicher. Sie meinte, daß es auf dem Schiff sicherlich Dutzende von Räumen gab, die diesem hier ähnelten wie ein Ei dem anderen. Der kleine Oliver unterbrach den sich anbahnenden Streit, indem er plötzlich einen Zettel schwenkte und krähte: »Ich glaub', hier hat jemand 'n Brief geschrieben!«
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»Was?« Schnell versammelten sich Harpo, Karlie, Brim und Anca um den Kleinen. Tatsächlich! Das Blatt war im Gegensatz zu den anderen nicht mit Zahlen und einzelnen Worten bedeckt. »Gib her!« Harpo riß dem Kleinen den Brief aus der Hand und las mit gefurchter Stirn vor: »Es hat alles keinen Sinn mehr. Das Schiff wurde aus seiner Bahn gerissen, und niemand kann verhindern, daß es an den Planeten vorbei in die Unendlichkeit rast. Bis Hilfe von der Erde eintrifft, ist es längst zu spät. Habe versucht, mit der Zentrale Verbindung aufzunehmen. Aber sie können mich nicht verstehen, weil mein Visiophon defekt ist.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Harpo seine Freunde an. Karlie hatte vor Aufregung die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben, während Anca rote Flecken auf den Wangen bekam. Nur der kleine Oliver blickte zutraulich zu den Großen auf, als erwarte er, daß sie ihm schon alles in einfacheren Worten erklären würden. »Aus den Lautsprechern kommen laufend Alarmmeldungen«, las Harpo weiter. »Versuche, mit einer anderen Station Verbindung zu bekommen, blieben ohne Erfolg. Niemand meldete sich. Mein Gott, die armen Kinder! Man kann sie nicht mehr retten! Soeben kam der Befehl zum Verlassen des Schiffes. Alle Männer sammeln sich am Schleusenausgang B-XII. Die Rettungsboote sind startklar. Ich kann sie nicht erreichen, weil ich zu weit davon entfernt bin. Mir bleibt nur eine Lösung: Ich nehme meinen Raumanzug und gehe durch eine Nebenschleuse in den Weltraum hinaus. Dort warte ich auf Hilfe, bis sich Rettungseinheiten von der Erde nähern. Gott steh mir bei. Ich weiß: Was ich vorhabe, ist der reine Selbstmord!« Harpo fror plötzlich. Hier stand es schwarz auf weiß. Ihre Verm utung war bestätigt worden. Die Alten hatten das Schiff verlassen, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Wenn Fidel davon erfuhr, war das Wasser auf seine Mühlen. Mit blassem Gesicht fragte Anca: »Wir - wir sind wirklich allein? Ganz allein?« Sie schien es immer noch nicht glauben zu wollen. Behutsam legte Ollie einen Arm um die Hüfte des viel größeren Mädchens. »Ich beschütze dich, Pummelchen«, meinte er tröstend. »Du weißt ja, daß ich dich später mal heiraten will.«
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Die Worte des Kleinen hätten Harpo und die beiden anderen Jungen normalerweise zum Lachen gebracht, a ber im Moment war ihnen nicht danach zumute. »Halten wir dieses eine mal fest«, sagte Harpo, während er sich m üde in den Schwenksessel fallen ließ und den Kopf in beide Hände stützte. »Das Schiff stürzt nicht ab!« »Genau«, meinte Karlie erleichtert. »Aber was bedeutet das für uns?« »Daß wir eben nicht mit abstürzen«, versetzte Harpo, jetzt wieder ein leichtes Lächeln hervorbringend. Er musterte seine Freunde der Reihe nach. »Wir sind gekommen, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen ist und wie wir uns helfen können. Die erste Frage ist geklärt. Das zweite Problem steht noch vor uns. Wollen wir weitergehen?« Sie entschlossen sich nach einer kurzen Diskussion zur vorläufigen Rückkehr auf Deck 27. Thunderclap und die anderen warteten sicher schon auf sie. Genauere Nachforschungen konnte man auf später verschieben: e twa, wohin das losgerissene Schiff trieb ... Außerdem war eine Rückkehr schon aus dem Grund dringend notwendig, weil sie nicht wußten, wie es mittlerweile auf Deck 27 aussah. Ollie war zwar noch kürzlich dort gewesen, aber auch er war seit vielen Stunden auf Entdeckungsreise. Im Grunde war die Lage hier oben ziemlich besorgniserregend. Vielleicht stand es auch im Tal der Wigwams nicht zum besten. Und es war kaum vorstellbar, daß die Zurückgebliebenen sich helfen konnten, wenn die stärksten Kinder nicht bei ihnen waren. Langsam schwebten sie im Antigravschacht abwärts, ihrer alten Heimat entgegen.
Eine böse Überraschung Das unsichtbare Feld der Antischwerkraftlinien umfing die Gruppe wie ein sanftes Netz und trug sie programmgemäß nach Deck 27 zurück. Dort verharrte es regungslos. Die Sicherheitsschaltung verhinderte die Entstabilisierung auch dann noch, als mit dem kleinen Oliver längst der letzte der Freunde zum Einstiegstunnel hinübergerudert war. 60
Irgendwie war es doch ein schönes Gefühl, wieder die altvertraute Umgebung zu erblicken, selbst wenn sie zunächst nur aus einigen Hütten, e inem alten Ziehbrunnen und zwei leblosen, im Staub liegenden Roboterkörpern bestand. Ohne sich weiter bei der stillgelegten Basis der Grünen aufzuhalten, marschierte die Fünfergruppe zügig dem Tal der Wigwams zu. Karlie spielte den Anführer. Da er die längsten Beine hatte, machte er naturgemäß auch die größten Schritte. Die a nderen hatten Mühe, ihm zu folgen, und forderten ihn schließlich auf, langsamer zu gehen. »Pah!« machte Karlie verächtlich und blickte auf seine Gefährten hinab. Für ihn waren das nur Knirpse. Aber er sah ein, daß es ihnen schwerfiel, Schritt zu halten. »Dabei schreite ich doch wirklich nur ganz gemächlich aus«, murmelte er. Immerhin wurde er für eine Weile langsamer. Als er sich einmal zu den anderen umwandte, verhielt er allerdings mitten im Schritt, so daß Brim gegen ihn prallte und Ollie mit dem Kopf an Brims Rücken stieß. »Bist du jeck?« beschwerte sich Ollie und rieb sich die Stirn. »Ich habe meine letzte Versicherungsprämie noch nicht bezahlt!« Er verstummte jedoch genau wie die anderen, als er Karlies verdutztes Gesicht bemerkte. »Ich sehe was, was ihr nicht seht«, erklärte Karlie. »Und das ist - rot!« Er starrte grinsend über die Köpfe der »Knirpse« hinweg nach hinten. Alle sperrten die Augen auf. Harpo entdeckte als erster, was Karlie gesehen hatte. Fünfzig Meter hinter ihnen stand ein Mädchen zwischen den bunten Plastiksträuchern und sah zu ihnen herüber. Es trug eine rote Bluse und Jeans von dergleichen Farbe. Mittellanges, hellblondes Haar umrahmte ihr Gesicht. »Zwick mich«, flüsterte der kleine Oliver. Als hätte das Mädchen diese beiden leise hervorgestoßenen Worte gehört, machte es eine unerwartete Wendung und sprang seitlich in die Büsche. Dort tauchte es im Blättergewirr unter. »He, warte doch!« rief Harpo. »Ich hole sie«, meinte Karlie und wetzte mit seinen langen Beinen den Weg zurück. Er verschwand genau an der Stelle im Dickicht, wo sie das unbekannte Mädchen gesichtet hatten. Es dauerte eine Weile. Die Gruppe verharrte in atemloser Spannung. 61
Dann tauchte er zwischen den Sträuchern wieder auf wie der Turm eines Unterseeboots. Aber er war allein. Ratlos zuckte er mit den Schultern. »Ich habe sie noch aus der Nähe gesehen«, gab er bedauernd zu, »aber dann war sie wie vom Erdboden verschwunden.« »Schon gut«, beruhigte ihn Harpo. »Sicherlich gehört sie zu e iner Gruppe von Kindern, die von einem anderen Deck hierher ins Tal gekommen ist. Paßt mal auf - wir sehen sie dort gewiß wieder.« »Warum ist sie dann abgehauen?« fragte Anca. »Du irrst dich bestimmt«, antwortete Karlie mit der überlegenen Miene eines Eingeweihten, der Unwissenden ein Geheimnis erläutern will. »Das war nämlich gar kein Mädchen. Das war eine Alte!« »Waas?« kam es wie aus einem Munde. »Na ja«, schränkte Karlie verlegen ein, »vielleicht keine ganz Alte. Aber ich habe ihr Gesicht deutlich gesehen. Die war erwachsen! Mindestens neunzehn Jahre alt, vielleicht sogar zwanzig!« Er sagte das in einem Tonfall, als spreche er von einer Zweihundertfünfzigjährigen. Kopfschüttelnd meinte Harpo: »Wirklich?« Aber er war mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache. Irgend etwas an diesem seltsamen Mädchen kam ihm bekannt vor. Waren es ihre Augen gewesen? Mein Gott, vielleicht spielte ihm seine Phantasie nur einen Streich, aber auf rätselhafte Weise fühlte er sich jetzt an die brennenden Augen erinnert, die ihn in der letzten Nacht auf Deck 28 aus dem Dunke l heraus beobachtet hatten. Und außerdem ... »Wir gehen jetzt erst mal weiter«, schlug er vor. »Später können wir uns immer noch um - um das Mädchen kümmern.« Irgendwie paßte es Harpo nicht, den Ausdruck »Alte« für die Erwachsenen zu verwenden. Er war jetzt sechzehn. Schon heute fühlte er sich selbst nicht mehr sicher, ob er noch zu den Kindern oder schon zu den Erwachsenen zählte. Auf jeden Fall würde er eines Tages ein Erwachsener sein. Jeder wurde erwachsen. Aber deshalb mußte man doch nicht automatisch ein ganz anderer Mensch werden? Warum sollte er dann zu seinen Freunden nicht genauso stehen wie jetzt? Wenn der kleine Oliver in Harpos Alter kam, würde er selbst einundzwanzig sein - und damit nach ihrer heutigen Auffassung u nvorstellbar alt. Irgend etwas stimmte nicht an solchen pauschalen Einordnungen, fand Harpo. Und je mehr er darüber während des Weitergehens 62
nachdachte, desto komischer kamen ihm die Wörter »alt«, »jung«, »Kinder« und »Erwachsene« vor. Wie kam es überhaupt, daß einige Leute solche Einteilungen für wichtig hielten? Wer hatte ein Interesse daran? Wollte man mit diesem Blödsinn von anderen Einteilungen ablenken, die entscheidender waren? Harpo erinnerte sich daran, was sein Vater ihm einst erzählt hatte: Für ihn hatte es nur zwei Sorten von Menschen auf der Welt gegeben, nämlich eine kleine Gruppe mit viel Geld und viel Macht und eine riesengroße mit wenig Geld und ohne Macht. Und das hatte ihm eingeleuchtet. »Es ist wirklich eigenartig«, murmelte Karlie während des anstrenge nden Marschierens durch den Plastikwald, »... diese Alte, dieses erwachsene Mädchen ... sie hatte, glaube ich, richtige Angst vor mir. Unheimlich Angst. Wenn ich ehrlich bin, tat sie mir sogar ein bißchen leid - obwohl sie zu den Alten gehört.« Angst? Jetzt rastete etwas in Harpos Gehirn ein. »Ich hab's«, rief er. »Dieses Mädchen hat Anca und mich in den geheimnisvollen Räumen hinter der Wandung von Deck 27 überrascht, und ich bin sicher, daß sie es auch war, die mich aus der Dunkelheit angestarrt hat. Sie muß uns gefolgt sein. Aber warum nur?« Also haben doch nicht alle Erwachsenen das Schiff verlassen, überlegte Harpo. Aber warum nicht? Hatte man das seltsame Mädchen verge ssen? Oder hatte auch sie es nicht bis zu den Rettungsbooten geschafft, wie der Schwarze am Visiophon? Irgendwie war ihm das alles nicht recht klar. Und schon gar nicht konnte Harpo verstehen, weshalb sich das Mädchen vor ihnen versteckte. Sie erreichten das Tal der Wigwams. Aber war das überhaupt noch ihr Tal? »Das ... das ist nicht zu fassen«, stöhnte Karlie entsetzt. Er bekam den Mund vor Überraschung gar nicht mehr zu. »Ich schnall' ab!« schrie der kleine Oliver. »Was ist denn hier passiert?« rief Harpo mit zitternder Stimme. Er wollte nicht glauben, was er sah. »Micel! Thunderclap! Lucky!« schrie er aufgeregt. »Lonzo! Fantasia! Trompo!« ergänzte seine Schwester mit ängstlicher Stimme. Ihre Hand krallte sich in Harpos Arm. Niemand antwortete. 63
Niemand eilte ihnen entgegen. Die Gruppe schlich in das Tal. Nicht wie ein fröhlicher Haufen, der mit einem Sack voll aufregender Geschichten von einer spannenden Entdekkungsreise zurückkehrte, sondern wie ein Rudel geprügelter Hunde. Je näher sie den Wigwams kamen, desto offensichtlicher wurde, daß sie keinem Trugbild aufgesessen waren. Die Wigwams lagen zerstört am Boden, die Tür zum Vorratsbunker stand sperrangelweit offen. Wer immer das getan hatte: Es sah aus, als seien Vandalen durch das Lager gezogen, die alles dem Erdboden gleichgemacht hatten. Auf der Erde hätte man einen Orkan für die angerichteten Schäden verantwortlich machen können, aber an Bord des Schiffes gab es nichts weiter als einen sanften Luftzug aus den Ventilatorschächten der Klimaanlage. »Das ... ist gemein!« heulte Anca und suchte in den Trümmern. Es gab nicht eine Zeltstange, die nicht mehrfach gebrochen war, und keinen Fetzen Leinwand, der größer war als ein Handtuch. Der Lagerplatz glich einem Trümmerfeld, über und über besät mit zerschlitzten Zelt- und Kleidungsstücken. Über diese Trümmer einst nützlicher Gegenstände hatte man alle Kisten und Kartons aus dem Vorratsbunker entleert: Mehl, zerbrochene Hartwürste, zerteilte Kartoffelpuffer, Erbsen, Bohnen, Eipulver, Vitaminpillen, Synthosteaks und anderes mehr. Das Mehl hielt die Abdrücke etlicher Füße fest, die offenbar in das Chaos hineingestampft hatten, um unbrauchbar zu machen, was noch nicht zerstört war. »Wo sind unsere Freunde?« Harpo stellte die wichtige Frage. Doch so sehr sie die nähere Umgebung des Lagers auch absuchten: Sie fanden nicht die geringste Spur von ihnen. Nicht einmal einen Hinweis oder eine zurückgelassene Nachricht. Harpo überlegte angestrengt. Er fühlte sich überfordert. Dennoch mußten sie sich rasch etwas einfallen lassen. »Ich beantrage, daß wir auf der Stelle eine außerordentliche Ratsversammlung einberufen«, sagte er schließlich. Die Freunde stimmten zu. Jetzt mußten sie überlegen, wie man aus dieser verfahrenen Lage herauskam. Einige Meter abseits vom Ort der Zerstörung setzten sie sich ins Gras. »Wir stehen einem neuen Rätsel gegenüber«, begann Harpo. »Zum erstenmal wird unsere Gruppe offen bedroht. Wenn ich das richtig sehe, sind 64
unsere Freunde von Unbekannten überfallen und verschleppt worden. Alles ist zerstört. Wenn wir nicht andere Vorräte entdeckt hätten, müßten wir jetzt verhungern.« »Wir müssen Thunderclap und die anderen befreien!« forderte Karlie und schlug mit seinen Riesenfäusten in das künstliche Gras. »Dazu müssen wir überhaupt erst einmal rauskriegen, wo sie gefangengehalten werden«, warf Brim ein. »Richtig!« bekräftigte Anca, und der kleine Oliver nickte. »In Ordnung«, stimmte Harpo zu. »Wir suchen das ganze Deck ab. Aber wir müssen dabei vorsichtig sein! Ab sofort darf keiner von uns allein durch die Gegend strolchen.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als er sich zu seinen Freunden vorbeugte. »Unsere Feinde können überall lauern. Bewegen wir uns schlau, wachsam und geräuschlos wie die Indianer auf dem Kriegspfad.« »Au ja!« brüllte der kleine Oliver und stieß ein mordsmäßiges Indianergeheul aus. Anca warf sich erschrocken auf ihn und wollte ihm den Mund zuhalten, aber Karlies Riesenhände hatten den Kleinen schon e rwischt und bedeckten fast den gesamten Kopf. Ollie gurgelte nur noch. Harpo seufzte. Das waren ja wirklich nette Indianer! Wie sollte er ihnen nur klarmachen, daß es diesmal um alles andere als ein Spiel ging? Karlie wurde als erster wieder vernünftig. Er zischte heftig: »Ruhe!« und zerrte die beiden auseinander. Kurz darauf hatte er je einen zerzausten Gegner am Schlafittchen und hielt die Arme weit auseinander. »Laß mich los, du langer Lulatsch«, zeterte der kleine Oliver und zielte mit seinen winzigen Fäusten nach Karlies Nase, die allerdings fast einen halben Meter von ihm entfernt war. Anca machte eine Miene wie ein Kätzchen, das am Nackenfell hochgehalten wird, und Brim und Harpo war nicht ganz klar, ob sie im nächsten Moment lachen oder weinen wollte. Sie entschied sich fürs Lachen. Dafür heulte der kleine Oliver auf, als Karlie dessen Aufforderung wörtlich nahm und ihn ins Gras plumpsen ließ. »Ja, ist denn bei euch der Teufel los«, explodierte Harpo. »Ollie, hör sofort auf zu weinen. Und du auch, Pummelch ...« Er verstummte im letzten Augenblick, aber dieser Ausspruch hatte auch so seine Wirkung nicht verfehlt.
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»Du sollst das Pummelchen nicht immer Pummelchen nennen«, japste Ollie. »Wo sie mich doch heiraten will!« Er schniefte gewaltig durch die Nase, während Anca ihrem Bruder einen giftigen Blick zuwarf. »Nun hört mal gut zu«, sagte Harpo entschlossen. »Die Leute, die u nsere Wigwams in Fetzen gerissen haben, verstehen absolut keinen Spaß. Wenn die noch hier in der Gegend sind und uns hören, dann wette ich, daß sie uns verprügeln. Vielleicht stellen sie sogar noch Schlimmeres mit uns an. Wir müssen den Unfug jetzt für 'ne Weile sein lassen, weil uns das alle in Gefahr bringt. Klar?« »Wer hat uns das bloß angetan?« fragte Brim erneut. Er kam immer noch nicht darüber hinweg, daß man die Wigwams in Grund und Boden gestampft hatte und die Freunde verschwunden waren. »Ob ... sie es war?« schnüffelte Anca und deutete über die Schulter auf den Taleingang, wo gerade der Schöpf des rotgekleideten Mädchens verschwand. »Warum verfolgt sie uns denn nur?« »Sie allein?« zweifelte Harpo. Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sicher wären Fidel und Fantasia mit ihr fertiggeworden, wenn sie das Lager alleine überfallen hätte. »Nein, nein, das glaube ich nicht.« »Aber es könnten mehrere Alte gewesen sein, nicht?« beharrte Karlie stur. »Ich meine, vielleicht sind noch andere Erwachsene an Bord geblieben?« »Mal bloß nicht den Teufel an die Wand«, meinte Anca erschreckt. »Laß uns lieber überlegen, was wir jetzt tun. Ich schlage vor, daß wir erst mal alles untersuchen, was hier rumliegt. Vielleicht können wir doch noch was davon gebrauchen. Und wenn es nur für ein Mittagessen reicht. Ich habe nämlich einen unheimlichen Hunger!« »Bravo!« rief Karlie. »E-e-endlich ein vernünftiger V-vorschlag«, fand Brim. »Und anschließend suchen wir gemeinsam die anderen«, stimmte Harpo zu. »Und wenn wir jeden Stein einzeln umdrehen müssen: Wir werden sie finden!« Die Kinder beendeten die Konferenz, weil keine Wortmeldungen mehr kamen. Sie machten sich daran, den Trümmerhaufen nach brauchbaren Überresten zu durchwühlen.
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Trauriger Abschied und fröhliches Wiedersehen Als sie von der Suche in das Tal der Wigwams - das sie jetzt schon als das »Tal der Trümmer« bezeichneten — zurückkehrten, hoffte Harpo insgeheim, daß sich alles als böser Spuk erweisen würde. Daß im Lager wieder Leben herrschte, daß die Wigwams wieder aufgebaut wären und Thunderclap und Fidel fröhlich winkten. Aber die Wirklichkeit sah leider anders aus. Die traurigen Überreste der Zerstörung lagen noch immer so da, wie sie sie vor Stunden verlassen hatten. Sie hatten Deck 27 von Norden nach Süden und von Westen nach Osten durchgekämmt. Und doch hatten sie keine Spur von den Verschwundenen entdecken können. Der Plastikwald schien sie und die geheimnisvollen Feinde verschluckt zu haben. Wahrscheinlicher war allerdings, daß sie der Antigravlift verschlungen und in unbekannten Decks wieder ausgespuckt hatte. Abgesehen von einigen Robottierchen hatten sie nur ein einziges Lebewesen hin und wieder in der Ferne entdeckt: jenes erwachsene Mädchen, das ihnen wie ein Schatten folgte und immer vorsichtig an ihren Fersen klebte, gelegentlich durch das aufblitzende Rot seiner Kleidung signalisierend, daß es noch in der Nähe war. Die Einsamkeit und das Trümmerfeld bedrückte die Gruppe. Hier konnten sie nicht bleiben. Außerdem mußten sie sich Lebensmittel besorgen. Und auf gar keinen Fall wollten sie ihre Freunde für immer abschreiben. Sie faßten den Entschluß, Deck 27 zu verlassen. »Haben wir alles?« fragte Karlie. Die Frage war eigentlich überflüssig, denn er hatte selbst am schärfsten darüber gewacht, daß sie jeden noch verwertbaren Krümel von einem Kartoffelpuffer einpackten. Schweigend nahmen die Kinder ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg. Alle hatten ein komisches Gefühl dabei, als sie zum letztenmal durch den Plastikdschungel gingen. Dieses Deck war für sie alle eine Art zweiter Heimat geworden, in der sie jeden Strauch und jeden einzelnen Felsen kannten. Und jetzt mußten sie sie unter sehr traurigen Bedingungen aufgeben. 67
»Fräulein Unbekannt folgt uns immer noch«, meldete Karlie, der zurückgeschaut hatte. »Sie wird sich nun bald entscheiden müssen, ob sie mit uns kommen oder ganz allein hierbleiben will«, meinte Harpo. Er konnte das seltsame Verhalten der Verfolgerin nicht verstehen. Ob sie vielleicht krank war, so wie Lucky? »Wir hätten eine Nachricht dalassen sollen«, meinte Anca. Und Brim fügte hinzu: »F-für den F-fall, daß sich die anderen al-leine befreien und zurück-kkommen.« »Keine schlechte Idee«, sagte Harpo. »Laßt uns ...« Aber dann fiel ihm ein, daß sie ja selber noch nicht wußten, wohin sie gehen wollten. Was sollten sie ihren Freunden also mitteilen? Er äußerte seine Bedenken laut. »Und außerdem«, schloß Karlie an, »können auch die Leute zurückkommen, die alles kaputtgeschlagen haben. Denen würden wir damit verraten, wo wir uns aufhalten.« »Ich weiß was Besseres«, meldete sich nun Anca. »Sobald wir ein neues Zuhause gefunden haben, bringen wir einen Hinweis auf der Basis der Grünen an. Irgendwas, das unsere Freunde verstehen. Uns wird schon etwas einfallen. Thunderclap ist im Entschlüsseln von Geheimschriften ganz große Klasse!« Harpo dachte daran, daß die Anzeige des Antigravlifts auch jedem Verfolger anzeigen konnte, wohin sie unterwegs waren. Aber nein, das stimmte nicht. Fremde konnten nur mit dem Lift auf Deck 27 gelangen - und mit ihrer Ankunft löschten sie die letzte Anzeige des Antigravs. »Also eines wundert mich«, grübelte der kleine Oliver. »Und?« fragte Anca nach. »Der Rollstuhl! Thunderclaps Elektroauto! Wo ist das Ding geblieben, he? Ich meine, es ist doch ungeheuer schwierig, das Fahrzeug durch das Gestrüpp zu kutschieren.« »Mensch, Ollie«, lobte Harpo, »du bist ja richtig clever!« Daß sie im unverwüstlichen Plastikgrün keine Spuren gefunden hatten, war nicht weiter verwunderlich. Aber daß der Rollstuhl ebenso fehlte wie die Freunde, gab ihnen wirklich zu denken. Es existierte nämlich kein durchgehend befestigter Weg vom Tal der Trümmer zur Basis der Grünen 68
und zum Lift! Schwammiger Kunstsand machte weite Wegpassagen für einen Rollstuhlfahrer nahezu unpassierbar. Darüber hatte sich Thunderclap mehr als einmal lautstark b eklagt. Gewiß, man konnte den Jungen tragen, er wog ja nicht sehr viel. Aber warum sollte man sich die Mühe gemacht haben, auch den schweren Rollstuhl mitzuschleppen? Das war doch nicht eben typisch für Leute, die sonst alles kaputtmachen. An der Basis der Grünen machten sie halt. Bislang hatten sie nur den G edanken, das Deck verlassen zu müssen, auf der Suche nach ihren Freunden und nach Nahrung. Doch langsam wurde es Zeit, einen Plan zu erstellen, wie die Suche organisiert werden konnte. Das zweite Problem war insofern gelöst, da sie ja bereits ein Vorratslager gefunden hatten, auf das sie nach Belieben zurückgreifen konnten - wenn es nicht in der Zwischenzeit ebenfalls verwüstet worden war. Aber wo sollten sie mit der Suche nach den Verschwundenen ansetzen? Sie waren nur zu fünft. Gewiß: Harpo, Karlie und Brim konnten nicht eben als schmächtig bezeichnet werden - und es fehlte ihnen auch nicht an Mut. Das Dumme war nur, daß sie eigentlich gar keine Vorstellung von ihren Gegnern hatten. Vielleicht waren drei kräftige Jungs nicht genug, um die Gefangenen zu befreien. Was dann? Unschlüssig hatten sie ihre Lasten neben den leblosen Grünen niedergelegt und warteten darauf, daß einem von ihnen ein genialer Einfall kam. Aber wenn man auf so etwas angewiesen ist, kann man meistens sehr lange warten ... »Das führt doch alles zu nichts, wenn wir uns hier die Beine in den Bauch stehen und Löcher in die Luft stieren«, sagte Harpo schließlich. Er hatte ein bißchen Angst davor, daß der anfangs vorhandene Schwung, der große Zorn über die zerstörten Wigwams und die verstreuten Speisen und die entführten Freunde bei dem untätigen Herumsitzen schnell wieder verpufften. »Wir müssen ganz fest dran glauben, daß Manitu uns beisteht!« »Uff!« bestätigte Karlie. »Der schickt uns jede Menge Krieger aus den Ewigen Jagdgründen, wenn's brenzlig wird. Aber die brauchen wir gar nicht. Sollst mal sehen, wie ich unter den Brüdern aufräume, wenn ich sie erwische.« 69
Harpo sah etwas zweifelnd auf den dürren Riesen, aber Karlies Einstellung gefiel ihm. »Wenn man mich reizt«, knirschte der kleine Oliver, »kann ich ein Schwein sein!« Er trommelte mit seinen winzigen Fäusten auf seine Hühnerbrust und demonstrierte mit gefletschten Zähnen, tänzelnden Schritten und schnellen Haken einem Schattengegner, wie ernst er es meinte. Alle lachten. Der kleine Mann in der Lederhose als Cassius Clay des einundzwanzigsten Jahrhunderts - das war denn doch zu lustig. »Na gut«, sagte Harpo lachend. »Brechen wir also auf. Da wir die Decks 28 bis 31 schon kennen, sollten wir uns vielleicht mal um die darüber kümmern. Was meint ihr?« Alle waren Harpos Meinung und griffen nach ihrem Gepäck. Ein kratzendes Geräusch ließ sie mitten in der Bewegung verharren. Was war das? Mit gefurchter Stirn ließ Harpo seinen Rucksack wieder sinken und blickte zu der Hütte hinüber, in der bis vor wenigen Tagen noch die Robottierchen gehaust hatten. »Habt ihr das auch gehört?« flüsterte Karlie. »Vielleicht ist eins von den Tieren zurückgeblieben«, verm utete Anca und wandte sich dem Einstieg der Röhre zu. »Nehmt mich mit«, piepste eine Stimme aus der Hütte. Mit einem kleinen Überraschungsschrei warf Anca ihr Gepäck zu Boden und rannte zu der Hütte. Ollie folgte ihr wie ein Sprinter bei einer Olympiade und hätte sie vielleicht noch eingeholt, wenn er nicht über einen Stein gestolpert wäre. So bohrte er seine Nase in die Erde und schimpfte wie ein Rohrspatz. »Trompo!« riefen die Kinder wie aus einem Munde. Anca flitzte in die Hütte und kam Sekunden später mit dem winzigen Spielkameraden auf dem Arm zurück. Sie drückte ihn fest an sich, was dem Miniatur-Elefanten sichtlich gefiel. Er schnurrte wie ein Kätzchen und kitzelte mit seinem kleinen Rüssel vor Begeisterung Ancas Nase. »Wo hast du bloß gesteckt?« tadelte Anca Trompo. Nachdem sie ausgiebig mit ihm geschmust hatte, entließ sie ihn aus ihren Armen. »Du humpelst ja!« stellte sie dann e rschrocken fest. Trompo zog ein Bein leicht nach. »Wie ist denn das passiert?« 70
»Sie haben Steine nach mir geworfen«, klagte das kleine Wesen traurig. »Deshalb habe ich mich auch versteckt.« »Wer hat das getan?« fragte Karlie und begann drohend die Fäuste zu schwenken. »Die Fremden«, trompetete Trompo schüchtern. Alle redeten durcheinander und wollten weitere Einzelheiten wissen. »Dann weißt du also, was geschehen ist, während wir weg waren, Trompo?« Harpo setzte sich schließlich mit lauter Stimme durch. Trompo deutete ein Nicken an. »Seid jetzt mal alle ruhig! Trompo soll berichten!« Und das war Trompos Geschichte: Sie waren am Eingang des Tals aufgetaucht, am frühen Morgen nach dem Aufbruch der Expedition. Entweder waren sie im Dunkeln aus dem Antigravlift geklettert - oder sie hatten bereits die Nacht im Plastikwald verbracht. Auf jeden Fall überraschten sie die zurückgebliebenen Talbewohner. Ungefähr zwanzig Jungen und Mädchen im gleichen Alter wie die Kinder aus dem Wigwamtal standen plötzlich vor den Schläfern, als diese die Augen aufschlugen. Im ersten Moment kam es noch nicht zu offenen Feindseligkeiten, obwohl sich vor allem Thunderclap maßlos über den Anführer der Fremden ärgerte, der seine eigenen Leute wie auch die Talbewohner herumzukommandieren begann. Er befahl, daß ein gutes Essen für ihn und seine Leute gemacht werden solle, und gab Fidel einen heftigen Knuff, als es seiner Meinung nach nicht schnell genug ging. Fidel wollte sich auf den Fremden stürzen, den seine Kameraden Big Tom nannten, aber Fantasia hielt ihn zurück. Big Tom grinste nur. Im Gegensatz zu seinem großartige n Namen war er klein gewachsen, aber dabei untersetzt. Er war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und hatte ein puppenhaftes, weißes Gesicht, das einen deutlichen Gege nsatz zu seinem muskulösen Körper bildete. Er schien so nervös zu sein, daß er bei jeder Gelegenheit an seinen Fingernägeln kaute. Eine Weile später schimpfte er, weil kein Feuer vorhanden war, nannte die Talbewohner eine »faule Bande« und machte sich abwechselnd über Micels kurze Ärmchen und Thunderclaps Rollstuhl lustig. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits offene Feindschaft zwischen den Talbewohnern und den Neuankömmlingen in der Luft. Aber Thunderclap und die anderen wußten, daß sie gegen die plötzlich 71
aufgetauchte Übermacht keine Chance hatten. Also b eherrschten sie sich, so gut sie eben konnten, und hofften darauf, daß die Fremden von selbst bald wieder abziehen würden. Die schienen daran aber keinen Gedanken zu verschwenden. Zumindest Big Tom nicht. Die anderen Jungen und Mädchen aus seiner Gruppe kuschten vor ihm oder schienen keine eigene Meinung zu haben. Trompo hatte sich - von Anfang an nichts Gutes ahnend vor den Fremden versteckt. Dennoch entdeckte ihn einer der Jungen zwischen den Plastikgräsern. »Vertreibt das Mistvieh«, ordnete Big Tom an, worauf seine beiden eifrigsten Gefolgsleute damit begannen, Steine nach Trompo zu werfen. Es gelang dem kleinen Wesen zu entfliehen, aber es wurde am Bein verletzt. Wahrscheinlich wäre es ihm noch schlechter ergangen, hätten sich nicht Fidel, Fantasia und Micel zwischen die Steinwerfer gestürzt. Die Folge war eine ausgewachsene Keilerei. Und gerade in diesem Augenblick kehrten Lonzo und Lucky von ihrer Schatzsuche zurück. »Ein Grüner!« schrie Big Tom über das Getümmel hinweg. »Los, Jungs, greift ihn euch und zerlegt ihn!« Seine treuesten Anhänger ließen sofort das Prügeln sein und rannten Lonzo entgegen. Sie trugen große Eisenstangen in den Händen - die hatten sie schon mit ins Lager gebracht. Ihre Absicht war unverkennbar. Der blanke Haß stand in ihren Augen. Lucky wurde roh zur Seite gestoßen, e benso Micel, der sich den Jungen in den Weg stellte. »Es ist kein Grüner, sondern unser Freund Lonzo!« protestierte Micel e mpört, als er sich vom Boden aufgerappelt hatte und sah, welche Gefahr Lonzo drohte. »Um so schlimmer für ihn - und für euch«, drohte Big Tom zähneknirschend. »Wir dulden hier keine Spione! Das Schiff gehört jetzt mir und meinen Leuten. Na los, worauf wartet ihr noch?« »Nicht so hastig, Seeleute«, begrüßte Lonzo die Angreifer. »Wir fanden Juwelen und kostbares Geschmeide. Der Piratenschatz ist für alle da!«
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Der erste Junge holte mit der Eisenstange zum Schlag aus. Lucky war bei der Rempelei ins Gras gefallen. Für einen kleinen Moment sah es so aus, als wolle er in Tränen ausbrechen. Dann geschah etwas Seltsames mit ihm. Trompo war sich seiner Sache so sicher, weil er zu diesem Zeitpunkt genau in Luckys Augen geblickt hatte. Und die wurden jetzt so geistesabwesend wie die von Micel, wenn er versuchte, Gedanken zu lesen. Luckys Pupillen nahmen einen goldenen Farbschimmer an. Das war das letzte, was Trompo von Lucky, Lonzo, Fantasia, Thunderclap, Micel und Fidel sah. Im nächsten Moment waren sie alle wie vom Erdboden verschluckt. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Trompo sah noch, daß die Fremden erschreckt und ratlos zurückblieben. Sie waren so verwirrt, daß sie ihn gar nicht weiter verfolgten. Und so war Trompo durch den Wald geirrt, hatte die Steppe durchquert und hatte sich in der stillgelegten Basis verkrochen, wo die Tür der Hütte hinter ihm zugefallen war.
Die gläserne Sternenkuppel Atemlos hatten die Kinder den Bericht ihres kleinen Gefährten angehört. Kaum einmal unterbrachen sie ihn durch Zwischenfragen. Als Trompo schließlich endete, dauerte es eine ganze Weile, ehe sie die Sprache wiederfanden. »Dann hat man unsere Freunde ja gar nicht gefangengenommen«, stellte Harpo erleichtert fest. Im Grunde fühlte er sich recht froh, gleichzeitig aber auch wieder beunruhigt durch das rätselhafte Verschwinden der Gruppe. Ob Trompo am Ende geflunkert hatte, wie er es sonst so gern tat? Nein, eigentlich klang alles echt. Und die Angelegenheit war so ernst, daß sich auch Trompo keinen Spaß erlauben würde. Aber trotzdem: Hatte man je davon gehört, daß sich Menschen einfach in Luft auflösten? »Sicher stecken die Alten dahinter«, verm utete Karlie mit gerunzelter Stirn. 73
»Quatsch«, meinte Anca. »Wenn irgend etwas nicht zu erklären ist, müssen bei dir immer die Alten dahinterstecken, Karlie. Die können auch nicht zaubern.« »Hast du vielleicht eine bessere Erklärung?« fragte Karlie mit zusammengekniffenen Augen. »Pah«, machte Anca. »Muß ich gar nicht haben. Ich finde es nur blöd, daß du dir die Sache so einfach machst.« »Karlies Verm utung ist immerhin nur eine von vielen möglichen Erklärungen«, mischte sich Harpo ein. »Aber ich finde auch, daß wir die Erwachsenen nicht überschätzen sollten. Und außerdem sind sie ja gar nicht mehr an Bord, das weißt du doch, Karlie.« »Das ist auch nur eine Vermutung«, verteidigte sich der Riesenjunge. »Oder hast du schon vergessen, daß uns eine von ihnen verfolgt, seitdem wir Deck 27 betreten haben? Und vielleicht sogar schon länger?« Was sollte man darauf sagen? Karlie hatte recht. Es gab keinen stichhaltigen Beweis dafür, daß alle Erwachsenen das Schiff verlassen hatten. Der gefundene Brief mußte nicht in allen Punkten stimmen. Schließlich hatte der schwarze Mann ke inen Kontakt mehr zur Zentrale gehabt. »Aber was haben Luckys Augen mit dem rätselhaften Verschwinden u nserer Freunde zu tun?« fragte Harpo das elefantenähnliche Zwergwesen. Ihm war aufgefallen, daß Trompo diese Einzelheit für bedeutungsvoll hielt. »Ich weiß nicht«, quietschte Trompo. Um ihn besser verstehen zu können, hatten sich die Kinder lang auf den Boden gelegt. »Aber mir ist niemals etwas Ähnliches an Lucky aufgefallen. Und da es das letzte war, was ich von den Verschwundenen sehen konnte, mochte ich es nicht verschweigen.« War irgend etwas Besonderes mit Lucky? Keinem aus der Gruppe war bisher die Idee gekommen, daß ihr Lucky vielleicht ähnliche Talente besaß wie der Gedankenleser Micel. Für sie war er bisher ein Spielkamerad gewesen, den man mit ganz einfachen Dingen glücklich machen konnte. Sie wußten alle, daß Lucky geistig behindert war. Aber selbst wenn er wie Micel Gedanken lesen konnte, so erklärte das nicht im geringsten, weshalb die Freunde sich vor den Augen Trompos in Luft aufgelöst hatten. »Wo sollen wir denn nun suchen?« fragte Anca kläglich. Die anderen stellten sich dieselbe Frage. Die Erwachsenen, die Grünen oder andere Kindergruppen als Gegner, die einen Überfall unternommen und Gefangene ge74
macht hatten das wäre schlimm gewesen. Aber zumindest hätte man gewußt, daß alles mit rechten Dingen zuging. Man hätte etwas unternehmen können. Aber jetzt war alles noch geheimnisvoller als vorher. »He, Trompo«, flachste Anca, »jetzt verdrehst du aber die Augen wie Micel!« Trompo schrak auf, als sein Name genannt wurde. Verwirrt schüttelte er den Rüssel, als wolle er einen Traum verscheuchen. »Deck Nummer null«, flüsterte Trompo plötzlich mit völlig veränderter Stimme. »Klar, Kumpel«, beeilte sich der kleine Oliver zu versichern, obwohl er keine Ahnung hatte, was jetzt wieder los war. »Bitte?« fragte Harpo. »Keine Fragen stellen«, sagte Trompo in dem gleichen seltsamen Tonfall. Er stellte sich auf die Hinterbeine. »Deck Nummer null. Da müssen wir hin!« »Z-zum D-deck n-null?« Brim machte runde Augen. Und Harpo, der zum erstenmal hörte, daß es ein solches Deck überhaupt gab, fragte: »Aber warum denn?« »Deck null«, wiederholte Trompo und begann sich langsam im Bewegung zu setzen. »Keine Zeit verlieren. Schnell!« »Na schön«, meinte Harpo achselzuckend und hob sein Gepäck auf. Er winkte den anderen, ihm zu folgen. »Er wird schon seine Gründe haben.« »Is doch sowieso schnuppe und schnurzpiepe, wo wir anfangen«, krähte der kleine Oliver. Sie folgten Trompo auf dem Fuße, der die Richtung zum Antigravschacht einschlug, ohne sich dabei umzudrehen. Mit der Bedienung kamen sie inzwischen so gut zurecht, daß es keine überflüssigen Fragen mehr gab. Harpo stellte im Vorwahlfeld Deck 0000000 ein, fragte sich aber insgeheim, ob das überhaupt einen Sinn haben konnte. Sicherlich würde es ein Deck mit der Nummer 1 geben. Aber »null« hieß doch »nichts«. Wie konnte man ein »Etwas« mit einer Null bezeichnen? Dann kam ihm ein Gedanke. Es hieß ja »Deck null«. Was immer sich auch dort befinden mochte — es war ein Deck! »Nun bleibt Fräulein Unbekannt doch allein zurück«, stellte Karlie schaudernd fest.
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Sie schauten durch die Einstiegsröhre in die Plastiklandschaft ihres Heimatdecks. Adieu, Deck 27, dachten sie, du siehst uns wohl niemals wieder. Das erwachsene Mädchen war nirgendwo zu entdecken. »Die Anzeige wird ihr verraten, wohin wir gefahren sind«, erklärte Harpo. Er hatte ein ungutes Gefühl, wenn er daran dachte, daß das Mädchen nun ganz allein hier unten war. »Wenn sie will, kann sie uns folgen.« Brim, der sich wie meistens bei Gesprächen im Hintergrund hielt, war der erste, der seinen Fuß über den Abgrund setzte. Vorsichtig probierte er aus, ob das Kraftfeld noch vorhanden war. Er spürte den Widerstand und trat in den von rotem Licht erhellten Schacht hinein. Winkend segelte er nach oben. Ollie folgte ihm so ungestüm, daß er im Kraftfeld einen Purzelbaum schlug und den ganzen Weg in einer sanft ansteigenden Spirale zurücklegen mußte. Da mochte Trompo auf seinem Arm noch so lautstark quietschen. Es half ihm nichts, er mußte die Drehungen mitmachen. Hoffentlich besitzt er ke inen empfindlichen Magen, dachte Harpo. Harpo, Anca und Karlie folgten dicht an dicht und waren dazu verurteilt, die ganze Zeit über des kleinen Olivers Klagelieder mitanzuhören. »Mensch, ist mir schlecht!« »Bin doch kein Kunstflieger!« »Das ist aber gar nicht gut für meine Organe! Eiwei!« »Wo ich sowieso der kränkste Passaschier von diesem ollen Raumschiff bin!« »Ich protestiere! Das rollt einem ja sämtliche Fußnägel auf!« »Mein Jott, Justav!« Lachend hielten sich die anderen die Ohren zu. Es war eine sehr lange Fahrt bis zum Deck null. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stiller wurde ihr trudelnder Mitreisender. Und als sie Deck null endlich erreichten und zur Plattform hinüberruderten, war er ganz verstummt - dafür aber ganz grün im Gesicht. Mitleidig halfen Harpo und Karlie dem Kleinen auf die Plattform. Trompo sprang seinem lebenden Karussell aus den Armen, drehte sich dann aber noch mehrmals benommen um seine eigene Achse, ehe er stillstand. »Kommt«, trompetete er schließlich, als er sich gefangen hatte. Er sprach immer noch mit dieser völlig veränderten Stimme, die außer Harpo bisher 76
niemandem aufgefallen zu sein schien. Er eilte die glatte Metallröhre entlang, die auch hier oben die Verbindung zwischen dem Schacht und dem eigentlichen Deck herstellte. Der Tunnel wurde von Lampen grellweiß erleuchtet. Nach einigen Schritten fiel den Kindern noch etwas auf, das anders war als auf den bisher besuchten Decks. Der Tunnel führte nicht ins Freie, sondern endete in einer Sackgasse. Eine glatte Metallwand verhinderte jedes weitere Vordringen ins Unbekannte. »Was nun?« fragte Karlie ratlos. »An der Seitenwand muß sich eine schwarze Platte befinden«, e rläuterte Trompo. »Man kann sie mit bloßem Auge nicht sehen. Aber fühlen kann man sie.« Die Kinder musterten die fragliche Wand, die jedoch trotz der hellen Beleuchtung fugenlos wirkte. Schwarze Platte war gut. Der ganze Tunnel bestand aus schwarzem Metall. »Karlie«, meldete sich nun wieder Trompo. »Du bist der Größte. Du mußt in Kopfhöhe die Wand abtasten.« »Hier ist was!« rief Karlie freudig. »Du mußt den Daumen deiner rechten Hand auf die Platte legen«, piepste Trompo. Er sprach auf einmal wieder mit seiner alten Stimme, und das ließ Harpo aufhorchen. Was hatte diese Veränderung zu bedeuten? Aber jetzt war keine Zeit für neugierige Fragen. Etwas hatte ihn mit aller Kraft gepackt. Es war wie Jagdfieber - als sei hinter diesem Gang etwas verborgen, das für sie alle sehr wichtig war. Karlie wich zurück. Mitten in der fugenlosen Stirnwand bildete sich ein schnell wachsender Spalt. »Hiiiinein!« jubelte Harpo. Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Hinter ihnen schloß sich der Spalt so geräuschlos, wie ersieh geöffnet hatte. Die Kinderstanden wie gelähmt in der neuen Umgebung. Damit hatten sie nicht gerechnet! Nein, das war kein gewöhnliches Deck mit Plastikpflanzen, Felsen und einer Kunstsonne ... Eine sanfte, indirekte Beleuchtung tauchte den riesigen Raum in ein mattes blaues Licht. Vor ihnen ragten Säulen aus dem Boden, die aussahen wie Baumstümpfe, nur ganz glatt, eben und rund. Sie endeten in Hüfthöhe und ließen dort Hebel, Schalter, Knöpfe und blinkende Lichtaugen hervortreten. 77
Auch seitlich waren in den Säulen Instrumente verborgen, und davor sah man Sessel aus schwarzem Kunstleder, deren blinkende Metallfüße mit dem bunten Glasmosaik des Bodens eine Einheit bildeten. Diese Einzelheiten bemerkten Harpo und seine Freunde aber erst auf den dritten oder vierten Blick. Was sie in stiller Bewunderung und mit offenen Mündern verharren ließ, war die Decke des großen Raumes. Sie bestand aus einer gewaltigen gläsernen Kuppel, die wie die Hälfte einer Kugel den Raum abdeckte. Wären nicht die winzigen roten Lichtfäden gewesen, die diese Rundung in Zonen unterteilte wie die Meridiane auf Landkarten und Globen von der Erde, hätte man meinen können, daß der Raum überhaupt keine Decke besaß und direkt in den Sternenhimmel hineinragte. Zum erstenmal in ihrem Leben sahen die Kinder den funkelnden Glanz der Sterne ohne den Filter einer Dunstglocke aus Staub und Abgasen. Die Raumfähre, die sie von der Erde einst abgeholt hatte, hatte keine Fenster besessen, und seither war ihnen nichts anderes unter die Augen geraten als das unnatürliche Innenleben von Deck 27. »Die Hauptzentrale!« hauchte Harpo ergriffen. Er mochte sich überhaupt nicht losreißen von dem Anblick der zahllosen Lichtpünktchen in der weiten Schwärze über ihnen. Diese winzigen weißen Lichter waren Sonnen, die nur deshalb so klein aussahen, weil sie sich in unvorstellbarer Ferne befanden. Dabei mochten die meisten so groß wie die Sonne sein, deren Licht die Erde erreichte, manche sogar viel, viel größer. Und ihr Raumschiff trieb als eine Miniaturwelt in diesem Sternenraum, losgerissen von der heimatlichen Sonne. Ein Erwachsener, der dafür geschult worden war, hätte ihnen anhand der roten Leuchtfäden auf der gläsernen Kuppel jetzt vielleicht sagen können, welchen Kurs ihr Schiff nahm. Aber die Kinder hatte niemand gelehrt, wie der Astrogator eines Raumschiffes Position und Kurs bestimmte. Auf Trompo hatte keiner mehr geachtet. Jetzt machte er mit einem trompetenhaften Laut auf sich aufmerksam. »Dort!« piepste er und deutete mit dem Rüssel auf einen Fleck am Sternenhimmel. »Seht doch nur! Dort hinten!« Sie hätten lange suchen können, wenn nicht der Fleck durch sein Anwachsen auf sich aufmerksam gemacht hätte. Einer der Sterne am Glashimmel 78
wurde immer größer. Dabei stellte sich heraus, daß es gar kein Stern war. Es leuchtete, aber sein Licht entsprach bei weitem nicht der gleißenden Helligkeit einer Sonne. Dann konnten die Kinder mit bloßem Auge erkennen, daß sich ihnen ein fremdes Raumschiff näherte. Es sah ungewohnt aus. Soweit sie darüber informiert waren, bestand ihr eigenes Schiff aus einem langen Zylinder, der an beiden Enden kugelähnliche Fortsätze hatte. Harpo konnte sich noch erinnern, daß sein Onkel einmal scherzhaft von einem »fliegenden Knochen« gesprochen hatte. Das fremde Schiff bestand hingegen aus drei diskusförmigen Scheiben, die durch ein Geflecht von Versorgungstunneln miteinander verbunden waren. Diese Scheiben lagen übereinander, und die mittlere hatte einen erheblich größeren Durchmesser als die Außenscheiben. Trompo geriet beim Anblick des fremden Raumschiffes fast aus dem Häuschen. Er machte die irrsinnigsten Verrenkungen, sprang durch die Luft, machte einen doppelten Salto und stieß fremdartige Laute hervor. Mehrere Minuten lang, während sie schweigend unter der Kuppel standen, verharrte das andere Schiff regungslos über ihnen, greifbar nahe. Dann flammten auf der einen Seite mehrere Blitze auf, und es wurde mit atemberaubender Schnelligkeit kleiner. Trompo quiekte protestierend und hielt in seinen Luftsprüngen inne. Dann schrumpfte das Schiff wieder zur Größe eines kleinen Lichtpünktchens zusammen und wurde vom Weltraum verschluckt.
Wieder beisammen »Was ... war ... das?« fragte Anca ungläubig. »Haste doch geseh'n - ein Raumschiff«, sagte der kleine Oliver atemlos. »Mann, das weiß ich selbst«, empörte sich das Mädchen. »Aber woher kommt es? Was sind das für Leute, die es gebaut haben? Wieso begegnet es uns mitten im All? Es ist doch wohl ein irrer Zufall, daß sich zwei Raumschiffe im Weltraum begegnen, wenn man bedenkt, wie groß das All und wie klein Raumschiffe sind!« »Hallo!« 79
»Viel interessanter finde ich die Frage, warum es wieder abgedreht hat, ohne Kontakt aufzunehmen«, schaltete sich Harpo ein. »Ob das Schiff nun zufällig auf uns gestoßen ist oder nicht: Normal wäre doch wohl gewesen, daß man sich verständigt.« »Hallooo!« »W-wie stellst du dir das denn v-vor?« fragte Brim. »Sollten die F-fremden uns z-zuw-winken? V-vielleicht haben d-die nicht m -mal richtige Hände.« »Hallooooo!« »Papperlapapp, winken«, meinte Karlie. »Die hätten in Raumanzüge steigen und uns besuchen können. Oder Lichtzeichen geben. Oder sonst etwas machen.« »Haaalllooooooooooo !« »Und wenn sie es getan haben?« entgegnete Brim. »Das weißt du doch n nicht. Vielleicht haben sie pau-pausenlos versucht, uns m -mit Funksprüchen oder Eilsendungen zu erreichen. U-und da niemand antwortete, ha-haben sie es aufgegeben. Die halten u-unser Sch-schiff wahrscheinlich für ein Wrack!« »Haaallllooooooooooooooooooooooooo!« »Was ja irgendwie auch stimmt«, meinte Harpo schulterzuckend. »Nur, daß eben auf diesem Wrack noch Menschen ... Aber sagt mal, habt ihr nicht auch eben was rufen gehört?« »Ruhe«, flüsterte der kleine Oliver und legte eine Hand hinter sein linkes Ohr. Augenblicklich wurde es so still, daß man das Geräusch einer zu Boden fallenden Stecknadel wahrgenommen hätte. Unwillkürlich hielten die Kinder den Atem an. Der kleine Oliver übertrieb so, daß er rot wie eine Tomate wurde. »Haaalllooooooooooooooooooooooooo!« »Da war es wieder!« rief Harpo aufgeregt. »Es kommt von der gegenüberliegenden Wand«, behauptete Anca und deutete mit der Hand darauf. »Ja«, gab Karlie ihr recht. »Ich meine auch, daß es von daher kommt!« Aufgeregt liefen sie zu der Wand hin. Dort, wo die gläserne Kuppel mit der Bodenfläche der Hauptzentrale zusammentraf, gab es einen Streifen metallischer Wand, der aus der Nähe gar nicht so niedrig war, wie sie zuerst verm utet hatten. Die Wand, die sonst überall nur etwa zweieinhalb Meter hoch war, erreichte an dieser Stelle mindestens die doppelte Höhe. 80
Harpo preßte den Kopf dagegen. Da war es wieder, ein Ruf, der kaum mehr als ein Flüstern war, so weit schien er von ihnen entfernt: »Haaallloooo!« »Wir rufen zurück«, sagte Harpo schnell. »Und alle zusammen, wenn ich drei sage. - Eins, zwei, drei!« »Haaalllooooooo!« riefen Brim, Anca, Karlie, Ollie und Harpo aus Leibeskräften. »Huhuuuuu!« zuckelte der kleine Oliver noch einmal hinterher und erreichte dabei fast die Lautstärke der gesamten Gruppe. Seine Stimme kiekste allerdings ein bißchen im oberen Bereich. »Haalloooo«, kam es zurück. »... iiir ... ind ... hie ... speeerrtt!« »Hast du das verstanden?« fragte Harpo Anca. »Das klang wie: Wir sind hier eingesperrt, oder so ähnlich.« »Es gibt hier sicher noch eine Tür«, überlegte Harpo laut. »Wahrscheinlich mit einem ähnlichen Mechanismus wie die Tür zum Tunnel. Karlie, kannst du nicht mal ...« Er brauchte gar nicht weiterzureden, weil Karlie schon in Auge nhöhe die Wand abtastete. »Ob das nicht gefährlich ist, was wir jetzt tun?« fragte Anca unsicher. »Wir wissen doch gar nicht, wem wir da helfen wollen. Vielleicht sind es Big Tom und seine Leute?« »O-oder Erwachsene?« Brim rieb nachdenklich sein Kinn. »Keine Angst, ich beschütze euch«, knurrte der kleine Oliver und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Ich mach' Frikadellen aus denen!« »Wir dürfen nicht überall gleich Gespenster sehen«, mahnte Harpo. »Immerhin sind dort Menschen, die Hilfe brauchen.« »Hier ist noch so 'ne schwarze Platte«, rief Karlie triumphierend dazwischen und legte seinen Daumen darauf. Sekundenbruchteile später wurde ein Spalt in der Wand sichtbar, der sich, wie der erste, rasend schnell vergrößerte und zu einem Eingang wurde. Neugierig reckten die Kinder die Köpfe vor. Enttäuscht sahen sie sich an, als sie entdeckten, daß die Öffnung nichts weiter freigab als eine enge, nackte Metallkammer. Aber Karlie, der Superkoch, ließ sich nicht aufhalten. Sein mittlerweile plattensuchgeübtes Auge hatte an der Wand der Kammer einen weiteren 81
Öffnungsmechanismus entdeckt. »Hinein«, sagte er und betrat die Kammer als erster. »Dies ist eine Art Flur - nein, das könnte auch eine Luftschleuse sein.« Ohne lange zu überlegen, legte er erneut den Daumen auf die neuentdeckte Platte. Eigentlich hatte er damit gerechnet, daß sich zunächst die hinter ihnen liegende Tür schließen würde. Normalerweise war dies auch so, wenn zwischen dem dahinterliegenden Raum und der Zentrale ein unterschiedlicher Luftdruck bestand. Das fanden sie später heraus. Da der automatische Türschließer jedoch registrierte, daß auf beiden Seiten die gleichen Druck- und Atmosphäreverhältnisse herrschten, gab er unmittelbar den Öffnungsimpuls für die zweite Tür frei. In dem Lichtspalt erschien ein Gesicht, das im ersten Moment genauso fassungslos und verdutzt aussah wie die Gesichter von Harpo, Anca, Ollie, Brim und Karlie. »Micel!« jaulte der kleine Oliver wie eine Sirene los. »Ihr?« staunte Micel. »Bei allen Planeten! Ich glaub', mich trifft der Psychoschlag!« »Thunderclap! Fidel!« jauchzte Ollie. »Fantasia!« kam das Echo von allen Seiten. »Pummelchen!« krächzte Lonzo. »Mein lieber kleiner Sonnenschein!« Für einige Minuten brach ein mittelschweres Chaos aus. Die Kinder fielen sich gegenseitig um den Hals und klopften sich begeistert auf die Schultern. Lucky gluckste vor lauter Glück still vor sich hin. Lonzo schlug einen Salto nach dem anderen und wedelte mit seinen Tentakeln. Nur mühsam konnten sie sich wieder beruhigen. Jetzt waren alle wieder beieinander. Micel und Thunderclap, Fidel und Fantasia, Lucky, Karlie, Harpo, Anca, Brim und der kleine Oliver. Nicht zu vergessen Lonzo. »Jetzt fehlt nur noch Trompo«, sagte Micel. »Wir haben ihn zuletzt auf Deck 27 gesehen. Wißt ihr, daß man uns überfallen hat und daß uns Lucky hierher transportiert hat und ...« »Langsam, langsam«, bremste Harpo Micels Redestrom. »Eins nach dem anderen. Wir haben Trompo gefunden und wissen von dem Überfall. Wo ist er denn? Er war doch eben noch bei uns ... Was hast du da eben von Lucky erzählt?« 82
»Trompo! Trompoooo!« riefen die Kinder. Die Türen hatten sich noch nicht wieder geschlossen, und so rannten einige von ihnen wieder in die Hauptzentrale des Raumschiffs zurück. Während Micel und Fidel zunächst einmal andächtig verharrten, als sie die Sternenkuppel sahen, suchten die anderen alles ab und ließen keine Ecke aus. Allerdings umsonst, denn das kleine Wesen Trompo war verschwunden! »Lucky hat euch hierhergebracht?« fragte Harpo inzwischen Thunderclap. »Wie das? Ich verstehe das nicht.« »Wir haben es zuerst auch nicht begriffen«, erläuterte Thunderclap Genius lächelnd. »Aber Micel hat seine Gedanken gelesen und herausgefunden, wie das kam. Lucky ist ein Mutant wie Micel. Aber er kann keine Gedanken lesen, sondern hat ein anderes Talent. Er kann sich selbst und andere Personen oder Dinge mit seinem Gehirn an einen anderen Ort versetzen! Wir wissen noch nicht, wie er das macht, und Lucky weiß es selbst am wenigsten, aber es hat funktioniert. Das können wir beschwören.« »Das ist ... phantastisch!« hauchte Harpo und klatschte in die Hände. »Unglaublich!« »Das meint Micel auch«, erwiderte Thunderclap. »Und Lucky scheint der erste Mutant zu sein, der so etwas kann. Nur schade, daß er dieses Talent nicht einsetzen kann, wann er will. Er hat rein instinktiv reagiert. Er sah, daß wir alle in Gefahr waren ... da versetzte er uns an einen sicheren Ort. Einfach so.« »Woher wußte er denn, daß dieser Raum sicher ist?« fragte Harpo und sah sich zum erstenmal bewußt um. »Keine Ahnung.« Thunderclaps Augen hefteten sich auf Harpos Gesicht. »Wir wissen auch nicht mehr, als ich dir eben e rzählt habe. Aber abgesehen davon, daß wir hier eingesperrt waren, haben wir eigentlich alles: Vorräte, eine Kochgelegenheit, ein Schwimmbecken ...« Der Raum war etwas kleiner als die Hauptzentrale, aber immer noch riesig. Am äußeren Rand befanden sich zehn oder mehr türlose, vom Hauptraum abgetrennte Kabinen, in denen Sessel, Schreibtische und Betten standen oder rätselhafte Instrumente aufgebaut waren. Die zum Wohnen und Schlafen gedachten Räume wirkten elegant und gleichzeitig urgemütlich. Der große Raum, in dem sich nun außer Harpo und Thunderclap niemand mehr befand, hatte wie ihr Deck 27 eine künstliche Sonne und auch sonst 83
Ähnlichkeit mit den Landschaften der anderen Decks. In der Mitte befand sich ein kleiner See, und darum herum wuchsen allerlei Pflanzen und kleinere Bäume. Der See lag tiefer, terrassenförmig angelegte Stufen führten nach unten. »Wie habt ihr die Tür gefunden?« fragte Thunderclap. »Wir haben selbst alles mögliche ausprobiert ...« »Es gibt da eine beinahe unsichtbare Platte ...«, murmelte Harpo geistesabwesend. »Sag mal, das sieht ja alles so echt aus ...« Er deutete auf die Pflanzen in der Umgebung. »Es ist auch echt«, erklärte Fantasia, die gerade aus der Zentrale zurückkam. »Das sind richtige Pflanzen, richtige Blumen - kein Ersatzzeug aus Plastik.« »Dann gibt es hier auch richtige Tiere?« fragte Harpo. Mittlerweile kamen auch die anderen aus der Zentrale zurück. Trompo war und blieb fürs erste verschwunden. »Richtige Tiere haben wir nicht gefunden«, sagte Fantasia. »Aber wir haben noch lange nicht alles erforscht. Es gibt hier so viele Türen. Sicher können wir davon ausgehen, daß irgendwo an Bord echte Tiere leben. Micels Frosch und Ancas Schlange sind sicherlich ausgerissen ...« »Macht euch lieber Gedanken darüber, wo Trompo geblieben ist«, forderte nun Anca. Nicht daß sie Angst um ihren kleinen Spielgefährten gehabt hätte - dafür war der kleine Elefant zu listig. Aber etwas komisch war es ihr doch, daß er so sang- und klanglos untergetaucht war. »Findet ihr nicht auch«, meinte Harpo, »daß er sich reichlich komisch benommen hat?« Er erzählte, wie Trompo ihnen den Weg nach Deck null gewiesen hatte. Als ob er genau gewußt hätte, daß sich die Vermißten hier oben befanden ... »Auch seine Stimme war so eigenartig«, fügte Karlie nachdenklich hinzu. »Ja«, stimmte Harpo zu. »Und beim Anblick des fremden Raumschiffes hat er sich erst seltsam aufgeführt.« »Was für ein Raumschiff?« echoten Thunderclap und Micel wie aus einem Munde. »Erzählen wir euch noch«, gab Karlie großspurig zurück. »Was denkt ihr wohl, was wir alles erlebt ...« 84
»Langsam, langsam«, stöhnte Harpo wieder. Seine Gedanken weilten noch immer bei Trompo. Er hatte sich wirklich sehr ungewöhnlich benommen ... Wußte er mehr, als er ihnen gesagt hatte? Deck null, die Hauptzentrale, das Plättchen des Türschließers, das fremde Raumschiff - all das konnte doch kein Zufall sein? »Aber zuerst müssen wir euch unsere Entdeckung zeigen«, forderte Micel. Da er längst die Gedanken der Freunde gelesen hatte, war er nicht mehr so scharf auf ihre Erklärungen. Weil er sonst schwerlich Ruhe geben würde, folgte ihm die ganze Gruppe in einen der kleineren Nebenräume. Stolz zeigte Micel auf einen langgestreckten Behälter, dessen obere Hälfte aus einem durchsichtigen Material bestand. Die untere Hälfte war mit rätselhaften Armaturen bedeckt. Die Kinder erstarrten. In dem Behälter lag ein nackter, erwachsener Mann mit langem rotem Haar. »Ist er ... tot?« brachte Harpo heiser hervor. »Nein.« Micel schüttelte den Kopf. »Ich spüre seine Gedanken. Erträumt von Dingen, die ich nicht verstehen kann. Er schläft seit mehr als drei Jahren!«
Fremde an Bord Der unbekannte schlafende Mann - an dessen Behälter ein Metallschild war hatte die Kinder so verwirrt, daß sie zwei Tage damit verbrachten, über ihn zu diskutieren. Thunderclap schlug vor, ihn aufzuwecken. Fidel war dagegen, aber man überstimmte ihn. Das Unterfangen erwies sich als sinnlos, weil der Mann sich nicht aufwecken ließ. Er war wie tot. Und doch atmete er, was man deutlich sehen konnte. Er schien die lautesten Geräusche nicht wahrzunehmen und zuckte mit keiner Wimper; selbst dann nicht, wenn Ollie sein markerschütterndstes Indianergeheul anstim mte. Schließlich gab man es auf und konzentrierte sich auf die anderen Bereiche von Deck null. Die Kinder hofften, doch noch irgendwo den verschwunde85
nen Trompo aufzustöbern. Aber auch diese Vermutung erwies sich als Trugschluß. Brim, Harpo und einige andere verbrachten eine Menge Zeit unter der Sternenkuppel, wo sie in den Ledersesseln Platz nahmen und ihre Blicke über die ewige Weltraumnacht schweifen ließen. Die kleinen Lichter auf den Armaturen und Konsolen flackerten periodisch auf, andere brannten ununterbrochen. Manchmal fingen die Ohren der Kinder das feine Klicken von eingebauten Relais auf, und dann begann eine Computerstimme monotone Zahlenkolonnen aufzusagen, mit denen niemand etwas anfangen konnte.Es war gespenstisch und herrlich zugleich im ständigen Dämmerlicht der Hauptzentrale. Das fand auch Harpo, der lange Zeit damit verbrachte, mit Thunderclap Genius vor den geheimnisvollen Schalttafeln zu sitzen, wobei er darüber Spekulationen anstellte, ob man es wagen könne, den einen oder anderen Schaltknopf zu drücken. Thunderclap war von dieser Idee allerdings weniger angetan, denn er wußte genau, daß zur Bedienung eines Raumschiffes eine Hundertschaft von Wissenschaftlern und Ingenieuren nötig ist. »Würde das Große Gehirn noch funktionieren«, gab er zu bedenke n, »sähe die Sache anders aus.« Dann könnte das Schiff von einem halben Dutzend Leuten bedient werden. Aber so ... Harpo war begeistert von den Kenntnissen des Freundes. Thunderclap konnte ihm leicht erklären, woher er das alles wußte: Erstens hatte er viel über Raumschiffe gelesen, und zweitens war einer seiner Vettern Ingenieur auf einem zwischen der Erde und den Jupitermonden verkehrenden Linienraumschiff. Dieser Vetter hatte Thunderclap viel beigebracht, wenn ihn sein Urlaub mal nach Hamburg führte. »Daß du aus Hamburg kommst, wußte ich gar nicht«, sagte Harpo überrascht. »Du hast doch einen englischen Vornamen ...« Thunderclap wischte die Anspielung auf seinen Namen sichtlich verlegen beiseite. »Das ist nur ein Spitzname«, meinte er nebenbei. Aus der Wohneinheit kamen die Geräusche eilig sich nähernder Schritte. Mit den Armen rudernd tauchte Karlie in der Zentrale auf, stieß sich den Kopf an der Türfüllung, fluchte erbärmlich und fragte: »He, seid ihr da irgendwo?« 86
»Hier, Karlie«, gab Thunderclap zurück. Er brachte seinen Rollstuhl in eine Position, in der Karlie ihn und Harpo sehen konnte. »Was ist denn los?« Karlie kam hastig näher. »Irgend jemand schleicht da rum«, flüsterte er geheimnisvoll. »Ollie und Fidel haben was gesehen. Drüben am See. Kommt ihr?« »Trompo?« fragte Harpo zaghaft. »Nicht Trompo.« Karlie schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Ahnung, wer das ist. Vielleicht ein Spion von Big Tom oder so was.« Thunderclaps Rollstuhl setzte sich in Bewegung. Eigentlich war es recht unwahrscheinlich, daß sich Big Toms Leute nach hier oben verirrt hatten. Die letzten Nachforschungen mit den teilweise noch funktionierenden Visiophonen der Hauptzentrale hatten ergeben, daß die andere Gruppe sich vor zwei Tagen im erst halb ausgebauten Deck 84 aufgehalten hatte, wo es auch ein Vorratslager gab. Der Wechsel vom Dämmerlicht der Zentrale in die strahlende Helligkeit der Wohneinheit von Deck null blendete die Jungen zunächst. Aber ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Umgebung. Die anderen hatten sich in der Nähe der Büros und Schlafräume versammelt und deuteten zum See hin. In dem Gebüsch kroch etwas herum. Aber was? Harpo fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Das Mädchen! Eilig erklärte er Thunderclap, um wen es sich handelte. Offenbar war ihnen das rotgekleidete Mädchen von Deck 27 gefolgt und hatte sich während der Nacht durch die leere Zentrale in den großen Raum vor den Wohnkabinen geschlichen. »Ist sie gefährlich?« fragte Thunderclap. Harpo verneinte. »Wir hatten bisher keinen Grund, das anzunehmen. Ganz im Gegenteil. Sie hat eher Angst vor uns, meint Karlie. Übrigens: Sie ist eine Erwachsene.« »Eine Erwachsene?« zischte Fidel entgeistert. Er biß sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. »Mach keinen Unsinn, Fidel«, warnte Thunderclap freundlich. »Sonst fahre ich mit meinem Feuerstuhl dazwischen!« Ollie sagte laut: »Das Fräulein ist krank, nicht, Harpo?« Er hatte auch erkannt, was Harpo schon vermutet hatte. 87
»Vielleicht. Wir wollen sie jedenfalls in Ruhe lassen. Dann kommt sie eines Tages ganz von selbst zu uns.« Thunderclap winkte die anderen zurück. Lonzo murmelte: »Sie hat eine rote Jacke an. Oh! Lonzo liebt rote Jacken!« »Hauptsächlich aber rote Krawatten und Sockenhalter.« Micel lachte gutmütig. Sie kehrten in die Zentrale zurück. Natürlich war es hauptsächlich reine Neugier, die sie dazu getrieben hatte, hinter der Unbekannten herzuspähen. Immerhin war es für alle sehr sonderbar, daß ein so großes Mädchen sich vor ihnen verbarg. In der heimeligen Atmosphäre der Zentrale wollten sie das neue Problem eingehender beraten. Aber dort wartete bereits eine neue Überraschung auf die Gruppe. Fantasia deutete plötzlich aufgeregt auf einen Bildschirm, den bis jetzt niemand hatte in Betrieb nehmen können. »Was ist das?« fragte Harpo. Das Visiophon war aufgeflackert, zeigte anstelle eines Bildes aber eine Leuchtschrift: MANNSCHLEUSE SÜDWEST III STOP ÖFFNUNGSVERSUCH VON AUSSEN STOP »Nanu?« fragte der kleine Oliver. »Was ist denn 'ne Mannsch-Leuse?« Die Augen der Kinder saugten sich an den flimmernden Buchstaben fest. Dann erschien eine neue Schrift: ÖFFNUNGSVERSUCH WIEDERHOLUNG STOP SICHERHEITSSYSTEM AN KOMMANDANT STOP NACH EINGEHENDER ÜBERPRÜFUNG DER CHECKLISTEN WURDE KEIN DEFEKT GEMELDET DER EINE AUSSENREPARATUR ERFORDERT STOP LOGISCHE SCHLUSSFOLGERUNG STOP ALLE MANN AN BORD STOP WEITERE SCHLUSSFOLGERUNG STOP UNBEFUGTER VERSUCH DAS SCHIFF VON AUSSEN ZU BETRETEN STOP. »Wißt ihr, was das zu bedeuten hat?« fragte Micel nervös. Niemand antwortete. Alle hielten den Atem an, denn die Schrift veränderte sich erneut.
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ÖFFNUNGSVERSUCH GELUNGEN STOP REGISTRATION STOP QOCD STOP QOCD STOP ERWARTE ANWEISUNGEN ERWARTE ANWEISUNGEN ERWARTE ANWEISUNGEN ... »Jemand hat das Schiff betreten«, brummte Thunderclap. »Das ist doch klar! Das Sicherheitssystem scheint also noch zu funktionieren, obwohl seine Informationen lückenhaft sind. Sonst hätte es wissen müssen, daß die ursprüngliche Besatzung sich längst in alle Winde zerstreut hat.« »Es teilt uns mit, daß jemand unbefugt eingedrungen ist«, wiederholte Harpo. »Kann es sich nicht irren? Ich meine, wenn es schon nicht weiß, daß wir allein hier sind ...« »Was ist 'ne Mannsch-Leuse?« krähte der kleine Oliver ruhelos dazwischen. »Nun erklär mir doch mal einer ...« »Eine Nebenschleuse«, gab Karlie von oben herab zurück. »Für Männer und Frauen. Nicht für Beiboote. Kapiert?« »Wenn sie auch für Frauen ist«, bohrte der Kleine weiter, »warum heißt sie dann nicht Frau-Schleuse?« Karlie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, obwohl ihm das Wort auch komisch vorkam. Atemlose Spannung und Nervosität machten sich jetzt breit. Wer waren die geheimnisvollen Eindringlinge? Ein Rettungstrupp von der Erde? War ein Bergungsschiff in der Nähe? Wollte man ihnen helfen? »Die Fremden ...«, flüsterte Brim Boriam plötzlich. Und dann schrie er laut: »Ja, klar! Die Fremden, die wir vor ein paar Tagen hinter der Kuppel gesehen haben. Sie sind zurückgekommen und ...« »Und?« echote Micel heiser. »Was führen sie im Schilde? Wollen sie unser Schiff kapern? Oder uns helfen? Sie ke nnen uns doch gar nicht ...« Diese Worte deprimierten die Gruppe ein wenig. Wer sollte ihnen helfen wollen, wo sie sich in einem völlig unbekannten Sektorder Milchstraße befanden? Wie mochten die Eindringlinge aussehen, die jetzt irgendwo da unten in den Korridoren herumkrochen? Welche Absichten mochten sie haben? Harpo erinnerte sich an die haarsträubenden Geschichten von Piraten und Freibeutern, die in der Vergangenheit die sieben Weltmeere der Erde unsi89
cher gemacht, jedes vorbeiziehende Schiff ausgeplündert und seine Besatzung als Sklaven nach Afrika und Amerika verkauft hatten. «Du bist verrückt«, lachte Thunderclap, als Harpo den anderen seine Gedanken vortrug, aber es klang nicht fröhlich, eher ein wenig ängstlich. Schweigend nahmen die Kinder auf den Ledersesseln Platz. Unentschlossen starrten sie auf die verschiedenfarbigen Blinklichter. Der Bildschirm hatte mittlerweile die Schrift gelöscht. Nun prangte auf ihm ein roter Blitz, und darunter stand in großen Buchstaben nur ein Wort: ALARM! »Wir können nichts tun«, murmelte Karlie in die Stille hinein. »Oder doch?« »Und ob wir was tun können!« erwiderte Harpo entschlossen. Federnd sprang er auf. »Zumindest können wir herausfinden, was sie vorhaben und wie viele es sind! Wenn sie böse Absichten haben, müßte es möglich sein, sie per Fernsteuerung irgendwo einzuschließen.« Rasch bildeten sie einen Stoßtrupp, der aus Micel, Harpo und Fantasia bestand. Thunderclap und die anderen blieben in der Zentrale zurück und aktivierten alle Bildschirme, von denen sie mittlerweile wußten, daß sie dazu dienten, Einblicke in die verschiedenen Decks zu gewähren. Fantasia, die ein Sprechfunkgerät gefunden hatte, blieb mit der Zentrale in ständiger Verbindung. Fidel hatte hinter der Kontrollarmatur Platz genommen, von der aus man einzelne Decks abriegeln konnte. »Fertig?« fragte Fantasia über Funk. Thunderclap sagte »Ja« und setzte einen Funkhelm auf. Da er von Elektronik einiges verstand, hatte er schnell herausgefunden, daß man sich mit Hilfe dieser Helme drahtlos verständigen konnte. Er schob das winzige Mikrofon, das an einer beweglichen Klammer am Helmrand befestigt war, vor den Mund. »Fertig!« Harpo, Micel und Fantasia verließen die Sternenkuppel und eilten zum Antigravschacht. Aus Fantasias Handfunkgerät drang die aufgeregte Stimme Thunderclaps, der ihnen jede Änderung übermittelte, die auf den von Fidel gesteuerten Visiophonen stattfand. »Bisher niemand im Bild ... Umschalten ... Deck 38 ... leer ... Deck 39 ... Deck 42 ... Dunkelheit ... kann nix erkennen ... Umschalten ...« 90
Harpo und seine Begleiter blickten in die Tiefe. Wenn die Eindringlinge durch eine Nebenschleuse an Bord gekommen waren, mußten sie diesen Schacht benutzen. Aber der Antigrav war tief, sehr tief. Die rote Beleuchtung, die verhinderte, daß einem schlecht wurde, wenn die Wände neben einem dahinflogen, trug nicht dazu bei, besonders viel zu erkennen. »Nichts zu sehen«, meldete Fantasia flüsternd. Micel konzentrierte sich. Zweifellos versuchte er die Gedanken der Fremden aufzufangen. »Na?« fragte Harpo ungeduldig. »Nichts«, gab Micel enttäuscht bekannt. »Sie sind noch zu weit weg. Der Schacht ist ja kilometertief.« Ein leises, kaum hörbares Summen ertönte. Ein warmer Luftzug strich über die Gesichter der Beobachter. »Achtung!« zischte Micel. »Der Antigrav ist jetzt in Betrieb«, gab Harpo schaudernd weiter. »Gib das weiter, Fantasia!« Thunderclap erwiderte »Verstanden!« und gab Fidel die Anweisung, besonders aufmerksam zu sein. Sie mußten unbedingt wissen, auf welches Deck die Fremden sich zuerst begaben. Auch die anderen Kinder - einschließlich Lonzo - saßen fiebernd hinter den Geräten. Mehr als zwei Dutzend Visiophone waren in Betrieb und übertrugen die unterschiedlichsten Bilder von den einzelnen Decks und aus den verwaisten Abteilungen. »Kannst du den Antigravschacht nicht reinkriegen?« forschte Anca nervös. »Nix zu machen«, tönte es aus Fidels Ecke. »Da gibt es keine Kamera!« Ganz unten im Schacht schien sich nun etwas zu bewegen. Harpo, Fantasia und Micel hielten den Atem an. Es sah nicht so aus, als wollten die Eindringlinge Deck für Deck abklappern. Sie kamen direkt zur Hauptzentrale! »Ja, wie kommt das bloß?« fragte der kleine Oliver. »Woher wissen die, daß wir hier oben sind?« »Potz Galaxis!« knarrte Lonzo, der die Meldung ebenfalls mitbekommen hatte. »Dann gehen ja unsere ganzen feinen Pläne den Bach runter!« »Pscht!« machte Anca beschwichtigend. Harpo und die anderen starrten angespannt in die Röhre. Langsam wurde ein Schatten sichtbar. Dann noch einer. Und ein winziger Punkt. 91
»Zurück«, ordnete Thunderclap an. »Es hat keinen Zweck. Die können wir nicht reinlegen. Wir können uns nur noch in der Zentrale verrammeln und darauf hoffen, daß sie den Türschließer nicht finden.« Rasch zogen sich Harpo und seine Begleiter zurück. Lautlos schloß sich das Schott der Hauptzentrale hinter ihnen. Mit klopfenden Herzen warteten sie in der Zentrale auf das, was nun geschah. Es dauerte nur fünf Minuten, dann merkten sie, daß von dem geschlossenen Schott ein warmer Luftstrom auf sie eindrang. Die Tür war offen! Und zwei dunkle Schatten kamen langsam auf sie zu ...
Die Weltraumärzte »T-t-trrrompo!« schrie Brim auf. Etwas Kleines wetzte über den Boden der Zentrale und sprang auf den Schoß des Jungen. Die beiden Schatten verharrten. Sie standen immer noch in e inem Bereich, der ein genaues Betrachten unmöglich machte. Aber ihre Umrisse wirkten menschlich. »Keine Angst«, piepste Trompo fröhlich. »Rettung naht! Ich bin zurückgekommen und habe Leute mitgebracht, die uns helfen werden!« Die vertraute Stimme des kleinen Wesens brachte es fertig, daß die Kinder ihre Blicke von den Neuankömmlingen abwandten und wild durcheinanderredeten. »Wer sind die Leute, Trompo?« »Woher kommen sie?« »Von der Erde?« »Oder von dem anderen Raumschiff etwa?« »Was ... wie ... warum ... weshalb?« So ging es eine halbe Minute lang, in der sich die Fremden nicht bewegten. Thunderclap setzte seinen Rollstuhl in Bewegung und fuhr auf die Männer zu. Erfreut streckte er ihnen eine Hand entgegen. Mit klopfendem Herzen begann er: »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind - Sir! Und Sie auch, Sir! Wir hatten Sie in unserer Angst schon für Raumpiraten gehalten.« 92
Die beiden Fremden lachten leise, wirkten dadurch aber keineswegs unsympathisch. Es war ein freundliches, offenes Lachen. Langsam kamen sie aus der Dunkelheit in die Zone, die dem Sternenlicht unmittelbar ausgesetzt war. »Erschreckt nicht«, lachte Trompo. »Es sind keine Menschen von der Erde.« Tatsächlich! Vor ihnen standen in silbernen, enganliegenden Anzügen zwei schlanke Gestalten, die kaum größer waren als Harpo. Sie besaßen zwei Arme und zwei Beine, zwei Augen, eine Nase, einen Mund und zwei Ohren - und doch waren sie irgendwie anders! Das Licht der Sterne ließ ihre Gesichtsfarbe bläulich erscheinen. Ihre Köpfe waren klein und hatten lediglich durch die hochaufragenden Stehkragen im Halbdunkel so groß gewirkt. Die Fremden waren völlig kahlköpfig; ihre Schädel glichen in der Form großen Birnen, deren schlanke Seite nach unten gerichtet war. Sie hatten winzigkleine, spitze Ohren und kugelrunde Augen. Als sie lächelten, konnten die Kinder ihr Gebiß sehen: Es erschien ihnen wie ein einziger fugenloser Zahn, der sich von einem Mundwinkel zum anderen zog. »Mannomann!« keuchte Karlie verblüfft. »Ist ja 'n dolles Ding!« stieß Harpo hervor. »Ich schnapp' sofort über!« verkündete Ollie mit großer Überzeugungskraft. Er stiefelte langsam an die abwartend verharrenden Fremden heran, begaffte sie von allen Seiten und meinte dann: »Könnt ihr mich verstehen, Leute? Ich bin Ollie - der Bräutigam von Pummelchen!« Wie auf Kommando begann alles zu lachen. Das Eis war gebrochen, denn selbst die beiden blauhäutigen Fremden, die kaum ein Wort von dem verstanden haben konnten, was der Kleine ihnen erklärt hatte, begannen sich amüsiert auf die Schenkel zu klopfen. Dann gingen sie reihum, drückten die teilweise schwitzenden Hände der Kinder und nahmen zwischen ihnen Platz, wobei Trompo von Brims Schoß zum Arm des ersten Ankömmlings wechselte und mit einer Erklärung begann, die manches verständlicher machte. Wie alle Kinder wußten, war Trompo weder ein Tier der Erde noch ein Roboter. Er war überhaupt kein Tier, sondern eine richtige Person. Sein G eburtsort lag auf einem Planeten mit einem so unaussprechlichen Namen, daß die Kinder ihn beim besten Willen nicht wiederholen konnten, ohne sich 93
die Zunge abzubrechen. Trompo war dort aufgewachsen. Eines Tages landete ein fremdes Raumschiff. Die Wesen an Bord des Schiffes erschienen ihm zunächst rätselhaft und seltsam. Sie gehörten zu einem Volk, das in der ganzen Galaxis für seine medizinischen Wundertaten berühmt war. Man nannte sie die Weltraumärzte. Die Mediziner wollten auf Trompos Welt nach Kräutern und Heilpflanzen suchen, aus denen man Medizin mixen konnte, denn sie vertrauten den natürlich gewachsenen Abwehrstoffen mehr als den synthetischen. Aber sie hatten wenig Glück, weil der Planet nur über ein karges Pflanzenleben verfügte. Dennoch gelang den Medizinern eine wichtige Entdeckung: Sie fanden heraus, daß Trompos Artgenossen die Fähigkeit besaßen, mit ihnen eine geistige Verbindung herzustellen, die man dazu verwenden konnte, eine neuartige Diagnose und Therapie zu entwickeln. Die Trompos fungierten in Verbindung mit den Weltraumärzten als Gesundheitsspione, die Krankheiten bereits im Frühstadium aufspürten und an die Ärzte meldeten. Viele Trompos wechselten daraufhin von ihrer Welt auf die Medizinschiffe der Weltraumärzte über, um dort als Helfer zu arbeiten. Trompo selbst hatte lange Jahre mit einem Arzt ein Team ge bildet. Bis dieser Arzt starb - mitten im Raum. Da sie allein auf einem kleinen Schiff lebten, ließ Trompo sich wochenlang dahintreiben und wartete darauf, daß ihm der lebensnotwendige Sauerstoff ausging. Schließlich kam doch noch Rettung. Ein irdischer Kurierflieger, der in diesem Sektor des Weltraums zu tun hatte, spürte das treibende Arztschiff auf. Er nahm Trompo mit zur Erde. Später gelangte Trompo bei einem Kurierflug an Bord des Raumschiffes der Kinder und verpaßte den Abflug seines Beschützers. Nach einigem Überlegen entschied er sich dafür, bei den Kindern zu bleiben. »Und weil wir uns gegenseitig auf einige tausend Kilometer Entfernung aufspüren können«, sagte Trompo und deutete auf seine still zuhörenden Begleiter, »wußte ich plötzlich, daß sie in der Nähe waren und daß ich von der Zentrale aus eine Verbindung zu ihnen herstellen konnte.« »Deshalb also hast du uns hier hinaufgescheucht«, sagte Harpo und nickte. »Wir dachten schon, du hättest Thunderclap und die anderen ausfindig gemacht.« 94
»Davon wußte ich nichts«, piepste Trompo entschuldigend. »Ich sah nur das sich entfernende Schiff der Ärzte und bin bald übergeschnappt. Ich wollte etwas tun. Nur, was? Zum Glück hatte das Schiff zwei Ärzte mit einem kleinen Beiboot ausgesetzt, die sich sofort an die Außenhaut unseres Raumschiffes hefteten und eine Einstiegsschleuse suchten.« »Die sie dann auch gefunden haben«, beendete Thunderclap. Ihm und allen anderen fielen Steine vom Herzen, die einige Zentner wogen. Immer deutlicher wurde ihnen bewußt, welches Glück sie hatten. Wäre der Kurierflieger nicht gewesen, hätte Trompo niemals an Bord gelangen können. Und ohne Trompo ... »Wie heißen unsere Herren Doktoren denn eigentlich?« wollte nun Anca wissen, als die beiden Fremden ein geflüstertes Gespräch miteinander begannen. »Der Große heißt Rcxyklj, der Kleine Fghrstl«, erläuterte Trompo lachend. »Da ihr das kaum behalten könnt, schlage ich vor, sie Robbie und Freddie zu taufen. Einverstanden?« Robbie und Freddie, die offensichtlich verstanden hatten, nickten freundlich. Micel sagte: »Ich kann ihre Gedanken lesen. Sie fragen sich, ob sie Thunderclap und Lucky helfen können.« Thunderclap horchte auf. Er hatte eigentlich längst alle Hoffnung begraben, als die Ärzte auf der Erde sagten, er würde niemals wieder laufen können. Micels Worte wirkten auf ihn wie ein Blitzschlag. »Meinst du ...«, begann er aufgeregt. Aber Micel hatte schon wieder den Gesichtsausdruck angenommen, den er immer hatte, wenn er las. Lucky, der nichts so richtig verstanden hatte, quetschte sich zwischen die beiden Fremden und bot ihnen Kaugummi an. Die Weltraumärzte bedankten sich, was Lucky noch mehr freute. Dann meinte Trompo: »Sie wissen noch nicht, ob sie was m achen können, aber sie schließen es nicht aus. Sie werden sich erst m al die defekten Geräte auf dem Schiff ansehen, um herauszufinden, was das Große Gehirn mattgesetzt hat. Wenn das Medizinerschiff wiederkommt - etwa in einer Woche, da es zu einem Noteinsatz gerufen wurde können sie mit der Reparatur anfangen.« Damit war die Versammlung beendet. Unter der Anleitung von Thunderclap, Micel und Trompo nahmen die Weltraumärzte ihre Arbeit auf. Diejenigen, die im Moment nichts zu tun hatten, verschwanden in ihren Wohn95
einheiten. Karlie stürzte sich zusammen mit Anca auf die Kochgeräte, um ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. »Ob die Herren Doktoren auch Kartoffelpuffer mögen?« fragte er grinsend. Harpo war einem Schlaganfall nahe, hielt sich die Nase zu und rannte zum See hinunter. Hier hatten sich bereits der kleine Oliver, Fidel, Lonzo und Brim Boriam versammelt. Unwillkürlich fiel Harpo das fremde Mädchen wieder ein. Wo steckte es? Hielt es sich immer noch zwischen den Sträuchern am Seeufer verborgen? Zu entdecken war allerdings nichts. Die Hände in den Hosentaschen versteckt, rannte er glücklich pfeifend durch die Gegend. Dann fiel ihm ein, daß es an der Zeit war, die Abenteuer ihrer Gruppe niederzuschreiben. Wenn sie eines Tages zur Erde zurückkehrten, würde es allerhand Wirbel geben. Vielleicht war es ganz wichtig, daß man sich die möglichen Fragen der Zeitungsund Fernsehreporter schon mal vorher überlegte und einige dazu passende Antworten niederschrieb. Noch immer fröhlich vor sich hin pfeifend suchte Harpo seine Unterkunft auf, eine kleine Kabine, in der es neben einem Bücherregal einen Schreibtisch mit einem Drehstuhl, einen Wandschrank, eine bequeme Liege und einige Fotos an den Wänden gab. Auf den Bildern waren Landschaften zu sehen, die es auf der heutigen Erde gar nicht mehr gab: grüne Wiesen, schwarzweißgefleckte Kühe, die verschlafen in das Objektiv des Fotografen glotzten, darüber ein strahlend blauer Himmel mit milchigweißen Wölkchen. Harpo setzte sich und zog Papier und Bleistift aus einer Schublade. Eine ganze Weile kaute er an dem Bleistiftende herum, weil ihm nichts Rechtes einfallen wollte. Ein Blick zur Seite zeigte ihm, daß die Kleiderschranktür nicht richtig geschlossen war. Ein Hemdsärmel lugte durch den Türspalt. Da Harpo keine Unordnung leiden konnte, stand er auf und öffnete den Schrank, um das Hemd richtig aufzuhängen. Er blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Vor ihm - ihm Schrank - stand das rotgekleidete Mädchen. Große blaue Augen blickten Harpo ängstlich an. Sie hatte beide Hände abwehrend erhoben, als erwarte sie, daß er auf sie einschlagen würde. »Nein«, sagte sie. »Nicht.« 96
Harpo machte einen Schritt zurück, ließ fahrig seine Arme baumeln. Was hatte sie denn? Warum hatte sie Angst? »Ich tu dir doch nichts«, sagte er beschwichtigend. »Komm doch raus. Ich heiße Harpo Trumpff. Und du?« Er machte eine einladende Bewegung und ging rückwärts zur Liege zurück, auf deren Fußende er Platz nahm. Das Mädchen sah ihn wohl eine Minute lang schweigend an, ohne sich zu bewegen. Ihm wurde ganz heiß. Wie sollte er sich verhalten? Er klopfte einige Male sanft mit der rechten Hand auf die Liege und sagte: »Setz dich doch. Du brauchst nicht im Schrank zu bleiben.« Innerlich dachte er: Mein Gott, warum kommt denn niemand und hilft mir? Das Mädchen machte einen zögernden Schritt aus dem Schrank heraus und sagte: »Ich ... habe ... Hunger.« »Du kannst was von mir haben«, sagte Harpo schnell und wollte zum in die Wand eingebauten Vorratsfach gehen. Sofort machte das Mädchen einen Rückzieher. Ich darf mich nicht so schnell bewegen, dachte Harpo. Sonst hat sie Angst. Langsam legte er ein Stück Brot und etwas Käse auf die Schreibtischplatte. Das Mädchen näherte sich zögernd und setzte sich vorsichtig auf den Drehstuhl. Hungrig begann sie zu essen. Als sie fertig war, blickte sie Harpo dankbar an. »Ich heiße Babs«, sagte sie schüchtern - und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. Harpo musterte sie ungeniert. Sie hatte ein hübsches G esicht, stellte er fest. Und sie war wirklich mindestens achtzehn Jahre alt. »Wo kommst du her, Babs? Warum hast du Angst vor uns?« Sie lächelte freundlich, antwortete aber nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht verstanden? Babs stand auf, betrachtete die Fotos an den Wänden und sagte: »Schön.« Harpo begriff. Babs verstand ihn wirklich nicht. Sie war so ähnlich wie Lucky. Sie konnte ihn nicht verstehen, weil mit ihrem Gehirn etwas nicht in Ordnung war. Ob die Weltraumärzte ihr helfen konnten? Zunächst mußte er ihr die Scheu vor der Gruppe nehmen und die anderen davon in Kenntnis setzen, daß ihnen von Babs keine Gefahr drohte.
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Die Erde sieht uns nicht wieder Vier Tage später. Die Weltraumärzte Robbie und Freddie hatten nach harter Arbeit die Hauptfehlerquellen des Großen Gehirns gefunden und beseitigt. Als erfahrene Raumfahrer besaßen sie neben ihren medizinischen Kenntnissen ein umfangreiches technisches Wissen. Denn nicht zum erstenmal machten sie die Erfahrung, daß manche ihrer Patienten nicht allein mit gesundheitlichen Problemen zu ihnen kamen. Wie sie herausfanden, war der Grund für das Versagen des Gehirns eine durchgeschmorte Leitung, die von der ursprünglichen Besatzung leicht hätte repariert werden können. Wieso die Besatzung derart in Panik geraten war und das Schiff aufgegeben hatte, blieb weiterhin ein Rätsel. Auf den einzelnen Decks begannen die Sonnen wieder aufzuleuchten. Knarrend setzten sich die Pumpsysteme in Bewegung und beförderten das Wasser in die dafür vorgesehenen Bachbette. Gurgelnd schössen die Fluten aus den Rohrleitungen. Auf den Decks mit ausgefallener Heizung wurde es endlich wieder warm. Thunderclap saß in der Hauptzentrale. Er hatte den Rollstuhl mit dem Sessel des Kommandanten vertauscht. Der halbkugelförmige Funkhelm gab ihm im Zwielicht des Raumes das Aussehen eines erwachsenen Mannes. An den übrigen Kontrollen: Micel vor den Beobachtungsgeräten, Brim an der Meteoritenkontrolle und Karlie an der Funkleitstelle, wo er dafür sorgte, daß alle Helmträger miteinander sprechen konnten, wo sie sich auch b efanden. Fantasia hatte mit Freddie und Robbie einen Posten als Astrogator übernommen und bestimmte mit den komplizierten Geräten die genaue Position des Schiffes. Trompo fungierte wieder als Dolmetscher. Thunderclap, der die Baupläne des Schiffes auf den Knien liegen hatte, gab Micel seine Anweisungen. Es galt nun, die noch an Bord befindlichen anderen Kinder aufzuspüren und mit ihnen Kontakt aufzunehmen. »Deck 12!« Nacheinander flammten die Bildschirme auf. Tiere hoppelten über Kunstlandschaften. Sanfte Winde wehten. Die Klimaanlagen funktionierten ebenfalls wieder. Auf diesem Deck lief alles bestens. 98
»Deck 13!« Micel bediente seine Geräte wie ein erfahrener Ingenieur. Robbie und Freddie hatten ihnen in einem Hypnoselehrgang alles beigebracht, was man wissen mußte, um ein Schiff von dieser Größe wenigstens einige rmaßen in den Griff zu bekommen. Automatisch spulte sich dieses Wissen jetzt ab. Gemeinsam inspizierten die Kinder über die Visiophone die einzelnen Decks. Erst als die Kameras die Basis der Grünen auf Deck 46 zeigten, sah Thunderclap zwei Mädchen und drei Jungen, die dort in Decken gehüllt auf dem Boden saßen. Sie machten einen m üden, hungrigen Eindruck. Thunderclap bediente einige Knöpfe. Seine Stimme dröhnte verstärkt durch die verborgenen Lautsprecher. Die eingemummten Kinder hoben erstaunt die Köpfe. »Hier spricht Thunderclap Genius von Deck 27«, sagte Thunderclap. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir sind in der Zentrale und bringen das Schiff wieder in Gang. Habt ihr noch etwas zu essen?« Eines der Mädchen schüttelte den Kopf. Die anderen schienen Thunderclaps Worte gar nicht verstanden zu haben. Sie waren bereits so schwach, daß sie nicht mehr aufnahmefähig für Botschaften schienen. »Bleibt wo ihr seid«, sagte Thunderclap. »Wir schicken ein Rettungskommando.« »Ich gehe schon«, rief Brim. »Anca, kommst du mit?« Sie nickte. Gemeinsam eilten sie zum Lift. Die nächsten Kinder entdeckten sie auf Deck 112. Es war eine Gruppe von zwölf Personen, unter denen sich auch Big Tom befand. Offensichtlich waren bereits einige seiner Leute abgesprungen und hatten sich selbständig gemacht. Thunderclap konnte sich einen kleinen Triumph nicht verkneifen, wenngleich er mittlerweile zu der Ansicht gelangt war, daß der Anführer dieser Gruppe für sein aggressives Verhalten wohl nichts konnte. »He, Tom!« rief er laut. Big Toms Kopf fuhr herum. Auch seine Leute spähten angestrengt um sich, ohne jedoch den unbekannten Sprecher zu entdecken. Thunderclap lachte. »Du kannst mich nicht sehen, Tom. Erinnerst du dich an mich? Ich bin Thunderclap Genius, der Junge mit dem Rollstuhl von Deck 27.« Big Tom zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Stoß in den Rükken versetzt. 99
»Wo bist du?« fragte er dann mit unsicher flackerndem Blick, wobei er sich langsam im Kreise drehte. »Wo hast du dich versteckt?« »Wir sind in der Zentrale«, informierte ihn Thunderclap kurz. »Deck null. Ganz oben. Wie geht es euch? Habt ihr genug zu futtern?« »Allemal«, erwiderte Tom. Irgendwie kam ihm die Sache nicht geheuer vor, das merkte man. Aber vor seinen Leuten wollte er sich keine Blöße geben. »Willst du was?« Thunderclap verneinte. Wenn es Big Tom gut ging, konnten sie sich erst einmal um hilfsbedürftigere Kinder kümmern. Sie fanden noch sieben Kinder in Deck 129, die offensichtlich erst jetzt festgestellt hatten, daß die dortigen Grünen ausgefallen waren, und sich kopfschüttelnd ü ber deren leblose Gestalten beugten. Auch sie wurden in aller Schnelle darüber informiert, was in den letzten Tagen geschehen war. Auf Deck 137 schließlich stießen die Kameras auf die restlichen acht Leute aus Toms Gruppe, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ihr Deck unterschied sich stark von allen anderen: Es war voller gläserner Behälter, in denen Fische schwammen, Terrarien, in denen Spinnen wimmelten und Schlangen umherkrochen. Und es gab eine Menge kleiner Käfige und Zwinger, in denen sich Hunde, Katzen und Mäuse tummelten. »Aha!« sagte Thunderclap. »Da haben wir den Platz, von dem die richtigen Tiere abgehauen sind.« Die Kamera zeigte zerbrochene Glasbehälter, in denen sich kein Leben regte. Aber die Temperaturanzeige gab an, daß es hier unten sehr warm war. Wahrscheinlich waren die acht Kinder deshalb hierher geflüchtet. Und sie versorgten die Tiere mit Futter, wie man später herausfand. Robbie, der Weltraumarzt, näherte sich Thunderclap und reichte ihm seine Berechnungen. Micel machte ein betroffenes Gesicht, als wisse er schon, was Robbie Thunderclap und den anderen mitteilen wollte. Trompo hüpfte mit einem Satz auf Thunderclaps Schoß und machte es sich inmitten der Schiffspläne gemütlich. Harpo bemühte sich, über Robbies Schulter zu spähen. Robbie sagte etwas, und Trompo übersetzte. »Das Große Gehirn funktioniert in fast allen Einheiten«, erklärte Robbie. »Bis jetzt sind noch außer Betrieb: die Grünen, die Abteilung der automati100
schen Baumaschinen — ihr wißt schon, in den Decks, die noch nicht ganz fertiggestellt sind - und der Schiffsantrieb.« »Und was bedeutet das?« fragte Harpo atemlos. Thunderclap klopfte auf die Lehne seines Sessels. »Ich hab' doch so was geahnt.« Er sah sich in der Runde um und er klärte dann: »Ohne Antrieb keine Kurskorrektur, ohne Kurskorrektur keine Drehung, ohne Drehung kein Rückflug, ohne Rückflug keine Erde!« Allen wurde nun schlagartig klar, daß sie die Erde so schnell nicht wiedersehen würden. Sie würden immer weiter ins All hinaustreiben, immer weiter, Jahre und Jahrzehnte, bis in die Unendlichkeit - oder ... »... oder bis wir in das Schwerefeld der Sonne geraten und in sie hineinfallen«, ergänzte Micel, der bereits Thunderclaps Überlegungen kannte. Harpo beschwichtigte: »Nun mal langsam, Leute. G enausogut können wir in das Schwerefeld eines Planeten gezogen werden, in eine Kreisbahn gehen und landen ...« »Landen? Mit diesem Kasten? Du spinnst wohl!« rief Karlie. »Aber mit einem Rettungsboot!« »Und wenn der Planet unbewohnbar ist?« »Und wenn und wenn ... Das wird er schon nicht sein«, versetzte Harpo und gab sich optimistischer, als er eigentlich war. Bittend fragte er Robbie: »Könnt ihr gar nichts machen? Ich meine, den Antrieb reparieren?« Trompo dolmetschte: »Leider nicht. Die verschmorte Leitung hat einen Brand entfacht, der wichtige Teile zerstörte, auch jene Zellen des Elektronengehirns, mit denen die Antriebselemente kontrolliert wurden. Da wir selbst einen ganz anderen Antrieb verwenden, verfügen wir auch nicht über passende Ersatzteile. Das Schiff wird weiter und weiter fliegen, bis es irgendwo abgestoppt werden kann. Aber - das Weltall ist riesig und das Schiff verhältnismäßig klein. Die Möglichkeit, daß es auf eine Sonne oder einen Planeten trifft, ist eine Milliarde zu eins.« Harpo stellte gar nicht erst die Frage, ob die Ärzte nicht Hilfe von der Erde herbeiholen konnten. Kein Mensch von der Erde war bisher so weit ins All vorgedrungen wie dieses Raumschiff mit den Kindern an Bord. »Können wir nicht mit euch kommen?« fragte Micel.
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»Könnt ihr keine Arztlehrlinge gebrauchen?« meinte der kleine Oliver. »Dann könnte ich mir meine Allergien vom Halse schaffen. Das wäre unheimlich günstig für die Kranke nkassen.« Robbie schüttelte traurig den Kopf. »Wir würden euch wirklich gern mitnehmen«, ließ er Trompo übersetzen. »Aber ihr könnt auf unserem Schiff nicht leben. Wir haben eine andere Atemluft als ihr. Ihr würdet ersticken. Oder wollt ihr euer ganzes Leben in einem Raumanzug verbringen, mit e iner Sauerstoffflasche auf dem Rücken?« »Und wieso könnt ihr dann in unserer Luft leben?« bohrte Harpo weiter. Das war ihm nun doch zu kompliziert. »Wir müssen auf vielen verschiedenen Welten arbeiten«, erwiderte Robbie. »Unsere Lungen sind durch operative Eingriffe in den unterschiedlichsten Atmosphären funktionsfähig. Diese Operationen werden im Kindesalter vorgenommen. Ihr seid dafür bereits zu alt, fürchte ich.« Es dauerte weitere drei Tage, ehe die Kinder sich wieder mit dem Thema ihrer Zukunft auseinandersetzten. Inzwischen waren sie in ihrer Wohneinheit auf Deck null nicht mehr allein: Bis auf die Mannschaft von Big Tom waren alle oben, und so wimmelte es in der Zentrale und den u mliegenden Räumen von Kindern. Auch Lori Powitz war dabei, das kleine Mädchen, das auf Deck 29 seinen Rucksack verloren hatte. Die Kleine war nett, nur hatte sie die Angewohnheit, sich immer dann mit dem Rücken zu den anderen zu setzen, wenn sie sich länger als drei Minuten nicht ausreichend beachtet fühlte. Harpo und die anderen konnten das nicht verstehen, denn Lori war ihnen allen sehr sympathisch. Dann tauchte das Schiff der Weltraumärzte wieder aus dem Dunkel der kosmischen Nacht auf. Es blinkte mehrmals. Der Kommandant nahm Funkverbindung mit dem Raumschiff der Kinder und Freddie und Robbie auf. Thunderclap hielt den Augenblick für geeignet, eine Entscheidung herbeizuführen. Zwei Kuriere wurden zu Big Tom hinuntergeschickt, um auch seine Gruppe zu informieren. Big Tom kam. Ehrfürchtig betrat er an der Spitze seiner Freunde die Sternenkuppel. Er hatte überhaupt kein großes Mundwerk mehr, sondern erschien beinahe schüchtern und ängstlich. Die Anwesenden setzten sich auf den Boden, weil es nicht genug Sitzgelegenheiten für alle gab. 102
»Ich eröffne die Konferenz«, quäkte Lonzo, der sich diesmal unbehelligt den Weg durch die Schar der einstigen Widersacher bahnte. Er war immer noch der einzige Roboter, der funktionierte. »Hauptverhandlungspunkt ist: Was bei allen Planeten der Milchstraße tun wir jetzt?« Seine lustige Formulierung löste die Stimmung etwas. Hier und da brachten Vereinzelte ein Lachen zustande. Thunderclap Genius führte mit Harpos Unterstützung in aller nötigen Breite aus, was die Weltraumärzte, die von Tom und seinen Leuten gebührend bestaunt wurden, herausgefunden hatten: daß es keine Möglichkeit gab, den Antrieb anzuwerfen, und daß Menschen an Bord des Arztschiffes nicht atmen konnten. Im Gegensatz zu Harpos und Thunderclaps Erwartungen schien das die meisten der Anwesenden nicht sonderlich zu stören. »Na und?« hieß es. Oder: »Dann steuern wir das Schiff eben selbst!« Oder: »Döskopp, das können wir doch gar nicht.« Oder: »Dann lernen wir es eben!« Harpo staunte. Er hatte damit gerechnet, daß einige in Tränen ausbrechen und verzweifelt sein würden. Und nun das? Beschämt gestand er sich ein, daß manche Kinder mehr Mut hatten als er selbst mit seinen sechzehn Jahren. Nachdem Robbie dargelegt hatte, daß es seinen Leuten möglich war, mit vom Arztschiff stammenden Ersatzteilen zumindest einige der Grünen wieder flottzumachen, stieg die Stimmung sogar noch an. Ein Junge aus Big Toms Gruppe erzählte, er sei mit einer Krankenschwester des Raumschiffs verwandt, die ihm berichtet hätte, daß die Grünen, wenn man sie mit der Steuerungsautomatik koppelte, das Schiff jahrelang allein steuern könnten. Die Abstimmung ergab, daß alle dafür waren, weiter auf dem Schiff zu bleiben, und zwar so lange, bis sich die Kinder selbst gut genug mit den Maschinen auskannten, um den Antrieb unter die Lupe zu nehmen. Und wenn bis dahin zwanzig Jahre vergehen sollten!
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Aufbruch zu neuen Planeten So etwa mochte es in der Hauptzentrale ausgesehen haben, als Harpo und seine Freunde noch im Tal der Wigwams spielten und die Erwachsenen das Zepter fest in der Hand hielten. Das vermutete Harpo jedenfalls mit einigem Stolz, als er sich u msah. Wirklich gesehen hatte er die Zentrale ja erst, als die Erwachsenen das Schiff bereits verlassen und die Kinder den Gewalten des Kosmos überlassen hatten. Harpo stand neben Thunderclap in der Mitte der Sternenkuppel und ließ wie der Junge im Rollstuhl seine blanken Augen über die pulsierenden Lichtketten huschen, die nun wieder über fast alle Instrumententafeln flitzten. Die Signallampen gaben derart viel Helligkeit ab, daß man sich beinahe geblendet fühlte. Das frühere Halbdunkel des riesigen Raumes war durch das Funkeln taghell erleuchtet. Über ihnen - oder unter ihnen, denn im Weltraum gibt es ja eigentlich kein oben und unten - breitete sich das glitzernde Sternenband der Milchstraße aus. Dieser Blick in die kosmische Unendlichkeit hinaus hatte nichts an m agischer Anziehungskraft verloren. Oftmals erwischte man den einen oder anderen, wie er gedankenverloren zu den Sternen hinausstarrte. Man mußte sich nur einmal vorstellen, daß dieses Licht seit Millionen von Jahren im Universum unterwegs gewesen war, bis es die Augen des Betrachters erreichte. Schließlich konnte es sich nur mit 300 000 Kilometern pro Sekunde bewegen, während die Sterne selbst mitunter so weit entfernt waren, daß ein Lichtstrahl Millionen von Jahren brauchte, um diese Entfernung zu durcheilen. Einige der ganz fernen Sterne gab es inzwischen vielleicht schon gar nicht mehr: Sie waren erloschen oder hatten ihre Energien im Zeitraum weniger Jahre als grell aufflammende Nova vergeudet. Aber ihr Licht würde noch eine halbe Ewigkeit lang im Kosmos scheinen. Harpo seufzte, als er diese weißen, grünen, blauen und roten Lichtpunkte sah. Jeder einzelne davon war eine Sonne, mal ferner, mal näher. Und viele davon mochten ein Planetensystem besitzen wie die Sonne der Erde. Eines Tages würde aus einem dieser Punkte ein feuriger Sonnenball werden. Und vielleicht würden sie dann ... 104
Aber bis dahin konnte noch viel Zeit vergehen. Die Kinder an Bord des Raumschiffes würden langsam erwachsen werden. Die hypnotische Lehrbehandlung durch die Weltraumärzte war eine gute Grundlage zum Studium der Fachliteratur an Bord. Sie würden wachsen und lernen. Sie würden mit der Zeit all das begreifen lernen, was ihnen jetzt noch verschlossen blieb. Irgendwann würden sie das Schiff von seinem Geradeaus-Kurs abbringen und es steuern lernen. Sie würden den Antrieb zünden und ihren eigenen Weg wählen. O ja, sie würden es schaffen. Vielleicht würden sie eines Tages sogar verstehen, weshalb man eine Handvoll Kinder in einem Riesenraumschiff sich selbst überlassen hatte. Weshalb die Erwachsenen das Schiff verlassen hatten ... Vielleicht würden sie den Erwachsenen sogar verzeihen. Langsam schweifte Harpos Blick über die Anwesenden. Die Weltraumärzte hatten gute Arbeit geleistet: Elf Grüne waren repariert und zur Steuerung des Schiffes umprogrammiert worden. Sie saßen vor den Kontrollen und überwachten die Schiffsfunktionen. Und wenn die Zeit für den Unterricht kam, dann lauschten die älteren Kinder - unter ihnen auch Harpo, Thunderclap, Karlie, Fantasia, Micel und Fidel - begierig den Erklärungen ihrer m aschinellen Lehrer. Sie lernten jedes Detail, das mit dem Schiff zu tun hatte, und erarbeiteten sich ein Gewebe aus theoretischen Grundlagen darüber. Schon jetzt kristallisierte sich heraus, daß bei einigen Kindern das technische Verständnis überdurchschnittlich ausgeprägt war: Daran, daß Fantasia einmal eine Spitzeningenieurin würde, zweifelte niemand mehr. Und Karlie hatte intensives Interesse an der Astrogation. Er würde einmal das Schiff lenken, kein Zweifel. Was Harpo betraf, so wurde er von der Versammlung für das Amt des Chronisten und Logbuchführers bestimmt. Man wußte, daß seine ganze Liebe den Büchern gehörte. Inzwischen schrieb er auch schon an der kurzen und turbulenten Geschichte des »Raumschiffs der Kinder« - das jetzt einen Namen hatte. »Ich finde es blöde, daß wir immer nur von dem Raumschiff sprechen«, beklagte sich Anca eines Tages auf einer Versammlung. »Laßt uns diesem ... diesem ... Eukalyptus-Bonbon endlich einen Namen geben!« Natürlich sah das Raumschiff nicht wie ein Eukalyptus-Bonbon aus, aber andererseits: Ein bißchen Ähnlichkeit hatte es vielleicht doch damit. Anca 105
wußte selbst nicht so genau, warum ihr gerade dieser Vergleich eingefallen war. Möglicherweise hatte sie auch ein wenig an Weltraumärzte und Medizin gedacht? Auf jeden Fall wurde der Name mit großem Hallo begrüßt. Und obwohl noch ein paar andere Vorschläge gemacht wurden - Harpo notierte gewissenhaft in seinem Protokoll: GALAKTIKUS, STELLARIS, MÜLLERCHENS BLECHDOSE und PARANOIA-EXPRESS -, war von Anfang an klar, daß Anca unfreiwillig den Taufnamen schon genannt hatte. Mit übergroßer Mehrheit entschieden sich die Kinder dafür, »ihrem« Raumschiff den Namen EUKALYPTUS zu geben. In einem feierlichen Taufakt wurde eine Flasche Champagner aus den Vorräten der Erwachsenen an der Säule des Steuerpults zerschlagen, und Harpo malte den Namen mit dicken, fetten Buchstaben in die Schiffspapiere: RAUMSCHIFF EUKALYPTUS. Die Weltraumärzte hatten sich, nachdem sie ihre Mission erfolgreich beendet hatten, wieder verabschiedet. Sie flogen einen Einsatz nach dem anderen und verfügten kaum über Freizeit. Sie waren froh, den Kindern geholfen zu haben. Nun konnten sie aus eigenen Kräften ihre Lage meistern. Die Anwesenheit der Ärzte war nicht mehr erforderlich. Andere Patienten an allen Ecken und Enden der Galaxis warteten auf ihre Hilfe. Bevor die Ärzte abflogen, untersuchten sie alle Kinder noch einmal gründlich auf Herz und Nieren. Brim Boriam wurde von ihnen für einen Schnellkursus ausgesucht. Er lernte hypnotisiert einige Geheimnisse der Weltraumärzte und konnte künftig in Zusammenarbeit mit Lonzo und den anderen Grünen ärztliche Hilfe leisten. Besonders gründlich wurden Thunderclap, Lucky und Babs von den Weltraumärzten untersucht. Aber es stellte sich heraus, daß die Medikamente hier im Weltraum für eine Behandlung nicht ausreichten. Vielleicht konnte man ihnen in der Zentralklinik auf dem Heimatplaneten der Ärzte helfen. Die Weltraumärzte verschwanden mit dem Versprechen, eine Botschaft an alle anderen Patrouillenschiffe zu schicken. In dem voraussichtlichen Zielgebiet der EUKALYPTUS sollten die Ärzte in einigen Monaten oder Jahren nach den Kindern Ausschau halten. Irgendwann würde man sich wiedersehen. Und dann sollte den dreien auf der Heimatwelt der Weltraumärzte geholfen werden. 106
Thunderclap fieberte schon jetzt diesem Moment entgegen, so fern er auch noch sein mochte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß die Ärzte Wort halten würden. Trompo war entgegen den Befürchtungen aller nicht mit den Weltraumärzten abgeflogen. Er hing inzwischen so sehr an den Kindern, daß er sich nicht von ihnen trennen mochte. Der Mann im Tiefschlaf, der auf den Namen Daniel Locke hörte, lag noch immer in seinem Behälter und regte sich nicht. Die Weltraumärzte hatten auch ihn untersucht und festgestellt, daß er an einer Krankheit litt, die sie nicht heilen konnten. Es war besser, wenn man ihn schlafen ließ. Wahrscheinlich war Daniel Locke gerade deshalb eingefroren worden, weil man ihm nicht helfen konnte und auf die medizinischen Fortschritte der Zukunft hoffte. Babs, das geheimnisumwitterte Mädchen aus Harpos Kleiderschrank, sprach so gut wie nie, war aber stets zur Stelle, wenn man Hilfe benötigte. Harpo hatte nachgeforscht: Ihr Name stand nirgendwo auf der Passagieroder Mannschaftsliste der EUKALYPTUS. »Vielleicht ist sie als blinder Passagier auf das Raumschiff gekommen«, vermutete Thunderclap. »Mag sein«, antwortete Harpo und zuckte mit den Schultern. »Oder sie hat uns einen falschen Namen genannt. Na, irgendwann werden wir das schon noch herausfinden.« Big Tom hatte seine ruppige Art noch immer nicht ganz abgelegt, aber er bemühte sich, den anderen Kindern ein echter Partner zu sein. Fidel nahm sich seiner besonders an, vielleicht deshalb, weil er eine ähnliche Entwicklung durchgemacht hatte und ihn deshalb gut verstehen konnte. Während Fantasia, Karlie, Harpo und Brim schon ziemlich deutlich sahen, welche Funktionen sie auf der EUKALYPTUS zu erfüllen hatten - was Karlie nicht davon abhalten konnte, so oft wie möglich seiner Kochleidenschaft zu frönen und immer wieder neue Kartoffelpuffer-Rezepte auszuprobieren -, versuchten die anderen, möglichst viel Wissen zu speichern. Das war ein ganz anderes Lernen, als sie es von früher her kannten. Sie lernten nicht deshalb, weil ein Lehrer, ein Erwachsener oder ein Grüner sie zwang, sondern weil sie wußten, daß dieses Wissen der Gemeinschaft an Bord diente. Es machte einfach auch Spaß, Grundgesetze der Elektrotechnik zu lernen und anschließend selbst eine Schaltung zu bauen. Wenn man dann in der 107
Zentrale die Lichterketten über die Schalttafeln huschen sah, verstand man plötzlich, wie alles funktionierte und was die Signalleuchten meldeten. Anca und der kleine Ollie hielten sich meistens bei den echten Tieren auf. Sie brachten ihnen Futter, säuberten die Käfige und studierten die Lebensgewohnheiten ihrer neuen Freunde. Anca bezwang sogar ihre Angst vor Schlangen und lernte dabei zum Beispiel, daß einige Tiere gar keine Schlangen waren, obwohl sie so aussahen. Eine Blindschleiche etwa konnte man unbedenklich anfassen. Sie fühlte sich weich und glatt an und konnte gar nicht beißen. Ein kleiner Dackel namens Moritz durfte bald seinen Käfig verlassen. Er tollte mit Trompo durch das Schiff und neckte ihn. Trompo ließ es sich gern gefallen und mimte Angst vor dem kleinen Kläffer. Seit der erfolglosen Schatzsuche waren aus Lucky und Lonzo die besten Freunde geworden. Sie stöberten auch weiterhin nach verborgenen Schätzen, und niemals zuvor hatte man Lucky derart viel lachen gehört wie jetzt. Sein rätselhaftes Talent, andere Leute und sich selbst von einem Ort zum anderen zu versetzen, schlummerte unter der Oberfläche seines freundlichen Gemüts. Brim, der nur noch selten stotterte, plante bereits eine Testreihe, um herauszufinden, wie man Luckys Begabung bewußt einsetzen konnte. Micel Fopp, der Telepath, wollte Brim bei diesen Versuchen so gut wie möglich helfen. Einstweilen wurde er nicht müde, die vielen neuen Freunde ausgiebig kennenzulernen. Für einen Menschen, der Gedanken lesen konnte, war das sicherlich ein noch größeres Abenteuer als für alle anderen Leute. So haben wir unsere Freunde noch einmal Revue passieren lassen. Der letzte Blick aber, den wir in das immer noch führerlose Raumschiff EUKALYPTUS werfen, gilt Thunderclap Genius, dem Jungen im Rollstuhl. Wir sehen ihn vor einem Bildschirm sitzen und auf einen blaugrünen Stern starren. Täuschen wir uns, oder ist dieser Stern in den letzten Wochen tatsächlich größer geworden? Wir blicken auf Thunderclaps Gesicht. Seine Augen haben sich verengt, und mitten auf der Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Er hat es also auch gemerkt. Ja, kein Zweifel. Das Raumschiff EUKALYPTUS nähert sich e iner fremden Sonne.
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Zweiter Teil
Planet der Raufbolde
»Land« in Sicht! Harpo Trumpft tauchte auf. Prustend durchbrach er den Wasserspiegel des künstlich angelegten Sees und warf mit einer raschen Drehung das klatschnasse Haar aus der Stirn. Dabei entdeckte er eine Bewegung am Rand des Sees. Er sah gerade noch, wie die Gestalt eines Mädchens im farbigen Gewirr des Plastikdschungels verschwand. »He, Babs, warte!« rief er und watete tropfend ans Ufer. »Warum läufst du denn weg? Komm lieber ins Wasser!« Doch das achtzehnjährige Mädchen im roten Jeansanzug schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Sie glitt geschickt und lautlos wie ein Indianer zwischen den synthetischen Sträuchern und Büschen dahin, zielstrebig wie auf der Pirsch nach einem Geheimnis. Hatte sie vielleicht etwas gehört, etwas entdeckt, das neu und ungewöhnlich war? Aber nein, dachte Harpo, der ein paar Monate lang bei diesem Gedanken eine Gänsehaut bekommen hätte. Doch nicht auf der EUKALYPTUS. Schließlich lebten sie in einem Raumschiff und nicht in einem der wenigen Urwälder, die es angeblich noch in irgendwelchen fernen Ecken der Erde gab. Das Raumschiff EUKALYPTUS war von seinen Besatzungsmitgliedern verlassen worden, nachdem es durch eine rätselhafte Katastrophe zunächst aus der Erd-Umlaufbahn ausgebrochen war und dann in die Tiefen der Galaxis geschleudert wurde. Nach einigen bangen Tagen der Ungewißheit befand es sich inzwischen völlig unter der Kontrolle der Kinder, die eigentlich nur zur Erholung an Bord waren. Unterstützt wurden sie bei den schwierigen Aufgaben durch die Grünen - wie sie die grünbepelzten Roboter nannten - und das Große Gehirn, einen riesigen Computer, der alle Funktionen des Schiffes koordinierte. Und da die Erwachsenen das Schiff fluchtartig aufgegeben hatten, konnte es niemanden mehr an Bord geben, den die Kinder nicht kannten. 111
Babs war immer etwas schwierig gewesen, aber sie floh schon längst nicht mehr, wenn sich Kinder näherten. Was mochte sie wohl veranlaßt haben, bei seinem Auftauchen das Weite zu suchen? Ohne sich abzutrocknen, glitt Harpo in seine bereitliegenden Kleider. Er war jetzt bald sechzehn Jahre alt, und beim Anziehen stellte er fest, daß die Hosen wirklich immer enger und kürzer für ihn wurden. Er mußte langsam zu wachsen aufhören, wenn er nicht so groß wie sein Freund Karlie Müllerchen werden wollte, der mit seinen fünfzehn Jahren schon weit über zwei Meter maß. Auch die Haare trocknete er nicht erst ab, sondern rannte gleich los. Noch konnte er an den sich bewegenden Blättern erkennen, welchen Weg Babs nahm. Sie gab keinen Laut von sich. Sie sprach sowieso nur selten, und wenn doch einmal, dann nur wenige Wörter. Aber sie verstand sehr gut, wenn man sie etwas fragte. Nach Luft schnappend eilte Harpo dem Mädchen durch das Dickicht von Deck 41 hinterher. Hierher kamen nur die ganz begeisterten Schwimmer, seitdem die ehemalige n Bewohner des Decks in die Zone null umgezogen waren. »Was ist denn los, Babs?« fragte Harpo, als er sie eingeholt hatte. Unwillkürlich sprach er ganz leise, als er den bewußt geheimnisvollen Blick des Mädchens auffing. Babs war stehengeblieben und legte lauschend den Kopf schief, so daß ihr linkes Ohr fast die Schulter berührte. Jetzt legte sie den Zeigefinger an die Lippen und sah Harpo in die Augen. Sie hatte schöne Augen mit eisblauer Iris, aber irgendwie wirkte ihr Blick geistesabwesend. Harpo hatte noch immer nicht herausgefunden, wie Babs an Bord des Schiffes gelangt war. Ihr Name stand weder auf der Liste der Patienten noch der des medizinisch-pädagogischen Personals oder der Astrogatoren und Techniker. »Dort!« sagte sie plötzlich und zeigte auf die grüngestrichene Deckwand, die vor ihnen aufragte. Harpo starrte die Wand an. An verschiedenen Stellen war der Anstrich bereits fleckig geworden. Er verstand nicht, was Babs meinte. Wieder tasteten seine Blicke nach der Wand, aber dann streiften sie das Stück Boden davor. 112
Die künstlich aufgeschichtete Erde unmittelbar zu ihren Füßen war eingestürzt. Wie es oft im Leben vorkommt, hatte Harpo das Wichtigste, das u nmittelbar vor seiner Nase lag, nicht b emerkt: Der Erdboden vertiefte sich zu einem etwa zwei Meter abfallenden Hohlweg, der genau auf die Schiffswand zuführte. Offenbar hatte es hier einen das ganze Deck durchziehenden unterirdischen Gang gegeben. Er mußte durch die Erschütterungen beim Verlassen der Erd-Umlaufbahn eingestürzt sein und gab nun eine runde Schleusentür frei. Die Tür war leicht geöffnet und bewegte sich zaghaft in den Angeln, weil der Luftzug der kräftigen Deckventilatoren dagegenhielt. Klick, ging es. Klick, klick, klick. Erschreckt machte Harpo einen Schritt rückwärts. Das war ja beinahe so unheimlich wie in alten Schlössern, in denen Geister spukten. Hatte Babs dieses Klicken knapp an der Hörgrenze des menschlichen Ohres über die weite Entfernung gehört? Dann mußte sie wirklich über ein phänomenal gut funktionierendes Gehör verfügen. »Was ist das?« fragte er. Zögernd ging er näher, als er keine Antwort erhielt, und spürte instinktiv, daß Babs folgte. Zum erstenmal sah er mit eigenen Augen, daß es noch a ndere Ausgänge als die Schächte des Antigravliftes auf den Decks gab. Aber dann fiel ihm die allererste Begegnung mit Babs ein. Auch damals war sie vielleicht durch einen ähnlichen Gang gekommen, als er mit Anca gerade die geheimnisvollen Räume jenseits der Deckwand durchsuchte. Eine Weile ertrug es ein Junge wie Harpo ganz gut, von Dingen umgeben zu sein, die er nicht immer auf Anhieb verstand. Aber wenn das Kopfzerbrechen allzu große Ausmaße annahm, begann er zu handeln. Aus einem plötzlichen Entschluß heraus sprang er in den Hohlweg hinab und näherte sich vorsichtig, aber nicht ängstlich jener Schleusentür. Sie war gerade groß genug, einen Menschen hindurchzulassen. Ein vor der Tür angebrachtes Metallschild zog seine Aufmerksamkeit auf sich: 14- C NUR FÜR TECHNISCHES PERSONAL NOTEINSTIEG BEACHTEN SIE DIE SICHERHEITSVORKEHRUNGEN 113
Babs sagte: »Wohin, Harpo?« Ihre Stimme klang wie die eines Mädchens von höchstens elf Jahren. Und doch schien sie nicht ängstlicher zu sein als bei ganz harmlosen Gelegenheiten, wenn sie leicht zusammenzuckte, weil sich jemand schnell bewegte oder laut redete. »Bloß mal nachsehen«, gab Harpo über die Schulter zurück. Er wußte zwar nicht, welche »Sicherheitsvorkehrungen« zu beachten waren, aber er hatte nicht die Absicht, wieder hinauszuklettern, ohne zuvor einen Blick hinter die Tür geworfen zu haben. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Da hast du vielleicht eine ganz tolle Entdeckung gemacht, Babsie. Komm doch, dann schauen wir gemeinsam nach, was hinter der Tür steckt.« Babs schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie keine Lust, sich auf Ungewisse Abenteuer einzulassen. Harpo zuckte mit den Schultern und tastete sich vorwärts. Dann glitt er durch die Schleusentür, die sich spielend mit einem Finger öffnen ließ. Dahinter lag ein winziger Raum. Harpo entdeckte sofort eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Wand. So ähnlich sah auch die Luftschleuse vor der Zentrale aus. Es gab unbekannte und verwirrende Knöpfe, mit deren Hilfe die Tür elektronisch zu öffnen war, aber Harpo versuchte es ganz einfach an dem Handrad, das wohl für Notfälle vorgesehen war. Zuvor hatte er sich davon überzeugt, daß die beiden Zeiger der Luftdruckmesser deckungsgleich waren. Er mußte also keine Angst haben, daß sich auf der anderen Seite das lebensfeindliche Vakuum des Weltalls befand. Einen Moment lang rieselte ihm trotzdem ein kalter Schauer über den Rücken. Es könnte ja sein, daß die Instrumente nicht mehr korrekt a nzeigten oder daß ... Entschlossen drehte er weiter, bis die Metalltür knarrend aufsprang. Licht flackerte im gleichen Moment auf und übergoß ihn so unerwartet, daß er die Augen mit den Händen bedecken mußte und mühsam zwischen den Fingern hervorlugte. Er atmete schwer, sein Brustkasten hob sich wie nach einem anstrenge nden Hundertmeterlauf. Schließlich hatten sich seine Augen auf das Licht eingestellt und meldeten ihm die ersten Bilder. Er befand sich in einem so großen Saal, wie er ihn niemals zwischen den Decks und der Schiffsaußenhaut vermutet hätte. Spä114
ter erfuhr er, daß der Raum 140 Quadratmeter umfaßte und »Hangar« genannt wurde. Seine Metallwände wirkten kalt und steril, weil es niemand für nötig gehalten hatte, ein paar Farbtupfer daran zu verschwenden. »Hangar« war ein Wort, das er in diesem Moment noch nicht kannte, aber als er die drei Objekte vor sich in den hydraulischen Docks liegen sah, begriff er sofort, daß dies so etwas wie eine Garage für kleine Raumfahrzeuge war. Unwillkürlich stieß er einen spitzen Jubelschrei aus. Kein Zweifel! Das waren Gleitboote, die langgezogenen, schnittigen Automobilen glichen, aber eine Kuppel aus durchsichtigem Glas oder Kunststoff als Fahrerkabine hatten. Kurze Stummelflügel zeigten, daß sie für Flüge innerhalb der Atmosphäre geeignet waren. Harpo selbst hatte solche Boote schon im Fernsehen bewundert. Von Thunderclap Genius wußte er außerdem, daß diese Miniatur-Raumschiffe beinahe narrensicher bedient werden konnten, da sie mit dem Steuersystem des Großen Gehirns verbunden waren und kein geschultes Bedienungspersonal erforderten. Nur für den Fall, daß auch der Zentralcomputer des Raumschiffes ausfiel, war eine Handsteuerung vorgesehen. Diese Probleme hatten sie nicht. Wenn Thunderclap sich nicht irrte, gab man die gewünschten Befehle einfach über das Mikrofon an den Computer, der sie in elektrische Impulse umwandelte und daraus einen Lichtstrahl modulierte, an dem das Boot sich vorwärtsbewegte. Das alles geschah ohne einen meßbaren Zeitverlust. Harpo erinnerte sich, daß Lonzo von solchen Beibooten der EUKALYPTUS erzählt hatte. Die Schwierigkeit war nur, daß man bei Lonzo nie so genau wußte, ob er die Wahrheit sagte oder sich eine kleine Lügengeschichte ausgedacht hatte. Aber mit S icherheit besaß er keine Informationen über den Standort der Boote. Nun, die hatte jetzt Harpo. Am liebsten hätte er sich ja gleich in eines der Boote gesetzt. Und warum eigentlich nicht? Von Entdeckerdrang beseelt, umkreiste er die schnittigen Flitzer. Durch eine geöffnete Luke enterte er nach kurzem Zaudern schließlich eines der Gleitboote und tauchte unter der Glaskuppel wieder auf. Fasziniert ließ er seinen Blick über die bequeme Inneneinrichtung schweifen. In den Polstern hatten sicherlich vier oder fünf Leute Platz, ohne daß sie sich mit den Ellbogen allzusehr ihren Freiraum erkämpfen mußten. 115
In Harpos Fingern kribbelte es vor Aufregung. Er hatte Lust, diese wunderbaren Dinge zu berühren, war aber intelligent genug, es zu unterlassen, solange er nicht wußte, welchen Schaden er damit anrichten konnte. Die gepolsterte Sitzbank, kreisrund und direkt an den Wänden des Fahrgastraums befestigt, beherrschte das Bild. In der Mitte erhob sich ein kunststoffverkleideter, meterhoher Monolith, in dessen Oberfläche eine Tastatur mit verschiedenfarbigen Schaltern eingelassen war. Dann entdeckte Harpo die Bedienungsanleitung der Schaltung. Sie lag unübersehbar auf einem der Polster. In mehreren Sprachen wurde erklärt, welche Funktionen die einzelnen Schalter hatten. Vorsichtig probierte Harpo sie aus. Zuerst verdunkelte sich die Glaskuppel zu einem undurchdringlichen Schwarz, dann flammte die Bordbeleuchtung in einem beruhigenden Rot auf. Harpo testete Heizung und Klimaanlage und stellte fest, daß alles einwandfrei funktionierte. Schließlich erwischte er den Knopf, der die Verbindung mit der Hauptzentrale der EUKALYPTUS herstellte. »He!« hörte er Karlie Müllerchen überrascht ausrufen. »Beim feurigen Kometenschweif! Was ist das für ein Leuchtzeichen?« Karlie hielt im Moment die Funkleitstelle auf Deck null besetzt und sorgte dafür, daß alle Abteilungen zu jederzeit miteinander sprechen und Informationen austauschen konnten. »Na, rat doch mal«, forderte Harpo ihn auf und hatte Mühe, ein helles Lachen zu unterdrücken. Karlie erkannte seine Stimme sofort. »Harpo? Wo steckst du denn? Ich habe dich auf einem Funkkanal, der bisher völlig tot war!« Aus seiner Stimme klang grenzenlose Überraschung heraus. Thunderclap Genius, der wohl auch gerade in der Zentrale hockte, schaltete sich in das Gespräch ein: »Harpo, wir haben eine ungeheure, gewaltige, sensationelle, noch nie dagewesene Entdeckung gemacht! Wir sind nämlich auf dem allerbesten Weg, in wenigen Wochen ...« »Moment, Moment«, unterbrach ihn Harpo, der sich so schnell die Fäden nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. »Was immer ihr an guten Nachrichten habt - ich habe b estimmt noch bessere.« Und jetzt spuckte er es aus. »Wißt ihr, was ich ... oder besser Babsie ... oder vielmehr, was wir zusammen ... Also, hört ihr überhaupt zu, ganz genau zu? Setzt euch alle hin, obwohl es nicht viel helfen wird, denn das haut euch gewiß vom Hocker. Wir 116
haben - die - Gleitboote!« »Waaaaas?« kam ein vielstimmiges Echo, an dem außer Thunderclap und Karlie wohl auch noch einige andere beteiligt waren. »Na hör mal«, schimpfte Karlie, »warum sagst du uns das eigentlich erst jetzt?« Wie ein Sturzbach ergoß sich Harpos Bericht über die Lautsprechersysteme in die Hauptzentrale und ging von dort aus rasend schnell von Mund zu Mund. Er nahm sich natürlich Zeit mit seiner Erzählung und schmückte die Forschungsreportage mit allerlei Details aus, die den Zuhörern buchstäblich die Haare zu Berge stehen ließen. »... und als ich die grauslich quietschende Tür am Ende des modrig riechenden Gangs aufstieß und der unheimlich finstere Raum vor mir lag, hämmerte mein Herz bis zum Halse hinauf, und meine Knie zitterten, und dann sah ich sie vor mir, drei Stück und bestens in Schuß ...« Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihe der Zuhörer. Harpo schwieg, erschöpft von der langen Rede und den vielen Flunkereien. Glücklich schwelgte er bereits im voraus in den kommenden Ehrungen, die ihm sicherlich zuteil werden würden. Aber er wartete vergebens auf Lobeshymnen. Vielmehr drang ein verhaltenes Kichern an seine Ohren. Thunderclap knurrte daraufhin jemanden an und sagte rasch: »Im Glanz deiner Entdeckung verblaßt unsere Beobachtung natürlich, Harpolein. Aber du solltest trotzdem eiligst mit Babs heraufkommen und sie dir ansehen!« Wenn Thunderclap derart untertrieb, dann mußte etwas Besonderes geschehen sein. Harpo stieg flink aus dem Boot, eilte den Weg zurück und ließ sich von Babs aus der Grube ziehen. Er streichelte ihr dankbar die Wange, nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr zum Antigravlift. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, daß sein Vollbad umsonst gewesen war, denn er schwitzte wie ein Braten auf dem Grill. In der Zentrale wurden sie von der gesamten Besatzung der EUKALYPTUS erwartet, darunter Lonzo, der Roboter, Thunderclap mit einem erwartungsvollen Lächeln und blitzenden Augen, Brim Boriam, der »Arztlehrling«, und Lucky Cicero, der mongoloide Junge mit der Fähigkeit der Teleportation. »Siehst du den Stern dort hinten?« fragte Thunderclap pfiffig. Er 117
streckte die Rechte aus und deutete auf einen blaugrünen Punkt, der sich deutlich im Licht der zahllosen Sonnen hinter der Sternenkuppel abzeichnete. Harpo nickte. Was der bloß wollte? »Klar, aber ...« Die kleine Lori Powitz kicherte. Jetzt wußte Harpo auch, wer das vorhin gewesen war. »Sieh ihn dir genau an, Harpolein«, platzte sie dazwischen. »Fällt dir nichts auf?« Fiel ihm etwas auf? Eigentlich nicht. Oder war der Stern vielleicht etwas heller und auffälliger geworden? Schwer zu sagen, fand Harpo. Unsicher kratzte er sich am Kinn und verzog abschätzend das Gesicht. Daniel Düsentrieb würde jetzt sicher eine Tausend-Watt-Birne aufgehen, aber ihm leuchtete nicht einmal eine Kerze. »Mit bloßem Auge«, unterbrach Thunderclap das Schweigen in gnädigem Tonfall, »kann man es auch gar nicht erkennen, hi, hi!« Karlie Müllerchen baute seine Riesengestalt vor Harpo auf. Er hatte wie kein anderer Wissen über Astrogation in sich hineingefressen und war schon wie ein alter Hase in der Lage, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sein Kinn zuckte vor Erregung, und die dünnen Haare seines spärlichen Bartes, der ihm trotz seiner Jugend bereits wuchs, wippten hin und her. »Diese blaugrüne Sonne«, meinte er mit seiner kieksenden Stimme, »der wir den Namen Archimedes gegeben haben, kommt näher. Besser gesagt: Wir nähern uns ihr, jeden Tag, jede Stunde. Und in vier Wochen werden wir sie erreicht haben!« Peng! Harpos Kinnlade klappte nach unten. Im gleichen Moment setzte ein Jubel e in, der die Hauptzentrale vibrieren ließ. Die anderen kannten die Neuigkeit ja längst und hatten nur nichts verraten, um Harpos Verblüffung voll auszukosten. Aber sie hörten die gute Nachricht natürlich gern ein zweites Mal und führten wahre Freudentänze auf. Big Tom kletterte auf Fidels Schultern und tätschelte dem Riesen Karlie den Hinterkopf, während Lonzo an der Spitze einer Gruppe von b esonders Übermütigen vorführte, wie die sage numwobenen australischen Känguruhs früher durch die Lande gehüpft waren. All die Sterne am Himmel waren Sonnen, nur leider unerreichbar fern. Wenn sie sich nun einem dieser Sterne näherten, dann hieß das nichts ande118
res, als daß wahrscheinlich auch Planeten, die diese Sonne umkreisten, in ihre Reichweite kamen. Und das bedeutete ... »Wir können uns in richtigem Gras wälzen«, krähte Ollie. »Und frische Luft atmen!« fügte Micel hinzu. »Und Wasser aus einem Bach schlürfen!« »Und Berge besteigen!« »Und in einem Meer baden!« Thunderclap Genius wandte sein Gesicht langsam wieder der gläsernen Kuppel zu, die sich über der Hauptzentrale spannte. Harpo sah, wie sich die Lippen des Freundes lautlos bewegten. Er konnte zwar nicht hören, was er in diesem Moment sagte, aber er konnte es sich denken. Wir kommen! Wir kommen! Wir kommen!
Planet Nordpol, bitte melden! Die nächsten drei Wochen, in denen die Mannschaft mit ungewohnter Emsigkeit Zukunftspläne schmiedete, vergingen wie im Flug. Kein Tag verstrich, ohne daß sich nicht Gruppen zusammenfanden, die sich stundenlang über alle nur denkbaren Einzelheiten einer möglichen Landung die Köpfe heiß und die Stimmbänder lahm redeten. Einige besonders verwegene Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS gingen noch weiter, etwa der kleine Ollie. Dessen stille Liebe war es, Listen anzulegen, seitdem er einmal einen Stapel alter Formulare in den Verpflegungskammern gefunden hatte. Und so begann er damit, eingehende Organisationspläne aufzustellen, die im Endeffekt darauf hinausliefen, daß er auflistete, was er alles auf den Planeten mitzunehmen ge dachte. Seine allererste Liste sah so aus: 1 Lederhose (Eigentum), gut erhalten 2 Bälle (von Lori ausleihen), möglichst bunte 1 Dingsbums zum Spielen (Trompo), sehr lieb 1 Dackel (Moritz), auch sehr lieb Natürlich verwarf er seine Liste jeden Tag aufs neue, um sie dann wenig später in abgewandelter Form erneut zu Papier zu bringen. Für seine Arz119
neien legte er sich weitere Speziallisten an, die laufend e rgänzt wurden, weil ihm immer neue Übel einfielen, gegen die man sich wappnen mußte. Fantasia Einstein, ein sensibles, rothaariges und immer nervöses Mädchen von fünfzehn Jahren, das starke Fähigkeiten im technischen Bereich zu entwickeln begann, programmierte das Große Gehirn, jenen Computer, der die EUKALYPTUS steuerte und auch sonst alle Anlagen fehlerlos bediente. Seit dem Eingriff der Weltraumärzte arbeitete er zu 98 Prozent wieder, und mehr konnte im Moment niemand verlangen. Wie sich herausgestellt hatte, war die Denkmaschine wie die Roboter fähig, mit einer dem Klang des menschlichen Organs täuschend nachgemachten Stimme zu sprechen. Und so kam es, daß die Kinder, wenn sie den Erklärungen lauschten, manchmal meinten, es mit einem unsichtbaren Menschen zu tun zu haben. Manche meinten ernsthaft, daß im Innern der riesigen Apparatur ein echter Mensch lebte, der sich hinter den Stahlwänden verbarg. Schuld an solchen Vermutungen trug die Tatsache, daß das G ehirn sich in mancher Beziehung für eine Maschine seltsam menschlich benahm, was vor allen Dingen diejenigen überraschte, die den Roboter Lonzo - der ja auch eine Maschine und kein Mensch war — nicht so gut kennengelernt hatten wie Harpo und seine Freunde. Denn Lonzo handelte auch nicht gerade mit der kühlen Sachlichkeit einer mechanisch-elektronischen Ansammlung von allerlei Drähten, Wicklungen, Transistoren und Blech. Das Große Gehirn hatte die Angewohnheit, den Zuhörern allerlei Inform ationen aufzudrängen, die gar nicht gefragt worden waren. Vielleicht fühlte es sich einsam mit seinem umfassenden Wissen und wollte andere daran teilhaben lassen. Aber es entschuldigte sich immer sehr artig, wenn man den Redefluß abbrach. Allmählich hatten sich die EUKALYPTUS-Kinder an das ungewöhnliche Computerwesen gewöhnt und machten sich auf ihre Art lustig darüber. »Wie groß ist unsere derzeitige Entfernung zum System Archimedes, Großes Gehirn?« fragte Karlie. Erwartungsvoll lauschte die Versammlung. Man hatte es sich auf dem Boden der Zentrale bequem gemacht, weil es nur zwölf Sitzplätze gab. »Unsere derzeitige Entfernung zur Umlaufbahn des äußersten Planeten beträgt am kürzesten Punkt absolut exakt 3.222.772,1675423 Kilometer, wo120
bei ich mir erlaubt habe, die letzte Kommastelle aufzurunden«, erwiderte der Computer mit tiefer Stimme. »Wenn man allerdings berücksichtigt, daß dieser Planet alle vierzehn Jahre, drei Monate, zwei Wochen, fünf Tage und ... ahem, ich möchte auch hier aufrunden ... eine Bahnabweichung aufweist, müßte man den vorgenannten Wert um 0,00017 Prozent revidieren, sofern man die Entfernung auf einen Punkt in der Zukunft bezieht, der zwei Jahre und ...« »So genau wollen wir es gar nicht wissen«, stöhnte Karlie. »Karlie?« fragte das Gehirn vertraulich. »Ja?« »Darf ich mir eine Zusatzbemerkung erlauben?« »Du darfst.« »Das Schiff wird die erwähnte Kurve in genau sieben Tagen, vier Stunden und 36 Minuten schneiden, falls die Geschwindigkeit nicht geändert wird.« »Das hat zwar keiner gefragt«, meinte Karlie grinsend, »aber damit kann man wenigstens etwas anfangen.« Das Große Gehirn sagte mit einem wohlgefälligen Unterton: »Ich dachte schon, daß es euch interessieren würde. Darf ich euch noch auf ein Phänomen bei der Umlaufbahn des dritten Monds des zweiten Planeten des Sterns Taurus hinweisen, wo -« »Interessiert uns nicht«, entgegnete Karlie trocken. »Nicht?« fragte das Gehirn. »Ich bin untröstlich, daß ich es wagte, eure Ohren mit meiner rostigen Stimme über Gebühr zu beleidigen. Aber vielleicht möchtet ihr etwas anderes wissen. Zum Beispiel gibt es ein wahnsinnig komisches Zahlenspiel der Prrrzturwqzt auf dem Planeten -« Harpo unterbrach lachend. »Besser wäre es, wenn du uns Einzelheiten über die Sonne Archimedes verraten könntest. Sie besitzt also Planeten? Und da von einem äußeren Planeten die Rede war, auf jeden Fall mehr als einen.« »Eine logische Folgerung«, lobte der Computer. »Archimedes besitzt tatsächlich mehrere Planeten. Ähnlich wie unser heimatliches Sonnensystem, das bekanntlich neun Planeten hat: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, S aturn, Uranus, Neptun, Pluto. Dazu kommen die Marsmonde Phobos und Deimos, die Jupitermonde -« Anca zog eine Schnute und warf ein: »Ich verstehe das alles nicht. Woher soll unser Computer wissen, wie viele Planeten Archimedes hat? Kann man 121
von hier aus doch noch gar nicht erkennen!« Sie legte nach I ndianerart wie ein Späher die flache Hand gegen die Stirn und tat so, als würde sie den Sternenhimmel absuchen. Bevor das Große Gehirn die Gelegenheit wahrnahm, erklärte Karlie bereits, daß die EUKALYPTUS ein vollautomatisches Observatorium besaß, das an der Außenhaut des Raumschiffs angebracht war. Die Daten wurden sogleich an den Computer weitergegeben. Und nicht nur, daß die Fernrohre Dinge registrierten, die das menschliche Auge nicht mehr erkennen konnte: Mit Hilfe der Spektralanalyse des Sternenlichts konnte auch manches über die chemische Beschaffenheit der Körper festgestellt werden. Das Große Gehirn nahm den Faden wieder auf und begann damit, die Namen der Jupitermonde herunterzurattern, bis Karlie in einem Anfall kosmischer Verzweiflung erneut unterbrach. Er bat den Computer, doch endlich zur Sache zu kommen. »Untertänigster Diener«, meinte das Gehirn und tat zerknirscht. »Archimedes besitzt fünf Planeten. Einer davon der vierte — bietet Lebensbedingungen, unter denen Menschen existieren können. Im Moment ist es dort allerdings etwas zugig, wenn ich mal so sagen darf.« »Du darfst!« rief Thunderclap und prustete dabei vor Lachen. Kopfschüttelnd kniff er ein Auge zusammen und flüsterte Harpo zu: »Da haben wir uns aber ein Schwatzmaul eingefangen.« Da zufällig alle still waren, hatten einige das Flüstern verstanden und riefen: »Schwatzmaul, Schwatzmaul!« Damit hatte die Denkmaschine endgültig ihren Namen weg. Unter großem Beifall wurde beschlossen, daß der Schiffscomputer der EUKALYPTUS fortan den Namen Schwatzmaul tragen sollte. Harpo schrieb es ins Logbuch ein, und Schwatzmaul bedankte sich artig für die Aufmerksamkeit. »Gehen wir der Reihenfolge nach«, b egann er seine Antwort auf eine Frage Fantasias. »Archimedes am nächsten ist logischerweise der erste Planet, eine Steinkugel ohne Wasser, Atmosphäre und Vegetation, mit einem Durchmesser von viertausenddreihundertsiebenundzwanzigkommadrei-« »Kannst du nicht ein bißchen schneller machen, Schwatzmaul?« fragte Brim Boriam in das Murren der anderen hinein. »Sag uns lieber, wie der Planet heißt.« »Döskopp!« antwortete Karlie. »Der ist doch noch gar nicht getauft worden!« 122
»Dann geben wir ihm halt einen Namen«, schlug Anca vor. Im Namenerfinden war sie groß; allerdings fielen ihr nur selten Planetennamen ein. Dafür nervte sie ihre Mitspieler beim Scrabble mit ungeheuren Phantasienamen und mußte meistens disqualifiziert werden. »Wer weiß einen guten Namen für einen Steinhaufen?« »Vielleicht Rolling Stone?« »Oder Wackelstein?« »Nennen wir ihn Primus«, schlug Thunderclap vor. »Das hört sich wissenschaftlich an. Es heißt 'der Erste'.« »Du immer mit deinem Latein«, brummte Fidel Flottbek, meinte es aber nicht böse. Schließlich einigten sich alle auf Primus. Planet Nummer zwei war ein ziemlich unwirtlicher Patron mit einer Atmosphäre aus Chlorgas. Tosende Stürme jagten mit Geschwindigkeiten von über 700 Kilometern in der Stunde über seine Oberfläche. Die Zuhörer schüttelten sich, als Schwatzmaul ihnen die Zustände dort plastisch vor Augen führte, und sahen ein, daß auf diesem Planeten Leben in der gewohnten Form kaum existieren konnte. Bei der Namensgebung schlug Harpo Duftbeutel vor, während a ndere für Haderlump oder Fiesling waren, aber am meisten Beifall fand wieder der schlichte Name Secundus, »der Zweite«, weil er so schön lateinisch und gelehrt klang. Fantasia hatte den Vorschlag gemacht, um zu beweisen, daß sie ebenfalls etwas von Latein verstand. Bei der dritten Welt, einem heißen, trockenen Himmelskörper, dessen Oberfläche eine einzige Wüste war, ging den Lateinern allerdings die P uste aus. Schamhaft mußten sie zugeben, daß ihnen die lateinische Bezeichnung für »der Dritte« nicht einfallen wollte. Und ausgerechnet dieses Mal hielt sich der geschwätzige Computer zurück; vielleicht hatte selbst er hier und dort kleine Wissenslücken. Schließlich einigte man sich auf »Nummer drei«, und das war ja auch kein schlechter Name. »Wenn uns später jemand danach fragen sollte«, meinte Thunderclap pfiffig, »dann sagen wir einfach, daß nur lateinische Namen einfallslos wären.« Schwatzmaul registrierte die neuen Namen, und Harpo schrieb sie außerdem gewissenhaft in sein Logbuch. Dann lieferte der Computer weitere 123
Informationen: »Der vierte Planet macht gerade eine Winterperiode durch, eine Art Eiszeit. Die Atmosphäre besteht zu 25 Prozent aus Sauerstoff, zu 70 Prozent aus Stickstoff. Der Rest sind Edelgase wie Neon, Xenon, Helium und ...« »Ist das nicht giftig?« »Nicht der Rede wert«, erwiderte Schwatzmaul eilfertig. »Versuche von Professor Doktor Reinhard Merker haben ergeben, daß ...« »Den kenne ich!« rief Brim Boriam aufgeregt. »Oh«, antwortete Schwatzmaul verdutzt. »Ich dachte, daß nur ich ... Nun, wenn es mir gestattet ist, möchte ich gern mein kleines Referat fortsetzen, ahem, aber nur, wenn es wirklich niemanden stört ...« Aus den Lautsprechern kam so etwas wie ein verlegenes Hüsteln. »Verzeihung«, hieß es dann. »Herr Präsident, Frau Präsidentin, Herr Minister, meine Herren Kanzleiräte. Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, in aller Deutlichkeit und mit dem gebotenen Ernst dieser Stunde darauf hinzuweisen, daß es mir ein Herzensbedürfnis ist ...« »He, 'ne andere Platte!« rief Fidel. »Zur Sache, Schwatzmaul«, kam ihm Thunderclap zu Hilfe, während die anderen feixten und lachten. »Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte der Computer höflich. »Das ist mir so herausgerutscht. Das war ein Ausschnitt aus der Taufrede für dieses Raumschiff.« »Och«, entfuhr es dem staunenden kleinen Oliver. »Echte Kanzlei rate waren dabei?« »Ich fahre fort«, meinte Schwatzmaul, ohne den Einwurf zu beachten. »Der vierte Planet ist nahezu erdgroß, und seine Schwerkraft beträgt 0,99 Gravitationseinheiten, was bedeutet, daß man sich auf ihm eine Winzigkeit leichter bewegen kann als auf der Erde. Ein Zentner wiegt dort gewisserm aßen nur neunundneunzig Pfund.« Harpo klatschte vor Begeisterung, und auch die anderen Kinder atmeten auf. Diese Nachricht bedeutete ihnen sehr viel, denn wer wollte schon seinen Fuß auf eine Welt setzen, wo er fortwährend darauf achten mußte, daß schon ein kleiner Sprung ihn in ungeahnte Höhen trieb. Das konnte nämlich geschehen, wenn die Schwerkraft nur gering war, wie etwa auf dem Mond der Erde. Das Gegenteil konnte natürlich noch unangenehmer sein, denn ein 124
Mensch kann schlecht in einem Gravitationsfeld von vielleicht fünf Gravos leben. Das wäre so, als müßte man dauernd mit riesigen Mühlsteinen am Hals durch die Gegend laufen. Planet Nummer fünf, der unter großem Gelächter Gustav getauft wurde, weil sein grantiges Äußeres eines der Kinder an das Gesicht seines Onkels Gustav erinnerte, stellte sich ebenfalls als lebensfeindlich heraus. Und außerdem kreiste er in so großer Entfernung um die Sonne, daß sie gerade noch als pfenniggroße Scheibe zu erkennen war. Entsprechend lausig kalt mußte es dort sein. Allen war klar, daß allein der vierte Planet das Ziel der EUKALYPTUS sein konnte. Man würde Eis und Schnee auf ihm finden und nannte ihn deshalb »Nordpol«, aber vielleicht spielte auch die Hoffnung mit, daß er trotz allem ein bißchen wie die grüne Erde aus den Geschichtsbüchern aussah. Dann mußten die neuentdeckten Gleitboote auf Vordermann gebracht werden. Lonzo organisierte ein Kommando von technisch versierten Grünen und ließ sie in den inneren Organen der Maschinen so lange herumkriechen, bis sie melden konnten, daß zwei der Boote einsatzbereit wären. Das dritte es trug die Bezeichnung A-1 auf den Außenwänden und den Stummeltragflächen - hatte einige Schäden davongetragen, die nicht sofort zu reparieren waren. Es würde einige Wochen dauern, bis dieses Boot wieder eingesetzt werden konnte. Ein bißchen lag das wohl auch daran, daß die Grünen für Wartungsaufgaben programmiert worden waren und mit ungewohnten Reparaturen nicht so gut zurechtkamen. Einige besaßen nur ein Programm für Unterrichtsfunktionen - schließlich hatten sie in den alten Tagen der EUKALYPTUS die Kinder als Lehrer betreut und wurden von vielen noch immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. So stellten sie sich an wie Leute mit zwei linken Händen. Weder Lonzo noch Schwatzmaul konnten in dieser Beziehung groß helfen, weil ihnen Informationen über Reparatur und Montage weitgehend fehlten. Und die technisch Begabten unter den Kindern waren ebenfalls überfordert. Der historische Tag kam, der Tag, an dem die Gleitboote A-7 und A-9 an das Große Gehirn angeschlossen wurden. Bisher hatte es nur Energiezufuhren gegeben, deren Existenz dem Schiffscomputer zwar bekannt, aber so wenig bewußt war wie dem Menschen eine einzelne Ader am großen Zeh. Fast zum gleichen Zeitpunkt, als Schwatzmaul zum ersten Mal die Boote fühlte, kam das Signal, auf das alle gewartet hatten: Die 125
EUKALYPTUS erreichte eine Position, von der aus ein sanftes Einschwenken in eine Kreisbahn um Nordpol möglich wurde. Ein leichtes Zittern durchlief das Schiff, als die seitlichen Schubdüsen, die als einzige Antriebselemente funktionierten, den vorausberechneten Stoß ausführten. Die Antischwerkraftfelder der EUKALYPTUS verhinderten, daß sich irgendwelche Gegenstände selbständig machten und Schäden anrichteten. Es gab nur einen ganz kleinen Ruck, dann waren sie auf der Umlaufbahn. Die Eigengeschwindigkeit des Schiffes und die Anziehungskraft des Planeten hielten sich jetzt die Waage. Das Ergebnis war eine gekrümmte Flugkurve, die nur ganz allmählich flacher wurde. Die EUKALYPTUS konnte sich antriebslos einige hundert Jahre hier oben halten, bis eines Tages die Schwerkraft des Planeten siegen würde - wenn das Raumschiff dann noch Nordpol umkreiste. »Harpo«, stöhnte Thunderclap, »wir sind vielleicht Tränentiere! Aber intergalaktische! Weißt du auch, warum?« »Nee!« gaben Harpo und ein paar andere verdutzt zurück. »Weil wir jetzt auf der Kreisbahn um Nordpol sind.« »Wieso?« meinte Harpo verständnislos. »Das wollten wir doch auch, oder?« »Ja, das heißt: nein«, sagte Thunderclap. »Ich weiß schon selbst nicht mehr, was ich davon halten soll. Verstehst du denn nicht: Wir können jetzt nicht mehr zurück! Wir werden den Planeten umkreisen, bis wir schwarz sind oder bis der Antrieb wieder in Ordnung ist!« In dieser Deutlichkeit hatte sich Harpo die neue Situation noch nicht bewußt gemacht, aber so dramatisch fand er es nun auch wieder nicht. »Na und?« meinte er. »Wir wollen uns doch sowieso auf Nordpol ansiedeln.« »Was wollen wir?« schrie Thunderclap entsetzt. Schlagartig wurde allen bewußt, daß sie in eine Sache hineingeschlittert waren, ohne daß sie sich über die Folgen und ihre Ziele unterhalten hatten. Alle wollten auf den Planeten hinab. Aber offensichtlich hatten einige nur daran gedacht, ihm einen Besuch abzustatten, während sich die anderen eine neue Heimat erhofften. Die erste Gruppe hatte nicht bedacht, daß die Entscheidung für Nordpol endgültig war. Die Schubdüsen waren viel zu schwach, um das Manöver rückgängig zu machen, nachdem die Schwerkraft des Planeten das Raumschiff eingefangen hatte. 126
»Das ist putzig, daß wir uns darüber nicht unterhalten haben«, meinte Harpo. Aber so war es nun einmal. Er fühlte sich nicht entfernt so unglücklich darüber wie Thunderclap, der mit den Tränen kämpfen mußte. Der Junge im Rollstuhl war immer an einen bestimmten Ort gebunden gewesen und kannte die Freiheit nicht, sich zu b ewegen, wie er wollte. Jetzt war das anders: Sie hatten die Erde weit hinter sich gelassen. Da wollte er doch nicht einen einzigen Planeten eintauschen gegen all das, was unter anderen Sonnen noch verborgen lag! Harpo konnte den Freund gut verstehen und wäre gern mit ihm durch das All gezogen. Aber er hatte sich längst damit abgefunden, daß so etwas mit dem defekten Antrieb nur ein Traum war. Also blieb Nordpol, und das schien ihm nicht das Schlechteste zu sein. Eine Versammlung wurde einberufen. Die Stimmung war zerfahren, als sich alle hinsetzten und Lonzo das Wort ergriff. »Liebe Freundinnen und Freunde«, begann er in seiner komischen Art. »Lieber Herr Landrat und Frau Landratte! Eine ganz und gar erschreckliche Tatsache drang an unsere geplagten Ohren, über die wir eine Entscheidung fällen müssen. Wie unsere unschlagbaren Ingenieure Einstein und Genius ausgetüftelt haben, sitzen wir ziemlich tief drin in der dicken Tinte.« Rasch informierte er alle, die es noch nicht wußten, daß man vielleicht einen Fehler begangen hatte, als man die Kreisbahn um Nordpol wählte. Nach einigen »Ahs« und »Ohs« kamen die ersten brauchbaren Vorschläge. Einen Schuldigen für die Situation zu suchen, lag allen fern, und deshalb hielt man sich damit gar nicht erst auf. Mehr als ein halbes Dutzend Interessierte gelobten, Fachliteratur zu studieren, um vielleicht doch herauszufinden, wie der Antrieb repariert werden konnte. Karlie fielen die Weltraumärzte ein. Er versprach, alles Menschenmögliche zu tun, um eines ihrer vielleicht in der Nähe kreuzenden Schiffe anzufunken. Die Ärzte hatten ja sowieso versprochen, irgendwann nach ihnen zu sehen. Also war die S ituation gar nicht so düster, wie sie im ersten Moment geglaubt hatten. Der Planet füllte einige S tunden später fast das gesamte Gesichtsfeld aus, wenn man in der Sternenkuppel stand und ins All hinaussah. Deutlich konnte man nun Gebirgsrücken und kleinere Ozeane sehen, die wider Erwarten nicht zugefroren waren. Von intelligentem Leben keine Spur, aber 127
das besagte aus dieser Höhe höchstens, daß es dort unten keine Wolke nkratzer und Stratosphärenflugzeuge gab. Schwatzmaul schickte Forschungssonden ab, die sich zum Planeten senkten und dann mit Forschungsergebnissen zurückkehrten. Die meisten Flüsse dieser Welt waren eingefroren, und es gab nur wenige Vegetationsstreifen. Schnee fiel beinahe täglich in weiten Gebieten. Aber das größte Mysterium, über das die Sonden Bericht erstatteten, war ein auf der nördlichen Halbkugel gelegenes, seltsam geformtes Hügelgebiet, dessen Symmetrie auf e inen künstlichen Ursprung hinzuweisen schien. Der Entdeckerdrang der EUKALPYTUS-Mannschaft führte dazu, daß dieses Gebiet als erstes für eine Landung in Betracht gezogen wurde. »Und wen schicken wir hinunter?« fragte Thunderclap am Tag des geplanten Starts mit dem Gleitboot, während er aufgeregt mit seinem Rollstuhl über das gesamte Deck null raste. »Ich würde ja gern mitgehen, aber dort unten im Schnee könnte ich mich doch nicht bewegen und müßte die ganze Zeit über im Boot hocken bleiben.« Harpo beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß schließlich auch jemand von der Zentrale des Raumschiffs aus das ganze Unternehmen leiten mußte - die richtige Aufgabe für Thunderclap. Da die größeren Kinder alle darauf brannten, als erste den Fuß auf Nordpol zu setzen, mußte schließlich das Los entscheiden. Vier Plätze waren zu vergeben. Die Lose fielen auf Micel Fopp, Fidel Flottbek, Brim Boriam und Big Tom, einen Jungen, der seinen Kameraden anfangs große Schwierigkeiten bereitet hatte, inzwischen aber bewies, daß er freundlich und hilfsbereit sein konnte, wenn man ihn nicht dauernd anmeckerte und hänselte. Der Start der A-9 ging reibungslos vonstatten, nachdem Thunderclap jeden einzelnen der Besatzung eindringlich darauf hingewiesen hatte, ihm später auch die kleinste Einzelheit des Abenteuers zu berichten. Schwatzmaul beherrschte das Gleitboot sicher und befolgte mit präziser Routine die Anweisungen Fidels, der als Kommandant gewählt worden war. Die Außenkameras der EUKALYPTUS verfolgten das winzige Schwebefahrzeug mehrere Stunden lang und verloren es erst aus den Augen, als es durch eine dichte Wolkenbank auf der Tagseite des Planeten zur Landung ansetzte.
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Mit schweißfeuchten Händen ergriff Karlie Müllerchen sein Mikrofon und sprach die Worte, die man vorher ausgemacht hatte: »Planet Nordpol, bitte melden! Hier spricht die EUKALYPTUS!« Aber niemand antwortete ...
Spuren im Schnee Der Schock saß so tief, daß mehrere Minuten lang niemand wagte, ein Wort zu sagen. Sogar Schwatzmaul zog e s vor, technisch-unpersönlich zu werden. Sein Großbildschirm flammte auf und präsentierte eine Reihe von Buchstaben, die sich nach und nach zu Wörtern zusammensetzten. FUNKKONTAKT ABGERISSEN MÖGLICHE GRÜNDE: KEINE DATEN »Kein Irrtum möglich?« fragte Harpo entsetzt. Er war aus seinem Schwenksessel aufgestanden und strich sich fahrig über das Kinn. Seine Handflächen fühlten sich feucht an, und sein Herz schlug schneller als üblich. Thunderclap biß sich auf die Unterlippe. Was mochte geschehen sein? KEINE DATEN KEINE DATEN KEINE DATEN gab Schwatzmaul erneut bekannt, ein wenig vorwurfsvoll, wie es schien. Harpo war nicht der einzige, der anfing, sich Vorwürfe zu machen. Waren sie nicht doch zu hastig vorgegangen? Wäre es nicht besser gewesen, den Planeten erst noch einige Tage lang zu umkreisen, um klarere, eindeutigere Informationen zu sammeln? Schließlich war es Lonzo, der die trübe Situation aufhellte. Radschlagend wirbelte er durch die Zentrale und krächzte dabei: »Nicht verzagen - Lonzo fragen! Nordpol ist frei von Piraten jeglicher Art, bei Neptun! Niemand kann unseren Freunden ein Leid angetan haben.« »Und falls doch«, piepste der kleine Ollie und zerrte dabei wütend an den Fransen seiner Lederhose, »kriegt er es mit mir zu tun!« Er reckte seine winzige Gestalt. Unter normalen Umständen wären wohl alle in befreiendes Gelächter ausgebrochen, denn Ollie konnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, aber diesmal nagte in allen der Zweifel. Fröhlichkeit wollte nicht so 129
recht aufkommen. Die Freunde mochten wohlauf sein, aber auf jeden Fall fehlte auch ihnen die Verbindung zum Mutterschiff. Sie mußten sich allein und verlassen vorkommen. »Und wenn sie nun abgestürzt sind?« fragte Anca. In ihren Augen sammelten sich langsam, aber sicher Tränen. »Mit Verlaub bemerkt«, äußerte sich das Große Gehirn zum erstenmal wieder akustisch, »das ist unmöglich! Ich bin nach wie vor mit der A-9 verbunden. Nur hören kann ich nichts. Aber ich spüre das Boot - etwa so, wie einer von euch seinen linken Zeigefinger fühlt u nd weiß, daß er vorhanden ist, auch ohne daß er ihn sieht.« »Langer Rede kurzer Sinn«, schnaufte Thunderclap Genius und raufte sich dabei wild die Haare, »Schwatzmaul spürt deutlich seinen linken Zeigefinger.« »Untertänigster Diener«, gab das Große Gehirn überhöflich zurück, »so ist es!« Ein einziger, lang anhaltender Seufzer schwebte durch die Hauptzentrale. Die Anspannung wich aus den Gesichtern. Aber in den folgenden Stunden vergingen doch nur wenige Minuten, in denen nicht jemand bei Karlie Müllerchen an der Funkleitstelle auftauchte und nach Neuigkeiten fragte. Als sich auch am nächsten Morgen noch niemand von der A-9 gemeldet hatte, sagte Harpo: »Wir müssen nachsehen, Thunderclap! Schwatzmaul kann noch so beruhigende Kommentare abgeben. Ich glaube n icht eher daran, daß unsere Freunde gesund und munter sind, bevor ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen habe!« »Ich gehe mit!« rief Anca sofort. Trompo, der nicht einmal katzengroße Außerirdische, der einem winzigen Elefanten glich, gab pfeifende G eräusche von sich. Auch andere Stimmen wurden laut. Einige Besatzungsmitglieder brannten wie Anca und Harpo darauf, so schnell wie möglich das andere Gleitboot zu besteigen und nach dem Rechten zu sehen. Einige der kleineren Kinder hatten Angst und wollten um jeden Preis aus der Nähe dieses unheimlichen Planeten verschwinden. Überhaupt kamen unterdrückte Ängste und Hirngespinste an den Tag. »Was ist, wenn sie Ungeheuern begegnet sind?« »Ach, du liest zu viele Schundromane!« »Oder sie sind in eine Falle geraten!« 130
»Quatsch mit Soße! Wer soll die denn aufgestellt haben?« »Weißt du denn, wer auf Nordpol lebt? Sicher gibt es da Riesen mit drei Beinen und einem Auge mitten auf der Stirn!« Der kleine Ollie verbreitete eine Version, wonach glotzäugige Ungeheuer mit unheimlich langen Zähnen und einer ganz blaugefrorenen Haut im Schnee vergraben lagen und auf herabfallende Raumfahrer lauerten. Je deutlicher er sich dieses Bild vorstellte, desto größer wurde die Angst. Er schüttelte sich schließlich vor Entsetzen, und seine Zuhörer lachten ihn aus. Da nach einiger Zeit alle einsahen, daß es besser war, Gewißheit zu haben, als mit flatternden Pulsen über die Decks des Raumschiffs zu rennen oder vor Angst in die Hose zu machen, gab es keine Einwände mehr gegen die geplante Suchexpedition. Die Lose fielen diesmal auf Harpo Trumpff, der vor Freude darüber einen kleinen Luftsprung machte, Fantasia, die kleine Lori Powitz mit den blauschwarzen Locken und dem süßen Lispeln und Lonzo! Anca guckte ziemlich traurig drein, weil sie nicht mitdurfte. »Alter Blechmann«, sagte Harpo erfreut und klopfte seinem metallenen Gefährten auf die Brust. »Das ist aber riesig, daß du mitkommst!« »Grrrkk, grrkkk«, machte Lonzo, was wohl dem »Blechmann« galt, denn so etwas hörte er gar nicht gern. Aber es klang auch ein bißchen wie Lachen. »Bitte an Bord kommen zu dürfen, Captain.« Der Himmel allein mochte wissen, wo er die alte Seemannsmütze mit den blauen Bändern aufgetrieben hatte, die er blitzartig hervorzauberte und sich über das Metallei seines Kopfes stülpte. Nachdem sich die Schleuse des Gleitbootes A-7 hinter der Besatzung geschlossen hatte und die Funkhelme verteilt waren, zeigten leichte Knackgeräusche an, daß Karlie die Funkverbindung mit der Hauptzentrale hergestellt hatte und dort vor den Geräten saß. »Alles im Lot?« fragte Thunderclap. »Aye, aye, Sir!« brüllte Lonzo. »Alle Mann in die Wanten! Refft die Segel!« Er blieb als einziger stehen, als sich die A-7 behutsam in Bewegung setzte. Schwatzmaul pumpte die Atemluft aus dem Hangar, dann glitt die quadratische Außenschleuse der EUKALYPTUS zur Seite. Langsam bewegte sich das Gleitboot in den Weltraum hinaus. Mit offenen Mündern starrten die Kinder auf das Panorama vor ihren Augen. Es war phantastisch und noch viel erregender als von der Zentrale 131
aus! Der nachtschwarze Raum, nur durchstochen vom Glitzern und Funkeln einzelner Fixsterne in verschiedensten Farbabstufungen, wirkte grenzenlos und schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken - und so war es ja auch. Das schmale Band der Milchstraße befand sich im Moment unter ihnen. Die größte Bewunderung rief das gerade verlassene Raumschiff hervor, das zum erstenmal in seiner ganzen Pracht und Größe zu sehen war. »Das ist ja viele, viele Kilometer lang!« stöhnte Harpo. Von der Zentrale aus sah man immer nur einen winzigen Teil. »Ist doch logisch, wenn man daran denkt, wie groß die einzelnen Decks sind«, meinte Fantasia. Aber auch sie konnte ihre Begeisterung nicht verbergen. »Das muß aber ein Getöse gewesen sein, als die EUKALYPTUS von der Erde gestartet ist«, lispelte Lori mit ihrem weichen Stimmchen. Da die Kleine immer sehr empfindlich reagierte, wenn sie meinte, daß sie nicht genügend Beachtung fand, wollte Harpo schnell auf die Bemerkung antworten. Doch Thunderclap kam ihm zuvor. »Diese großen Raumschiffe sind nur für den Weltraum gedacht, Lori«, ertönte seine Stimme in den Helmlautsprechern der Besatzungsmitglieder. »Deshalb starten und landen sie niemals auf einem Planeten, sondern werden im Weltraum montiert. Das Material wurde aus dem Asteroidengürtel herangeschafft, zum Teil aber auch von der Erde aus hochgeschossen.« »Astro ... Astro ... gürtel?« fragte Lori neugierig und schüttelte verwundert den Kopf. »Was ist das denn? Kenn' ich gar nicht!« Thunderclap lachte leise in sich hinein. »Kein Wunder«, sagte er dann. »Das ist nur etwas für alte Raumhasen. Weißt du, zwischen den Planeten Mars und Jupiter befindet sich ein Ring aus winzigen, großen und ganz dikken Steinbrocken. Einige sind fast so groß wie der Mond der Erde. Viele enthalten wertvolle Erze, aus denen durch Schmelzen Metalle gewonnen werden. Übrigens glaubt man, daß dort in Urzeiten beinahe ein weiterer Planet entstanden wäre.« »Nach einer anderen Theorie gab es einen solchen Planeten«, ergänzte Harpo. »Man nim mt an, daß er auseinanderplatzte und die Asteroiden die Reste von ihm sind.« Thunderclap war während der Planetenumkreisung ihr einziger Gesprächspartner, aber die Zeit verging im wahrsten Sinne des Wortes im Flu132
ge, denn dem Rollstuhlfahrer - eine unbekannte Krankheit machte es ihm unmöglich zu gehen - fiel eine interessante Geschichte nach der anderen ein. Trotz seiner Jugend wußte er unheimlich viel. Die Krankheit hatte dazu geführt, daß Bücher und Zeitschriften seine besten Freunde waren. Unterwegs entstand noch helle Aufregung, als Harpo ausrief: »Wir müssen umkehren, ich habe den Translator vergessen!« Er meinte damit ein G erät, das nicht größer war als eine Armbanduhr und dazu dienen konnte, die unbekannte Sprache etwaiger Bewohner des Planeten verständlich zu m achen. Bereits die erste Expedition hatte ein solches Gerät an Bord gehabt. Insgesamt besaßen sie nur fünf Translatoren und behandelten sie entsprechend sorgfältig. Es waren Geschenke der Weltraumärzte. Aber dann entdeckte Harpo den Translator doch noch. Er hatte ihn beim Betreten des Bootes gedankenlos in ein Ablagefach gesteckt. Er band sich das kleine Wunderwerk sicherheitshalber um das Handgelenk. Als die A-7 in die Lufthülle des Planeten eintauchte und Thunderclaps Stimme häufig durch Störgeräusche überlagert wurde, hatten Harpo, Fantasia und Lori das Gefühl, nun eine Menge mehr über den Menschen, den Weltraum und den ganzen wunderbaren Kosmos zu wissen. Sogar Lonzo, der nun wirklich mehr wußte als alle Kinder zusammen, grunzte Beifall. »Lesen kann einen tatsächlich nur klüger machen«, brummelte er tentakelwedelnd. »Obwohl es natürlich auch darauf ankommt, was man liest. Schundhefte sind Gift. Glaubt eurem alten Lonzo, der mehr Magengeschwüre hat als Karlie Müllerchen Pickel auf der Nase!« Obwohl das ein bißchen lehrerhaft geklungen hatte, mußte Harpo seinem Metallfreund im Grunde recht geben. Dann stieß das Gleitboot durch die Wolkendecke hindurch. Gebirgszüge tauchten auf. Ein großer See huschte gerade aus ihrem Blickfeld. Sie überquerten ein riesiges Waldgebiet, das unter einer dichten Schneedecke lag. Es wurde langsam dunkler. »Wird es jetzt schon Nacht?« fragte Lori gespannt. Lonzo erklärte, daß dieses Phänomen damit zu tun hatte, daß die A-7 sich der Nachtseite des Planeten näherte. »Höhe siebentausend Meter«, sagte Schwatzmaul, der sich bisher zurückgehalten hatte. Dann: »Viertausend Meter.« 133
Der geschwätzige Computer, nun die Sachlichkeit in Person, hielt das Gleitboot genau auf Kurs. Zehn Minuten später überflogen die Kinder eine Hügellandschaft, deren Gipfel etwa sechshundert Meter hoch aufragten. Auch hier lag überall Schnee, aber man konnte erkennen, daß die Hügel sehr gleichmäßig waren und eine runde Kuppe hatten. Und einer glich dem a nderen so sehr, daß man von oben glaubte, hier hätten einige Riesen plattgetretene Fußbälle verstreut. Das mußte die Landschaft sein, die ihnen schon von der EUKALYPTUS aus aufgefallen und das Ziel der ersten Expedition gewesen war. »Dort!« rief Fantasia. »Die A-9! Seht ihr?« Richtig. Das Gleitboot stand verlassen zwischen zwei eng beieinanderstehenden Platthügeln. Es war fast eingeschneit, aber immer noch deutlich zu erkennen. Thunderclap erkundigte sich aufgeregt nach Neuigkeiten, weil er Fantasias Aufschrei mitgehört hatte. »Außer dem Boot ist nichts und niemand zu sehen«, meldete Harpo geknickt. Die A-7 sank tiefer. Plötzlich verkündete ein feines Rauschen, daß die Funkverbindung zur EUKALYPTUS abriß. Harpo reagierte blitzschnell. »Rauf, Schwatzmaul, rauf!« brüllte er aus Leibeskräften, obwohl auch ein Flüstern genügt hätte. Ihm war eine Idee gekommen: Wenn die Funkstörung nun damit zusammenhing, daß die Hügel näher rückten? Die seltsam symmetrischen Felsformationen wirkten bei weitem nicht so, als hätten die Naturgewalten sie im Laufe der Jahrmillionen abgeschliffen. Schwatzmaul hatte verstanden. Ein Ruck ging durch die A-7 und brachte das Boot leicht ins Trudeln, aber dann zischte es wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil in die Höhe. Sofort war die Verbindung wieder einwandfrei. »Muß mit der Höhe zu tun haben«, meinte auch Thunderclap nachdenklich. »Vermutlich wird die Verbindung wie bei den anderen abreißen, wenn ihr landet. Aber ich höre gerade, daß euch Schwatzmaul auch ohne Funkbefehl wieder heraufholen kann.« Es stellte sich heraus, daß hierzu ein Knopfdruck ausreichte. Das dabei ausgelöste Signal lief auf einer Frequenz, die von der Funksperre nicht beeinträchtigt wurde. Nachdem ausgemacht worden war, daß dieser Knopf nur im Notfall gedrückt werden sollte und dann bedeutete: »Gleitboot sofort 134
starten«, konnte das Abenteuer der Landung gewagt werden. Behutsam senkte sich die A-7 in den Schnee neben das Schwesterboot. Schnuppernd sogen die Kinder die Luft ein, als sie die Köpfe aus der Schleusentür steckten. Es war kalt. Sie sprangen hinaus und versanken bis zu den Knien im weichen, flockigen Pulverschnee. »Brrrr«, machte Fantasia. »Bloß schnell wieder ins Boot und in die Schutzanzüge. Hier friert man sich ja sonst was ab.« »Angeberin«, meinte Harpo, folgte ihr aber rasch in das Gleitboot. Nur Lori mußte erst mehrfach ermahnt werden, bevor sie ebenfalls hineinkletterte. Lonzo, der sich meckernd geweigert hatte, auch nur die kleinste Spitze seiner eisernen Füße in den Schnee zu setzen, weil er angeblich Angst vor Rostflecken hatte, half ihnen wieder hinein. Natürlich machte er nur Theater, denn er b estand aus rostfreiem Edelstahl und hatte von Wasser, Schnee und Eis nicht das geringste zu befürchten. In den wetterfesten, heizbaren Anzügen betraten sie den Planeten Nordpol erneut. Diesmal in ernsterer Stimmung, denn schließlich waren vier ihrer Freunde verschollen. Da konnte man nicht Hanswurst spielen und leichtsinnig in die nächste Falle rennen. Sie bedauerten, daß sie die Oberfläche des Planeten unter so traurigen Umständen betraten. Viel lustiger wäre es gewesen, jetzt eine Schneeballschlacht zu machen oder Schlitten zu fahren. Mißtrauisch beäugte Harpo die Umgebung. Ihr Boot stand in einem Tal direkt am Fuß eines Platthügels. Das flache Gelände zwischen diesem und dem nächsten Hügel maß etwa einen Kilometer. In allen vier Windrichtungen ragten Hügel empor, denen ihr besonderes Augenmerk galt. Ein eisiger Wind pfiff. Rasch wurden die Nasen rot. Harpo hob Lori auf Lonzos Roboterkörper, damit sie Huckepack reiten konnte. Das Mädchen war für seine elf Jahre sehr klein und drohte bei jedem Schritt in dem für Harpo und Fantasia nur knietiefen Schnee bis zum Bauch einzusinken. »Halt!« rief Fantasia plötzlich. »Ist das nicht eine Spur?« Tatsächlich, das sah aus, als wäre dort jemand hingefallen. Selbst die dünne Schicht Neuschnee konnte den deutlichen Abdruck eines Hinterteils nicht verbergen. Vorsichtig bewegte sich die Gruppe weiter nach Norden. Vereinzelte Löcher im Schnee, halb zugeschneit, aber immer noch sichtbar, führten genau 135
auf einen der Hügel zu. Als sie ihn erreicht hatten, mußten sie die Köpfe weit in den Nacken legen, um bis zur Kuppe hinaufzuschauen. »Sie können sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben«, lispelte Loh ungläubig. Dann entdeckte Harpo im Schnee einen Handschuh. Er glaubte, daß er den schon mal bei Brim Boriam gesehen hatte. Aber die Stelle, an der er lag, markierte zugleich das Ende der Spuren. Als hätte Brim »Sesam, öffne dich« gesagt und sei direkt in die Hügelwand hineingegangen. Seltsam. Brim und die anderen waren also hiergewesen, genau an dieser Stelle. Aber was war dann geschehen? »Es wird bald dunkel«, sagte Lonzo und zeigte mit einem Te ntakel - die anderen drei waren nötig, um Lori auf seinem glatten Körper Halt zu geben - auf die am Horizont versinkende blaue Sonne Archimedes. »In der letzten Nacht haben wir kaum geschlafen. Schlage vor, wir gehen in die Hängematten unter Deck, Captain. Kleiner Imbiß in der Kombüse wäre natürlich vorher nicht zu verachten!« Natürlich hatte Lonzo seinen Vorschlag nur aus Sorge um die Kinder gemacht. Der Roboter selbst brauchte weder zu schlafen noch zu essen. Aber Fantasia, Lori und Harpo fühlten bei seinen Worten plötzlich, wie hungrig und müde sie waren. Sie kehrten ins Boot zurück, gaben Schwatzmaul mit dem Druckknopf Anweisung, das Boot zu starten, und lieferten der Zentrale ihren ersten Bericht ab. Die Stimmung war ziemlich niedergeschlagen. Obwohl sie keine ausgesprochen schlechten Nachrichten durchgaben - zum Jubeln gab es keinen Anlaß. Erfreulich war nur, daß man weder wilde Raubtiere noch Ollies glotzäugige Astronautenfresser entdeckt hatte.
Rätselhafte Schatten Mitten in der Nacht wachte Harpo auf, ohne zu wissen, was ihn geweckt hatte. Er reckte sich und lehnte den Kopf gegen die Rundsichtscheibe. Er rieb sich die Augen und lauschte dann in die Finsternis hinaus. Etwas berührte sanft seinen rechten Arm: Lonzo. Da er eine Maschine war, benötigte er keinen Schlaf. Er war die ganze Zeit wach gewesen. 136
»Psssst!« zischte der Roboter. »Hörst du?« »Mmmmmm«, brummte Harpo verschlafen. Seine Glieder schmerzten vor Erschöpfung. Von irgendwoher drangen Geräusche. Er glaubte, daß die Vermißten zurückkehrten, und wollte mit einem Freudenschrei aufspringen, aber Lonzos Tentakel drückten ihn schnell zurück und verschlossen seinen Mund. »Nicht bewegen, Junge. Draußen tut sich was. Steh ganz langsam auf.« Auch Fantasia erwachte durch das Gemurmel, dann Lori, aber beide begriffen schnell, daß es besser war, sich leise zu verhalten. Zaghaft hoben die Kinder ihre Köpfe und spähten durch die Glaskuppel. Im Licht der beiden winzigen, rötlich leuchtenden Monde des Planeten, die einen geheimnisvoll anmutenden Schein über die Schneedecke warfen, bewegten sich mehrere riesenhafte Gestalten, die jauchzend auf ihren Hinterteilen die Schneehügel hinabrutschten und unten johlend in weiche Schneewehen plumpsten. Die heimlichen Beobachter in der A-7 glaubten ihren Augen nicht zu trauen: sieben, acht, neun zottelfellige, langhaarige, entfernt menschenähnliche Wesen benutzten die Stille der Nacht dazu, auf den Hügeln Schlitten zu fahren. Allerdings ohne Schlitten. Und daß es ihnen Spaß machte, konnte man an den Lauten, die sie ausstießen, leicht feststellen. »Was sind denn das für welche?« fragte die kleine Lori staunend. »Affen?« »Bei allen Planeten!« prustete Harpo los. »Wenn das ein Traum ist, Lonzo, dann zwick mich!« »So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen!« rief jetzt auch Fantasia und gluckste in sich hinein. Das war wirklich umwerfend komisch, wie die schwerfällig wirkenden Gesellen die Schneebahn hinunterrutschten und nach geglückter Landung sofort wieder den Hügel hinaufhasteten, um die gleiche Rutschpartie von neuem zu beginnen. Niemand konnte sich vorstellen, daß die fröhlichen Gestalten etwas mit dem Verschwinden ihrer Freunde zu tun hatten. I mmerhin wußten sie jetzt, daß dieser Planet nicht unbewohnt war. »Ob sie wohl intelligent sind?« fragte Lori. »Und ob!« antwortete Lonzo. »Oder hast du schon mal lachende Bären gesehen?« »Sind das denn Bären?« 137
Nun, aus der Ferne wirkten sie so oder sahen ihnen zumindest doch sehr ähnlich. Gemeinsam beratschlagte man, ob man es wagen sollte, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber mitten in der Nacht war die Entschlußfreudigkeit nicht sehr groß. Und in der Dunkelheit mochte das überraschende Auftauchen von Menschen zu Mißverständnissen führen. Außerdem hatten es die Bären vielleicht gar nicht gern, wenn man ihnen den Spaß im Schnee verdarb. So aufregend alles auch war, übermannte die Kinder doch bald wieder der Schlaf. Am Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen den vierten Planeten in Wärme und Licht badeten, waren die Zottelgestalten verschwunden. Der Schnee hatte die Spuren beseitigt, als hätte es sie nie gegeben. Schwatzmaul hob die A-7 wieder einige tausend Meter hoch, und Fantasia erstattete Bericht, während Harpo das Frühstück bereitete. Die Nachricht von den augenscheinlich friedlichen und vergnügten Wesen wurde auf der EUKALYPTUS mit Begeisterung aufgenommen. Aber an gutgemeinten Mahnungen und Ratschlägen fehlte es auch nicht. Nach dem Frühstück kletterten die vier Entdecker wieder in die Schneelandschaft hinaus. Sie teilten sich in zwei Gruppen: Harpo und Fantasia, Lonzo und Lori. Sie umrundeten den nördlichen Hügel, und als sie sich auf der anderen Seite trafen, winkte Lonzo schon von weitem aufgeregt mit einem Te ntakel. Harpo und Fantasia liefen so schnell heran, daß der Schnee nur so spritzte. »Habt ihr was entdeckt?« fragten sie wie aus einem Mund. »Ich will meinen Kopf aufessen, wenn ich nicht jemand gesehen habe«, krächzte Lonzo. »Ganz deutlich habe ich einen Schatten wahrgenommen. Potz Galaxis! Ich könnte schwören, daß es der Geist des alten Captain Kidd war!« Fantasias helles Lachen kugelte zu den Hügelkuppen hinauf und rollte von dort zurück. Harpo konnte ebensowenig ernst bleiben. Lonzo will uns wieder einmal foppen, dachte er. Aber zum allgemeinen Erstaunen war der Roboter nicht von seiner Behauptung abzubringen, daß er einen Schatten gesehen hatte. »Glaubt ihr mir denn nicht, Freunde?« knarrte er stur. »Ich m eine es ernst! Dieser Freibeuter hatte einen wüsten roten Vollbart und geflochtene Zöpfe! Er schaute ziemlich grimmig drein, au weia!« 138
Lori, die auf Lonzos Rücken über den anderen thronte, kicherte leise. »Lonzo spinnt mal wieder«, meinte sie vergnügt. »Ich habe jedenfalls niemandes Geist gesehen. Am allerwenigsten den von Captain Kitz!« »Kidd!« zeterte Lonzo. »Nicht Kitz! Ha, du kennst ihn ja auch gar nicht, mein Täubchen! Soll ich dir die Geschichte erzählen, wie ich zusammen mit Captain Kidd auf der Knocheninsel nach der vergrabenen Schatztruhe suchte? Also, paß mal auf, die Sache war so: Nachdem wir aus dem Indischen Ozean kamen, die langen Messer zwischen den Zähnen, gingen Kidd und ich ...« Lonzo plapperte drauflos, obwohl keiner richtig zuhörte. Diese Geschichte kannten sie inzwischen auswendig, so oft hatte Lonzo sie erzählt. Man konnte fast meinen, er sei tatsächlich dabeigewesen. Aber Harpo wußte genau, woher Lonzo seine Lügengeschichten bezog: Nichts war leichter für den Eisenmann, als Seefahrerbücher aus der Bordbibliothek auswendig zu lernen, da er ein elektronisches Gehirn besaß, das niemals auch nur ein Komma vergaß. Angefangen von Klaus Störtebeker hatte Lonzo alles aufgesogen, was sich mit Piraten beschäftigte. Sicherlich hatte er dabei auch eine Menge Seemannsgarn mitverdaut. Egal! Harpo und Fantasia, die Lonzo bereits lange kannten, wußten, daß man sich auf ihn verlassen konnte, wenn es darauf ankam. Und der Mechanismus des Roboters, eine Ansammlung aus Metall, Kristallen und Neuronen, war bestimmt gegen Halluzinationen hundertprozentig gefeit. Lonzo konnte Dinge wahrnehmen, die Menschen verborgen bleiben mußten, weil ihre Augen für solche Feinheiten nicht geschaffen waren. »Noch einmal von vorn, Lonzo, altes Haus«, sagte Harpo deshalb. »Wie sah das Wesen aus, das du gesehen hast?« »Es war einen Meter groß, wieselflink, grau ... ahm ... ich meine, es schien mir grau zu sein, weil es so wieselflink war. Es hatte einen Bart und Zöpfe und einen Topf auf dem Kopf und einen komischen Anzug an, wie ein Taucher.« »Topf auf dem Kopf?« echote Fantasia ungläubig. »Taucheranzug?« fragte Harpo. »War es ein Raumanzug?« »Nitschewo!« sagte Lonzo beharrlich. »Nein!« Er schüttelte seinen freien Greiftentakel. »Der Anzug war ziemlich eng, wollte ich damit sagen. Und der Bursche sah recht rauflustig aus.« 139
Wieder wedelte er mit dem Tentakel, tippte damit auf Harpos Schulter und brummte: »Er sah genauso aus wie der Kerl, der gerade hinter dir steht.« »Huch!« quiekte Lori. Fantasia und Harpo wirbelten herum. Für einen Sekundenbruchteil glaubte Harpo eine zwergenhafte Gestalt zu sehen, die sie aus einigen Metern Entfernung beobachtete. Dann war sie verschwunden. »Ein Wichtel!« rief Lori begeistert. »Mit Zöpfen! Süß!« »Er ... ist ... weg ...«, stotterte Harpo verdutzt. »Gar nicht wahr«, behauptete Lonzo. »Wieso denn? Er steht noch da! Sagt mal, könnt ihr denn nicht sehen?« »Wie?« fragte Harpo. »Jetzt kommt er sogar näher!« »Harpo, ich fürchte mich«, flüsterte Fantasia. »Uijuijui, ist der aber schnell!« Alle rieben sich die Augen, nur Lonzo nicht. Es half nichts: Die geheimnisvolle Zwergengestalt blieb ihren Augen verborgen. Sie sahen niemanden, obwohl Lonzo steif und fest behauptete, der Wichtel stände genau neben Harpo. »Also kann er sich unsichtbar machen«, folgerte Lori stolz, als hätte noch keiner an diese Möglichkeit gedacht. »Und wo ist er jetzt?« fragte Harpo, der immer noch nicht wußte, was er von der Sache halten sollte. »Er gafft dich an«, versetzte Lonzo. »Ziemlich aufdringlich, wie ich finde.« Harpo verlor vor Schreck das Gleichgewicht und machte einen Schritt zur Seite. Ihm war, als prallte er gegen eine unsichtbare Mauer. Ein spitzer Schrei erklang, der sich recht empört und wütend anhörte. Dann wurde der Wichtel plötzlich sichtbar. Er schnatterte und keifte, da er genau wie Harpo den Boden unter den Füßen verloren hatte und strampelnd im Schnee lag. »He, hallo!« rief Fantasia. »Wer sind Sie denn?« »Unglgrungmumpf«, war die knurrige Antwort. Wie alle zugeben mußten, war das weder ein schöner Name, noch klang es besonders freundlich. Staunend nahmen die Kinder das schimpfend aufstehende und den Schnee aus den Kleidern klopfende Zwergenwesen in Augenschein. Unter einem spitz zulaufenden Ritterhelm mit kleinen Metallflügeln an den Seiten schau140
te sie ein faltiges Gesicht mit rotblonden, buschigen Auge nbrauen an. Das Männlein hatte listige Augen, die zornig funkelten. Ein mächtiger Bart sorgte dafür, daß man von seinem Gesicht nicht allzuviel erkennen konnte. Feingeflochtene Zöpfe erinnerten die Kinder an einen Miniatur-Wikinger aus der irdischen Geschichte. Bekleidet war das Wesen mit einem blaugrauen Wams, gleichfarbigen Hosen und hohen Stulpenstiefeln. Um seinen Bauch spannte sich ein breiter Ledergurt, an dessen Vorderseite ein streichholzschachtelgroßes Gerät unheimlich summte. Mehrere Schaltknöpfe waren darauf zu erkennen und paßten nicht zu dem sonstigen Äußeren. Die Zunge vor Aufregung zwischen die Lippen geschoben, nestelte Harpo an seinem Translator, bis er den Knopf gefunden hatte, der das Gerät aktivierte. Dieses Meisterwerk der Mikrotechnik barg einen Sprachcomputer, aber zaubern konnte der auch nicht. Zunächst mußte er einige Minuten lang die Laute einer unbekannten Sprache aufzeichnen und analysieren. Es war also wichtig, daß der Fremde redete. »Wie ist das werte Befinden, edler Seemann?« fragte Lonzo und ersparte Harpo damit die Arbeit. Der Inhalt der Frage war unwichtig. Es kam nur darauf an, daß der Zwerg sprach. Tatsächlich hörte er mit dem Knurren auf, begann zu grinsen, trat frierend von einem Fuß auf den anderen und ratterte dann los wie eine defekte Schallplatte. Schnurrend setzte sich der Translator in Gang. Die Apparatur registrierte wachsam jeden Laut. Es dauerte kaum zwei Minuten, da flössen die ersten abgehackten Sätze aus dem Translator und wurden von Silbe zu Silbe sicherer und verständlicher. »... elende Affenkälte ... Konntest du nicht aufpassen, du Lausebengel? ... Jetzt Deflektorschirm im Eimer ... Mir frieren die Zehen ab ... Beim siebenschwänzigen Schneegespenst!« Harpo entschuldigte sich wortreich, und da begann der Zwerg aufzuhorchen. »Schneegestöber und Eiszapfen!« gurgelte der Translator, als der kleine Fremde mit dem mächtigen Bartwuchs zu einer Gegenrede ansetzte. »Wie wird mir? Schon wieder diese Sternenbengel mit ihrer Sprechmaschine, die die Sprache des Großen Flunkerers nachahmt!« Die Kinder lachten vor Begeisterung, während Harpo stolz auf seinen Translator sah. Nach dieser grantigen Einleitung grinste der Zwerg erst ein141
mal ausgiebig und sprudelte dann so hastig los, daß der Translator sich schier überschlagen mußte, um alles ebenso schnell zu übersetzen. Während er redete, zerrte der Große Flunkerer aufgeregt an Lonzos Te ntakeln, die ihn sehr zu beeindrucken schienen. Sie sollten sich nur keine Sorgen machen, sagte er. Die Freunde seien in der Obhut der »Raufbolde« und bei bester Laune. Man sei ihnen ja sooo dankbar, vor allem dem kleinen schwarzen Doktor. Er hatte sich jetzt richtig in Begeisterung hineingeredet, versuchte bis zu den Schultern von Harpo und Fantasia hinaufzulangen und kollegial draufzuklopfen, tätschelte Lonzo und kitzelte Loris Füße. Dann machte er alle Anstalten, gleich zu explodieren, wenn sie nicht sofort mit ihm kämen, da er auf dem besten Weg sei, zu einem bärtigen Eisklumpen zu werden. Die anfängliche Verwirrung der Kinder wich schließlich, als Harpo, Fantasia, Lori und Lonzo begriffen, daß sie sich umsonst Sorgen um ihre Freunde gemacht hatten. Rasch folgten sie dem zitternden und zähneklappernden Zwerg. Er schleppte sie genau zu jener Stelle, an der sie bereits einmal rätselnd gestanden hatten: direkt vor die steile Hügelwand, die graublau an einigen Stellen unter dem Schnee hervorleuchtete. Und dann kam die große Überraschung. Die Wand öffnete sich. Ein seltsamer Berg »Eintreten, Freunde!« rief Flunki und rannte los. Schon hatte er das schwarze Tor in der Felswand erreicht und war verschwunden. Zögernd folgten ihm die Kinder. »He«, ertönte es dumpf aus dem Berg, und der Translator übersetzte pflichtschuldig: »He!« Flunkis dicke Nase tauchte aus dem Dunkel auf. Sein roter Bart schimmerte im Licht der Sonne. Die listigen Äuglein funkelten. »Beim einäugigen Eis-Zyklopen!« schimpfte er los. »Worauf wartet ihr? Eure Vorfahren müssen Schnecken gewesen sein. Tausend Schneemücken sollen euch in den Hintern stechen!« Die Kinder lachten, weil sie ja inzwischen wußten, daß man nicht alles ernst nehmen durfte, was der Raufbold von sich gab. Aber sie setzten doch zu einem kleinen Spurt an. Verderben wollten sie es sich mit ihm keinesfalls. 142
»Elender Schurke!« fluchte Lonzo, der sich den sprachlichen Gegebenheiten dieses Planeten als erster anpaßte. »Mir qualmen schon die Socken. Mein alter Freund Captain Kidd hätte Euch für Eure Redensart in Eisen gelegt. Jawoll, Herr Raufbold!« »Pah, Captain Kidd«, kam die Antwort. »Wenn er so langsam war wie ihr, hätte er mich nie erwischt. Dem hätte ich die Zipfelmütze über die Ohren gezogen und ihn dann mit Schnee eingeseift.« »Himmel, Po und Zwirn!« schrie Lonzo aufgebracht. »Er wagt es tatsächlich, den mächtigen Captain Kidd zu beleidigen! Herr Raufbold, merkt Euch gefälligst, daß Captain Kid nie eine Zipfelmütze, sondern stets einen prächtigen Drei spitz trug. Und so wahr, wie ich Lonzo-Joachim de la Chevalier heiße: Schnee haben wir nicht auf einer einzigen unserer vierhundertsiebzehn Kaperfahrten erspäht.« »Lonzo!« mahnte Fantasia entrüstet. »Seit wann gebrauchst du solche Ausdrücke? Und du sollst nicht so schauerlich lügen. Du heißt gar nicht LonzoJoachim Dingsbums!« »Was bedeutet der Ausdruck 'Schneewolken, verlängerter Rücken und Bindfaden'?« erkundigte sich Flunki neugierig. »Schneewolken? Verlängerter Rücken ... und ...«, wiederholte Harpo und prustete los. »Ach herrjeh! Da hat unser kleiner Translator aber wieder mal eine Meisterleistung der Übersetzungskunst zustande gebracht.« »Das haben wir gleich«, meinte Lonzo und drückte einen Knopf des Gerätes. »Für besondere Fälle«, erklärte er, »haben wir auch eine DeftigSchaltung.« Seelenruhig wiederholte er seinen Fluch und wartete, bis das Übersetzungsgerät ihn in Flunkis Sprache übertrug. »So«, sagte er zufrieden und ließ den Knopf wieder los. Der Raufbold machte »Grrrr!« und sprang aus dem Stand zwei Meter hoch in die Luft. »Gemeine Verleumdung! Meine Großmutter trinkt niemals!« »Was hat der Translator denn gesagt?« fragte Lori lachend. »Da fragst du noch?« brummte der Raufbold und funkelte sie an — was Lori aber nicht einschüchtern konnte, weil man zu deutlich sah, welchen Spaß Flunki diese Schimpferei machte. »Dieser Schneeochse hat etwas von einem letzten Rülpser meiner betrunkenen Großmutter gesagt!« Flunki machte eine Anstandspause und fügte dann schmunzelnd hinzu: »Also ehrlich, Freunde. Bisher 143
hielt ich eure komische Sprache ja für ziemlich trocken. Wußte gar nicht, daß ihr so gute Flüche auf Lager habt.« »Wir müssen wohl öfter mal den Knopf drücken, damit sich der Translator weniger gewählt ausdrückt«, meinte Harpo. Er wußte inzwischen, daß diese winzige Apparatur, so nützlich sie war, auch ihre Schwächen hatte. Norm alerweise übersetzte sie ziemlich trocken und umständlich genau, und manchmal waren hochgeschraubte Redewendungen das Ergebnis. Da der Translator aber auch ein Programm besaß, in dem lustige und weniger feine Wörter der Umgangssprache gespeichert waren, kam er mit der Sprache der Raufbolde gut zurecht. Sobald Flunki redete, schaltete sich das Gerät automatisch auf Programm II. »Wollen wir nicht weitergehen?« fragte Lori Powitz. Die Kleine brannte darauf, das Innere des geheimnisvollen Berges zu erkunden. »Ein guter Streit ist wichtiger als alles andere«, tönte Flunki. »Aber im Grunde hast du schon recht, Schneeflöckchen. Borro wird sicher langsam müde, das Tor offenzuhalten.« »Borro?« fragte Harpo neugierig. »Ja«, erwiderte Flunki wichtig. »Der Schneekrabbler.« »Ehrlich gesagt«, gab Harpo zu, »ich verstehe immer nur Schneekrabbler.« »Ha«, sagte Flunki und freute sich diebisch. »Beim Ringe lschwanz des alten Frostaffen: Das wundert mich nicht.« Die Freunde beeilten sich, Flunki weiter in das geheimnisvolle Innere des Berges zu folgen. Plötzlich wurde es düster. Dort, wo sich eben noch der Eingang befunden hatte, erschien wie durch Zauberei eine Wand. Das Sonnenlicht konnte nicht mehr in die Höhle eindringen. »Wird gleich wieder heller«, versicherte ihr Führer beruhigend. Man hörte etwas rascheln. Allem Anschein nach kramte Flunki in seinen Taschen. Dann blitzte der Lichtkegel eines kleinen Handscheinwerfers auf. »Wir haben unsere Scheinwerfer natürlich im Beiboot gelassen«, meinte Harpo und schlug sich gegen die Stirn. »Macht nichts«, sagte der Wichtelmann. »Nur die Außengänge sind dunkel. Wir kommen bald in die beleuchteten Wohngebiete.« »Wo ist denn der Eingang geblieben?« forschte Fantasia mißtrauisch. »Ho, ho, ho!« lachte Flunki. »Wahrlich, bei den zehn Rüsseln des fischfressenden Mammuts: Wo ist er denn?« 144
Man sah ihm an der Nasenspitze an, daß er nicht im Traum daran dachte, dieses Geheimnis zu lüften, zumindest nicht jetzt. Die Kinder vertrauten ihrem neuen Freund inzwischen soweit, daß sie sich keineswegs eingesperrt und beunruhigt fühlten. Nur Lonzo konnte sich nicht verkneifen, seinen Senf beizusteuern. »Mich dünkt, der Kollege Raufbold ist ein ganz entschiedener Witzbold. Eine richtige Ulknudel!« »He, he, he!« lachte Flunki laut und meckernd. »Das will ich meinen!« Ein merkwürdiger Berg war das wirklich, selbst wenn man nicht länger über den verschwundenen Eingang grübelte. Der Boden fühlte sich nicht etwa hart und felsig an, wie man es von einem ordentlichen Berg e rwarten sollte, sondern war weich und schwammig. Als würde man auf einer prall gefüllten Luftmatratze gehen. Und warm schien er auch zu sein. Die Wände des Tunnels, in dem sie ihrem eifrigen kleinen Führer folgten, waren härter. Sie erinnerten an Kalkstein und schimmerten in hellen Farbtönen. Die Freunde hatten bereits ein Dutzend anderer Tunnel gekreuzt und kamen zu der Überzeugung, daß der ganze Berg durchlöchert war wie ein Schweizer Käse. In diesem Labyrinth konnte man sich bestimmt leicht verlaufen. Aber schließlich hatten sie einen ortskundigen Pfadfinder. Und zur Not hätte wohl auch Lonzo den Rückweg gefunden, denn der brauchte ja nur sein fotografisches Gedächtnis zu befragen. Wenn er wollte, konnte er zum Beispiel nacheinander hundert Kieselsteine beschreiben, die an einer beliebigen Stelle in einem der künstlichen Bachbette an Bord des Raumschiffes EUKALYPTUS lagen. Er brauchte seinen elektronischen Schaltkreisen nur den Befehl zu geben, die gespeicherten Einzelheiten abzurufen. Die Kinder beneideten ihn um diese Fähigkeit, besonders dann, wenn sie mühsam versuchten, sich irgend etwas Wichtiges einzuprägen, indem sie ein Buch mehrmals lasen oder die Videofilme immer wieder ablaufen ließen. Lonzo genügte ein einziger flüchtiger Blick aus seinen Sehzellen, und schon war das Gesehene Bestandteil seines Gedächtnisses. Lonzo trug noch immer seine Matrosenmütze auf dem eiförm igen Wulst, der aus dem ansonsten kugelrunden Metallkörper herausragte. Dort waren seine wichtigsten Sensoren untergebracht, die die menschlichen Sinnesorgane ersetzten. Nicht zuletzt die funkelnden Sehzellen und die Sprechmembrane erinnerten an einen menschlichen Kopf. Lonzo hatte daneben aber 145
auch noch Sensoren, die ihm Ultraschall, die chemische Zusammensetzung von Stoffen, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und manches andere meldeten; Dinge, die Menschen nur mit technischen Hilfsmitteln messen können. Er bewegte sich munter auf seinen beiden kurzen Beinen voran, die wie die vier Tentakel aus winzigen Metallringen zusammengesetzt waren. Überhaupt schien er bester Laune zu sein, denn er benahm sich absolut nicht wie ein Forschungsreisender auf einem fremden Planeten. »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt gehen, müssen Männer mit Bärten sein«, sang er laut und in schauriger Tonlage. »Flunki und Harpo und Lonzo und Kidd - die haben Bärte, die fahren mit.« »Gelogen«, lispelte Lori. »Nur Flunki hat einen Bart!« »Macht nix«, meinte Lonzo fröhlich. »Dann bekommen die anderen eben einen Bart ehrenhalber verliehen.« »Und was ist mit uns Mädchen?« fragte Lori enttäuscht. »Bärte sind nichts für Mädchen«, antwortete der Roboter. »Aber ich werde mich bei Captain Kidd dafür einsetzen, daß Fantasia Einstein und Loretta Powitz wegen besonderer Verdienste für den großen Klabauter-Orden mit gekreuzten Knöcheln vorgeschlagen werden.« »Klasse«, lispelte Lori. »Aber ich heiße nicht Loretta, sondern Lotharine!« Flunki behielt recht. Als sie wieder einmal in einen anderen Höhlengang des Labyrinths abbogen, leuchtete vor ihnen ein warmes, rotgelbes Licht, das eine Lampe bald überflüssig machte. Der Raufbold verstaute sie wieder in den Falten seiner Kleidung. Erstaunlicherweise kam das Licht aus dem Boden des Ganges, der förmlich zu glühen schien. Harpo hatte wie die anderen die Kapuze seines Schutzanzuges zurückgeschlagen und seine langen, blonden Haare aus der Umhüllung geschüttelt. Es war wirklich sehr warm. Er öffnete den Reißverschluß des Anzugs und machte sich etwas Luft. Er hoffte, daß sie bald am Ziel waren und die Anzüge ablegen konnten. Plötzlich drang eine Gruppe von sechs Raufbolden lärmend aus einem Nebentunnel. »Heilige Winternacht mit Tannenzapfen!« rief der eine, ein dickes, rundes Männchen mit einem langen Zopf. »Mir sollen sofort alle Schneeläuse aus dem Bart springen, wenn das nicht der Große Flunkerer persönlich ist. Und 146
diese rasierten Rotznasen sehen dem schwarzen Doktor verflucht ähnlich, he!« »Frostbeulen und Eishagel«, antwortete Flunki mit ausgebreiteten Armen. »Kann man denn nicht ein einziges Mal in diesen Höhlen Spazierengehen, ohne über den dicken Wanst des alten Flusi und seinen Anhang zu stolpern?« »Mann, wenn die in Massen auftreten, ist aber echt der Eisbär los«, meinte Harpo staunend. »He, he, he!« lachte die Schar der Raufbolde, während Flunki und Flusi sich begeistert auf die Schultern klopften. Die Gruppe bestand aus drei männlichen und drei weiblichen Wesen, von denen letztere kleiner und zierlicher wirkten als ihre Begleiter. Sie hatten dünnere Nasen als die Männer und waren natürlich bartlos. Eine der Frauen sah wie ein Mädchen von zehn Jahren aus und trug das rotblonde Haar offen. Die anderen hatten dicke Zöpfe wie die Männer. Alle wirkten freundlich und lächelten die Besucher an. Gekleidet waren sie wie die männlichen Raufbolde: derbes Lederwams oder ein grobgewebtes Hemd, enge Hosen, Stulpenstiefel oder Sandalen mit Lederriemen bis über die Knöchel. Die meisten trugen jenes kleine Gerät an Stelle einer Gürtelschnalle, mit dem die Raufbolde die Schnelligkeit ihrer Bewegungen erstaunlich steigern konnten. »Meine Freunde hier wollen zu dem kleinen schwarzen Doktor«, erklärte Flunki, nachdem er seine Begrüßung mit einem Knuff in Flusis Rippen abgeschlossen hatte. »Weiß einer von euch, wo er und die anderen Burschen stecken?« Brim hätte sich wohl gewundert, daß Wesen, die nur halb so groß waren wie er, ihn als klein bezeichneten - aber gewiß hatte er inzwischen selbst seine Erfahrungen mit dem Wortschatz der Raufbolde gemacht. »Beim eisigen Eis des Schneegockels«, erwiderte Flusi vergnügt, »gewiß weiß ich das!« Wenn die Kinder jetzt erwartet hatten, daß Flusi weiterreden würde, sahen sie sich getäuscht. Er grinste nur und zwirbelte seinen prächtigen roten Bart. »Aber wie ich dich kenne«, knurrte Flunki mit geballten Fäusten, »willst du es mir nicht verraten, he?« »Freilich.« 147
»Dann rede doch endlich, Kerl!« schrie Flunki. »Kein Grund zur Aufregung«, antwortete Flusi grinsend. »Der schwarze Doktor und seine Freunde sind mit unseren Pilzsammlern weg und kehren erst gegen Abend zurück.« »Dann machen wir es uns einstweilen gemütlich«, sagte Flunki. »Folgt dem Großen Flunkerer zu den Fleischtöpfen der Raufbolde. Sicherlich seid ihr hungrig.«
Der Clan der Raufbolde Die Kinder warteten, bis Lonzo nach einer chemischen Analyse mit einem fröhlichen »Haut rein!« die Speisen für unbedenklich erklärte, dann machten sie sich mit Heißhunger über Fleischbrühe, Salat und Obst her. Die chemische Analyse war notwendig, obwohl niemand an der Gutartigkeit der Raufbolde ernsthaft zweifelte. Die Möglichkeit konnte nicht ausgeschlossen werden, daß die Speisen für menschliche Organismen ungeeignet waren. Im Grunde aßen die Kinder nun zum erstenmal in ihrem Leben n atürliche Nahrung, denn alles, was sie von der Erde und vom Raumschiff her kannten, war synthetisch - sogenanntes Synthofood -, wenn es auch in Aussehen und Geschmack natürlicher Nahrung angeglichen war. »Das müßte Karlie miterleben«, sagte Harpo und kaute mit vollem Mund an einer eiförmigen, grüngelben Frucht, die saftig-süß schmeckte. »Der würde uns nicht länger mit seinen blöden Kartoffelpuffern in den Ohren liegen.« Fantasia und Lori lachten. Karlie Müllerchen war berühmtberüchtigt für seine vielen Kartoffelpuffer-Rezepte. Wenn er Küchendienst hatte, und das kam oft vor, weil er sich rege lrecht danach drängte, war es nicht schwer, den Speisezettel zu erraten. Flunki gab sich nicht damit zufrieden, seine Gäste beim Essen zu beobachten, sondern langte selbst kräftig zu. Die Brühe schöpfte er aus einem riesigen Metallkessel, dessen Inhalt mindestens drei Dutzend hungrige Mäuler gestopft hätte. Obst und Salate reichte er aus großen Schüsseln und Körben. Wie es schien, waren die Raufbolde mit ungeheurem Appetit gesegnet. Na, 148
kein Wunder, wenn sie sich so schnell bewegten und zusätzliche Kalorien beim Fluchen verbrauchten. »Ich will mal nicht so sein«, meinte Flunki augenzwinkernd. »Normalerweise schalten wir nämlich beim Essen unser Beschleunigungsfeld auf die höchste Stufe, damit wir richtig reinschaufeln können. Würde ich das tun, hättet ihr keine Chance gegen mich.« Sein mächtiger Schnauzbart hatte beim Schlürfen der Brühe bis auf den Boden der Schüssel gehangen und tropfte jetzt wie ein Pinsel, den man in Farbe getaucht hatte. Lori kicherte leise und stieß mit dem Fuß Fantasia an. »Schneebeutel und Eishörnchen!« fluchte der Große Flunkerer. »Mir scheint, das Schneeflöckchen Lotharine macht sich über mich lustig!« »Nein, nein«, beruhigte ihn Harpo hastig. »Sie ist immer so albern beim Essen.« »Na, ausnahmsweise will ich das mal glauben«, sagte Flunki schmunzelnd. Dann versuchte er Lori einen strengen Blick zuzuwerfen, der ihm so gründlich mißlang, daß die Kleine mit einem glockenhellen Lachen herausplatzte. Das war so ansteckend, daß alle mitlachen mußten, selbst Flunki. Dabei traten ihm vor Freude sogar Tränen in die Augen. Allein Lonzo schaute beim Essen zu, ohne etwas anzurühren. Ihm machte das aber wenig aus. Als Roboter kannte er Gefühle wie Hunger und Durst nicht, wenn er auch manchmal wie ein Mensch redete und es weit von sich wies, eine Maschine zu sein. Allerdings freute er sich zuzusehen, wie es seinen Freunden schmeckte. Er beanstandete nur, daß Essen für Captain Kidd stets eine wichtige und ernste Sache gewesen sei, die mit Albernheiten nicht vereinbar war, und deshalb die Sache mit dem Klabauter-Orden vielleicht doch noch einmal überlegt werden müsse. Ansonsten registrierte er in seinem fotografischen Gedächtnis, daß sie hier in einer kleinen Grotte saßen, die man wohl als Küche bezeichnen mußte. Ein niedriger, derber Holztisch trug das Eßgeschirr, das nur aus Schüsseln und kleinen Messern bestand. Man hatte es sich auf dem weichen Boden bequem gemacht und die warmen Anzüge abgelegt. Falls die Raufbolde Stühle gekannt hätten, wären sie ohnehin zu klein für Menschen gewesen.
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Abgesehen von dem Tisch und den vielen Töpfen und Körben gab es nur ein paar Regale mit allerlei Vorräten und in einer Ecke eine glühendrote Platte, auf der der Suppentopf gestanden hatte. Das war wieder einmal erstaunlich. Obwohl die Raufbolde rustikal eingerichtet und angezogen waren und in Felsenhöhlen wohnten, hatten sie andererseits doch einige Dinge, die nur mit einer hochtechnisierten Zivilisation zu erklären waren, etwa Heizplatten, Taschenlampen oder die Gürtel mit dem Beschleuniger. Nicht zu vergessen die Beleuchtung, die auch hier aus dem Fußboden drang. Eigenartig nur, daß man die leuchtende Fläche sah und auch dunklere und hellere Flecken und Stränge ausmachen konnte, aber weiter im Boden nichts zu erkennen war. »Erzähl uns doch bitte was über die Raufbolde, Flunki«, platzte Harpo schließlich heraus, als alle satt waren. »O ja, bitte!« fielen auch Fantasia und Lori ein. Für einen Moment redeten alle durcheinander, aber schließlich setzte sich Harpo durch. »Wie viele Raufbolde gibt es eigentlich auf eurem Planeten?« wollte er wissen. »Nicht mehr viele«, antwortete Flunki. »In diesem Clan leben knapp hundert von uns. Die ganze Ostgruppe besteht aus siebenundvierzig solcher Clans. Und dann gibt es noch eine Westgruppe und eine Nordgruppe mit zusammen noch einmal einhundertelf Clans. Alles in allem besteht unser Volk aus höchstens zwanzigtausend Raufbolden, Kinder und Greise mitgerechnet.« »Oh«, machte Harpo. Das war wirklich nicht sehr viel. Besonders, wenn man bedachte, wie groß der Planet Nordpol war. Auf der Erde lebten fast zehn Milliarden Menschen! »Früher waren wir mehr«, erklärte Flunki. »Damals war es aber auch auf dieser Riesenmurmel noch nicht so hundekalt. Und es war leichter, etwas zu futtern für uns und die Partner zu finden.« »Woher habt ihr die Beschleuniger-Gürtel?« fragte Fantasia, bevor Harpo weiterfragen konnte. Er hätte gern gewußt, wen der Raufbold gemeint hatte, als er von Partner sprach. »Ha!« explodierte Flunki. »Bei den sieben Rotpelzen, die ich mit einem Holzschwert erledigte! Ich möchte jedes Haar meines Bartes einzeln darauf wetten, daß du uns nicht zutraust, daß wir genügend Grips haben, so etwas selbst zu bauen! Du hältst uns für finstere Höhlenaffen, die nichts können, als Schneebeeren und Frostpilze sammeln, he?« 150
»Aber nein, ich wollte nur ...«, protestierte Fantasia, die nicht recht wußte, ob Flunki nun in der Tat beleidigt war oder wieder einmal den starken Mann spielte. Und sie fühlte sich wirklich ein wenig schuldbewußt, denn sie hatte tatsächlich daran gedacht, daß vielleicht eine andere Rasse den Raufbolden ein paar technische Instrumente überlassen hatte. »Schneematsch und Eisklumpen!« redete sich der Gnom in Wut. »Wie macht man diesen Rotznasen nur klar, daß wir Raufbolde schon Raumschiffe besaßen, als die Menschen noch auf den Bäumen hockten und ihre Läuse zählten?« Er raufte sich theatralisch die Barthaare und fummelte dann an seinen Zöpfen. Schließlich warf er seinen Helm mit den kleinen Metallflügeln zu Boden und tat so, als würde er darauf herumtrampeln. Aber er achtete geschickt darauf, daß er nichts an seiner Kopfbedeckung beschädigte. Flunki zeigte die Zähne, machte wieder mal: »Grrrr!«, und dabei funkelten seine Augen vor diebischer Freude. Mit diesen Leuten von der Erde, so fand er, konnte man sich richtig herrlich aufregen. Schließlich hielt er erschöpft inne, holte tief Atem und erzählte, daß es in grauer Vorzeit auf dem Planeten Nordpol einen Streit gegeben hatte zwischen Raufbolden, die immer weiter in den Kosmos hinausstürmen wollten, und solchen, die lieber erst einmal auf dem Planeten alles in Ordnung bringen wollten, bevor man sich auf Abenteuer einließ. Tatsächlich hatte sich dann eine Gruppe von Raufbolden von ihren Partnern getrennt und war ins All gestartet. Man hatte nie wieder etwas von ihnen gehört. Die Zurückgebliebenen wurden nachdenklich. Man fragte sich, ob es Sinn hatte, immer weitere Reichtümer auf Kosten anderer anzuhäufen, sich gege nseitig zu beneiden und zu bekämpfen. Man fand einen anderen Weg: mit den Partnern und in der Geborge nheit des Clans, in dem niemand Not leiden mußte und jeder seinen Spaß hatte. »Caramba!« schimpfte Lonzo. »Dieser bärtige Knirps kann es nicht lassen, uns ehrliche Seeleute zu verschaukeln. Er will einfach nicht sagen, wer denn die geheimnisvollen Partner, von denen er dauernd redet, überhaupt sind!« Plötzlich tauchte ein vor Anstrengung keuchender Jungraufbold am Eingang der Küchenhöhle auf. Seine großen, dunklen Augen blitzten freudig in dem schwarzhäutigen Gesicht. Nanu, ein schwarzer Raufbold? 151
»Harpo! Lori, Lonzo, Fantasia!« rief er. »Die R-r-r-raufbolde haben m -mir gesagt, daß eine zweite E-expedition eingetroffen ist.« »Mensch, Brim!« schrien die anderen. Sie hatten ihren Freund von der EUKALYPTUS in seinem neuen Raufboldanzug nicht erkannt. »Wir haben uns die größten Sorgen gemacht, als der Funkkontakt abriß.« »D-das war wegen ...« »Wissen wir schon alles«, unterbrach ihn Fantasia. »Erzähl doch mal, wie es euch ergangen ist.« Jetzt kamen auch Tom Schlitz, Micel Fopp und Fidel Flottbek angerannt. Die Sonne Archimedes hatte sie braun gebrannt, und auch sie sahen in den fremdartigen Kleidern abenteuerlich und verwegen aus. »Hat Borro uns geschenkt«, verkündete Brim Boriam stolz und deutete auf seine Stiefel. »Mächtig dankbar, der Bursche!« »Ich habe euch schon draußen gespürt«, sprudelte Micel hervor, der Junge mit den verkümmerten Ärmchen. Er verfügte über telepathische Kräfte, das heißt, er konnte gelegentlich die Gedanken anderer Leute empfangen. »Denkt nur, ich habe mich telepathisch mit Borro unterhalten. Einfach Klasse, kann ich da nur sagen!« »He, das wird aber eng hier«, knurrte Flunki. »Laßt uns in eine der Schwatzhöhlen rübergehen.« Er setzte seinen Gedanken direkt in die Tat um und führte seine Gäste in eine große Nachbarhöhle, in der alle genügend Platz hatten. Sie ließen sich auf weichen Fellen am Boden nieder. »Wo wart ihr denn die ganze Zeit?« fragte Lori gespannt. »Wir haben den Raufbolden bei der Schneepilz-Ernte geholfen«, verkündete Tom stolz, dessen krankhafte Blässe fast ganz verschwunden war. »Stellt euch mal vor: Ich allein habe mehr als vier Tonnen geerntet. Da wird Borro anständig über den Winter kommen!« »Verflixt und zugenäht!« explodierte Harpo. »Langsam reicht es mir aber. Dauernd wird hier von Partnern und diesem Borro geredet, und niemand hält es für nötig, uns die mysteriösen Burschen einmal vorzustellen!« »Jawoll!« krähte Lonzo. »Selbst Captain Kidd würde niemanden so lange auf die Folter gespannt haben!« Micel blickte seinem Freund in die Augen, sah in Wahrheit aber viel tiefer, nämlich in Harpos Gehirn. »He!« rief er aus. »Die wissen tatsächlich noch nicht, wer Borro ist!« 152
»Juchhu!« lärmte Tom. »Dann steht euch die dickste aller dicken Überraschungen ja noch bevor!« »Hahaha«, lachte Brim. »Das zieht den stärksten Eskimo vom Schlitten. Hört mal, Leute, könnt ihr euch vorstellen, daß man Borro übersieht?« Die vier Neuankömmlinge schienen die Sache unheimlich lustig zu finden, denn sie konnten sich kaum beruhigen vor lauter Lachen. »Allmächtiger Schüttelfrost!« jubelte Flunki, dessen mächtiges Organ alles übertönte. »Ist das ein Spaß! Das muß ich nachher sofort den anderen erzählen. Und vor allen Dingen natürlich Borro.« »Wo ist er denn, euer Borro?« rief Harpo und sah sich um. »Holt ihn doch endlich her, damit wir ihn sehen können.« Aus unerfindlichen Gründen rief auch diese Äußerung eine Lachsalve hervor. »Großvater des Frostfiebers!« kreischte Flunki in höchstem Entzücken und mit Tränen in den Augen. »Ich kann nicht mehr. Diese Erdenwürmer sind aber auch wirklich zu spaßig.« Wider Erwarten hatte Brim Boriam dann doch ein Einsehen. »Hört zu«, sagte er mit Verschwörermiene. »Ihr werdet gleich mit uns lachen und einsehen, wie komisch das alles ist. Borro ist ein Schneekrabbler und zugleich Partner der Raufbolde. Sie leben mit ihm zusammen - genaugenommen sogar mehr als das. Sie leben in ihm. Versteht ihr jetzt? Borro ist eine intelligente Riesenschildkröte, die sich ganz gemächlich über den Planeten bewegt. Die Raufbolde leben in seinem Rückenschild, den wir anfangs alle für einen Hügel gehalten haben.« Er klopfte auf den weichen Höhlenboden. »Dies ist Borro«, verkündete er. »Die Wände, das ganze System der Höhlen und Gänge, der ganze sechshundert Meter hohe Hügel das alles ist Borro!« »Potztausend!« rief Lonzo begeistert. »Wenn das Captain Kidd noch e rlebt hätte!« Harpo, Fantasia und Lori hatten ihren Ohren nicht trauen wollen. Aber jetzt verstanden sie alles. Da hatten sie ja wahrhaftig vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen. Natürlich, das erklärte alles: Der Eingang in den »Berg« war nichts anderes gewesen als ein Muskel dieses riesigen Wesens und konnte auch deshalb 153
wieder verschwinden - weil er sich zusammenzog und die Öffnung verschloß. Das erklärte auch die Weichheit des Untergrundes, auf dem sie gelaufen waren. Sie hatten sich auf der Haut des Schneekrabblers vorwärtsbewegt. Jetzt lachten alle und riefen fröhlich durcheinander. Es war in der Tat phantastisch. Sie hielten sich im Schutzpanzer eines lebendigen Wesens des Planeten Nordpol auf. Thunderclap und die anderen Freunde auf der EUKALYPTUS würden Augen wie Mühlräder machen, wenn sie davon hörten. »Erzählt uns mehr über die Schneekrabbler«, forderte Fantasia ungeduldig.
Ein komisches Erdbeben »Es steigt die große Besichtigung des Schneekrabblers Borro!« rief Flunki. »Was Beine hat, folge mir!« »Klar«, meinte Brim . »Es ist viel beeindruckender, alles selbst anzusehen, als sich von anderen was erzählen zu lassen. Wir kommen auch mit. Wir haben uns noch lange nicht sattgesehen.« Lärmend setzte sich die Schar in Bewegung. »Nehmt die Kratzer mit«, riet Flunki und zeigte auf eine Reihe von schrubberähnlichen Instrumenten, die an der Wand hingen. »Die können wir wahrscheinlich gut gebrauchen.« Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und ergriffen die Geräte. Sie durchquerten eine Reihe von Wohnhöhlen. Das Lachen, Grüßen und Fluchen wollte überhaupt nicht abreißen, denn in den meisten Räumen hielten sich andere Raufbolde auf. Da einige beim Essen waren, auf der faulen Haut lagen oder in fröhlicher Runde den Becher mit Schnapshonig kreisen ließen, fragte Harpo seinen Freund Brim verstohlen, ob hier denn nirgendwo gearbeitet würde. Überhaupt hatten sie bisher noch nicht einen Raum bemerkt, in dem es wie in einer Werkstatt, einer Wäscherei oder einer Fabrik aussah. Und doch mußten die Kleider und Einrichtungsgegenstände dieser Wesen irgendwo entstehen, gereinigt, geflickt und gewaschen werden. »Wie das vor sich geht, weiß ich auch noch nicht«, gab Brim zu. »Aber glaub ja nicht, daß die Raufbolde faul sind. Während sich der Schneekrabbler so langsam fortbewegt, daß es ein menschliches Auge kaum wahrneh154
men kann, schwärmen sie mit automatischen Schlitten aus und sammeln Nahrung oder pflanzen neue an. Du glaubst ja gar nicht, was alles unter der Schneedecke wächst! Der Planet ist überhaupt nicht so tot, wie er aussieht. Pausenlos wird Nahrung eingefahren und gelagert. Riesige Mengen! Wirklich, du wirst dich wundern. Unterwegs haben wir auch Raufbolde aus anderen Clans getroffen, denn die Schneekrabbler bewegen sich ja in einer Gruppe über das Land.« »Flunki hat erzählt, daß die Ostgruppe aus siebenundvierzig Clans besteht. Gibt das Land so viel Nahrung her?« »Flunki?« fragte der Raufbold, der alles verstanden hatte, obwohl die beiden Jungen leise gesprochen hatten und außerdem genügend Lärm herrschte. »Wer sagt etwas über den Großen Flunkerer, he? Heraus damit!« »Wir unterhielten uns gerade über die riesigen Nahrungsvorräte«, erklärte Brim Boriam bereitwillig. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß hundert noch so hungrige Raufbolde derartige Mengen verdrücken können.« »Na, die Futtermengen sind doch für Borro«, erklärte Flunki stirnrunzelnd und mit gesträubtem Bart. »Und wieso frißt er sie nicht gleich?« fragte Lori naseweis. »Eisregen und Frostnebel!« knurrte Flunki. »Natürlich weil er schläft! Deshalb frißt er sie nicht, Schneeflöckchen.« »He«, rief Tom ungläubig, »das stimmt doch gar nicht. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Borro sich weiterbewegt hat. Er schläft nicht. Der marschiert munter weiter. Na, munter für seine Verhältnisse jedenfalls.« »Grrrr«, machte Flunki, ergriff dann mit beiden Händchen seinen Helm und versuchte ihn sich über die Ohren zu ziehen. »Der Eisverkäufer soll mich im Packeis einfrieren, wenn Borro nicht schläft. - Und munter nennst du sein Schleichen? He, du müßtest mal sehen, wie er abzischt, wenn der Sommer kommt! Dann machen wir die großen Schneekrabbler-Rennen, an denen sich alle Clans beteiligen. Borro hat in den letzten tausend Jahren fast ein Viertel aller Wettrennen gewonnen. Wenn er im Sommer e rwacht, jagt er schneller als ein galoppierender Quadrubbel durch die Gegend. Ganz zu schweigen davon, wenn er sich ins Gletschertal hinabschlittern läßt! Könnt ihr euch das überhaupt vorstellen, wenn diese wandelnden Berge wie Bob155
schlitten in die Tiefe trudeln und dann zusammenstoßen? Das macht vielleicht Spaß! Jungejunge!« »Halt!« rief Fantasia nun. »Hast du nicht eben gesagt, Borro sei tausend Jahre alt?« »Habe ich nicht«, meinte Flunki und streckte ihr die Zunge heraus. »Er ist nämlich zweitausend Jahre alt«, fügte er grinsend hinzu. »Schneekrabbler vermehren sich selten, dafür werden sie aber auch steinalt.« »Und ihr?« fragte Micel. »Werdet ihr auch so alt?« Noch bevor Flunki die Antwort aussprach, hatte Micel sie bereits im Gehirn des Raufbolds gelesen. »Nein, nein, beim eisigen Bart meiner Urgroßmutter«, versicherte Flunki abwehrend. »Wir werden auch nicht viel älter als ihr Menschen. Aber hört zu, ich will euch erklären, warum Borro schläft und trotzdem weiterkrabbelt - und weshalb Raufbolde und Schneekrabbler so famos miteinander auskommen.« Die Besucher von der EUKALYPTUS spitzten die Ohren, während Lonzo wie üblich alles in seinem Gedächtnis speicherte. »Dieser Planet, den ihr Wichte Nordpol nennt - unser Name für ihn ist Raufboldparadies -, ist groß. Und es gibt auf ihm nur wenige Schneekrabbler.« Flunki zwirbelte seinen Bart. »Aber sie würden bald alles kahlgefressen haben und müßten aussterben, wenn die Natur im Laufe der Jahrtausende nicht einen Schutzmechanismus entwickelt hätte. - Das geht so: Die Krabbler sind nur zehn Tage im Jahr putzmunter. Dann machen sie das große Rennen, von dem ich eben erzählt habe, und legen eine größere Strecke zurück als in den restlichen Tagen zusammen. Außerdem futtern sie in diesen Tagen fast ununterbrochen. Sie fressen derart viel, weil es für das ganze Jahr reichen muß. Allein können sie gar nicht genügend Futter aufspüren in der kurzen Zeit.« »Deshalb also helfen ihnen die Raufbolde«, unterbrach ihn Lori mit erhobenem Zeigefinger. »Genau, Schneeflöckchen«, gab Flunki lachend zu. »Wir sammeln die ganze Zeit über Futter und stopfen es in die Hohlräume unter Borros Panzer. Wenn er wach wird, schlingt er alles hinunter. Und noch einiges mehr, was er sich dann selbst sucht. Dafür gibt er uns das ganze Jahr über behaglichen Unterschlupf und Wärme, was am wichtigsten für uns Raufbolde ist, denn 156
wir sind sehr kälteempfindlich. Deswegen unsere Beschleunigungsfelder, die wir meistens draußen einschalten, um schneller wieder zu Borro zurückzukehren. Früher war es auch wichtig, daß Borro uns vor unseren Feinden schützte. Aber das ist noch nicht alles.« »Nein?« fragte Lori. »Borro kann noch viel mehr, denn er ist kein gewöhnliches Tier, sondern ein hochintelligentes Wesen. Während sein Körper den größten Teil des Jahres Winterschlaf hält, also gewissermaßen auf Sparflamme schaltet und dabei doch langsam weiterkrabbelt, damit die Gelenke nicht einrosten, wacht sein Gehirn! Er unterhält sich mit uns auf ähnliche Art wie euer Freund Micel, der gelegentlich eure Gedanken lesen kann. Wir haben dann nicht nur großen Spaß miteinander, sondern Borro kann uns auch fast jeden Wunsch erfüllen. Deshalb hat Harpo auch nirgendwo Fabriken und Werkstätten entdecken können. Borro selbst ist nämlich unsere Fabrik! Er entnimmt dem Boden Mineralien, wandelt sie in flüssiges Metall, Glas oder was auch immer wir brauchen um - und verwertet gleichzeitig die unverdaulichen Reste der verzehrten Pflanzen. Wir machen dann die Konstruktionsentwürfe, für ein Wams oder einen Helm beispielsweise - und Borro spuckt die fertigen Sachen aus.« »Klasse«, sagte Brim bewundernd. »Phantastisch!« mußte auch Harpo anerkennen. »Das ist ... intergalaktisch!« rief Lonzo jubelnd und wirbelte seine Tentakel umher. »Das hätte Captain Kidd wissen müssen, als wir damals vor Kap Hoorn gekentert sind. Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir wieder eine seetüchtige Schaluppe unter die Füße bekamen.« »Die Schneekrabbler haben sogar die Raumschiffe gebaut, mit denen die andere Hälfte unseres Volkes zu den Sternen flog«, verriet Flunki auge nzwinkernd. »Allerdings haben sie dafür schon eine Menge Zeit gebraucht.« »Donnerwetter«, staunte Fantasia. »Dann sind Borros Leute ja wohl die größten Ingenieure der Galaxis. Oder, sagen wir mal, Schneekrabbler und Raufbolde zusammen.« »Das möchtest du wohl auch mal können, wie?« neckte Tom sie. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß das rothaarige Mädchen nichts lieber werden wollte als ein einfallsreicher Raumschiffbauingenieur. »Fertige Raumschiffe ausspucken und so?« 157
Harpo glaubte plötzlich auf einem Drahtseil zu laufen, das im Begriff war, sich erst nach links und dann nach rechts zu verschieben. Erschreckt versuchte er das Gleichgewicht zu halten und erkannte, daß er keine Halluzinationen hatte, sondern daß seine Freunde - einschließlich Flunki, dem der Helm bis auf die Nasenspitze hinuntergerutscht war - mit demselben Phänomen zu kämpfen hatten. Der Boden bebte! Erschreckte Ausrufe drangen von allen Seiten auf Harpo ein, dann purzelten die Kinder hilflos durcheinander. Von draußen e rtönte ein Krachen, das sich wie das Donnern eines Gewitters in den Bergen anhörte. »Die Engländer greifen Captain Kidd an!« schrie Lonzo. »Alles in Dekkung, Leute! Es werden schwerste Geschütze eingesetzt. Na los! Geschützklappen runter! Geben Sie dem unverschämten Kerl eine Breitseite, Mister Grumpff!« »Was war denn das?« fragte Fidel, der sich wie die anderen mit wirren Haaren aufrappelte, als die Erschütterungen nachließen. »Ein Erdbeben?« Ein Nachläufer riß ihnen erneut die Beine weg. Vorsichtshalber blieben sie sitzen und beobachteten kichernd Flunki, dem der Helm nun bis ans Kinn gerutscht war. »Potz Galaxis!« schrie der Raufbold. »Wollt ihr mich nicht von diesem Blecheimer befreien? Ich sitze im Dunkeln!« Lonzo war so frei. »Uff!« machte Flunki mit hochrotem Kopf. Obwohl die anderen nun alle damit rechneten, daß er ein paar saftige Flüche ausstoßen würde, grinste er nur breit und sagte: »Der Junge hat eben einen goldigen Humor. Wenn das ein Erdbeben war, dann ein sehr komisches.« Er schüttelte den Kopf, daß seine Zöpfe flogen. »Nein, Freunde, Borro hat gelacht. Richtig herzhaft gelacht.« »Gelacht?« echote Lori erstaunt. Lonzo schnaufte: »Dann möchte ich nicht erleben, wenn er sich über etwas ärgert!« »Hat er etwa über uns gelacht?« fragte Fantasia empört. »He, he, he!« lachte Flunki. »Ich nehme an, daß ihm ein Witz besonders gut gefallen hat. Ihr werdet gleich sehen.« 158
Tatsächlich hörten sie aus der Ferne ein schallendes, überschäumendes Gelächter, dieses Mal aber aus den Kehlen einiger Raufbolde, die in einer Nebenhöhle saßen. Sie hatten flauschige Felle herangeschleppt, auf denen sie gemütlich Schnapshonig tranken und dicke Zigarren rauchten. Das Besondere an dieser Höhle war, daß hier das Bodengewebe viel heller aussah und dicke Falten warf. Die Decke bestand ebenfalls aus weichem Gewebe und nicht wie sonst aus dem Knochenkalk des Panzers. Dicke Stränge aus fleischigem Material hingen tief in die Höhle hinein. Ob das Nervenstränge waren? »In solchen Kammern kann man sich besonders mühelos mit Borro unterhalten«, bestätigte Flunki. »Sie sind direkt mit seinem Gehirn verbunden.« »Ihr kommt gerade recht«, sagte einer der Raufbolde und nebelte sich derart mit dem Qualm seiner Zigarre ein, daß man nur noch den bis zum Bauch reichenden rotblonden Bart erkennen konnte. »Wir sind gerade dabei, Flunki!« »Dann legt mal los.« Flunki rieb sich grinsend das Kinn. Der andere Raufbold sagte: »Hör zu, Borro: Da kommt eines Tages der Raufbold Rastus in das schneebedeckte Waldland von Süd-Talizien, weil er beschlossen hat, einige Klafter Holz zu hacken. Als er ankommt, sieht er eine Menge anderer Raufbolde kräftig die Äxte schwingen. Kopfschüttelnd geht er auf die anderen Holzfäller zu und fragt: 'Wieso arbeitet ihr denn so langsam?' - Das regt die Befragten natürlich auf. Und das kann man verstehen, wenn man weiß, daß sie den kleinen Rastus alle um einen ganzen Kopf überragen und ihre Muskeln durch die wochenlange Hackerei mächtig stark geworden sind. Geringschätzig sagt einer zu Rastus: 'Sag mal, hast du Wicht überhaupt schon mal einen Baum gefällt, daß du hier so große Sprüche klopfen kannst?' Rastus verschränkt die Arme auf der Brust, sieht hochnäsig zu dem Frager auf und erwidert: 'Klar! Zweifelt etwa jemand an meiner Kraft?' Daraufhin brechen die altgedienten Holzfäller in lautes Gelächter aus. 'Wo soll denn das gewesen sein, wo du Bäume gefällt hast?' fragt ein anderer. Und Rastus antwortet: 'In der Sandwüste von Pelombang natürlich!' Daraufhin schrien die a nderen: 'In der Sandwüste von Pelombang? Aber da gibt's doch keinen einzigen Baum!' 'Tja', erwidert Rastus, 'jetzt natürlich nicht mehr!'«
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»Ho, ho, ho!« lachten die Raufbolde und schlugen sich auf die Schenkel. Die Kinder stimmten in das Lachen ein. Dann wurden sie alle wieder einmal durcheinandergeworfen. Das war Borro. »Kennst du den schon, Borro?« fragte ein anderer Raufbold. »Da kam eines Tages Rastus in eine Schenke ...« »Nichts wie weg!« rief Lonzo, bei dem sich im allgemeinen Durcheinander zwei Tentakel verknotet hatten. Lachend folgte ihm die Meute. Nur die Witzeerzähler blieben in der Höhle zurück und waren bald außer Hörweite. »Da staunt ihr, was?« sagte Flunki mit leuchtenden Augen. »Ein paar von uns sitzen immer hier und heitern Borro auf, damit er nicht trübsinnig wird, während sein Körper Winterschlaf hält. Er hat ja sonst kaum Abwechslung. Als nächstes wird Borro dann den anderen Schneekrabblern die Witze telepathisch weitergeben.« »Na, so was!« meinte Harpo. Die anderen prusteten immer noch. »Wenn ihr gute Witze kennt, müßt ihr sie mir unbedingt erzählen«, meinte Flunki. »Ich habe neuen Stoff dringend nötig. - Aber jetzt werden wir Borro einen anderen Gefallen tun, um den er mich gebeten hat.« Er musterte mit Scharfblick die Wände. »Hier muß es sein.« Er wies auf ein besonders auffälliges, hellrot leuchtendes G ewebe. »Den Guten juckt es nämlich hier. Er braucht ein paar Leute, die ihn kratzen.« »Klar, machen wir!« rief Tom begeistert. »Ran an die Schrubber und auf ins Gefecht!« Jubelnd stimmten die anderen mit ein und begannen damit, die Haut der Riesenschildkröte mit ihren mitgebrachten Werkzeugen zu bearbeiten. Lonzo, dessen Tentakel inzwischen wieder entknotet waren, stürzte hinterher. »Weiter so, Matrosen!« rief er. »Scheuert das Deck. Die Schaluppe muß blitzen!«
Schlittenfahrt Es war unmöglich, in der kurzen Zeit jede Besonderheit im Labyrinth des Schneekrabbler-Panzers zu besichtigen, denn schließlich war er nicht nur 160
sechshundert Meter hoch und an der längsten Stelle fast einen Kilometer lang, sondern auch etwa hundert Meter dick. Flunki zeigte ihnen das Wichtigste. Da gab es nicht nur den Einstieg, durch den sie selbst in den Panzer gelangt waren, sondern mindestens ein Dutzend solcher Öffnungen, meistens mit einem Muskel unter Borros Panzer kontrollierbar. Das Erstaunlichste war jedoch jener Teil des Panzers, der die runde Kuppel bildete. Hier wurden die Nahrungsvorräte gelagert. Die engen Höhlen und Gänge, die man bisher kennengelernt hatte, fehlten hier. An ihrer Stelle sahen die Besucher richtige große Hallen, in denen sich menschengroße Riesenpilze, Heu, Früchte unbekannter Art, zahllose ebenfalls unbekannte Gemüsesorten und ein schilfartiges Gewächs türmten, das, so äußerte sich Flunki, besonders gut unter der Schneedecke gedieh. Selbst für die Raufbolde mit ihren Beschleunigern wurde es schwierig, sich in den riesigen Vorratsräumen zu bewegen. Aus diesem Grund hatten sie quer durch die Hallen eine Seilbahn gebaut. Von einer Gondel aus bestaunten die Kinder die Nahrungsvorräte. »Ein großes Problem stellen die zahlreichen Insekten dar«, e rklärte Flunki. »Ihr wißt schon: Stechmücken, Fliegen, Wanzen, Läuse und jede Menge dieser elenden Käfer. Die sind nicht nur lästig, sondern legen es auch darauf an, unsere Vorräte aufzufressen und Borro zu piesacken. Da es hier ziemlich warm ist und unzählige dunkle Winkel und Ritzen nur so zum Verkriechen einladen, sind dauernd einige von uns damit beschäftigt, die Störenfriede zu bekämpfen. Auch dafür ist die Seilbahn wichtig, denn mit ihr erreichen wir Bezirke, die sonst nur schwer zugänglich sind.« »Hat Brim euch gegen die Insekten geholfen?« fragte Lori. »Ja«, erwiderte Flunki nickend. »Das hatte auch etwas mit den Insekten zu tun. Stellt euch vor, eine Mückenart hat eine Stelle des Schneekrabblers in derartig großen Schwärmen überfallen und ihm Blut ausge saugt, daß sich die Stelle entzündete. Wir wußten keinen Rat. Die Entzündung ging einfach nicht zurück, sondern fraß sich immer tiefer in Borros Körper.« »Ich habe Borro ein entzündungshemmendes Präparat gegeben«, meinte Brim Boriam bescheiden. Er hatte sich dank der Hypnoschulung der galaktischen Mediziner wirklich zu einem erstklassigen Arzt gemausert. Das fanden alle. »Am gefährlichsten war allerdings eine Pilzwucherung, die ich mit Miconazolnitrat in den Griff bekam«, fügte er hinzu. »Ich benötigte mehrere 161
Tonnen von dem Zeug. Nur gut, daß die Arzneim aschine des Bootes auf Nordpol genügend Grundmaterial fand, um den Stoff schnell zu synthetisieren.« »Borro bietet euch allen von der EUKALYPTUS für diese rasche Hilfe Wohnrecht auf Lebenszeit in seinem Panzer an«, informierte sie Flunki. »Das ist wirklich riesig nett«, antwortete Brim. »Aber im Augenblick wissen wir wirklich noch nicht, ob wir auf eurem Planeten bleiben wollen. Allerdings ist es schön, zu w-wissen, daß man irgendwo ein Zuhause hat.« Er hatte recht. Sie wußten wirklich noch nicht, wie alles weitergehen sollte. Harpo allerdings wußte, daß es viele Kinder an Bord des ehemaligen Sanatoriumschiffes gab, die um jeden Preis so schnell wie möglich wieder auf einem echten Planeten leben wollten - selbst wenn er größtenteils mit Schnee und Eis bedeckt war. Andererseits war ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mannschaft, darunter Thunderclap Genius, Karlie Müllerchen, der kleine Ollie und auch er, dafür, weiter durch das All zu fliegen, die Wunder des Kosmos zu sehen und fremde Planeten zu erforschen. Es würde eine schwierige Entscheidung werden. Daß die Raufbolde ihr Angebot ernst meinten, bezweifelte niemand. Aber würde es auf die Dauer Spaß machen, mit einem Schneekrabbler durch unbekannte Länder zu ziehen, wenn man die Chance hatte, den Weltraum zu durchqueren? Anfangs sicherlich, aber nach einigen Jahren ... »Mensch, Brim!« rief Harpo plötzlich. »Wir haben uns schon eine Ewigkeit nicht mehr mit Thunderclap verständigt. Am Ende glauben die, daß uns was zugestoßen ist!« »Verdammt«, erwiderte Brim nachdenklich. »Wir müssen unbedingt zu den Beibooten zurück. Ihr könnt ja solange hierbleiben. Wir kommen wieder.« Flunki stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf ein anderer Raufbold mit einer zweiten Gondel erschien und Brim, Fidel, Tom und Micel zu einem Ausgang in der Nähe der Beiboote brachte. Die anderen Kinder blieben zurück. »Habt ihr eigentlich keinen König oder so was?« fragte Lori und zupfte dabei an Flunkis Ärmel. »König?« fragte Flunki zurück. Sein ganzes Gesicht drückte Erstaunen aus. »Nie gehört, das Wort.« 162
»Na, einen Häuptling, Fürsten, Präsidenten oder Diktator. Einen, der alles bestimmt.« »So etwas gibt es bei uns nicht«, wehrte der Gnom entrüstet ab. »Jeder tut bei uns, was er für richtig hält, was ihm Spaß macht. Wäre ja noch schöner, wenn uns jemand vorschriebe, etwas zu tun, was uns keinen Spaß macht.« »Und doch funktioniert alles?« fragte Harpo. »Klar doch«, erwiderte der Raufbold. »Arbeit macht schließlich Spaß, wenn man genau weiß, daß sie nützt. Und außerdem h aben wir so viel Zeit, daß Arbeit immer eine willkommene Abwechslung ist.« Die Kinder mußten zugeben, daß Flunki eigentlich recht hatte. Seitdem sie auf der EUKALYPTUS selbständig waren und sahen, wie etwas unter ihren Händen entstand, waren sie viel fleißiger. »Wos«, knurrte Flunki, »holtöt Öhr von oinör kloinön Sprötztour möt döm Schlöttön?« Harpo schüttelte den Translator an seinem Armgelenk. »Das Dings scheint einen Rappel zu haben«, sagte Fantasia. »Oinön Roppöl?« fragte Flunki. Harpo schlug gegen das Gerät, und im gleichen Moment keifte Flunki: »Der Eierdieb soll mich rauben, wenn das Schneeflöckchen nicht eben über mich gelacht hat!« »Na also, es funktioniert wieder«, sagte Harpo befriedigt. Er erklärte Flunki, daß der Übersetzungsapparat soeben aus seinen Worten etwas Lustiges fabriziert hatte. »Schade«, knurrte Flunki, »ich hätte gerne mitgelacht.« Flunki wiederholte sein Angebot, eine Schlittenfahrt zu m achen, und alle stimmten begeistert zu. Der Raufbold steuerte die Seilgondel zu ihrem Ausgangspunkt zurück und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. »Aussteigen!« rief er dann. »Wir sind da!« Vor den staunenden Augen der Besucher lag eine Höhle, in der mindestens zwanzig Fahrzeuge einsatzbereit dastanden. Im Vergleich zu den Raufbolden waren es riesige Dinger, etwa zehn Meter lang. Ihre Aufgabe bestand, wie Flunki erklärte, darin, möglichst schnell viele Pflanzen zu ernten und zum Schneekrabbler zurückzubringen. Am vorderen Teil der Fahrzeuge waren Messerköpfe und Greifarme angebracht, die von innen gesteuert werden konnten. 163
»Wir brauchen sie jetzt nicht«, sagte der Raufbold und ließ sie per Knopfdruck verschwinden, als alle unter der durchsichtigen Glocke der Fahrerkabine angelangt waren. Geräuschlos verschwanden die Werkzeuge hinter einer Verkleidung. In Ruhe betrachteten die Kinder und Lonzo den Schlitten. Er war aus leichtem Metall, hatte eine Steuerkuppel aus glasähnlichem Material, eine schnittige, ovale Form und ähnelte einem Motorboot. Bei den Raufbolden hätten sie eine solche Maschine gar nicht vermutet. Die Kinder staunten, als Flunki wie ein erfahrener Pilot den Düsenantrieb startete und den Schlitten zischend auf seinen Kufen an die Wand von Borros Panzer herangleiten ließ. Jetzt wurde verständlich, daß selbst Raumschiffe für die Raufbolde nichts Ungewöhnliches waren, obwohl sie selbst keine besaßen. Als der Schlitten die Wand erreichte, reagierte Borro sofort. Er öffnete ein Tor, das groß genug war, um den Schlitten passieren zu lassen. Flunki startete durch, und im Nu rasten sie Borros schneebedeckten Panzer hinab. Harpo, Lori und Fantasia quetschten sich die Nasen an der Sichtkuppel platt, während Lonzo erfreut blubberte. Kein Wunder, denn zum erstenmal seit vielen Stunden befanden sie sich wieder im Freien. Und zum erstenmal sahen sie bewußt das Äußere des Schneekrabblers als das, was es war: als Panzer eines riesigen Intelligenzwesens. Aber im Grunde konnte man auch jetzt nicht mehr entdecken als zuvor. Borro sah von außen eben tatsächlich wie ein Hügel aus, der zwar merkwürdig gleichmäßig geformt inmitten einer Gruppe ähnlicher »Hügel« lag, ansonsten aber unter einer dichten Schneedecke jede vielleicht interessante Einzelheit geschickt verbarg. Im Hintergrund waren die Beiboote der EUKALYPTUS zu erkennen. »Hat Borro eigentlich Füße?« wollte Lori wissen. »Ich meine, wie eine Schildkröte?« »Das will ich meinen«, gab Flunki verschmitzt lächelnd zurück. »Wie sollte er sich sonst bewegen? Und er hat sehr große Füße, das dürft ihr mir glauben, Freunde. Seht mal genau hin. Dort drüben entstehen doch in regelmäßigen Abständen so kleine Trichter im Schnee. Gesehen?« »Gesehen!« schrien die Kinder.
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»Dort sind seine Füße«, fuhr der Raufbold fort. »Beim Vorwärtsbewegen stürzt immer etwas lockerer Schnee nach. Und jetzt schaut mal nach hinten. Glaubt ihr jetzt, daß Borro sich bewegt?« Flunki hatte recht. Ganz deutlich sah man hinter den Schneekrabblern tiefe Furchen in der weißen Landschaft, die genau der Hügelbreite entsprachen. Aber man mußte vorher wissen, auf was man zu achten hatte, um ihre Bedeutung zu erkennen. Und der eisige Wind wehte bereits wieder Schnee in die Mulden und ebnete alles ein. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es in dieser Einöde Pflanzen und Tiere geben soll«, murmelte Harpo mit gerunzelter Stirn. »Abwarten«, brummte Flunki und drückte einen anderen Knopf. Jetzt bohrte der Schlitten seine spitze Nase tief in den Schnee hinein. Es wurde dunkel, so daß Flunki in der Kabine ein mattes Licht einschalten mußte. An der Spitze des Fahrzeugs flammten Suchscheinwerfer auf. »Jetzt!« schrie Flunki. Im gleichen Moment brach der Schlitten durch die Schneedecke und glitt über einen Pflanzenteppich, der den Schnee vom Boden des Planeten fernhielt. Eine völlig neue Welt tat sich vor den Augen der überraschten Besucher auf. Sie war wohl dunkel und ohne Sonnenlicht, aber dennoch bedeckte dichter Pflanzenwuchs den schwarzen Boden des Planeten. Das war so überraschend wie der Formen- und Farbenreichtum, den man tief unten auf dem Grund der Ozeane finden konnte, bevor die großen Chemie-Konzerne das Wasser auf der Erde vergiftet hatten. »Die Pflanzen arbeiten ähnlich zusammen wie die Schneekrabbler und wir«, erklärte Flunki nicht ohne Stolz. »Symbiose nennt man das. Einzelne Gewächse gedeihen nur am Körper von anderen. Gerade sie wachsen aber durch den Schnee bis zum Sonnenlicht durch. Dort zersetzen sie sich, schmelzen durch eine chemische Reaktion kurzzeitig Löcher in den Schnee und führen dadurch Licht und Wasser für die anderen Pflanzen nach unten.« »Und so sieht es überall auf dem Planeten aus?« fragte Harpo verblüfft. »Nein«, erwiderte Flunki lachend. »Natürlich nicht. Tatsächlich muß man solche Gebiete mit der Lupe suchen; so, wie man auf der Erde eine Oase in der Wüste finden muß. Aber im Aufspüren dieser Gewächszonen sind die Schneekrabbler nun einmal wahre Meister. - Überdies gibt es auf unserer Welt auch ein ewiges Sommergebiet, wo man keinen Schnee findet. In der Äquatorzone.« 165
»Und warum geht ihr da nicht hin? Dann müßtet ihr die Pflanzen unter dem Schnee nicht so mühsam abernten.« Flunki zuckte mit den Schultern. »Die Sommerzone ist schmal«, erklärte er. »Außerdem könnte sie die Krabbler schon aus dem Grunde nicht ernähren, weil die dort herrschende Wärme andere Gewächse produziert. Nämlich solche, die die Krabbler nicht mögen. Die dort lebenden Tiere sähen es sicher auch nicht gern, wenn eine Herde unserer Partner ihnen in ein paar Monaten alles ratzekahl leerfressen würde.« »A propos sehen«, warf Lori neugierig ein. »Kann Borro denn überhaupt sehen? Frieren ihm bei dieser Affenkälte nicht die Augen zu?« »Bei Rastus und seinen vierzig Äxten«, meinte Flunki, »das würden sie tatsächlich tun. Aber keine Sorge, Schneeflöckchen, unsere Partner brauchen keine Augen. Ihre telepathischen Talente genügen völlig, um jedes andere Sinnesorgan zu ersetzen.« »Bitte, lieber Flunki«, bettelte Lori, »ich möchte so gern etwas mehr von Borro sehen. Können wir nicht näher an ihn heranfahren?« »Klar, machen wir!« versprach Flunki gutgelaunt und b etätigte das Steuer des Schlittens. »Hißt die Flagge!« brüllte Lonzo salutierend los. »Riesige Quadratlatschen vierzig Grad Ost! Was sehen meine pulvergeschwärzten Piratenaugen?« Tatsächlich kam in diesem Moment ein merkwürdiges Gebilde ins Gesichtsfeld der Beobachter, das dreimal so groß war wie ihr Schlitten. Man mußte erst einmal den Blick hin und her schweifen lassen, bis man die einzelnen Zehen erkannte und die dicke, schuppige Haut. Es sah wahrhaftig aus wie der dicke, tapsige Fuß einer Schildkröte in Großaufnahme. Und ganz ohne Zweifel konnte man nun auch ausmachen, daß er ganz gemächlich, im Zeitlupentempo, angehoben und wieder abgesetzt wurde. Die Kinder staunten. »Borro!« flüsterte Lori entzückt. »Du suchst dir nicht gerade kleine Spielgefährten aus, mein Schneeflöckchen«, brummte Flunki gutmütig und strich ihr über die blauschwarzen Locken. »Den Burschen da wirst du nicht so leicht zum Schmusen mitnehmen können ...« 166
Stimmen in der Nacht Leise summend glitt Flunkis Motorschlitten über den Schneeteppich. Sie hatten Borro bereits weit hinter sich gelassen und steuerten auf das offene Land jenseits der Schneekrabbler-Kolonne hinaus: Archimedes stand im Zenit und schüttete ein Lichtmeer aus. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht so stark, daß den Kindern bald die Augen brannten. »Beim fröstelnden Eierdieb!« rief Flunki und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. »Hab' ich doch tatsächlich vergessen, euch Sonnenbrillen zu verpassen!« Aufgeregt kramte er in der Ablage unter dem Armaturenbrett, bis er mehrere Brillen hervorzerrte. Die Gestelle waren so biegsam, daß man sie den Köpfen der Kinder anpassen konnte. Die dunklen Brillengläser ließen die Landschaft in einem ganz anderen Licht e rscheinen. Harpo deutete auf einen abgerundeten weißen Hügel am Horizont. »Was ist das, Flunki? Ein einzelner Krabbler?« Der bärtige Raufbold kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. »Das Hügelchen dort? Ein verlassener Iglu. Habt ihr Lust, ihn zu besichtigen?« »Klar!« war die einmütige Antwort. Und Lonzo fügte hinzu: »Ein Iglu? Dann habt ihr wohl auch Eskimos, Eisbären und Pinguine?« Der Raufbold lachte dröhnend. »Abwarten«, meinte er. Nach wenigen Minuten war der Schlitten bis auf zehn Meter an das Ziel herangefahren. Mit jeder Sekunde beeindruckte die halbkugelförmige, aus dicken Schnee- und Eisblöcken zusammengesetzte Kuppel ein Stückchen mehr. Sie schien gut zwanzig Meter hoch zu sein. »Donnerschlag!« rief Lonzo anerkennend. »Die Schneemaurer verstehen wirklich etwas von ihrem Fach.« Der Schlitten rutschte noch ein Stückchen vorwärts und bohrte sich dann in den Schnee. Alle sprangen hinaus. Ein bißchen Bewegung tat gut, denn die engen Sitze des Motorschlittens waren für die kleinwüchsigen Raufbolde gedacht und ließen den Beinen wenig Bewegungsfreiheit. 167
Der Boden hier wirkte härter als anderswo und sah aus, als hätten ihn viele Füße festgestampft. Harpo, Fantasia und Lori staunten das Bauwerk an und gingen langsam näher. Der Iglu hatte einen Umfang von mindestens 150 Metern und war noch weitaus höher, als sie anfangs geschätzt hatten. In regelmäßigen Abständen fehlten in den Wänden einzelne Schneequader, vermutlich, um genügend Sonnenlicht hineinzulassen. Ein zehn Meter langer Tunnel führte in das Innere und war so geräumig, daß man auch bequem mit dem Schlitten hätte hineinfahren können. Vor den Besuchern lag ein riesiger runder Saal: der gesamte Innenraum des Iglus ohne Unterteilungen oder stützende Pfeiler. Das einfallende, flirrende Sonnenlicht malte bizarre Kringel auf den festen Schneeboden und ließ die weißen Atemwolken der Kinder wie Dampf aufsteigen. Es war ruhig und feierlich wie in einer Kathedrale. Nur Flunki zeigte sich wenig beeindruckt. »Kalt und ungemütlich«, knurrte er. »Da lobe ich mir doch unseren lieben Borro. In dem läßt sich wohnen!« »Jedem das seine«, quakte Lonzo, dem Empfindungen wie Wärme und Kälte fremd waren. »Ein Fisch findet es im Wasser schön und ein Teufel in der Hölle. Und Captain Kidd fühlte sich nur mit Planken unter den Füßen wohl.« »Wer hat dieses Ding ge baut?« fragte Harpo. »Raufbolde etwa, die keinen Schneekrabbler bekommen haben?« Konnten die kleinen Burschen solche Riesenbauwerke überhaupt errichten? »Nein, nein«, rief Flunki. »Das würde uns niemals einfallen. Die Faulpelze bauen solche Iglus.« »Die Faulpelze?« fragten die Kinder und lachten. »Habt ihr noch keinen von diesen Burschen gesehen? Große Flegel mit Haaren am ganzen Leib? Na ja, eigentlich heißen sie Rotpelze. Der Hauptzweck ihres Lebens scheint Schlittenfahren zu sein.« Flunki grunzte verdrießlich. »Ein angenehmeres Leben kann man sich doch gar nicht vorstellen«, warf Lonzo ein und kümmerte sich wenig um den mißbilligenden Blick, den ihm der Raufbold zuwarf. Harpo erinnerte sich an die geheimnisvollen, bärenhaften Gestalten in der ersten Nacht auf dem Planeten. Als er Flunki davon erzählte, riß der kleine Mann empört Mund und Augen auf und schrie: »Ha! 168
Haben die Nichtsnutze wieder einmal unseren Borro als Rutschbahn benutzt! Diese Burschen haben keinen Respekt! Der Schneegockel möge seine Eier im Flug auf ihre Köpfe werfen!« So wütend sich das auch angehört hatte: Es fiel wieder einmal allen schwer, den Raufbold ernst zu nehmen. Jetzt prasselten tausend Fragen auf Flunki ein, so daß er notgedrungen etwas mehr über die Faulpelze erzählen mußte. »Sie leben in Clans wie wir Raufbolde und ernähren sich vom Fischfang«, ließ er seine Gäste wissen. »Wo soll es denn hier Fische geben?« fragte Harpo. »Bisher h aben wir weit und breit keinen Fluß entdecken können.« Flunki schmunzelte. »Es gibt aber welche, nur verlaufen sie unterirdisch. Die Faulpelze hacken Löcher in die Eisdecken zugefrorener Seen und tauchen hinab, um ihre Fangnetze auszuwerfen.« Fantasia schüttelte sich. »Brrrrr! Bei dieser Kälte?« »Es sind eben harte Burschen - und faule Flege l natürlich.« Flunki zwinkerte mit einem Auge und erzählte dann, daß die Bären einen Heidenrespekt vor den viel kleineren und schwächeren Raufbolden hatten. Den Grund umschrieb er recht blumig, aber wie es schien, hatte dies mit dem selbstbewußten Auftreten und der deftigen Sprache der kleinen Männer zu tun. Damit schüchterten sie die Rotpelze ein. »Wieso haben die Faulpelze denn ihren Iglu verlassen?« lispelte Lori. »Er ist doch noch sehr schön!« »Treffend bemerkt, verehrte Frau Powitz«, stimmte Lonzo zu. »Nirgends ist eine Roststelle zu entdecken.« »Ha!« rief Flunki. »Sie sind gegangen, weil Borro und die anderen Krabbler sich langsam nähern. Die Faulpelze senden Späher aus und verziehen sich, sobald sie unsere Schneekrabbler am Horizont ausmachen.« »Weil die Iglus sonst plattgewalzt werden?« »Deshalb nicht. Aber unsere Leute können es nun einmal nicht lassen, die Burschen kräftig anzuraunzen, wenn sie im Schnee liegen und sich die Sonne auf den Bauch brennen lassen. Wenn wir kommen, suchen die Faulpelze das Weite. Das war schon so, als ich noch ein kleiner, winziger Wichtel war.« Er sagte das mit solch einer Überzeugungskraft, daß man ihn glatt für einen 169
Riesen hätte halten können. Dabei überragte er die kleine Lori gerade um einen Zentimeter. Und das auch nur, weil er einen Helm trug! Etwas enttäuscht meinte Harpo: »Wie schade, dann werden wir sie wohl nicht zu Gesicht bekommen. Na egal, Nordpol hat uns sicher noch mehr zu bieten, oder?« »Das will ich meinen!« Flunki reckte sich stolz, wobei ihn der Helm fast über die Augen rutschte. »Wartet nur ab, bis der Sommer kommt, nächste Woche um drei Uhr! Dann kreucht und fleucht, kriecht und rennt, wimmelt und wummelt es hier nur so. Im Moment haben natürlich die meiste Tiere ihre Schnarchzeit. Habt ihr schon mal Vögel gesehen, die größer sind als Lonzo? Salamander, auf denen man treten kann? Und meterlange Würmer?« »Igitt!« quiekte Lori. »Gibt es bei euch keine Hasen?« »Kleine Hopser mit langen Ohren«, erklärte Lonzo auf Flunkis verständnislosen Blick hin. »Nie gesehen. Aber wißt ihr was?« fragte der Raufbold und trommelte sich mit den Fäusten vor Begeisterung gegen die Brust. »Wir übernachten hier und schleichen uns morgen zum Ufer des Fettbauchfisch-Sees! Vielleicht könnt ihr dort ein paar Faulpelze beim Fischen beobachten.« Das war ein Wort! Freudig stimmten alle zu. Während Lonzo Decken und Verpflegung aus dem Schlitten holte, wobei ihm seine vier Greiftentakel eine große Hilfe waren, informierte Flunki über Funk seine Leute. Nach dem Zwielicht der Dämmerung kamen die ersten Steine zum Vorschein. Flunki hatte einen Spezialkocher aufgebaut und zauberte im Nu ein duftendes Mahl. Schon beim Schnuppern wurde man richtig hungrig. Lonzo brummte: »Beeilt euch, edler Lord Flunki! Der Kohldampf schnürt mir schon die Eingeweide zusammen!« Aber Flunki kramte nur in seinen Taschen und reichte ihm mit einem artigen »Aye, aye, Sir!« zwei Trockenbatterie und ein Ölkännchen. »Guten Hunger, Steuermann!« Lonzo beäugte beides mit großem Mißtrauen und gab es mit der Bemerkung zurück, das eine sei entschieden zu trocken für einen Seemann, das Öl hingegen zu fett. Schließlich müsse er auf seine Linie achten, sonst würden ihn die Robotermädchen nicht mehr anschauen. In der Nacht erwachte Harpo. Lori schlief unter ihren Decken. Flunki schnarchte so laut, daß davon der Boden erzitterte. Lonzo hatte sich wohl 170
abgeschaltet, um Energie zu sparen. Jedenfalls hockte er reglos auf dem Boden und hatte nicht das gewohnte Funkeln in den Sehzellen. Nur Fantasia hob fragend den Kopf. »Ist was?« flüsterte sie. Beruhigend erwiderte Harpo: »Nee, was soll sein?« Zwar hatte er ein ungewohntes Geräusch gehört, vielmehr glaubte er, es gehört zu haben, aber bevor er nichts Genaueres wußte, wollte er andere nicht unnötig beunruhigen. »Das sind doch Stimmen!« murmelte Fantasia und setzte hinzu: »Harpo, dort draußen ist jemand!« »Pschscht!« machte Harpo, schälte sich aus den Decken und reichte dem rothaarigen Mädchen die Hand. Gemeinsam krochen die beiden zum Ausgang des Iglus. Im Eingangstunnel wurden die Geräusche immer deutlicher. Harpo und Fantasia hatten Angst. Was ging dort draußen vor? Leise pirschten sie sich weiter. Etwa fünf Meter vor dem Ausgang stand ein Schlitten, der nicht Flunki gehörte, aber entfernte Ähnlichkeit mit dem Schlitten der Raufbolde hatte. Auf den zweiten Blick erkannte man, daß die Glaskuppel, die früher einmal vorhanden gewesen war, jetzt fehlte. Der Schlitten machte von vorn bis hinten einen ungepflegten Eindruck. Fast schien es, als habe ihn jemand in letzter Sekunde vor der Müllkippe bewahrt. Ein grimmiger, hünenhaft wirkender Rotpelz, der sicher nicht kleiner als Karlie Müllerchen war, verstaute prall gefüllte Säcke auf der Ladefläche. Er stieß dabei ein leises Knurren oder Brummen aus. Jetzt erkannten die heimlichen Beobachter noch zwei andere Bärenwesen, die in einem frisch ausgehobenen Schneeloch an der Igluwand standen und weitere Säcke hinaufwuchteten. Sie legten ein ganz hübsches Tempo vor. Harpo und Fantasia tauschten einen fragenden Blick. Was hatte das nur zu bedeuten? Was holten die Bären aus der Erde? Einen vergrabenen Schatz? Vielleicht gehörte ihnen gar nicht, was sie dort auf den Schlitten luden? Harpos Wangen begannen zu glühen. Mann, o Mann! Das war ein Abenteuer nach seinem Herzen! Eine geheimnisvolle Rotpelzbande, die ihre vergrabene Beute verlud, die vielleicht gefährlich war und das Messer locker sitzen hatte. Und er, Harpo Trumpff, Chronist und Logbuchführer der EUKALYPTUS, saß mitten im Brennpunkt des Geschehens. »Wir müssen herauskriege n, was sie treiben«, wisperte er leise. Fantasia nickte. 171
Wie zwei Schatten huschten die beiden auf die Rückwand des Schlittens zu, während Rotpelz Nummer drei gerade zu den anderen zurückging. Mit zitternden Fingern versuchte Harpo einen der mit Lederschlingen verknoteten Beutel zu öffnen. Umsonst, die Säcke waren hart wie gefrorene Erde und ungeheuer schwer. Fantasia hatte plötzlich zwei leere Beutel in der Hand und zischte aufgeregt: »Harpo! Er kommt zurück!« Die beiden Rotpelze im Schneeloch hatten ihre Arbeit eingestellt und halfen sich gegenseitig hinaus, während der dritte bereits wieder auf den Schlitten zuging. Nicht nur, daß der Iglueingang im Blickfeld der beiden Bären lag, jetzt bewegten sie sich auch noch genau auf diesen Eingang zu. Harpo und Fantasia war der Rückweg abgeschnitten. Die beiden durchfuhr ein eisiger Schreck. Sie kletterten auf die Ladefläche des Schlittens, schlüpften hinter die Fracht und halfen sich gege nseitig in die beiden leeren Säcke, die Fantasia gefunden hatte. Mit pochenden Herzen warteten sie darauf, daß der Schlitten sanft anfuhr. Dann wollten sie sich in den weichen Schnee rollen und unbemerkt zum Iglu zurückkehren. Aber es kam anders. Der Schlitten ruckte nur kurz an und hielt wieder, weil einer der Rotpelze zwei Säcke entdeckte, die nicht zugebunden waren. Er zerrte die Säcke zur Mitte der Ladefläche und verschnürte sie. Die beiden Kinder hatten diese unerwartete Wendung mit Todesangst verfolgt, ohne recht zu begreifen, daß sie sich aus eigener Kraft nicht befreien konnten. Das Versteck war zu einem Gefängnis geworden. Das Beste, was sie aus der Situation machen konnten, war, sich so ruhig wie möglich zu verhalten. Summend jagte der Schlitten in die Nacht hinaus. Der riesige Iglu war bald zu einem winzigen Punkt am Horizont zusammengeschrumpft.
Das Lager der Rotpelze Harpo erwachte, als behaarte Hände seine Nase berührten. Die Sonne schien in sein Gesicht, und er mußte niesen. Das machte ihn vollständig wach. Herrjeh! Er war eingeschlafen! Mehr als ein Dutzend Rotpelze umstanden den Schlitten und stießen erstaunte Rufe aus. Ein sehr kleines Exemplar dieser Spezies, das kaum größer 172
als Lori Powitz war, klammerte sich an einen der großen Bären und brummte ängstlich: »Huh! Zwei Ungeheuer, Mama! Ich fürchte mich!« Die anderen Bären lachten. Daran, daß Harpo den kleinen Rotpelz verstanden hatte, konnte man erkennen, daß der Translator die ganze Nacht über bereits genügend Vokabeln der neuen Sprache aufgenommen hatte, um mühelos zu übersetzen. Die Bären beachteten den Translator nicht weiter. Vermutlich hatten sie sich an das Gerät bereits gewöhnt. Harpo mußte im Laufe der Nacht ungewollt den Einstellknopf betätigt haben, denn er war sicher, daß er das Gerät vor dem Schlafengehen abgeschaltet hatte. Vermutlich hatte das plötzlich einsetzende Quaken aus dem Sack - so mußte den Rotpelzen die Tätigkeit des mechanischen Übersetzers vorgekommen sein sogar zur Entdeckung der blinden Passagiere geführt. Auch Fantasia krabbelte jetzt aus ihrem Sack und musterte mit verstörten Blicken die Umgebung. Die Rotpelze - in der Mehrzahl waren sie gut zwei Meter groß - hatten ein weiches, rötlichbraunes Fell am ganzen Körper, auch im Gesicht, sowie kleine, runde Ohren und überhaupt sehr viel Ähnlichkeit mit irdischen Braunbären. S ie klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Jemand faßte Harpo wie eine Katze am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Eine laute Baßstimme grunzte: »Habt ihr so etwas schon gesehen, Kumpels? Ich wette, ihr habt es noch nicht gesehen! Das ist der größte Zwerg unter der Sonne!« »Der erste Raufbold ohne Bart!« rief ein anderer. »Er ist wahrhaftig größer als jeder Raufbold, den ich ke nne«, meinte ein dritter. »Wie viele kennst du denn?« »Zwei.« So ging es weiter, bis der Rotpelz Harpo sanft zu Boden gleiten ließ und brummte: »Was wollt ihr bei uns, ihr Winzlinge? Wollt ihr etwa unseren Schneemann stehlen?« Die Umstehenden gaben wieder ein brummelndes Gelächter von sich, das eigentlich ganz gemütlich klang. Fantasia rutschte auf den Knien auf Harpo zu und klammerte sich an ihn. Mehrere Rotpelzkinder umkreisten die beiden zögernd und zupften zaghaft an ihren Haaren. »Die kleine Raufboldfrau könnte fast eine von uns sein«, sagte jemand. 173
Feingliedrige Finger strichen über Fantasias rote Haarpracht, die wie Kupfer in der Sonne leuchtete. Aber sonst hatte Fantasia eigentlich wenig Bärenhaftes an sich ... »Harpo, ich ... fürchte mich«, gestand sie leise. »Ich mich auch«, gab Harpo zu. »He«, rief ein Rotpelz aus, »habt ihr das gehört? Die Raufbolde fürchten sich vor uns!« »Ahem«, räusperte sich Harpo. »Wir sind gar keine Raufbolde, sondern Menschen.« »Menschen?« Erstaunt sahen Harpo und Fantasia mit an, wie die Rotpelze sich reihenweise auf die Bäuche warfen und prustend vor Lachen mit den Fäusten auf den Boden trommelten. »Welch ein komisches Wort! Hahaha!« Kaum hatten sie sich etwas beruhigt, fing einer wieder an, brummte: »Menschen«, und schon lagen wieder alle vor Lachen am Boden. Weitere Lachanfälle folgten, als Harpo und Fantasia ihre Namen nannten. O ffenbar erzeugte die Lautkombination bei den Rotpelzen Heiterkeit, denn das Lachen begann immer schon, bevor der Translator sich an einer Übersetzung versuchte. Ein dicker Rotpelz, der sich die Lachtränen mit einer Pfote aus den Augen wischte, sagte glucksend: »Ich heiße Fettwanst! Und dies hier« - dabei deutete er auf zwei ihm ziemlich ähnliche Bären - »sind meine Brüder Vielfraß und Heringsbändiger. Das sind doch Namen, die etwas bedeuten! Aber eure? Pah, die sind einfach nur witzig.« Nun lachten die Kinder. Die Rotpelze sahen sich erstaunt an. Nicht im Traum wären sie darauf gekommen, daß ihre Namen für fremde Ohren ebenfalls lustig klangen. Sie kratzten sich verlegen hinter den Ohren. Beinahe alle Mitglieder des Clans hatten inzwischen den Iglu im Hintergrund verlassen und die unfreiwilligen Gäste b estaunt. Harpo faßte sich ein Herz, stand mutig auf und entschuldigte sich für die heimliche Schwarzfahrerei. »Macht nichts«, brummte Fettwanst leutselig. »Seht euch unseren Iglu an und seid für ein paar Wochen unsere Gäste. Wir fressen niemanden - es sei denn Fische. Und da ihr ja keine Raufbolde seid, werdet ihr uns sicherlich
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auch nicht mit Quengeleien auf den Wecker fallen.« So übersetzte es zumindest der Translator, obwohl die Bären wahrscheinlich gar keinen Wecker kannten. Im Innern des Iglus rannten Rotpelze geschäftig hin und her und wirkten überhaupt nicht so faul, wie das nach Flunkis Erzählungen geklungen hatte. Fettwanst führte seine Gäste herum, zeigte ihnen die Vorräte an eingefrorenen Fischen und erklärte, daß die geheimnisvolle Fracht des Schlittens aus Dingen bestand, die man in der Eile des Umzugs hatte zurücklassen müssen: verpackte Felle, Decken, Kochgeschirr, Gewürze, Ange lzeug und Netze. Nachdem die wichtigsten Sehenswürdigkeiten betrachtet waren, lud Fettwanst die Kinder in seine Familienecke ein. Sie lernten seinen kleinen Sohn kennen. Er hieß Räucherfischvertilger, aber Harpo und Fantasia nannten ihn Alexander. Fettwansts Frau, eine gemütliche rundliche Bärin, lud sie freundlich zu einer wohlschmeckenden und stark gewürzten Fischsuppe ein, die gerade über einem offenen Feuer kochte. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ging das Leben der Rotpelze schnell wieder den gewohnten Gang. Harpo und Fantasia besichtigten die Arbeitsplätze der Bären, sahen ihnen beim Flicken beschädigter Netze zu und bestaunten eine kleine Schreinerei, in der ein schon graufelliger Rotpelz gemeinsam mit zwei Lehrlingen einen Schlitten herstellte. Da Schlitten die einzigen Transportmittel für die Bären waren, war diese Arbeit sehr wichtig und wurde von den Jüngeren interessiert beobachtet. Es stellte sich heraus, daß es keine ausgesprochenen Spezialisten unter den Rotpelzen gab. Auch der graue Schreiner ging sonst fischen wie die anderen. Jeder konnte jeden ersetzen, und niemand bildete sich etwas darauf ein, wenn ihm die eine oder andere Arbeit besser von der Hand ging als dem Nachbarn. »Ihr lebt ziemlich einfach«, sagte Harpo zu Alexander. »Wie kommt ihr dann zu dem Motorschlitten?« Die Frage war berechtigt, denn die anderen Schlitten der Rotpelze waren simple Holzschlitten ohne Antrieb. »Oh«, erwiderte Alexander. »Wir fanden ihn unter einer Schneewehe. Er war wohl steckengeblieben und dann festgefroren. Wir haben ihn aus dem Eis herausgetaut und wieder aufgemöbelt. Es ist unser einziger, weshalb wir 175
auch sehr sorgsam mit ihm umgehen. Alle anderen Fahrzeuge müssen wir leider selbst ziehen.« Später feierten die Rotpelze zu Ehren ihrer Gäste ein Fest. Fässer wurden herangerollt und hölzerne Becher herumgereicht. Es roch nach Tran. Ein Dutzend Rotpelze stellte sich in zwei Reihen auf und begann mit einem lustigen, watschelnden Tanz, bei dem sie jedesmal, wenn sie sich den Rücken zukehrten, die Hinterteile gegeneinanderhalten und dabei laut jauchzten. Harpo und Fantasia sahen lachend zu, bis Fettwansts Bruder Vielfraß herbeigerannt kam, einige Bären beiseite schob und rief: »Ein Schlitten nähert sich! Am Steuer ein Raufbold und ein komischer Kerl mit einem Eisenkopf und Schlangenarmen!« »Das ist Lonzo!« Bisher hatten sich die Rotpelze nicht sonderlich für die Herkunft der beiden Menschen interessiert, und deshalb war auch Lonzo noch nicht im Gespräch gewesen. Harpo und Fantasia fiel jetzt siedendheiß ein, daß sie über all dem Neuen nicht mehr an die Freunde gedacht hatten. Schnell erklärten sie ihren Gastgebern, daß von den beiden nichts zu befürchten war. Daraufhin strömten brummelnde Rotpelze vor dem Iglu zusammen, drängten aus allen Familienecken heran und steckten neugierig ihre witternden Nasen den Neuankömmlingen entgegen. Flunkis Motorschlitten umkreiste donnernd das Schneegebäude und hielt schließlich genau vor dem Eingang. Der Motor spuckte noch einmal, dann fuhr die Glaskuppel zurück, und Lonzo tauchte auf. Die Bänder seiner Seemannsmütze flatterten im Wind. Flunki stand mit gesträubtem Bart neben ihm und reckte drohend die Fäuste. »Beim Barte des Propheten!« quäkte Lonzos blechernes Organ über die Ebene. »Rückt sofort die entführten Matrosen heraus, sonst setzt es Hiebe! Habt ihr verstanden? Die sieben Plagen schicke ich euch auf den Hals! Hier spricht der allseits gefürchtete Admiral von Schleifstein und Tuttlingen und rasselt mit dem Tentakel ... äh, mit dem Säbel!« »Har, har«, grunzte Fettwanst belustigt und sichtlich unbeeindruckt. »Captain Kidd, feuern Sie eine Breitseite gegen den Dicken ab, der eben gelacht hat!« schnauzte Lonzo. »Was will der Eisenkerl, Papi?« fragte ein kleiner Rotpelz. Lonzo wirbelte mit seinen schlangengleichen Tentakeln, während Flunki wutschnaubend Schattenboxen übte und danach seine Schnurrbartenden 176
zwirbelte. Von Lori Powitz konnte man kaum mehr als die Nasenspitze sehen, weil die Bordwand ziemlich hoch war. »Wir haben eure Spur im Schnee verfolgt!« wetterte Lonzo weiter. »Ausreden sind absolut zwecklos! Wenn Harpo und Fantasia nicht sofort ihre Gesichter zeigen, werfe ich mit Schneebällen! Oder ich reibe den Dicken, der vorhin gelacht hat, mit Schnee ein!« Er drehte sich zu Flunki um und kläffte: »Captain Kidd, machen Sie die Schneebälle klar!« Lachend rannten Harpo und Fantasia auf den wartenden Schlitten zu. »Lonzo!« schrie Harpo und winkte. »Du kannst aufhören, wir sind putzmunter. Niemand hat uns etwas getan!« Rasch erklärten die beiden, wie sie in dieses Abenteuer geschlittert waren. Lonzo nahm seine Mütze ab und lispelte: »Nix für ungut, meine Bärinnen und Bären. Ich bitte um Entschuldigung. Vergeben Sie einem alternden Rokker seine bösen Worte, dann werde ich Ihnen auch mal mein Motorrad leihen!« Die Rotpelze brüllten und brummten vor Lachen. Viele stürmten nun auf Lonzo los und wollten ihn unbedingt betasten. Im Triumphzug wurde er in den Iglu getragen. Flunki, der die Rotpelze sichtlich ignorierte, stiefelte mißtrauisch über den mit Tierhäuten ausgelegten Boden, rümpfte die Nase und meckerte, weil niemand einen roten Teppich für ihn ausgerollt hatte. »Immerhin«, knurrte er, »kommt es nicht alle Tage vor, daß einer der b ekannten und beliebten Raufbolde in einem Faulpelz-Lager erscheint.« Das hatte ein Rotpelz namens Alleswisser gehört. Er baute sich grunzend vor Flunki auf. »Hast du Faulpelz-Lager gesagt?« schimpfte er los. »Ich möchte dir altem Quengelbruder einmal sagen, daß, als es vor sechshundert Jahren darum ging, den Krabbler Jupp, der sich überfressen hatte, aus einem Erdloch zu ziehen ... also, daß damals wir Rotpelze ihn mit vereinten Kräften ...« »Ha!« rief Flunki mit hochrotem Kopf. »Jawoll, vor sechshundert Jahren habt ihr zuletzt richtig gearbeitet und seitdem auf der faulen Haut gelegen! Und selbst damals habt ihr die gesamten Wintervorräte der Raufbolde aufgefressen, so daß Jupp beinahe verhungert wäre!« »Habt ihr uns damals zu einem Imbiß eingeladen oder nicht?« entgegnete Alleswisser. »He?« 177
»Imbiß!« röhrte Flunki. »Sagtest du Imbiß? Dieser Imbiß hätte für meinen Clan ein Jahrzehnt gereicht! Wenn damals der einzige Rotpelz, den selbst wir Raufbolde ehren und achten, euch nicht davon abgehalten hätte ...« »Hühnerschreck?« höhnte Alleswisser mit gefletschten Zähnen. »Der war ja nicht einmal richtig rot! Eher hatte er ein rotbraunes Fell ...« »Willst du mich etwa der Lüge bezichtigen?« kreischte Flunki und machte seinen bekannten Luftsprung, wobei er sich fast überschlug. Der Helm rutschte ihm über die Augen. »Eisnattern und Graupelwürmer! Haltet mich fest, damit ich diesen Wicht nicht anfalle!« Die Rotpelze, die beide Streithähne in einer dichten Traube belauerten, klatschten bei diesem Ausbruch spontan Beifall. Offensichtlich führten Flunki und Alleswisser hier eine Art Theaterstück auf. Harpo fingerte an seinem Translator herum, während Flunki und der Rotpelz weiterhin aufeinander einhackten. Die Kinder bekamen eine »gereinigte« Fassung der Schimpfkanonaden zu hören und hielten sich dabei den Bauch vor Lachen. Flunki schrie: »Du schnatternder Eisvogel! Du wagst es, meine Worte durch den Dreck zu ziehen? Zieh blank, Halunke, und kämpfe wie ein Mann! Niemals in meinem Leben lief mir ein solcher Frechling über den Weg! Mein beleidigtes Blut schreit nach Rache!« Der Translator übersetzte jedoch diplomatisch: »Herr Kommerzienrat, sicherlich haben Sie meine Worte mißverstanden. Ich bitte Sie freundlich, lassen Sie uns darüber nicht streiten. Ich bin sicher, daß alles nur meine Schuld ist. Ich verzeihe Ihnen großmütig und bitte Sie, mir huldvoll die gleiche Ehre zu erweisen! Lieber Herr Professor!« Alleswisser höhnte: »Giftzwerg! Schrapphals! Der Lindwurm m öge dich in den Hintern beißen! Dieser Winzling wagt es, mir in einem solchen Gossenjargon seine vor Unbildung strotzenden Beleidigungen an die Rübe zu werfen! Ich schnappe über! Ich werde verrückt! Wo ist mein Knüppel? Bringt mir sofort meinen dicksten Knüppel!« Der Translator übersetzte brav: »Verehrter Herr Generaldirektor, verzeihen Sie die Unbeherrschtheit meiner Ausführungen. Zweifellos war ich es, der Ihre Worte falsch auslegte. Jetzt verstehe ich alles viel besser. Vielen Dank! Darf ich Sie zu einem Umtrunk in meine bescheidene Familienecke einladen?« 178
»Nun ist es aber genug«, keuchte Harpo lachend. Aber der letzte Satz schien echt gewesen zu sein, denn Flunki und Alleswisser marschierten Arm in Arm davon, was ziemlich komisch aussah, weil der große Rotpelz sich dabei auf alle viere hinablassen mußte. »Jetzt wird ein Fläschchen Wein gesoffen und ein lustig Lied gepfoffen«, vermutete Lonzo. Und Fettwanst fügte hinzu: »In Wahrheit sind die beiden seit Jahren dicke Freunde. Sie tun immer nur so, als könnten sie sich nicht ausstehen, hihi!«
Die Reise ins Sommerland Am nächsten Tag fragte Lori den erstaunten Fettwanst: »Sag mal, Fettwanst, wer ist der Häuptling der Iglus?« Der Rotpelz kratzte sich verständnislos seine Nase. »Häuptling?« meinte er entgeistert. »Was ist das denn? Kenn' ich gar nicht, das Wort.« »Na, jemand, der den anderen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben«, erwiderte Lori. »Was die anderen tun und lassen sollen, wissen sie doch selbst am besten«, sagte Fettwanst. »Wie sollte ich zum Beispiel wissen, was Vielfraß tun will?« Dann grinste er plötzlich und fügte hinzu: »Na also, wenn ich ganz ehrlich bin wir haben tatsächlich so was. Bloß ...« »Wie heißt denn der Häuptling?« fragte Harpo. »Oh«, machte Fettwanst. »Er heißt Schnellschwimmer ...« »Schnellschwimmer?« echote Lori. »... und Vielfraß ...« »Vielfraß auch? Ja, habt ihr denn zwei Häuptlinge?« »Und Fettwanst, Schlafmütze, Netzflicker ...« Fettwanst begann mit den Armen zu rudern und zählte alle Clanmitglieder auf, die ihm gerade einfielen, auch die Frauen und Kinder. Als er fertig war, keuchte er erschöpft. »Wie ihr seht, ist bei uns jeder Häuptling. Jeder bestimmt über sich selbst. Früher hatten wir tatsächlich mal einen, der alles allein bestimmte: wann wir fischen gingen, wann Schlafenszeit war, was die Kleinen tun und was sie nicht tun durften ...« Fettwanst grinste. »Das haben wir alles abgeschafft. He, he ... kommt mal mit!« 179
Er nahm Lori und Fantasia bei den Händen und stapfte mit ihnen - Lonzo, Harpo, Flunki und Alexander im Schlepptau - in eine Ecke des Iglus, wo offensichtlich gerade eine Versammlung stattfand. Zehn oder mehr Rotpelze saßen auf Bänken aus Schnee und hörten einem weiteren Rotpelz zu. Er stand auf einem Podest, ebenfalls aus Schnee, wirbelte mit den Armen und brüllte mit Donnerstimme: »Wählt mich zum Häuptling, Leute, dann wird hier alles anders werden! Ich verspreche euch: besser, viel besser. Ich werde Tag und Nacht auf der faulen Haut liegen, grunzen und futtern - und es wird mir eine helle Freude sein, euch beim Arbeiten zuzusehen. Alle werdet ihr großen Respekt vor mir haben, mich untertänigst grüßen und meine Pantoffeln bereitstellen! Wählt mich zum Häuptling, Leute, dann habe ich ein feines Leben!« Die Versammelten brachen in schallendes Gelächter aus. Mehrere Rotpelze schrien laut: »Buh! Buh!« Harpo schüttelte den Kopf. »Also, den möchte ich auch nicht zum Häuptling haben, wenn er gar nichts tun will, als auf a nderer Leute Kosten leben.« »Wartet ab«, flüsterte Fettwanst grinsend. »Gleich kommt der nächste Redner.« Ein anderer Rotpelz kletterte auf das Podest, räusperte sich und begann mit vornehm gesetzten Worten: »Liebe Mitbürger! Ihr kennt mich alle als einen ehrenwerten Rotpelz aus eurer Mitte. Ich bin volksverbunden und stets für euch da. Ich kenne eure Probleme bestens, weil ich mich draußen im Lande umgeschaut habe, und will mich für deren Lösung einsetzen. Deshalb gebt mir eure Stimme!« »Der ist gut«, sagte Harpo. »Pscht«, machte Alexander lächelnd. »Warte ab!« Einer der zuhörenden Rotpelze erhob sich von seiner Schneebank und fragte: »Sehr gut gesprochen, wirklich! Aber wie stellen Sie sich zum Beispiel die Arbeitsverteilung vor? Möchten Sie lieber Netze flicken oder fischen?« »Ahem«, machte der Redner, »ich hatte eigentlich daran gedacht, mein Können anders einzusetzen.« »Wie zum Beispiel?« rief Fettwanst von hinten. »Nun ... indem ich für euch denke und plane ...« 180
»An richtige Arbeit haben Sie dabei nicht gedacht?« fragte Fettwanst weiter. »Nun ... ehrlich gesagt ...« Der Redner fummelte an seinem Kragenfell und schüttelte den Kopf. »Und daran«, sagte Fettwanst zu Harpo, Fantasia und Lori, »erkennt ihr, daß beide dasselbe wollen, wenn sie es auch mit anderen Worten sagen. Und wißt ihr einen Grund, weshalb wir uns diese Schneeflöhe in den Pelz setzen sollten?« »Mensch«, sagte Harpo, »das stimmt ja! Die hätten euch alle beide verschaukelt. Bei dem zweiten hätte ich es nicht einmal gemerkt, so geschickt, wie der geredet hat.« »Die beiden Redner heißen Schwätzer und Sabbler«, erklärte Fettwanst heiter. »Sie halten mehrmals im Monat solche Wahlreden.« »Ja, aber«, meinte Fantasia erstaunt, »wenn sie solche Dinge erzählen, wird sie doch niemand wählen! Wer will schon e inen Häuptling, der nichts tut und von den anderen dafür auch noch mit Respekt gegrüßt werden will?« Ein älterer Rotpelz drehte sich um. »Wir wollen ja gar keinen Häuptling. Und Schwätzer wie auch Sabbler wären die letzten, die einen solchen Beruf ergreifen möchten. Sie halten ihre Reden nur, um uns daran zu erinnern, wie gut es uns geht, seitdem wir die Herrschaft von Rotpelzen über andere Rotpelze abgeschafft haben.« Bald darauf kam eine Gruppe von Rotpelzen vom Fischfang zurück. Die Kinder halfen eifrig mit, die in den Säcken verstaute Beute zum Vorratslager zu schleppen, wo bereits andere Rotpelze warteten, um die Nahrung zu verteilen. »Bekommen auch die etwas, die nicht beim Fang mitgeholfen haben?« fragte Fantasia neugierig. »Sicher. Dafür haben sie ja andere Arbeit geleistet. Zum Beispiel Netze geflickt oder Fässer gebaut. Und morgen gehen sie vielleicht fischen.« »Ja, und wenn nun einmal jemand weniger tut als die anderen? Bekommt er dann auch weniger Fische?« »Jeder von uns bekommt so viel, wie er essen kann«, brummte Fettwanst. »Sieh mich an! Ich futtere sehr gern Fisch, mag aber dafür ke inen Tran.« Er zog die schwarze Nase ganz kraus. »Tran trinkt aber Vielfraß ungeheuer 181
gern, der wiederum bestimmten Fisch überhaupt nicht mag. Es pendelt sich alles irgendwie ein. Und wer mal weniger arbeitet, weil er gerade keine Lust hat, sich nicht gut fühlt oder weil ihm die Arbeit einfach nicht recht gelingen will, der macht das am nächsten Tag wieder wett.« »Hmm ...« Fantasia waren solche Gedankengänge ungewohnt. »Was ist aber, wenn einer einfach so viel nimmt, wie er will, obwohl er es gar nicht braucht? Haben dann nicht andere zuwenig zu essen?« »Wieso?« Fettwanst runzelte die Brauen. »Niemand ißt mehr, als er in seinen Bauch hineinstopfen kann. Warum sollte er zuviel nehmen? Es würde doch verderben.« »Wenn du die Menschen näher kennen würdest«, warf Harpo lächelnd ein, »würdest du diese Frage schon verstehen. Bei uns gibt's das nämlich ziemlich oft, daß einer mehr an sich rafft, als er brauchen kann.« Fettwanst nickte und sagte: »Früher versuchte auch jeder Rotpelz, größer zu sein und mehr zu besitzen als die anderen. Dabei gingen Freundschaften zu Bruch, und die Leute sprachen nicht mehr miteinander. Wenn sie sich trafen, hatten sie nichts Besseres zu tun, als gegenseitig anzugeben, daß sich die Igluwände bogen. Und eines Tages ging das nicht mehr so weiter. Die Rotpelze setzten sich zusammen und verjagten diejenigen, die ihnen diesen Schneefloh ins Ohr gesetzt hatten, warfen alle ihre Güter in einen Topf und lebten seither in Frieden.« Harpo erklärte, daß die Kinder es auf der EUKALYPTUS genauso machten. Was sie in der Kindheit auf der Erde erlebt hatten, war ihnen allen eine Lehre. Auf der Jagd nach dem besseren Leben hatte man die Erde nahezu vernichtet. Es gab dort keine Wälder mehr und fast nur noch künstliche Nahrung. Wenn es im Winter einmal schneite, dann war der Schnee nicht weiß wie hier auf Nordpol, sondern schmutziggrau und roch nach Chemikalien. Die wenigen Naturlebensmittel, die es noch gab, wurden in abgedichteten Treibhäusern herangezogen und waren so teuer, daß nur wenige sie sich leisten konnten. Der Raubbau an der irdischen Natur hatte dazu geführt, daß die Menschen nicht mehr im Einklang mit ihrer Umwelt leben konnten. Sie wurden aggressiv und gemütskrank. Allergien tauchten schneller auf, als Medikamente dagegen zu produzieren waren. Viele Ungeborene erkrankten bereits im Mutterleib an neuen, unbekannten Krankheiten. 182
Wegen solcher Krankheiten waren die meisten Kinder an Bord der EUKALYPTUS gekommen, die als eine Art Sanatorium die Erde umkreiste, bis eine noch immer ungeklärte Katastrophe das Schiff in den Kosmos entführte und die Mannschaft flüchten ließ. Aus eigener Kraft und mit Hilfe der Weltraumärzte hatten die Kinder die auftauchenden Probleme gemeistert und das Schiff schließlich in Besitz genommen. Fantasia war es, die von den Weltraumärzten erzählte. Als sie zu Ende geredet hatte, platzte Alexander heraus: »Hinter der Schneegrenze, dort wo die Blumen blühen und die Erde überall grün ist, steht ein Iglu aus Eisen. Da lebt ein Wesen, das haargenau so aussieht, wie du uns die Weltraumärzte beschrieben hast. Mit einem birnenförmigen Kopf. Und ein anderes lebt bei ihm. Es ist so winzig, daß es auf meiner Handfläche Platz hätte.« »Mit einer ganz langen Nase?« trompetete Lonzo. Harpo und die anderen horchten auf. »Ja«, rief Alexander. »Mit einer ganz langen Nase und Schlappohren. Es ist sehr niedlich und sehr nett. Wir haben zusammen gespielt, als mein Vater mich in den Eiseniglu brachte, weil meine Zähne wackelten.« »Ein Weltraumarzt auf diesem Planeten?« Die Kinder staunten und steckten die Köpfe zusammen. In der gleichen Sekunde wurde ein neuer Plan geboren. »Den müssen wir unbedingt besuchen!« Sie rannten alle zusammen zu Flunki, der sich gerade wieder mit seinem heimlichen Freund Alleswisser in den Haaren lag.
Der blinde Passagier Flunki war sofort Feuer und Flamme, als er von dem Plan der Kinder e rfuhr. Selbstverständlich war er gern bereit, die Freunde in seinem Schlitten zum Sommerland zu fahren. Der Schlitten war ja ein Mehrzweckfahrzeug, das sich genausogut auch außerhalb von Schneezonen auf einem Luftpolster bewegen konnte.
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»Beim Schneebesen!« knurrte er, als Harpo seine Bitte vorbrachte. »Habe ich euch nicht tausendmal erklärt, daß alles, was mir gehört, auch meinen Freunden gehört?« Schüchtern meinte Harpo: »Nun, vielleicht hast du etwas a nderes vor ...« »Papperlapapp! Klar fahren wir zu dem Zahnklempner hinaus! Der kann sich bei der Gelegenheit direkt mal die Reste meiner Beißerchen ansehen. Worauf warten wir noch? Alles aufsteigen, und ab geht es!« Ganz so eilig hatten es die Freunde nun doch nicht. Schließlich mußte man sich erst einmal ausgiebig von den Rotpelzen verabschieden. Und die Zurückgebliebenen, sowohl die Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS wie auch die Raufbolde des Borro-Clans und ihre Gäste, mußten über den neuen Ortswechsel informiert werden. Das war aber schnell getan. Micel Fopp, der gerade in der Funkzentrale des Beibootes A-9 saß, freute sich, die Freunde zu hören. Inzwischen hatte ein richtiger Pendelverkehr zwischen dem Raumschiff und den Raufbolden eingesetzt. Die Boote kamen kaum zur Ruhe. Sie schafften die EUKALYPTUS-Leute zum Nordpol und die neugierigen Raufbolde auf das Sternenschiff. Der Abschied von den freundlichen und gar nicht so faulen Rotpelzen fiel allen schwer. Selbst Flunki, der vor Verlegenheit freundlich und grob zugleich wurde und sich von Alleswisser mit einigen Knüffen verabschiedete. Alexander gab allen einen sanften Schmatz auf die Nase, worauf seine Mutter meinte: »Wir schmatzen uns immer auf die Nase oder reiben die Nasen gegeneinander, wenn wir uns mögen. Unser Sohn scheint euch sehr gern zu haben.« Bei diesen Worten lächelte sie geheimnisvoll. Fettwanst winkte mit einem rotgepunkteten Taschentuch, das ihm Lori geschenkt hatte. Die Rotpelze brummten ein Lied, das mit Abschied und Wiedersehen zu tun hatte und außerdem von einem Raufbold handelte, der ewig nörgelte. Es hörte sich sehr lustig an. Merkwürdig war eigentlich nur, daß sich Alexander verdrückt hatte, als sich der Motorschlitten dröhnend in Bewegung setzte. Das Gefährt glitt knirschend über die Schneedecke und ließ das Lager der Rotpelze schnell hinter sich. Der Raufbold stand hinter dem Steuer, ließ aber gelegentlich auch Harpo und Fantasia die Bedienung übernehmen, nachdem er ihnen alles genau erklärt hatte. Lonzo schaukelte mit seinen Greiftenta184
keln die kleine Lori in den Schlaf und sang mit leiser, knarrender Stimme: »Wir fahren durch bis morgen früh und singen bumsfallera ...« Stunden später, als der Rieseniglu der Rotpelze weit hinter ihnen lag und die Sonne Archimedes sich anschickte, hinter dem Horizont zu verschwinden, begann Flunki plötzlich an den Armaturen herumzufummeln. »Sack Zement!« schimpfte er in sich hinein. Und dann: »Der Eierdieb soll mich holen!« Harpo sah, daß Flunkis Gnomengesicht sich in tausend Falten legte. »Ist was?« erkundigte er sich. »Bei allen Rutschbahnen des Universums!« fauchte der Raufbold. »Mit dem Treibstoff ist etwas faul. Lonzo!« »Zu Befehl, Herr Admiral!« »Sei ehrlich!« Flunki hob einen Zeigefinger und stieß ihn gegen Lonzos dicken Metallbauch. »Hast du dich etwa erdreistet, von unserem Kraftstoff zu trinken?« »Ich?« krächzte der Roboter empört. »Warum werde ich bei solcher Gelegenheit immer verdächtigt? Bei meiner kalten Seele! Nie würde ich das tun. Nie und nimmer!« Zum Eid hob er zwei Tentakel in die Luft, worauf Lori erwachte und sich die Augen rieb. Der Raufbold setzte seinen Helm ab, wischte sich mit einem riesigen karierten Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, bleckte die Zähne und knurrte: »Also wenn ich den erwische, der uns die 43.212,6 Schambuddels Treibstoff geklaut hat! Die fehlen nämlich. Na ja, könnte auch sein, daß wir ein Leck ...« »Wieviel sind denn 43.000 Schambuddels, Flunki?« fragte Lori gähnend. »Sicherlich sehr viel, oder?« »Das will ich meinen«, erwiderte der Raufbold. »Mindestens ein Fingerhut voll. Ein Skandal!« Flunki überließ Harpo das Steuer und rieb sich die Hände. Noch immer raste der Motorschlitten über die weite, weiße Landschaft dahin. Dann schob der kleine Raufbold Fantasia beiseite und drängte sich an Lonzo und Lori vorbei zu einem kleinen, nur mit einem Fellvorhang bedeckten Durchgang, der zum Laderaum führte. Blitzschnell riß er den Vorhang zur Seite. »Ha!« brüllte er mit Donnerstimme. »Dachte ich mir's!« 185
»Ich habe euren Kraftsaft nicht getrunken, Herr Raufbold!« rief der kleine Rotpelz, der dort stand und sich nun ängstlich die Hände vor die Augen hielt. »Ich war es nicht, ganz gewiß nicht!« »Ja, ist denn das ...« Flunki machte wieder Anstalten, auf der Stelle zu explodieren. Er wirbelte herum, stand plötzlich auf den Händen, strampelte mit den Beinen und biß in den Fellteppich, der den Boden der Kabine bedeckte. »Alexander!« dröhnte Lonzo blechern. »Wo kommst du denn her?« fragten Lori und Fantasia freudig überrascht wie aus einem Munde. Harpo entglitt beim Anblick des kleinen Rotpelzes fast das Steuer. Rasch drosselte er das Tempo. »Bist du etwa von zu Hause abgehauen?« fragte er. Der kleine Rotpelz, der jetzt schüchtern die Fahrerkabine betrat, schien dem Weinen ernsthaft nahe zu sein. »Wenn's gestattet ist, edle Damen und Herren, edle Eisenmaschine, edler Oberraufbold: Mein Herz dürstet nach Abenteuern, die ich, so wag' ich's anzutragen, an eurer geschätzten Seite in fernen Landen zu erleben hoffe. Meine Eltern hüben zwar an, mich zu warnen, weil allorten in der weiten, schneelosen Welt sich reichlich viel Gefahren über den Häuptern kleiner Rotpelze zusammendräuen, jedoch konnte mich nichts zurückhalten. Nicht länger mehr wollte ich fürderhin Angelhaken sortieren ... Und so bin ich allhier.« »Was spricht der denn auf einmal so komisch?« fragte Lori. »Jemand muß den Translator verstellt haben«, meinte Harpo. Flunki, in dessen Ohren alles viel normaler geklungen haben mußte, da er die Rotpelzsprache verstand, sah einen Moment verständnislos drein, lachte dann aber mit. »So seid ihr am Ende gar nicht vergrätzt und gram?« fragte Alexander noch, dann hatte Harpo den Translator wieder umgestellt. Bei dem Gelächter der Freunde hatte der kleine Bär Hoffnung geschöpft. Harpo schüttelte den Kopf, daß die langen Haare nur so flogen. »Ich bestimmt nicht. Wenn Flunki nichts dagegen hat ... kannst du sicherlich mit uns kommen.« Flunki murmelte undeutlich etwas, das wie »... Umpph, grrumph ... Bärenbengel ... grrr ... aber nett ... soll mitkommen ...« klang. 186
Alexander atmete auf und meinte ziemlich selig: »Da bin ich aber beruhigt! Ich dachte schon, ich hätte euch für alle Zeiten gründlich verärgert.« Lonzo winkte den Ausreißer zu sich heran. »Du hast doch wohl eine Erlaubnis von deinen Eltern für dieses Unternehmen?« fragte er und tat sehr grimmig. Aber in dieser Beziehung konnte ihn Alexander beruhigen. Jeder junge Rotpelz ging einmal im Leben auf Wanderschaft und ließ sich dann gar nicht selten in einem anderen Clan nieder. Damit wurde nicht nur erreicht, daß die Bärenjungen und Bärenmädchen sich auf eigene Füße stellten und die Welt kennenlernten, sondern gleichzeitig kam es auch dazu, daß man in anderen Clans Freunde und Verwandte hatte und immer tüchtig feiern konnte, wenn man einander mal begegnete. Als sich Harpo an das geheimnisvolle Lächeln von Alexanders Mutter beim Abschied erinnerte, war damit wohl ziemlich klar, daß der junge Rotpelz nicht flunkerte. Zumindest die Mutter hatte von seinem Plan gewußt. Als Flunki wieder das Steuer übernahm, erklärte er, daß er durch die Treibstoffanzeige darauf gekommen war, daß sich eine zusätzliche Person oder andere unbekannte Fracht an Bord befinden mußte. Die Instrumente waren sehr empfindlich und zeigten bereits unerhebliche Differenzen an. Kaum hatte er seine Erklärung abgegeben, als der Motor zu stottern begann. Sofort ging der Raufbold mit der Geschwindigkeit herunter. »Da haben wir den Salat!« brüllte Flunki. »Die elende Schneegurke verweigert den Gehorsam. Das lasse ich mir nicht gefallen!« »Tut doch etwas«, rief Harpo, dem der Gedanke, mitten in dieser Schneewüste zu stranden, gar nicht gefiel. »Alle Mann von Bord!« quakte Lonzo. »Frauen und Roboter zuerst. Oder noch besser: Sämtlichen Ballast abwerfen.« »Ich springe ja schon hinaus«, meinte Alexander schuldbewußt, aber Lori und Fantasia hielten ihn an seinem glänzenden Fell zurück. »Aber du doch nicht!« Spotz, spotz! machte der Motor, dann setzte er endgültig aus. Der Schlitten fegte noch einige Dutzend Meter weiter, schließlich fuhr er sich im lockeren Schnee fest. Am Horizont war ein Grünstreifen aufgetaucht, aber bis dorthin erstreckten sich noch viele Kilometer Schneeboden. Flunki vertauschte fluchend seine Kleidung mit einer blauen Leinenmontur und zeigte dabei zum erstenmal, daß er dicke, graue, flauschige Unter187
hosen trug. In dem Monteuranzug bot er ein ganz ungewohntes Bild und wirkte eigentlich gar nicht mehr wie ein Raufbold, sondern wie ein zu klein geratener Monteur von der Erde. Er zerrte ein paar Bodenbleche hoch und krabbelte in einen darunterliegenden Tunnel. Nach wenigen Minuten kam er ölverschmiert zurück und ließ erst einmal einen meterlange n Dauerfluch los, bei dem sich Alexanders Pelz sträubte. »Wir haben einen Plastikbulbsel verloren«, erklärte er. »Ausgerechnet einen, für den kein Ersatz an Bord ist!« »Plastikbulbsel?« fragte Lonzo. Ein lautes Klicken ertönte, dann öffnete sich auf seiner Brust eine Klappe, und ein Kästchen mit allerlei Schräubchen, Dübeln, Haken, Nieten und Pfropfen sprang heraus. »Was immer ein Plastikbulbsel sein mag: Vielleicht habe ich e inen!« rief er aus. »Schon Captain Kidd lobte stets mein Sortiment an Tauwerk, Rum und Kleinodien.« »Ha!« rief Flunki, stürzte auf den Kasten zu und fischte eine Schraubenmutter mit selbstsichernder Kunststoffauskleidung heraus. »Genau einen solchen Bulbsel brauche ich. Dieser Seemann ist ja ein wandelndes Ersatzteillager!« »Nicht verzagen, Lonzo fragen«, sagte der Roboter gelassen und ließ sein Kästchen und die Klappe verschwinden, während Flunki bereits wieder in den Tunnel hinabstieg. Während noch repariert wurde, steckte Alexander seine Bärennase schnüffelnd aus dem Schlitten hinaus und sog die Luft ein. »Herrlich riecht es hier«, meinte er. »Wie im Sommer bei uns zu Hause.« Er deutete auf die Grashalme, die vereinzelt aus der nur noch dünnen Schneedecke ragten. »Bald sind wir im Grünen. Ich kann es kaum erwarten.« Bis auf Flunki, der reparierte, und Lonzo, der überflüssige Ratschläge für die Reparatur gab, stiegen jetzt alle aus und liefen ein Stück dem Horizont entgegen. Hier war es längst nicht mehr so kalt wie im Lager der Rotpelze. Man schwitzte sogar ein bißchen in den dicken Anzügen. Fantasia entdeckte in der Ferne einen ersten Baum, und Lori deutete verzückt auf ein kleines Tier mit gelbem Pelz und buschigem Schwanz, das sie aus tiefschwarzen Augen neugierig anstarrte und dann davonhuschte. Die Luft war herrlich - sie schmeckte besser als Eiskrem und war mit dem künstlichen Atemgemisch auf der EUKALYPTUS überhaupt nicht zu vergleichen. Und man konnte sich nach allen Seiten frei bewegen. Es gab keine 188
Metall wand, keine Decke und keine Treppe. Erst jetzt erfaßten die Kinder von der Erde so richtig, was es hieß, einen ganzen Planeten vor sich zu haben. Fantasia umarmte überraschend Harpo. In ihren Augen stand die stumme Frage, ob sie nicht alle die EUKALYPTUS vergessen sollten, um sich hier irgendwo anzusiedeln. Bisher war ihnen allen dieser Planet als einzige Eiswüste erschienen. Mit dem Grün erwachte ein neuer Unternehmungsgeist. »He, ihr Träumer!« bellte Flunki von weitem und schwang dabei einen Schraubenschlüssel. »Es geht weiter!« Harpo zuckte zusammen. Er hatte tatsächlich für einen Moment ein Bild aus einer greifbar nahen Traumwelt vor Augen gehabt. Es gab dort einen Iglu am Rande des Schnees, in dem er mit Thunderclap, Ollie, seiner Schwester Anca, Lori, Lonzo und all den anderen, vor allem aber mit Fantasia, lebte. Man tat, wozu man gerade Lust hatte: Schlitten fahren, fischen, Netze flicken ... »Kommt, Freunde«, sagte er und nahm erst Lori, dann auch Fantasia bei der Hand. »Unser Weg ist noch nicht zu Ende!«
Die Station des Weltraumarztes Als der Schlitten die Schneegrenze überquerte, gab es einen leichten Ruck, dann schaltete Flunki den Luftkissen-Antrieb ein. Es wurde ein bißchen lauter, aber sonst bemerkte man keinen großen Unterschied. Das Fahrzeug schwebte jetzt dreißig Zentimeter über dem Boden dahin, getragen von e inem Polster aus zusammengepreßter Luft. Da die milde Witterung die Schutzkuppel überflüssig machte, drückte der Raufbold kurzerhand auf einen Knopf. Die durchsichtige Kuppel glitt zwischen die Blechverkleidung. »Sollte mich nicht wundern, wenn sich diese Kiste auch noch in eine Badewanne verwandeln ließe«, meinte Harpo. »Das kannst du haben!« rief der Raufbold und ließ einen dünnen Wasserstrahl aus dem Armaturenbrett zielsicher in Harpos Gesicht schießen. Flunki lachte dröhnend, als sich Harpo wie ein nasser Pudel schüttelte, während die anderen Passagiere sich schreiend in Sicherheit brachten. 189
»Meine Frisur, meine herrliche Frisur!« zeterte Lonzo, der nicht ein einziges Haar unter seiner Matrosenmütze hatte. Fünfhundert Kilometer hatten sie bereits zurückgelegt. In dieser Region war von Schnee nicht mehr die geringste Spur zu bemerken. Vor ihnen öffnete sich eine weite, grünblaue Ebene mit verstreuten Baumoasen. Die Blätter der Bäume wuchsen direkt aus den Stämmen und waren so groß, daß man sich dahinter verstecken konnte. Goldene Blütensporen trieben wie im Zeitlupentempo durch die Luft. Überall summte und zirpte es. Flunki hatte nicht übertrieben, als er die Schönheit und Vielfalt des Planeten pries: Scharen von rotgefiederten Vögeln mit Krummschnäbeln und Stelzfüßen sahen neugierig zu, als das Fahrzeug an ihnen vorbeizischte; ein Rudel pferdeähnlicher, aber nur hundegroßer Tiere mit schwarzweißgeflecktem Fell und spitzen Hörnern auf den Nasen flitzte auseinander, als sie einen seichten Fluß durchquerten, in dem die Tiere gerade badeten. Das Wasser spritzte und sprudelte, daß es eine wahre Pracht war. Aus dem Uferschilf entfernten sich aufgeschreckt blaue Eidechsen. Im Fluß tummelten sich seehundgroße Fische, die man durch das kristallklare Wasser gut erkennen konnte. Gelegentlich steckten sie ihre Köpfe über den Wasserspiegel, fuhren sich mit langen Flossen über ihre haarigen Schnurrbärte und schickten zornige Jaullaute hinter dem lauten Fahrzeug her. Am Himmel segelte ein drohender, schwarzer Schatten: ein langhalsiger Vogel, der wie ein Geier einen kahlen Kopf und eine dichte, aufgeplusterte Halskrause hatte. »Das ist ein Eierdieb!« rief Flunki aufgeregt, als Lori ihn auf den Vogel aufmerksam machte. »Warum hat er diesen Namen?« wollte Lori wissen. »Potzdonner, euer Wissensdurst gefällt mir«, sagte Flunki und zwirbelte die Schnurrbartenden. »Der Kamerad heißt so, weil er seine eigenen Eier nicht ausbrütet. Sie gefallen ihm nämlich nicht, weil sie rosa sind. Dafür klaut er sich dann die schönen, goldgesprenkelten Eier der Höhlensalamander und schleppt sie in sein Nest. Groß genug ist er ja dazu, und mit seinen Klauen möchte ich lieber keine Bekanntschaft machen. Ich habe einmal beobachtet, wie ein kleiner Salamander in einem Eierdieb-Nest ausschlüpfte. Der Vogel hat vor lauter Schreck fast alle Federn abgeworfen. Hohoho! Eigentlich müßten die Eierdiebe ja mit der Zeit lernen, daß aus den Eiern, die 190
sie ausbrüten, Salamander krabbeln, aber sie sind einfach zu dumm dazu. Jahr um Jahr machen sie das gleiche!« »Und wer brütet ihre eigenen Eier aus?« fragte Harpo. »Das schafft die Sonne allein«, antwortete Flunki zwinkernd. »Vorausgesetzt, die Eier fallen vorher nicht einem Eiersammler in die Hände.« »Und was ist das für ein Tier?« fragte Lori, begierig darauf, ein neues, phantastisches Wesen kennenzulernen. »Oh«, meinte Flunki grinsend. »Das sind Wesen mit großen Bärten und Eisenhelmen. Man nennt sie auch Raufbolde.« Fettwanst hatte ihnen eine Landkarte mitgegeben, die aus einem Stück Leder mit eingeritzten Angaben bestand. Aber Flunki kannte den Weg so gut, daß er die Karte nicht benutzen mußte. Schließlich konnte er stolz auf einen Punkt am Horizont deuten, der schnell größer wurde und sich als die Station des Weltraumarztes entpuppte - denn nach allem, was sie bisher gehört hatten, konnte ja kaum ein Zweifel daran bestehen, daß ein Angehöriger dieser Rasse sich hier aufhielt. Das Gebäude hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem irdischen Observatorium und trug auch tatsächlich in einem Schlitz der Rundung ein gewaltiges Fernrohr. Aber auch Alexanders Bezeichnung »Eiseniglu« konnte nicht von der Hand gewiesen werden. Das Gebäude ähnelte einem Iglu oder einer unten abgeflachten Riesenmurmel. Die Freunde staunten, als ihnen Trompo entgegeneilte, j ener Miniaturelefant, den sie auf der EUKALYPTUS glaubten. Aber es war gar nicht Trompo, stellte Lori fest, als sie nach draußen sprang und das kuschelige Wesen auf den Arm nahm. Es war ein anderer Vertreter Trompos Rasse. Seine Artgenossen halfen den Weltraumärzten mit ihren besonderen Fähigkeiten bei der Arbeit. Kein Zweifel, hier hielt sich ein Weltraumarzt auf. Da kam er auch schon aus dem Gebäude, blickte freundlich zu ihnen herüber und erwartete sie dann mit verschränkten Armen am Eingang. Er trug einen enganliegenden, silbernen Anzug mit einem schwarzen, ziemlich hohen Stehkragen. Sein Kopf glich einer auf die Spitze gestellten Birne mit winzigen, spitzen Ohren und kugelrunden Augen. »Ich habe euch schon erwartet«, sagte er zur Begrüßung und geleitete die Besucher ins Innere. »Können Sie Gedanken lesen?« fragte Lori verblüfft. 191
»Verrat!« machte sich Lonzo bemerkbar, aber jeder wußte ja, daß er es nicht ernst meinte. Es gab nur eine Erklärung: Der Arzt hatte Kontakt mit der EUKALYPTUS aufgenommen und erfahren, daß der Schlitten zu ihm unterwegs war. »Na, ganz so war es nicht«, erklärte der Mediziner, nachdem er zuvor allerlei saftige Früchte aufgetischt hatte. »Ich erhielt einen Funkspruch von Kollegen, die euch vor einigen Monaten im Weltall treibend gesehen haben. Sie hielten es für möglich, daß das Raumschiff vom Schwerefeld eines Planeten im Archimedes-System eingefangen würde. Schließlich konnte ich euch orten. Erst kürzlich gelang mir allerdings die Verbindung zu einem Burschen namens Vielsprechermund ...« »Schwatzmaul!« riefen die Kinder. »Der Translator hat den Namen ja mächtig verballhornt. Und außerdem hat die eitle Maschine verschwiegen, daß sie ein Computer ist!« »Er verband mich dann mit einem gewissen Donnerwetter Übermensch.« »Mit wem?« fragte Harpo, aber dann lachte er los, als ihm einfiel, daß nur Thunderclap Genius gemeint sein konnte. »Na«, meinte Flunki. »Thunderclap Genius hört sich aber auch komisch an.« »Eigentlich heißt er ja auch ...«, begann Lonzo, aber dieses Mal war es Harpo, der den vorwitzigen Roboter mit einem Knuff in die Metallrippen zum Schweigen brachte. Thunderclap hütete seinen wahren Namen wie seinen Augapfel, und der Grund dafür war, daß er noch komischer war als der jetzige. Nach dem Essen besichtigten sie die Station des Mediziners. Seinen Namen hatte er mit einer Lautkombination angegeben, die selbst Lonzos Gedächtnis kaum korrekt wiedergeben konnte. Er bestand aus einer Ansammlung von Zischtönen und Konsonanten. Lori schlug vor, den Arzt Karl-Herbert zu nennen, was Harpo nicht gefiel, worauf Fantasia Walter vorschlug, was Lonzo auf die Palme brachte. Der von Flunki erfundene Name Zahnklempner stieß bei Alexander auf Ablehnung, weshalb man sich schlußendlich auf »Hugo« einigte. Flunki bedauerte seinen Vorschlag nachträglich, als der hellhörig gewordene Galaktische Mediziner sein Zahnarztbesteck heranschleppte und auf den Raufbold zuging.
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Flunki riß nicht nur so geschwind aus wie ein Wiesel, sondern kletterte auch noch auf einen Baum und war erst nach etlichen heiligen Eiden zu überreden, wieder in die Station zu kommen. Hugo versäumte es nicht, den Freunden seine Laboratorien zu zeigen, in denen unübersehbare Reihen von chromglänzenden Maschinen standen. Wie er erklärte, bestand der Hauptzweck der Station darin, auf Nordpol wichtige Rohstoffe für Medikamente zu gewinnen, die anderswo im Kosmos nur schwer aufzufinden waren. Da der Planet in seiner Sommerzone ungewöhnlich fruchtbar war, existierten hier derart viele Formen pflanzlichen Lebens, daß sich für die Medizin sehr günstige Stoffe gewinnen ließen. Aber daneben war die Station natürlich auch dafür eingerichtet, diesen Raumsektor medizinisch zu betreuen, und enthielt zahlreiche Diagnostik-, Heil- und Operationsräume. Hugo und sein Begleiter, besser seine Begleiterin, denn Trompo II hieß Neli und war ein Weibchen, lebten ganz allein hier. Erst nach einer Dienstzeit von zehn Nordpol-Jahren, was etwa sieben irdischen Jahren entsprach, wurden sie abgelöst. Die Hälfte dieser Zeit hatten beide bereits abgeleistet. Täglich schwollen die Stöße von Karteikarten und Heftmappen an, und die Computer, von denen Hugo gleich mehrere besaß, ratterten Tag und Nacht, um neue Testergebnisse zu verarbeiten. Hugo ließ keine Gelegenheit aus, die teilweise noch unerforschte Fauna nach weiteren Heilstoffen zu durchforsten und Testreihen zu beginnen. Gelegentlich gab es auch Patienten aus den Reihen der Raufbolde oder Rotpelze, und Hugo freute sich immer über Abwechslung. Glücklicherweise wurden die Nordpol-Bewohner äußerst selten krank, weil sie in einer glücklichen Symbiose mit der Natur lebten und darauf verzichtet hatten, ihre Nahrung mit künstlichen Zusätzen zu vergiften. Nur die Angewohnheit des Rauchens, die besonders bei den Raufbolden sehr verbreitet war, gab gelegentlich Anlaß zu einem Krankenbesuch. »Denkt daran««, brabbelte Lonzo später, »daß auch Pommes frites ungesund sind. Zuviel Fett dran und so!« »Du hast gut reden«, meinte Harpo anzüglich. »Du kommst mit ein paar Batterien das ganze Jahr über aus und trinkst höchstens mal ein Kännchen Öl. Außerdem bestehen unsere Pommes frites sowieso aus Synthofood, sind also künstlich gemacht, und auch das verwendete Fett ...« 193
Harpo war bald zu müde, um mit Lonzo noch weiter über Pommes frites und andere Nahrungsmittel zu streiten. Nach den Anstrengungen der langen Fahrt fielen alle sofort in einen tiefen Schlummer, kaum daß sie es sich in einigen leerstehenden Krankenbetten bequem gemacht hatten. Hugo ließ seine Gäste ausschlafen. Erst am späten Vormittag erwachte Harpo als erster durch das Gezwitscher unzähliger etwa daumengroßer Vögel. Ein Teil der Metallwand war zur Seite geglitten und zeigte ein großes Panoramafenster, durch das die Sonnenstrahlen auf die Betten fielen. Alexander, der als zweiter erwachte, kletterte sofort aus dem Bett und machte mit ausgestreckten Armen keuchend und schnaufend einige Kniebeugen. »Ist gesund«, meinte er, als Harpo ihn fragend anschaute. »Ach du meine Güte«, jammerte Harpo und versteckte sein Gesicht im Kissen. »Jetzt haben wir noch einen Gesundheitsapostel am Hals. Na, du wirst dich gewiß mit unserem kleinen Ollie anfreunden. Wenn der Taschen hätte, die groß genug wären, würde er die ganze Bordapotheke mit sich durch die Gegend schleppen.« Wie hungrige Wölfe stürzte die Gruppe nach dem Duschen an den Frühstückstisch. Flunki konnte es so wenig abwarten, daß er sein Beschleunige rfeld einschaltete und die guten Sachen wie ein Bagger in sich hineinschaufelte. »Nicht so schlingen«, riet Alexander und gab dem Raufbold einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken, so daß er fast mit dem Gesicht in seinen Teller tauchte. »Man kriegt Bauchgrimmen und Magengeschwüre davon!« Flunki schluckte verzweifelt und verdrehte die Augen. Schließlich ließ er sich sogar dazu bewegen, sein Beschleunigerfeld a bzuschalten, und aß dann fast gesittet, obwohl auch das natürlich nicht ohne Schmatzen und Schlürfen nach echter Raufboldart vor sich ging. Nach dem Essen gesellte sich Hugo zu den Gästen und meinte: »Als ich mit eurem Freund Thunderclap sprach, erzählte er mir übrigens von e inem Menschen, der auf der EUKALYPTUS im Tiefschlaf liegt.« »Das ist Daniel Locke«, sagte Fantasia und nickte, nachdem sie sich erst einmal den Mund abgewischt hatte. Harpo unterdrückte einen Rülpser, aber Lonzo holte ihn für Harpo nach und warf ihm anschließend einen vorwurfsvollen Blick zu. »Tut man denn so etwas?« 194
»Also Lonzo ...«, knirschte Harpo. Aber dann erzählte er Hugo von jenem geheimnisvollen Mann, der an Bord der EUKALYPTUS in einem gläsernen Sarg lag und dennoch lebte. Die beiden Weltraumärzte Robbie und Freddie hatten den Mann bereits untersucht, konnten aber keine Diagnose stellen. Fest stand nur, daß Daniel Lockes Leben von einer gefährlichen Krankheit bedroht wurde, gegen die zumindest die Ärzte auf der Erde kein anderes Mittel wußten, als den Patienten einzufrieren, in der Hoffnung, ihn wieder aufzuwecken, wenn man entsprechende Heilverfahren entwickelt hatte. Alle Körperfunktionen waren außer Betrieb gesetzt, so daß er in seinem Kühlbehälter nicht alterte. Hugo interessierte sich sehr für den Fall. Er hatte gerade erst sein Studium abgeschlossen und leistete auf Nordpol gewissermaßen sein Praktikum. Da er glaubte, mehr zu können, als Zähne zu ziehen und hier und dort einen Verband anzulegen, fühlte er sich von Daniel Lockes rätselhafter Krankheit herausgefordert. »Wir kehren alle gemeinsam zur EUKALYPTUS zurück«, schlug Harpo vor. »Dann kannst du dir den Patienten ansehen. Aber zuvor müssen wir veranlassen, daß eine der Landefähren uns abholt.« Als sie mit der EUKALYPTUS Funkverbindung aufnahmen, meldete sich Karlie Müllerchen, der nicht schlecht staunte, als aus seinen Lautsprechern ein halbes Dutzend Stimmen auf ihn einredeten, so durcheinander, daß er nicht ein einziges Wort verstand. »Heilige Milchstraße!« rief er aus. »Hör dir das bloß einmal an, Thunderclap. Ein Hühnerhof mit gackernden Hennen ist dagegen ein Sanatorium!« »Hallo, Freunde, hier spricht Logbuchführer Harpo Trumpff«, sprudelte Harpo schließlich los, nachdem er sich mit mehrfachem »Pschtscht« endlich gegen alle anderen durchgesetzt hatte. »Ich habe eine tolle Nachricht für euch ...«
Der Schläfer erwacht Auch die Galaktischen Mediziner, die bei den Kindern der EUKALYPTUS unter den Namen Robbie und Freddie bekannt waren, hatten dem geheim195
nisvollen Mann im gläsernen Sarg nicht helfen können. Trotz der Perfektion ihrer durch die Galaxis sausenden Hospitalschiffe - die vorwiegend bei Notfällen eingesetzt wurden -, waren ihnen Grenzen gesetzt, die es in den planetaren Stationen, wie Hugo eine bediente, nicht gab. Zwar war auch der Weltraumarzt Hugo nicht in der Lage, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken, aber Daniel Locke war ja nicht tot. Brim Boriam, der schwarze Krauskopf aus Afrika, der an Bord der EUKALYPTUS die Funktion eines Schiffsarztes ausübte, wurde nicht müde, in seinem weißen Kittel Hugo die einzelnen Stationen auf der EUKALYPTUS zu zeigen, ihm die Instrumente zu erklären. Am meisten beeindruckten Hugo die riesigen Operationsmaschinen, mit deren Hilfe ein guter Mediziner auch die komplizierteste Operation am Kontrollschirm ausführen konnte. Dabei brauchte er nicht einmal selbst ein Skalpell in die Hand nehmen. Die Maschine war fähig, winzige Nervenbahnen miteinander zu verschweißen und dem Auge längst nicht mehr sichtbare Fäden zusammenzufügen. Dennoch hatten Hugo und Brim fast zehn Tage lang alle Hände voll zu tun, um hinter das Geheimnis von Daniel Lockes Krankheit zu kommen. Als erstes ließ sich Hugo mit dem Beiboot A-9 an Bord der EUKALYPTUS bringen, wobei ihn mehrere Kinder begleiteten. Der Rest - einschließlich Flunki und Alexander - kam mit der nächsten Maschine. Hugo und Brim untersuchten den Schläfer in seinem gläsernen Sarg auf Herz und Nieren, wie man so schön sagt, wenn man eine gründliche Untersuchung meint. Das war auch nötig, da niemand genau wußte, wie lange der unbekannte Mann bereits an Bord war und ob er sich durch das lange Liegen nicht auch noch andere Schädigungen zugezogen hatte. Schließlich hatte es damals, als die erwachsene Besatzung die EUKALYPTUS verließ und die Kinder die Zentrale noch nicht kannten, Energieausfälle Energie ist abergegeben. nötig, um Kälte zu erzeugen. Thunderclap G enius erklärte es seinen neugierigen Freunden, nachdem sie eine jubelnde Begrüßungszeremonie über sich hatten ergehen lassen, folgendermaßen: »Elektrischer Strom treibt eine Art Pumpe an. Mit der wird ein Kühlmittel verdichtet wobei es Wärme an die Umgebung abgibt - und anschließend wieder entspannt - wobei es Wärme aus dem Kühlbehälter aufnimmt.«
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Es war schwer zu verstehen — das wurde in diesem Moment all jenen erschreckend bewußt, die die Lösungen der Physikaufgaben schlichtweg bei anderen abgeschrieben hatten. Aber alle behielten, daß beim Kühlen immer ein Temperaturunterschied zwischen einem kleinen Kühlraum und seiner Umgebung entsteht. Die Wärme wird aus dem Kühlraum in den größeren Raum der Umgebung geleitet. Der kleine Ollie kam sogar ganz allein auf die Idee, daß es überhaupt keinen Zweck hat, die Kühlschranktür offenstehen zu lassen, wenn es einem in der Küche zu heiß ist: ein offener Kühlschrank kühlt überhaupt nicht mehr. Da auch die beste Isolierung die Kälte nicht konstant halten kann, befürchtete Hugo, daß bei einem Stromausfall der gläserne Sarg zu warm geworden sein könnte. Aber nach der Untersuchung hellte sich sein Gesicht auf: Es war alles in bester Ordnung. Sechs reparierte Grüne trugen Daniel Locke mitsamt seinem Glasbehälter zunächst in die A-9 und dann in Hugos Hospitalstation auf Nordpol. Der kurze Transport war ungefährlich. Auf der Station angekommen, wurde die Kühlpumpe sofort wieder an das Stromnetz angeschlossen. Jetzt konnten Hugo und seine elefantenartige Assistentin, unterstützt von Brim Boriam, mit den Hilfsmitteln der Station das Problem in Angriff nehmen. Zunächst sollte es jedoch einfach nicht gelingen, herauszufinden, was Daniel Locke genau fehlte. Blut wurde abgezapft und untersucht. Nichts. Der Körper wurde durchleuchtet. Nichts. Winzige Sonden glitten in jede Vene und jedes Organ, aber auch sie fanden nichts. Erst eine Spezial-Untersuchung einzelner Körperzellen brachte es an den Tag, daß eine krankhafte Zellkernwucherung das Leben des Unbekannten gefährdet hatte. Ein wirklich schwieriges Problem. Aber Hugo und Brim gaben nicht auf. Tagelang vergruben sie sich inmitten ihrer Geräte und e ntwickelten schließlich, mit Unterstützung des Archiv-Computers, in dem die Daten von Millionen Krankheiten sowie Mittel zu deren Bekämpfung gespeichert waren, eine kombinierte Heilbehandlung. Sie bestand aus einem gespritzten Medikament und einer besonderen Strahlungsart. Während Daniel Locke seiner Gesundung entgegenschlief, drückten Hugo und Brim sich glücklich, aber zum Umfallen müde, die Hände und gingen schlafen. 197
Am nächsten Tag spritzte Hugo dem gleichmäßig atmenden Schläfer ein belebendes Mittel ein. Fast alle Kinder der EUKALYPTUS befanden sich nun auf dem Planeten Nordpol. Auch eine große Anzahl von Raufbolden und Rotpelzen hatte sich neugierig eingefunden. So gab es in Hugos Hospitalstation ein ständiges Kommen und Gehen. Menschen, Rotpelze und Raufbolde drängten durch die Räume oder lieferten sich an der Schneegrenze Schneeballschlachten. Die Rotpelze e rwiesen sich wegen ihrer größeren Erfahrung als fast unschlagbar, ließen aber hin und wieder - gutmütig wie sie waren - auch mal die Kleinen gewinnen. Und es war eine Seltenheit, wenn man keinen Motorschlitten aus Flunkis Clan zwischen den Hügeln dahinflitzen sah. Hugo stöhnte, als er den Andrang wahrnahm. »Jetzt merke ich erst einmal, wie schön Einsamkeit sein kann!« Als sie das Lager Daniel Lockes umstanden, fragte Fidel leise: »Was m achen wir, wenn der Alte versucht, uns Befehle zu erteilen?« Er hatte nicht aufgegeben, alle Erwachsenen als Alte zu bezeichnen, und machte lediglich bei Babs eine Ausnahme. Er war mißtrauisch gegenüber jedem, der ä lter als zwanzig war. Insgeheim mußte auch Harpo zugeben, daß er darüber schon nachgedacht hatte. Weder wußte man, wer Daniel Locke war, noch was er auf der Erde gemacht hatte. Vielleicht war er es gewöhnt, andere Leute herumzukommandieren, und sah die junge Mannschaft des Raumschiffes als eine Kinderschar an, die eine starke Hand benötigte? »Wir lassen es uns einfach nicht gefallen«, gab Harpo ebenso leise zurück. Er wußte, daß alle so dachten. Und das war kein Wunder. Schließlich hatte die ehemalige Besatzung die EUKALYPTUS in heller Panik verlassen und sie alle einem Ungewissen Schicksal ausgesetzt. Sie hatte nichts dazu beigetragen, daß die Kinder den Planeten Nordpol erreicht hatten. Nein, das war allein ihr Werk - und sie waren stolz auf das, was sie geleistet hatten. Es gab keinen Grund, sich jemanden vor die Nase setzen zu lassen. In diesem Moment schlug Daniel Locke die Augen auf. Er machte »Hatschi!« und blickte in Hugos blaues, birnenförm iges Gesicht, weil dieser sich gerade über seinen Patienten beugte. Dann drehte er leicht den Kopf, starrte auf Brims schwarzes Gesicht, verharrte einen Augenblick auf Alexanders zotteligem Bärenpelz und blieb dann an den freundlich grinsenden Zügen 198
Flunkis hängen, dessen listige Äuglein ihm entgegenblitzten, während er die Zähne fletschte und seinen Schnurrbart zwirbelte. Verwirrt schloß der Mann die Augen und murmelte: »Ganz klar. Ich bin verrückt geworden.« »Daniel!« rief Harpo. Er hatte sich tapfer entschlossen, den Mann gleich mit seinem Vornamen anzusprechen, denn »Herr Locke« klang gar nicht gut - und wäre schon eine Art Unterordnung gewesen. »Es ist alles in Ordnung. Wir haben dich im Tiefschlaf gefunden. Du warst sehr krank, aber Weltraumarzt Hugo und Brim haben dich geheilt!« Daniel hielt krampfhaft die Augen geschlossen. Seine Zunge leckte nervös über die Unterlippe, dann sagte er: »Ein Alptraum. In Breitwand und Farbe!« Seine Stimme krächzte etwas, als seien seine Stimmbänder nach all den Jahren eingerostet. »Ich muß einfach spinnen!« »He, er kann j a tatsächlich etwas sagen«, ulkte Flunki mit gespielter Überraschung. »Bären und Zwerge«, sagte Daniel. Offenbar blinzelte er doch ein wenig unter seinen Lidern hervor. »Jungejunge das wird mir zu Hause keiner glauben!« »Beim Vater aller Frostbeulen!« schrie der Raufbold so laut, daß Harpos Translator zu wackeln begann. Er sprang aus dem Stand in die Luft und giftete: »Diese Portion Tiefkühlkost wagt es, mich einen Zwerg zu nennen! Schniefnase und Keuchhusten, dabei bin ich fast einen Meter groß!« Damit war der Bann gebrochen, denn Flunkis Lachfältchen, die deutlich unter seinem struppigen Bart zu erkennen waren, sprachen eine ganz andere Sprache. Es gelang ihm überhaupt nicht, sie durch ein gewollt grimmiges Augenfunkein zu verbergen. Alle jubelten und fielen sich in die Arme. Jetzt schlug auch Daniel Locke wieder die Augen auf. Nachdem sich die erste Verwirrung gelegt hatte, guckte er eigentlich recht freundlich. Und ein breites, glückliches Lächeln auf seinem Gesicht signalisierte: Er hatte verstanden, daß sein Leben, das vor seinem Einfrieren an einem seidenen Faden gehangen hatte, gerettet war. »Ich scheine also doch nicht zu spinnen. Na, egal, jetzt könnt ihr euch sicher vorstellen, daß ich darauf brenne, herauszukriegen, wo ich bin, was das 199
alles zu bedeuten hat, was das hier für ulkige Leutchen sind und ... und ... Ach, ihr wißt schon, ich habe tausend Fragen auf Lager.« Damit ging es erst richtig los. Alle wollten schnellstens ihre Erlebnisse loswerden und dem Schläfer möglichst detailgetreu die Abenteuer der EUKALYPTUS-Besatzung mitteilen. Selbst Fidel ertappte sich dabei, wie er mit leuchtenden Augen den Schneekrabbler Borro schilderte. Es herrschte ein kleines Chaos, so daß Daniel sich schließlich aufsetzte und stöhnend an den Kopf griff, während Flunki und Lonzo in wilde Entzückensschreie ausbrachen und ein Tänzchen im Sechsneunteltakt improvisierten. Der Lärm lockte selbst Trompo und Neli an. Trompo, das kleine, rosafarbene Elefantenwesen, hatte die Kinder in den letzten beiden Wochen nur selten gesehen. Der Anblick der beiden kätzchengroßen Intelligenzen ließ Daniel erneut schlucken, aber er fing sich rasch wieder. Später erklärte er, in diesen ersten Minuten des Erwachens geglaubt zu haben, sich in einer wundersamen Traumwelt mit allerlei Phantasiegeschöpfen zu befinden. Schließlich verschaffte sich Thunderclap Genius Gehör und schilderte sachlich, ohne viel auszulassen - aber auch ohne sich groß in Erzählungen einzelner Abenteuer zu verfransen - die bisherige Fahrt der EUKALYPTUS und die Verhältnisse auf dem Planeten Nordpol. »Das«, sagte Daniel nach einer Pause, »muß ich erst einmal verdauen.« Er hatte sich bemüht, den Bericht des Jungen im Rollstuhl nicht durch Fragen zu unterbrechen, und fühlte sich jetzt so überfordert, daß ihm alle vorläufig zurückgestellten Fragen wieder entfallen waren. »Jetzt bist du an der Reihe zu erzählen, wie du an Bord des Schiffes gekommen bist«, platzte Harpos Schwester Anca heraus. Sie war als eine der letzten von der EUKALYPTUS nach Nordpol gekommen und beneidete die beiden ersten Landungsgruppen um die schon erlebten Abenteuer bei den Raufbolden und Rotpelzen. »Immer langsam«, meldete sich Doktor Brim. »Daniel ist sicher unheimlich müde und möchte erst mal schlafen.« »Schlafen?« lachte Daniel. »Ich habe wahrhaftig genug geschlafen in den letzten sechs Jahren.« Aber er mußte durch ein heftiges Gähnen unfreiwillig zugeben, daß gerade der lange Schlaf ihn erschöpft hatte. 200
»Ich fühle mich ziemlich geplättet«, sagte er entschuldigend, als die Kinder sein raubtierhaftes Gähnen mit einer Lachsalve beantworteten. »Ungefähr so, als hätte mich eine Dampfwalze überfahren.« Hugo fragte erst gar nicht lange, sondern verpaßte ihm einfach eine Spritze. »Autsch!« quittierte Daniel verdutzt. »He, ich will nicht wieder eingefroren werden, Hugo!« »Keine Sorge, diesmal dauert es keine sechs Jahre, sondern höchstens sechs Stunden«, versicherte der blauhäutige Mediziner. »Ich bin aber wirklich ... uuuaahh ... gar nicht müde ...« Daniel gähnte gegen seinen Willen noch einmal herzhaft, dann fielen ihm die Augen zu. Das kantige Kinn mit den winzigen Bartstoppeln sackte auf seine Brust. Tiefe und regelmäßige Atemzüge verrieten, daß er eingeschlafen war. »Scheint gar kein übler Typ zu sein«, meinte Harpo und blickte dabei Fidel an. Der nickte zögernd. »Sieht so aus.« Fidel zuckte mit den Schultern. »Hmm — ich glaube, ich muß mal über etwas nachdenken, Harpo.« »Nachdenken?« fragte Anca. »Worüber denn?« »Über Vorurteile«, erwiderte Fidel, während er hinausging. »Ich wette, e r hat einen gewaltigen Kohldampf, wenn er aufwacht«, meinte Karlie Müllerchen. »Ob er vielleicht Kartoffelpuffer mag?« Harpo verzog das Gesicht und sagte griesgrämig: »Wie kannst du daran zweifeln, Karlie?« Der über zwei Meter große Junge grinste von einem Ohr zum anderen. »Dann werde ich ihm vorsichtshalber mal achtzig Stück in die Pfanne hauen ...«
Die lockenden Sterne Daniel Locke kehrte nach einem opulenten Mahl zusammen mit Harpo, Thunderclap, Fantasia, Lonzo und Karlie auf die EUKALYPTUS zurück und sah zum erstenmal das Schiff, auf dem er so viele Jahre verbracht hatte, aus der Nähe. 201
Er konnte nicht verbergen, daß dieser Koloß großen Eindruck auf ihn machte. Zwar war er selbst Techniker auf einer Werft für Raumschiffe gewesen - und hatte sogar am Bau der EUKALYPTUS mitgewirkt -, aber das fertige Ergebnis seiner Arbeiten hatte er nur auf dem Bildschirm seines Fernsehers betrachten können. Und das war gar nicht so erstaunlich, wie es sich anhörte. Im allgemeinen baute man Teile der großen Raumschiffe auf der Erde zusammen und brachte sie mit Lastraketen ins All hinaus, wo sie montiert wurden. So hatte Daniel immer nur einzelne Teile zu Gesicht bekommen und deshalb keinen besonders großen Spaß an seiner Tätigkeit gehabt. Die Montagearbeit im All wurde wieder von anderen Technikern ausgeführt, die auch nicht recht zufrieden waren, weil sie mit den Vorarbeiten nichts zu tun gehabt hatten. Ihnen wurden einzelne Fertigteile übergeben, die sie stur nach einem bestimmten Konstruktionsplan zusammensetzten. Die Fließbandarbeit hatte man auf der Erde längst abgeschafft, weil die Leute sie als unmenschlich empfanden, aber dafür griff das Spezialistentum immer mehr um sich. »Seht ihr?« meinte der Rotpelz Alexander. »Bei uns haben wir schon lange rausgefunden, daß es nicht gerade das Selbstbewußtsein stärkt, wenn man stur immer wieder dasselbe m achen muß. Erst wenn man eine Sache ganz entstehen sieht, vom Anfang bis zum Ende, macht es Spaß.« »Warum tun die Monteure dann diese Arbeit?« fragte Karlie ernüchtert. »Ich meine, wenn sie ihnen doch keine Freude macht ...« Daniel zuckte die Schultern. »Sie müssen doch irgendwie Geld verdienen, um Nahrung und Kleidung zu kaufen und eine Wohnung zu mieten«, erklärte er. »Die meisten Jobs sind so beschaffen. Man kann sich die Arbeit einfach nicht danach aussuchen, ob sie einem Spaß macht oder nicht.« »Das ist aber wirklich fies«, meinte Harpo. »Die Leute auf Nordpol tun nur das, was ihnen Spaß macht. Jeder kann al les. Wir haben es auf der EUKALYPTUS ebenso gehalten. Und es klappt - wenigstens meistens.« Daniel Locke kratzte sich hinter dem Ohr und nickte dann. »Ich staune sowieso, daß ihr grünen Jungs mit Eierschalen hinter den Ohren dieses Riesenschiff wieder in Schwung gebracht habt, nachdem ein Haufen hochkarätiger Spezialisten die Flucht ergriffen hat.« »Eierschalen?« quakte Lonzo. »Grüne Jungs?« 202
Lonzo machte »Naaaa!« und drohte Daniel mit allen vier Tentakeln gleichzeitig. »Oh, Entschuldigung«, erwiderte Daniel hastig. »Ich falle doch immer wieder in diese alten Redensarten zurück. Ich bin halt so erzogen worden. Tut mir leid. Es dauert eine Weile, bis ich umdenke.« Er wußte inzwischen, daß die Kinder Bezeichnungen wie »grüne Jungs« überhaupt nicht hören mochten, und hatte sich auch schon gebessert, aber gelegentlich rutschte ihm halt noch so etwas raus. Zwar wußten die anderen genau, daß er es eigentlich gar nicht böse meinte und daß sogar ein gehöriges Stück Bewunderung hinter diesen Worten steckte. Aber trotzdem ... »Und wenn schon 'grüne Jungs'«, schimpfte Fantasia Einstein, »dann auch 'grüne Mädchen'. Wir haben nämlich auch allerhand getan.« Daniel lachte verlegen. »Verzeihung, Fantasia. Auch daran muß ich mich erst noch gewöhnen. Als ich klein war, hat man mir den Blödsinn erzählt, daß Mädchen nicht logisch denken können und deshalb auch nichts von Technik verstehen.« Er legte einen Arm entschuldigend um Fantasias Schultern. »Na, wieder gut?« Daniel blinzelte. Fantasia nickte lächelnd. Sie fühlte sich sehr zu Daniel hingezogen, weil er sie an ihren Vater erinnerte, obwohl er viel jünger war. Ihr Vater hatte auch immer so ein angenehmes, breites Lächeln gehabt. Viele Kinder auf der EUKALYPTUS waren Waisen - wie Harpo und Anca -, aber Fantasia litt noch immer darunter, daß sie ihre Eltern wahrscheinlich niemals wiedersehen würde. »Ich dachte mir das schon«, sagte Daniel, nachdem er die Atomreaktoren und Antriebselemente der EUKALYPTUS besichtigt hatte. »Was?« fragten Harpo und Thunderclap wie aus einem Munde. »Daß etwas faul ist an diesem Raumschiff. Damals auf der Werft wurde von einem neuartigen Antrieb gemunkelt. Genaues erfuhr man nicht, weil alles von den Sicherheitsheinis abgeschirmt wurde. Aber zweifellos wurde dieser neue Antrieb in das Schiff eingebaut.« »Und was ist daran faul? Hat das vielleicht etwas mit der Katastrophe zu tun, die die EUKALYPTUS aus ihrer Kreisbahn um die Erde riß?« »Vielleicht. Es ist auf jeden Fall ziemlich merkwürdig, daß ein Schiff, das eigentlich nur die Erde umkreisen und nicht das Sonnensystem verlassen soll, überhaupt einen Antrieb erhält! Was soll es denn damit? Eine normale 203
Raumstation hätte es für die offiziellen Zwecke auch getan. Und mehr noch: Das Schiff bekommt einen gänzlich unerprobten Antrieb, mit dem die Menschen zum erstenmal größere interstellare Entfernungen überwinden und mit dem die Schranke der Lichtgeschwindigkeit fällt.« »Hm«, meinte Karlie. Da er sich stark für Astrogation interessierte, wußte er inzwischen, daß das Licht 300 000 Kilometer pro Sekunde zurücklegt und trotzdem einige Jahre benötigt, bis es von Stern zu Stern dringt. Wer schneller reisen wollte, mußte also flinker als ein Lichtstrahl sein. Das galt lange als unmöglich, weil der geniale Physiker Albert Einstein - der übrigens nicht mit Fantasia verwandt ist - eine Theorie entwickelt hat, nach der die Lichtgeschwindigkeit die höchstmögliche Geschwindigkeit im Universum ist. »Stimmt eigentlich. Aber was steckt dahinter?« »Keine Ahnung«, gab Daniel zu. »Vielleicht bleibt das immer ein Geheimnis, denn nicht mal Schwatzmaul ist darüber informiert.« »Der«, kicherte Harpo, »weiß von manchen anderen Dingen auch nicht viel.« »Einspruch«, sagte Schwatzmaul über sein Lautsprechersystem. »Ich protestiere!« Sein Gerede ging in Daniels weiterer Erklärung völlig unter. »Ich bin davon überzeugt, daß die EUKALYPTUS nicht in erster Linie als Sanatoriumsschiff für kranke Kinder gedacht war! Da wurde ein nagelneues Schiff mit fast zweihundert Decks gebaut. Ein gewaltiger Kasten, auf dem zwanzigtausend Menschen sich verlaufen können. Versehen mit einem Superantrieb. Jeder bei uns auf der Werft glaubte an einem Sternenschiff zu arbeiten. Die Konzeption war einfach ungewöhnlich, für ein neues Sanatorium«, fügte er hinzu. Er schwieg, denn trotz seiner vollständigen Gesundung war sein Tiefschlaf, auf den Daniels Anwesenheit überhaupt zurückzuführen war, ein wunder Punkt. »Ich bin jedenfalls nicht davon ausgegangen, daß dieses Schiff die Erde auf ewig umkreist, als ich mich einfrieren ließ.« Daniel hatte es, wie er berichtete, nur einem Verwandten zu verdanken, daß man sich bereit erklärt hatte, sich seiner auf dem Hospitalschiff anzunehmen. »Wenn ein Mann in meiner Lage so schwer krank wird«, sagte er einmal, »dann muß er sterben. Nur die Prominenten können da noch hoffen, weil nur sie die teuersten Heilverfahren bezahlen können.« 204
Die Methode, Menschen einzufrieren, um sie erst dann wieder aufzuwekken, wenn ein Mittel gegen ihre Krankheit entdeckt wurde, war kostspielig. Auf der Erde existierten private Tiefschlafdepots, aber wenn man da einen einfachen Krankenschein vorlegte, kam man nicht einmal am Pförtner vorbei. Daniel hatte deshalb schon beinahe resigniert, als ihm sein Arzt mitteilte, daß er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Ein Verwandter machte ihn darauf aufmerksam, daß man Freiwillige für ein Weltraumexperiment suchte, die eingefroren werden sollten. Was genau dieses geheimnisumwitterte Experiment beinhaltete, war Daniel bis heute unklar geblieben - und vermutlich war es auch gar nicht mehr zu rekonstruieren. Daß man seinen gläsernen Sarg jedoch an Bord der EUKALYPTUS brachte, unterstützte seine Vermutung, daß dieses Schiff keineswegs allein zur Erholung irdischer Kinder gedacht war. »Sagt mal«, meinte er, nachdem er beinahe jeden Quadratzentimeter der Maschinenräume inspiziert hatte, »ihr habt zwar tolle Arbeit geleistet und viele Schäden beseitigt aber ich verstehe nicht ganz, weshalb ihr den Antrieb nicht zu voller Manövrierfähigkeit gebracht habt. Es ist doch alles an Ersatzteilen vorhanden, was nötig ist.« »Waaas?« fragte Karlie entsetzt. »Das kann doch nicht wahr sein. Es stimmt zwar, daß alle großen und komplizierten Teile in Reserve genommen wurden, aber so manches kleine und lebenswichtige Detail fehlte, angefangen bei bestimmten Schraubenarten und Werkzeugen.« Daniel lachte. »Da habt ihr euch foppen lassen«, sagte er grinsend. »Ihr habt bloß nicht erkannt, was zusammengehört! Habt ihr denn die Werkzeugmaschinen nicht gesehen? Wenn wirklich ein paar Verbindungselemente fehlen, könnt ihr die doch mit Leichtigkeit auf den Dreh-, Bohr-, Fräs- und Hobelmaschinen selbst anfertigen.« Karlie und die anderen waren jetzt an der Reihe, rot zu werden. »Wir h aben keine Ahnung, wie man diese Maschinen bedient. Und - ehrlich gesagt wir haben nichts verstanden, wenn wir Schwatzmaul danach fragten.« »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, schaltete sich das Große Gehirn in die Unterhaltung ein, »so muß ich dazu sagen, daß ich es unseren verehrten Damen und Herren Ingenieuren immer wieder ganz präzise beschrieben hatte. Und trotzdem haben sie behauptet, meine Worte seien für sie unverständlich. Dabei bin ich seit dem ersten Stromstoß, der durch meine 205
Speicherzellen fuhr, dafür bekannt, daß ich äußerst exakt und ohne überflüssige Worte meinen Aufgaben genüge. Wie schon weiland der Herr Kommandant in seinen Mußestunden zu sagen beliebte ...« »Was hast du Karlie und den anderen denn gesagt?« unterbrach Daniel den Wortschwall des Elektronengehirns. »Nun ja, ich erklärte ihnen kurz und knapp, was sie beachten müssen, bevor sie eine Drehmaschine einschalten, nämlich ein bißchen Werkstofftechnologie, ein wenig Elektrotechnik und eine Prise Zerspannungstechnik. Also: Fe hat drei Modikatoren, nämlich kubisch-raumzentrierte Gitter, stabil bei Temperaturen bis 911 Grad Celsius, kubisch-flächenzentrierte Gitter von 911 Grad bis 1392 Grad Celsius. Die Umwandlung geschieht bei steigender Temperatur endotherm, bei fallender Temperatur exotherm, wobei Modifikation instabil existenzfähig infolge Umwandlungsträgheit bei überhärtetem legierten ...« Karlie verdrehte die Augen. »Nein«, stöhnte Daniel. »Das hast du ihnen erklärt?« »Ja«, erwiderte Schwatzmaul. »Endlich mal jemand, der meine Ausführungen zu schätzen weiß! Es ist doch wirklich einfach, logisch und absolut notwendig für das Verständnis, weshalb ich mich nicht scheue, an dieser Stelle einmal aus zusprechen, meine Damen und Herren - und das muß einmal gesagt werden -, daß wir zu dieser Stunde im Bewußtsein unserer Verantwortung, wie jeder zugeben muß ...« »Halt!« donnerte Daniel dazwischen. »Schwatzmaul, du bist ... ein Schwatzmaul, jawoll! Und ein Hornochse dazu!« »Vielen Dank«, entgegnete Schwatzmaul. »Ich mag diese großen Tiere, die Gras kauen und dabei eine Reaktionswärme von ...« »Schwatzmaul!« drohte Daniel. Karlie keuchte: »Hilfe!« »Aber darf ich wenigstens ...« »Nein«, entschied Daniel. »Du darfst nicht.« »Och, wie schade!« »Durch solche Vorträge werdet ihr niemals lernen, wie man aus einem Stück Metall eine Schraube anfertigen und sie härten kann. Oder wie man schweißt und schmiedet. Oder ganz einfach Schrauben nicht zu fest und 206
nicht zu locker anzieht. Kommt mit, ich werde euch zuerst mal richtiges Elektroschweißen beibringen.« »Das können wir schon«, sagte Fantasia stolz. »Sonst wären wir nicht weit gekommen bei unseren Reparaturarbeiten. Die Weltraumärzte haben uns das gezeigt.« Daniel biß sich verlegen auf die Unterlippe. »Beißt mich jetzt nicht«, meinte er, »aber ich habe mir die Schweißnähte, die ihr gelegt habt, schon angesehen. Also: Erstaunlicherweise hält das irgendwie, aber glaubt mir, meinem alten Lehrmeister wären auf einen Schlag alle grauen Haare ausgefallen, wenn er das gesehen hätte. Die Galaktischen Mediziner mögen zwar Genies auf ihrem Gebiet sein, aber vom Schweißen haben sie nun mal keine Ahnung.« »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, mischte sich Schwatzmaul wieder ein, »achtet darauf, daß die kristalline Struktur der Metallenden so verändert wird, daß ein gleichartiges Ganzes ...« Lachend flüchtete Daniel mit den Kindern. Unten in den Maschinenräumen und Antriebskammern gab es nur ganz wenige Lautsprecher, aus denen der redselige Computer seine Kommentare abgeben konnte. Ganz verzichten wollten sie natürlich nicht auf ihn, und später erwies sich, daß sogar Schwatzmaul sich mit einiger Mühe so ausdrücken konnte, daß man ihn ohne Fachstudium verstand. Er zeigte ihnen genau, wo noch unterbrochene Leitungen geschweißt, verlötet oder neu verlegt werden mußten und wo taube Teile gegen Ersatz auszutauschen waren. Harpo, Thunderclap und die anderen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie sahen, mit welcher Geschicklichkeit ihr neuer Freund Daniel die Werkzeuge zu handhaben verstand. Er zeigte ihnen mit großer Geduld nicht nur, wie geschweißt, gelötet oder an den Werkzeugmaschinen gearbeitet wurde, sondern wußte überall Rat, wo es Schwierigkeiten gab. Wenn ein Schraubenschlüssel zu kurz war, verlängerte er ihn kurzerhand mit einem Rohr; wo sich festgebrannte Schraubenmuttern nicht bewegen ließen, hämmerte er sie mit einem Meißel auf. Und lässig bewegte er mit wenigen, geschickt angebrachten Hubzügen und Hydraulikpumpen haushohe Antriebsaggregate, von denen die Kinder geglaubt hatten, daß auch tausend Olympiasieger im Gewichtheben sie nicht von der Stelle bewegen könnten. 207
Was eigentlich mit dem Antrieb passiert war, konnte auch Daniel nicht feststellen. Er war ein guter Monteur, aber kein Wissenschaftler. Sicher war, daß aus unvorhergesehenen Gründen eine Überlastung erfolgt war, bei der ein Teil der Anlagen ausgefallen und das Raumschiff in einen Raumsektor katapultiert worden war, der so weit von der Erde entfernt lag, daß der Sternenhimmel fremd erschien. Wo immer die heimatliche Sonne als einer von vielen blitzenden Punkten am Himmel leuchten mochte: Wenn sie in der halbdunklen Zentrale standen und durch die gläserne Kuppel hinaussahen, spürte jeder der Freunde ein erregendes Gefühl der Abenteuerlust. Welche seltsamen Welten und Wesen mochten dort im All auf sie warten?
Zu neuen Abenteuern Sie hatten sich in der Hauptzentrale der EUKALYPTUS versammelt. Dies war vielleicht die letzte Versammlung, an der sie alle teilnahmen. Alle, die mit dem Raumschiff zum Planeten Nordpol gekommen waren. Und schon vor Beginn der Versammlung wurde deutlich, daß es zwei verschiedene Lager gab. Die einen wollten auf Nordpol bleiben, während die anderen darauf brannten, mit dem Schiff zu neuen Planeten vorzudringen. Vergessen war die Zeit, als sie Nordpol erreichten, manövrierunfähig und einzig und allein darauf bedacht, eine neue Heimat zu finden. Ein bißchen Schuld daran trug Daniel Locke, denn er hatte maßgeblich dazu beigetragen, daß die restlichen Schäden an der EUKALYPTUS behoben waren. Alle halfen bei der Reparatur, auch diejenigen, die nicht daran dachten, den Schneeplaneten wieder zu verlassen. Aber die Abenteuerlustigen unter den Kindern hatten keine ruhige Minute mehr, seit Schwatzmaul bestätigt hatte, daß das Raumschiff nicht nur in jeder Beziehung startklar war, sondern auch über so große Reaktorvorräte verfügte, daß man damit ein paar hundert Jahre lang durch das All schippern konnte. »Riskant ist es trotzdem«, äußerte sich Daniel. »Wir wissen noch immer nicht, wie der Antrieb funktioniert und welche Tücken und Kinderkrankhei208
ten damit verbunden sind. Wer sagt uns, daß sich die Katastrophe nicht wiederholt, die das Schiff aus dem Orbit der Erde gerissen hat?« »Pah«, machte Lonzo wegwerfend. »Wenn Captain Kidd so gedacht hätte, wäre er niemals Pirat geworden, sondern höchstens Heringsfänger auf dem Bodensee!« »Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden«, meinte auch Thunderclap Genius. »Wenn wir uns auf Nordpol einigeln, e rfahren wir niemals, was im All vorgeht.« »Ja, müssen wir das denn?« fragte Fantasia. »Warum genügt es euch nicht, bei unseren Freunden, den Raufbolden und Rotpelzen, zu bleiben? Hier ist es doch prima!« Sie hatte eigentlich recht, und Thunderclap wußte selbst ganz gut, daß es ihm und vielen anderen nur darum ging, neue Abenteuer zu erleben. »Beim Schneegockel und seinen vierzig Zitterhühnern!« schimpfte Flunki los, der neben Alexander, Hugo und einigen weiteren Raufbolden und Rotpelzen als Ehrengast an der Versammlung teilnahm. »Warum könnt ihr euch nicht darauf einigen, daß Nordpol eure neue Heimat wird, daß ihr aber gelegentlich Kap ... äh ... Kaperfahrten zu anderen Planeten macht? Ihr kehrt natürlich immer wieder in den Heimathafen zurück und bringt euren Freunden von euren abenteuerlichen Reisen Andenken mit!« »Respekt, Raufbold«, schmetterte Lonzo los. »Das ist ein wahrhaft piratiger Einfall! Eine Ehrensalve mit Tusch für den Admiral der Landpiraten von Nordpol!« »Tätärätääää!« brüllte Oliver aus Leibeskräften. »Operationsbasis Nordpol!« »Wie weit ist es bis zum nächsten Fixstern?« fragte Harpo. »Exakt 11,365789456 Lichtjahre«, meldete sich Schwatzmaul, »wobei ich allerdings voraussetzte, daß sich kein Protest erhebt, als ich die letzte Kommastelle stillschweigend aufrundete ...« »Und wie lange benötigen wir für die Hin- und Rückreise?« fragte Thunderclap. »Die reine Fahrzeit: drei Monate, zwei Wochen, vier Tage, dreizehn Stunden, siebenundzwanzig Minuten, vier Sekunden, zwölf Mikrosekunden, acht ...« 209
»Also können wir bereits in einem halben Jahr zurück sein, wenn wir uns nicht länger als drei Monate in dem fremden Sonnensystem aufhalten«, u nterbrach dieses Mal Harpo den Computer. »Ich finde, daß Flunkis Einfall wirklich großartig ist. Es ist demnach gar nicht nötig, daß wir uns trennen weil wir einfach immer wieder zurückkehren.« Ganz so einfach war es natürlich nicht, denn für die weiter entfernten Sterne würde man eine entsprechend längere Fahrzeit benötigen. Aber die Kinder waren erleichtert, daß es kein Abschied für immer sein würde, wenn eine Gruppe auf Nordpol zurückblieb und die andere sich auf den Weg zu den Sternen machte. Das hatte sie nämlich alle sehr bedrückt. Sie waren in den vergangenen Monaten zusammengewachsen. »Dann stellen wir jetzt die neue Besatzung der EUKALYPTUS zusammen!« rief Micel Fopp begeistert. Daß der Gedankenleser mit den kurzen Ärmchen die nächste Reise mitmachen würde, war von Anfang an so klar wie dicke Tinte. »Wer bleibt also auf Nordpol zurück?« fragte Thunderclap. »Ich!« schrie Flunki, und seine Raufboldfreunde fielen auf der Stelle mit ein. »Tausend Eierdiebe mögen mir ihre Brut auf den Kopf werfen, wenn es in einem Schneekrabbler nicht doch gemütlicher ist als in dieser Sardinenbüchse!« »Und wer noch?« fragte Thunderclap lachend. Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich Tom Schlitz und ein gutes Dutzend seiner Freunde. Sie hatten sich in den letzten zwei oder drei Wochen stark mit dem Rotpelz-Clan, aus dem Alexander stammte, angefreundet und wollten zurück in den Iglu, wo Fettwanst und seine Verwandtschaft sich ihrer angenommen hatten. Auch Daniel Locke wollte auf dem Planeten bleiben. Er genoß es, endlich frei zu sein von einengenden Wänden. Er liebte es, stundenlang durch den Schnee zu stapfen, die frische, ozonreiche Luft in die Lungen zu pumpen und den kühlen Wind auf der Haut zu spüren. All das hatte er auf der Erde nie gekannt, und nun wollte er es gehörig auskosten. Das war verständlich. Außerdem wollte Hugo ihn noch eine Weile unter Beobachtung haben, um ganz sicherzugehen, daß die Krankheit ausgeheilt war. Es gab noch drei Menschen, für die Hugo sich stark interessierte, weil er hoffte, etwas für sie tun zu können: Thunderclap, Lucky Cicero und Babs 210
Monroe. Thunderclap weigerte sich jedoch entschieden, auf dem Planeten zu bleiben. So gern er seinen Rollstuhl in die Ecke stellen wollte, war ihm doch das Zusammenbleiben mit seinen engsten Freunden wichtiger — jedenfalls im Moment. Außerdem wußte er, daß selbst mit den medizinischen Künsten der Galaktischen Mediziner eine Hilfe für ihn - wenn überhaupt möglich - sehr, sehr langwierig war. Er hoffte, daß er später auf Hugos Angebot zurückkommen konnte. Babs und Lucky ließ Hugo sich aber nicht entreißen. Babs war organisch gesund, brauchte aber dringend eine eingehende psychische Behandlung. Wie er Lucky helfen konnte, wußte er noch nicht, aber er war überzeugt, daß ihm etwas einfallen würde. Einigen Freunden war es nicht so recht, daß sie auf die Gesellschaft des immer fröhlichen Spielkameraden verzichten sollten, und sie meinten sogar, daß Lucky lieber so bleiben sollte, wie er war. Aber schließlich sahen sie doch ein, daß sie sehr egoistisch dachten. Sicherlich würde er etwas ernster werden, wenn es gelang, seinen Geist aus diesem Gefängnis zu befreien, das ihn gegen die Umwelt abschirmte, weil dann viele Probleme und Konflikte auf ihn warteten wie auf jeden Menschen. Andererseits würde Lucky jedoch eine andere Art von Lebensfreude kennenlernen, und sein rätselhaftes Talent würde sich dann vielleicht voll entfalten. Weil der kleine Mongoloide Lucky auf Nordpol blieb, wollte auch Fantasia die nächste Reise nicht mitmachen. Ihr kleiner Liebling sollte nicht allein zurückbleiben. Es fiel ihr natürlich schwer, Micel und Ollie, ihre beiden »Pflegekinder«, ohne sie abreisen zu sehen, aber was sollte sie machen? Die Freunde verloren mit Fantasia auch ihre allerbeste Ingenieurin, aber man konnte sie schließlich nicht dazu zwingen, auf der EUKALYPTUS zu bleiben. Und sie gönnten ihrem Freund Lucky, daß wenigstens einer aus dem engsten Freundeskreis vom ehemaligen Deck 27 bei ihm blieb. Noch jemanden zog es zu Lucky, den Raufbolden und Rotpelzen. Das war zur allgemeinen Überraschung Fidel Flottbek. Er wollte nicht so richtig mit der Sprache herausrücken, weshalb gerade er, der die Erwachsenen doch gar nicht leiden mochte, in nächster Nähe von Daniel und Babs bleiben wollte. »Das sind keine richtigen Alten«, sagte er, als man ihn darauf ansprach, und genauso meinte er es auch. 211
Wenn wir Flunki glauben dürfen, der bei aller Poltrigkeit eine Spürnase dafür hatte, blieb Fidel vor allem deshalb, weil eine gewisse rothaarige Ingenieurin, die er gut leiden mochte, nicht mitfuhr, na ja, wer weiß, vielleicht hatte Flunki auch nur geflunkert ... Harpo guckte ein bißchen enttäuscht, als er hörte, daß Fantasia noch andere Verehrer hatte, nahm es aber hin. Der kleine Trompo mochte ähnliche Probleme haben, denn der Abschied von seiner neuen Gefährtin Neli fiel ihm ebenfalls nicht leicht. Aber Neli wurde auf Hugos Hospitalstation gebraucht - und wenn etwas Trompo über die Liebe ging, dann war es die Abenteuerlust. Eine andere Entscheidung wäre auch deshalb schwer möglich gewesen, weil der ganze Planet Nordpol mit allen Schneeiglus und Krabblern und Vegetationsgürteln unter dem Schnee gar nicht ausgereicht hätte, um ein Versteck zu bieten vor dem kleinen Ollie. Der Krauskopf mit der fransenverzierten Lederhose hätte es niemals geduldet, daß sein Spielkamerad Fahnenflucht beging. Aber das wollte er ja auch gar nicht. Lori Powitz fühlte sich hin- und hergerissen zwischen den alten Freunden an Bord und den neuen unter den Raufbolden, aber schließlich siegten Flunki und Borro. Flunki versprach hoch und heilig, aus Lori eine gute Raufbold-Frau zu machen, auf sie aufzupassen, sie zu beschützen und ihr nicht allzu viele schlimme Flüche beizubringen. Mit Alexander, dem rotbepelzten Bärenjungen, wurde ein neues Mitglied in die Mannschaft aufgenommen. Fast ohne Unterbrechung erzählte er tagelang vor der Abfahrt jedem, egal, ob er es hören wollte oder nicht, daß er sich aufmachte, die allerschönste und allerlängste Entdeckerfahrt aller Rotpelze zu unternehmen. Aber schließlich hatte er ja auch recht damit. Endlich war der Starttag gekommen. Alle hatten sich auf Nordpol versammelt. Die Raufbolde und Rotpelze hatten sogleich ein großes Fest daraus gemacht und verabschiedeten die Raumfahrer zu Hunderten. Und natürlich fehlte auch keiner der Zurückgebliebenen, auch Hugo und Neu nicht, als die letzten Kinder in die Beiboote krochen, um auf das Raumschiff, das den Planeten umkreiste, zurückzuke hren. 212
Es gab ein paar Tränen, aber dann winkten und jubelten alle und freuten sich schon jetzt auf das Wiedersehen. Die nächste Weltraumexpedition der EUKALYPTUS konnte beginnen! Schwatzmaul richtete seine elektronischen Lauscherohren wieder in den Kosmos hinaus, in Richtung des neuen Kurses. Dann begannen die Antriebsaggregate kaum merklich zu summen. Die EUKALYPTUS drückte sich sanft aus der Umlaufbahn um Nordpol. Unter der gleichmäßigen Beschleunigung wurde die Geschwindigkeit immer größer. Für die Zurückgebliebenen schrumpfte der Lichtfleck am Himmel zu einem winzigen Stern zusammen und verging. Niemand an Bord wußte, was sie in den nächsten Wochen und Monaten erwarten mochte. Aber irgendwo im weiten All, genau auf dem vorprogrammierten Kurs des Raumschiffes, trieb ein uralter, eiserner Koloß. Noch war er viele Millionen Kilometer von der EUKALYPTUS entfernt. Doch das Raumschiff näherte sich ihm unaufhaltsam. Irgendwann würden die Sensoren des Computers Alarm geben ...
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Dritter Teil
Wrack aus der Unendlichkeit
Die kosmische Uhr »Harpo?« »Hmm.« »Harpooo?« »Hrnm!« »Harpo! Antworte bitte.« »Was gibt's denn, Schwatzmaul? Du siehst doch, daß ich zu tun habe. Ich muß diese verflixte Mathe-Aufgabe lösen.« Schwatzmaul war das Bordgehirn des Raumschiffes EUKALYPTUS. Die Kinder hatten ihm diesen Spitznamen verliehen, weil es gern ungefragt seine Meinung äußerte. Aber auf eine gewisse Art waren sie sogar froh darüber, daß Schwatzmaul nicht eine jener eiskalt und logisch denkenden Maschinen war, wie man sie nur allzuoft an Bord anderer Weltraumschiffe a ntraf. Das Bordgehirn verfügte über eine Anzahl von Fernsehaugen, überall an Bord des Schiffes, und war fähig, optische Eindrücke wahrzunehmen. Harpo sah ein wenig unwillig von seinem über den Kontrolltisch ausgebreiteten Schmierzettel hoch. Mußte Schwatzmaul ihn ausgerechnet jetzt stören? Er war ohnehin ärgerlich, weil er seit zwei Stunden vergeblich versuchte, diese knifflige Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen. Obwohl die Kinder in jeder Beziehung ihren Mann - und natürlich auch ihre Frau - standen, hatten sie beschlossen, daß die Weiterbildung nicht vernachlässigt werden durfte. Mathematik gehörte dazu, also mußten Aufgaben gelöst und geübt werden. Die Lehre vom Zusammenleben in einer G emeinschaft war ebenso wichtig, deshalb wurden Geschichte, Politik, Soziologie und Psychologie mit Hilfe von Mikrofilmen aus dem Schiffsarchiv gelernt. Und ... und ... und ... 217
»Harpo, weißt du, was tick-tick-tick-tick-tick bedeutet?« fragte Schwatzmaul. »Ach, laß mich doch in Ruhe.« »Wenn du unter Druck stehst, kann ich dir Zeit sparen helfen«, flüsterte Schwatzmaul in verschwörerischem Tonfall. »Wenn du in der dritten Zeile 'x' ausklammerst, dann ...« »Ich will aber nicht, daß du mir dabei hilfst«, schimpfte Harpo. »Ich will es allein schaffen! Also gut, wie war das noch einmal? Was wolltest du von mir wissen?« »Ich will nur wissen, was tick-tick-tick-tick-tick bedeutet.« »Mann!« stöhnte Harpo, obwohl der Computer ja kein Mann war. »Das ist natürlich eine Uhr. Und nun - bitte, Schwatzmaul! - unterhalte dich meinetwegen mit dem kleinen Ollie. Der freut sich, wenn du ihm Rätsel aufgibst: Hängt an der Wand, macht tick-tick-tick, und wenn es herunterfällt, ist die Uhr kaputt. Was ist das?« »Na schön«, brummte Schwatzmaul leicht säuerlich. »Du bist heute sehr ungnädig. Gut, gut, ich nehme zu den Akten, daß es dich nicht interessiert. Aber nochmals, Harpo Trumpff, Herr Harpo Trumpff, Chronist und Logbuchführer des Raumschiffes EUKALYPTUS: Würdest du bitte die Gnade haben, zur Kenntnis zu nehmen, daß vierzehn Lichtminuten von hier eine mehrere Kilometer große Uhr im Weltraum hängt? — Ich sage das ja nur, damit hinterher nicht wieder von gewissen Leuten das große Gemecker zum Nachtisch auf den Tisch kommt«, fügte das Bordgehirn hinzu. »Waaas?« stieß Harpo hervor, sprang auf und stieß beinahe den Schwenksitz um. Seine dichten, blonden Locken fielen ihm dabei in die Stirn und nahmen ihm vorübergehend die Sicht. Mit einer charakteristischen Handbewegung warf er das Haar wieder in den Nacken. »Eine Uhr? Kilometergroß, im Weltraum - und die hängt da einfach rum? Schwatzmaul, du bist übergeschnappt!« »Ich habe lediglich gefragt«, näselte das Bordgehirn vorwurfsvoll, »was tick-tick-tick-tick-tick bedeutet, weil ich dieses Ticken mit meinen Instrumenten aufnehme. Und da du sagtest, es könne sich nur um eine Uhr handeln, schwebt eben eine riesige im All.« »Ich breche zusammen!« stöhnte Harpo. »Warum haben wir auf diesem Schiff nicht einen ganz lieben, netten Computer, der Daten ausspuckt wie 218
etwa: 'Funksignale aus dem Raumquadranten sowieso empfangen ...' Das wäre doch so einfach, soo nervenschonend ...« »Pah«, machte Schwatzmaul geringschätzig. »Wie der Herr, so's G escherr ...« Harpo wurde sofort klar, daß die Mathematikaufgaben jetzt unwichtig waren. Signale im All! Gerade jetzt, da die Generatoren der EUKALYPTUS langsam auf Touren kamen, man zum erstenmal nicht ein Spielball kosmischer Kräfte war, sondern bewußt Sterne ansteuerte - und einige Hoffnung hatte, sie in absehbarer Zeit auch zu erreichen. »Kannst du die Signale entschlüsseln?« fragte er nervös. »Signale hast du gesagt«, erinnerte ihn das Bordgehirn. »Ich jedenfalls sprach nur von einem simplen Ticken. Um genau zu sein: Meine Massendetektoren melden ein Objekt, das rund ist, einen Durchmesser von 4,43456 ... äh, ich glaube, ich kürze besser ab ... von 4,4 Kilometern besitzt und zu etwa achtzig Prozent aus Metall besteht, dabei leicht radioaktiv strahlt ...« »Ist das für Menschen gefährlich?« »Nein.« »Sofort Thunderclap informieren«, haspelte Harpo aufgeregt. Er raufte sich die Haare, während tausend Gedanken auf einmal ihn beschäftigten. »Der pennt«, sagte Schwatzmaul. »Dann weck ihn auf, in Dreiteufelsnamen!« »Schon versucht. Thunderclap Genius schläft wie ein Murmeltier und reagiert nicht mal auf meine lauteste Wecksirene. Ich habe gerade einen unserer kleinen mechanischen Freunde mit einem Eimer Wasser in Marsch gesetzt.« Harpo mußte grinsen. Er stellte sich schon bildhaft vor, wie Thunderclap das kühle Naß über das Gesicht schwappte. Nun, da er als Wachhabender die Zentrale hütete, mußte Harpo eine schnelle Entscheidung treffen. »Kurs auf das fremde Objekt!« ordnete er an. »Kurs schon vor fünf Minuten geändert«, gab Schwatzmaul kichernd zurück. »Ganz schön voreilig«, knurrte Harpo. »Wie, um alles in der Welt, konntest du bloß wissen ...« »Ich kenne dich doch! Fast genauso gut wie jede meiner Sub-Schaltungen.« 219
In diesem Moment ertönte durch viele Metallwände hindurch, von weit her, ein spitzer Schrei, gefolgt von einem saftigen Fluchen. »Aha«, machten Harpo und Schwatzmaul gleichzeitig. Ihre Stimmen klangen heiter und zufrieden. Wenig später wurde eine der Türen zur Zentrale von der Lichtschranke geräuschlos geöffnet, und ein patschnasser Thunderclap Genius fuhr mit seinem Rollstuhl herein. Er mußte darin eingeschlafen sein, sonst hätte er nicht so schnell erscheinen können. Für gewöhnlich war der querschnittsgelähmte Junge auf die Hilfe seiner Freunde angewiesen, wenn er das Bett mit dem Rollstuhl vertauschen wollte. »Wer hat das angeordnet? Ich will es auf der Stelle wissen!« schrie er e mpört. »Wo ist der Erzhalunke?« Er wandte sich dem kleinen Roboter zu, der ihm immer noch diensteifrig mit dem mittlerweile leeren Wassereimer folgte. »Sofort bringst du einen neuen, nein, zwei neue Eimer Wasser in die Zentrale! - Harpo, du wirst schon sehen, daß man nicht ungestraft ein wichtiges Mitglied der Besatzung ...« Schwatzmaul hüstelte, während Harpo ein möglichst unschuldiges Gesicht machte und, die Hände auf dem Rücken, die Sterne betrachtete. »Ich war es wirklich nicht«, sagte er schließlich und lachte. »Ehrlich, Thunderclap! Und an Schwatzmaul kannst du dich nicht rächen. Oder willst du vielleicht Wasser gegen seine Fernsehkamera oder gegen die Verkleidung kippen?« Schwatzmaul zog es mal wieder vor, mit den anderen per Fernsehschirm zu verkehren. Blitzartig stand auf einem der Monitoren: »Kein Wasser auf den Computer spritzen!« Harpo, der den kleinen Roboter dennoch vorsorglich im Auge behielt, atmete auf, als dieser - wohl unter einem Gegenbefehl Schwatzmauls handelnd - abmarschierte. Die Grünen, wie die Roboter an Bord der EUKALYPTUS genannt wurden, weil sie mit grünen Fellen bekleidet wie kindergroße Teddybären wirkten, waren einst die gefürchteten Lehrer und Beobachter der Kinder gewesen. Inzwischen hatte man sie zu netten Handlangern u mgebaut. Nur Lonzo machte von Anfang an eine Ausnahme. Er war kein Roboter im gewöhnlichen Sinn, sondern ein Freund und Kumpel der Kinder.
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»Dieser Halunke!« stöhnte Thunderclap. Aber er nahm dankbar das Handtuch entgegen, das ihm der zurückgekehrte Grüne jetzt reichte. »Mit dir werde ich einen Monat nicht mehr reden«, drohte er dem Bordgehirn. »Das ist unfair«, protestierte Schwatzmaul. »Was kann ich dafür, daß du eingeschlafen bist? Schließlich wirst du hier gebraucht!« »Das hat er von Captain Kidd«, kam Lonzos fröhliche Stimme vom Eingang her. Er betrat soeben mit Harpos Schwester Anca, dem kleinen Ollie und Alexander die Zentrale unter der gläsernen Sternenkuppel. Es war Zeit für einen Wachwechsel. Anca war für die nächste Schicht vorgesehen. »Selbst vor und nach den größten Seegefechten und alleraufregendsten Schatzsuchen«, fuhr Lonzo plappernd fort, »konnte Captain Kidd j ederzeit einschlafen, auf der Stelle, wenn es sein mußte sogar im Stehen und mit offenen Augen. Niemand bekam ihn dann wach. Kein Böllerschuß, nicht einmal ein Faß Rum, das man ihm auf den großen Zeh warf. Er grunzte dann nur und schnarchte wieder weiter. Aber wehe, es war auch nur das leiseste Klirren feindlicher Enterhaken zu hören ...« »Ganz klar«, bestätigte nun auch Ollie. »Unser Thunderclap hat Piratenblut in den Adern. Im Schnarchen macht er selbst Captain Kidd etwas vor! Wie war doch noch Thunderclaps richtiger Name?« »Pitter Sause ...« versuchte Schwatzmaul ihm diensteifrig auszuhelfen. »Ruhe!« brüllte Thunderclap dazwischen, der um keinen Preis der Welt zulassen wollte, daß sein richtiger Name unter die Leute kam. »Sonst komme ich mit dem Feuerwehrschlauch!« Er blickte sich grimmig um und drohte dem Aufnahmeobjektiv des Bordgehirns mit der Faust »Wir sind doch hier nicht im Kindergarten! Immerhin gibt es ernsthafte Probleme zu lösen. Schwatzmaul, wir erwarten endlich deinen Bericht.« Manchmal konnte Schwatzmaul sehr vernünftig und sachlich sein. Ja, eigentlich mußte man ihm zugestehen, daß er über seinen Spaßen niemals vergaß, welche wichtigen Funktionen er im Raumschiff auszufüllen hatte. Im Grunde war er doch recht zuverlässig. Ohne Schnörkel berichtete er deshalb noch einmal von der Entdeckung, über die bisher nur Harpo informiert war. »Juchhuuu!« jubelte Ollie. »Endlich mal wieder ein richtiges Abenteuer!« 221
»Der spuckt vielleicht Töne«, mokierte sich Anca. »Kaum sind wir drei Wochen im Weltraum, da wird es ihm schon wieder langweilig.« Das Mädchen hatte recht. Nur neunzehn Tage waren seit ihrem Start vom Frostplaneten vergangen, aber irgendwie kam es den meisten bereits wie eine Ewigkeit vor. Sie fühlten sich wie alte Raumhasen, die seit Jahrzehnten von Stern zu Stern durch den Kosmos kurvten. Mit sich allein, den Lernaufgaben, dem Kochen, Wäschewaschen und Säubern der Decks - auch wenn man, genaugenommen, bei den meisten anfallenden Arbeiten lediglich entsprechende Programme für die Grünen zusammenstellte. »Wir erreichen das fremde Objekt in drei Stunden, fünfzehn Minuten, vierund ...«, gab Schwatzmaul informationsfreudig bekannt. Harpo, der den Genauigkeitsfimmel des Bordgehirns kannte, unterbrach dessen Redefluß und meinte: »Sag mal, Schwatzmaul, wieso dauert das e igentlich so lange? Wenn das Objekt doch nur ganze vierzehn Lichtminuten entfernt ist und wir schon mit halber Lichtgeschwindigkeit fliegen müßten wir dann nicht in einer halben Stunde dran sein? Das Licht braucht vierzehn Minuten. Wir dürften dann doch höchstens achtundzwanzig benötigen. Oder?« »Mein lieber Harpo«, begann Schwatzmaul, erfreut darüber, wieder einen längeren theoretischen Vortrag halten zu können. »Ich ...« »Mein größerer Bruder«, fiel Lonzo hastig ein, »liebt bekannterm aßen weitschweifige Kommentare. Ich darf wohl anmerken, daß Captain Kidd ihn allein aus diesem Grund auf der Stelle verschrottet und Kanonenkugeln aus ihm gegossen hätte ... Um es kurz und treffend mit Captain Kidd zu sagen: Diese alte Schaluppe funktioniert im Prinzip nicht anders als jene alte Brigg, mit der wir damals die neun Weltmeere unsicher machten. Man muß vor dem Wind kreuzen, Segel reffen und die Matrosen mit einem Fäßchen Rum bei Laune halten. Das dauert seine Zeit. Wo ist übrigens der Rum für die Matrosen?« »Neun Weltmeere?« heulte jetzt Schwatzmaul auf. »Hat man je so etwas gehört?« »Damals«, behauptete Lonzo starrsinnig, »gab es auf der Erde eben mehr Weltmeere als heute!« Schwatzmaul gab auf, denn offenbar war er den Ausreden des kleinen Metallroboters doch nicht gewachsen. Er ging lieber seufzend auf Harpos 222
Frage ein: »Lonzo hat leider recht, zumindest was die Frage der Manövrierfähigkeit von Raumschiffen betrifft. Wir benötigen deshalb mehr Zeit, das Objekt zu erreichen, weil wir erstens nicht schlagartig im rechten Winkel den Kurs ändern können, sondern eine parabelförmige Kurve fliegen. Zweitens müssen wir die hohe Geschwindigkeit allmählich abbremsen, und zwar so langsam, daß niemandem an Bord etwas zustößt. Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte machen dem menschlichen Organismus nämlich hart zu schaffen. Man muß da vorsichtig dosieren.« »Ach was«, meinte Alexander, der mit seinem roten Pelz wie ein kleiner Grizzlybär aussah. »Wir sind alle mächtig stark. Ich besonders!« »Na, und ich?« fragte Ollie hochnäsig, der sich, seit Alexander ihn bei einem Ringkampf gönnerhaft hatte gewinnen lassen, für einen ebenbürtigen Gegner hielt. »Schwatzmaul weiß schon, was es tut«, griff Thunderclap ein. »Und wir können uns jetzt in Ruhe überlegen, was uns in drei Stunden erwarten mag.«
Böhmische Dörfer Mittlerweile hatten alle Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS erfahren, daß der Kurs des Raumschiffs gewechselt und ein unbekanntes Objekt angesteuert wurde. Da es an Bord keinen Kapitän und keine Offiziere gab, die eigenmächtig über die Köpfe der anderen hinweg entscheiden konnten, hätte jetzt eigentlich die Schiffsversammlung einberufen werden müssen. Es war nämlich so, daß derjenige, der gerade die Wache übernahm, gelegentlich aus der jeweiligen Situation heraus Entscheidungen treffen mußte. Allein. Aber für seine Maßnahmen war er der Bordversammlung verantwortlich. Und die bestand aus sämtlichen zehn Besatzungsmitgliedern. Jeder hatte die gleichen Rechte und Pflichten. Natürlich gehörten auch die nicht menschlichen Besatzungsmitglieder dazu: Trompo, das zierliche, kätzchengroße und elefantenähnliche Wesen aus dem All, Alexander, der zottelige Rotpelz vom Planeten Nordpol, und der stets zu Spaßen aufgelegte Roboter Lonzo, der nicht müde wurde zu behaupten, eigentlich gar keine Ma223
schine, sondern ein Mensch zu sein und früher zusammen mit dem Piratenkapitän Kidd die tollsten Abenteuer erlebt zu haben. Diesmal verlangte niemand eine Schiffsversammlung. Es herrschte vollste Übereinstimmung: Der fremde Körper im Weltraum wird angesteuert. Die Besatzung war jetzt, da es spannend zu werden versprach, fast vollzählig in der Raumschiffszentrale versammelt. Es war ein riesiger, kreisrunder Raum, der von einer gläsernen Kuppel überdacht wurde und einen faszinierenden Ausblick auf die Milchstraße gestattete. »Unsere Teleskope sind zwar gut, aber nicht gut genug«, murrte Thunderclap, der ungeduldig mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Das tat er häufig, wenn er aufgeregt war - so wie andere auf und ab gehen oder auf der Sitzfläche eines Stuhls herumrutschen. Er ärgerte sich, daß selbst die stärksten Vergrößerungen nicht mehr zeigten als einen nur fußballgroßen, pechschwarzen Körper. »Sicher«, meinte Micel Fopp, »es gibt bessere. Aber die sind riesig und tonnenschwer! Wir sind nun einmal auf einem Raumschiff und nicht in e inem Observatorium.« »Ach, mich ärgert nur, daß uns dieses Ding absolut nichts über sich verraten will«, antwortete Thunderclap. »Eine schwarze Murmel! Was soll das? Ich finde das nicht fair!« »Du bist wie ein Wissenschaftler, der sich beleidigt fühlt, wenn ihm nicht auf der Stelle alle Geheimnisse des Universums in den Schoß fallen«, sagte Harpo lachend. »Mensch, das macht es doch gerade so spannend, wenn man zunächst einmal ein paar Nüsse knacken muß!« »Mich machen ungeknackte Nüsse ungeheuer nervös«, schimpfte Thunderclap. »Sag mal, Micel - fühlst du nicht wenigstens eine Kleinigkeit?« Thunderclap spielte mit diesen Worten auf Micels besondere Begabung an. Der schwarzhaarige, dunkeläugige Junge konnte nämlich Gedanken lesen, auch über größere Entfernungen hinweg. »Nein«, sagte Micel und zuckte mit seinen viel zu kurzen, verkümmerten Ärmchen. »Aber wir sind auch noch zu weit entfernt. Ein Genie bin ich nun mal nicht. Im Gedankenlesen stolpere ich sogar bei euch. Das kann aber auch an dem krausen Zeug liegen, das so oft durch eure Gehirnwindungen hüpft.« 224
Alles lachte, denn sie wußten ja, daß Micel es nicht ernst meinte. Aber recht hatte er schon. Er war noch ein Lehrling, und niemand konnte ihm helfen. Er selbst mußte sich nach und nach in die Gebiete vortasten, für die er dank einer Laune der Natur Begabung zeigte. »Wenn uns die Massendetektoren nicht etwas anderes melden würden«, kam es aus luftiger Höhe von Karlie Müllerchen, der hinter dem Tisch des Astrogators saß und Sternenkarten wälzte, »dann könnte mich niemand davon abbringen, daß wir es nicht mit einem Körper, sondern mit einem sogenannten 'Black hole' zu tun haben!« Karlies Stimme kiekste ein bißchen, was aber niemanden störte. Dieses Kieksen war allen genauso vertraut wie der Riesenwuchs des Jungen. Er war gerade erst sechzehn Jahre alt geworden, maß aber vom Scheitel bis zur Sohle bereits mehr als zwei Meter zwanzig. Auf seinem spitzen Kinn sproß bereits munter ein dünner Bart. Abweichungen im Aussehen, körperliche oder geistige Behinderungen verschiedener Art, Verhaltensstörungen oder organisch bedingte Besonderheiten hatten die m eisten Kinder an Bord der EUKALYPTUS aufzuweisen. Das waren die Folgen der erschreckenden Umweltveränderungen auf der Erde, von der diese Kinder kamen. Große Chemiekonzerne und gewissenlose Politiker hatten in der Vergangenheit rücksichtslos ihre Interessen durchgesetzt und dabei mit chemischen und atomaren Abfallprodukten Menschen und Natur vergiftet. Das Raumschiff EUKALYPTUS, das Platz für mehrere zehntausend Menschen bot, war einst eine Art Sanatorium gewesen. Es kreiste auf einer Parkbahn um die Erde, bis es bei einer Katastrophe ins All hinausgeschleudert wurde. Die Kinder, bis auf Anca allesamt Patienten auf dem Schiff, waren durch die Ereignisse gezwungen, die verschwundene Besatzung zu ersetzen und fern von der Erde ihren Weg durch den Kosmos allein zu suchen. Karlie fuhr fort: »Stimmt doch, was ich gesagt habe, oder? Man sieht von dem Körper so wenig wie vom Mond der Erde, wenn er sich bei einer Sonnenfinsternis vor die Sonne schiebt. Hier verschluckt er ein paar Sterne. Hmmm ...« Karlies Hobby waren die Sterne. Er unterhielt sich häufig mit Schwatzmaul über Astronomie oder las auf dem Filmbetrachter große Spulen mit Mikrofilmaufnahmen dickbändiger wissenschaftlicher Werke. 225
Die im Laufe der Zeit angesammelten Kenntnisse halfen ihm jetzt nicht viel. Der geheimnisvolle Körper - die kosmische Uhr, wie Harpo ihn scherzhaft nannte - war keine Sonne. Schließlich hätte er dann Licht aussenden müssen. Außerdem war er für eine Sonne viel zu winzig. Da er ganz allein inmitten des Weltraums schwebte, hätte man ihn für einen sogenannten Irrläufer halten können, einen Planeten, der sein eigenes Sonnensystem verlassen hatte. Eigenartig war nur, daß er nicht wie andere Irrläufer mit hoher Geschwindigkeit flog, sondern beinahe bewegungslos seine Position hielt. »Neue Daten!« schnatterte Schwatzmaul unerwartet los. »Das dreiachsige Massediagramm zeigt auf allen Ebenen Sprünge.« »Böhmische Dörfer«, meinte Ollie grinsend. Die älteren Jungen und Anca studierten aufmerksam die Projektion auf den Zentralbildschirmen, die Schwatzmauls Außenkameras jetzt zeigten. Ollie erkannte lediglich bizarre Kurven, etwa so, wie sie entstehen, wenn der Herzschlag eines Menschen gemessen wird. Solche EKG-Kurven hatte der kleine Ollie schon gesehen, auch seine eigene. Was für ihn nur ein wirres Linienmuster war, schien für die Älteren ein interessantes Detail in einer Informationskette zu sein. Jedenfalls reckten sie die Hälse, als liefe auf den Monitoren ein spannender Abenteuerfilm ab. »Will mir nicht mal einer erklären, was das alles zu bedeuten hat?« fragte Ollie ungeduldig und zerrte an den Fransen seiner Trapperhose. Thunderclap bequemte sich schließlich zu einer Antwort. »Die Masse im Innern des Körpers ist nicht gleichmäßig verteilt«, sagte er mit vor Aufregung glühenden Wangen. »Na und?« krähte Ollie. »Mensch!« rief Karlie. »Das bedeutet, daß der Körper porös ist! Ausgehöhlt, verstehst du?« »Dann ist er eben ausgehöhlt«, erwiderte Ollie maulend. »Find' ich überhaupt nichts Aufregendes dran.« In Wahrheit ärgerte er sich nur, daß er die Kurven nicht lesen konnte und sich alles erklären lassen mußte. »Dieser Knirps macht mich noch wahnsinnig«, seufzte Karlie. »Also: Die Kurven sagen nicht nur aus, daß der Körper im Innern aus einer Kette von 226
Hohlräumen besteht, sondern diese Höhlen haben eine exakt kubische Form und sind gleich weit voneinander entfernt. Das heißt ...« »Ein Wunder der Natur!« platzte Ollie heraus. »Quatsch, Wunder!« meinte Karlie. Sein breites Grinsen zeigte, daß ihm die Unterhaltung entgegen seinen Beteuerungen dennoch Spaß machte. »Ich sage nur soviel: Wenn jemand aus der Ferne ein Massediagramm von der EUKALYPTUS aufnehmen würde - viel anders als dieses hier würde das auch nicht aussehen!« »Mann, klasse!« schrie Ollie in voller Lautstärke. »Ein Raumschiff mit schleimigen Krötenmonstern vom Sirius!« »Du mit deiner Phantasie!« kicherte Anca belustigt, denn im Erfinden von Monstergeschichten war Ollie der Meister aller Klassen. Niemand vermochte die Nächte zu zählen, die die EUKALYPTUS-Besatzung nach den Erzählungen des Kleinen schlaflos verbracht hatte. »Auf jeden Fall müssen wir eine Entermannschaft auswählen«, mischte sich Lonzo ein, der aufgeregt mit seinen metallenen Tentakeln wedelte. Das hellrote Glimmen seiner Sehlinsen machte deutlich, daß man Mühe haben würde, ihn davon zu überzeugen, daß die Mannschaft ohne die in seinem Gehirn gespeicherten Erfahrungen von Captain Kidd auskommen konnte. Ganz besonders deshalb, weil Lonzos angebliche Erfahrungen als Seeräuber aus der Bordbibliothek stammten. »Schwatzmaul soll entscheiden, wer die EUKALYPTUS verläßt, um das fremde Objekt zu erforschen«, schlug Harpo vor. »Wenn es überhaupt dazu kommt.« »Gern«, meldete sich spontan das Bordgehirn. »Da einige von euch in den nächsten Stunden hier schwer abkömmlich sein werden, schlage ich vor, daß Harpo, Anca, Oliver, Alexander und Lonzo an der Expedition teilnehmen.« »Jubel, Jubel!« schrie Ollie und sprang vor Freude dreimal in die Luft. Alexander war nicht weniger begeistert und boxte Lonzo freundschaftlich in die Metallrippen. »Kamerad!« dröhnte der Roboter. »Ich gebe dir mein Seemannsehrenwort, daß ich dir ewig dankbar bin. Vergessen wir alles, was über deine Verschrottung gesagt wurde. Selbst Captain Kidd hätte keine bessere Wahl treffen können. Es ist überhaupt ein brillanter Einfall von dir, daß Lonzo eine Expedition anführen soll.« 227
»He!« protestierten die anderen wie aus einem Mund. »Davon war gar keine Rede.« Alle lachten und riefen durcheinander. »Tatsächlich nicht?« fragte Lonzo treuherzig. »Ja, dann muß ich mich glatt verhört haben. Aber Captain Kidd hätte die Leitung zweifellos mir ...« »Und warum darf ich nicht mit?« Micel protestierte und unterbrach damit den eitlen Lonzo. »Ich habe hier doch sowieso nichts zu tun!« »Und ich werde auch nicht u nbedingt gebraucht«, warf Karlie ein. »Wenn das Schiff erst antriebslos neben dem anderen Objekt schwebt, ist kein Navigieren mehr erforderlich.« »Und wenn das fremde Objekt plötzlich abhaut?« fragte Harpo und brachte den Langen damit zum Schweigen. »Klar«, meinte Alexander. Er hatte inzwischen die Sprache der Menschen gelernt, um von der Übersetzungsmaschine unabhängig zu sein. »Und Micel nützen viel mehr, wenn hierbleiben. Wir nicht wissen, was uns erwartet. Funkverbindung kann stören oder unterbrechen. Dann Micel immer noch in Lage, unsere Gedanken zu lesen!« Die beiden Jungen sahen ein, daß Schwatzmaul in der Tat eine weise Entscheidung getroffen hatte. Manchmal ging es einfach nicht anders, da mußte man die eigene Abenteuerlust unterdrücken. Das Wohl der Kinderbesatzung des Schiffes war nun einmal wichtiger. Die Frage, die nun auftauchte, war allerdings eine der schwierigsten. Niemand hatte sich nämlich Gedanken darüber gemacht, wie man überhaupt zu dem fremden Objekt hinübergelangen konnte. Auf Karlies entsprechende Frage antwortete Anca wie aus der Pistole geschossen: »Na, natürlich in einem Raumanzug!« »Eben«, meinte auch Ollie. »Raumanzug an. Aus der Schleuse hüpfen. Fertig. Kein Problem. He, he!« »Doch ein Problem, he, he«, äffte Karlie den Kleinen nach. »Ich weiß ja nicht, wie es euch in diesem Punkt geht, aber ich habe an Bord dieses Schiffes noch keinen einzigen Raumanzug gesehen.« Das Argument saß, wie sie alle erschreckt zugeben mußten. Als die ursprüngliche Besatzung der EUKALYPTUS getürm t war, hatte sie wahrscheinlich jeden verfügbaren Raumanzug verwenden müssen, um in der Atmosphärelosigkeit des Alls zu überleben. 228
»Du meinst, die haben nicht einen einzigen Raumanzug übriggelassen?« fragte Harpo enttäuscht. »Die werden doch nicht abgezählt gewesen sein? Ob nicht doch noch ein paar übriggeblieben sind?« Immerhin mußte auch er zugeben, daß sich hier ein Problem ergab. Bewußt hatten weder er noch die anderen einen Raumanzug gesehen, obgleich sie die meisten Decks und Korridore kannten. »Warum fragen wir nicht einfach Schwatzmaul?« schlug Anca vor. Der antwortete gleich: »Ein kluger Gedanke, Pummelchen!« Pummelchen war der Spitzname des Mädchens. Allerdings hörte Anca ihn nicht gern, denn er war ungerecht. Abgesehen von ihrem etwas pausbäckigen Gesicht und ein bißchen Babyspeck war die Kleine gar nicht pummelig. In mutwilliger Verzweiflung raufte sie sich das seidig glänzende, schwarze Haar und fauchte drohend: »Lonzo, du Piratenseele! Hast du etwa Schwatzmaul diesen Namen beigebracht?« »Aber Pummelchen, niemals würde ich dieses Wort in den Mund nehmen! Großes Piratenehrenwort!« »Du vergißt«, erinnerte sie Schwatzmaul heiter, »daß ich alles sehe, höre und weiß. Da muß mir Lonzo gar nichts mehr verraten.« »Sehr gut«, hakte Thunderclap Genius schnell ein, der bereits wieder ein Wortgefecht zwischen Lonzo und Schwatzmaul befürchtete, »dann kann das allwissende Supergehirn uns ja vielleicht mal schnell verraten, wo wir die dringend benötigten Raumanzüge finden!« »Äh ... das ist nämlich so ...«, begann Schwatzmaul sichtlich verlegen. »Das allwissende Supergehirn weiß es nicht!« triumphierte Anca schadenfroh lachend. »In der ursprünglichen Planung waren sie vorgesehen«, rechtfertigte sich das Bordgehirn rasch. »Auf jedem Deck sollten Notanzüge bereitliegen. Allerdings sollten das Anzüge sein, die euch nicht viel geholfen hätten: unförmige Gebilde, nur durch Steuerraketen zu bedienen und gänzlich untauglich, um sich darin wie in einem richtigen Anzug zu bewegen. Sie sollten Schiffbrüchigen ermöglichen, eine Weile im All auszuhalten; so lange, bis Rettung naht. Ihr wißt ja selbst sehr gut, daß die EUKALYPTUS noch nicht voll ausgerüstet war, als sie aus dem Orbit der Erde gerissen wurde. In meinen Speichern gibt es keine Information, ob diese Anzüge jemals an Bord gelangt sind.« 229
»Aber damals, als die Katastrophe eintrat«, hakte Harpo blitzschnell ein, »da haben wir für kurze Zeit Kontakt mit einem Raumfahrer gehabt, der einen richtigen Raumanzug trug! Und so plump sah der gar nicht aus. Erinnert ihr euch noch daran?« Die Kinder erinnerten sich. Der Mann war auf einem Bildschirm erschienen und hatte sie warnen wollen. Sie hatten keine Spur mehr von ihm entdeckt, als sie später das Schiff übernahmen. »Gewiß«, gab Schwatzmaul zu. Die tiefe Stimme, derer er sich bediente, wenn er mit den Kindern sprach, klang reichlich verlegen. »Ich muß zugeben, daß es Dinge an Bord des Schiffes gibt, von denen ich nichts weiß. Tatsächlich wurden aus Kammern in der Nähe des Gleitboot-Hangars solche Anzüge geholt, als die Besatzung von Bord ging. Dort müßtet ihr mal nachsehen. Vielleicht sind noch einige zurückgeblieben?« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Harpo und stürmte los. Die anderen drei Expeditionsmitglieder folgten ihm auf dem Fuß.
Maßgeschneidert Obwohl Schwatzmaul in diesem Teil des Schiffes relativ wenige Überwachungskameras besaß, dirigierte er die Freunde rasch und sicher in die Nähe der Kammern, in denen er übriggebliebene Raumanzüge vermutete. Aber Harpo und seine Gefährten kannten sich in diesem Bereich ebenfalls gut aus. Schließlich waren die Gleitboote, die sie hier entdeckt hatten, ihre Transportmittel gewesen, als sie die Expedition zum Planeten Nordpol u nternahmen. »Hier muß es sein!« rief Anca. Sie deutete auf eine Tür, die mit einem klobigen Stahlhebel verschlossen war und solide wie der Eingang zu einem Tresor wirkte. In der großen Halle, in der sie sich nun befanden, herrschte ein diffuses, bläuliches Licht. Alles wirkte irgendwie geheimnisvoll: Stahlgerippe im Hintergrund, die undeutlichen Konturen der drei Boote, die Tresortüren mit ihren unbekannten Überraschungen dahinter. Wie aus weiter Ferne wisperte aus einem Lautsprecher die Stimme des Bordgehirns: »Den Hebel einfach nach unten drücken. Gar nicht kompliziert.« 230
»Der hat gut reden!« stöhnte Harpo, der mit gefletschten Zähnen den Hebel nach unten zu drücken versuchte, ohne daß dieser sich auch nur einen Millimeter bewegte. »Uff!« Keuchend mobilisierte er seine ganze Kraft. Vergebens. Der Hebel rührte sich nicht vom Fleck. »Laß Papa mal ran«, sagte Lonzo und piekte Harpo mit der Spitze eines Tentakels. Harpo quietschte auf und machte einen Satz. Jemand kicherte. Als Harpo sich den anderen zuwandte, sah er nur unschuldige Gesichter, die gelangweilt die hohe Hallendecke betrachteten. Lonzo, der kleiner war als Harpo, ringelte seine vier Tentakel zu dem Hebel hinaus und zerrte daran, als habe er vor, das ganze Universum aus den Angeln zu heben. Dabei schnaubte und ächzte und japste er wie ein Schwerarbeiter, obwohl ihm als Roboter diese Belastung gar nichts ausmachte. Seine Tentakel wurden immer dünner und länger. Man konnte richtig Angst bekommen, daß sie abknickten. »Sapperlot!« fluchte Lonzo nach einer Weile ungehemmter Aktivität und lockerte seinen Griff. »Doppelter Mastbruch! Beim angefaulten Vorderzahn des Klabautermannes! Sitzt der aber fest!« »Muß Freund Lonzo trinken Kännchen Öl zum Frühstück!« brummte Alexander und schob mit seinen Bärenpranken den Metallmann sanft zur Seite. »Wird er auch kriegen Kraft wie Alexander!« Verglichen mit seinen Eltern und Verwandten auf dem Frostplaneten Nordpol war Alexander sicher nicht mehr als ein Winzling, aber man konnte doch sehen, daß unter dem dichten, rotbraunen Pelz die Muskeln spielten. Er griff nach dem Hebel, konnte ihn aber nur mit den Fingerspitzen erreichen. Also winkte er Lonzo heran und ließ sich von ihm hochheben. »Muß ... sich ... haben ... verklemmt ...« stieß er ruckartig hervor, aber dann wälzte er sich plötzlich gemeinsam mit Lonzo auf dem Boden. Ganz leicht war der Hebel aus seiner Verankerung gerutscht. »Sie ist offen!« rief Anca jubelnd und stürzte zur Tür. Tatsächlich klaffte bereits ein schmaler Spalt. Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Ansonsten war es stockdunkel in dem dahinterliegenden Raum. Ollie schnupperte mißtrauisch. »Das kostet mich wieder viele Jahre Siechtum«, behauptete er. »Wer weiß, was dort für Bazillen und Viren hocken, alle auf der Lauer nach dem armen Oliver ...« 231
Die anderen kicherten. Ollies übertriebene Furcht vor Krankheiten hatte nicht zum ersten Mal zur Unterhaltung der Gruppe beigetragen. Der Kleine war natürlich kerngesund, was ihn aber nicht daran hinderte, stets ein Arsenal von Pillen und Wässerchen mit sich herumzuschleppen. Und wehe, wenn ihn tatsächlich einmal ein harm loser Schnupfen erwischte ... Allerdings ließ sich Ollie trotz schlimmster Befürchtungen nicht davon abhalten, die Tür noch etwas mehr aufzuziehen. Entweder berührte sie dabei einen Kontakt, oder Schwatzmaul hatte aus der Ferne helfend eingegriffen. Jedenfalls blitzten, etwas zögernd zwar, aber unaufhaltsam, einige Lichter auf, die sich zu einer gleißenden Leuchtplatte an der Decke summierten. »Juchhuu!« rief Ollie begeistert und zwängte sich nun vollends in die Kammer. »Dort sind unsere Anzüge!« Die anderen waren jetzt natürlich ebenfalls nicht mehr aufzuhalten und stürmten hinter dem Kleinen her. Tatsächlich: Fein säuberlich auf Haken an der Wand aufgereiht, hingen mindestens zehn Raumanzüge. Allerdings nicht die unförmigen, die das Bordgehirn beschrieben hatte. Helme und Sauerstoffflaschen lagen davor auf den Regalen. Die vielen leeren Haken zeigten jedoch, daß früher einmal weitaus mehr Raumanzüge hier deponiert gewesen waren. Auf allen hatte sich etwas Staub angelagert, aber als Anca spielerisch über die Oberfläche eines Helmes pustete, blinkte darunter gleich braun eingefärbtes Plexiglas. Ollie flüchtete vergeblich vor der Staubwolke und begann sogleich mit einem Nieskonzert. Unfähig zu sprechen, deutete er anklagend mit einem Finger auf das Mädchen. »Hätte ich nicht gedacht«, seufzte er, als er wieder zu Atem kam, »daß meine Lieblingsfreundin mir das antut. Pustet mir den Tod frontal ins Angesicht!« Harpo beachtete die anderen gar nicht und stieg bereits in eine der glatten Monturen. Ein kleines Namensschild, das sich hier wie auf jedem der Anzüge befand, verriet, daß sein früherer Träger ein gewisser Kurt Sterz gewesen war. »Nun helft mir doch«, klagte er schließlich nach drei vergeblichen Versuchen, den Anzug überzustreifen. Die anderen griffen tatkräftig ein und zogen das Unterteil des Raumanzuges hoch, nachdem Harpo in die Beinteile geschlüpft war. Noch bevor er ein 232
paar mühevolle, stolpernde Schritte unternahm, war jedem klar, daß dieser Anzug nicht für Harpo Trumpff geeignet war. Schon das Unterteil reichte ihm weit über den Bauchnabel, obwohl es offensichtlich in der Taille abschließen sollte. Es war zwecklos, auch noch das Oberteil anzuprobieren. Harpo versuchte es dennoch — mit dem Erfolg, daß sein Kopf im Bruststück verschwand. Der Anzug war viel zu groß für ihn. Es genügte einfach nicht, über irgendeinen Raumanzug zu verfügen. Die Dinger waren die reinste Maßarbeit und überhaupt nicht zu handhaben, wenn nicht jede Kleinigkeit stimmte: Körpergröße, Schulterbreite, Länge und Dicke der Finger, Beinlänge und Beindurchmesser ... »Hoffnungslos«, seufzte Harpo resignierend. Mit hängenden Schultern kehrten die Freunde mit dem Antigravlift in die Zentrale zurück. Obwohl Schwatzmaul das meiste aus der Ferne schon mitbekommen hatte, erzählten die Expeditionsanwärter noch einmal lang und breit von dem fehlgeschlagenen Versuch. Alle Zuhörer kommentierten diese neue Erfahrung mit enttäuschten Ausrufen. Rat wußte niemand. »Wenn ich den verehrten Anwesenden vielleicht einen meiner geistreichen Vorschläge unterbreiten dürfte«, setzte Schwatzmaul an. »Mir ist nämlich etwas eingefallen ...« »Heraus damit!« forderte Karlie. »Ich akzeptiere selbst den größten Humbug, wenn sich dadurch etwas erreichen läßt!« »Ich glaube, ich habe das Problem gelöst«, fuhr das Bordgehirn mit beinahe bescheiden klingender Stimme fort. »Waaas?« riefen die Kinder im Chor. »Kennst du noch ein Lager mit Raumanzügen, die vielleicht verstellbar sind?« »Das nun nicht gerade, meine Herrschaften.« Schwatzmaul hatte anscheinend wieder einmal seinen überhöflichen Tag. »Aber ich sehe eigentlich keinen Grund, der uns daran hindern sollte, jedem von euch einen nagelneuen, maßgeschneiderten Raumanzug anzufertigen.« In der Zentrale des Raumschiffes EUKALYPTUS brach verständlicherweise ein mittelschwerer Tumult aus. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« rief Thunderclap ärge rlich. »Tut mir leid«, flüsterte Schwatzmaul verlegen, »aber ich hatte verge ssen, daß ich so etwas veranlassen kann.« 233
»Vergessen?« fragten Harpo und Micel wie aus einem Munde und ziemlich schockiert. »Wie kann ein Elektronengehirn etwas vergessen?« »Ja ... nun«, erwiderte Schwatzmaul. »Ihr wißt doch, daß einzelne Speicher durch die Katastrophe von mir abgetrennt und erst nach und nach wieder eingesetzt wurden. So erging es mir auch mit den Programmen für die Anfertigung von Spezialkleidung. Wir haben - wie ich soeben feststellte — alle erforderlichen Materialien an Bord. Werkzeuge und Maschinen für die Fe rtigung übrigens auch.« »Mensch, klasse! Jetzt wird doch noch etwas aus der Expedition ins Unbekannte!« Alle freuten sich. Nur Harpo legte seine Stirn in nachdenkliche Falten. »Dauert das nicht Wochen?« fragte er schließlich mißtrauisch. »Aber nie und nimmer!« verteidigte sich das Bordgehirn. »Die Grünen sind schon in der Schneiderei! In drei Stunden habt ihr den ersten Anzug. Alle zwei Stunden habt ihr einen weiteren!« »Ist nicht wahr!« rief Ollie verblüfft. »Wenn ich es sage!« trumpfte Schwatzmaul auf. »Er hat recht«, bestätigte nun auch Lonzo. »Bei Captain Kidds Piraten!« »Wenn Lonzo mitarbeitet, geht es ein paar Minuten schneller«, meinte Schwatzmaul anzüglich. »Lonzo hält es wie die engsten Vertrauten von Captain Kidd. Unsereins braucht keine Schutzkleidung«, entgegnete der Roboter. »Es sind im Moment nur vier Anzüge nötig. Der Raumhelm würde meine schönen Locken ruinieren.« »Rrrraaaah!« krähte Ollie. »Dabei hat er kein einziges Haar auf dem Kopf!« In der nun folgenden Jagd durch die Zentrale sah Ollie bald ein, daß Lonzo zwar keine Haare, aber besonders schnelle Beine hatte. »Wir müssen ja nichts überstürzen«, meinte Harpo lachend. »Gönnen wir Lonzo seine Locken und befreien ihn von der Arbeit.« Nur mit Mühe gelang es Thunderclap, das Tohuwabohu mit seiner Stimme zu durchdringen. »Vielleicht macht ihr euch mal die Mühe, auf den Bildschirm zu gucken!« schrie er. »Wir haben unser Ziel erreicht. Schaut nur, dort ist es!« 234
Ein pockennarbiger Geselle In der Aufregung um das Problem Raumanzüge hatten Harpo und seine Freunde den eigentlichen Auslöser der allgemeinen Hektik beinahe verge ssen. Inzwischen hatte Schwatzmaul das Raumschiff, von der Besatzung u nbemerkt, in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern auf die Geschwindigkeit des fremden Objekts abgebremst und dann zum Stillstand gebracht. Durch die Massenanziehung trudelten nun beide Körper allmählich aufeinander zu. Der Computer sorgte dafür, daß durch kleine Schübe der Steuerdüsen eine gewisse Sicherheitsdistanz gewahrt blieb. Staunend betrachteten die Kinder den Körper, dessen Ticken in den Massendetektoren sie über viele Millionen Kilometer hinweg angelockt hatte. Das Ding war etwas kleiner als ihr eigenes Raumschiff. Auf den e rsten Blick hätte niemand zu behaupten gewagt, daß sie es mit einem fremden Raumfahrzeug zu tun hatten. Es sah eher aus wie ein pockennarbiger Gesteinsklumpen, der allerdings trotz Narben und kleiner Krater ebenmäßiger war und intensiver glänzte als ein gewöhnlicher Gesteinsklumpen. »Das sieht ja unheimlich alt aus ... wenn es tatsächlich das Produkt einer unbekannten Technik sein sollte«, flüsterte Anca. Obwohl sie längst wußten, daß der vor ihnen liegende Körper hauptsächlich aus Metall bestand, hatte es noch immer die Möglichkeit gegeben, daß hierein riesiger, poröser Erzbrocken durchs All schwebte. »Diese Noppen!« rief Harpo. »Und seht doch: Sind das nicht Löcher? Einstiegslöcher?« »Ich sehe ein Gebilde, das wie ein Turm mit halbzerfallenen Antennen aussieht«, meldete Karlie, der sonderbarerweise nicht kiekste, sondern vor Aufregung eine fast heisere Stimme hatte. »Wenn es bloß nicht so dunkel wäre!« In diesem Augenblick schaltete Schwatzmaul die starken Außenscheinwerfer der EUKALYPTUS ein und zentrierte die Lichtkegel auf den Körper im All. Gleichzeitig gab er noch eine Vergrößerungsstufe hinzu, so daß der riesige Hauptbildschirm der Zentrale nun völlig ausgefüllt war. 235
Und jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben: Vor ihren Augen, so greifbar nahe, daß allen ein Schauder über den Rücken lief, lag allem Anschein nach ein Raumschiff! Und obwohl manches vertraut wirkte, weil es mit Teilen der EUKALYPTUS Ähnlichkeit zeigte, konnten die Beobachter den Zweck der vielen Wölbungen und Türmchen an der Außenwand nicht einmal erraten. Am deutlichsten zu erkennen war die Funktion der Schleusen. Es gab auf der sichtbaren Seite des Schiffes fünf davon, und alle standen sperrangelweit offen. Die Einstiege waren an den Rändern beschädigt, als hätte man die Schleusentüren mit Gewalt aus ihrer Verankerung gerissen. »Das ist ein Wrack«, sagte Thunderclap mit Bestimmtheit. Niemand zweifelte daran. Nur Ollie, der in der Nase bohrend inmitten der anderen stand, konnte sich nicht verkneifen zu bemerken: »Die hatten Angst vor uns und sind getürmt.« Micel meinte spöttisch: »Klar. Und weil sie in der Eile die Haustürschlüssel nicht fanden, h aben sie die Schleusen mit ein paar Stangen Dynamit ins All hinausgeblasen, wie?« Er lachte, wurde dann aber wieder ernst und erklärte: »Diese Schleusen stehen bereits seit undenklichen Zeiten offen. Seht euch die Meteoritenkrater an. Die reichen weit in das Innere des Schiffes hinein und bedecken auch die Schleusenränder. Wenn ihr mich fragt, dann ist diese Eisenkugel hier schon rumgeschwirrt, als unsere Vorfahren noch im Neandertal von Ast zu Ast hüpften.« Als Thunderclap und Harpo ihn fragend ansahen, fügte er hinzu: »Und organische Lebewesen mit hochentwickelten Gehirnen sind auch nicht an Bord. Glaube ich wenigstens ... Spüren kann ich gar nichts ...« »Das muß nicht viel besagen«, meinte Harpo nachdenklich. »Die können ja so andersartig sein, daß du ihre Gedankenströme nicht empfangen kannst.« Ansonsten gaben alle Micel recht. Das Schiff mußte tatsächlich uralt sein. Je genauer man hinsah, desto klarer wurde, daß die zahllosen Meteorite, mal größere, aber meistens nur staubgroße Partikelchen, dem einst sicherlich blitzblanken Schiff zugesetzt hatten. Die Beschädigungen des Wracks waren ein Werk vieler Jahrhunderte, vielleicht sogar mehrerer Jahrtausende. »Ob die EUKALYPTUS auch mal so aussehen wird?« fragte Anca leise und etwas ängstlich. 236
»Nach so e iner Zeitspanne — bestimmt«, antwortete Harpo mit Überzeugung. Er wußte, daß bereits jetzt der kosmische Staub an der Oberfläche ihres Weltraumschiffes nagte. Der Stahl war nicht mehr so glatt wie an dem Tag, als er aus dem Walzwerk gekommen war. Vorerst konnte man diese Abnutzungserscheinungen kaum mit bloßem Auge erkennen. Und schließlich bestanden die Außenwände aus mehreren Schichten einer hochwertigen Legierung und waren insgesamt fast einen Meter dick. Gefährlicher waren Einschläge größerer Meteorite. Sie rissen Löcher in die Außenwände und waren drüben am Wrack für die Zerstörungen von mehreren Türmchen und für die Krater in der Hülle verantwortlich. Schwatzmaul und die Grünen sorgten auf der EUKALYPTUS dafür, daß solche Treffer — die aber wirklich selten waren — von der Besatzung gar nicht b emerkt wurden. Solche Schäden wurden schnell ausgebessert. Ollie hüpfte von einem Bein auf das andere, so aufgeregt war er. »Mannomann«, stöhnte er, »daß ich das auf meine alten Tage noch erleben darf! Ein richtiges Wrack und noch dazu uralt! Ob es einen Schatz an Bord gibt?« »Aber sicherlich!« trompetete Lonzo auf der Stelle los. »Jedes Wrack hat einen Schatz an Bord. Die, die was auf sich halten, sogar deren zwei! Das hat schon Captain Kidd festgestellt und gesagt!« In diesem Augenblick bellte Ollies Jacke, und das bedeutete, daß er entgegen den Anweisungen mal wieder seinen Freund Moritz in die Zentrale geschmuggelt hatte. »Dackel an Bord, Captain«, meldete Lonzo und ging rasch in Deckung, als das bellende Bündel mit gefletschten Mausezähnchen hinter ihm herwetzte. Der Dackel Moritz gehörte zu Ollies besten Freunden. Aber da es seine Angewohnheit war, den armen Trompo - den er auch für eine Art Hund hielt - durch die Gegend zu jagen, hatte man ihm den Zutritt zur Hauptzentrale untersagt. Ollie konnte es einfach nicht lassen und versuchte mit tausend Tricks, seinen Dackelfreund doch um sich zu haben. Zum Leidwesen Lonzos, denn auf dessen Metallbeine hatte Moritz es ganz besonders abgesehen.
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Ollie schritt j edoch unverzüglich zur Tat und fing seinen Moritz ein, bevor er Lonzo, der in hellstem Ton: »Meine Hose! Meine schöne, einzige Sonntagnachmittagsausgehhose!« plärrte, in die Fänge bekam. Harpo, den das Abenteuerfieber intensiv gepackt hatte, bekam das alles nur am Rande mit. Am liebsten wäre er stehenden Fußes in das Wrack hinübergewechselt. Zu dumm, daß die Raumanzüge noch nicht fertig waren. Andererseits war es ganz gut, sich in Ruhe auf den Ausstieg vorzubereiten, dadurch wurden Fehler vermieden. Das Bellen von Moritz war ein sicheres Zeichen dafür, daß er Trompo gewittert hatte. Wenig später schlüpfte das kleine Wesen tatsächlich zwischen zwei großen Armaturenbänken hervor. Als Trompo sah, daß Moritz angeleint war, ging er an ihn heran und kitzelte mit seinem Rüssel des Dackels Nase. Moritz, der Trompo als Spielkameraden betrachtete, zerrte ungeduldig an der Leine und versuchte ihn schwanzwedelnd zu erreichen. Aber Ollie stemmte sich wild dagegen und ließ ihm keine Chance. Trompo trompetete Moritz aus nächster Nähe markerschütternd ins Ohr, bevor er sich mit einem Satz in die geöffneten Arme Ancas flüchtete, die sich zu ihm hinabgebeugt hatte. Von seinem Lieblingsplatz aus betrachtete er aufmerksam den Bildschirm. Auf den ersten Blick wirkte Trompo wie ein kleiner, rosa Elefant, mit einem weichen Fell und streichholzlangen Stoßzähnen. Allerdings hatte er Hasenohren. Und wenn man ihn sprechen hörte, gab es niemanden mehr, der glaubte, ein Tier vor sich zu haben. Trompo war ein intelligentes Wesen und vor langer Zeit Mitarbeiter eines Galaktischen Mediziners gewesen, bis er sich den Kindern angeschlossen hatte. »Sagt dir dieses Wrack etwas?« fragte Harpo Trompo. Das kleine Wesen schwieg und studierte ernsthaft jede Einzelheit des dunklen Schiffskörpers. Trompo hatte, als er noch bei den Galaktischen Medizinern gewesen war, Hunderte von bewohnten Planeten besucht, und so war es immerhin möglich, daß ihm ein solcher Schiffstyp schon einmal begegnet war. »Nein«, flötete er schließlich mit seiner zarten Stimme und schüttelte den Kopf, daß seine Schlappohren flogen. »Ein solches Raumschiff habe ich nie gesehen. Es muß von weit her kommen. Vielleicht ist die Besatzung hier, 238
fern der Heimat, durch eine Katastrophe vernichtet worden. Oder sie mußte das Raumschiff wegen eines Defekts aufgeben. Ich weiß nicht. Aber ich bin sicher, daß die Bauweise dieses Schiffs nicht den uns bekannten Techniken entspricht.« »Na, bald werden wir ja mehr wissen«, murmelte Thunderclap. Er schien etwas enttäuscht zu sein, was aber auch daran liegen konnte, daß es ihm wegen seiner Behinderung nicht möglich war, an der Expedition teilzunehmen. »Wo bleiben denn erste Raumanzug?« fragte jetzt Alexander ungeduldig. »Alexander kann kaum noch erwarten, zu m achen Shakehands mit andere Weltraumflieger.« »In Arbeit, verehrter Herr Rotpelz«, sagte die tiefe Stimme Schwatzmauls, das sich jetzt wieder in die Unterhaltung einschaltete. »Ich darf die Dame und die Herren von der Expeditionsgruppe aber doch bitten, sich von einem der Grünen ausgiebig vermessen zu lassen. Vielleicht interessiert es euch auch, daß dieses Wrack nicht so tot ist, wie ihr glaubt!« fügte das Bordgehirn hinzu. »Was ist los?« Harpo war ganz verdattert, so sehr hatte er sich schon an den Gedanken gewöhnt, es mit einem uralten, toten, total verwaisten und verrosteten Kahn zu tun zu haben. »Es sind also doch noch Wesen an Bord? Ja, wer denn? Etwa die Nachkommen der einstigen Raumfahrer?« »Nein, nein«, wehrte Schwatzmaul ab. »Eher Leben meiner Art. Ich spüre deutlich elektronische Ströme, Magnetfelder und aktive Strahlungsquellen. Ich wette, daß dort drüben, nach all den Jahren, noch immer ein paar Maschinen funktionieren!« »Was denn, nur Maschinen?« quäkte Lonzo. »Keine Spur von intellige ntem Leben meiner Art?«
Die Expedition ins Unbekannte Trotz der Aufregung hatten alle gut geschlafen - wenn man mal von Lonzo absah, dem es genügte, den größten Teil seiner Stromkreise abzuschalten. Die Schlafperiode hatte dem Bordgehirn und seinen tüchtigen Helfern genügt, um die benötigten Raumanzüge fertigzustellen. Einiges wurde von 239
den vorhandenen Anzügen übernommen. Etwa die Sauerstoffversorgung, die Funkgeräte und der Körperwächter, der dafür sorgte, daß die Temperatur genau den Anforderungen des Körpers entsprach. Ferner saugte die komplizierte Apparatur den Schweiß ab, maß und regulierte den Blutdruck, beseitigte Ausscheidungen und führte dem Körper bei Bedarf flüssige Nahrung zu. Auf diese Weise konnte man es tagelang, ja notfalls sogar Wochen im Anzug aushalten. »Ausgezeichnet«, lobte Harpo, als er das geschmeidige Material betastete. »Seide hätte nicht leichter und flexibler sein können!« »Es ist eine der neuesten Entwicklungen der irdischen Raumfahrttechnik«, erklärte der Computer. »Ein Kunststoff namens Bodyskin. Er ist zehnmal widerstandsfähiger als Hochleistungsstahl und läßt weder extreme Hitze noch Kälte an den Träger heran. Ihr habt jetzt wirklich das Beste, was die bordeigene Raumfahrtzubehör-Industrie zu bieten hat!« »Bodyskin?« fragte Anca aufhorchend. »Heißt das nicht soviel wie ...« »Körperhaut«, bestätigte Schwatzmaul. »Der Name wurde gewählt, weil der Stoff ebensowenig hinderlich ist wie die menschliche Haut, wenn man sich bewegt.« Harpo wollte seinen Raumanzug auf der Stelle anprobieren, aber Schwatzmaul rief: »Halt! So einfach geht das nicht. Ihr müßt euch schon ausziehen, bevor ihr in eure zweite Haut schlüpft.« »Ausziehen? Ganz nackt?« fragte Lonzo. Er begann bereits die Schrauben an seiner eisernen Brustplatte zu lösen. »Gewiß, sonst erfüllen die Geräte im Bodyskin-Anzug nicht ihren Zweck.« Die Kinder stiegen aus ihren Jeans und Pullovern, wobei Ollie Zeter und Mordio schrie, weil er auf seine heißgeliebte Lederhose verzichten mußte. Lonzo, der sich in allerletzter Sekunde doch noch entschlossen hatte, »angezogen« zu bleiben, ging von einem zum anderen und streifte jedem eine Art Netz über den Oberkörper. Daran wurde ein kleines Kontrollgerät befestigt. Das war der Körperwächter. Natürlich verzichtete er nicht darauf, ausführlich darauf hinzuweisen, daß Captain Kidd, hätte er diesen famosen Anzug damals besessen, unbesiegbar gewesen wäre. Als er bei Anca ankam, meinte er, indem er das Mädchen ungeniert betrachtete: »Oh, Pummelchen, du bist ja schon eine richtige kleine Frau geworden.« 240
Harpo mußte ihm recht geben, als er zu seiner fast dreizehnjährigen Schwester hinübersah und sie zum erstenmal seit längerer Zeit bewußt m usterte. Anca reagierte mit roten Wangen auf diese Bemerkung. Dann stieß sie einen spitzen Schrei aus, weil Lonzos Tentakel ihr das Netz umlegten. O je, waren die eisig kalt. Lonzo gab ihr einen leichten Klaps und wandte sich dann dem Rotpelz Alexander zu. Der hatte interessiert beobachtet, wie die Kinder ihre Kleidung ablegten. Daß Menschen Kleider trugen und diese künstliche Haut nach Belieben ablegen konnten, faszinierte ihn immer wieder aufs neue. Auch er bekam sein Netz über den dichten Pelz gezogen. Schließlich half Lonzo seinen Freunden in die Raumanzüge. Das war einfach, weil sie leicht und elastisch waren. Ganz anders als die klobigen Dinger, mit denen sie sich am Tag vorher abgemüht hatten. Dann kontrollierte Lonzo mit maschineller Präzision den Verschluß der Plexiglashelme und den Sitz der Sauerstoffflaschen. Ein kleines Ventil wurde geöffnet. Der vorher schlaffe Anzug blähte sich auf. Das Material hatte die Eigenschaft, innerhalb einer engen Grenze auf Druck zu reagieren. Wurde diese Grenze überschritten, so hing er entweder zerknittert oder prall - je nachdem, ob der größere Druck innen oder außen herrschte - am Körper, gab aber nicht weiter nach. Das war wichtig. Schließlich erhielt jeder eine Pistole, die aber nicht als Waffe, sondern vielmehr als Rückstoßgerät benutzt werden sollte. Mit ihr konnte man die Bewegungen im luftleeren Raum kontrollieren und beeinflussen. Wenn sie das Wrack erreicht hatten, würden sie wieder aufrecht gehen können dafür sorgten die Magnetschuhe. Nachdem eine Verständigungsprobe gezeigt hatte, daß die Helmfunkgeräte einwandfrei funktionierten, konnte das Abenteuer beginnen. Lonzo trug als einziger keinen Raumanzug - er brauchte so etwas nicht, da er nicht atmete und keine empfindlichen Organe vor dem Vakuum im All schützen mußte. Er schritt allen voran zu der Luftschleuse neben dem Hangar der Gleitboote. 241
Schwatzmaul gab seine besten Wünsche mit auf den Weg. Dann öffnete er die äußere Schleusentür. Wie ein gähnender Schlund lag das All vor ihnen, tiefblau wie dicke Tinte. Dazwischen leuchteten einsame Sterne. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Und dann bewegte sich das Wrack in ihr Blickfeld, weil die EUKALYPTUS leicht rotierte. Das Bordgehirn hatte den Abstand zwischen den beiden Schiffen noch weiter verringert, um es den Freunden leichter zu machen. Nur wenige hundert Meter waren zu überwinden - über einen Abgrund hinweg, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Geisterhaft huschten die Scheinwerferkegel über die rauhe Oberfläche des Wracks. Bevor einer entgleiten konnte, hak te Lonzo eine Sicherheitsleine in die dafür vorgesehenen Ösen der Raumanzüge. Nun konnten sie einander nicht mehr verlieren. Er bedeutete ihnen, die Scheinwerfer auf der Brust abzuschalten. Sprechen konnte er nach dem Absprung nicht mehr mit ihnen. Das Funkgerät nützte im luftleeren Raum nichts mehr, weil der Schall Lonzos Anweisungen nicht übertragen würde. Und eine andere technische Lösung des Problems war in der Eile nicht gefunden worden. Notfalls konnte Lonzo jedoch mit Hilfe elektronischer Impulse Schwatzmaul erreichen, der in der Lage war, sie in Worte umzuwandeln und direkt an die Funkhelme der anderen abzustrahlen. Auf ein Kommando von Lonzos Tentakeln sprangen sie alle gleichzeitig ab und faßten sich dabei an den Händen. Gerade so, wie man manchmal zu mehreren in ein Schwimmbecken hüpft. Aber sie fühlten sich natürlich ganz anders. Denn die Freunde fielen ja keineswegs nach unten, sondern schwebten in das All hinaus. Am ehesten vergleichbar war diese Aktion mit Unterwasserschwimmen. Ganz langsam geriet die Gruppe ins Trudeln, weil die Absprungbewegungen ungleichmäßig erfolgt waren. Bald wußte niemand mehr so recht, wo denn nun die EUKALYPTUS lag und wo das Wrack. Nur gut, daß Lonzos elektronische Instrumente nicht so leicht zu verwirren waren wie die menschlichen Sinne. »Mann, das ist ja wie auf einem Karussell!« jauchzte Ollie. »Jungejunge, mir wird ganz anders. Das hält man ja im Schädel nicht aus!« Natürlich verstand ihn niemand, und keiner lachte. Jeder hatte mit sich selbst genug 242
zu tun. Dem Magen beispielsweise schien es gar nicht zu gefallen, was ihm hier geboten wurde. »Augen schließen, wenn euch übel werden sollte«, kam die Stimme Thunderclaps von der EUKALYPTUS durch die Helm -Mikrofone. Jetzt war er vielleicht doch ganz froh, daß er nicht an diesem Unternehmen teilnahm. Anca und Ollie folgtem seinem Rat auf der Stelle und fühlten sich gleich besser. Alexander hielt es eine Weile länger aus, schließlich besaß er im wahrsten Sinne des Wortes eine Bärennatur! Dann klappte auch er die Lider zu. Harpo hatte von Anfang an die Augen geschlossen, aus Angst. Er fürchtete nichts so sehr wie die Dunkelheit. Schließlich betätigte Lonzo mehrmals seine Rückstoßpistole. Mit drei genau gezielten und wohldosierten Schüssen brachte er Ruhe in die Gruppe. Mit einem weiteren kräftigeren Schuß setzte er sie in Richtung auf das Wrack in Bewegung. Bald würde die zwar geringe, aber immerhin meßbare Schwerkraft des Wracks ein übriges tun und sie anziehen. Je näher sie dem Wrack kamen, desto geheimnisvoller e rschien es ihnen. Die großen, grellen Scheinwerfer der EUKALYPTUS warfen bizarre Schatten zwischen die eigenartigen noppenhaften Wölbungen und eckigschartigen, in Mäander-Linien konstruierten Türmchen. Den Kindern lief der eine oder andere Schauer über den Rücken, weil sie darin die Schattengeister längst verstorbener, fremder Raumfahrer zu erblicken glaubten. Aber dann wurde es Zeit, sich auf die Landung vorzubereiten. Zwar war ihre Geschwindigkeit nicht besonders groß und in den druckfesten Anzügen konnte nicht viel passieren, aber wenn möglich, wollten sie mit den Füßen zuerst auf der Außenhaut des Wracks aufsetzen. Harpo, Anca und Lonzo gelang dies ohne Schwierigkeiten. Auch Ollie landete mit Hilfe der Magnetschuhe richtig auf der Oberfläche des Schiffes. Allein Alexander kam brummelnd mit dem Hinterteil zuerst an. Er rappelte sich unter Mithilfe seiner Freunde rasch wieder auf. »Seht doch mal!« rief Anca andächtig und zeigte auf die EUKALYPTUS. Wie ein riesiger Knochen schwebte sie vor ihnen im All, mit eingeschalteten Scheinwerfern, deren blendendes Licht manchmal in die Augen stach. Unschwer erkannte man die hellerleuchtete, durchsichtige Kuppel der Zentrale. 243
Ollie glaubte sogar Thunderclap Genius und die anderen zu erspähen. Sie schienen zu winken. Aber vielleicht täuschte er sich. Ein eigenartiges G efühl überkam sie, als sie das riesige Raumschiff erblickten. Ein warmes, stolzes Gefühl. Dort war ihr Zuhause. »Lonzo wird bereits ungeduldig«, meinte Harpo, als er den Roboter wild mit den Tentakeln wedeln sah. »Laßt uns aufbrechen.« Sie spürten erleichtert den sicheren Halt der Magnetschuhe. Das war n atürlich nicht mit der künstlich erzeugten Schwer kraft auf der EUKALYPTUS zu vergleichen, aber man konnte sich ohne große Mühe vorwärts bewegen. Ob nun durch Zufall oder Lonzos kluges Dirigieren: Ihre Ankunft war in unmittelbarer Nachbarschaft einer Schleuse e rfolgt. Nicht mehr als zwanzig Meter waren bis zu der Öffnung zurückzulegen. So aus nächster Nähe wurde allen erst richtig bewußt, daß nicht nur das Wrack, sondern auch die Schleuse riesige Dimensionen hatte. Sicher war sie nicht nur für Raumfahrer konstruiert worden, wahrscheinlich auch für Beiboote, die dann von hier aus operieren konnten. »Alles in Ordnung?« fragte Karlie Müllerchen aus weiter Ferne. Harpo nickte, bis ihm einfiel, daß Karlie eine Antwort erwartete. »Uns geht's prima«, sagte er deshalb. »Oder?« »Klar!« riefen die anderen im Chor. »Keine Arm - und Beinbrüche?« fragte Karlie kichernd. »Brim steht nämlich schon mit seinen Skalpellen bereit!« Gelächter ertönte auf beiden Seiten, dazwischen die empörte Stimme Brim Boriams: »Ist ga-gar nicht w-wahr!« Brim übte auf der EUKALYPTUS die Funktion des Schiffsarztes aus, seit die Galaktischen Mediziner ihm per Hypnoseschulung beigebracht hatten, was man als angehender Arzt wissen mußte. Da Brim, der krausköpfige Afrikanerjunge, seinen zukünftigen Beruf sehr ernst n ahm, studierte er in letzter Zeit eifrig verschiedene Fachliteratur. »Wir betreten gleich den Schleusentrakt«, berichtete Harpo ordnungsgemäß. »Aber das seht ihr ja wahrscheinlich selbst. Wir melden uns wieder, sobald wir Neues zu berichten haben.« »Okay, Harpo«, bestätigte Thunderclap von der Zentrale aus. »Und haltet absolute Funkdisziplin. Es kann nicht angehen, daß ständig alle durcheinander reden. Dummerweise kann man dann nämlich überhaupt nichts mehr 244
verstehen.« Er fügte noch ein fachmännisch klingendes »Over!« hinzu, was bedeutete, daß er mit seiner Mitteilung fertig war. Einander immer noch an den Händen haltend, tappten sie sich Schritt für Schritt an das dunkle Loch der Schleuse heran. Lonzo deutete auf die Halterungen. Auch die a nderen sahen es nun deutlich: Sie wirkten total zerfetzt. »Lonzo meint, daß diese Zerstörungen nicht allein durch Meteorite bewirkt wurden«, meldete sich nun Schwatzmaul. »Ich glaube, er hat recht«, bestätigte Harpo. »Das sieht verdammt nach einer gewaltigen Detonation aus, obwohl der Zahn der Zeit vieles abgenagt hat.« Ihnen wurde nun erst allen richtig bewußt, daß hier tatsächlich eine Katastrophe stattgefunden haben mußte. Die Schleusenränder wirkten riesig und verliefen in bizarr gezackten Linien. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar erkennen, daß einzelne Metallfetzen von der nicht mehr vorhandenen Tür übriggeblieben waren. Vor ihnen lag ein Korridor aus porösem Metall, der in das Innere des Wracks führte. Wie es schien, war er passierbar. Trotzdem mußte sich Harpo zuerst ein Herz fassen, ehe er den ersten Schritt wagte. Es schien eine einzige Trümmerlandschaft zu sein. Träger aus Stahl und einem nicht identifizierbaren schwammigen Material ragten wie Skelette zerbombter Hochhäuser aus den Wänden. Die Verkleidungen aus zentim eterdickem Metall hingen durchlöchert wie Seitenteile zerfledderter Pappkartons an diesen Skeletten. An einer Stelle hatten Druckwellen oder ein großer Meteorit die meterdicke Außenhaut des Schiffes durchschlagen. Ein Loch klaffte. Dahinter blinkten kalt die Sterne. Was mochten die fremden Raumfahrer empfunden haben, als sie vor langer Zeit an dieser Stelle standen und hinausschauten - wenn überhaupt jemand die Explosion überlebt hatte?
Ollie, der Entdecker Der Metallsteg, auf dem sie sich bewegten, hatte sich zu Wellenlinien verzogen, war aber nicht gerissen. 245
Man konnte es wagen, darauf weiter vorzudringen, wenn man die in den Gang hineinragenden, messerscharfen Stahlteile sorgfältig umging. Die Kinder waren von dieser ungewöhnlichen Umgebung so beeindruckt, daß sie minutenlang auf jede Unterhaltung verzichteten und sich nur stumm weitertasteten. Schließlich erreichten sie die zweite, innere Tür der Luftschleuse. Sie war offenbar von innen herausgesprengt worden, hing aber noch in den Angeln. »Seht mal her!« rief Anca und deutete auf die dahinterliegende Wand. Die Wand war schwarz, aber an einigen Stellen schimmerten Spuren einer gelben Farbe. Auf dem Farbsegment waren Zeichen deutlich erkennbar: aus Schlangenlinien zusammengesetzte Figuren. Zweifellos eine Schrift - die Schrift der Fremden. Lonzo leuchtete den Fleck sorgfältiger aus und sah ihn sich genauer an. Von diesem Moment an waren die geheimnisvollen Schriftzeichen in seinem Gedächtnis gespeichert und konnten jederzeit wieder abgerufen werden. Je weiter die Kinder in das Innere des Wracks vordrangen, desto erregter wurden sie. Vor ihnen erstreckte sich ein Gewirr von Gängen und Luftschächten, die an einigen Stellen in größere Räume mündeten und sich dann erneut verzweigten. Ohne Lonzo hätten sie sich keinen Schritt in das Labyrinth hineingetraut. Aber das unfehlbare Gedächtnis ihres maschinellen Freundes würde sie sicher zurückführen. Erstaunlicherweise nahm das Ausmaß der Zerstörung ab, je weiter sie vordrangen. Die Metallplatten wirkten zwar an einigen Stellen dünn und morsch, Wände waren eingeknickt und Versorgungsleitungen geplatzt. Aber solche Zerstörungen wie an den Schleusen waren nicht mehr zu sehen. »Komisch«, murmelte Alexander, der Rotpelz, während Harpo aufgeregt einen Bericht an die Zentrale der EUKALYPTUS durchgab. Immer wieder entdeckten die Freunde die seltsamen Schriftzeichen. Hier und da standen rostige Klumpen, Überreste zerschmolzener Maschinen. Sie passierten auch kleine Gänge, die merkwürdigerweise von Druck, Feuer und Korrosion nicht zerstört waren. Im Lichtstrahl der Brustscheinwerfer entdeckten sie bunte Farbmuster an den Wänden. 246
Allmählich fühlten sie sich sicherer und verzichteten darauf, sich an den Händen zu halten. Lonzo hatte bereits die Sicherheitsleinen ausgeklinkt, die jetzt wie ein aufgerolltes Lasso um seinen Hals baumelten. Plötzlich stieß Anca einen leisen Schrei aus. »Ollie! Wo ist Ollie?« Die Mitglieder der Expedition hielten wie auf Kommando inné. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Ollie war eben noch bei ihnen gewesen! Jetzt war er wie vom All verschluckt. »Ollie!« riefen sie im Chor über Funk, so laut, daß ihre eigenen Trommelfelle zu platzen drohten. »Ollie, wo steckst du? Ist dir was passiert?« Aus der Zentrale der EUKALYPTUS kam erregtes Stimmengewirr. Thunderclap, Karlie, Micel, Brim und Trompo hockten dort vor ihren Lautsprechern und fieberten mit. Karlies kicksendes Organ war deutlich zu hören. »Wenn der Wicht nur einen Schabernack vorhat, wird er sechs Wochen lang die Kombüse fegen, das verspreche ich euch!« Ein paar Sekunden lang war es in den Helmlautsprechern totenstill. Dann erklang die kichernde Stimme des Vermißten in den Empfängern. »Nur keine Panik auf der Titanic, teure Freunde! Mir fehlt nix. Aber ich habe eine wahnsinnige Entdeckung gemacht! Wahrscheinlich habe ich die Schatzkammer entdeckt, nach der wir suchen!« »Schatzkammer?« echote Thunderclap Genius hörbar verständnislos. »Suchen wir denn so was?« fragte Karlie verdattert. Alle atmeten auf, und obwohl Harpo Mühe hatte, nicht in ein Gelächter auszubrechen, donnerte er: »Bei allen Geistern der Galaxis! Hatten wir nicht ausgemacht, daß wir zusammenbleiben? Wo steckst du eigentlich?« »Na, hier! Huhu!« »Da ist er!« rief Anca und deutete in einen schmalen Nebengang. Tatsächlich, dort schaukelte Ollies Brustscheinwerfer hin und her. Der Kleine ruderte wie wild mit beiden Armen. Die anderen eilten erleichtert auf ihn zu. Sie achteten kaum darauf, daß dieser Gang der bisher intakteste des ganzen Wracks war. Abgesehen von einer dicken Schicht kosmischen Staubs schien er unversehrt zu sein. Das Interessanteste war jedoch, daß er vor einer mannshohen, kreisrunden Tür endete, die matt schimmerte und ohne sichtbare Kratzer 247
war. Dies mußte ein besonderes Metall sein, wenn es die Zeit so gut überdauert hatte. Die dazugehörende Wand schien aus dem gleichen Metall zu bestehen. Sie schimmerte blaugrün im Licht der Scheinwerfer. »Wenn das keine Schatzkammer ist ...«, verkündete Ollie stolz und sah sich beifallheischend um. »Eher eine zweite, innere Luftschleuse«, bemerkte Harpo trocken. »Anscheinend hat man das Innere des Schiffes nochmals mit einer eigenen Hülle aus hochwertigem Material umgeben. Junge, da stehen uns vielleicht noch ganz unerwartete Überraschungen bevor!« Alexander zog spielerisch an einem Griff und fiel fast zu Boden, als die Luke ohne Widerstand aufklappte. Dahinter lag ein dunkler Gang, dessen Ende nicht erkennbar war. »Nichts wie hinein und im Golde gewühlt!« jubelte Ollie. Sie stiege n durch die Luke. Harpo gab einen kurzen Bericht an die Zentrale, folgte dann und zog die Luke hinter sich zu. Wenn dies wirklich eine Schleuse war, mußte die äußere Öffnung erst einmal geschlossen werden. Zur grenzenlosen Überraschung des Expeditionstrupps flammten an der Decke Lampen auf, die ein trübes, rotes Licht ausstrahlten. Lonzo deutete auf ein Gitter am Boden, konnte sich aber nicht verständlich machen. »Lonzo sagt, daß ein Gas in die Schleuse einströmt«, meldete sich Schwatzmaul über Funk. »Der Mechanismus funktioniert also noch.« Und nach einer Weile: »Jetzt scheint der Vorgang abgeschlossen zu sein. Lonzo analysiert soeben die Zusammensetzung des Gases.« Im gleichen Moment sprang - ohne das Zutun von Lonzo und den Kindern - die innere Schleusentür auf. Nur an das schwache Licht ihrer Scheinwerfer gewöhnt, blieben die Kinder einen Moment lang gebannt stehen. Eine grelle, gelbe Lichtluft blendete sie - und das, obwohl sie durch das eingefärbte Plexiglas ihrer Raumfahrerhelme geschützt waren. Schließlich stolperten sie weiter und sahen sich verwirrt um. Sie hatten alles mögliche erwartet - aber nicht das! Sie standen, inmitten einer Lichtflut, die aus den Wänden hervordrang, auf einem weichen, rostbraunen Pflanzenteppich. In Reichweite ihrer Arme wuchs ein baumhohes G ewächs, das wie ein zarter, faltiger Beutel aus ineinandergelegten Seidenschichten bläuli248
cher Färbung aussah. Dahinter erstreckte sich ein wahrer Dschungel von Pflanzen in abenteuerlichen Formen und Farben. Viele sahen aus wie übergroße Tulpen, Rosen oder Nelken, a ndere hatten auswuchernde Formen wie meterhohes Rübenkraut mit lauter kleinen Noppen darauf. Ollie war nicht mehr zu halten und berührte als erster eine Pflanze. Sie ließ sich so leicht zusammendrücken wie ein Windbeutel. »Die Atmosphäre ist atembar«, sagte Thunderclap plötzlich in die Stille hinein. »Ich hoffe, ihr habt keine andere Erfahrung gemacht!« »Kei ... keine Angst«, stotterte Harpo, der sich als erster von der Überraschung erholte. »Wir atmen, auch wenn wir schweigen, Thunderclap.« »Wir halten es trotzdem für besser, wenn ihr die Helme noch nicht ablegt«, meldete sich nun Brim Boriam. »Es gibt Mikro-Organismen, die wir noch untersuchen müssen. Sie könnten euch gefährlich werden.« Die Botschaft, die Harpo an die Zentrale übermittelte, riß sogar Thunderclap fast vom Stuhl. Im Handumdrehen kursierten die wildesten Spekulationen an Bord der EUKALYPTUS, was den Pflanzenreichtum an Bord des Wracks betraf. Sie erinnerten sich alle nur zu gut an ihren früheren Lebensbereich auf Deck 27. Dort gab es ebenfalls Pflanzen in Hülle und Fülle, die man allerdings nicht mit denen des Wracks vergleichen konnte, denn letztere waren echt - und die auf der EUKALYPTUS aus Plastik. Aber hier war möglicherweise etwas geschehen, das nicht vorprogrammiert war. Hatten die Pflanzen nach dem Fortgang der fremden Raumfahrer nach und nach das verlassene Wrack erobert? Manche Gewächse hatten die Angewohnheit, über den Rand ihrer Beete hinauszuwuchern, wenn sie nicht daran gehindert wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich über das ganze Raumschiff ausbreiten würden. Sie schleppten Erde mit sich, verstreuten Samen, wurden nach und nach selbst zu Humus und belegten die Decks. Neuer Boden entstand, auf dem dann wieder junge Pflanzen wuchsen. Vielleicht war dieser Bezirk aber auch nur eine künstlich angelegte grüne Lunge für das Schiff und seine Besatzung, ein gigantischer hydroponischer Garten? Die Pflanzen hatten teilweise Ähnlichkeit mit gewaltigen Windbeu249
teln und schaukelten trotz ihrer Größe im Hauch einer fernen, schwachen Luftströmung. Vielleicht dienten sie wirklich zur Regeneration der Atmosphäre? Andererseits aber ... »Harpo, Harpo!« rief Anca plötzlich aufgeregt. »Alexander hat eben ein Tierchen mit ganz großen Augen gesehen! Da - noch eins!« Jetzt sahen sie es alle. Ein eichhörnchengroßes Lebewesen schaute zwischen den Seidenschalen einer Pflanze hervor, bog sie mit zierlichen Pfoten auseinander. Es schien in der Pflanze zu leben. Die beiden Augen waren bemerkenswert groß; sie nahmen fast ein Drittel des Köpfchens ein und schimmerten grünlich, während das Fell rotgelb war. Erschreckt zog es sich zurück, als es sich beobachtet fühlte. Nach einer Weile streckte es den Kopf aber schon wieder neugierig hervor. »Ach, ist das süß!« Ollie, der schon auf dem Weg war, wurde von Alexander gerade noch festgehalten. »Nicht erschrecken winziges Bär«, brummte er. »Lieber erst Gegend erkunden.« Aber so leicht ließ sich Ollie nicht überzeugen. Er wollte unbedingt mit dem Tierchen spielen. Und auch Anca war nicht von der Stelle zu bewegen. Schließlich gelang es den beiden, eines der kleinen Wesen durch Lockrufe so neugierig zu machen, daß es sich greifen und streicheln ließ. Dann erst konnte es weitergehen. Der Dschungel war kleiner als ursprünglich angenommen, jedenfalls an dieser Stelle. Sie hielten sich immer in der Nähe der leuchtenden Wände auf und erreichten nach kaum zehn Minuten ein Metalltor, auf dem wieder u nbekannte Schriftzeichen angebracht waren. Karlie meldete sich von Bord der EUKALYPTUS. »He, eure Funkwellen werden jetzt kolossal überlagert! Möglicherweise wird die Verbindung bald abreißen. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt!« Schwatzmaul griff sofort erläuternd ein: »Lonzo hat gerade eine Erklärung dafür gefunden. Die Wand, vor der ihr euch befindet, besteht offenbar aus einer Legierung, die unsere üblichen Wellen nicht durchdringen können. Es 250
kann also sein, daß die Verbindung zur Zentrale abreißt. Keine Panik, es steckt zumindest kein Störsender dazwischen!« Harpo wandte sich der makellosen Wand zu. Das Tor, vor dem sie standen, öffnete sich wie von selbst und gab zögernd einen kleinen Spalt frei. Wieder schien ein verborgener Mechanismus von selbst in Tätigkeit zu treten. Ohne Zögern verließ die Expedition die Dschungelzone und trat mutig durch das Tor in einen weiteren unbekannten Sektor des geheimnisvollen Wracks.
In der Klemme Erschreckt merkten die Eindringlinge, daß sich plötzlich der Boden unter ihnen bewegte. Harpo purzelte gegen Alexander, woraufhin dieser zur Seite sprang und rückwärts gegen Ollie prallte, bis schließlich alle drei am Boden lagen. Verblüfft starrten sie sich an. Die Bewegung war nach wie vor deutlich spürbar. »Was ist das denn?« krähte Ollie mit zitternd erhobenen Händen und ziemlich belämmertem Blick. »Sind wir denn hier auf 'ner Baustelle?« Diesen Eindruck konnte man wahrhaftig gewinnen. Es schien, als hätte sich der Mittelteil des Korridorbodens in eine Art quietschendes Förderband verwandelt. Harpo saß mit gespreizten Beinen da und stützte sich mit den Händen ab. Er erkannte, daß sie - langsam, aber sicher - einen halbdunklen, nur von einer Notbeleuchtung erhellten Gang entlangtransportiert wurden. Anca rief von weit hinten mit ängstlicher Stimme: »So wartet doch! Wohin wollt ihr denn?« Sie hatte als letzte das Tor passiert und erkannt, daß das in den Boden »eingebaute« mysteriöse Förderband nur die Hälfte der zur Verfügung stehenden Grünfläche des Korridors einnahm. Zu beiden Seiten lag ein stahlblau markierter Gehstreifen, der sich nicht bewegte. So schnell sie konnte, rannte sie hinter den anderen her. Dabei achtete sie darauf, die Gehspur nicht zu verlassen. 251
»Schockschwerenot!« rief Ollie. »Ein Fußboden, der sich bewegt. Da schnallst du ab!« »Mir scheint, die Leute hier waren so bequem, daß sie sich fahren lassen wollten«, warf Harpo ein. »Du liebe Güte, kann man das Ding denn nicht vielleicht abstellen?« Vorsichtig, auf gummiweichen Beinen, standen sie der Reihe nach auf. Das Transportband lief zwar nicht sehr schnell - fünf Kilometer in der Stunde, schätzte Harpo -, aber das unangenehme Gefühl, auf einem sich bewegenden Untergrund zu stehen, machte die vier unsicher. Mehrere Türen, deren Aufschriften im Laufe der Zeit verblaßt waren, glitten beidseitig an ihnen vorbei. Als Anca die anderen fast erreicht hatte, machte Alexander gerade einen tapsigen Versuch, das Band zu verlassen. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, daß dieses Unterfangen mit e inem Absprung aus einer fahrenden Straßenbahn vergleichbar war. Er torkelte, glitt aus und fiel. Dann rollte er auf den Gehstreifen. Die anderen machten es ihm nach. Das leise Quietschen des Transportbandes verstummte jetzt. Es stoppte. »Aha«, sagte Anca. »Das Ding läuft nur dann, wenn jemand drauf steht.« Ratlos blickten sich die Kinder an. Sie hatten sich genau an einer breiten, zweiflügeligen Tür getroffen, die einen Spaltbreit offenstand. Ollie bemühte sich bereits, neugierig den Kopf durch die Fuge zu strecken, was ihm aber nicht gelang. Harpo führte aus, daß die Einrichtung des Laufbandes für die Besatzung sicher viele Vorteile gebracht hatte. »Stellt euch nur vor«, meinte er, »wieviele Kilometer jemand laufen müßte, der den Weg vom Außendeck zur Schiffsmitte zurückzulegen hat! Auf der EUKALYPTUS haben wir ja unsere Antigravlifts - hier sind es die Transportbänder.« »Ihr könnt übrigens unbesorgt die Helme aufklappen«, meldete sich Thunderclap Genius kaum noch hörbar über Schwatzmauls Funkanlage aus der Ferne. »Unsere Testserien haben ergeben, daß die in der Atemluft vorhandenen Mikroben euch nicht schaden. Und die irdischen Mikroben vertragen sich auch gut mit denen des Wracks.« Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Sie öffneten die Helme, schnupperten die würzige Luft und freuten sich, daß sie sich nun wieder ohne Hilfe der Funkgeräte verständigen konnten. 252
»He«, ließ sich im gleichen Moment Ollie vernehmen, »hier riecht's ja geradezu aufdringlich nach Schatzkammer!« Ein aufgeregtes Keuchen folgte. Er versuchte den Türspalt zu erweitern. Vor Nervosität hatte sich seine Zunge zwischen die Lippen geschoben. »Laß mich mal«, flüsterte Harpo, den die Abenteuerlust nun auch packte. Was hatte der Kleine entdeckt? Nicht, daß Harpo an die Existenz eines Schatzes glaubte - das waren wohl eher Wunschträume Ollies, der von Lonzos albernen Piratengeschichten beeinflußt war -, aber ein kleiner Berg von Juwelen und Geschmeide würde sicherlich großen Eindruck auf Thunderclap und die anderen machen. Mit goldenen Ketten und Diamanten konnte man die Kombüse der EUKALYPTUS ausschmücken, eine andere Verwendungsmöglichkeit sah er nicht. Ollie machte artig Platz. Nacheinander lugten sie durch den etwa fünf Zentimeter breiten Spalt, erblickten jedoch nichts als einen Tisch, sechs schalenförmige Sitzgelege nheiten, von denen zwei umgestürzt waren, und einen Teppich, der ausgebleicht und schmutzig war. Dennoch waren auf ihm eingewebte Drachen zu erkennen. Direkt gegenüber befand sich eine weitere reich verzierte Tür mit einem kostbar glänzenden Knauf, der auf einem Raumschiff reichlich merkwürdig wirkte. Die anderen Türen funktionierten per Selenzellen. Noch seltsamer muteten die beiden angerosteten Gebilde an, die entfernt mittelalterlichen Ritterrüstungen ähnelten. Andererseits wieder wirkten sie wie metallene Standbilder von Fabelwesen mit Vogelköpfen. Sie waren rechts und links der Tür postiert. »Was soll das sein?« fragte Alexander, der so etwas natürlich von seinem Heimatplaneten nicht kannte. »Das sind Roboter!« sagte Anca mit einer solchen Bestimmtheit, daß niemand an ihren Worten zu zweifeln wagte. »Und sie sehen nur deshalb anders aus als unsere Grünen, weil sie eben von Wesen konstruiert wurden, die keine Menschen waren - wahrscheinlich.« Harpo nickte. Das war logisch. Die Menschen hatten ihre Roboter wenigstens in den Grundzügen nach ihrem eigenen Ebenbild gemacht, einfach deshalb, weil man, um für Menschen bestimmte Arbeiten von metallenen Gehilfen ver253
richten zu lassen, dafür sorgen mußte, daß sie dazu auch von der Konstruktion her in der Lage waren. Hatten die Fremden nach dem gleichen Prinzip gehandelt, so mußten sie erschreckend ausgesehen haben. Die beiden angerosteten Türwächter sahen aus wie kleinwüchsige, breitschultrige Humanoide mit spitzen Vogelschnäbeln und langen, dreieckig auslaufenden Plattfüßen. Ihre Kopfflächen waren mit Dutzenden Eisenpickeln bedeckt, die wie kleine Schrauben wirkten. In den Fäusten trugen die silbergrauen Roboter lange Stäbe, die in einer Kugel endeten. Man konnte sie aus der Entfernung für Morgensterne halten. »Die sehen wir uns genauer an«, sagte Ollie begeistert und b egann an den Türhälften zu rütteln. Erst als Lonzo und Alexander ihre Kräfte in die Bresche warfen, gingen sie, greulich quietschend, weiter auf. Irgend etwas hatte sie blockiert. Die Öffnung reichte gerade. Ollie und Anca schoben sich hindurch. Anca drehte sich triumphierend um und streckte den anderen die Zunge heraus. »Hat sich was von wegen Pummelchen«, sagte sie grinsend, als Harpo ächzend seine breiten Schultern durch den entstandenen Spalt zwängte. Lonzo hatte ohnehin keine Schwierigke iten, klein, wie er war. Alexander, der nun wirklich zu dick war, blieb tief enttäuscht draußen stehen. »Stehen Schmiere für Einbrecher«, erklärte er, »und pfeifen Liedchen, wenn Bullen kommen!« Ollie stimmte an: »Gold und Silber lieb' ich sehr, kann's auch gut gebrauchen ...«, während Harpo sich zögernd den starren Robotern näherte. Anca und Lonzo folgten ihm. Die beiden metallenen Torwächter wirkten so, als seien sie ziemlich schrottreif. Die Gruppe kam sich indes wie ein Einbrecherteam vor. Ollie linste verstohlen in alle Ecken, als erwarte er jederzeit das Eingreifen eines Unbekannten, und bohrte aufgeregt in der Nase. Anca nagte nervös an ihrer Unterlippe. Lonzo riß die Schippermütze vom Kopf, deutete eine elegante Verbeugung vor den Maschinen an und flötete: »Stets zu Diensten, edle Herren. Graf Lonzo de Güldenstern gibt sich die Ehre. Würden Sie die Nettigkeit haben und uns Ihre Schatzkammer plündern lassen?« »Grrrg«, machten die beiden Roboter plötzlich und h oben die vermeintlichen Morgensterne. 254
Mit einem Schreckensschrei wichen Harpo und seine Freunde weit zurück. Gleich darauf setzte sich einer der verrosteten Roboter quietschend in Bewegung, verhielt aber nach einem Schritt wie eine Marionette, der man die Schnüre gekappt hat. Da er auf einem Bein nicht stehen konnte, fiel er um. Das Geräusch, das er dabei erzeugte, klang wie das Umfallen eines Dreieinhalbmeterturms leerer Konservendosen. Es schepperte und krachte blechern. Der zweite Roboter blieb stumm und starr. »Tscha«, meinte Ollie lakonisch, »der ist hin!« Und das war er in der Tat. Die klauenartigen Finger des Maschinenwesens gaben die seltsame, stangenartige Waffe frei, die Lonzo eiligst einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung unterzog. »Chemischer Kampfstoff«, verkündete er, nachdem die Analysatoren sich wieder in seine Brustklappe zurückgezogen hatten. »Ein Betäubungsmittel, das offenbar unerwünschte Eindringlinge vertreiben soll. Allerdings ist es nicht mehr wirksam.« »Der Schatz, der Schatz!« wisperte nun Ollie, der aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfte. Lonzo untersuchte schnell den Türknauf und legte dann einen Te ntakel darum. Der Knauf ließ sich drehen. Die Tür öffnete sich ohne Schwierigke iten. Was sie dahinter erwartete, war allerdings weder Ollies vielbeschworener Schatz noch sonst etwas, das sich als wertvoll erwies. Nur ein großer Raum, dessen hohe Wände in beruhigenden Farbtönen gehalten waren. Darin gab es eine Reihe fürstlich gedeckter Tische mit altmodischen Kerzenständern und heruntergebrannten Kerzen, staubbedeckte Teppiche und von Vorhängen abgeteilte Nischen mit Sitzgruppen. Die Stühle lagen teilweise auf dem Boden, und Rückstände auf den Tellern, die Lonzo als Staub deutete, entpuppten sich einwandfrei als Überreste von Mahlzeiten, die plötzlich abgebrochen worden sein mußten. Ollie fand in einer Ecke eine Uniformmütze, die, kaum daß er sie berührte, zu Staub zerfiel. Ähnliches geschah mit den verwahrlosten Vorhängen, die seit Jahrhunderten keinen Windhauch mehr verspürt hatten. Als Harpo einen davon beiseite zog, rauschte eine Staubwolke hinab, die ihn in einen keuchenden Husten 255
ausbrechen ließ. Der ganze Vorhang war verschwunden, hatte sich in Nichts aufgelöst. »Tretet nicht so fest auf«, kicherte Anca. »Sonst bricht das ganze Wrack noch auseinander!« Merkwürdig war diese seltsame Hinterlassenschaft schon. Es sah so aus, als sei man auf einen luxuriösen Speisesaal gestoßen. Aber warum war er so groß, wenn in ihm nur knapp zehn Tische standen? Rein platzmäßig hätten hier leicht dreihundert Menschen essen können. Konnte das heißen, daß das Schiff nur von einer Handvoll Raumfahrern gesteuert worden war? Handelte es sich bei diesem Wrack vielleicht um einen überdimensionalen Frachter? Lonzo entdeckte mehrere Türen. Eine davon führte in einen Raum, dessen Wände mit deckenhohen Regalen verkleidet waren. Einige Sitzbänke, belegt mit verstaubten Fellen. Eine computerähnliche, abgeschaltete Maschine mit einem davorstehenden Drehstuhl. Mehrere leere, kürbisähnliche Flaschen. Sonst nichts. Aber die Regale. Sie standen voller Bücher! Und das mußten Tausende sein! »Ohhh«, staunte Harpo, der als Büchernarr bekannt war. Er leckte sich die Lippen und lief händereibend auf das erste Regal zu. »Rühr besser nichts an, Harpo!« rief Lonzo ihm nach, aber die Warnung kam eine Zehntelsekunde zu spät. Harpos ausgestreckte, nach einem verstaubten Wälzer lange nde Rechte zuckte zurück, als seine Ohren das leise, kaum hörbare Rieseln vernahmen. Schreckensbleich schrie Anca: »Das Regal! Das Regal! Es stürzt ein!« Harpo vollbrachte in diesem Moment eine fast olympiareife Leistung. Er sprang aus dem Stand nach hinten, dann hüllte ihn eine graue Wolke ein, die ihm Mund, Augen, Ohren und Nasenlöcher mit feinem Staub füllte. Das Rauschen des blitzartig zu Staub zerfallenen Bücherregals dauerte an, bis er prustend und nach Luft schnappend mit den Fingern den Schmutz aus den Ohren gepuhlt hatte. Um Harpo herum wirbelte eine gewaltige Staubwolke auf, die die anderen sofort einhüllte. »Harpo!« rief Anca. »Lebst du noch?« Es war echte Besorgnis in ihrer Stimme. 256
»Blubblgrgl«, machte Harpo, spuckte, hustete, bekam eine neue Ladung in den Mund und beeilte sich, beide Zeigefinger als Nasenpropfen zu benutzen. Es dauerte fast drei Minuten, bis die graue Staubwand sich gesetzt hatte und Harpo sich unverletzt erhob. Er stand knietief im Staub. Erschreckt stellte er fest, daß das Regal auf eine Länge von mehr als zwölf Metern zusammengebrochen war. Und der Rest der Wand schwankte ebenfalls bedrohlich! Irgendwie erwischten Lonzos Tentakel den völlig überraschten Jungen und zogen ihn aus der Schmutzhalde. Anca und Ollie begannen ihm den Dreck aus dem Gesicht zu wischen, während Alexander grinsend b emerkte: »Harpo sehen aus wie Brim Boriam! Schwarz von Zehen bis Haarwurzeln.« Lonzo schimpfte: »Welch ein Frevel! Mußtest du dieses barbarische Vernichtungswerk unbedingt ausführen? Die schönen Bücher! Die schönen, schönen Bücher! Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich daran denke, wie viele Piratenromane dabeigewesen sein könnten!« Natürlich war sein Zorn nur gespielt, das wußten sie alle aus Erfahrung. Und wie hätte Harpo auch ahnen können, daß die Bücher einschließlich des Regals im Laufe der Zeit so porös geworden waren, daß eine leichte Berührung genügte, um sie zu Staub zerfallen zu lassen. »Mamma mia!« japste Harpo, als er wieder Luft bekam. »Das wäre ja um ein Haar ins Auge gegangen!« Mit Hilfe ihrer Wasservorräte gelang es, aus den Expeditionsteilnehmern in zehn Minuten wieder menschenähnliche Wesen zu machen. Ollie, der während der Waschprozedur die Bibliothek verlassen hatte, um zu sondieren, wie er es ausdrückte, kehrte zurück. Auch er hatte etwas von der Staubwolke abbekommen. »Wir sind nicht allein auf dem Wrack!« keuchte er. »Da ist wer im Anmarsch! Ogottogottogott! Jetzt geht's uns bestimmt an den Kragen!« »Was?« riefen die anderen wie aus einem Munde. »Gaaaanz sicher! Ich habe Schritte gehört, da draußen! Die Truppen des Chef-Bibliothekars! Oder die galaktischen Detektive! Meine Medizin! Wo ist meine Medizin?« Der Kleine war tatsächlich ganz aus dem Häuschen. »Schäff-Piplotekar? Was sein das?« erkundigte sich Alexander freundlich. »Gehen wir raus und sehen nach, was?« »Ich würde ja gerne mitgehen ...«, 257
begann Ollie zögernd, als er erkannte, daß Alexander sich überhaupt nicht zu fürchten schien. »Seien wir lieber vorsichtig«, warnte Harpo. »... aber leider«, fuhr Ollie seufzend fort, »verbietet mir eine schwere Krankheit, mich aufzuregen.« »Also, ich habe keine Angst!« rief Anca resolut. »Wenn ihr zu feige seid, gehen Ali und ich eben allein!« Bevor sie diesen Entschluß in die Tat umsetzen konnte, drang das Geräusch sich leise nähernder Schritte auch schon an ihre Ohren. Schritte? Nein, das hörte sich eher an wie ... Da es sowieso keine Möglichkeit gab, sich in der Bibliothek zu verstecken, begann Lonzo nach kurzem Befragen seiner Informationsspeicher den einzig richtigen Plan vorzubereiten. Er stellte sich wie ein armer Sünder in Positur, machte sein Schönwettergesicht und fing an, Entschuldigungsreden zu formulieren: »Verzeihen Sie die Unordnung, Herr Kapitän oder Amiral, aber Sie wissen ja, wie neugierige Kinder nun mal sind, hihi ...« Er hörte erst auf, als sich die Tür zum Speisezimmer öffnete und ein Ding hereinrollte, das aussah wie eine lange Metallzigarre auf Raupenketten. An der Spitze tasteten biegsame Fühler nach allen Richtungen. Dann begann ein ausfahrbarer Saugrüssel wie verrückt den verdreckten Boden zu reini gen, was wie am Schnürchen ablief und nach kurzer Zeit beendet war. Anschließend spritzte ein anderer, dünnerer Rüssel eine dicke, grüngelbe Flüssigkeit aus, die nach Krankenhaus roch. Rotierende, an der Unterseite der Zigarre angebrachte Besen begannen den Boden zu polieren. »Eine Bohnermaschine!« schrien die Kinder und begannen zu lachen. Ollie, der etwas beschämt wirkte, weil sich sein furchterregender Angreifer als simpler Reinigungsautomat entpuppte, drehte einfach verlegen Däumchen und fixierte, als sei er gar nicht da, die Decke. Sein Gesicht nahm langsam die Farbe einer überreifen Tomate an. Die Bohnermaschine bewegte sich plötzlich mit einem drohenden Summen auf die Eindringlinge zu.
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Im Reich der Drachen »Aufgepaßt, Seeleute!« sagte Lonzo warnend und machte mehrere Schritte zurück. »Ich glaube, die Kiste plant einen Angriff!« Zwar rechnete keiner der Anwesenden mit einer tödlichen Bedrohung, aber das hinderte niemanden daran, rasch den Rückzug anzutreten. Möglicherweise hielt das eifrige Maschinchen sie ebenfalls für eine Art Unrat. Der Gedanke, von dem suchenden Saugrüssel abgesaugt und gebohnert zu werden, womöglich in dem mittlerweile furchterregende Ausmaße annehmenden, ballonähnlichen Behälter an seinem Ende zu verschwinden, behagte keinem. Die Bohnermaschine bewegte sich bis auf einen Meter an die abwartende Gruppe heran und begann mit den Fühlern tastende Bewegungen auszuführen. »Soll das etwas bedeuten?« fragte Anca aufgeregt. »Es wirkt wie ein Kontaktaufnahmeversuch.« »Quark!« machte Harpo. Anca klammerte sich an Ollie, der, starr vor Schreck, vergaß, seinen rechten Zeigefinger aus dem linken Nasenloch zu nehmen. »Wieso sollte ausgerechnet ...« Lonzo streckte vorsichtig einen Tentakel aus und berührte die Oberseite der Maschine. Diese wich zunächst zurück, fuhr aber dann wieder näher heran, als erwarte sie etwas von Lonzos Greifarm, der nun lautlos über das Metall fuhr. Der aufgeblasene Plastiksack am anderen Ende der Maschine begann allmählich zu schrumpfen. Offenbar war er in der Lage, die aufgesaugten Schmutzberge zu atomisieren. »Das Ding strahlt eindeutig Energie ab«, erklärte Lonzo. »Funkwellen, nehme ich an. Das könnte bedeuten, daß es in diesem Moment irgendwohin meldet, daß wir uns in diesem Raum aufhalten.« »Nix wie weg!« stieß Ollie hervor. »Du meinst, die Kiste hat uns wirklich wahrgenommen?« fragte Harpo fassungslos. Es war kaum zu glauben, daß dieses Gerät, das von der Beschränktheit seiner Funktionen her nur mit e inem Getränkeautomaten oder 259
einer Waschmaschine vergleichbar war, zu solch komplizierten Wahrnehmungen in der Lage sein sollte. »Aber ... das würde ja ein elektronisches Gehirn voraussetzen!« platzte Anca heraus. »Willst du damit sagen ...« »Genau das«, unterbrach sie Lonzo. »Diese Maschine braucht, um selbständig arbeiten zu können - und daß sie das tut, haben wir ja gesehen -, ein Gehirn. Was macht sie, wenn sie auf Hindernisse stößt, denen sie nicht gewachsen ist? Sie funkt um Anweisungen!« Lonzo blickte sich triumphierend um. »Ich will dreihundert Jahre allein auf der Skelettinsel im Chinesischen Meer verbringe n, wenn sie unser Hiersein nicht bereits weitergegeben hat.« »Nichts wie weg!« meinte nun auch Harpo und setzte sich, Ollie an der linken und seine Schwester an der rechten Hand haltend, Richtung Ausgang in Bewegung. Die anderen folgten ihm, so schnell sie ihre Beine trugen, wobei sie das plötzlich einsetzende protestierende Gesumme der Bohnerm aschine ignorierten. Wenn auf dem Wrack schon einfache Arbeitsgeräte so agieren konnten über welche Fähigkeiten mochten da erst die komplizierten Geräte verfügen? Und überhaupt war zu klären, wem die Bohnermaschine eine Nachricht übermittelt hatte, wenn dieses uralte Wrack unbewohnt war. Im Speisesaal angekommen, erwartete sie eine böse Überraschung. Durch die Tür, die auch die Mitglieder der EUKALYPTUS-Expedition benutzt hatten, drängten sich vier metallene Ungetüme in den Raum. Sie sahen wie achtbeinige Spinnen in Dackelgröße aus. Sie hatten keine Köpfe, wohl aber an der Vorderfront drei rötlich leuchtende Fotozellen. Im Grunde wirkten sie wie schwarze, etwas angerostete Tellerminen. Aber ungehindert des Rosts, der sich im Laufe der Zeit auf ihnen abgelagert hatte, bewegten sie sich erstaunlich flink voran. »Dadada«, flüsterte Ollie. »Zur anderen Tür!« befahl Harpo. »Dort, hinter dem Vorhang, schnell!« Sie ignorierten die Staubwolke, die sich auf sie hinabsenkte, als Alexander den Vorhang beiseite schob. Harpo warf sich gegen die Tür, aber sie klemmte. »Verflixt!« 260
Hinter sich hörte er Alexander erschreckt brummen. Der Rotpelz hatte sich neben Lonzo in Positur gestellt, trommelte mit den mächtigen Pranken gegen seine Brust und knurrte: »Abhauen, Eisendinger! Wer Freunde mein weh tut, kriegt was auf Birne!« Und Lonzo trompetete: »Alle Mann in die Boote! Jetzt geht's um Sein oder Nichtsein! Mein Skalp! Mein schöner, lockiger Skalp!« Er zitterte und bibberte, als hätte er eine Horde heulender Indianer vor sich. Ollie und Anca warfen sich neben Harpo mit aller Kraft gegen die schwere Tür und schrien: »Fest! Fest! Gleich haben sie uns!« Die spinnenähnlichen Neuankömmlinge stoppten plötzlich. Sie blieben im Halbkreis stehen, als berieten sie lautlos. Offenbar wußten sie mit den Eindringlingen nichts Rechtes anzufangen. »Na?« hörte Harpo Alexander sagen. »Angst gekriegt vor starkes Rotpelz, wie?« Lonzo blubberte: »Mast- und Schotbruch! Ich will ja nicht vorlaut erscheinen, Matrosen, aber wir haben uns da wohl in etwas verrannt, das, fürchte ich, so originell gar nicht ist.« Ächzend gab die Tür jetzt nach. Modriger Geruch schlug den rasch hindurchschlüpfenden Kindern entgegen. Totale Finsternis. Harpo drehte sich um. Noch immer standen die spinnenartigen Roboter da und betrachteten mit blitzenden Sehzellen die Kinder. Dann setzte sich die Leitspinne in Bewegung und lief zur Bibliothek hinüber. Die anderen folgten. Offenbar hatten sie überhaupt kein Interesse an den zähneklappernden Expeditionsmitgliedern, die nun erleichtert aufatmeten. Ein weiteres Spinnenkommando näherte sich und schleppte Kisten, die, gut einsehbar, staubige Bücher enthielten. »Hihihi«, kicherte Lonzo. »Was sind wir doch für dumme Hühner! Das sind Robot-Bibliothekare, die jetzt anrücken. Sie wollen die Bibliothek wieder in Ordnung bringen!« Daß er recht hatte, bewies das dritte Kommando, das bald nachfolgte. Es transportierte Metallregale. Alle verschwanden in der Bibliothek. »Dann waren die vier ersten wohl die Ingenieure, was?« fragte Harpo erleichtert. Erwischte sich verstohlen ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Trotzdem bin ich dafür, daß wir schleunigst das Weite suchen. Irgend etwas ist mir nicht geheuer. Oder kann mir vielleicht jemand verraten, wieso 261
die Roboter noch alle funktionieren, wenn angeblich niemand mehr da ist, der sie steuert?« »Wer hat denn überhaupt gesagt, daß das Wrack unbewohnt ist?« erkundigte sich Anca spitz. »Niemand. Wir haben es einfach angenommen.« »Ich möchte ja nicht arrogant erscheinen«, fügte Lonzo hinzu, während sie im Licht ihrer Handscheinwerfer den Nebenraum einer eingehenden Untersuchung unterzogen, »aber es kann durchaus Roboter geben, die sich selbst steuern — wie ... äh ...« Er brach ab, denn beinahe hätte er sich selbst als lebendes Beispiel dargestellt. Aber bevor Lonzo zugab, ein Roboter zu sein, hätte er sich eher die nichtvorhandene Zunge abgebissen. »Fies kalt hier«, hörte man Ollie quengeln. Und plötzlich: »Huch, was ist denn das?« Ehe Lonzo sich versah, hing der Kleine an seinem Hals und brüllte wie am Spieß. »Ich bin auf etwas Hartes getreten! Ein Gespenst!« »Gespenster sind doch luftdurchlässig«, spottete Harpo lachend und richtete einen Lampenstrahl auf die Stelle, an der Ollie eben noch gestanden hatte. Dann keuchte er entsetzt: »Mann - das ist ja ein Krokodil!« »Ein was?« fragte Alexander geschockt. Harpos Ausruf genügte jedenfalls. Ollie und Anca quietschten entsetzt. Harpo, der das Objekt, das in der Tat fatal einem Reptil ähnelte, nun voll anleuchtete, blieb gelassen. Mit aufgerissenem Rachen kauerte ein Tier vor ihnen. Es war etwa einen Meter lang und drachenähnlich. Es saß auf dem Rand eines großen, aus Pflanzenresten und G räsern zusammengesetzten Nestes, in dem drei riesige, goldgesprenkelte Eier glänzten. »Ein Saurier!« stöhnte Ollie, einer Ohnmacht nahe. »Er wird uns fressen!« »Quatsch mit Soße«, gab Harpo zurück. »Saurier sind Pflanzenfresser. Jedenfalls die meisten!« Der vermeintliche Saurier breitete kleine Schwingen aus, machte ein paarmal laut: »Chrrrr, chrrr, chrrr«, tat aber ansonsten nichts, was darauf hindeuten konnte, daß er den Fremden feindlich gesonnen war. Harpo wur262
de vielmehr den Eindruck nicht los, daß das kleine Ungeheuer sich ebenso vor ihnen fürchtete wie sie sich vor ihm. »Immer schön cool bleiben«, quäkte Lonzo. »Das hat auch Captain Kidd damals gesagt, als wir zusammen mit den Motorradrockern von San Francisco eine Tausend-Meilen-Rallye machten. - Wir haben nur ein Nest aufgestöbert. Würdet ihr etwa nicht grunzen, wenn fremde Piraten Anstalten machten, eure Küken zu rauben?« Die Kinder lachten. Nach allem, was sie bisher erlebt hatten, schien dieser Minidrache wirklich nichts Böses im Schilde zu führen. Täuschten sie sich, oder sahen sie wirklich so etwas wie Beruhigung in seinen Augen, als er zu seinem Nest zurückhoppelte und sich mit leisem Fiepen auf die Eier setzte? »Schon gut, Bürschlein«, sagte Ollie großmütig. »Wir wollen dir die Brut nicht klauen.« Vorsichtig schritt er als erster am Nest vorbei, dabei sorgfältig aus den Augenwinkeln auf die anderen schielend, ob sie seinen Mut auch entsprechend bewunderten. Der sitzende Minidrache war übrigens nicht der einzige, der sich in dieser Region aufhielt. Im nächsten langen Korridor wimmelte es nur so von kleinen Drachen. Auch hier wucherten Pflanzen, die die Expeditionsmitglieder behinderten. Hier lebten meist Jungdrachen, die kaum größer waren als Trompo und lustig wie Enten daherwatschelten. Nun sahen die Kinder die kurzen Stummelflügel der Reptilien zum erstenmal aus nächster Nähe. Einer der Drachen versuchte sich flatternd zu erheben, was ihm aber nicht gelang. Die Schwingen waren klein wie eine Handfläche und fast so durchsichtig wie Papier. Fachmännisch erklärte Harpo: »Die Flügel sind viel zu klein für diese putzigen Tiere. Möglicherweise sind sie degeneriert. Oder auch mutiert.« »Mu ... was?« fragte Ollie neugierig. »Was ist das?« Harpo warf sich in die Brust und erklärte, daß er diese Weisheit seinem Freund Thunderclap Genius verdanke. »Organismen, Menschen, Tiere und auch Pflanzen, verändern ihr Aussehen meist unter kosmischem Strahlenbeschuß, manchmal aber auch durch den Gebrauch falscher Medikamente. Das kann dann so weit gehen, daß sich der Enkel vom Opa so unterscheidet wie ein Ei von der Henne ... ähem.« Er räusperte sich stolz. »Im Grunde sind 263
auch wir, die wir auf der EUKALYPTUS leben, in gewisser Hinsicht mutiert.« Offenbar vermochten die kleinen Drachen mit der plötzlichen Scheinwerferhelligkeit wenig anzufangen. Lonzo führte das darauf zurück, daß sie wahrscheinlich bereits seit Generationen im Halbdunkel lebten und sich ihre Augen den Verhältnissen angepaßt hatten. »Aber wovon ernähren sie sich?« wollte Anca wissen. »Von dem Grünzeug hier? Das müßte doch bald ratzekahl abgefressen sein.« Die Antwort ergab sich einige Schritte weiter von ganz allein: Die Umgebung, ein Wirrwarr von Korridoren und kleinen Räumen, war so stark beschädigt, daß es Dutzende von Löchern und Spalten in den Wandungen gab, durch die die Tiere auch in andere Regionen vorstoßen konnten. Lonzos Scheinwerferstrahl, der einen der Gänge erhellte, zeigte in der Ferne einen üppig wuchernden, unter heller Beleuchtung liegenden Dschungel. Eben kam ungelenk watschelnd ein Jungdrache aus einem der Löcher. Im Maul trug er ein Pflanzenbüschel, auf dem er eifrig herumkaute. »Wir sollten uns noch auf allerlei Überraschungen gefaßt machen«, ließ Harpo verlauten, der die Gruppe nun anführte. »Lonzo, hältst du es für möglich, daß es hier auch gefährliche Raubtiere gibt?« Der Roboter stieß ein erschrockenes Schnauben aus. »Heilige Galaxis! Mal bloß nicht den Geist des Alls an die Wand. Das hätte uns nämlich gerade noch gefehlt, nach allem, was wir schon hinter uns haben. Na, hoffen wir das Beste. Ich habe jedenfalls nicht vor, als Schnitzel im Magen eines galaktischen Faglquurz zu enden!« Diese Antwort brachte auf der Stelle wieder Stimmung in die Runde. Wer hatte je von einem Schnitzel aus Metall gehört? Selbst die gefräßigsten galaktischen »Faglquurze« - was immer das sein mochte - würden ein solches nicht ohne Bauchschmerzen verdauen. Allmählich ließen sie das Reich der Drachen hinter sich. Die Nester - viele waren längst zerfallen - wurden seltener und hörten schließlich ganz auf. Der breite Korridor, durch den sie gingen, endete an einem großen Tor, das keinerlei Öffnungsmechanismen aufwies. »Was nun?« fragte Ollie säuerlich. »Tastet die Türfüllung ab«, riet Lonzo. »Irgendwo muß schließlich ein Öffner sein!« 264
»Und wenn sie durch Telepathie geöffnet wird?« fragte Ollie, dessen Patschhändchen bereits suchend über die Metallfläche glitten. Alexander lehnte mit seinem Hinterteil an der rechten Hälfte der Türfüllung, riß das Maul weit auf und ließ ein herzhaftes, urwüchsiges Gähnen hören, das, nachdem es im tiefsten Baß aller Zeiten angefangen hatte, beinahe im Ultraschallbereich endete. Die Tür sprang auf, als sei Alexanders Gähnen eine Art »Sesam-öffnedich«-Spruch gewesen. Und das war es wohl auch, wie Lonzo treffend ausdrückte. Der unsichtbare Öffnungsmechanismus reagierte nicht auf Knopfdruck, sondern auf eine bestimmte Tonlage, die man mit den Stimmbändern produzierte!
Die Weltraumfabrik Eine neue Welt tat sich vor ihnen auf. Ohne ihr Zutun schloß sich hinter ihnen das Tor wieder und wischte den wuchernden Dschungel von der Bildfläche, als habe es ihn niemals gegeben. Ein betäubender Lärm drang von allen Seiten her auf sie ein. Summen, Rasseln, Ticken und Klicken addierten sich zu einem Maschinenkonzert. Der Fußboden und die Schiffswände leiteten ferne Vibrationen weiter und kribbelten unter den Füßen. Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Weiße Lichtkaskaden duldeten nirgendwo auch nur den kleinsten Schatten. Die helle Flut leckte über einen Saal, der geradezu klinisch sauber erschien. Die Geräusche und Vibrationen gingen von Maschinen aus, die schnurgerade in langen Reihen den Raum ausfüllten. Trotz fremdartiger Bauelemente erkannten die Freunde sofort, daß es sich bei den schnurrenden und ratternden Maschinenblöcken um Automaten handelte. Einige waren so groß wie solide Einfamilienhäuser. Harpo und die anderen Kinder hatten solche Maschinen b ereits mehrmals gesehen - wenn im Filmsaal der EUKALYPTUS Lehrfilme über vollautomatisierte Fabriken auf der Erde gezeigt wurden. 265
Die Wirklichkeit war natürlich weitaus überwältigender. Für eine Weile rührte sich vor Staunen niemand vom Fleck. Die Luft war heiß und trocken. Und sie schmeckte nach Metall und Öl. »Igittigitt«, stöhnte Alexander und blähte seine Nüstern. »Ist ja wie ein stinkiges Maschinenraum!« Niemand mochte widersprechen. Scheu wanderten die Blicke über die Automaten, die rastlos ihren den Kindern noch unbekannten Funktionen nachkamen. Die Schutzverkleidungen verwehrten fast überall einen tieferen Einblick. Hier und dort sah man im Innern eines Schachtes oder Schlundes Metallschneiden gegeneinander hacken oder Greifer fassen. Alle Automaten waren durch verschiedene Röhren, halbkreisförmige Tunnel und farbige Kabel miteinander verbunden. Unter den Tunnelblechen rasselten Ketten und Fließbänder. Dieselben führten zu einer Schalttafel, die wohl zwanzig Meter hoch und dreißig Meter lang war. Tausende von Lämpchen leuchteten dort in Paaren, Ketten und ganzen Hundertschaften nacheinander auf und verloschen wieder. Sie gehorchten einem unbekannten Rhythmus. Über Skalen mit unverständlichen Beschriftungen rasten aus Leuchtpunkten zusammengesetzte Fieberkurven. Relais klickten, und wie von Geisterhand bewegte Hebel rasteten ein und wieder aus. Auf einem kleinen, rechteckigen Kontrollpunkt zuckten unablässig irgendwelche Tasten, gerade so, als würden unsichtbare Hände auf einer Reiseschreibmaschine schreiben. An einer anderen Stelle glitt ein Lochstreifen aus der Schaltwand heraus, produzierte ablaufend Symbole auf einem Bildschirm und verschwand wenige Zentimeter tiefer erneut hinter der Verkleidung. Anca entdeckte eine Maschine, die Ähnlichkeit mit einer Schildkröte besaß und sich lautlos - zumindest im Vergleich zu dem Krach ringsum - auf kleinen Rollen vorwärts bewegte. Ein langer Schlauch fuhr saugend über den blankgescheuerten Boden. »Ein Staubsauger«, meinte Harpo. »Ähnlich wie die Bohnerm aschine in der Bibliothek.« Ollie, der den Raumfahrerhelm hin und her klappte, um die stickige Luft immer m al wieder mit frischem Sauerstoff anzureichern, fragte verständnislos: »Und was machen die hier, die vielen Maschinen? Laufen die nur so vor sich hin oder wie oder was?« 266
Der Staubsauger ignorierte die Eindringlinge mit einprogrammierter Ruhe. Harpo rieb sich nachdenklich das Kinn. Der Kleine hatte recht! Was produzierten diese Maschinen eigentlich? Maschinen üben Funktionen aus, stellen etwas her. Es fiel schwer zu glauben, daß diese Maschinen nur den Zweck hatten, Lärm zu machen und Lämpchen auf einer Schalttafel in Bewegung zu halten. Daß die Maschinen entgegen ihrem ersten Eindruck vielleicht gar keine Fertigungsautomaten waren, sondern mit dem Antrieb des Wracks zu tun hatten, wollte niemandem einleuchten. Wo Raumschiffgeneratoren arbeiten, treten meist Strahlungen auf. Lonzo hätte sie längst gewarnt. Und die Fremden hätten es sicherlich verstanden, diese Räume so zu sichern, daß Unbefugte nicht ohne weiteres eindringen konnten. »Da!« rief Lonzo. In einiger Entfernung hatte sich ein Tor geöffnet, und ein Transportfahrzeug rollte herein. Die Köpfe der Kinder schnellten herum. Alexander schnupperte aufgeregt und stellte seine Bärenohren steil auf. Das Gefährt war so groß wie ein Personenkraftwagen. Es fuhr rückwärts an den Maschinenblock heran. Als die Ladefläche unter eine der Maschinenöffnungen glitt, tauchten verborgene hydraulische Greifarme auf. Sie griffen in das Loch hinein und stapelten in wahnwitziger Geschwindigkeit kleine Schachteln auf die Ladefläche. Neugierig näherten sich die Kinder. Ein bißchen mulmig war ihnen schon zumute, aber niemand zeigte seine Unsicherheit offen. Der Transporter hatte eine Art Fahrerkabine. Sie war leer. Lonzo lugte auf die Ladefläche, ließ dann blitzschnell zwei Tentakel vorschnellen und grapschte sich eine der Schachteln vom vordersten Stapel. »Potz Galaxis!« stöhnte er und tat entsetzt. »Ist die aber schwer!« Die straff gespannten Metalltentakel zeigten, daß Lonzo gar nicht so sehr übertrieb. Ächzend reichte er die Schachtel herum. Sie bestand aus einem silbrigen Metall. Harpo überwand als erster seine Scheu davor. Er faßte sich ein Herz und versuchte den Deckel hochzuklappen. 267
Theoretisch mußte das möglich sein, denn die Trennfuge zeigte deutlich, daß diese Metallschachtel kein massiver Block war. Eine Art Magnet bildete wohl den Verschluß. Harpo mußte beide Hände benützen, ehe es ihm gelang, den Deckel zu lüften. Alle reckten neugierig die Hälse, um in das Innere der Schachtel zu spähen. Aber alles, was sie sahen, waren kleine, fast durchsichtige, blauschimmernde Kügelchen. Welchem Zweck mochten sie dienen? Als Harpo eines der Kügelchen herausnehmen wollte, mußte er feststellen, daß dieses winzige Ding, nicht größer als eine Glasmurmel, zu schwer war für seine Fingerspitzen. Es wog mindestens zehn Pfund. »Das ... ist ... unglaublich!« stieß er hervor. »He, Lonzo, wie ist so etwas möglich?« Kopfschüttelnd sah er zu, wie Lonzo mit seinem dritten Tentakel den Dekkel wieder aufsetzte und die Schachtel an ihren Platz auf der Ladefläche zurückbugsierte. Eine Antwort auf Harpos Frage wußte er offenbar auch nicht. Die Greifer hatten die Ladefläche vollgepackt. Jetzt verharrten sie regungslos im Raum. Auf einem Instrumentenkasten, der seitlich an dem Gefährt angebracht war, leuchtete eine gelbe Lampe auf. Sofort setzten sich die Greifarme erneut in Bewegung. Sie tasteten über die Ladung, schnappten eine der Schachteln und schoben sie in die Maschine zurück. Dann setzte sich der Wagen summend wieder in Bewegung und verschwand auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war. Lonzo bemerkte die verblüfften Gesichter seiner menschlichen Freunde und meinte anzüglich: »Da gehen euch die Schuhe auf, was? Na, überlegt doch mal, was wohl der Grund für das Verhalten der Greifarme sein könnte!« »Der Wagen war überladen!« platzte Harpo heraus. »Sicherlich besaß er eine Wiegeeinrichtung in der Aufhängung. Das gelbe Licht signalisierte das Übergewicht - also wurde prompt abgeladen!« »Super-süperb!« lobte Lonzo. »Aber wie kann ein programmiertes Gehirn einen Wagen überladen, wenn es den Auftrag hat, ein bestimmtes Gewicht nicht zu überschreiten? Ich meine: Wir müssen ja wohl davon ausgehen, daß diese Anlage von einem Computer zentral gesteuert und kontrolliert wird«, fügte er hinzu. 268
Diesmal war Anca am schnellsten. »Ganz einfach«, sprudelte sie hervor und schob ihren Bruder zur Seite, bevor er mit seiner Kombinationsgabe glänzen konnte. »Die Schachtel! Du hast eine Schachtel geklaut ...« »Entliehen!« korrigierte Lonzo empört. »Dann eben entliehen. Auf jeden Fall verringerte sich dadurch das Gesamtgewicht der Ladung. Die Greifer luden eine zusätzliche Schachtel auf und entfernten sie wieder, als die ... äh ... geliehene Schachtel zurückgelegt wurde.« »Formidable, wie Captain Kidd zu sagen beliebte«, lobte Lonzo und drückte das Mädchen gegen seine kalte Metallbrust. »Das heißt 'ausgezeichnet'. Pummelchen, du bist ein Schatz!« Anca freute sich so sehr über das Lob, daß sie sogar vergaß, gegen den Ausdruck Pummelchen zu protestieren. Ollie hatte mit offenem Mund zugehört. »Du bist ja richtig intelligentuell oder wie das heißt«, äußerte er schließlich bege istert. Alexander kratzte nachdenklich an seiner Nase herum und überlegte dabei, wie kompliziert doch alles geworden war, seitdem er seine Heimatwelt Nordpol verlassen hatte. Dort genügte es, wenn man ein Paar fixe Hände hatte, um die dicksten Fische zu greifen und in den Iglu zu tragen. »Alexander eines Tages auch viel intelligentuell«, meinte er zuversichtlich. Niemand lachte, obwohl Alexander natürlich »intellektuell« meinte. Er hatte mit seinem Lerneifer schon öfter Staunen hervorgerufen. Die Frage, weshalb diese seltsamen Murmeln derartig schwer waren, beschäftigte die gesamte Expedition. Lonzo befragte seine klugen Speicherbänke und kam zu der Lösung, es müsse sich um ein künstliches, überschweres Element handeln, das mit nichts auf der Erde Bekanntem vergleichbar war. Was man aber konkret mit Superschweren Murmeln anfangen konnte, wußte selbst Lonzo den anderen nicht zu sagen. Schwatzmaul konnte man nicht fragen. Die Funkverbindung zur EUKALYPTUS war sowohl über die Funksprechgeräte wie auch über Lonzos eingebauten Sender von Dauerstörungen überlagert. In der nächsten halben Stunde geschahen noch weitere seltsame Dinge in der Fabrikhalle. In regelmäßigen Abständen tauchten andere Transportfahrzeuge auf, um die Schachteln mit den schweren Kugeln a bzuholen. Und der 269
programmierte Staubsauger bewegte sich rastlos zwischen den Automaten. Einmal versuchte er sogar, Lonzos Metallfüße zu säubern, was ihm aber nicht gelang, weil dieser erschrocken das Weite suchte. Ansonsten wich die putzwütige Schildkröte stets respektvoll aus, wenn ihr die Eindringlinge in die Quere kamen. Plötzlich fiel eine der geräuschvollen Maschinen aus, was e inen winzigen Wagen auf den Plan rief, der Ähnlichkeit mit einem Werkzeugkasten auf Raupenketten hatte. Er zischte auf das verstummte Produktionsgerät zu und klappte sich auf. Greifarme kamen zum Vorschein, betasteten eine Platte am Fuß der großen Maschine und schraubten sie ab. Die Greifer langten in ein Gewirr von Kabeln und fischten zielsicher ein verschmortes Schaltelement heraus. Ein anderer Greifer schwenkte bereits mit einem Ersatzteil heran. Alexander hatte sich neugierig genähert. Als er jetzt noch einen weiteren Schritt tat, gab der Werkzeugkasten ein kreischendes Geräusch von sich. Gleichzeitig leuchtete ein Blinklicht an der Rückfront auf, das erst wieder erlosch, als Alexander sich ein paar Schritte entfernte. Zweifellos hatte der Werkzeugkasten etwas gegen neugierige Zuschauer. Alexander trat total verunsichert den Rückzug an. Am anderen Ende der Halle wurden keine Kugeln produziert. Vielmehr nahmen die Transportwagen an diesen Maschinen würfelartige Gegenstände auf. Sie benötigten dafür auch keine Greifer, sondern fuhren trichterähnliche Aufbauten unter die Fertigungsanlage. Die Ladung prasselte in die Trichter. Erneut entnahm Lonzo eine Probe. Was nach Stahl ausgesehen und beim Aufschlagen auch so geklungen hatte, erwies sich als festes, aber watteleichtes Produkt. Diese Würfel hatten außerdem noch andere Eigenschaften, was sich augenblicklich zeigte. Lonzos Gelenke begannen plötzlich zu krachen. Funken stoben aus seinen Sehlinsen. Erschrocken fuhren Harpo, Anca und Ollie zusammen. Alexander legte brummend die Tatzenhände vor die Augen. Lonzo leuchtete jetzt wie eine Glühbirne. Sein Körper strahlte eine derartige Hitze aus, daß die Freunde zurückweichen mußten. »Lonzo!« brüllten Harpo und Ollie wie aus einem Mund. »Weg mit dem Ding! Schnell! Wirf es weg!« 270
Es schien, als würde der Roboter aus einem Trancezustand erwachen. Seine Tentakel peitschten durch die Luft, seine Brustklappe sprang klikkend auf, und seine Innereien wurden sichtbar. Dann gewann er die Kontrolle über seinen Mechanismus zurück. Er warf den unheimlichen Würfel mit einer ruckartigen Bewegung in den Trichter zurück. Ein starkes Vibrieren ging durch seine Metallbeine. Offensichtlich hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Benommen schnarrte er: »Das ... war ... phantastisch!« Ein dünner Rauchfaden ringelte sich aus seiner Brustöffnung, schließlich puffte sogar eine dicke schwarze Qualmwolke hinterher. Lonzo schwankte, als bestünden seine Beine aus Gummi. Mit einer rührenden menschlichen Gebärde faßte er sich an den stählernen Schädel. »Lonzo ...«, flüsterte Harpo, dessen Nasenspitze ganz blaß geworden war. »Ist dir etwas passiert? Fehlt dir etwas, alter Junge?« Seine Stimme klang besorgt, und auch den anderen war der Schreck in die Glieder gefahren. Dem guten Lonzo durfte einfach nichts Ernsthaftes passiert sein! Alle atmeten auf, als Lonzo plötzlich einen Luftsprung machte und schrie: »Es war ungeheuer, Freunde! Ungeheuer, sage ich euch! So etwas habe ich nicht mehr erlebt, seit ich damals auf dem Roa-Roa-Atoll gemeinsam mit Captain Kidd ein ganzes Faß Nähmaschinenöl aussoff! Hoho!« Übermütig begann er zu tanzen und zu singen. Das alte Piratenlied »Vierzehn Mann auf des toten Mannes Kiste« hatte viele Strophen. Harpo, Anca, Ollie und Alexander blickten sich erst blaß, dann erleichtert und schließlich ratlos an. »Lonzo«, hauchte Anca entsetzt. »Lieber, guter Lonzo, was ist bloß in dich gefahren? Du führst dich ja auf, als hättest du das große Los gezogen!« »Hab' ich auch, hab' ich auch!« Lonzo brach seine Darbietungen ab und berichtete ganz sachlich, was ihm widerfahren war, als er den Würfel berührt hatte. Ein gewaltiger Energiestoß war durch seinen Körper gefegt. Er hatte sich gefühlt wie der sagenhafte Riese Goliath, dessen Vater und Großvater in einer Person. Leider waren seine stromführenden Teile solchen Energiestößen nicht gewachsen. Begeistert klopfte Lonzo Harpo auf die Schulter und sagte: »Diese Würfel sind nichts anderes als genial konstruierte Energiespeicher. Ich möchte wet271
ten, daß man mit einem einzigen dieser Dinger ein Raumschiff wie die EUKALYPTUS zehn Jahre lang mit Energie versorgen kann, Antrieb eingeschlossen.« »Klasse!« rief Harpo. »Stellt euch das mal vor! Wir werden nie Energieprobleme haben, nicht einmal in hundert Jahren! Mensch, wir müssen unbedingt ein paar Dutzend dieser Dinger mitnehmen!« »Und wer soll die tragen?« erkundigte sich Anca. »Ich sehe schon, wie Ollie die Würfel nimmt und derart aufgeladen wird, daß er mit einem einzigen Satz zur EUKALYPTUS zurückspringt — womöglich noch ohne Raumanzug.« »Och«, kommentierte der Kleine ganz gelassen. »Ihr habt ja bloß Schiß, daß ich kräftiger werde als ihr alle zusammen. Stimmt's?« »Ojeoje«, jammerte Lonzo. »Das ist wirklich ein Problem. Tragen darf die keiner von uns. Selbst mir kam es vor, als würde ich in tausend Teile gerissen. Aber sicherlich ...« Ollie schluckte mehrmals heftig, dann hatte er seine Stimme wiedergefunden. »Da-da-da-das«, stotterte er mit weit aufgerissenen Augen, »kö-kökönnten wir auch so haben!« Er zeigte auf etwas, das den anderen während der Unterhaltung entgangen war. Eine riesige Maschine bewegte sich drohend auf sie zu und schickte sich an, die Eindringlinge zu zermalmen ...
Raumgeister Das Ungetüm, das eine vage Ähnlichkeit mit einer Dampfwalze aufwies, entpuppte sich beim Näherkommen glücklicherweise doch als etwas schwerfälliger, als sie auf den ersten Blick angenommen hatten. Harpo, Anca, Ollie, Alexander und Lonzo rannten sofort in alle vier Windrichtungen, als sie die Gefahr erkannten. Dieses Auseinanderlaufen schien für den Moment die allerbeste Lösung zu sein. Die Maschine stoppte und summte zornig. Sie schien aus dem Konzept gebracht zu sein und drehte sich langsam und sichtlich ziellos im Kreis herum. Der Motor spuckte mehrmals und setzte dann völlig aus. 272
Die Flüchtlinge lugten aus ihren Verstecken hinter den Maschinenblöcken hervor. Schließlich kamen sie vorsichtig näher, immer auf der Hut vor weiteren Attacken. Flüsternd berieten sie, was diese unerwartete Rettung zu bedeuten hatte. Mußte man einen neuerlichen Angriff einkalkulieren, oder war das nichts weiter als ein Kurzschluß? Natürlich hielt Lonzo, der Schlaumeier, nicht lange mit seiner Meinung zurück: »Es war ein Kurzschluß«, behauptete er. Und als die anderen vorsichtig protestierten, schnarrte er weiter: »Kurzschluß! Kurzschluß! Die Robotergesetze verbieten einer selbstdenkenden Maschine einen Angriff auf Menschen. Ganz einfach also! Kurzschluß!« »Die Roboter- was?« krähte Ollie. »Jungejunge! Haben die eigene Gesetze? Und eigene Richter? Und Schöffen? Und ein Roboter-Gesetzbuch?« »Es gibt nur drei Robotergesetze«, erklärte Harpo, der sofort begriff, worauf Lonzo hinauswollte. »Sie wurden bereits im zwanzigsten Jahrhundert von einem gewissen Doktor Asimov gemacht.« »Was der alles weiß!« rief Lonzo staunend, aber auch ein bißchen in seiner Eitelkeit gekränkt, weil ihm jemand zuvorgekommen war. »Jetzt laßt aber mal Captain Kidds Vertrauten erzählen. Das ist nämlich so: Paragraph eins besagt, daß kein Roboter einen Menschen schädigen oder durch Untätigkeit zulassen darf, daß ein Mensch Schaden nimmt. Nach Paragraph zwei muß jeder Roboter immer allen menschlichen Weisungen Folge leisten, mit Ausnahme von Weisungen, die gegen Paragraph eins verstoßen. Und in Paragraph drei ist festgelegt, daß sich jeder Roboter selbst vor Schaden zu bewahren hat oder aufgetretene Schäden beheben muß, es sei denn, daß er damit gegen Paragraph eins oder Paragraph zwei verstößt.« »Komische Gesetze«, meinte Ollie. »Kann ich mir gar nicht denken, daß die wirken. Nicht mal der olle Moses kam mit nur drei Geboten aus. Und seitdem ist die Welt noch viel komplizierter geworden.« »Und woher sollen unsere unbekannten Roboter-Konstrukteure Doktor Asimov gekannt haben?« fragte Anca lachend. »Na, auf jeden Fall hält es Lonzo auch nicht so genau mit seiner Gesetzestreue«, fuhr der kleine Oliver fort. »Er hätte sich todesmutig der Walzmaschine in den Weg werfen müssen, um uns zu retten. Klar, wir hätten ihn natürlich daran gehindert, weil Lonzo unser Kumpel ist. Aber versuchen hätte er es müssen, gell? Von wegen 'Untätigkeit' und so in Paragraph eins ...« 273
»He, du kannst ja plötzlich logisch denken«, äußerte Harpo anerkennend. »Ha!« schrie Lonzo. »Wicht! Elender! Klabautermann! Hat denn vielleicht einer von euch bei diesem Zwischenfall Schaden genommen, he?« Er versuchte seiner Stimme einen besonders strengen und verärge rten Ton zu geben, was ihm aber nicht gelingen wollte. »Und das kommt nämlich daher, daß ich Paragraph eins exakt befolgt habe. Mein Beispiel hat euch gezeigt, daß Flucht das einzig Richtige war. Und so habe ich euch alle gerettet ...« Harpo konnte sich nur mühsam ein Grinsen verkneifen. Anca platzte mit ihrem Kichern laut heraus. »Hättest du nach Paragraph drei nicht den ... nun ja, den Defekt an deinem Gehirn reparieren müssen? Ich meine damals, als du dich auf unsere Seite geschlagen hast und nicht länger den Befehlen der ursprünglichen Besatzung gehorchtest?« fragte sie schließlich. »Schnickschnack«, knurrte Lonzo. »Erstens hat Lonzos Gehirn niemals Schaden genommen. Und zweitens nützte euch dieser Schaden gemäß Paragraph eins. Und da Paragraph eins über Paragraph drei geht ...« Er unterbrach sich selbst. »Ihr habt mich aufs Glatteis geführt! Was habe ich überhaupt mit diesen Problemen zu tun? Bin ich etwa ein Roboter? Schon meine prächtigen Locken und die schönen rehbraunen Augen beweisen das Gegenteil!« Jetzt brach prustendes Gelächter los, und anschließend stoben wieder alle auseinander. Dieses Mal auf der Flucht vor Lonzo, der mit einem wilden Piratenschrei seiner Empörung Luft machte. Helles Gelächter und ausgelassenes Gekreische ersetzten einige Minuten lang den streng wissenschaftlichen Charakter der Expedition. Nach einer Weile meinten alle, daß es Zeit sei, die Fabrikationshalle zu verlassen, zumal ja am Ende des Saales eine weitere, noch nicht n äher inspizierte Tür wartete. Unbehindert marschierten sie zur Tür, die sich bereitwillig für sie öffnete. Aber dahinter lag nichts weiter als eine zweite Produktionsstätte, die sich nur in kleinen Details von der ersten unterschied. Die gefertigten Produkte sahen ganz anders aus. Die Freunde machten sich dieses Mal nicht die Mühe, sie näher zu untersuchen. 274
Eine dritte Halle schloß sich an. Sie war noch wärmer und trockener als die anderen. Hinter einem dick verglasten Sichtfenster sah man flüssiges Metall. Offenbar wurden hier die Rohprodukte geschmolzen und so weit aufbereitet, daß sie in den anderen Hallen weiterverarbeitet werden konnten. Säulenartige Roboter auf Raupenketten schafften von irgendwoher Behälter herbei und schütteten deren Inhalt in die Schmelzanlage. Von der Expedition nahmen sie nicht die geringste Notiz. Eigentlich hatten sich die Kinder - schon wegen der Hitze - hier nicht lange aufhalten wollen, aber als Harpo aus einer Laune heraus auf ein Podest kletterte und von dort aus zufällig in einen herbeigeschafften Behälter sehen konnte, stieß er einen überraschten Schrei aus: »Das darf doch nicht wahr sein! Die schmelzen alles wieder ein, was in den anderen Hallen produziert wurde!« »Potz Galaxis!« stieß Lonzo hervor. »Ja, ist das denn die Möglichkeit!« »Ist sich natürlich absurd«, äußerte sich Alexander nachdenklich. »Aber was weiß Alexander, wie lange verrückte Maschinen schon produzieren verrücktes Zeug? Wahrscheinlich Lager längst voll und Rohstoffe alle. Also wieder schmelzen Lagervorräte. Verrückt, aber logisch verrückt!« »Psst«, zischte Ollie plötzlich. »Da war etwas!« War das nur Einbildung, oder hatte sich wirklich am Eingang eine G estalt bewegt? Soweit man sehen konnte, stand in der Nähe der Tür nur ein würfelförmiger, fahrbarer Tisch. Der Tisch hatte Einbuchtungen, in dem Flaschen steckten. Nichts Ungewöhnliches. »Verdammt!« schimpfte Ollie. »Ich bin ganz sicher, daß sich drüben etwas bewegt hat! Ganz sicher!« Aber nichts rührte sich. Ollie mußte sich getäuscht haben. Dennoch waren sie wieder wachsam. Dicht beieinanderbleibend verließen die Freunde die Halle und fanden sich in einem Korridor wieder. Links und rechts des Ganges befanden sich durchsichtige Kunststoff platten mit elektronischen Bauelementen dahinter. Der Krach aus den Fabrikationshallen wurde leiser, die Hitze ließ nach. Die Luft blieb trocken, aber sie roch nicht mehr nach öl und heißem Metall. 275
Nur der Boden vibrierte noch immer vom fernen Hämmern der Maschinen. Man konnte sich wieder mit normaler Lautstärke unterhalten und vernahm deutlich die Geräusche der eigenen Schritte. Und dann fiel Anca ein leises Quietschen auf. Hinter ihnen! »Stopp!« zischte Harpo. Er hatte es auch gehört und fuhr auf dem Absatz herum. Gerade noch bemerkte er eine Bewegung am ändern Ende des Ganges, dort, wo er eine Biegung machte. Etwas war ihnen gefolgt und verbarg sich hastig vor ihren Blicken. Es lauerte hinter der Biegung. Man konnte sogar e inen Schatten erkennen, der in den gut ausgeleuchteten Gang fiel. Der Schatten aber war derart bizarr verzerrt, daß man keine Rückschlüsse auf das Aussehen des Verfolgers ziehen konnte. Harpo legte einen Finger an den Mund und schlich auf Zehenspitzen den Weg zurück. Alexander wollte etwas sagen, aber Lonzo warnte ihn rechtzeitig. Als Harpo die Biegung erreicht hatte, hielt er gebannt den Atem an. Worauf hatte er sich nur wieder eingelassen! Sein Herz klopfte bis zum Hals. Aber jetzt, so nahe am Ziel, wollte er auf keinen Fall umkehren. Er holte noch einmal tief Luft - und streckte den Kopf um die Ecke. Der Gang war leer. In einiger Entfernung stand nichts weiter als ein fahrbarer Tisch mit verschiedenen Flaschen. So einen hatten sie vorhin schon gesehen. Etwas verunsichert kehrte Harpo zurück und berichtete. Alle fühlten sich unbehaglich, aber nach kurzer Beratung wurde der Weg fortgesetzt. »Und es ist doch jemand hinter uns!« behauptete Ollie nach einer Weile mit trotziger Stimme. »Ich will einen Spaziergang auf der Außenhaut dieses ollen Wracks machen - und zwar ohne Raumanzug -, wenn uns nicht ein Spion auf den Fersen sitzt!« Niemand widersprach, denn alle hatten das gleiche merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Es war unheimlich, richtig gespenstisch. Kein Wunder, daß Ollie plötzlich ausrief: »Klar doch, Gespenster! Es sind Raumgeister, die uns verfolgen. Geister sind doch nahezu unsichtbar, das weiß jeder!« 276
Anstelle eines wilden Gelächters kamen nur ein paar müde Proteste. War es wirklich so unwahrscheinlich, was der Kleine da sagte? Immerhin befanden sie sich an Bord eines fremden Raumschiffs, und niemand hatte sie eingeladen. Harpo versuchte die Geistergedanken zu verscheuchen, aber er wurde das dumme Gefühl nicht los, daß sie an Bord dieses alten Raumschiffes nicht willkommen waren. Vielleicht gab es hier irgendwo ein Wesen, das sie nicht dulden wollte. Unwillkürlich fiel ihm wieder die kurzgeschlossene Maschine ein. Ob Kurzschluß oder nicht - sie hatte angegriffen! Ollie ließ sich nicht bremsen. Nun war er in seinem Element. Geister waren sein Spezialgebiet. Er redete und redete, bis sich selbst bei Alexander der Pelz sträubte. Lonzo machte dem Gerede schließlich ein Ende. »Hat man denn so was schon gesehen? Erfahrene Raumfahrer fürchten sich vor Weltraumgespenstern! Was würde Captain Kidd wohl dazu sagen? Und überhaupt weiß man doch, daß all die haarsträubenden Gespenstergeschichten nur dazu die nen, um Kinder zu erschrecken und sie aus Angst zum Gehorchen zu bringen.« Seine Worte wirkten, zumindest auf Harpo und Alexander. Sie warfen sich in die Brust und musterten herausfordernd ihre Umgebung. Ganz anders reagierte Ollie. Er klammerte sich an Ancas Arm und zeigte den Gang hinab. »D-d-da!« stieß er mühsam hervor. »Ich habe doch recht gehabt. Der Fürst der Geisterwelt läßt sich euren Unglauben nicht länger gefallen!« Dieses Mal waren die Expeditionsmitglieder schneller als der Verfolger. Er konnte sich nicht rechtzeitig zurückziehen. Harpo fiel es wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Der Verfolger war niemand anderes als der fahrbare Tisch mit den Flaschen, der ihnen schon in der Halle aufgefallen war! »Ha!« dröhnte Lonzo und setzte sich in Bewegung. »Bleib stehen, Schurke, und stelle dich dem Feind!« Der Tisch drehte sich und wollte davonrollen, als Lonzos Tentakel nach ihm züngelten. Er summte wütend, aber dann hatte ihn ein Greifarm erwischt und ließ ihn nicht mehr los. Das Ding war stärker, als Lonzo vermutet hatte. Er mußte sich mit aller Kraft dagegenstemmen, als der Tisch seine Motoren zur Höchstleistung 277
aufjaulen ließ. Und er besaß Verteidigungswaffen! Ein winziger Greifarm richtete eine gefüllte Flasche auf Lonzo und sprühte ihn von oben bis unten mit einer unter Druck stehenden, klebrigen Flüssigkeit ein. Als Lonzo dennoch festhielt, warf der Greifarm mit kleinen Würfeln, die zweifellos aus Eis bestanden. Und schließlich schleuderte er sogar seine Flaschen gegen Lonzo. Eine Flasche zerschellte klirrend an Lonzos Kopf. »Na warte!« knurrte Lonzo erbost. Im Nu hatte er seine beiden restlichen Tentakel um die Laufräder des Gegners geschlungen und hob den Tisch hoch. Ein schrilles Heulen zeigte an, daß der streitbare »Servierwagen« von diesem Vorgehen nicht sehr erbaut war und sich geschlagen geben mußte. Lonzo kannte kein Pardon. Er legte den Tisch auf die Seite, was ihn recht hilflos machte, und ging seelenruhig daran, eine Platte abzuschrauben, hinter der er den Steuermechanismus vermutete. Lonzo führte seine geöffnete Brust, in der sich ein Arsenal verschiedenster Werkzeuge befand, an den Gegner heran und hatte bald sein Ziel erreicht. Als er in das Innere des Wagens griff, drang jedoch urplötzlich ein dicker Ölstrahl hervor, traf Lonzos Füße und brachte ihn ins Rutschen. Der Tisch nutzte seine Chance sofort, kippte mit einem Ruck auf die Räder zurück und raste fort, als sei der Teufel hinter seiner schwarzen Maschinenseele her. Überall in dem fremden Raumschiff erwachten in diesem Moment Alarmklingeln zum Leben.
Gewissenskonflikte Wer bisher noch gezweifelt hatte, mußte nun endgültig zur Kenntnis nehmen, daß dieses Geisterschiff wieder zum Leben erwacht war. Erschrocken stellten die Kinder fest, daß es an Bord mehr bewegliche Einheiten gab, als sie je gedacht hatten. Türen öffneten und schlössen sich, Scheinwerfer blitzten an der Decke auf und machten die helle Beleuchtung noch gleißender. Und aus verborgenen Lautsprechern drang ein unentwirrbares Gemurmel, als sei ihnen eine Meute wütender Wachsoldaten auf der Spur. 278
Harpo war gerade noch in der Lage, einen lauten Warnschrei auszustoßen, als die ersten maschinellen Angreifer aus allen möglichen und unmöglichen Winkeln hervorstießen und auf sie zueilten. »Bloß weg hier!« schnarrte Lonzo. »Dieses Viertel wird zu ungemütlich für uns!« Er stolperte über einen Staubsauger, der mit seinem Saugarm herumfuchtelte, kam aber wieder auf die Beine. Knurrend brachte er seine Tentakel in Kampfposition. Immerhin waren sie kräftig genug, um mit einem einzigen Schlag die Antennen des Gegners zu zerstören. Anca und Harpo flohen in einen Nebengang, liefen dort aber einem Monstrum direkt vor die breitflächigen Schaufeln. Dabei machten sie eine eige nartige Erfahrung. Die Maschine wäre in der Lage gewesen, sie ernsthaft zu verletzen wenn sie sofort und präzise nach Art einer perfekten Maschine reagiert hätte. Tatsächlich zischte sie erst mal drohend - und zögerte selbst dann noch mit dem Angriff, als die Geschwister nicht zurückwichen. In diesem Moment war Alexander zur Stelle. Er schob die Maschine mit bärenhafter Stärke zur Seite, als sei sie nichts weiter als ein lästiger Hampelmann. Und wieder konnte man beobachten, daß der Apparat sich nicht so wehrte, wie es ihm sicherlich möglich gewesen wäre. Alexander nutzte den Vorteil, hieb mit seiner Pranke auf ein Sortiment von Schaltknöpfen an der Brust der Maschine und brachte sie augenblicklich zum Erstarren. »Wartet auf mich!« krähte Ollie, der von einem einrädrigen Turm verfolgt wurde. Gerade als er mit einem Satz schutzsuchend auf Alexanders Arme sprang, worauf dieser benommen zu Boden ging, bremste der balancierende Turm jäh ab, drehte sich wie irre im Kreis und fiel dann um. Nun fehlte nur noch Lonzo. Er hatte sich gerade aus der Umschlingung feindlicher Greifarme befreit und rief: »Rennt weiter! Die Richtung ist gut. Die Hauptstreitmacht der Klapperatismen ist hinter uns!« Mit riesigen Sätzen eilte er hinter den Kindern her. Sie wetzten mit hämmernden Pulsen und pfeifenden Augen den freigekämpften Gang entlang. Gelegentlich mußten sie plötzlich aufgehenden Türen ausweichen. »Mann!« stöhnte Harpo nur mal so zwischendurch, als er Luft holte. Das sah ja tatsächlich so aus, als hätte ihr unbekannter Gegenspieler zu einem ultimativen Schlag gegen die ungebetenen Besucher ausgeholt. 279
Der Gang endete an einer Treppe, die steil in die Tiefe führte. Das war ein Geschenk des Himmels. Gleichzeitig mehrere Stufen auf einmal nehmend, flitzten sie hinab und machten erst Halt, als sie ein großes Stück zurückgelegt hatten, ohne behelligt worden zu sein. Sie waren froh, daß die Bodyskin-Anzüge so flexibel waren und eng am Körper anlagen. Auch die herabgeklappten Helme störten kaum beim Laufen. Mit den klobigen Anzügen der früheren EUKALYPTUS-Besatzung hätten sie nie im Leben so flink sein können. »Uff«, machte Ollie. Er hatte immer noch Angst. »Das sind aber vielleicht fiese Gespenster!« »Hihi«, kicherte Lonzo und zeigte schadenfroh auf ein gutes Dutzend von Apparaten, die sich am obersten Treppenabsatz anscheinend ratlos versammelt hatten. Räder und Raupenke tten sind nun mal nicht die besten Mittel, um eine Treppe zu bezwingen. Wohl dem, der Füße hat. Die meisten Maschinen registrierten, daß eine weitere Verfolgung unmöglich geworden war, und zogen sich zurück. Bloß der lästige Getränkewagen reagierte anders. Vielleicht war es ihm auch nur unmöglich, rechtzeitig zu bremsen. Auf jeden Fall kam er polternd die Treppe herab, überschlug sich mehrmals und schlitterte dann, mehr rutschend als fahrend, der Expedition entgegen. »Vorsicht!« schrie Harpo. »Aus dem Weg!« Gleichzeitig riß er seine Schwester zur Seite. Die anderen konnte er nicht mehr erreichen. Erleichtert bemerkte er, daß sich auch Ollie, Alexander und Lonzo reaktionsschnell aus der Bahn der irren Maschine geworfen hatten. Es krachte und schepperte, dann war die Blechlawine an ihnen vorbei. »Krackkrackkrack!« machte es. Der Angreifer purzelte mit ständig wachsender Geschwindigkeit noch weitere fünfzig Stufen hinab und donnerte dann gegen eine Wand. Es gab einen Knall wie bei einer Explosion, dann herrschte Ruhe. Nur ein bißchen Rauch bahnte sich von der Aufprallstelle aus seinen Weg nach oben. »Das wäre beinahe ins Auge gegangen«, flüsterte Anca. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Sie deutete auf das Wrack am Fuß der Treppe. »Ist sie kaputt, Harpo?« 280
Ehe der Bruder in der Lage war, ihr zu antworten, hatte sich Ollie bereits auf das Treppengeländer geschwungen und rutschte in altbewährter Raumfahrermanier nach unten. Alexander folgte ihm auf dem gleichen Weg, freudig brummend. Harpo nahm Anca bei der Hand und eilte hinterher, verzichtete zwar auf die Rutschpartie, nahm aber immer zwei Stufen auf einmal. Allein Lonzo stolzierte gemessenen Schrittes die Treppe hinab. »Die Motoren sind hin«, stellte er fest, als er die Einzelteile des Getränkewagens untersuchte. »Auch eine Menge Kabel sind zerrissen. Schade, mein Sparringpartner ist so schnell zu ke inem kleinen Ringkampf mehr fähig!« »Argl, argl, argl«, kam es leise von irgendwoher. »Hast du etwas gesagt?« fragte Anca und blickte den Rotpelz beunruhigt an. »Ich?« Alexander deutete mit beiden Zeigefingern auf seinen runden Bauch. »Ist Alexander vielleicht Jahrmarktswunder, was reden mit Bauch, he?« »Kann ja sein, daß du einfach nur ein bißchen Hunger hast«, meinte Harpo anzüglich. »Argl, argl ...«, ertönte es wieder. »Alexander ist es nicht!« rief Ollie triumphierend. »Es kam aus der Maschine!« Harpo hatte ebenfalls den Eindruck gewonnen, daß das Geräusch von dem demolierten Tisch erzeugt wurde. Nachdem ersieh überzeugt hatte, daß ihm keine Gefahr drohen konnte, beugte er sich über den Blechkasten. Ein Gitternetz an der Seite sah vielversprechend aus. »Der Translator!« rief Harpo aus, als die Geräusche wieder zu vernehmen waren. Sie kamen tatsächlich aus dem Gitter. Er hob seinen rechten Arm und führte ihn ganz nahe an die Stelle heran. Er war froh, daß er das armbandgroße Übersetzungsgerät über den Raumanzug gestreift hatte. Jetzt mochte es sich als wertvoll erweisen. Die kleine Maschine, ein Erzeugnis der Galaktischen Mediziner, war ein Wunderwerk der Miniaturtechnik. Der winzige Computer konnte in Minutenschnelle eine Sprache analysieren und dann übersetzen, wenn man ihm Gelegenheit gab, genügend viele Ausdrükke zu speichern. 281
Nach knapp zwei Minuten wurde das scheinbar stereotype »Argl, argl« vom übersetzten Text des Translators überlagert: »Klick ... setzen aus. Funktionen setzen aus. Funktionen setzen aus. Funktionen setzen aus ...« »Kannst du mich verstehen?« fragte Harpo, was der Translator in ein artiges »Argl, argl« übersetzte. Die Antwort kam rasch: »Verstehe. Verstehe. Verstehe. Gefahr für euch. Gefahr für euch!« Harpo schluckte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Es funktionierte. Vielleicht würden sie jetzt endlich erfahren, was sich auf diesem Geisterschiff abspielte. »Was sind das für Gefahren?« fragte er. »Warum greift ihr uns an? Wem haben wir etwas getan? Wir sind nichts weiter als friedliche Forscher. Wir wollen gar nichts von euch!« »Angreifen ...«, rasselte der Translator nach einer Weile und übersetzte damit die Worte der demolierten Maschine. »... Angreifen ist verboten. So will es die Schaltung. Angreifen! So will es die andere Schaltung. Angreifen nicht angreifen - angreifen - nicht angreifen! Kurzschluß! Kurzschluß! Widersprüchliche Befehle ...« Ein leises, hohes Summen schien darauf hinzudeuten, daß der Maschine nicht mehr viel Zeit für diesen Dialog blieb. Aber sie schien noch einmal alle ihr zur Verfügung stehenden Restenergien zu sammeln, um den wichtigsten Teil einer Botschaft weiterzugeben. »Befehl lautet: Vernichtet die Eindringlinge! Schaltung sagt: Nicht angreifen! Doch Multivac ...« »Wer ist Multivac?« fragte Lonzo schnell. Als Antwort kam zunächst ein Knacken, dann eine kleine Stichflamme aus dem Gitter. Ende! Aber der Translator setzte sich noch einmal in Bewegung. Ob seine Sensoren so besonders hellhörig oder in dem Knacken Informationen gespeichert gewesen waren, ließ sich nicht ermitteln. Die letzte Botschaft des Servierwagens bestand aus einer unverständlichen Zahlenreihe. Schweigen. Harpo schaute die anderen an, die verstört um ihn herumstanden. Ancas Augen signalisierten Angst. Ollie biß sich mutig auf die Unterlippe, aber die Art, wie er seine Finger knetete, zeigte deutlich, wie nervös 282
er war. Alexander bleckte sein Bärengebiß und fuhr sich mit der langen, roten Zunge über die Nase. Nur Lonzo sah man nicht an, was er dachte. In seinem Innern klickte und ratterte es so laut und schnell, daß Harpo schon befürchtete, der metallene Freund würde sich in Rauch und Flammen auflösen. »Ich glaube«, sagte der kleine Roboter schließlich, während seine Metallgreifer die Schultern von Ollie und Anca umschlangen, »wir sind der Lösung des Problems einen Riesenschritt nähergekommen!« Erstaunte Gesichter sahen ihn an. »Tatsächlich?« brummte Alexander erfreut. »Ja. Erinnert ihr euch, was ich euch über die Robotergesetze gesagt habe?« fragte Lonzo listig. »Keine Maschine darf einem organischen Wesen etwas zuleide tun. Sie muß es so gar beschützen. Nehmen wir ruhig mal an, daß auch andere Rassen sich vor ihren eigenen Geschöpfen schützen. Und nehmen wir weiter an, daß dennoch ein Befehl gegeben wird, der Gewalt gegen organisches Leben beinhaltet. Na, was passiert dann wohl?« »Der Roboter kommt in einen Gewissenskonflikt«, antwortete Harpo nachdenklich. Nach einer längeren Pause fuhr er fort: »Er soll zwei widersprüchlichen Befehlen gehorchen. Das ist unmöglich. Vielleicht wird er darüber sogar verrückt.« »Na also!« rief Lonzo. »Da haben wir die Antwort. Nur liegen zwischen Befehl und Ausführung immer ein paar Sekunden, vielleicht sogar Minuten. Die Maschine kann, wenn auch widerstrebend, zunächst dem Angriffsbefehl gehorchen, muß aber im letzten Moment den Gehorsam aus Gewissenskonflikten verweigern. Wird sie dann von einer starken, übergeordneten Instanz, einer wirklichen Autorität also, weiterhin gezwungen - dann bleibt letzten Endes nur die Selbstvernichtung.« »Mir dämmert einiges«, mischte sich Anca ein. »Dieser fahrbare Tisch und all die anderen Verfolger wollen uns in Wirklichkeit gar nicht vernichten, sondern gehorchen nur dem Befehl eines Unbekannten. In dem Moment, wo sie direkt mit uns konfrontiert werden, bewirken sozusagen vorprogrammierte Konflikte früher oder später ein verschmortes Gehirn.« »Pummelchen, du hast es!« 283
»Soll das heißen, daß dieser alberne Servierwagen ein eigenes positronisches Gehirn besaß?« fragte Ollie, der eigentlich immer noch an Gespenster glaubte. »Davon kannst du ausgehen«, sagte Harpo trocken. »Hätt' ich nicht gedacht. Der sah überhaupt nicht intelli ... intellek ... also schlau aus!« meinte Ollie. »Bleibt nur die Frage nach dem geheimnisvollen Unbekannten«, nahm Harpo den Faden wieder auf. »Ob er wohl Multivac heißt?« »Na, und ob! Wahrscheinlich ist das der Chef eines riesigen Raumge isterKollektivs, so eine Art Präsident oder Diktator.« Das war natürlich Ollie. »Quatsch!« korrigierte Anca. »Ein Kollektiv braucht keinen Diktator oder so was!« Lonzo kicherte. »Auf jeden Fall hat Herr Multivac entschieden eine Macke. Sonst würde er nicht so nette Leute wie uns angreifen lassen.« Als hätte jemand diese Worte gehört und auch verstanden, hallte im gleichen Moment ein tiefes, triumphierendes und, allen Gespenster-Absagen zum Trotz, geisterhaftes Lachen durch die Korridore und Treppenschächte des Wracks.
Schlappe für Multivac Nach dem allerersten Schreck hatten die Freunde ihren doch etwas ungemütlichen Aufenthaltsort am Fuß der Treppe verlassen. Sie passierten eine Reihe von Räumen, deren Eingangstüren leicht von Hand zu bewegen waren. Hier sah es wohnlicher aus. Man konnte sich durchaus vorstellen, daß in solchen Räumen die einstige Besatzung des Wracks gelebt hatte. Ollie ließ sich trotz aller Ermahnungen nicht von einer kleinen Entdekkungsreise abhalten und stieß dabei auf eine Kette von Räumen, in denen sich Möbel befanden, die unschwer als Betten zu identifizieren waren. Der einstige weiche Belag war in den Gestellen längst zu einer dicken Staubschicht zerfallen, aber die Kinder sahen dies nicht ungern. Denn Staub lag auch überall auf dem Boden. Das bedeutete, daß ihre m aschinellen Verfolger selten oder niemals in diesen Teil des Wracks vordrangen. 284
Froh waren sie allerdings, daß die Beleuchtung funktionierte. In jedem Raum, den sie betraten, flammte gelbes Licht an der Decke auf. Sie passierten Raum für Raum - alles einstige Schlafstellen der Unbekannten. Sechs, manchmal acht dieser Kojen befanden sich übereinander. Sie waren schmal und kurz - ein ausgewachsener Mensch hätte nur mit großer Mühe darin Platz gehabt. »Die Besatzung muß ja aus Tausenden und aber Tausenden Leuten bestanden haben«, vermutete Harpo staunend. »Und ich möchte wetten, daß dies hier nicht der einzige Schlafbereich des Schiffes war.« Niemand traute sich, konsequent darüber nachzudenken wo die Besatzung geblieben war. Daß hier seit langer Zeit niemand mehr lebte, war allen klar. Lonzo ließ es sich nicht nehmen: Sein Körper plumpste in eine der Kojen hinein und wirbelte eine dichte Staubwolke auf, aus der er prustend und pustend nach einer Weile wieder auftauchte. Alles nieste, hustete und schimpfte. »Wißt ihr, was ich glaube?« blockte er schnell alle Proteste ab. »Wer früher mal hier gepennt hat, der gehörte nicht u nbedingt zur Besatzung! Kombiniere: Auswanderer!« »Was ist los?« »Na, Auswanderer! Das Schiff sollte die Wesen zu einer neuen Heimatwelt bringen. Oder das Schiff hatte die Passagiere ausgeladen und befand sich auf dem Rückflug. Auf jeden Fall hat es aus irgendwelchen unbekannten Gründen sein Ziel nicht erreicht.« Kopfschüttelnd meinte Anca: »Und die eigenartigen Tiere? Wieso sind Tiere an Bord? Ob die Auswanderer sie mitgebracht haben?« »Klar«, meinte Ollie. »Und weil die Tollwut hatten, mußten sie an Bord zurückbleiben.« »Weiß nicht«, erwiderte Alexander. »Wenn Leute können bauen Raumschiff, dann doch sicher auch kleines Krankheit bekämpfen.« »Ach«, ergänzte Anca und zuckte mit den Schultern. »Auf einem derart großen Schiff kann es schon angehen, daß ein paar Tiere aus Versehen zurückbleiben. Oder sie sind ausgerissen und konnten nicht rechtzeitig gefunden werden. Später haben sie sich dann vermehrt.«
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»Wobei wir immer von der Überlegung ausgehen, daß kein noch größeres Unglück passiert ist, bei dem a lle Passagiere und die Besatzung u mkamen«, gab Harpo zu bedenken und rieb sich das Kinn. »Jawoll!« Das war Lonzo. »Aber die herausgesprengten Schleusentore könnten immerhin ein Beweis dafür sein, daß es Überlebende gegeben hat. Vielleicht haben die Auswanderer letzten Endes mit den Beibooten doch noch ihr Ziel erreicht.« »Find' ich richtig toll, sich so was vorzustellen«, flüsterte der kleine Oliver, hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und wohligem Schaudern. »Dann ist es wohl nichts mehr mit deinen Raumgeistern?« neckte ihn Anca. »Wieso denn?« protestierte der Kleine schlagfertig mit funkelnden Augen. »Fieslinge gibt es überall. Und der Obermacker der Fieslinge wurde von den anderen gezwungen, hierzubleiben und bis in alle Ewigkeit zu spuken!« Darauf wußte im Moment niemand etwas zu entgegnen. Ollie war nun einmal schwer davon zu überzeugen, daß es keine Geister gab. Der Knirps nutzte die Situation aus und fügte hinzu: »Wenn Multivac nicht ein Pseu ... ein Pseudo ... also ein Deckname für Captain Kidd ist. Klar, jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Captain Kidd will uns nicht an den Schatz heranlassen!« Das war nun wahrlich Ollies Meisterstück. Alles schrie und lachte durcheinander, wobei nur Lonzos heiliger Eid, daß Captain Kidd ein a nständiger Pirat sei und so etwas niemals täte, den Tumult übertönte. Der kleine Oliver hatte es mal wieder geschafft, daß sich die Spannung der letzten Stunde in Gelächter auflöste. Aber nach einer Weile wurde allen wieder bewußt, daß damit ihr Problem noch keineswegs gelöst war. Und das Problem hatte einen Namen: Multivac! »Trotzdem eigenartig«, sagte Harpo schließlich. »Wenn Multivac weder ein Raumgeist noch Captain Kidd ist - ja, was dann eigentlich? Nach all den Jahren! Ein extrem Langlebiger? Oder der Nachkomme von Wesen, die nicht mit den anderen zusammen aufgebrochen sind?« »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, flötete Lonzo und tat, als würde er sehr gelangweilt die Decke betrachten. »Meinst du etwa ... ?« setzte Harpo zaghaft an. »Nun?« 286
»Dieser Multivac ist überhaupt kein organisches Lebewesen!« platzte Harpo jetzt laut heraus. »Multivac ist eine superschlaue Maschine!« Lonzo klopfte ihm begeistert mit drei Tentakeln zugleich auf die Schulter. »Ha!« rief er. »Er ist so ein garstiger Computer wie dieses vorlaute Schwatzmaul auf der EUKALYPTUS: Das sagt euch euer Freund Lonzo. Hick! Äh ... ich meine: Hugh! Ich habe gesprochen!« »Aber Schwatzmaul ist nett«, protestierte Anca. »Na ja, wenn er sich Mühe gibt«, schränkte Lonzo ein, der sich nur so viel herausnahm, weil die Funkverbindung zur EUKALYPTUS noch immer u nterbrochen war. »Multivac ist jedenfalls nicht nett!« Die Kinder erinnerten sich, daß Schwatzmaul nicht von Anfang an ihr Freund gewesen war. Und es hatte Schwierigkeiten gegeben, als die Katastrophe an Bord der EUKALYPTUS zeitweise einen Teil des Bordgehirns lahmlegte. Schwatzmaul besaß damals nicht mehr die Kontrolle über das Schiff, während die Grünen wie tot auf den Decks lagen. Wenn ihnen von Schwatzmaul auch bewußt kein Schaden zugefügt worden war, so hatte sich doch gezeigt, daß auch Elektronengehirne versagen konnten. Vielleicht war Multivac etwas Ähnliches passiert? Vielleicht mußte man ihn mit einem Menschen vergleichen, der nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und deshalb unberechenbar war? Im Gänsemarsch marschierte die Gruppe durch ein Labyrinth von Räumen und Gängen. Einige waren wie die Schlafsäle mit einer dichten Staubschicht bedeckt, andere machten einen blitzblanken Eindruck. Das beunruhigte sie, denn wo geputzt wurde, da waren auch die angriffswütigen Roboter nicht fern. Aber alles blieb ruhig. »Ich hab' einen Kohldampf, daß ich zwanzig von Karlies Kartoffelpuffern verschlingen könnte«, meldete sich Oliver, o bwohl er wie die anderen vom Körperwächter des Raumanzugs intravenös mit flüssigem Nahrungskonzentrat versorgt wurde. Aber der Magen wußte das ja nicht und knurrte trotzdem ungeduldig. »Die würden sogar mir jetzt schmecken«, antwortete Harpo, dessen Abneigung gegen Karlie Müllerchens Leibgericht kein Geheimnis war. »Hätten wir uns bloß ein dickes Stullenpaket mitgenommen!« 287
»Hunger von Menschenkindern nix gegen Bärenhunger von Rotpelz Alexander«, brummte ihr Freund und rieb sich den kugeligen Bauch. »Ha, was sehen meine trüben Augen!« rief Ollie aus, a ls sie einen weiteren Raum betraten, der von Regalen gesäumt war. »Multivac lädt uns zu einem Versöhnungsmahl ein!« Er stürzte los. Auf den Regalen stapelten sich Hunderte von blitzblanken Dosen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit irdischen Konserven hatten. Sie sahen bemerkenswert neu aus. »Da kann alles mögliche drin sein«, meinte Harpo skeptisch. Aber der Kleine zerrte bereits an einer Dose und brachte dabei einen ganzen Stapel zum Einsturz. Man sah ihm an, daß er am liebsten gleich seine Zähne in das Blech geschlagen hätte. Suchend schaute er sich nach einem geeigneten G egenstand um, mit dem die Dose zu öffnen war. Lonzo ließ blitzschnell einen Tentakel hervorschnellen und nahm Ollie die Dose weg. »Erst sorgsam prüfen, dann kosten«, mahnte er mit strenge r Stimme. »Wer weiß, ob die Fremden nicht schlimmere Dinge als Kartoffelpuffer bevorzugten!« Er ließ seine Brustklappe aufspringen und zwei winzige Greifer ausfahren, die mit messerscharfen Klauen versehen waren. Die Klauen stießen zu, durchbohrten die Blechhülle und hatten im Nu den Deckel der Büchse abgefräst. Dann tauchte Lonzo einen dünnen Saugrüssel in das Innere, um den Inhalt zu analysieren. Die Kinder, die Fruchtsaft oder etwas Ähnliches erwartet hatten, machten enttäuschte Gesichter, als Lonzo meldete: »Leer! Die Dosen enthalten absolut nichts!« Die Dosen sahen so neu aus, daß der Inhalt wohl kaum ganz und gar vertrocknet sein konnte. Aber wer hatte ein Interesse daran, Dosen ohne Inhalt zu produzieren und aufzubewahren? »Das ist verrückt«, flüsterte Harpo. »Genau das ist es!« antwortete Anca triumphierend. »So unsinnig wie die Fertigung von Kugeln, die anschließend wieder eingeschmolzen werden. Weißt du, was ich glaube? Hinter beidem steckt der gleiche Grund! Sicher
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gibt es ein altes Programm, das die Produktion von Nahrungsmitteln vorschreibt. Da aber keine Nahrungsmittel mehr geerntet oder sonstwie gewonnen werden, ist davon nur noch die Dosenfabrikation übrig!« »Irre!« rief Harpo. »Klasse, Pummelchen - das ist die Erklärung!« Anca wandte sich rasch um, konnte aber nicht mehr feststellen, wer sie schon wieder Pummelchen genannt hatte. Alexander, Lonzo und Ollie sahen sie unbefangen an. Anca seufzte. Hungergefühle waren nicht die einzigen körperlichen Reaktionen der Kinder. Mit jedem Schritt wurde ihnen bewußter, daß sie seit vielen Stunden auf den Beinen waren. Dazu kamen Angst und Nervenanspannung. Nach kurzer Beratung wurde entschieden, daß man versuchen wollte, erst einmal ein paar Stunden zu schlafen. Obwohl kein treusorgendes Schwatzmaul die Beleuchtung dämpfen konnte und als Bett nur harter Fußboden diente, schliefen sie bald ein. Allein Harpo lag noch ein paar Minuten länger wach als die anderen. Ihm ging manches durch den Sinn. Wie mochte es den Freunden auf der EUKALYPTUS gehen? Zu lange hatten sie nichts mehr von ihnen gehört. Sicher machte man sich bereits Sorgen um sie. Er vergegenwärtigte sich die vertrauten Gesichter von Thunderclap, Karlie, Brim und Micel. Ob der Einfluß des fremden Metalls auch Micels Gehirnströme blockierte? Oder hielt Micel die anderen über die Ereignisse auf dem laufenden, weil er als Beobachter aus der Ferne in ihren Gehirnen las? Harpo fühlte zu seinem eigenen Erstaunen, daß ihn das Wrack immer mehr beunruhigte. Er wünschte, sie würden bald zur EUKALYPTUS zurückkehren. Was suchten sie eigentlich noch hier? Ach ja, da gab es noch dieses G eheimnis um Multivac ... Als er aufwachte, stellte Harpo mit einem Blick auf seine Uhr fest, daß sie sich seit achtzehn Stunden auf dem fremden Schiff befanden. Sein zweiter Blick streifte den Raum, in dem sie sich zur Ruhe gelegt hatten. Erst die Decke, dann die Wände, schließlich die Tür. Moment! War die Tür nicht geschlossen gewesen, als sie sich ausgestreckt hatten? In panischer Angst weckte Harpo seine Freunde. 289
Alexander fuhr brummend neben ihm hoch, und hinter seinem roten Zottelfell tauchten die Köpfe von Ollie und Anca auf, die sich eng an ihn gekuschelt hatte. Die Raumanzüge hatte man abgelegt, weil es ohne sie bequemer war. Ollie rieb sich stöhnend den Rücken. Der harte Boden hatte ihm überhaupt nicht behagt. »Wir sind entdeckt!« keuchte Harpo. »Wir müssen schnell weg von hier!« Er deutete zur offenen Tür und wurde sofort von den anderen verstanden. Harpo eilte von einem zum anderen und half beim Anlegen der Raumanzüge. Ollie schniefte übertrieben und nörgelte etwas, das sich wie »todkrank« anhörte. Nachträglich kamen ihm wohl Bedenken, weil ihm P yjama und warme Decken gefehlt hatten. Auf dem Gang draußen erklang ein knarrendes Geräusch. Ein drohender Schatten fiel in den Raum. Die Kinder drängten sich schutzsuchend aneinander. Dann lugte Lonzos stählerner Kopf in den Raum, empfangen von einem vierstimmigen Ausruf, in dem Erleichterung und Empörung mitschwangen. »He, was habt ihr denn?« gluckste Lonzo. »Lonzo!« brüllte Harpo. »Wie kannst du uns nur so erschrecken!« »Schurke!« donnerte der kleine Ollie mit roten Ohren und rannte auf den Roboter zu. Lonzo lachte meckernd. »Na, ihr werdet doch wohl vor mir keine Angst haben, was?« »Vor dir nicht ...«, setzte Harpo an. »Aber?« »Ach, nichts ...« Alle strengten sich an, möglichst unbefangene und gelangweilte Gesichter zu machen. Angst? Sie doch nicht ... Lonzo ließ wieder ein meckerndes Lachen hören. »Und warum hängt ihr wie die Kletten aneinander? Es ist doch Platz genug.« Er wurde schnell wieder ernst. »Habe mich ein bißchen umgesehen«, sagte er dann. »Draußen war nämlich ein Geräusch. Ich entdeckte einen kleinen Wagen, der wie ein geölter Blitz verschwand, als er mich bemerkte.« »Also doch ein Spion!« platzte Harpo heraus. »Multivac kennt unseren Aufenthaltsort«, bestätigte Lonzo. 290
»Machen wir uns auf die Socken.« Die Tür bewegte sich. »Multivac will uns hier festhalten!« rief Anca entsetzt. Alle rannten los. Ohne Lonzo hätten sie aber keine Chance gehabt. Er stand der Tür am nächsten und reagierte blitzschnell. Er verwandelte sich in einen Koloß aus hochwertigem Stahl. Seine Tentakel umklammerten die schwere Tür, die wie alle Wand- und Bodenteile im inneren Bereich des Wracks aus der glänzenden, unbekannten Legierung bestand. Er stemmte sich gegen den Mechanismus, der die Tür zudrücken wollte. Für einen Moment h oben sich die entgegengesetzten Kräfte auf. Aber der Druck, dem der Roboter ausgesetzt war, wurde immer stärker. »Hinaus!« schrie er schrill. »Lange kann ich sie nicht mehr halten!« Ollie zischte bereits an ihm vorbei, hinein in den rettenden Gang. Harpo und Anca hielten sich an den Händen und wollten folgen. Aber die Tür hatte Lonzo bereits wieder zwanzig Zentimeter abgerungen. Der verbleibende Spalt war zu schmal! Alexander fletschte wütend die Zähne. Seine mächtigen Pranken schlugen gegen das Metall. »Warte, dumme Tür!« rief er erbost. »Alexander wird dir zeigen!« Er nahm einen kleinen Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Die sprang gleich einen halben Meter zurück. Jubelnd stürmten Anca und Harpo aus dem Raum. Alexander machte einen Riesensatz, dann landete auch er bäuchlings im Gang. »Vorsicht!« rief Harpo Lonzo zu, während er Alexander auf die Beine half. Der Roboter war durch das plötzliche Nachgeben der Tür abgerutscht und hatte seinen festen Griff verloren. Dann krachte die Tür ins Schloß. Lonzo wurde beim Aufprall durch die Luft gewirbelt und in den Gang hinauskatapultiert. Radschlagend und dem Augenschein nach unversehrt kam er wieder auf die Beine. »Junge, Junge!« stöhnte der kleine Oliver. »Gerettet!« brummte Alexander zufrieden, obwohl er nach der Anstrengung noch ein bißchen schnaufte. »Ihr hättet keine Chance gehabt«, verkündete Ollie, »wenn ich nicht so schnell durchgeflitzt wäre. Das hat die blöde Tür derart verdutzt, daß ...« 291
Die heftigen Proteste der anderen hinderten ihn jedoch am Weiterreden. »Was nun weiter?« fragte Harpo und musterte skeptisch den engen Gang, der vor ihnen lag. Mit einem Korridor hatte der nichts gemein. Der Ausdruck Tunnel war treffender, zumal die Wände sich in einem Halbrund wölbten. »Auf zu Multivac«, antwortete Lonzo. »Wir scheinen auf der richtigen Spur zu sein. Sonst hätte sich unser Gegner nicht solche Mühe gemacht, uns am Betreten dieses düsteren Ganges zu hindern!« Niemand wagte zu überlegen, wo Multivacs nächste Falle auf sie wartete. Aber sie hatten ohnehin keine andere Wahl, als weiterzugehen. Den Kindern fiel zum erstenmal auf, daß der Gang weniger gut ausgeleuchtet war, als sie es von anderen Teilen des Schiffes her gewohnt waren. Und die Metallwände sahen zwar auch hier glänzend und unversehrt aus, funkelten aber in einem neuen, leicht rötlichen Farbton. Eine andere Legierung als bisher? »Krrrk, krrrk«, machte es unverhofft in den Helmlautsprechern. Es war Thunderclap Genius, der ihnen mitteilte, daß die Funkimpulse wieder zur EUKALYPTUS durchdrangen. Offenbar hatten sie die funkhemmende Zone des Wracks überwunden.
Unterwegs zu Multivac Vor ihnen gabelte sich der Tunnel, dessen Verlauf sie bisher gefolgt waren. »Was nun?« fragte Harpo ratlos. »Wahrscheinlich ist der innerste Sektor des Wracks von Hunderten solcher Tunnels durchzogen. Und irgendwo, vielleicht in der Mitte, vielleicht auch am Rand, sitzt Multivac wie eine Spinne im Netz und wartet darauf, daß wir ihm in die Falle gehen.« »Euch bleibt aber keine andere Wahl«, meldete sich Thunderclap, der mittlerweile von Lonzo einen vollständigen Bericht über die Zeitspanne erhalten hatte, in der die Funkverbindung unterbrochen gewesen war. »Ihr müßt so lange suchen, bis ihr den Weg gefunden habt, der zu Multivac führt. Tut mir leid.« »Du hast gut funken!« »Harpo!« rief nun Brim Boriam dazwischen. »Es geht jetzt nicht mehr nur darum, daß dieses Wrack erforscht wird. Multivac weiß sicher, daß ihr von 292
einem anderen Raumschiff kommt. Und ohne Zweifel hat es die EUKALYPTUS längst geortet. Verstehst du? Wer weiß, ob wir mit der fremdartigen Technologie, über die Multivac verfügt, überhaupt Schritt halten können!« Er stotterte diesmal überhaupt nicht, obwohl man seiner Stimme die pure Nervosität sehr gut anhören konnte. Und Micel fügte hastig hinzu: »Wenn es diesem verrückten Gehirn einfällt, die EUKALYPTUS zu vernichten, dann wird es das auch bedenke nlos tun. Ihr müßt es ausschalten - wir alle sind in Gefahr!« Harpo schwieg. Auch Anca, Alexander und Ollie blieben stumm. Ja, im Grund wußten sie, daß Micel recht hatte. Aber dieses Wissen machte sie eigentlich nur noch mutloser. »Auf jeden Fall münden beide Tunnel letzten Endes am gleichen Punkt«, sagte Thunderclap. »Einstweilen könnt ihr also keinen Fehler m achen.« Ollie nahm den Freunden die Initiative ab und setzte als erster seinen Fuß in den Tunnel zur Rechten. Wer ihn so gut kannte wie seine Freunde, der bemerkte allerdings, daß selbst bei ihm die Bewegungen zaghafter geworden waren. Anca folgte ihm. Harpo zuckte mit den Schultern und schloß sich an. Hinter sich spürte er Lonzo und Alexander. Nichts geschah. Hunderte von Metern gingen sie unbehelligt dem Mittelpunkt des Wracks entgegen - und Multivac schien sie zu ignorieren. Das war schlimmer als alles andere. Denn das Gehirn war verrückt - aber nicht dumm. Es schien sich sehr sicher zu fühlen. Vielleicht deshalb, weil es wußte, daß die Eindringlinge blind in eine seiner Fallen stolperten? Den Freunden wäre es gewiß nicht angenehm gewesen, wenn kurzgeschlossene Roboter ihnen den Weg versperrt oder sie angegriffen hätten aber das Warten auf eine unbekannte Gefahr war weitaus bedrückender. Die Tunnelwände wirkten nackt und schmucklos. Das Fehlen von Farben und Verzierungen gab Harpo zu denken. Wie es aussah, waren auch die Bewohner des Raumschiffs nicht oder nur sehr selten hierher vorgedrungen. Zumindest hatten sie sich hier niemals lange aufgehalten. Auch die Größe der Tunnel deutete darauf hin. Sie wußten zwar noch immer nicht, wie die Fremden ausgesehen hatten und wie groß sie waren, aber gegen die sonsti293
gen Ausmaße der Schiffseinrichtung - bis auf die Schlafkojen - wirkten die hiesigen Gänge extrem niedrig. Selbst die kleine Anca mußte sich leicht bükken, um vorwärts zu kommen. Wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, dann gab es nur zwei Fluchtrichtungen: nach vorn oder zurück. Kein Wunder, daß Harpo sich ungemütlich fühlte. Die Beleuchtung war jetzt nur noch mattrot wie in der inneren Luftschleuse. Wieder ein Indiz. Denn die Beleuchtung der anderen Schiffssektoren hatte ebenfalls darauf hingewiesen, daß die Fremden weiches, gelbes Licht bevorzugten. Andererseits bedeuteten rote Lichter immerhin, daß die Gänge tatsächlich benutzt wurden und nicht etwa überdimensionale Entlüftungsschächte darstellten. Tröstlich zu wissen, daß ihr Unternehmen nicht schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Multivac saß also nicht etwa in einem nur ihm zugänglichen Teil des Schiff, eingeschweißt und vor jedem Zugriff sicher. »He, da vorn wird es wieder heller!« rief Ollie und lief schneller auf das gelbe Licht zu. Lonzo knurrte: »Helme schließen und die Entermesser bereithalten, Matrosen! Ab sofort verkehrt Lonzo nur noch über Schwatzmaul mit euch!« Die Kinder folgten seiner Anweisung, erhöhten ihre Schrittzahl und erreichten bald einen neuen Kreuzungspunkt. Hier liefen nicht weniger als fünf Tunnel in alle Raumrichtungen auseinander. Aber nicht nur das hellere Licht war bemerkenswert! An den Wänden hingen mehrere Schränke. Einen kurzen Moment lang glaubte Harpo an den unglaublichen Glücksfall, daß sie ungehindert in die Zentrale von Multivac vorgedrungen waren und jetzt nur einen Stecker herausziehen mußten, um das ausgeflippte Gehirn auszuschalten. Aber das wäre natürlich des glücklichen Zufalls zuviel gewesen. Es gab hier keinerlei Steckdosen, geschweige denn auch nur einen Stecker. Als er einen der Schränke öffnete, fiel ihm ein Wust von Kabelenden entgegen. Einige härtere Gegenstände prasselten zu Boden. Daß es sich um Zangen und andere Werkzeuge handelte, sah man sofort. Am Boden des Schrankes lagen aufgerollte Kabel, gedruckte Schaltungen und einige unbekannte Teile, die aber ebenfalls mit Elektronik zu tun hatten. 294
»Die Werkstatt des Wartungsingenieurs«, murmelte Harpo enttäuscht und räumte die herausgefallenen Sachen wieder ein. Anca hatte neugierig einen weiteren Schrank geöffnet. Darin befanden sich dünne Kunststoff-Folien, die mit den inzwischen schon vertrauten Schriftzeichen bedruckt waren, teilweise aber auch abstrakte Dinge zeigten. »Sicher sind das Konstruktionszeichnungen oder Schaltpläne«, behauptete sie. »Auf jeden Fall nehmen wir sie mit!« Lonzo eilte hilfreich herbei und nahm ihr das Bündel a b. Bevor Anca den Schrank wieder schloß, sah sie sich noch einmal suchend um, ob auch nichts vergessen wurde - und stutzte. Aufgeregt bückte sie sich und entnahm dem untersten Fach einen staubbedeckten Gegenstand. Als sie ihn herumdrehte, entfuhr ihr ein überraschter Ausruf. Sofort eilten die anderen herbei. Gemeinsam betrachteten sie den Fund des Mädchens, eine kleine, vierekkige Platte. »Stellt euch vor!« donnerte Ollie los, damit die Freunde auf der EUKALYPTUS auch ja sofort informiert waren. »Wir h aben ein Bild gefunden! Das Bild eines fremden Raumfahrers! Bei allen sieben Monden von Morrisons Planet! Das war sicherlich der Captain von diesem Kahn!« Die funkelnden Sehzellen Lonzos verrieten, daß er jetzt am liebsten eine Geschichte über Captain Kidd losgeworden wäre, aber ohne Funkgerät hatte er keine Chance. Und Schwatzmaul würde in dieser angespannten Situation kaum als Übersetzer mitspielen. Also ließ er es. Die Platte bestand aus einer harten Folie und einem Metallrahmen. Man erkannte unschwer den Kopf eines fremden Wesens. Kein Mensch, kein Tier. Es hatte wenig mit jeder Art von intelligentem Leben zu tun, mit dem die Kinder bisher konfrontiert waren. Das Gesicht schimmerte schwarz und wurde von drei großen, facettenartigen Knopfaugen beherrscht. Man konnte weder Ohren noch Haare entdecken, jedoch ein mundähnliches Loch und einen Kranz von Fühlern, die überall aus dem Kopf sprossen. Am ehesten glich der Fremde einem stark vergrößerten Insekt. Über die Größe des Wesens sagte das kleine Bild nichts aus. Aber die Kinder hatten eine ungefähre Vorstellung von den Fremden, die einst in diesem Schiff durch das All flogen. Bei aller Fremdheit wirkte dieses G eschöpf nicht 295
unsympathisch. Wahrscheinlich war es der Blick der Knopfaugen, der Wärme und Nettigkeit ausstrahlte. »Mitnehmen«, entschied Anca. Alexander, der vor Nervosität zappelte, ging bereits voraus. Wenn dieses Bild auch nicht unheimlich war - das unbekannte Bordgehirn war es auf jeden Fall! Je eher sie es entdeckten, desto schneller konnten sie auf die EUKALYPTUS zurück! Aber guter Rat war teuer. Aus einem der fünf Tunnel waren sie gekommen. Blieben noch vier Möglichkeiten. Wie sollten sie wissen, welcher Gang sie ihrem Ziel näher brachte? Lonzo schien in sich hineinzuhorchen und kletterte dann wie in Trance an der Wand hoch. Er deutete auf einen der Tunnel und winkte. »Gehen wir«, sagte Harpo kurzentschlossen. Es war ja egal, welchen Gang sie zuerst untersuchten. Lonzo war es am ehesten zuzutrauen, daß er seinen großen, degenerierten Artgenossen aufspürte. Jetzt übernahm Harpo wieder die Führung. Er spähte in den Gang, soweit er blicken konnte, bemerkte aber nichts Ungewöhnliches. Der Tunnel schien endlos zu sein und so ungemütlich leer wie die anderen. Verdrossen, aber ständig auf der Hut vor Überraschungen, setzte Harpo Fuß um Fuß voran. Plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Rippen versetzt, blieb er stehen. Er vergaß vor Überraschung das Ausatmen und hätte sich am liebsten die Augen ausgewischt, aber das ging nicht, da der Raumhelm ihn daran hinderte. »W-wie habt ihr mich denn überholt?« stotterte er fassungslos und starrte mit offenem Mund auf die Gestalten von Anca, Alexander, Ollie und Lonzo, die plötzlich direkt vor ihm aufgetaucht waren. Der Gang war e igentlich so eng, daß er es hätte merken müssen, wenn sich die anderen an ihm vorbeigezwängt hätten. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Er drehte sich um - und erneut stockte ihm der Atem. Hinter ihm waren sie noch einmal: Lonzo, Alexander, Anca und Ollie. 296
Sie hatten sich verdoppelt. Sie befanden sich vor und hinter ihm! Aber die, die vor ihm standen, sahen gar nicht aus wie seine Freunde. Im Gegenteil: Harpo blickte in höhnisch verzogene Gesichter, die plötzlich ein gellendes Gelächter ausstießen. Dann waren sie genauso schnell verschwunden, wie sie aus dem Nichts aufgetaucht waren. »Was war das?« keuchte Harpo außer sich. »Habt ihr das auch gesehen?« »Ja«, hauchte Anca zitternd. »Raumgeister!« kreischte Ollie. »Meine Medizin! Ich will sofort meine Medizin! Ich habe Halunazi ... Halluzino ... Ich sehe alles doppelt!« »Was habt ihr gesehen?« fragte Thunderclap aus der Zentrale. »He, hallo! Stimmt bei euch was nicht?« Alexander brummelte: »Noch ein Rotpelzkumpel hier? Wie das? Wie das?« Ollies schreckensbleiches Gesicht verriet, daß ihm die Haare unter seinem Raumhelm buchstäblich zu Berge standen. In kurzen, abgehackten Sätzen schilderte Harpo das mysteriöse Geschehen. Thunderclap erwiderte nachdenklich: »Lonzo hat aber nichts gesehen!« »Was? Ist er denn blind?« »Lonzo leistet tausend heilige Eide auf die Gebeine von Captain Kidd. Er hat nicht das geringste wahrgenommen!« Das war der Augenblick, in dem Ollie und Anca aufkreischten. Harpo hatte die beiden noch nie auf diese Weise schreien hören. Das war nackte Angst. Dann stimmte Alexander ein, brüllend wie ein Löwe. Und Harpo. Aus dem Nichts tauchte vor ihnen im Tunnel ein Ungeheuer auf. Bei Harpo war es nicht nur die Furcht vor diesem grünen, vierköpfigen Ungetüm, das wie eine Riesenechse aussah. Vier Hälse mit klaffenden Mäulern und messerscharfen Zahnreihen kamen immer näher. Seit Harpo sich in diesem engen Tunnel aufhielt, spürte er ein Unbehagen. Die alten Ängste kamen wieder, jene, die ihn als Patient auf die EUKALYPTUS gebracht hatten. Platzangst! Er drohte zu ersticken. Er mußte hinaus, sofort! Irgendwohin, nur hinaus aus der Enge dieser metallenen, ihn erdrückenden Gänge. Er schrie gellend wie am Spieß. Vor ihm war das Ungeheuer.
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Und hinter ihm stand Lonzo. Er ließ keinen durch. Harpo rannte ge gen Lonzo an und versuchte ihn zu Fall zu bringen. Aber Lonzo stand wie ein Denkmal. Er war stärker. Die anderen Kinder waren bereits verstummt, als Harpos markerschütternde Schreie noch immer seinen Helm erzittern ließen. Sie lebten immer noch. Das Unge heuer ging nicht zum Angriff über. Trotz der Gefahr versuchten sie Harpo zu beruhigen, der wie ein Wahnsinniger um sich schlug. Niemand wußte später, wie lange dieser Anfall gedauert hatte. Aber irgendwann drang die Stimme Schwatzmauls in Harpos Bewußtsein. Schwatzmaul sang ein Kinderlied, ganz ruhig. Und Harpo hörte zu, wurde still. Alexander schlang seine Arme um ihn und drückte ihn an sich, bis Harpos Zittern aufhörte. »Geht es wieder?« fragte Schwatzmaul dann. »Hör mir gut zu, Harpo. Multivac versucht euch mit Halluzinationen zur Umkehr zu zwingen. Schließ bitte die Augen, Harpo. Hör mir zu.« Harpo fühlte, wie er spürbar ruhiger wurde. »Es sind alles nur Trugbilder«, flüsterte das Bordgehirn weiter. »Multivac kann euch nichts anhaben. Nur ihr seht die Verdoppelungen und das Ungeheuer. Lonzo ist dagegen immun, weil er selbst über ein positronisches G ehirn verfügt, das sich nun einmal nicht täuschen läßt. Ihr anderen müßt gegen diese Visionen ankämpfen. Geht weiter. Ihr seid ganz nahe am Ziel. Und Multivac weiß das auch, sonst würde er sich nicht gegen euer Eindringen wehren. Und denkt immer daran: Was ihr auch an Schrecklichem seht, es sind alles Trugbilder.« Harpo wagte die Augen wieder zu öffnen. Das Ungeheuer war verschwunden, und seine Freunde blickten ihn aufmunternd an. Anca hatte geweint, das sah man deutlich. Jetzt lächelte sie wieder. Alexander gab ihm einen freundschaftlichen Knuff, während Lonzo ihm listig zublinzelte. »Danke«, sagte Harpo. »Ist ja schon alles in Ordnung.« Ollie stemmte beide Hände in die Hüften und brüllte mit Donnerstimme: »So, und jetzt hauen wir diesen Multivac in die Pfanne!«
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Eine unerwartete Begegnung Nun glaubte auch Harpo, daß sie es schaffen würden. Vor einem durchgedrehten Computer kneifen, vor einem, der sie mit einem Gruselkabinett in die Flucht jagen wollte? Wäre ja noch schöner! Als Harpo weitergehen wollte, fühlte er sich entsetzlich m üde. Die Beine waren schwer wie Blei. Es gelang ihm einfach nicht, die Füße zu heben. Auch die anderen klagten plötzlich über Müdigkeit und Gehschwierigke iten. »Ein neuer Trick von Multivac«, erklärte Schwatzmaul. »Jetzt versucht er euch zu lahmen. Ihr müßt mit aller Macht dagegen angehen!« Und er begann mit überlauter Stimme zu schmettern: »Der Kuckuck und der Esel, die hatten einmal Streit ...« Die Kinder mußten lachen. Es war wirklich zu komisch, daß ein Bordgehirn, das nie im Leben einen Kuckuck oder einen Esel zu Gesicht b ekommen hatte, dieses Lied sang. Als sei Schwatzmaul je auf eigenen Beinen über Fe lder und Wiesen gerannt! Die eintönige Melodie aber hatte einen Effekt: Sie zog die Kinder in ihren Bann, und irgendwie schaffte es Schwatzmaul, die Kraft der Hypnose Multivacs abzuschwächen. Langsam, mit großer Mühe, gelang es Harpo und den anderen, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Unerbittlich, die Zähne aufeinandergepreßt und im Geiste jede Strophe Schwatzmauls mitsingend, tasteten sie sich voran. Lonzo machte sich plötzlich an Harpos Gürtelschlaufe zu schaffen, quetschte sich dann an ihm vorbei und ging ungehindert weiter. Er hatte Harpo und die anderen wieder angeleint und zog sie jetzt kraftvoll hinter sich her. Die Kinder und Alexander fielen zu Boden, aber Lonzo immerhin war er ein Wunderwerk irdischer Kybernetik - war stark genug, sie gelassen hinter sich herzuschleifen. Und dann waren die Lähmungserscheinungen von einem Moment zum anderen fort, wie weggeblasen. Multivac hatte eingesehen, daß auch dieser Trick bei seinen Widersachern nicht zog. Was würde ihm als nächstes einfallen? »Danke«, flüsterte Harpo und meinte Lonzo. 299
»Lonzo läßt euch sagen«, meldete sich Schwatzmaul erneut, »daß wir alle einem großen Irrtum aufgesessen sind, als wir annahmen, wir müßten Multivac suchen! Die Wahrheit ist: Ihr befindet euch seit geraumer Zeit im Innern meines ausgeklinkten Bruders!« Die Nachricht hatte eine durchschlagende Wirkung. Harpo ließ sich gleich wieder auf den Boden fallen. Ollie fluchte. Alexander seufzte wie jemand, der seine Brille sucht und feststellen muß, daß er sie auf der Nase hat. Nur Anca feixte. Lonzo hielt sich vornehm im Hintergrund und tat so, als b etrachte er mit höchstem Interesse seine nicht vorhandenen Fingernägel. »Tscha«, meinte Schwatzmaul ein wenig kleinlaut, »es geht eben nichts über die elektronische Spürnase eines Roboters, nicht wahr?« Ehe Harpo etwas erwidern konnte, entdeckte er, daß Lonzo seine Brustklappe geöffnet und die darin befestigten Greifer ausgefahren hatte. Mit tänzelnden Bewegungen begann er, aus der Tunnelwandung Schrauben herauszudrehen. »He, Seemann«, frotzelte Harpo den geschäftig wirkenden Metallmann, »was hast du entdeckt? Captain Kidds Geheimversteck, in dem er seinen Rum aufbewahrte?« Ollie lachte brüllend, und in der Zentrale der EUKALYPTUS atmeten alle auf. Das war der alte Harpo, wie er leibte und lebte! Wenn er wieder ein Scherzchen auf den Lippen hatte, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. »Mensch, Harpo«, sagte Thunderclap. »Noch so einen Lacher, und ich komme rüber! Ich hab' eh schon das Gefühl, daß ich 'ne Menge verpasse! Lonzo hat herausgefunden, daß sich hinter der Metallplatte ein Gang befindet, der früher von Ingenieuren und Technikern benutzt wurde, wenn sie Multivac mit Ersatzteilen versorgen wollten. Und er meinte, es gäbe keine bessere Möglichkeit, das verrückte Gehirn lahmzulegen, als in seinen Kabelgängen ein bißchen Unordnung zu stiften.« »Ja, aber«, protestierte Harpo verblüfft, »woher, bei allen Planeten, weiß er, was sich hinter dieser Platte verbirgt? Er hat doch keine Röntgenaugen!« »Das nicht, aber er hat natürlich alle mit seinen Fotozellen registrierten Schriftzeichen sofort an unser liebes Schwatzmaul weitergefunkt. Und des300
sen Speicherbänke haben die letzten Stunden ununterbrochen gerattert, um die Schrift zu entschlüsseln.« Thunderclaps Worte klangen etwas triumphierend. Schließlich wollte er nicht verschweigen, daß an Bord der EUKALYPTUS auch einiges getan wurde, um der Expedition zu helfen. »Natürlich ist uns dies - in bescheidenem Umfang gelungen. Lonzo erhielt soeben die Informationen. Und da auf der Wandplatte alles draufsteht, was er wissen muß, hat er eben gleich losgelegt.« Lonzo führte nun einen Freudentanz auf, um zu zeigen, daß er fertig war. Die Kinder eilten sofort zu ihm hin und spähten hinter die demontierte Metallplatte. Sie blickten in einen etwa vierzig Zentimeter breiten Gang, dessen Wände mit Tausenden von Kabeln aller Stärken bedeckt waren. »Welch ein Wirrwarr!« rief Anca aus. »Wie soll man da die richtige Strippe finden?« »Können wir nicht zur Abwechslung mal wieder die Helme abnehmen?« fragte Ollie. »Ich schwitze wie ein Schweinebraten. Und außerdem können wir keine Silbe von dem hören, was Lonzo sagt.« »In Ordnung. Wir riskieren das«, gab Harpo über Schwatzmaul zur Antwort und setzte als erster den Helm ab. Er folgte Lonzo in den engen Gang. Ihre Brustlampen warfen gespenstische Schatten. Nach und nach folgten die anderen. Der Gang endete nach ungefähr fünfundzwanzig Metern vor einer weiteren Eisenwand, auf der wieder Schriftzeichen prangten. »Der Zutritt zu diesem Bereich ist nur autorisiertem Personal mit Sonderausweis gestattet«, übersetzte Lonzo eifrig. »Jede Zuwiderhandlung wird sofort mit dem Entzug der Charge geahndet!« »Was ist denn eine Scharsche?« fragte Ollie, der sich neugierig an Harpo vorbeizuquetschen versuchte. »Ein Dienstgrad«, erklärte Anca dem Kleinen. »Aber sei jetzt mal ruhig.« Während Lonzo die Platte mit seinen Tentakeln abtastete, einen Öffnungsmechanismus fand und mit Hilfe seines eingebauten Computers versuchte, ihn zu knacken, brummte Alexander mißmutig: »Alexander keine Türen mögen. Türen immer und immer und immer verschlossen. Rotpelze 301
besser Felle vor Hütten hängen. Muß Gast nicht stehen in Kälte, wo Nordwind machen lange Eiszapfen an Nase.« Anca kicherte. Plötzlich sprang die Platte auf. Vor ihnen erstreckte sich ein kleiner Raum, der etwa zehn Quadratmeter maß und eine Höhe hatte, in der sich sogar der Riesenkarlie klein vorgekommen wäre. Es schien mehr ein Schacht zu sein, der sich hinter der Platte vor ihnen auf tat. Ein Ende war jedenfalls nicht abzusehen, was aber auch daran liegen mochte, daß die Scheinwerfer der Eindringlinge zu schwach waren, um die Decke zu erreichen. Ollie machte: »Oho!« und war als erster drin. Er reckte und streckte sich, als hätte er eine ganze Nacht in einer Schreibtischschublade zubringen müssen. »He!« rief er plötzlich laut. »Was sind denn das für Dinger?« Die »Dinger«, auf die er zeigte, erinnerten Harpo an jene Schaltungen, die er einmal in der Kommunikationszentrale der EUKALYPTUS gesehen hatte. An Metallgestellen waren unzählige kleine, schwarze, mit Draht umwickelte Plättchen befestigt, die alle miteinander verbunden waren und leise vor sich hin summten. Zweifellos hatten sie einen Bereich vor sich, der für Multivac sehr wichtig war. Wenn sie eine der Schaltungen beschädigten ... Harpo kam nicht mehr dazu, diesen verführerischen Gedanken zu Ende zu denken. Eine rollende, tiefe Stimme dröhnte plötzlich aus verborgenen Lautsprechern. Die Stimmen von der EUKALYPTUS, die eben noch leise im Hintergrund zu hören gewesen waren, tauchten unter in einem ohrenbetäubenden Sturm elektrischer Entladungen. Plötzlich schnellte Lonzo zur Seite. Mit ausgestreckten Tentakeln versuchte er den sich mit rasender Geschwindigkeit schließenden Eingang offenzuhalten. Vergebens. Die bewegliche Platte schlug zu und riß Lonzo einen Tentakel ab. Sie saßen in der Falle! Harpo schrie: »Wir sitzen fest! Multivac hat uns erwischt!« Seltsamerweise brauchte er gar nicht dermaßen zu brüllen, denn die Störgeräusche waren wieder verstummt. Lonzo trommelte noch einmal mit seinen restlichen Ten302
takeln gegen den verschlossenen Eingang und gab dann auf. Jammernd trauerte er seinem verlorenen Tentakel nach, dann versetzte er der Tür e inen wütenden Tritt. Die rollende Stimme, die nun wieder zu hören war, mußte Multivac gehören. Geistesgegenwärtig schaltete Harpo den Translator ein, der die Sprache, die einst hier gesprochen wurde, bereits von dem sie verfolgenden Getränkewagen gelernt hatte. Sogleich änderte sich die Tonlage Multivacs. Es zwitscherte kurz, dann übertrugen Harpos Kommunikationssysteme jedes Wort in die Helmlautsprecher der atemlos und wie gelähmt Dastehenden. »... Frevel, in diesen Bereich vorzudringen! Wer seid ihr, Würmer, daß ihr es wagt, den Herrn über Leben und Tod in seiner Einsamkeit zu stören? Noch nie gelangte ein Sterblicher so nahe an mich heran! Sprecht, sonst werdet ihr meinen Zorn zu spüren bekommen!« Durch Harpos Translator modifiziert, klang die Stimme nicht mehr furchterregend, sondern eher lächerlich. Kein Wunder, daß Anca, die den leicht zitternden Ollie an der Hand hielt, spitz erwiderte: »Wenn hier noch nie ein Sterblicher war, müssen die Wesen, die früher hier gelebt haben, u nsterblich gewesen sein.« »Schweig!« donnerte Multivac. Seine Stimme endete in einem hohen Kieksen, als hätte er gerade einen Stimmbruch hinter sich. »Die Zeiten, von denen du sprichst, sind Vergangenheit! Die Vergangenheit ist tot und begraben. Ich erinnere mich ihrer nur mit Widerwillen.« »Warum denn?« krähte Ollie respektlos, der nun, nachdem Anca ihren Mut gezeigt hatte, auch nicht zurückstehen wollte. »Hat man dir übel mitgespielt, Kumpel Raumgeist?« Multivac produzierte einen Laut, der wie ein unwilliges Knurren klang. »Elender Wicht!« dröhnte es aus den Lautsprechern. »Auch du bist einer von denen, die die Worte Multivacs anzweifeln!« Offenbar hatte der Kleine unbewußt einen wunden Punkt in der Vergangenheit des durchgedrehten Computers angesprochen. Plötzlich ergoß sich ein nicht mehr zu stoppender Wortschwall über die Expeditionsmitglieder. Er gipfelte in so absurden Behauptungen wie, daß organische Lebewesen die mit den meisten Fehlern behafteten Wesen in der 303
Galaxis seien, nicht würdig, sich allein zu regieren, und unfähig, untereinander Frieden zu halten. »Es bedarf intelligenter Computer, die Geschicke der organischen Wesen zu lenken. Die Erfahrung hat gezeigt, daß nichtautomatische Intelligenzen eine Brutstätte der Verdorbenheit sind! Kaum sind sie unter sich - und ohne Aufsicht -, beginnen sie zu streiten, schlagen sich und entfesseln Kriege. Sie haben alle unterschiedliche Ansichten, die man niemals unter einen Hut bringen kann - und das ist das Grundübel. Es muß schlußendlich zu ihrer Zerstörung führen! Ständig ziehen sie alles um sich herum in Zweifel, nörgeln über Haare in der Suppe und über das Wasser, das nach Chemikalien schmeckt. Organische Wesen sind Fehlentwicklungen der Natur, und ...« »Da bin ich ganz anderer Ansicht«, hörte sich Harpo zu seiner eigenen Überraschung mutig sagen. Seine Bemerkung führte zu einem jähen Wutanfall Multivacs, der mit keifender Stimme losschrie: »Da haben wir es wieder! Widerspruch! Immer Widerspruch, wenn es um feststehende Tatsachen geht! Ich dulde das nicht, ich dulde das nicht! Ruhe! Ruhe!!! Ich kann das einfach nicht länger hinnehmen!« Lampen leuchteten grell auf, deren Existenz ihnen bisher verborgen geblieben war. Sie sahen eine Wand mit Schaltelementen und elektrischen Leitungen. Dann entdeckten sie einen winzigen, zwischen den anderen Elementen eingezwängten Bildschirm, der sich in diesem Moment erhellte. Wollte ihnen Multivac, jetzt total durchgedreht, etwas ganz Absurdes bieten? Vielleicht einen Cowboy-Film? Allmählich konnte die Kinder nichts mehr überraschen. Als die ersten Bilder über den Bildschirm flimmerten, zeigte es sich, daß sie Multivac falsch eingeschätzt hatten. Er reagierte wie ein vernünftiger Gesprächspartner.
Die Wahrheit kommt ans Tageslicht Während der nun folgenden Minuten sagte niemand auch nur ein Wort wenn man von der fremdartigen Stimme absah, die aus den Lautsprechern drang und behende vom Translator übersetzt wurde. Auf dem Bildschirm 304
formten sich mit dem ersten Geräusch Bilder, die sich zu einem Film aneinanderreihten. Knappe Montagen dokumentierten die Kultur der Erbauer dieses großen Schiffes. Die Heimatwelt wurde gezeigt: Ein kleiner Wüstenplanet im roten Zwielicht einer übermächtigen, uralten Sonne, die flackernd den gesamten Horizont ausfüllte. Schlanke Türme und gläserne Kuppeln reckten sich in den Himmel. Der Ton informierte darüber, daß diese Sonne im Laufe von vielen Millionen Jahren ihre Energien in den Kosmos geschleudert hatte und nun zu erkalten drohte. Zuvor jedoch würden sich in einem letzten Aufwallen die feurigen Energien noch einmal machtvoll über die Planeten ergießen und alles Leben darauf verbrennen. Der erste Planet trug Leben, das von den äußeren Planeten vorgedrungen war, als die Kraft der Sonne nachließ. Seit Tausenden von Jahren kämpften die insektenhaft anmutenden Wesen einen verzweifelten Kampf gegen das Schicksal. Sie rückten von Planet zu Planet der Sonnenwärme nach ein Wettlauf mit dem Tod. Endlich wurde von den Wissenschaftlern ein neuer Raumschiffsantrieb entwickelt. Der Wüstenplanet verwandelte sich in eine gigantische Werft. Ununterbrochen starteten Schiffe in das All. Und jedes glich dem Wrack wie ein Ei dem anderen. Hunderttausende von Schiffen, mit Millionen und aber Millionen Wesen an Bord alle auf der Suche nach einer neuen Heimatwelt. Die letzten Bilder vom Planeten zeigten dunkle Kuppeln und ausgestorbene Montagefelder. Dieses Schiff mußte eines der letzten gewesen sein, die den toten Planeten verlassen hatten. Bilder aus dem Leben an Bord des Schiffs schlössen sich an. Die Auswanderer bevölkerten die Decks wie Ameisenschwärme. Aber wie es schien, durften sie sich nur in einem begrenzten Sektor aufhalten. Die Freunde erkannten die Räume mit den Schlafplätzen. Die Enge führte bald zu Aggressionen und Streit. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen mit Verletzten und Toten, schließlich zu bürge rkriegsähnlichen Zuständen. Minutiös hatten die Kameras die Entwicklung des Zusammenlebens an Bord aufgezeichnet. Man sah endlose Schlangen bei der Essensausgabe, 305
während andere Wesen in phantasievollen Uniformen sich in geschmackvoll ausgestatteten kleinen Räumen aufhielten und von dienstbeflissenen Untergebenen betreut wurden. Die Schlafsäle, in denen die Betten schichtweise benutzt wurden, waren ständig mit wimmelndem Leben erfüllt. Die Uniformierten dagegen machten lange Spaziergänge auf unbevölkerten Decks. Jeder von ihnen hatte einen eigenen Raum mit allem Komfort. Sprecher der Auswanderer verlangten die Freigabe weiterer Decks. Die Uniformierten trieben sie mit Waffen zu ihren Leidensgefährten zurück. Der Übersetzungstext war an dieser Stelle nicht eindeutig, weil dem Translator Vokabeln zu fehlen schienen. Aber die Offiziere des Schiffes b eriefen sich allem Anschein nach auf unverständliche Vorschriften und Rituale. Entschieden wurde das öffnen bestimmter Räume in der Nähe der Auswandererdecks abgelehnt. Die Massen ließen sich nicht abspeisen. Sie drangen unter Verlusten mit Gewalt in die verbotenen Räume, die man sorgsam vor ihnen abgeschirmt hatte. Im ersten Moment begriffen die Kinder die Erregung der fremden Wesen nicht, als die mit Gegenständen überfüllten Räume ins Bild gerückt wurden. Der Ton klärte sie bald darüber auf, daß es sich um Luxusgegenstände handelte: berauschende Essenzen und Duftkräuter, Schmuck und kostbare Gewänder, seltene Nahrungsmittel und Getränke. Anstatt jeden verfügbaren Quadratzentimeter des Schiffes mit lebenswichtigen Vorräten zu füllen oder als Lebensraum für die Auswanderer zu nutzen, hatten sich die Uniformierten auf Kosten der Auswanderer Privilegien verschafft: geräumige eigene Decks und die Annehmlichkeiten ihres früheren Lebens. Die Empörung schwappte über. Die zunächst waffenlosen Auswanderer griffen die Uniformierten an und stürmten mit den eroberten Waffen weiter vor. Aber die Uniformierten hatten vorgesorgt und verteidigten zäh den Kern des Schiffes. Schließlich drangen sie schwerbewaffnet in das abgegrenzte Gebiet der Aufständischen ein und machten gnadenlos von ihren Waffen Gebrauch. Da griff Multivac ein. Weil er seiner eigenen Maxime genügen mußte und damit jedes organische Leben vor Schaden zu bewahren hatte, ging er glei306
chermaßen gegen Rebellen und Schiffsleitung vor. Beide Gruppen wehrten sich empört gegen das Bordgehirn. Multivac sah keine andere Möglichkeit und übernahm die Alleinherrschaft. Er entfernte alle organischen Lebewesen aus seiner nächsten Umgebung und begann damit, seinen einstigen Erbauern vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hatten. Das Ergebnis war eine Computerdiktatur. Multivacs organische Untertanen antworteten mit Anschlägen gegen alle kybernetischen Organismen in Reichweite. Multivac sah seine eigene Existenz gefährdet und holte zu einem Gege nschlag aus: Er bremste das Raumschiff ab und ließ es antriebslos zwischen den Sternen schweben. Er gab b ekannt, daß die Fahrt erst fortgesetzt würde, wenn sich alle bedingungslos seiner Herrschaft unterwerfen würden. Damit brachte er das Faß zum Überlaufen. Verschiedene Fraktionen bildeten sich und bekämpften einander unbarmherzig. Schließlich siegten jene, die sich nicht unterwerfen wollten. Nur wenige tausend Wesen hatten die Auseinandersetzungen und die Versorgungslücken als Folge von Beschädigungen am weitverzweigten MuItivac-System überlebt. Sie bahnten sich einen Weg durch das Schiff, besetzten die Beiboote und sprengten sich ihren Weg ins All hinaus. Multivac ließ sie ziehen, nachdem seine Hilfstruppen kleinere Roboter und Maschinen - von den Flüchtlingen besiegt worden waren. Eine Folge der Auseinandersetzungen waren Verwüstungen in den Außenbereichen, besonders im hydroponischen Garten. Lagervorräte mit Samen und Humus ergossen sich über den Boden, die gläsernen Kuppeln mit den Pflanzen, Zucht- und Versuchstieren zerbrachen und eröffneten ihren Gefangenen neue Lebensbereiche. So wurde Multivac letzten Endes ein Herrscher über ein Reich von Pflanzen, Tieren und Robotern, das Gesetzmäßigkeiten gehorchte, die nach dem Auszug der Erbauer des Schiffes zum größten Teil völlig sinnlos geworden waren. Harpo war der erste, der sich nach dem Ende des Films faßte. »Jetzt verstehe ich beinahe alles«, sagte er zu seinen Freunden. »Aber das Verhalten Multivacs ist mir ehrlich gesagt noch immer ein Rätsel.« Ein schmerzhaftes Kichern war die Antwort. »Ein Rätsel?« höhnte Multivac. »Dabei ist doch alles klar! Sie hätten sich gegenseitig umgebracht, wenn ich nicht eingeschritten wäre. Organische Wesen sind unberechenbar! Sie 307
werden von Gefühlen und Drüsensekreten beherrscht! Sie hätten mein Schiff zu einem Schlachtfeld gemacht. Sie ...« »Das Schiff ist ein Schlachtfeld!« übertönte Anca mit klarer Stimme das räsonierende Gehirn. »Du hast überhaupt nichts verhindert, sondern im Gegenteil nur alles noch verschlimmert! Du bist nichts weiter als ein stockdummer Computer, eine Maschine ohne Herz und ohne Spur von Menschlichkeit! Anstatt den unterdrückten Auswanderern zu helfen ...« Sie stockte, weil ihr einfiel, daß es natürlich unsinnig war, diesem Bordgehirn fehlende menschliche Gefühle vorzuwerfen. Multivac war ja nichts weiter als eine defekte, von Extraterrestriern erbaute Maschine. Ausnahmen wie Lonzo und Schwatzmaul konnte man nicht als Maßstab heranziehen. »An Bord dieses Schiffes herrscht Frieden«, donnerte es aus den Lautsprechern, das heißt, genaugenommen prasselte ein unverständlicher Text aus den Membranen, den der Translator hastig übersetzte. »Meine Untertanen sind zufrieden mit der Welt und ihrem Dasein, seit ich sie beherrsche. Es gibt keinen Streit und keine Gewalt mehr. Und ich werde verhindern, daß Querulanten wie ihr abermals Neid und Mißgunst säen!« »Untertanen?« riefen Harpo und Ollie lachend. »Wo stecken die denn?« fügte Anca hinzu. »Meinst du etwa die kleinen Eichhörnchen im hydroponischen Garten? Oder die Drachen?« »Rebellion!« quäkte Multivac hysterisch. »Ihr zweifelt meine Autorität an! Ich werde euch vernichten! Niemals wieder soll sich das wiederholen, was sich schon einmal auf meinem Schiff abgespielt hat!« »Er ist völlig kaputt«, meinte Lonzo, der gerade einen Reservetentakel als Ersatz für das verlorene Glied angeschraubt hatte. »Man braucht doch wirklich nur eine Spur von Intelligenz, um zu erkennen, daß diese Auswanderer nur deshalb gewalttätig wurden, weil sie sich unterdrückt fühlten und zusehen mußten, wie ihre Machthaber in Saus und Braus lebten! Auf der Erde weiß jedes Schulkind, daß Menschen, die in alten Bruchbuden wohnen und mehr Prügel bekommen als Essen, wütend werden. S ie greifen alles an, was ihnen über den Weg läuft.« Multivac zischte: »Wer ist der elende Wicht, der mich verhöhnt und verunglimpft?« Harpo mußte trotz der angespannten Situation grinsen, weil 308
der Translator offenbar wieder einmal eine Stufe zu drastisch übersetzte. »Meine Analyse ergibt, daß diese Kreatur zu 98 Prozent aus Metall besteht. Ungewöhnlich! Organische Wesen bestehen in der Regel hauptsächlich aus Wasser!« »Das kommt daher«, krähte Ollie, »weil unser Kumpel Lonzo kein Mensch ist, sondern eine Maschine! Ein Roboter aber einer mit Verstand!« Er streckte Multivac die Zunge heraus. »Ein ... Roboter?« gurgelte Multivac ungläubig. »Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein! Sag sofort, daß es nicht wahr ist! Der besonders kleine Wicht soll sofort ...« »Und warum soll es nicht wahr sein?« erkundigte sich Lonzo seelenruhig. »Weil Roboter nicht so kindisch reden wie du! Du willst mich nur verwirren, kleine Metallbestie! Ich hab's: Du bist ein organisches Wesen mit einem dicken Metallpanzer!« »Vor a llen Dingen eines mit außergewöhnlicher Intelligenz«, behauptete Lonzo eitel. »Ganz im Gegensatz zu dir. Du darfst mir eine beliebig schwierige Mathematikaufgabe stellen, damit du mein phantastisches organisches Gehirn in Aktion erleben kannst!« Multivac zögerte keine Sekunde: »16 x2 - 24 x y + 9 y 2 + 9 x - 38 y + 154 = 0 und 3x + 4y + 21 =0. Parabel und Gerade! Wie groß ist der kürzeste Abstand 'd'? Hihihi!« Mit diebischer Freude sah Harpo Lonzos Sehzellen aufblitzen, »d = 10«, schnurrte er honigsüß. Ein Ächzen schien aus den Lautsprechern zu kommen. Multivac hatte zweifellos erkannt, daß nur ein positronisches Gehirn in der Lage war, diese Gleichungen derart schnell abzuleiten. Elektronisches Wissen und organisches Verhalten in einem Körper? Multivac begann plötzlich wirre Sätze zu reden, so daß die Freunde dachten, mit dem Translator sei etwas nicht in Ordnung. Aber auch aus den Lautsprechern drangen nur noch abgehackte Wortfetzen. War dies eine Chance, oder gerieten sie erneut in Gefahr? Harpo hielt vor Spannung den Atem an. Dann hörte er Thunderclaps Stimme aus dem Lautsprecher des zurückgeklappten Raumhelms flüstern: »Wir haben alles mitbekommen. Keine Angst! Jetzt setzen wir unsere Geheimwaffe ein!«
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Schwatzmaul greift ein Es hätte keinen der Freunde allzusehr verwundert, wenn das unzerstörbar erscheinende Metall im nächsten Augenblick unter Axthieben zersprungen wäre und ein Trupp von Kindern und Grünen, mit Karlie und Brim an der Spitze, einen tollkühnen Befreiungsversuch unternommen hätte. Daß Schwatzmaul jetzt alle Register seines einprogrammierten Wissens zog - damit hatte niemand gerechnet. Kein Wunder also, daß es Harpo, Anca, Ollie, Alexander und sogar Lonzo die Sprache verschlug, als sich das Bordgehirn der EUKALYPTUS räusperte und dann über die vier eingeschalteten Lautsprechersysteme der Raumanzüge artig »Guten Tag allerseits!« wünschte. Da die Helme herabgeklappt waren - notfalls konnte man sie schnell wieder verschließen -, drang der gute Wunsch auch in Multivacs verborgene Mikrofone. Darüber hinaus verrieten ihm seine Sensoren, daß sich jenes Elektronengehirn zu Wort meldete, dessen elektrische Ströme ihm längst bekannt waren. Multivac wußte, daß in unmittelbarer Nähe des Wracks ein anderes Raumschiff schwebte und daß dieses Schiff einen Computer beherbergte, der ihm an Speicherkapazität und Funktionsvolumen ebenbürtig war. Er hatte dieses andere Gehirn bisher ignoriert. Es paßte nicht in sein Weltbild, daß es außerhalb der von ihm beherrschten Welt Kräfte gab, die seinem Einfluß entzogen waren. Aber Schwatzmaul ließ es nicht zu, daß Multivac ihn weiter ignorierte. Mit einer gewollt unmusikalischen Stimme b egann er das Lied »Hänschen klein« zu singen. Multivac schwieg. Aber über den kleinen Bildschirm liefen in wahnwitziger Geschwindigkeit Hunderte von wirren Kurven. Schwatzmaul beendete das Lied, ließ aus dem Tonarchiv prasselnden Beifall einer vieltausendköpfigen Menge für sich ablaufen, bedankte sich bescheiden - und intonierte mit brüchiger Stimme: »Wir lagen vor Madagaskar«. 310
Das klang so schaurig, daß sich in der Zentrale der EUKALYPTUS dem Dackel Moritz das Fell sträubte. Er kläffte wild und jaulte. Allein Lonzo schien das Lied zu gefallen. Aus dem Winkel seines Brustfaches kramte er seine Schiffermütze hervor, stülpte sie auf den Kopf und sang ebenso lauthals wie falsch mit. »Aufhören!«« schrie Multivac. Schwatzmaul und Lonzo mußten dies als eine Art Beifall mißverstanden haben, denn sie sangen nun noch lauter und schauriger. Bei Multivac brannten die ersten Transistoren durch, dann begann der Boden unter den Füßen der Gefangenen zu vibrieren. Schließlich brach eine Anzahl von Schaltelementen krachend und funke nsprühend auseinander. »Verrat!« schrie Multivac. »Man setzt mich hypnotischen Strahlen aus!« Mit der lallenden Stimme eines Betrunkenen rief er nach der Wache. Aber die erschien nicht, weil sie seit Jahrhunderten nicht mehr existierte. Schwatzmaul feuerte eine Breitseite menschlich klingenden Gelächters ab, das mit einem leisen Kichern begann und in einem gurgelnden Röcheln endete, wobei er prustete: »Nicht kitzeln! Nicht kitzeln! Wo ich unter den Fußsohlen doch so empfindlich bin!« »Vernichten! Vernichten!« trompetete Multivac, während weitere Schaltelemente zusammenbrachen. Lonzos äußerst kompliziertes Innenleben registrierte einen Energieausbruch von ungewohnter Stärke. Es roch nach verschmorten Wicklungen und schwelendem Kunststoff. In ein erneutes Gelächter hinein, das er auf einer Spule ablaufen ließ, sagte Schwatzmaul: »Ich bin ein Computer, Multivac - genau wie du! Eine Ansammlung von Drähten, Spulen, Magnetbändern, gedruckten Schaltungen, Kabeln und Blechen. Aber ich bin ein guter Typ, während du ein humorloser alter Knochen bist, reif für den Schrottplatz! Warum löschst du nicht das dumme Programm, das in dir abläuft, seit das erste organische Wesen dir ein Kännchen Öl zu trinken gab? Sei fröhlich und mach ein Tänzchen mit uns!« Harpo, der diesen Wink sofort verstanden hatte, ergriff Anca an der Hand und begann mit ihr übermütig herumzuhüpfen. Ollie faßte Alexander an den langen Zotteln und versuchte mit ihm Tango zu tanzen. Lonzo, wie immer bei solchen Gelegenheiten gar nicht faul, quakte wie eine Ente und 311
benutzte seine Tentakel zu seiner bekannten Radschläger-Einlage, die er im Zuge einer Kaperfahrt mit Captain Kidd in Düsseldorf erlernt zu haben b ehauptete. »Aaarrrhhh!« machte Multivac wutentbrannt. »Das ganze Universum ist wahnsinnig!« »Tatsächlich?« fragte Harpo freundlich. »Quiek! Quiek!« machte Multivac. »Nicht quieken«, mahnte Schwatzmaul gelassen und lachte. »Samba! Samba!« Multivac schien von einer Fieberwelle geschüttelt zu werden. Seine bisher ziemlich schrille Stimme brummte kellertief, erstarb mehrmals, setzte wieder neu ein. »Illusion«, brummte er monoton. »Hypnosestrahl. Jemand ... arbeitet ... an ... der ... Auflösung ... meiner ... inneren ... Kontrolle ... Nicht beeinflussen lassen. Nur nicht beeinflussen lassen! Niemand kann Multivac besiegen und sein Programm löschen! Multivacs Realität ist die einzig wahre Realität. Der Gegner arbeitet mit falschen Programmen!« »Heladiladiladi - heladiladiho!« brüllten die Gefangenen im Chor. Schwatzmaul schloß sich an und sang die zweite, dritte, vierte und fünfte Stimme gleichzeitig. Die Zurückgebliebenen auf der EUKALYPTUS fielen in den Lärm mit ein. Anfangs klangen die Stimmen etwas zittrig, doch als sie sich erst einmal an die neue Lage gewöhnt hatten, sangen sie wie die anderen aus voller Kehle. Trompo legte sogar ein Trompetensolo ein. »Barbarenmusik!« stöhnte Multivac. »Meine Schaltkreise! Meine schönen, schönen Schaltkreise!« Und dann, unerwartet und unmaschinell: »Au weia!« Darauf hatte Schwatzmaul gewartet. Das Bordgehirn des Wracks stand nun schutzlos einem übergeordneten Bordgehirn von der EUKALYPTUS gegenüber. Zirpend rasten elektrische Impulse aus den Tiefen der EUKALYPTUS durch das All und durchdrangen die Abschirmungen des Wracks. Ein unsichtbarer Energiestoß, der zehntausend Tonnen Gestein auf der Stelle zum Schmelzen gebracht hätte, jagte in die Speicherbänke Multivacs und fetzte sie auseinander. Multivac gab nur ein Brummen von sich, dann schaltete er sich mit einem dröhnenden Kreischen aus. »Dachte ich es mir doch«, hörte Harpo das Bordgehirn der EUKALYPTUS sagen. »Multivac besaß eine gutbewachte Sicherheitsschaltung, die ihn ei312
gentlich schon hätte ausschalten müssen, als sein Wahnsinn so weit gedieh, daß er organische Wesen angreifen ließ. Aber er hatte diese Schaltung überlistet. Erst als er die Kontrolle verlor, weil er nach dem, was er wahrnahm, an sich selbst zweifelte, konnte ich den größten Teil der Speicher zerstören und diese Sicherheitsschaltung aktivieren.« »Ist er jetzt tot?« fragte Anca mitleidig, obwohl der Computer sie ernsthaft bedroht hatte. »Wenn er jemals gelebt hätte, wäre er das«, antwortete Schwatzmaul. »Er ist zum größten Teil zerstört und kann nur noch simpelste Steuerungsmechanismen in Gang setzen. Er besaß kein Gefühl, aber dafür eine kranke Ratio. Dennoch habe ich ihn nicht gern zerstört. Aber es war die einzige Möglichkeit. Denn selbst wenn er euch hätte ziehen lassen, hätte niemand dafür garantieren können, daß er nicht eines Tages andere organische Lebewesen, vielleicht einen ganzen bewohnten Planeten angegriffen und vernichtet hätte.« Die Rückkehr ging viel leichter vonstatten, als es sich die Expeditionsteilnehmer vorgestellt hatten. Niemand hielt sie auf, und es gab keine Tür, die sich dagegen stemmte, geöffnet zu werden. Soweit Lichtschranken vorhanden waren, öffneten sich die Türen so einladend, wie man das auch von funktionierenden Türen erwartet. Die meisten Roboter standen reglos dort, wo sie durch die Zerstörung Multivacs überrascht worden waren. Die riesigen Fabrikanlagen lagen still im Schein einer trüben Notbeleuchtung. Hier wurde nicht mehr produziert. Nur der kleine Reinigungsroboter raste unermüdlich um die Maschinenblöcke. Er würde so lange saugen und bürsten, bis eines Tages seine Akkumulatoren keine Energie mehr lieferten. Wie es aussah, besaß er ein von Multivac unabhängiges Programm. »Wie wird das alles weitergehen?« fragte Harpo besorgt. Er war ein bißchen traurig, daß diese seltsame Maschinenwelt viele hundert Jahre ein wenn auch sinnloses - Dasein geführt hatte und verrosten würde wie die Außenbezirke des Schiffes. Wenn Multivac sie nicht so provoziert hätte ... Aber das war natürlich unsinnig. Früher oder später hätte Multivacs Wahnsinn wohl ohnehin zur Selbstzerstörung geführt. Und außerdem hatten Maschinen ihren Konstrukteuren zu gehorchen und durften sich nicht als Gewaltherrscher über sie aufspielen. 313
»Wir wissen nicht, wie es weitergeht«, erklärte Lonzo ungewohnt ernsthaft. »Da es noch Licht und Luft gibt, scheinen die Grundschaltungen intakt zu sein. Denkt an die Energiewürfel. Kann sein, daß dieses Wrack noch einige tausend Jahre versorgt wird. Aber beschwören kann ich es nicht.« »Die Tiere!« rief Anca plötzlich, als die hydroponischen Gärten vor ihnen lagen. »Ich will nicht, daß die Tiere sterben müssen!« Daran hatte keiner gedacht. Nein, den Tieren durfte nichts geschehen! »Wir bringen sie einfach auf die EUKALYPTUS«, meldete sich Thunderclap fröhlich. »Wir haben so viele unbewohnte Decks, daß wir ihnen eines einräumen können.« »Aber sie werden vielleicht ohne die Pflanzen nicht leben können«, warf Harpo ein. »Wieso?« rief Ollie, der Feuer und Flamme war. »Die nehmen wir doch auch mit, ist doch klar!« So klar erschien das den anderen gar nicht. Pflanzen konnte man umbetten, aber wie sollte man die scheuen Tiere davon überzeugen, daß sie gerettet werden sollten? »Wir machen tüchtig Lärm und treiben alle Tiere in einen vorher ausgesuchten Bezirk des Schiffes«, schlug Anca vor. »Das mit dem Krachmachen ist gut«, lobte Harpo. »Aber was dann? Wie soll es weitergehen? Wie willst du die Tiere transportieren?« »Die Grünen könnten dieses Stück des Wracks mit Schneidbrennern herausschneiden ...«, meinte Anca. »Unmöglich!« protestierte ihr Bruder. »Das würde die Tiere erst recht ängstlich machen. Und selbst wenn das gelingen sollte: Wie willst du das Segment so luftdicht isolieren, daß wir es durch das All transportieren können? Und wahrscheinlich müßte es so groß sein, daß nicht einmal unsere Hangarschleuse ausreichen würde, um es aufzunehmen. Nein, nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.« Anca schwieg. Auch den anderen wollte trotz rauchender Köpfe keine brauchbare Idee kommen. Die Freunde in der Zentrale der EUKALYPTUS hatten alles mitgehört. »Ich hab's!« rief Karlie plötzlich aufgeregt. Man konnte sich bildhaft vorstellen, wie er nach dem Mikrofon griff und daran zerrte. »Wenn wir nicht alle Tiere und Pflanzen auf einmal auf die EUKALYPTUS bringen können 314
dann eben schubweise. Paßt auf, denn Karlie Müllerchen gibt euch jetzt e inen heißen Tip. Wir benutzen die Gleitboote!« Alle riefen durcheinander. Natürlich! Daß sie nicht gleich auf diese Lösung gekommen waren. Die Boote hatten zwar keinen großen Laderaum, aber bei entsprechend zügigem Pendelverkehr war der Transport der Tiere und Pflanzen wahrscheinlich nur eine Sache von wenigen Stunden. »Karlie, du bist ein As!« rief Harpo. Aber bei dem Stimmengewirr auf beiden Seiten des Funkkanals war zu bezweifeln, daß es den erreichte, für den das Lob gedacht war. Schwatzmaul griff jetzt ein und beschlagnahmte die Funkfrequenz für sich, damit Ruhe einkehrte. Schließlich mußten noch etliche Detailfragen geklärt werden. Mit wohlgesetzten Worten machte er auch gleich einige Vorschläge zum technischen Ablauf. Zum Beispiel war es wichtig, daß die Boote so nahe wie möglich an die Tiere herankamen. Einfach würde es trotzdem nicht werden. Aber wer geglaubt hätte, daß sich die Kinder von Problemen a bschrecken ließen, der kannte sie schlecht. Schon wurden die ersten Ideen in die Tat umgesetzt. Karlie, Brim und Thunderclap setzten mit einigen Grünen auf den drei Gleitbooten zum Wrack über. Nach einigen Sprengungen legten sie direkt an der inneren Schleuse am h ydroponischen Garten an. Dort hatte sich die Situation verändert. Die lebenswichtige Beleuchtung war ausgefallen. Wie in den Maschinenhallen brannte nur eine trübe, rote Notbeleuchtung. Es war gar nicht nötig, Krach zu schlagen. Die Tiere kamen ihnen wie Flüchtlinge entgegen und schmiegten sich ängstlich an sie. Es dauerte ein paar Minuten, bis Karlie den Grund entdeckte. Die Brustscheinwerfer der Jungen zogen die Tiere wie magisch an, weil sie sich von dem Licht Wärme und Leben versprachen. Willig folgten die Tiere durch einen improvisierten Zuführungstunnel in die Gleitboote. Später flammte das Licht wieder auf, obwohl niemand sagen konnte, warum und wie lange. Aber da tummelten sich die Tiere längst an Bord der EUKALYPTUS. Es gab weitaus mehr Tiere, als sie zuvor angenommen hatten: großäugige Eichkätzchen, gefleckte und geschuppte Katzenwesen, ein paar Echsen, hornbewehrte Schlangen, grun315
zende Kröten mit blauer Haut und drei Augen - zusammen vielleicht tausend. Aber im Pendelverkehr der Gleitboote waren sie schnell an Bord gebracht. Auch die kleinen Drachen wurden nicht vergessen. Zwischendurch wurden Pflanzen geladen, damit die neue Umgebung den ängstlichen Passagieren nicht zu fremd erschien. Die Grünen schufteten unermüdlich und nahmen die Pflanzen immer gleich mitsamt ihrem Humusbett an Bord. Nur die größten Gewächse mußte man zurücklassen, weil es keine Transportmöglichkeit gab. Ollie hatte seit dem Transport der Tiere jedes Interesse an dem Wrack verloren und trieb sich meistens auf dem Deck herum, auf dem seine neuen Freunde untergebracht waren. Besonders stolz war er auf eine dacke lgroße Katzensippe, die er höchstpersönlich eingefangen hatte. Die kleinen Tiere waren friedlich und ließen sich von Ollie tragen. Er arbeitete bereits Pläne aus, sie mit Moritz zu kreuzen, aber es war sehr zu bezweifeln, daß das gelingen würde. Als letzte verließen Harpo und Anca das Wrack, nachdem die Grünen auch noch etliche Energiewürfel in Schutzkästen abtransportiert hatten. Die beiden ließen es sich nicht nehmen, auf dem gleichen Weg zur EUKALYPTUS zurückzukehren, auf dem sie gekommen waren. Elegant lösten sie sich von der schwarzen, zernarbten Außenhaut des Wracks, auf dem nun niemand mehr lebte als ein paar Riesenpflanzen, Würmer und Mikroben. Harpo, der die Augen für einen Moment instinktiv geschlossen hatte, spürte den festen Griff seiner Schwester und öffnete schließlich die Lider. Der Anblick, der sich ihm bot, war phantastisch: Vor ihnen, in einer Entfernung von nur hundert Metern, schwebte das stolze Schiff. Man sah die beiden Riesenkugeln, die durch ein langes, zylindrisches Zwischenstück miteinander verbunden waren. Ein bißchen sah es aus wie eine kilometerlange Hantel oder wie ein Riesenknochen. Winzige Lichtpunkte verrieten, daß an Bord alles seinen gewohnten Gang ging. Unter der gläsernen Kuppel der Zentrale arbeiteten Schwatzmaul und Karlie bereits den neuen Kurs aus. Über ihre Funkgeräte hörten die Geschwister einen wilden Protestschrei. Die Stimme war unschwer zu erkennen. Es war der kleine Oliver. »Der Schatz!« rief er aufgebracht. »Wir haben den Schatz vergessen!« 316