STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 187
Lars Korten
Poietischer Realismus Zur Novelle der Jahre 1848–1888 Stifter, Keller, Meyer, Storm
n Max Niemeyer Verlag T1bingen 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 1ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-18187-8
ISSN 0081-7236
; Max Niemeyer Verlag, T1bingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch1tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul@ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f1r Vervielf@ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest@ndigem Papier. Satz: Dçrlemann, Lemfçrde Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
›Poesie der Poesie‹: Hoffmann, ›Der goldene Topf‹ und Storm, ›Der Schimmelreiter‹; Probleme der Beglaubigung: Meyer, ›Das Amulett‹; ›poietische Darstellungsstörungen‹: aemulatio der Romantik, Nobilitierung der Prosa; Programm
. Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
›Prosa höheren Grades‹
. Novellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Forschungsberichte; Sammlungen; historische Begrifflichkeit; Definitionsmerkmale; Storm, ›Schwester des Dramas‹; Heyse, ›Falke‹; Tieck, ›Wendepunkt‹; Goethe, ›sich ereignete unerhörte Begebenheit‹; Tradition: Boccaccio; Tradition: moralische Erzählungen; Novellenzyklen
. Novellistische Praxis (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gotthelf, ›Die schwarze Spinne‹: Lehrsatz, Schachtelung; Mörike, ›Mozart auf der Reise nach Prag‹: Mehrstimmigkeit, Detailtreue, Paratextualität (Fußnote); Grillparzer, ›Der arme Spielmann‹: Widersprüche in der Binnenerzählung, Erzählmotivation; Fontane, ›Grete Minde‹: Paratextualität (Untertitel); Saar, ›Marianne‹: Herausgeberfiktion; Droste-Hülshoff, ›Die Judenbuche‹: gleich- und nachrangige Sprechinstanzen; Widersprüche in der Erzählung
. Novellistische Praxis (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ludwig, ›Zwischen Himmel und Erde‹: Ästhetisierungsstrategien und ›mittlere Länge‹; Heyse, ›L’Arrabiata‹: Novellistik ohne ›Gemachtheit‹; ›Ästhetisierung‹ als ergänzendes novellistisches Merkmal
. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Raabe, ›Die Chronik der Sperlingsgasse‹; inhaltliche und formale Bestimmung von ›Novelle‹; historische Praxis; ›Erzählung‹ statt ›Novelle‹; formale Charakterisierung von ›Novelle‹ unter Berücksichtigung von ›Ästhetisierungsstrategien‹
. Narratologischer Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Selbstreflexives Erzählen; Paratextualität; Rahmung; Metanarration; Metafiktion
. Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
›Poietische Wirklichkeit‹
. Programmatik des Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kopie der Natur; Kunsttauglichkeit des Profanen; gegen romantische Utopien und Paradoxien; Vorzug der aktuellen Lebenswirklichkeit; gegen den französischen Naturalismus; Wahrheit; Verklärung; Realidealismus: das Wahrscheinliche und das Wesentliche; Wahrheit durch Prosa; Abwertung der Prosa; poetischer Mehrwert der Prosa; Stil; Überbietung der Verskunst; ›Literatengewimmel‹; Etablierung der neuen Form
V
. Ästhetische Illusion, Darstellung und Mimesis . . . . . . . . . .
Fiktional- und Wirklichkeitsaussagen; ›Realismus‹ des Realismus; ästhetische Illusion: ›Hineinversetzt-Werden‹ und ›Distanz‹; Celare-artem-Prinzip; Scheinrealität; Kritik am illusionistischen Konzept; Erläuterung von ›Darstellung‹ und ›Darstellungsstörung‹; Mimesis nach Aristoteles; Wahrscheinlichkeit; Mimesis als literarisches Konzept zur verläßlichen Darstellung
. Poetisierung und Poiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Detailrealismus; ›poetisch‹; subjektive gegenüber objektiver Erzählweise; Humor; Distanz zur Darstellung; ›Poiesis‹ als novellistisches Prinzip
. »Aber dieß Alles hat sich wirklich zugetragen« – wie sich Kunst markiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Droste-Hülshoff, ›Die Judenbuche‹: Wahrheitsbeteuerung des Erzählers; Allwissenheit; Zurücktreten des Erzählers; Kriminalgeschichte; Erzählerkommentare; Beglaubigung als Paradoxon; ›Ästhetisierung‹ durch Beglaubigung
. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Realidealistisches Literaturprogramm; Nobilitierung der Prosa; mimetische Darstellung und poietische Störung
. Adalbert Stifter. ›Bunte Steine‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung und Kapitelüberblick
. Groß und Klein, Sein und Schein . . . . . . . . . . . . . . . . .
Buch- und Journalfassungen; ›Einleitung‹: Sammlertätigkeit; Bearbeitung und Rezeptionshaltung; ›Vorrede‹ und ›Einleitung‹: zur Identität der ›Stimmen‹; das ›Sanfte Gesetz‹; Widersprüche im Kleinen und Großen; ›aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul‹; poetologische Konzeption der ›Vorrede‹ nicht vereinbar mit der ›Einleitung‹ und den Novellen; Zusammenfassung
. ›Bunte Steine‹ aus zweiter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . .
›Turmalin‹: übergeordnete Erzählinstanz; Erzähler kennt nur Teile der Geschichte; Erzählerin übernimmt den zweiten Teil, weiß aber auch nicht mehr; komplexe, verschleiernde Rahmenhandlung; Distanz des Erzählers zu ›seiner‹ Geschichte; ›Granit‹: ›buchstabiertes Panorama‹; Sehen, Sein und Wissen; metaleptische Annäherung; Distanz des Erzählers zu ›seiner‹ Geschichte; Dissoziation der Welt und der Beginn des Märchens; ›Kalkstein‹: Erzählsituation von Buch- und Journalfassung; Gewitter; erzählter Rahmenerzähler
. ›Bunte Steine‹ wahrscheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
›Bergkristall‹: Beschreibung und metaphorische Handlungsinitiation; unglaublich fehlgedeutetes Wetter; Bergbesteigung in Theorie für die Praxis; christlicher Schein; ›Kazensilber‹: Sagen und Empirie; das märchenhafte braune Mädchen; ›Bergmilch‹: Möglichkeit ›unpoietischen‹ Erzählens; Konzentration auf Darstellung
. ›Bunte Steine‹ in Serie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zyklizität: kein erkennbarer ›Sinn‹ in der Titelgebung; interpretatorischer Mehrwert durch die Abfolge der Novellen/Steine; Magmatite, Mineralien und Sedimentite; vom Urgestein zum Pulver; ›lustiges Spiel‹
VI
. Gottfried Keller. ›Züricher Novellen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Kapitelüberblick
. Die Geschichten der Paten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfangsrahmen: Originalitätssucht; Verlassen der potentiellen Erzählgemeinschaft; gute Originalität; ›Hadlaub‹: fingierte Mündlich- und Schriftlichkeit; Rahmen- und Binnenerzählung mit ›fälschlich‹ ausgewiesenen Verbindungsgliedern; ›Der Narr auf Manegg‹: unsicherer Status der Binnenerzählung; ›Der Landvogt von Greifensee‹: Manuskriptfiktion; bearbeitete Binnenerzählung; potenzierte Manuskriptfiktion; Schlußrahmen: Jacques als Pate, erzählt seinerseits; Paradoxie: auf den Schlußrahmen folgen zwei weitere Novellen
. Entstehungsgeschichte der ›Züricher Novellen‹ . . . . . . . . . .
Plan zu ›Zürchernovellen‹ seit ; Beginn der Umsetzung , Entwurf des Zyklus als Journal- und als Buchfassung; seit Herbst beginnt die Veröffentlichung in der ›Deutschen Rundschau‹; Keller schließt den Zyklus Ende Februar ab, beginnt im Sommer mit der Buchausgabe; im Dezember erscheint der Zyklus in zwei Bänden, erweitert um zwei Novellen
. Exkurs: Die Textkonstitution der ›Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussionen um die ›Fassung letzter Hand‹; Entscheidung der HKKA, sich an den ›Gesammelten Werken‹ auszurichten; Problematik dieser Entscheidung
. Text- und Zykluskonstitution der ›Züricher Novellen‹ . . . . . . Schemata zu Titelüberschriften und Zyklusanordnung entsprechend der Journal- und den Buchfassungen; Textvorlage bestimmt die Zyklusinterpretation; ›kulturgeschichtliche‹ Interpretation; Widersprüche zwischen Erzählfiktion (Rahmenhandlung) und erzählter Fiktion (Binnenhandlung); ›comödiert‹
. Conrad Ferdinand Meyer. ›Die Hochzeit des Mönchs‹ . . . . . . . . Einleitung und Kapitelüberblick
. Die Hochzeiten des Mönchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Binnenhandlung von ›Die Hochzeit des Mönchs‹; Dante als Erzähler der Binnengeschichte: Strategien der ›Beglaubigung‹; Kommentierung; Allwissenheit; Wahrscheinlichkeit; Vermutung; Sinnwidrigkeit; Umwertung des Faktischen; Zusammenfassung
. Die Erfindung der Binnenerzählung . . . . . . . . . . . . . . . Erzählspiel; Vorbereitung der Binnengeschichte: Novität, Schluß und Authentizität; Spiegelung der Rahmengesellschaft; zweierlei Darstellungsstörungen; Unterbrechungen der Binnenerzählung: Ausrichtung an der Rahmengesellschaft, Exkurs, Besinnung, Irrtum, Injurie, Korrekturen, Spiegelung, Reflexion, Absehbarkeit, Unwahrscheinlichkeit; Verschiebung vom ›was‹ zum ›wie‹
. Tödlicher Platz- und Berufswechsel: »Erzähle, Meister, statt zu singen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensentlehnungen; Dantes Identität in der Binnenerzählung: der Florentiner, Ezzelin, Astorre; Dantes Platzwahl; Dantes Platztausch; Strategien des Rahmenerzählers und Dantes; Berufswechsel: Dante als Erzähler; Boccaccio; Dante als Versdichter; ›Comedia‹Kritik: Verantwortung des Autors für Faktizität der Fiktion; Dantes Berufswechsel als tödliche Anpassung an die Gesetze des Erzählens
VII
. ›Die Hochzeit des Mönchs‹ als beispielhafte Novelle des Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Kritik an der Rahmenerzählung; Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Forschung: ›shaping reality‹ und romantische Ironie; gesteigerte Ästhetisierung; ›modernste Palettenkünste‹
. Theodor Storm. Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Kapitelüberblick
. Sozialkritische, poetische und poietische Standpunkte: ›Ein Doppelgänger‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialkritische, begeisterte Rezeption; ein Brunnen als Schicksalsmacht; Tod durch das Dingsymbol vs. Scheitern an der Gesellschaft; Erzählstrategie zum Brunnen-Motiv; ›gemachte‹ Figurenpsychologie; idyllischer Rahmen als ›klassische Dämpfung‹; Rahmenhandlung, Identität Hansens; halbvisionäres Erzählen; Stellenwert der Poesie in der Rahmenerzählung; Doppelgängertum, Visionen, Erzählen; letzte und erste ›Wirklichkeit‹: Erzählgegenwart
. »Ihnen erzähl’ ich’s gern« – erzählte Geschichten . . . . . . . . Textcorpus der Novellen mit mündlich vorgetragener Binnengeschichte; ›aemulatio‹ der Mündlichkeit; Erzählgesellschaft: ›Im Saal‹; ›Eine Malerarbeit‹; ›Der Herr Etatsrat‹; Novellenentwürfe; ›»Es waren zwei Königskinder«‹; ›Im Brauer-Hause‹; ›Der Schimmelreiter‹; dialogisches Erzählen: ›Unter dem Tannenbaum‹; ›In St. Jürgen‹; ›Abseits‹; ›Ein stiller Musikant‹; ›John Riew’‹; ›Späte Rosen‹; ›Von Jenseit des Meeres‹; ›Pole Poppenspäler‹; ›Ein Bekenntnis‹; ›Im Nachbarhause links‹; kurze Zusammenfassung
. »Darf ich die Blätter lesen?« – aufgeschriebene Geschichten . . Textcorpus der Novellen mit schriftlich fixierter Binnengeschichte; ›aemulatio‹ der Schriftlichkeit; ›Aquis submersus‹; ›Ein grünes Blatt‹; ›Im Schloß‹; ›Renate‹; ›Zur Chronik von Grieshuus‹; kurze Zusammenfassung
. »Und ich entsinne mich noch« – erinnerte Geschichten . . . . . Textcorpus der Novellen mit erinnerter, aber medial unbestimmter Binnengeschichte; zur ›Erinnerungssituation‹; ›Immensee‹; ›Marthe und ihre Uhr‹; ›Posthuma‹; ›Auf dem Staatshof‹; ›Drüben am Markt‹; ›Auf der Universität‹; ›Eine Halligfahrt‹; ›Beim Vetter Christian‹; ›Zur »Wald- und Wasserfreude«‹; ›Ein Doppelgänger‹; ›Die Söhne des Senators‹; ›Hans und Heinz Kirch‹; ›Bötjer Basch‹; kurze Zusammenfassung
. »Es war an einem Herbstabend« – Geschichten . . . . . . . . . Textcorpus der Novellen ohne dezidierte Rahmensituation; auf Darstellung ausgerichtetes Erzählen und sublime Störungen; ›Eekenhof‹; ›Ein Fest auf Haderslevhuus‹; ›Carsten Curator‹; ›Im Sonnenschein‹; ›Angelica‹; ›Wenn die Äpfel reif sind‹; ›Veronica‹; ›Draußen im Heidedorf‹; ›Viola tricolor‹; ›Waldwinkel‹; ›Psyche‹; ›Schweigen‹; kurze Zusammenfassung
Poiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler in der Berichterstattung; Zusammenfassungen; Beglaubigung und ›Ästhetisierung‹; Ironie
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII
Einleitung
Wenn es dem Studenten Anselmus möglich ist, die Tochter des Salamanders zu ehelichen, dann kann es auch einem alten Schimmel nicht schwer fallen, nach Jevershallig zu gelangen. Realisiert wird beides in der Kunst, jedoch nicht bloß im Sinne der ›schönen Literatur‹ und ihrer Fiktionalität, sondern als ein Charakteristikum des ästhetisch komplexen Textes. Sobald nämlich ein poetischer Text von seiner Darstellungsebene abstrahiert und sich selbst als ›konstruiert‹ zu erkennen gibt, wird sein ›poietischer‹ Charakter offenbar. In E. T. A. Hoffmanns ›Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit‹ () bereitet die Doppelexistenz des Archivarius Lindhorst als angesehener Gelehrter und verzauberter Salamander insofern keine Schwierigkeit, als ›Der goldene Topf‹ die Erzählung eines Dichters ist, dem es nach allzu ausgiebigem Punschgenuß nicht gelingt, das Schlußkapitel zu schreiben. Die elf vorangehenden ›Vigilien‹, in denen sich die merkwürdigen Begebenheiten mit Schlangen, Äpfelweib, mysteriösen Aufzeichnungen und wiederum viel Punsch zutragen, sind demnach das Produkt eines Erzählers, der seiner Arbeit als Dichter solange nachkommt, bis er seine Möglichkeiten erschöpft sieht und das drohende Scheitern entsprechend expliziert. Die genaue Unterscheidung zwischen Darstellung (Vigilie –) und Fokussierung des Darstellungsmodus (Vigilie ) geht einher mit der Distanzierung vom Erzählten: ›Der goldene Topf‹ gibt sich dezidiert als literarisches Kunstwerk aus. Ganz im Sinne der romantischen Programmatik bleibt es jedoch nicht bei dieser strikten Opposition. In der letzten Vigilie greift nämlich die Märchenwelt in die prosaische Nacht des Dichters über: die Einladung des Salamanders an den Erzähler ist der Eintritt der ›Poesie in das Le
Vgl. Albert Meier, »Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?«. Die Subversion des Realismus in Theodor Storms Der Schimmelreiter. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, hg. von Hans Krah und Claus-Michel Ort, Kiel , S. –. E. T. A. Hoffmann, Der goldene Topf. In: ders., Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke , hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht, Frankfurt am Main , S. –. Vgl. auch den Kommentar in Hoffmann, Der goldene Topf, S. f. sowie Albert Meier, Ironie ist Pflicht. Wie romantische Dichtung zu lesen ist. In: Text und Kritik, : Aktualität der Romantik, , S. –.
ben‹. Die Darstellung vereinnahmt auf diese Weise den Darstellungsmodus: ›Der goldene Topf‹ ist ein ›Märchen aus der neuen Zeit‹, in der ein Dichter sich mit Hilfe seiner Figuren erfolgreich um das Ende seiner Geschichte bemüht. Der ›poietische‹ Akt des Märchen-Schreibens, zunächst eine fiktionsimmanente ›Störung‹, wird somit zum Teil der Darstellung. E. T. A. Hoffmanns Erzählung schafft demnach keine Distanz von der Darstellung und ist in diesem Sinne keine ›Poesie der Poesie‹, sondern schlichtweg Darstellung empirisch unzugänglicher, nämlich rational paradoxer Ereignisse. Hauke Haiens Erwerb eines abgemagerten Pferdes fällt in Theodor Storms ›Der Schimmelreiter‹ () zeitlich mit einer Geistererscheinung auf Jevershallig zusammen. Iven Johns und Carsten, Knecht und Dienstjunge des Deichgrafen, beobachten das Unglaubliche: »Wonach guckst du denn so?« frug der Junge. Der Knecht hob den Arm und wies stumm nach der Hallig. »Oha!« flüsterte der Junge; »Da geht ein Pferd – ein Schimmel – das muß der Teufel reiten – wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?« – »Weiß nicht, Carsten; wenn’s nur ein richtiges Pferd ist!« »Ja, ja, Iven; sieh nur, es frißt ganz wie ein Pferd! Aber wer hat’s dahin gebracht; wir haben im Dorf so große Böte gar nicht!« (S. )
Carstens Vermutung, das alte Pferdegerippe auf Jevershallig sei in manchen Nächten »lebig«, wird von Johns als »Altweiberglaube« abgetan (beide Zitate S. ). Zur Vergewisserung setzt Carsten am nächsten Abend mit einem Boot auf die Hallig über. Der zurückbleibende Johns sieht Carsten auf das, »was sie für einen Schimmel angesehen hatten«, zugehen, hört ihn mit der Peitsche schlagen und muß unbefriedigt feststellen, daß der Junge vor der endgültigen Konfrontation umkehrt, während das Pferd »unablässig fortzuweiden« scheint (beide Zitate S. ). Carsten kommt zurück und ärgert sich, daß er den Schimmel nicht hat entdecken können: auf der Hallig liege nur das Pferdegerippe. Den Schimmel erkennt Carsten erst wieder vom Deich aus – die Jungen wenden sich entsetzt ab, und Carsten resümiert: »das ist mehr, als du und ich begreifen können« (S. ).
In Abwandlung der Frage Lindhorsts: »Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie«; Hoffmann, Der goldene Topf, S. . Zu Friedrich Schlegels Diktum vgl. Anm. . Theodor Storm, Der Schimmelreiter. In: ders., Novellen –, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main , S. –. – Auf eine eingehende Analyse wird im folgenden verzichtet; Selbstreferenzialität beziehungsweise ›metasemiotische‹ Grundstrukturen werden umfassend dargelegt von Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen , S. –. Zur Vermittlung dieser Textpassage durch den Binnenerzähler (Schulmeister) vgl. Andreas Blödorn, Storms Schimmelreiter. Vom Erzählen erzählen. In: Der Deutschunterricht, , , S. –; hier S. f.
Die unbegreiflichen Phänomene potenzieren sich im weiteren Verlauf: Auf Jevershallig verschwindet das Pferdegerippe genau zu der Zeit, zu der Hauke Haien von einem diabolisch anmutenden Händler einen Schimmel erwirbt, »rauhhaarig und mager, daß man jede Rippe zählen konnte« (S. ). Der Deichgraf pflegt das Pferd, das schon bald Angst und Schrecken verbreitet: »›den Schimmel reit der Teufel!‹ ›Und ich!‹ setzte Hauke lachend hinzu« (S. ). Auch lange nach Haiens Tod bleibt der mysteriöse Schimmelreiter in der Gegend präsent: ein Fremder wird von ihm nächtens erfaßt, findet Unterkunft in einem Wirtshaus, in dem der Schulmeister seinerseits die Geschichte Hauke Haiens erzählt. Wie in E. T. A. Hoffmanns ›Der goldene Topf‹ ist in Theodor Storms ›Der Schimmelreiter‹ das fantastische Moment Bindeglied zwischen Rahmen- und Binnenerzählung, das auf Darstellungsebene die Kohärenz der Geschichte garantiert. ›Der Schimmelreiter‹ geht jedoch darüber hinaus, wie eine Inhaltsangabe belegt: Ein alter Mann denkt an eine Journal-Erzählung zurück, die er als Kind bei der Großmutter gelesen hat und nun – ohne sich noch auf seine Quelle stützen zu können – in extenso erinnert.
Dem Schulmeister als Binnenerzähler ist der reisende Ich-Erzähler und Journal-Schriftsteller als Erzähler einer zweiten Rahmenerzählung vorgeschaltet, die von einem Erzähler der ersten Rahmenhandlung erinnert und ›nacherzählt‹ wird. Während zwischen zweiter Rahmenhandlung und Binnenhandlung eine deutliche Kohärenz auf Darstellungsebene besteht, verbannt die erste Rahmenerzählung die folgende Erinnerung in das Reich der Poiesis: »alles Folgende wird seiner scheinbar mimetischen Qualität entkleidet, um sich als reine Fiktion, d. h. in seiner genuinen Textlichkeit, zu offenbaren.« Demgemäß kann die »mimetische Qualität« des ›Schimmelreiters‹ als Darstellung einer Erinnerung verstanden werden oder vice versa die erste Rahmen
Zum Thema vgl. Gregor Reichelt, Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane, Stuttgart, Weimar . Meier, Jevershallig, S. . Es scheint mir nicht plausibel, diesen Rahmenerzähler als »Verschrifter« zu bezeichnen – Volker Hoffmann, Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Eine Teufelspaktgeschichte als realistische Lebensgeschichte. In: Erzählungen und Novellen des . Jahrhunderts, Bd. , Stuttgart , S. –; hier S. f.; in der Folge auch Ort, Zeichen und Zeit, S. ; Blödorn, Vom Erzählen erzählen, S. . Die mediale Vermittlung des Erinnerten wird in der ersten Rahmenerzählung nicht eigens thematisiert, und die Gleichsetzung von Erzähler und Verschrifter auf Basis des Mediums ›Buch‹ könnte ihre Legitimation nur außerhalb der erzählten Welt begründen. Meier, Jevershallig, S. . – Die »Realpräsenz« des fantastischen ›Schimmelreiters‹ steht damit außer Frage, denn sie offenbart sich »als Wirklichkeit allein im Medium der Poesie«; ebd., S. und .
erzählung als ›Ästhetisierungsstrategie‹ einer Novelle, die sich dezidiert als ›gemacht‹ anzeigt und in diesem ›poietischen‹ Moment ein romantisches Programm erfüllt: ›Der Schimmelreiter‹ realisiert in diesem Sinne eine ›Poesie der Poesie‹, indem ein offenkundig literarischer Text die Erinnerung an eine Geschichte darstellt. Erläuterungen zur Rahmenerzählung des Realismus sind gewiß kein Desiderat der Literaturwissenschaft. Die geläufige Beantwortung der Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von Rahmung und ›Realismus‹ kann jedoch nicht befriedigen: Mag der Autor lediglich Fiktionen formulieren, so werden sie im Text doch nicht als Fiktionen deklariert, sondern vom Leser als geschlossene, hermetisch gegen die Realität abgedichtete fiktionale Ereignisse, als so und nicht anders geschehen rezipiert. [Das traditionelle Erzählen] baut oftmals sogar Beglaubigungstechniken und Formeln in Gestalt historischer Verweise oder chronikalischen Erzählens ein oder durchbricht wenigstens den Rahmen der Fiktionalität nicht, der – wie gezeigt – uns das Erzählte als wirklich geschehen rezipieren läßt. Nicht, ob der Autor Ausgedachtes erzählt, sondern ob der Narrator es als ausgedacht erklärt, entscheidet darüber, ob das Erzählte seine (fiktionale) Glaubwürdigkeit einbüßt oder nicht.
Die Vorliebe der Erzählungen des Realismus für Rahmungen, historische Verweise oder chronikalisches Erzählen ist im Sinne der Glaubwürdigkeit ein janusköpfiges Unterfangen. Die Einleitungssätze von Conrad Ferdinand Meyers Novelle ›Das Amulett‹ () verdeutlichen dies: »Alte vergilbte Blätter liegen vor mir mit Aufzeichnungen aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Ich übersetze sie in die Sprache unserer Zeit.« Die folgende Geschichte wird erstens durch eine Quellenangabe beglaubigt, zweitens wird ihr ein Übersetzer als Bindeglied zwischen dem . Jahrhundert und »unserer Zeit« beigegeben; drittens muß jedoch festgestellt werden, daß ›Das Amulett‹ folglich davon ›handelt‹, daß ein Herausgeber »alte vergilbte Blätter« mit Aufzeichnungen aus dem . Jahrhundert überträgt. Die Authentizität des Erzählten ist insofern gefährdet, als die Blätter (alt, vergilbt) vermutlich nicht einfach zu entziffern sind, Lesefehler des Herausgebers also eingerechnet werden müssen. Überdies wird eingestanden, daß die vorliegende Geschichte eine Übersetzung ist, zumal »in
Man vgl. beispielsweise Achim von Arnims ›Einführung der Leser‹ in seinen Novellenzyklus ›Der Wintergarten‹ (), wo es über die »zerstreute, übellaunige Wintergesellschaft« heißt, sie scheine »endlich aber mit allem, was bloß erzählt und nicht geschehen, ganz nachsichtig, aufmunternd, wohlwollend und zufrieden« zu sein. Achim von Arnim, Der Wintergarten. In: ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. , hg. von Walther Migge, München , S. –; hier S. , Hervorhebung LK. Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart, Weimar , S. . Conrad Ferdinand Meyer, Das Amulett. In: ders., Novellen I. Das Amulett, Der Schuss von der Kanzel, Plautus im Nonnenkloster, Gustav Adolfs Page, hg. von Alfred Zäch, Bern , S. –; hier S. . Im folgenden mit bloßer Seitenangabe.
die Sprache unserer Zeit«, womit weitere Distanzierungen vom ›Original‹ impliziert werden. Die ›eigentliche‹ Geschichte um Schadaus Erlebnisse in der Bartholomäusnacht wird also nicht erzählt. Eine Rahmung innerhalb der Geschichte distanziert die Binnenerzählung ein weiteres Mal, denn erst der Handel des Ich-Erzählers Schadau mit dem alten Boccard initialisiert die Lebensgeschichte: Immerhin setzte mir die Erinnerung der alten Dinge so zu, daß ich mit mir einig wurde, den ganzen Verlauf dieser wundersamen Geschichte schriftlich niederzulegen und so mein Gemüt zu erleichtern. (S. )
Das Zweite bis Zehnte Kapitel (Schluß) von ›Das Amulett‹ müßte folgerichtig das Ergebnis dieser Niederschrift sein, wenngleich keine gesonderte Markierung oder Benennung eine solche Interpretation erzwingt. Der Erzähler berichtet weder vom Akt der Niederschrift noch stellt er die folgende Geschichte explizit als seine eigene Aufzeichnung heraus. Die »alten vergilbten Blätter« enthalten also die Lebensgeschichte Schadaus und seine Notiz, daß er sie erinnert habe. Derartige Authentifizierungen oder Beglaubigungen können für die eigentliche Darstellung problematisch sein: wie Gottfried Keller anläßlich einer anderen Meyer-Novelle zu Recht anmerkt, kann auch ›realistische‹ Literatur auf derartige Techniken ganz verzichten, »da eine einzelne Novelle ja gar keinen Rahmen braucht«. Tatsächlich wäre es ohne weiteres denkbar, daß ›Das Amulett‹ seinen Anfang mit dem zweiten Kapitel nähme: »Ich bin im Jahre geboren und habe meinen Vater nicht gekannt, der wenige Jahre später auf den Wällen von St. Quentin fiel«. Es ist nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit, die Absichten zu rekapitulieren, mit denen die Realisten derartige Rahmungssituationen immer wieder bemüht haben. Hingegen läßt sich literaturgeschichtlich festhalten, daß mit der Novelle des Realismus ein Programm erfüllt ist, das einer aemulatio der Romantik gleichkommt: Mit subtilen Mitteln gelingt es den Texten, ihre ästhetische Grundlage trotz ›realistischer‹, kaum artifiziell anmutender Stoffwahl dezidiert herauszustellen und die auch im . Jahrhundert noch nicht hochstilfähige Prosa en passant zu nobilitieren. Der ›Realismus‹ dieser Novellen wird also nicht (nur) vom ›Poetischen‹ als Idealisierung, Verklärung oder subjektivierendem ›Humor‹ flankiert, sondern von der expliziten Betonung einer ›poietischen‹ Machart. ›Realistische Darstellung‹ geht in der Novellistik der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts einher mit ›poietischer Darstellungsstörung‹. Revidiert
Gottfried Keller an Paul Heyse, Brief vom . Dezember . Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. ., hg. von Carl Helbling, Bern , S. –; hier S. . – Die Briefstelle gilt Meyers ›Die Hochzeit des Mönchs‹; fraglich ist, ob Kellers Aussage impliziert, mehrere Novellen bräuchten zwangsläufig einen Rahmen. Die Vorzüge der Begriffe ›Darstellung‹ und ›Darstellungsstörung‹ werden eingehend erläutert bei Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin .
wird damit der Eindruck, daß die Novellistik des Realismus »den möglichst ungestörten Eindruck von Scheinwirklichkeit« anstrebt. Die vorliegende Arbeit versteht sich vorrangig als Beitrag zur Literaturgeschichte des Realismus. In knappen interpretatorischen Skizzen soll in Kapitel das ›poietische‹ Problembewußtsein für die Novellistik der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts ausgebildet werden. Zu Beginn von Kapitel sollen die ›Ästhetisierungsverfahren‹ der Prosa des Realismus terminologisch spezifiziert werden. Ein kurzer Blick auf die aristotelische Mimesis-Konzeption soll zum einen den Begriff der ›Poiesis‹ legitimieren, zum anderen dessen Profil in Abgrenzung zur Programmatik des Realismus schärfen. Novellenzyklen von Adalbert Stifter und Gottfried Keller sowie einzelne Novellen von Conrad Ferdinand Meyer und Theodor Storm werden in den Kapiteln – umfassend interpretiert. Damit soll auch das historische Spektrum von der frührealistischen Biedermeierzeit bis zum späten Realismus abgedeckt werden. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit resümierend dargestellt und problematisiert. In einer zurückgezogenen Vorrede zu seinen ›Schriften‹ verteidigt Theodor Storm die Prosagattung ›Novelle‹ gegen ihre Kritiker: die Novelle »duldet nicht nur, sie stellt die höchsten Forderungen der Kunst.« Die folgenden Ausführungen mögen nicht zuletzt die Trefflichkeit dieser Worte unter Beweis stellen.
So der ansonsten noch immer wegweisende Aufsatz von Dieter Lohmeier, Erzählprobleme des Poetischen Realismus. Am Beispiel von Storms Novelle »Auf dem Staatshof«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. . Die Abgrenzung der Epoche wird in der vorliegenden Arbeit großzügig gehandhabt; der Untertitel ›Zur Novelle der Jahre bis ‹ orientiert sich an den Erscheinungsjahren von Annette von Droste-Hülshoffs ›Die Judenbuche‹ und Theodor Storms ›Der Schimmelreiter‹. Zur ›Phasengliederung und Periodisierung‹ der Epoche mit den Verweisen auf die spezifische Forschungsliteratur vgl. Hugo Aust, Realismus, Stuttgart , S. –. Theodor Storm, [Eine zurückgezogene Vorrede. ().] In: ders., Märchen. Kleine Prosa, hg. von Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main , S. –; hier S. f.
1. Novelle
»So ist denn die Novelle prosaischer als der Roman. In einer Prosa höhern Grades tritt sie ihm entgegen.« Was laut Walter Benjamin ›Die Wunderlichen Nachbarskinder‹ aus Johann Wolfgang Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ hervorhebt, gilt hier als Grundrezept für die Novellistik des Realismus. Die Novelle wird durch eine »Prosa höheren Grades« geadelt beziehungsweise ästhetisiert. Das mag verwundern bei einer Prosagattung, die eigentlich den einfachen Erzählformen zugerechnet werden kann, wird sie doch bloß als eine Erzählung mittlerer Länge »mit betontem Geschehnismoment« charakterisiert. Bereits seit dem . Jahrhundert wird jedoch immer wieder der hohe künstlerische Rang der Novelle hervorgehoben. Die ›kunstvolle Novelle‹ bestimmt nicht selten den Kriterienkatalog dieser Prosaform und nimmt auf prominente Theorieansätze aus dem . Jahrhundert Bezug (Kapitel .): Der jeweiligen Novelle wird dabei eine Qualität zugesprochen, die sich zumeist auf den strengen Aufbau des Textes, seine Ausrichtung auf einen Höhe- oder Wendepunkt hin, seine Symbolik oder auf die literarisch konzentrierte Verarbeitung existentieller Sinnfragen bezieht (Schicksal, Tod, Liebe etc.). Die vorliegende Arbeit möchte das hinlänglich bekannte Phänomen der kunstvollen Novelle des Realismus neu reflektieren. Dazu werden in Kapitel . prominente Novellen von Jeremias Gotthelf (›Die schwarze Spinne‹), Eduard Mörike (›Mozart auf der Reise nach Prag‹), Franz Grillparzer (›Der arme Spielmann‹), Theodor Fontane (›Grete Minde‹), Ferdinand von Saar (›Marianne‹) und Annette von Droste-Hülshoff (›Die Judenbuche‹) herangezogen. Mit Erzählungen von Otto Ludwig (›Zwischen Himmel und Erde‹) und Paul Heyse
Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I,, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main , S. –; hier S. . Horst Thomé, Winfried Wehle, Novelle. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. : H–O, hg. von Harald Fricke u. a., Berlin, New York , S. –; hier S. . Vgl. etwa Gero von Wilpert, Artikel ›Erzählung‹. In: ders., Sachwörterbuch der Literatur. ., verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart , S. ; im Umkehrschluß wird ›Erzählung‹ im engeren Sinne bezeichnet als »eine Gattung, die sich […] durch weniger kunstvollen und tektonisch straffen Aufbau von der Novelle […] unterscheidet.«
(›L’Arrabbiata‹) werden in Kapitel . solche Texte betrachtet, die ex negativo eine erneute Beschäftigung mit der Novellentheorie erlauben. Nach einem ersten Resümee (Kapitel .) sollen die entsprechenden Beobachtungen in einem Exkurs auf dem aktuellen Stand der Narratologie erläutert und terminologisch umrissen werden (Kapitel .). Die nachfolgenden Kapitel verzichten bewußt auf Novellen von Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Theodor Storm, deren (ausgewählten) Werken jeweils eigene Ausführungen gewidmet sind. Diese Konzentration auf wenige kanonisierte Novellen ist dem Ausgangspunkt dieser Arbeit geschuldet. Es geht an dieser Stelle nicht darum, ein historisches Phänomen in seiner Gesamtheit zu beschreiben. Vielmehr soll eine literarische Strategie exemplarisch untersucht werden, die mit Blick sowohl auf die behandelte Epoche wie auch auf die Gattung als irritierend gelten muß: die unscheinbare Nobilitierung des Einfachen durch hochgradig artifizielle Poetisierung.
. Novellentheorie Karl Konrad Polheims kritischer Forschungsbericht zur »Novellentheorie und Novellenforschung« aus dem Jahr kann in vielerlei Hinsicht noch heute Gültigkeit beanspruchen. Polheim erteilt allen normativen Bestrebungen eine Absage und erachtet einzig historische Untersuchungen zur Novelle als sinnvoll. Er charakterisiert die Textsorte als eine künstlerisch gestaltete Erzählung, und man könnte zur Absicherung hinzufügen: die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Formmöglichkeiten und Problemstellungen bevorzugt, ohne sich jedoch darauf festzulegen.
Die spätere Novellenforschung hat nichtsdestotrotz weitere Definitionsversuche unternommen, ohne daß eine verbindliche Definition gelungen wäre. Einen Überblick zur jüngeren Novellenforschung bieten die Monographien von Hugo Aust und Winfried Freund, insbesondere aber der rund hundert
Karl Konrad Polheim, Novellentheorie und Novellenforschung. Ein Forschungsbericht –, Stuttgart . Ebd., S. . Konsequent hat Polheim später den Begriff der ›Erzählung‹ bevorzugt, »denn er kann nicht nur die Literaturwissenschaft von Inkonsequenzen und Verengungen befreien, sondern auch wesentliche Epochen und Autoren erfassen, die in den bisherigen Darstellungen der deutschen Novelle zu kurz gekommen sind.« Karl Konrad Polheim, Vorwort. In: Handbuch der deutschen Erzählung, hg. von Karl Konrad Polheim, Düsseldorf , S. . – Vgl. auch Fritz Hackert, Die Novelle, die Presse, »Der Schimmelreiter«. In: Weimarer Beiträge, , , S. –. Hugo Aust, Novelle. ., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart, Weimar . Aust bietet auch eine pointierte Zusammenfassung der Thesen Polheims (S. ). Winfried Freund, Novelle, Stuttgart .
fünfzigseitige Forschungsbericht von Siegfried Weing, der über theoretische Äußerungen zur Novelle vom Ende des . Jahrhunderts bis zu Beginn der er Jahre informiert. Einschlägig ist in dieser Hinsicht auch Andreas Jäggis Bericht zur Rahmenerzählforschung. Einen Überblick über die Novellen-Diskussion im . Jahrhundert bietet noch immer konkurrenzlos umfassend die Monographie von Arnold Hirsch aus dem Jahr . In ihrer quellenkritischen Sorgfalt bestechen auch die weitläufig angelegten Arbeiten von Rolf Schröder und Reinhart Meyer, die sich beide mit der literarischen Produktion insbesondere der ersten Hälfte des . Jahrhunderts beschäftigen. Eine ausgesprochen umfangreiche ›Geschichte der deutschen Novelle‹ mit zahlreichen Inhaltsangaben und Interpretationsansätzen liefern Johannes Klein und Hellmuth Himmel. Die Novellen-Produktion des . Jahrhunderts ist vielfältiger, als eine inhaltliche oder formale Charakterisierung erfassen könnte: Erzählprosa sowohl von weniger als fünf als auch von mehr als eintausend Druckseiten Umfang wird ehedem mit ›Novelle‹ untertitelt. Angesichts der Aussichtslosigkeit, verbindliche formale beziehungsweise inhaltliche Kriterien zur Erläuterung des Phänomens zu finden, läßt sich auf das Medium rekurrieren: »Kürzere Erzählprosa ist in der . Hälfte des . Jahrhunderts wesentlich Journalprosa.« Damit wäre auch der Anspruch der Novelle (von lat. novus und Diminutiv novellus, ›neu‹), eine (unterhaltsame) Neuigkeit mitzuteilen, gewährleistet, denn »Merk-
Siegfried Weing, The German Novella: Two Centuries of Criticism, Columbia . Andreas Jäggi, Die Rahmenerzählung im . Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage, Bern u. a. . Arnold Hirsch, Der Gattungsbegriff ›Novelle‹, Berlin . – Vgl. desweiteren Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil, hg. von Karl Konrad Polheim, Tübingen . Rolf Schröder, Novelle und Novellentheorie in der frühen Biedermeierzeit, Tübingen ; Reinhart Meyer, Novelle und Journal, Bd. : Titel und Normen. Untersuchungen zur Terminologie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen [mehr nicht erschienen], Stuttgart . Johannes Klein, Geschichte der deutschen Novelle. Von Goethe bis zur Gegenwart. Vierte, verbesserte und erweiterte Auflage, Wiesbaden ; Hellmuth Himmel, Geschichte der deutschen Novelle, Bern und München . Meyer, Novelle und Journal, S. –. Meyers Arbeit darf als grundlegend für das Verständnis der Novellistik (lt. Meyer ›Journalprosa‹) des . Jahrhunderts gelten; sie zeigt nicht zuletzt, wie weit sich der literaturgeschichtliche Kanon und entsprechende literaturwissenschaftliche Forschung von der tatsächlichen literarischen Produktion entfernt haben. Zum Verhältnis von periodischer und ›Kunst‹-Literatur im . Jahrhundert vgl. generell Ulrich Kinzel, Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ›Bildungspresse‹ im . Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, , , S. –. Ebd., S. .
würdiges, Unglaubliches, Kurioses, Spannendes, Kriminelles zu berichten, ist von jeher die Domäne der Presse«. Nicht zuletzt die kompositorische Ausrichtung der Novelle auf das Journal (Umfangsvorgabe, Fortsetzungsstruktur etc.) ist demnach naheliegend. In dieser Arbeit soll es jedoch nicht um die sozial- beziehungsweise literaturgeschichtliche Entstehung der Novelle gehen, sondern vielmehr um die novellistische Form ausgewählter Texte des Realismus. Will man den Begriff ›Novelle‹ überhaupt beibehalten (sein Fortwirken bis in die literarische Gegenwart legt das nahe), so ist für das . Jahrhundert neben der Publikationsform eine zweite Auffälligkeit bemerkenswert: die nachgerade artistische Bearbeitung einer Erzählgattung, deren Kunsttauglichkeit () sich durch die per definitionem nicht hochstilfähige Prosa in Frage gestellt sehen muß und () im Gegensatz zum Roman allein durch die Verknappung des Stoffs bis hin zum in der Regel einsträngigen Erzählen nur schwer unter Beweis zu stellen ist. Mit Blick auf die kanonisierten Texte sowohl des . wie auch des . Jahrhunderts ist es durchaus sinnvoll, das Kriterium der ›mittleren Länge‹ als ein Definitionsmerkmal für die Novelle gelten zu lassen. Zumindest für die Novelle des Realismus ist die Einsträngigkeit der Handlung ebenso maßgeblich wie die geschlossene Form. Die Einsträngigkeit der Handlung führt mehr oder minder zwangsläufig zur Konzentration auf ein entscheidendes Ereignis, gegebenenfalls den Wendepunkt der Geschichte. Damit wären für die Novellentheorie altbekannte, aber nicht unumstrittene Gemeinplätze genannt, die jedoch keinesfalls schon die Rede von ›Artifizialität‹ rechtfertigen können. Alle bislang genannten Kriterien deuten vielmehr auf eine zwar kompositorisch fixierte, aber nicht übermäßig komplexe Prosaform hin.
Ebd., S. . Vgl. dagegen Polheim, Handbuch der deutschen Erzählung, S. . Walther Vark schreibt noch in seiner Novellen-Monographie: »So allgemein bedeutsam der Stoff, so kunstvoll die Sprache, so geschlossen und streng gefügt nun der Aufbau einer Novelle auch sein mag, so bleibt sie doch ein Prosawerk und kann als solches die höchste Gestalt niemals erreichen.« Walther Vark, Die Form in der Novelle, Münster , S. . Cornelia Blasberg betont, »daß gerade der in den zahlreichen zeitgenössischen Definitionsversuchen gespiegelte Mangel an poetischer Standardisierung zum Garanten für Komplexität und Selbstreflexivität der Gattung avancierte. Anders formuliert: Weil die Novelle als im Prinzip kleine, aber durch kumulative und serielle Schreibverfahren beliebig vergrößerbare Form in den Printmedien des . Jahrhunderts vor allem ›neu‹ sein sollte und erstaunlich problemlos als Ware taugte, mußte sie ihre Literarizität außerhalb dieser medialen Kontexte um so deutlicher unter Beweis stellen.« Cornelia Blasberg, Augenlider des Erzählens. Zu Adalbert Stifters gerahmten Erzählungen. In: Jahrbuch des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, : History, Text, Value. Essays on Adalbert Stifter, , S. –; hier S. . Vgl. Aust, Novelle, S. f., dort auch Hinweise auf weitere Literatur. Kritik bei Meyer, Novelle und Journal, S. –.
Raffinesse mag jedoch in besagter Komposition zu vermuten sein, denn Novellen sind »herkömmlich nach der traditionellen Form des Dramas gebaut oder doch zumindest in ihrer Bauweise dramatisch strukturiert«; oder vorsichtiger: Interpretationen, die den Vergleich zur traditionellen Komposition des Dramas ziehen, sind aufschlußreich auch für den Aufbau von Novellen. Storms bekanntes Diktum, die Novelle sei »die Schwester des Dramas«, nobilitiert die Prosagattung. Eine solche nachträgliche Aufnahme in die antike Gattungsfamilie legitimiert die Novellistik; durch die Äußerung, sie behandle »die tiefsten Probleme des Menschenlebens«, wird sie gar in die Nähe der Tragödie gerückt. Auf stilistischer Ebene wäre der Novelle demnach das genus grande angemessen – ein eklatanter Widerspruch zur tatsächlichen Stoffwahl und dem ›prosaischen‹ Sprachstil der Erzählungen des Realismus. Es bleibt überdies zu fragen, ob nicht die Charakterisierung der Novelle auf Grundlage einer dramatischen Konzeption ähnlich unbefriedigend ist wie etwa die Suche nach einem ›Falken‹, dem berühmten Heyseschen Dingsymbol. In beiden Fällen nämlich steht vor der definitorischen Kennzeichnung die allzu häufig diskussionswürdig bleibende Interpretation. Dieses dem Zirkelschluß nahekommende Dilemma ist bislang auch mit anderen Definitionsmerkmalen (›unerhörte Begebenheit‹, ›Wendepunkt‹ etc.) kaum besser gelöst worden. Paul Heyse immerhin erkannte selbst die Beschränkung in seiner Falken-Theorie: Ich bin nur durch meine Schatzgräberei, wo ich jede Novelle zunächst auf ihren ›Falken‹ ansah – Sie entsinnen sich vielleicht der Einleitung zu unserm Nov. Schatz – dahin gekommen, daß ich immer etwas vermisse, wenn kein eigentlich novellistisches Motiv mir entgegenspringt, […]. Aber ich bin nicht so Pedant, daß ich auch jede reizende Geschichte […] nach ihrem novellistischen Paß befragte.
Mit Theodor Storm und Paul Heyse sind bereits zwei Autoren genannt, die für das . Jahrhundert auch als Novellen-Theoretiker gelten. Zur oben skizzier
Wolfgang Rath, Die Novelle. Konzept und Geschichte, Göttingen , S. . Zur Ähnlichkeit von ›bürgerlichem Drama‹ und ›Situationsnovelle‹ im . Jahrhundert vgl. Alois Wierlacher, Reinbecks Novellentheorie. Zur Situationsnovelle des . Jahrhunderts. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts, , S. –. Beide Zitate aus Theodor Storm, [Eine zurückgezogene Vorrede. ().] In: ders., Märchen. Kleine Prosa, hg. von Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main , S. –; hier S. . Die Arbeiten Hermann Pongs’ haben dazu geführt, daß Heyses theoretische Äußerungen zumeist auf die Dingsymbolik reduziert werden. Hermann Pongs, Aufsätze zur Novelle. In: ders., Das Bild in der Dichtung, Bd. : Voruntersuchungen zum Symbol, Marburg , S. –. Zu diesem Mißverständnis vgl. Manfred Schunicht, Der »Falke« am »Wendepunkt«. In: Novelle, hg. von Josef Kunz, ., wesentlich veränderte und verbesserte Auflage, Darmstadt , S. –. Paul Heyse an Theodor Storm, . . , auf dessen ›Pole Poppenspäler‹ abzielend. Zitiert nach: Theodor Storm, Novellen –, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main , S. .
ten Annäherung an das Drama können auch Ludwig Tiecks Äußerungen zur Novelle zählen, implizit durch seine Hervorhebung des novellistischen Wendepunkts. Das zweifelsfrei prominenteste und folgenreichste thematische Dichterwort ist allerdings durch Johann Peter Eckermann überliefert: Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was, sagte Goethe, wir wollen es Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so Vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften vor.«
Es ist fraglich, ob Goethes Diktum mehr als eine bloße Übertragung des italienischen novella liefert. Das ›Unerhörte‹ deutet auf die noch ›ungehörte‹ beziehungsweise ›seltsame‹ Neuigkeit hin, und die »sich ereignete Begebenheit« verbürgt deren – in dieser Arbeit noch zu diskutierenden – vermeintlichen Wahrheitsgehalt. Damit ist eher die Brücke zu den Ursprüngen der Journal
Wie wenig fruchtbar die novellentheoretischen Äußerungen Tiecks und Heyses sind, zeigen insbesondere Schunicht, Der »Falke« am »Wendepunkt«, und Brian A. Rowley, To Define True Novellen … A taxonomic enquiry. In: Publications of the English Goethe Society, N. F., : Papers Read Before the Society –, , S. –; Wertschätzung für Heyses Konzept hingegen bei Hugo Aust, Realismus, Stuttgart , S. . – Zeitgenössisch ›realistische‹ Kritik an Ludwig Tiecks Konzept vom ›wunderbaren Wendepunkt‹ findet sich bei Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller, Braunschweig . Zitiert nach: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur –, mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie hg. von Max Bucher u. a., Bd. : Manifeste und Dokumente, Stuttgart , S. –; hier S. : »Der Werth jeder einzelnen Novelle hängt zum großen Theil davon ab, ob dieses Wunderbare, dieser Vorfall, dieser Punkt, von welchem aus sich die ganze Geschichte unerwartet und völlig umkehrt, sich natürlich, dem Charakter der Personen und den Umständen und Situationen angemessen und folgerichtig entwickelt oder ob es unmotivirt bleibt und damit als Wunder im schlechten Sinne des Wortes auftritt. Wer wüßte es nicht, daß Tieck hier oft die schwersten und herbsten Rückfälle in seine alte romantische Krankheit erleidet?« Gespräch vom . Januar . In: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, München, Wien , S. –; hier S. . Vgl. Aust, Novelle, S. . Entgegen der geläufigen Interpretationen betont Heinrich Henel nicht die eine unerhörte Begebenheit, sondern definiert mit Goethe (dessen ›Novelle‹ schließlich mehr als eine ›Begebenheit‹ aufweise): »Was ist eine Novelle anders als eine Verbindung von zwei oder mehr sich ereigneten unerhörten Begebenheiten.« Heinrich Henel, Anfänge der deutschen Novelle. In: Monatshefte, , , S. –; hier S. f.
prosa geschlagen als eine sonderlich brauchbare Novellen-Definition gegeben (die von Goethe vermutlich auch nicht angedacht war). Vollends vergeblich ist der Versuch, für die deutsche Novelle Anleihen bei den romanischen Ursprüngen der Gattung zu nehmen. Zwar ist Boccaccios Decamerone (entstanden –) im . Jahrhundert durchaus bekannt und wird unter novellistischen Gesichtspunkten etwa von Friedrich Schlegel diskutiert, aber inhaltlich wie formal sind sowohl das ›Decamerone‹ als auch die ›Novelas ejemplares‹ (entstanden –) des Miguel de Cervantes Saavedra genauso weit entfernt von den Novellen eines Adalbert Stifter, Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller, Theodor Storm und vieler anderer wie etwa das mittelhochdeutsche (überdies versifizierte) Märe. Wesentlich über
Vgl. Meyer, Novelle und Journal, S. f. Hannelore Schlaffer hat sich bemüht, die deutsche Novelle (des . Jahrhunderts) auf Boccaccios ›Decamerone‹ zurückzuführen: »der Stammbaum der Gattung [ist] lükkenlos und geht eindeutig auf Boccaccio zurück«. Schlaffer gab ihrer Untersuchung den Titel ›Poetik der Novelle‹ und versuchte so, die entsprechende Leerstelle auszufüllen. Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart, Weimar , Zitat S. . Zur notwendigen Kritik an Schlaffers Monographie vgl. etwa Winfried Freunds Rezension in: Germanistik, , , S. . Vgl. beispielsweise Friedrich Schlegel, Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio. In: Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken, Bd. : (–), hg. und eingeleitet von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien . S. –. Walter Pabst hat nicht nur hinlänglich deutlich gemacht, daß die deutsche Novelle sich markant von den etwaigen romanischen Vorbildern unterscheidet; er hat auch herausgearbeitet, daß die italienischen, französischen und spanischen RenaissanceNovellen in sich derart vielgestaltig sind, daß eine verbindliche theoretische Grundlage selbst für die Romania schwerlich zu leisten ist. Walter Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Hamburg . (Vgl. auch das Nachwort zur . Auflage .) – Walter Pabst, Die Theorie der Novelle in Deutschland (–). In: Novelle, hg. von Josef Kunz, ., wesentlich veränderte und verbesserte Auflage, Darmstadt , S. –. Unter anderen Voraussetzungen, mit ähnlichem Ergebnis (vgl. auch Anm. der vorliegenden Arbeit): Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen , S. . – Andererseits scheinen gewisse Merkmale der RenaissanceNovelle (versimilitudo, brevitas etc.) auch für die Novelle des Realismus zu gelten: Robert J. Clements/Joseph Gibaldi, Anatomy of the Novella. The European Tale Collection from Boccaccio and Chaucer to Cervantes, New York . Vgl. ferner Ursula Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im . und . Jahrhundert, Amsterdam, New York . In diesem Sinne ist auch der Terminus ›Versnovelle‹ äußerst fraglich; so auch Thomé/ Wehle, Novelle, S. . – Grubmüller, Novellistik im Mittelalter, S. , bezeichnet die ›Märe‹ als deutschen Sonderform innerhalb der europäischen Novellistik; er stellt selbst für die Zeit nach der Boccaccio-Rezeption fest: »Boccaccio-Novellen regen nicht zu Boccaccio-Novellen an, sondern werden in Mären (oder in deren HansSachs-Variante: Schwänke) umgeformt oder in unspezifischen Sammlungen thesau-
zeugender ist die Herleitung der deutschen Novellenform durch die äußerst populäre ›moralische Erzählung‹ des . Jahrhunderts. Die unzähligen Fallbeispiele in den aufklärerischen Zeitschriften finden ihren literarischen Widerpart am auffälligsten in Schillers unter Novellen-Verdacht stehendem ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ (ED: ›Verbrecher aus Infamie‹, ) und nicht zuletzt in den Erzählungen Heinrich von Kleists. Richtet man den Blick von der selbständig publizierten Novelle auf den Novellenzyklus (Novellenkranz) im . Jahrhundert, so ist Boccaccios Vorbildfunktion dennoch nicht zu leugnen, wenngleich die Tradition barocker und aufklärerischer Gesprächsspiele eine nicht minder große Rolle gespielt hat. ›Novellen‹ werden auch diejenigen Erzählungen genannt, die Teil eines solchen Novellenzyklus oder gar eines Romans sind. Die kanonisierten Novellen-
riert. Noch weit über das Ende der lebendigen Märendichtung hinaus, im Grunde bis zu Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, hat dieser Traditionswiderstand die Etablierung des Novellenzyklus und damit der Novelle überhaupt in der deutschen Literatur blockiert.« Vgl. Hartmut Dedert, Vor einer Theorie der Novelle. Die Erzählung im Spiegel der aufklärerischen Gattungsdiskussion. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, , , S. –. – Zur Novelle im . Jahrhundert vgl. auch Hildburg Herbst, Frühe Formen der deutschen Novelle im . Jahrhundert, Berlin . – Ingo Breuer erläutert, wie »mit der Multiperspektivierung und Fiktionalisierung der historia durch einen zunehmend imaginären Charakter räumlich strukturierter Bildbeschreibungen« bereits im . Jahrhundert »der Grundstein für eine Verortung dieser [novellistischen – LK] Texte als (literarische) Gattung gelegt [wird]«. Ingo Breuer, Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des . Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart, Weimar , S. –; hier S. . Vgl. dazu etwa Albert Meier, Karl Philipp Moritz, Stuttgart , S. f., dort implizit novellistische Strukturen erläuternd: »Das heute noch prominenteste Echo auf Moritz’ Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde bildet Friedrich Schillers berühmte Erzählung vom Verbrecher aus verlorener Ehre […], die nicht nur in den einleitenden Überlegungen des Erzählers die Argumentation des Vorschlags beinahe wörtlich wiederholt, sondern die ›wahrhafte Geschichte‹ ähnlich wie die Fallgeschichten des Magazins vorführt.« Kleists Wunsch an Georg Andreas Reimer im Brief vom Mai erfüllte sich jedoch nicht: »Der Titel ist: Moralische Erzählungen von Heinrich von Kleist.« Heinrich von Kleist, hg. von Helmut Sembdner, München , S. . Vgl. Breuer, Tragische Topographien. Eine außerordentliche Wertschätzung der Goetheschen Novellen in den ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹ findet sich beispielsweise bei Henry H. H. Remak, Structural Elements of the German Novella from Goethe to Thomas Mann, New York u. a. . Gegen die Gleichsetzung von Erzählzyklus und Novellenzyklus spricht sich Christine Mielke, Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von Nacht bis zur TV-Serie, Berlin, New York , S. f., aus: »Diese Nichtbeachtung oder Einordnung der Texte in allgemeine Kategorien (Erzählsammlung o. ä.) könnte als Zufall eingestuft werden – als grober und lange tra-
zyklen haben ihren Schwerpunkt deutlich vor der ersten Hälfte des . Jahrhunderts. Johann Wolfgang Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ () und Christoph Martin Wielands ›Hexameron von Rosenhain‹ () folgen romantische Zyklen wie Achim von Arnims ›Der Wintergarten‹ (), Ludwig Tiecks ›Phantasus‹ (–) oder E. T. A. Hoffmanns ›Die Serapions-Brüder‹ (–). In dieser Arbeit werden Adalbert Stifters ›Bunte Steine‹ () und Gottfried Kellers ›Züricher Novellen‹ () exemplarisch untersucht. Wenngleich eine Kontrastierung mit den eben genannten Novellenzyklen hier nicht angestrebt ist, so soll sich zeigen, wie insbesondere bei Keller der Novellenzyklus als Form derart strapaziert wird, daß sein ›Scheitern‹ im Realismus beinahe absehbare Konsequenz ist. Die in Novellenzyklen übliche gesellige Erzählgemeinschaft wird im Realismus unter anderem vom vertraulichen Gespräch abgelöst, wie überhaupt die ›Großform‹ Novellenzyklus hinter der selbständig publizierten Einzelnovelle zurücktritt. Die Beibehaltung einer übergeordneten Kommunikationsstruktur in einer ja nur ›mittellangen‹ und vornehmlich einsträngig konzentrierten, für narrative Entfaltung also äußerst ungünstigen Form, führt dabei zu einer »Prosa höhe-
dierter Fehler muss jedoch die Zuordnung zur Gattung der Novelle und vor allem die Bezeichnung ›Novellenzyklus‹ kritisiert werden. Denn wie gezeigt werden kann, finden sich in zyklischen Rahmenerzählungen (oft von epischer Breite) nahezu alle Gattungen, nicht jedoch vornehmlich oder gar ausschließlich Novellen. […] Die Forschung zur Novelle und die zur zyklischen Rahmenerzählung sind in äußerst wenigen Punkten kompatibel. Wenn namhafte Novellentheoretiker Rahmenzyklen der Gattung ›Novelle‹ zuordnen, so deutet dies immer darauf hin, dass weder der Rahmen noch die große Zahl der nicht-novellistischen Texte eines zyklischen Werks beachtet wurden.« – Zur lexikalischen Novellendefinition verweise ich auf meinen Beitrag ›Novelle‹ in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, ., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart, Weimar , S. f. Vgl. Claus-Michael Ort, Zyklische Dichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage, Bd. : Sl–Z, hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser, Berlin, New York , S. –; Claus-Michael Ort, Zyklus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. : P–Z, hg. von Jan-Dirk Müller u. a., Berlin, New York , S. –. Erschienen , im Erstdruck jedoch auf auf datiert. Vgl. etwa die Ausführungen der vorliegenden Arbeit zu Gottfried Kellers ›Züricher Novellen‹ und Theodor Storms Novellistik sowie Blasberg, Augenlider des Erzählens, S. : »Dieses Aufbrechen der egalitären Rahmengesellschaft wird im . Jahrhundert novellistisches Programm und indiziert ganz nebenbei den Statusverlust geselligen Erzählens als Antidot gegen kleine und große Krisen. Der kulturelle Trend zu Individualisierung und Vereinsamung der Menschen zeichnet sich den Novellen ein, die in ihren Rahmengeschichten entweder in Auflösung begriffene Familien oder Gruppen (Tieck) oder aber einzelne Erzähler – alte Männer, die sich gleichsam wie in Selbstgespräche vertieft an Bruchstücke ihrer Vergangenheit erinnern (Stifter, Raabe, Storm) – auftreten lassen.«
ren Grades«. Die Distanzierung vom Erzählten, etwa durch jegliche Form der Rahmung, wird zu einem der bedeutendsten Merkmale der Novelle des Realismus.
. Novellistische Praxis (I) Zu Beginn von Jeremias Gotthelfs ›Die schwarze Spinne‹ () wird eine Kindstaufe feierlich begangen. Nach den Festlichkeiten kühlt man sich im Schatten der Bäume ab und betrachtet frohgemut das neu zu beziehende Haus, als eine der Frauen leisen Zweifel äußert: »Mir gefällt das Haus ganz ausnehmend wohl,« sagte eine der Frauen. »Wir sollten auch schon lange ein neues haben, aber wir scheuen immer die Kosten. Sobald mein Mann aber kommt, muß er dieses recht besehen, es dünkt mich, wenn wir so eins haben könnten, ich wäre im Himmel. Aber fragen möchte ich doch, nehmt es nicht für ungut, warum da gleich neben dem ersten Fenster der wüste, schwarze Fensterposten (Bystel) ist, der steht dem ganzen Hause übel an.« Der Großvater machte ein bedenkliches Gesicht, zog noch härter an seiner Pfeife und sagte endlich: […].
Nach einiger Diskussion beginnt der Großvater schließlich von dem Teufelspakt, der schwarzen Spinne und der Pest zu erzählen. Es stellt sich heraus, daß im schwarzen Fensterposten die unglücksbringende Spinne und damit Gewalt und Morden gebannt sind: »›Was, dort im schwarzen Holz?‹ schrie die Gotte und fuhr eines Satzes vom Boden auf, als ob sie in einem Ameisenhaufen gesessen wäre« (S. ). Man begibt sich, jetzt deutlich weniger ausgelassen, wieder zum Mahl, als der Großvater gefragt wird, ob die Spinne »immer darin geblieben seit so vielen hundert Jahren?« (S. ) Daraufhin erzählt der Großvater die zweite Binnengeschichte. Die moralische Ausrichtung von Gotthelfs Novelle ist nicht zu leugnen. Sie schließt mit der Gewißheit, daß nunmehr gottesfürchtige Menschen in dem Haus leben, und
Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. . Vgl. für die Novelle Conrad Ferdinand Meyers: Sjaak Onderdelinden, Die Rahmenerzählungen Conrad Ferdinand Meyers, Leiden . Erstdruck im ersten Band von Gotthelfs ›Bilder und Sagen aus der Schweiz‹. Jeremias Gotthelf, Die Schwarze Spinne. In: ders. (Albert Bitzius), Kleinere Erzählungen, Bd. , zweite, überarbeitete Auflage, Erlenbach-Zürich , S. –; hier S. f. Im folgenden zitiert mit bloßer Seitenangabe. Vgl. Jamie Rankin, Spider in a Frame: The Didactic Structure of »Die schwarze Spinne«. In: The German Quarterly, , , S. –. – Desweiteren Werner Hahl, Jeremias Gotthelf – der »Dichter des Hauses«, Stuttgart, Weimar , sowie die Arbeiten von Klaus Lindemann zum Thema, etwa: Zwischen Revolutionen und Napoleon(en). Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne (). In: Deutsche Novellen, hg. von Winfried Freund, München , S. –.
wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tage noch bei Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert, das weiß der, der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen. (S. )
Der christlich gestimmte Schluß ist damit nicht mehr weit entfernt von Johann Christoph Gottscheds Forderung nach einem Lehrsatz. Wozu aber bedarf es dieser moralischen Versicherung? Immerhin bieten sowohl die Erzählung der ersten Binnengeschichte (die von bösen Menschen handelt, die leben, »als ob kein Gott im Himmel wäre«, S. ) als auch die der zweiten Binnengeschichte (die berichtet, wie »nachdem viele Geschlechter dahingegangen, Hochmut und Hoffart heimisch im Tale [geworden sind]«, S. ) dem Leser ausreichend Möglichkeit, sich entsprechend belehren zu lassen. Was also »für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert«, haben sowohl die Zuhörer des Großvaters wie auch der Leser hinlänglich erfahren. Läge mit Gotthelfs Text eine Novelle der Romantik vor, so wäre man womöglich geneigt, den Verweis auf das Herrschaftswissen desjenigen, »der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen«, auf den Erzähler selbst zu münzen: Der pointierte, nachgerade gesondert gestellte Schlußkommentar würde nachträglich eine Fiktion markieren, die eine moralische Lehre bildlich-exemplarisch zu veranschaulichen hat. Erzählstrategisch komplex ist Jeremias Gotthelfs verschachtelte Novelle mit zwei Binnenerzählungen in einer Rahmenerzählung ohnehin: ›Die Schwarze Spinne‹ handelt von einer Kindstaufe und den anschließenden, zwei Mal durch Erzählungen des Großvaters unterbrochenen Feierlichkeiten. ›Die Schwarze Spinne‹ ist also nicht vordringlich die Geschichte der teufelspaktierenden Christine, ihrer Verwandlung in eine Pestspinne und deren zweimaliger Bannung in einen Fensterpfosten. Es wird bloß erzählt, wie von der Pestsage erzählt wird. Sowohl die Schachtelung als auch die moralisch-didaktische, discours-auffällige Schlußsentenz verhindern den Status eines ›einfachen Erzählens‹: die Novelle verkompliziert ihren Stoff und markiert ihn als artifiziell. Gesellige Unterhaltung und mehrfache Binnenerzählungen finden sich auch in Eduard Mörikes ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ (). Diese No
Allgemein gehaltene, gleichsam aphoristische Erzählerkommentare finden sich in den Novellen des Realismus vor allem zu Anfang oder am Schluß des Textes. Vgl. beispielsweise die Einleitungssätze zu Adalbert Stifters Briefnovelle ›Feldblumen‹: »Man legt oft etwas dem Menschen zur Last, woran eigentlich die Chemie alle Schuld hat. Es ist offenbar, daß wenn ein Mensch zu wenig Metalle, z. B. Eisen, in sein Blut bekommen hat, die andern Atome gleichsam darnach lechzen müssen, um, damit verbunden, das chemisch heilsame Gleichgewicht herstellen zu können.« Adalbert Stifter, Feldblumen. In: ders., Studien. Buchfassungen, Bd. , hg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann, Stuttgart u. a. , S. –; hier S. . Erstdruck im ›Morgenblatt für gebildete Stände‹. Birgit Mayer zufolge erschien dieser Vorabdruck nur wenig früher als die (vordatierte) Buchausgabe von , dem Jahr von Mozarts hundertstem Geburtstag. – Mayer geht als eine der wenigen Interpreten auf den Erstdruck ein, der sich auf vier Journal-Ausgaben verteilte. Allen Erzähl-
velle wird in hohem Maße von ihrem Erzähler dominiert, ganz anders als es sonst in Novellen des Realismus üblich ist. Die sachliche Chronistenpflicht wird einerseits erfüllt: »Am dritten Reisetag, den vierzehnten September [des Jahres ], gegen eilf Uhr Morgens, fuhr das wohlgelaunte Ehepaar […] in nordwestlicher Richtung, jenseits vom Mannhardsberg und der deutschen Thaya, bei Schrems« (S. ); andererseits wird der Erzählfluß immer wieder durch explizite Einschübe, Aussparungen und Raffungen unterbrochen, die auch kommentierend »unseren Meister« begleiten. Ein Beispiel nimmt sich etwa wie folgt aus (es erzählen abwechselnd Constanze Mozart und der Erzähler): »Ich fange an, und werde mit Ihrer Erlaubnis ein wenig weiter ausholen. Vorletzten Winter wollte mir Mozarts Gesundheitszustand, durch vermehrte Reizbarkeit und häufige Verstimmung, ein fieberhaftes Wesen, nachgerade bange machen. […] Ich nahm mir vor, den ganzen Tag ernstlich mit ihm zu schmollen.« Hier überging Madame Mozart einige Umstände mit Stillschweigen. Es war, muß man wissen, nicht unwahrscheinlich, daß zu gedachter Abendunterhaltung auch eine junge Sängerin, Signora Malerbi, kommen würde, an welcher Frau Constanze mit allem Recht Ärgerniß nahm. […] Haben wir Frau Constanze bis hieher in der Erzählung abgelöst, so können wir auch wohl noch eine kleine Strecke weiter fortfahren. […] »Ich saß«, fuhr Madame Mozart hier in der Erzählung bei den Damen fort, »am Nähtisch, hörte meinen Mann die Stiege heraufkommen und den Bedienten nach mir fragen. […].« So weit Madame Mozart. (S. –)
abschnitten war ein Motto vorangestellt, zwei Mal aus Oulibicheffs Mozart-Biographie sowie aus Goethe, Shakespeare und Horaz. Ursprünglich hatte Mörike überdies geplant, der Novelle die Noten des von der Festgemeinschaft gesungenen Kanons als vermeintlich authentische Schöpfung Mozart beizulegen. – An dieser Stelle wird auf eine Interpretation des Erstdrucks und der in der Buchausgabe fehlenden Motti unter Verweis auf Mayers Arbeit verzichtet: Birgit Mayer, Antriebskraft Tod. Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag (). In: Deutsche Novellen, hg. von Winfried Freund, München , S. –. Vgl. auch Ulrich Kittstein, Mozart auf der Reise nach Prag. In: Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein, Stuttgart , S. –. – Die Novelle wird hier zitiert nach der historisch-kritischen Ausgabe: Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag. In: ders., Erzählungen. Erster Teil: Text, hg. von Mathias Mayer unter Verwendung der Vorarbeiten von Hubert Arbogast, Stuttgart , S. –. Im folgenden zitiert mit bloßer Seitenangabe. Volkmar Sander nennt die Novelle wegen ihrer »subjektiv bestimmten Erzähleinstellung« einen ›Kurzroman‹. Nicht zu Unrecht orientiert er sich dabei an dem für Erzählungen des Realismus geltenden Objektivitäts-Gebot. Freilich ist jedoch die Bezeichnung ›Kurzroman‹ unangebracht. Volkmar Sander, Zur Rolle des Erzählers in Mörikes Mozart-Novelle. In: The German Quarterly, , , S. –. Vgl. Schröder, Novelle und Novellentheorie, S. : »Soviel Artistik bei dergleichen Datierungen auch im Spiel sein konnte, ingesamt bezeugen diese Details doch ein starkes Bemühen um ›Wahrheit‹ und eine positivistische Basis des Erzählten.« So die Antonomasie für ›Mozart‹ durch den Erzähler.
Mozarts Griff nach der verbotenen Orange im herrschaftlichen Garten ist der Auslöser für eine Einladung, die in ein äußerst unterhaltsames Kennenlernen mündet. Mozart erzählt, wie der Orangenbaum ihn selbstvergessen in einer Jugenderinnerung schwelgen ließ. Der Erzähler teilt die Geschichte dieses Orangenbaums mit, den man der Frau von Sévigné verdanke. Ein langes Gedicht wird vom Erzähler prosaisch zusammengefaßt. Frau Mozart berichtet, wie ihr Mann dereinst ein liebendes Paar zusammengeführt hat. Mozart erzählt schließlich, wie er sein jüngstes Werk, den ›Don Giovanni‹, »zur Welt geboren« hat (S. ). Die Verwebung dieser einzelnen Erzählungen liegt bei dem Erzähler. Es ist bereits angedeutet worden, daß dieser sich durch bemerkenswert detaillierte Kenntnis der Situation auszeichnet, und so verwundert es auch nicht, daß er selbst suggeriert, genauere Informationen als andere zu haben: »Das mit drei Postpferden bespannte Fuhrwerk«, schreibt die Baronesse von T. an ihre Freundin, »eine stattliche, gelbrothe Kutsche, war Eigenthum einer gewissen alten Frau Generalin Volkstett, die sich auf ihren Umgang mit dem Mozartischen Hause und ihre ihm erwiesenen Gefälligkeiten von jeher scheint etwas zu gut gethan zu haben.« – Die ungenaue Beschreibung des fraglichen Gefährts wird sich ein Kenner des Geschmacks der achtziger Jahre noch etwa durch einige Züge ergänzen. (S. )
Die Kutsche der Mozarts wird darauf wie folgt geschildert: Der gelbrothe Wagen ist hüben und drüben am Schlage mit Blumenboukets, in ihren natürlichen Farben gemalt, die Ränder mit schmalen Goldleisten verziert, der Anstrich aber noch keineswegs von jenem spiegelglatten Lack der heutigen Wiener Werkstätten glänzend, der Kasten auch nicht völlig ausgebaucht, obwohl nach unten zu kokett mit einer kühnen Schweifung eingezogen; dazu kommt ein hohes Gedeck mit starrenden Ledervorhängen, die gegenwärtig zurückgestreift sind. (S. )
Die Ablösung in der Berichterstattung von der »Baronesse von T.« durch den Erzähler kommt dem Leser zugute, wähnt er sich doch bei einem echten Kenner der Verhältnisse gut aufgehoben. Merkwürdig genug ist jedoch, daß eben jene Baronesse von T. im weiteren Erzählverlauf nicht mehr erwähnt wird; auch ist unklar, wie der Erzähler überhaupt diesen Brief erlangt haben kann, der ja »an ihre Freundin« gerichtet ist. Schließlich macht die Formulierung, die »ungenaue Beschreibung« der Kutschen könne »sich der Kenner des Geschmacks der achtziger Jahre noch etwa durch einige Züge ergänzen«, stutzig. Wenn sich der Leser um Ergänzung bemühen soll, dann wären die (rhetorisch als Paralipse) im unmittelbaren Anschluß folgenden Ausführungen des Erzählers unnötig, wenn aber der Erzähler eben dieser Kenner sein soll, dann ergänzt er – wie angekündigt – aus Kennerschaft des »Geschmacks der achtziger Jahre«, beschreibt aber nicht die ›tatsächliche‹ Kutsche der Mozarts. Die
Vgl. Karl Konrad Polheim, Der künstlerische Aufbau von Mörikes Mozartnovelle. In: Euphorion, , , S. –.
Kutschfahrt wird vergegenwärtigt, die Vorhänge sind »gegenwärtig zurückgestreift«, hingegen beginnt die Geschichte im Präteritum: »Im Herbst des Jahres unternahm Mozart in Begleitung seiner Frau eine Reise nach Prag« (S. ). Die Novelle wird also zunächst situiert (wer, wann, wo, wie?), dann in den äußeren Umständen vergegenwärtigt (wer genau, wann genau, wo genau, wie genau?), um schließlich medias in res erzählt zu werden: »›Durch wie viel Wälder‹, sagte Mozart, ›sind wir nicht heute, gestern und ehegestern schon passirt!‹« (S. ) Die eigentliche erzählerische Crux liegt aber nicht (nur) in den Mutmaßungen über die Zuverlässigkeit des Erzählers oder gar in der synästhetischen Wirkung einer Mozartschen Geschichte: » – Hiemit war die Komödie beendigt.« »Mir däucht«, so flüsterte Eugenie mit leuchtenden Augen dem Baron in einer Pause zu, worin sich jedermann beifällig über das eben Gehörte aussprach, »wir haben hier eine gemalte Symphonie von Anfang bis zu Ende gehabt, und ein vollkommenes Gleichniß überdieß des Mozartischen Geistes selbst in seiner ganzen Heiterkeit! Hab’ ich nicht Recht? ist nicht die ganze Anmuth Figaro’s darin?« (S. )
Vielmehr teilt der Erzähler dem Leser so explizit wie en passant mit, daß seine Geschichte nicht auf eigenem Beobachten, sondern auf einem (vermutlich schriftlich fixierten) Bericht beruht. Bei der Schilderung des gemeinsamen Musizierens der herrschaftlichen Gäste und dem Ehepaar Mozart führt der Erzähler aus: Von achtzehn fertig ausgearbeiteten Nummern* [FN: * Bei dieser Zählung ist zu wissen, daß Elvira’s Arie mit dem Recitativ und Leporello’s »Hab’s verstanden« nicht ursprünglich in der Oper enthalten gewesen.] gab der Componist vermuthlich nicht die Hälfte; (wir finden in dem unserer Darstellung zu Grunde liegenden Bericht nur das letzte Stück dieser Reihe, das Sextett, ausdrücklich angeführt) – und er gab sie meistens, wie es scheint, in einem freien Auszug, bloß auf dem Klavier, und sang stellenweise darein, wie es kam und sich schickte. Von der Frau ist gleichfalls nur bemerkt, daß sie zwei Arien vorgetragen habe. Wir möchten uns, da ihre Stimme so stark als lieblich gewesen seyn soll, die erste der Donna Anna (Du kennst den Verräther), und eine von den beiden der Zerline dabei denken. (S. )
Völlig ungewöhnlich für diese Novelle ist der hier sehr vorsichtige Redegestus mit den abwägenden Einschränkungen »vermuthlich«, »wie es scheint«, »vorgetragen habe« und »gewesen seyn soll«. »Ausdrücklich angeführt« sind in dem »zugrunde liegenden Bericht« Sachverhalte, die direkt in die Erzählung übernommen werden, aber auch Sachverhalte, die sich zumindest erschließen lassen (»wie es scheint«). Was darüber hinaus nicht gewiß ist, »möchten [wir] uns […] dabei denken«. Tatsachenbericht und erzählte Geschichte, »unsere Darstellung«, erhalten einen dritten Widerpart, wenn man die Fußnote berücksichtigt. Wer den Erzähler als Sprechinstanz annimmt, muß damit zumindest eine ergänzende Bearbeitung des Dargestellten eingestehen; wer eine andere, in
diesem Fall zwangsläufig höherrangige Sprechinstanz vermutet, gesteht eine weitere Bearbeitung der Geschichte von ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ ein. Die im Jahr im Journal ›Iris‹ veröffentlichte Novelle ›Der arme Spielmann‹ von Franz Grillparzer bietet eine für den Realismus recht typische Rahmenhandlung. Ein sich einer lateinischen Floskel bedienender Bettelmusikant, »ein alter, leicht siebzigjähriger Mann«, hat vor zwei Jahren das Interesse des auf dem Wiener Volksfest flanierenden Erzählers geweckt. Dieser Erzähler zählt sich unter die »dramatischen Dichter« (S. ) und knüpft hoffnungsfroh den Kontakt zum Spielmann. Man vertagt sich und kommt schließlich in der kargen Behausung des Alten zusammen: »Sie sehen mich an,« sagte er, »und haben dabei Ihre Gedanken?« – »Daß ich nach Ihrer Geschichte lüstern bin,« versetzte ich. – »Geschichte?«, wiederholte er. »Ich habe keine Geschichte. Heute wie gestern, und morgen wie heute. Übermorgen freilich und weiter hinaus, wer kann das wissen? Doch Gott wird sorgen, der weiß es.« – »Ihr jetziges Leben mag wohl einförmig genug sein,« fuhr ich fort; »aber Ihre früheren Schicksale. Wie es sich fügte« – »Daß ich unter die Musikleute kam?« fiel er in die Pause ein, die ich unwillkürlich gemacht hatte. (S. )
Die zunächst geleugnete Geschichtsmächtigkeit verwundert ob des wenig aufregenden Lebens eines Bettelmusikanten, »Heute wie gestern, und morgen wie heute«. Doch auf dieses Leben, »wohl einförmig genug«, zielte die Frage des Erzählers auch nicht ab. Seine »Lüsternheit« richtete sich auf die »früheren Schicksale« des anscheinend wohlgebildeten Verarmten. Die Vor-Geschichte der Umstände, wie der Mann »unter die Musikleute kam«, verspricht interessant zu sein: »Wie es kam? – Ja so! da ist denn freilich allerlei geschehen; nichts Besonderes, aber doch allerlei. Möchte ich mir’s doch selbst einmal wieder erzählen. Ob ich’s nicht gar vergessen habe.« (S. )
Die Erinnerung muß also bemüht werden, um die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Der Spielmann tut das mit dem Anspruch, sie sich selbst zu erzählen; die Rahmengeschichte legt aber dar, daß sie an den Rahmenerzähler adressiert ist. Ein und dieselbe Geschichte wird also (unter Berücksichtigung der ›eigentlichen‹ Erzählsituation, nämlich der Erinnerung des Rahmenerzählers)
Franz Grillparzer, Der arme Spielmann. In: ders., Prosaschriften, Bd. . Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik, Wien , S. –; hier S. . Im folgenden bloßer Seitenverweis. – Zur Interpretation vgl. insbesondere den Sammelband: Grillparzer’s Der arme Spielmann. New Directions in Criticism, hg. von Clifford Albrecht Bernd, Columbia . Zum Verhältnis der Novelle zum Drama vgl. Kapitel . dieser Arbeit. Vgl. August Obermayer, Die Bedeutung des Rahmens in Grillparzers Novellen »Das Kloster bei Sendomir« und »Der arme Spielmann«. In: Roman und Ästhetik im . Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum . Geburtstag, hg. von Tim Mehigan und Gerhard Sauder, St. Ingbert , S. –.
quasi dreifach erzählt, nicht drei Mal, wohl aber gleichzeitig in drei verschiedenen Erzählsituationen. Ungewiß ist dabei, ob das vormals Erlebte überhaupt noch rekapituliert werden kann. Man versichert sich jedoch, daß genug Zeit zum Erzählen sei, und die Transformation des Armen Spielmanns zum Erzähler beginnt: Er war während des Letzten zusehends ungezwungener geworden. Seine Gestalt verlängerte sich. Er nahm mir ohne zu große Umstände den Hut aus der Hand und legte ihn aufs Bette; schlug sitzend ein Bein über das andere, und nahm überhaupt die Lage eines mit Bequemlichkeit Erzählenden an. (S. )
Das Erzählen kommt einer Inszenierung gleich. Was als beinahe vergessen angekündigt ist, wird nun mit großem Genuß ausgekostet. Der Alte, »sichtbar vergnügt« (S. ), wechselt seine Rolle vom erbarmungswürdig aufspielenden Musikanten zu einem sich professionell gebenden Erzähler. Der Erzähler wird Zuhörer und macht damit vergessen, daß eigentlich er es ist, der erzählt, wie ihm der Spielmann von weit zurückliegenden und selbstverständlich subjektiv überformten Umständen berichtet. Als der Spielmann einleitend von seinen Eltern erzählt, kommt ihm in den Sinn: »Um diese Zeit – Sieh nur,« unterbrach er sich, »es gibt denn doch eine Art Geschichte. Erzählen wir die Geschichte! Um diese Zeit ereigneten sich zwei Begebenheiten: die traurigste und die freudigste meines Lebens. Meine Entfernung aus dem väterlichen Hause nämlich und das Wiederkehren zur holden Tonkunst, zu meiner Violine, die mir treu geblieben ist bis auf diesen Tag.« (S. )
Zwei Höhepunkte der Geschichte sind also vorweg markiert, und es hat den Anschein, als wären diese emotional besetzten Geschehnisse die Rechtfertigung für den ›Geschichts‹-Status des Erzählten. Es wäre allerdings übereilt, eine Interpretation der Geschichte an diesen Ereignissen festzumachen. Nachdem nämlich der Spielmann von beruflichen Mißerfolgen und seiner vergeblichen Liebe zur Krämerstochter Barbara berichtet hat, schildert er den Höhepunkt dieser ungnädigen Beziehung, einen abgerungenen Kuß durch die Glastür. Das war, wie ich ihn schon früher nannte, der Glückstag meines Lebens. Fast hätte ich gesagt: der einzige, was aber nicht wahr wäre, denn der Mensch hat viele Gnaden von Gott. (S. )
Die nachträgliche Einschränkung, getan um sich der Gunst des mildtätigen Gottes zu versichern, kann nicht verbergen, daß dieser Tag, »wie ich ihn schon früher nannte, der Glückstag meines Lebens« war. Dies freilich ist inkonsequent, denn zuvor galt der Zeitpunkt der »Wiederkehr zur holden Tonkunst« als glücklichster Tag. Auch der traurigste Tag, »meine Entfernung aus dem väterlichen Hause«, erfährt im Verlauf der Geschichte eine neue Zuschreibung. Barbaras Abschied aufgrund ihrer Verheiratung mit einem Fleischer kommentiert der Spielmann:
Ich habe seitdem harte Tage erlebt, keinen aber wie diesen; selbst der darauf folgende war es minder. (S. )
Mag auch die Bedeutung von ›traurig‹ und ›hart‹ eine verschiedene sein, so ist doch die Apodiktik beider Aussagen bemerkenswert, und unzweifelhaft hat es die Härte des Schicksals zu verantworten, daß sich der Spielmann im folgenden »als den unglücklichsten aller Menschen fühlte« (S. ). Die widersprüchlichen Aussagen lassen sich auf dem herkömmlichen interpretatorischen Weg leicht erklären. Immerhin verbindet beide ›traurigsten‹ Ereignisse das Moment des Verstoßens, die Verweigerung väterlicher sowie erotischer Liebe, und auch die ›glücklichsten‹ Ereignisse der Musik und der (vermeintlichen) Erfüllung erotischer Liebe sind unabhängig voneinander nicht zu denken. Barbaras Gesang ist das auslösende Moment für die Zuwendung des Spielmanns. Da er der Imitation des Gehörten auf seiner Geige trotz mannigfaltiger Übungen nicht mächtig ist, wird es zunächst seine vordringliche Aufgabe, die Krämerstochter um eine Notenabschrift zu bitten. Der (nicht erfüllte) Liebes-Topos des gemeinsamen Musizierens steht hier deutlich im Vordergrund. Was später von Barbara bleibt, ist ›ihr Lied‹, das der Alte dem Erzähler zum besten gibt, »wobei ihm die Finger auf den Saiten zitterten und endlich einzelne Tränen über die Backen liefen« (S. ). Eine solche Interpretation verdrängt jedoch die Unstimmigkeiten der Spielmann-Aussagen zugunsten einer sachlich sinnvollen, poetisch aber nivellierenden Psychologisierung. Das Mißverhältnis zwischen eigenem Handeln und der mitunter unbarmherzigen Wirklichkeit ist dem Spielmann im besonderen Maß eigen. Dieses Mißverhältnis wird jedoch vom Erzähler nicht problematisiert, obgleich er ›seinen Liebling‹ im folgenden eine Lebensgeschichte erzählen läßt, die zwar nicht inhaltlich, wohl aber in der Bewertung des Alten widersprüchlich ist. Der Erzähler selbst wiederum erzählt ohne Anlaß von seinem Spielmann, denn nach allgemein gehaltener Einführung (»In Wien ist der Sonntag nach dem Vollmonde im Monat Juli […] ein eigentliches Volksfest«, S. ) beginnt die Erzählung medias in res mit dem längst vergangenen Besuch dieses Volksfestes: »Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gewöhnlich, den lustgierigen Kirchweihgästen als Fußgänger mit angeschlossen« (S. ). Während der Lebensbericht des Alten durch die Neugier des Erzählers – der zufällig Zeuge eines Kuriosums, des Latein sprechenden Bettelmusikanten wird – als ›zu erzählen‹ legitimiert wird, ist die Erzählung selbst, ihr vorgeschalteter Rahmen nicht weiter motiviert. Freilich muß es keinen Anlaß geben, um zu erzählen, jedoch die Verkomplizierung des Erzählten, die unmotivierte Rahmenhandlung zur Inauguration der eigentlichen, entschieden motivierten (Binnen-)Er
Man beachte die Reaktion seiner Umwelt auf das tägliche Musizieren; selbst der Erzähler möchte »den Leser mit der Beschreibung dieses höllischen Konzertes verschonen« (S. ).
zählung markiert diese erst als erzählt. Die ›einfache‹ Geschichte ist damit nobilitiert: man erzählt nicht einfach. Unberücksichtigt sind bislang Novellen geblieben, die keine Rahmenhandlung vorweisen können. Auch bei diesen Texten sind ›Ästhetisierungsstrategien‹ auszumachen, die den artifiziellen Charakter dieser Prosaform unterstreichen. Ähnlich konventionalisiert wie die ›novellistische Entwicklung‹ aus einem Gespräch heraus sind die vielen Varianten der Manuskriptfiktion. Theodor Fontanes ›Grete Minde‹ () beispielsweise ist laut Untertitel eine Geschichte »Nach einer altmärkischen Chronik«. Tatsächlich ist die ›wahre‹ Geschichte der Brandstifterin Grete Minde schon früh aufgezeichnet worden, etwa von dem (auch bei Fontane auftretenden) Tangermünder Bürgermeister Kaspar Helmreich in den ›Annales Tangermundenses‹. Die Fontane-Kommentare nennen weitere Quellen aus dem . Jahrhundert: Andreas Ritners ›Altmärkisches Geschichtsbuch‹ (), August Wilhelm Pohlmanns ›Margaretha Minde oder Die Feuersbrunst zu Tangermünde am . September . Ein Denkmal menschlicher Verworfenheit‹ () und die ›Geschichte der Altmark‹ () von Wilhelm Wohlbrück.
Mit gleichem Ergebnis, aber anderen Schwerpunkten Konrad Feilchenfeldt, Die »Nobilitierung« der Prosa in Grillparzers Der arme Spielmann. In: Schnittpunkt Romantik. Text- und Quellenstudien zur Literatur des . Jahrhunderts. Festschrift für Sibylle von Steinsdorff, hg. von Wolfgang Bunzel, Konrad Feilchenfeldt und Walter Schmitz, Tübingen , S. –. Grillparzers Bitte an den Herausgeber, ›Der Arme Spielmann‹ möge »als Erzählung (ja nicht Novelle!)« gedruckt werden, ist paradoxerweise ganz ähnlich zu verstehen: die ›Novellenwut‹ des Biedermeier entwertete die äußerst populäre Novelle nicht selten als triviale ›Jedermann-Prosa‹. Mit dem neutraleren Begriff der ›Erzählung‹ mag Grillparzer gehofft haben, sich vorschneller Kategorisierung zu entziehen. Vgl. Schröder, Novelle und Novellentheorie, S. und –. Das Grillparzer-Zitat findet sich im Brief Grillparzers an Graf Johann Majláth, . . . Franz Grillparzers Briefe und Dokumente, Bd. , Bearbeiter: Gustav Wilhelm, Wien , S. . – Zur ›Novellenwut‹ vgl. auch Kapitel . dieser Arbeit. Dieses ›Erzählen‹ im eigentlichen Sinne ist im Realismus zumeist kein gesellschaftliches Erzählen, wie etwa bei Boccaccio; demnach sollte insbesondere bei definitorischen Versuchen von derartigen Standortbestimmungen abgesehen werden (›Gesellschaftston‹ als novellistisches Merkmal u. ä.). Novellen ab der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts weisen eher intime Erzählgemeinschaften auf, meist zwei Personen, von denen nur eine erzählt. Zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Erzählgemeinschaft vgl. insbesondere Jäggi, Rahmenerzählung, S. –. Vgl. auch Bettina Knauer, Im Rahmen des Hauses. Poetologische Novellistik zwischen Revolution und Restauration (Goethe, Arnim, Tieck, E. T. A. Hoffmann, Stifter). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, , , S. –. Knauers Differenzierung zwischen Einzelnovelle und Novellenkranz ist sinnvoll, jedoch die Rückführung derselben auf die ›Modelle‹ des ›Decamerone‹ und der Goetheschen ›Novelle‹ überzeugt meines Erachtens nicht; vgl. auch Anm. . Erstdruck in: Nord und Süd, Bd. , Berlin .
Fontanes Novelle entwirft in ihrem Untertitel die Fiktion einer »altmärkischen Chronik«, die in ihrem Adjektiv viel eher ein Buch aus einer vergangenen (alt-märkischen) Zeit heraufbeschwört, als eine ›Geschichte der Altmark‹ vorzustellen. ›Grete Minde‹ ist jedoch kein Auszug aus einer »altmärkischen Chronik«, sondern eine Geschichte »Nach einer altmärkischen Chronik«. Demnach handelt es sich keinesfalls um einen Tatsachenbericht: ›Grete Minde‹ ist explizit keine wortgetreue Wiedergabe einer Chronik, sondern eine Geschichte, die in irgendeiner Form bearbeitet worden ist und das »Nach einer altmärkischen Chronik«. Die Distanzierung von der eigentlichen Geschichte gelingt sehr offensichtlich durch jegliche Art der Rahmung. Es bedarf dazu nicht zwangsläufig einer echten Rahmenerzählung, die die Geschichte in einen ›geschlossenen Rahmen‹ einbettet. Auch ein ›offener (partieller) Rahmen‹ erfüllt diesen Zweck. Der Verzicht auf jegliche Rahmenhandlung kann es zwar verbieten, von einer Rahmenerzählung zu sprechen, doch ist das rahmende Moment selbst bei einem bloßen Vermerk wie dem folgenden mehr als offensichtlich: Die folgenden Mitteilungen rühren von einem Poeten her, welcher seinerzeit einiges von sich reden gemacht, nunmehr aber, wie so mancher andere, verschollen und vergessen ist. Das Wenige, das er geschrieben, mag noch hie und da im Bücherschrank eines Literaturfreundes oder in dem bestäubtesten Fache einer Leihbibliothek zu finden sein, und der Zukunft bleibt es anheim gestellt, ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht.
Auf diese im Druckbild deutlich abgesetzte (aber nicht als solche benannte) Vorrede folgt eine Serie von Briefen in der Art von Johann Wolfgang Goethes ›Die Leiden des jungen Werthers‹ (). Ein Dichter teilt sich in mehreren Briefen seinem Freund mit, berichtet von seiner Liebe zur verheirateten Marianne, und schließlich vom Entschluß, entsagend eine Stelle als Archivar an einem fernen Schloß anzunehmen. Ein letztes Wiedersehen bei einem Hochzeitsball vereint die Liebenden beim Walzertanzen, jedoch stirbt Marianne an einer plötzlichen Herzlähmung in den Armen des Dichters. Die oben zitierte Vorbemerkung erwähnt das dichterische Werk der Hauptfigur, das der Vergessenheit anheim gefallen sei. Unerwähnt bleiben die schriftlichen Aufzeichnungen, die im folgenden vorgelegt werden. Der fiktive Herausgeber dieser Briefe gibt also Auskunft über das Schaffen des Poeten, äußert sich aber nicht weiter über die »folgenden Mitteilungen«. Das Fortleben des
Hervorhebung LK. Zu den Begriffen vgl. Jäggi, Rahmenerzählung, S. –. Ebd., S. –. Ferdinand von Saar, Marianne, kritisch hg. und gedeutet von Regine Kopp, mit einer Einführung von Karl Konrad Polheim, Bonn , S. . Regine Kopp nennt jedoch beide Werke »von ihrer Problemstellung her nicht vergleichbar« und erkennt Ähnlichkeiten höchstens auf formaler Ebene als »Tagebuchroman«. Ebd., S. .
Dichters scheint sich aber in eben diesen Briefen zu manifestieren und nicht etwa nur in seinen Büchern, die ebenfalls Bestandteil der Fiktion sind. Der Dichter selbst ist zum Gegenstand der Dichtung geworden, und »ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht« ist nicht weniger abhängig vom Bekanntheitsgrad seiner Bücher in der fiktiven Welt als von der Verbreitung dieser Briefnovelle in der realen Welt. »Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen« lautet der Untertitel von Annette von Droste-Hülshoffs ›Judenbuche‹ (), die seit ihrer Aufnahme in Paul Heyses und Hermann Kurz’ ›Deutschen Novellenschatz‹ (–) zu den prominentesten Novellen des . Jahrhunderts zählt und bisweilen als Muster der Gattung angeführt wird. Die Geschichte erinnert in der Darstellung eines exemplarischen, psychologisch umrissenen Einzelfalls nicht wenig an die moralischen Erzählungen des . Jahrhunderts, zumal wenn man die zugrundeliegende Quellenlage berücksichtigt, vornehmlich August von Haxthausens ›Geschichte eines Algierer-Sklaven‹ (), die eine Bearbeitung des historischen, gerichtskundigen Falls um den Judenmörder Hermann Georg Winkelhagen darstellt. Mehr oder minder ertragreich ist es nun, in der ›Judenbuche‹ nach der ›unerhörten Begebenheit‹ zu suchen, den Wendepunkt oder den Höhepunkt auszumachen, einem ›Falken‹, Dingsymbol und Leitmotiv nachzuspüren oder den dramatischen Aufbau zu rekonstruieren. Früher oder später stößt man dabei zwangsläufig auf zwei Probleme: eines wenig, eines viel diskutiert. – Die Erzählung beginnt nicht mit dem einleitenden Satz »Friedrich Mergel, geboren , war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigenthümers geringer Klasse im Dorfe B.«, sondern mit einem Gedicht. Der Erzähler geht im folgenden mit keinem Wort auf die vorangestellten zwölf Verse ein, so daß zu fragen ist, welcher Instanz diese Verse überhaupt zuzuordnen sind.
Erstdruck in: Morgenblatt für gebildete Leser. Stuttgart und Tübingen. Nr. –. . . –. . . Hier zitiert nach: Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. In: dies., Historisch-kritische Ausgabe. Prosa. Text, bearbeitet von Walter Huge, Tübingen , S. –. Walter Huge hat dies in seiner Dokumentation innerhalb der historisch-kritischen Ausgabe zurückgewiesen. Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe. Prosa. Dokumentation, bearbeitet von Walter Huge, Tübingen , S. –; hier S. f. Vgl. auch die im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe mitgeteilten Hinweise auf Friedrich Schillers ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹ (ED: ›Verbrecher aus Infamie‹, ); Droste-Hülshoff, Judenbuche. Dokumentation, S. f. – Vgl. auch Helmut Koopmann, Die Wirklichkeit des Bösen in der ›Judenbuche‹ der Droste. Zu einer moralischen Erzählung des . Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, : Sonderheft, , S. –. – Zur historischen Grundlage: Horst-D. Krus, Mordsache Soistmann Berend. Zum historischen Hintergrund der Novelle »Die Judenbuche« von Annette von Droste-Hülshoff, Münster .
»Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie«, heißt es in Joh , und in der ›Judenbuche‹ »Wo ist die Hand so zart, […] / So fest, daß ohne Zittern sie den Stein / Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?« Man wird hier eine Moral heraushören, die dem Leser Anleitung gibt zur Beurteilung des Folgenden: »Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! – « Eine solche moralische Geste an exponierter Stelle muß verwundern bei dem sonst eher sachlich berichtenden Prosa-Erzähler, der sich überdies ja gerade durch die ungebundene Sprache auszeichnet, wie es dem Anspruch auf Faktizität gemäß ist. Man steht also zunächst nicht vor der Frage, wie das Gedicht interpretatorisch mit der eigentlichen Erzählung zu verknüpfen sei, sondern muß diese Verbindung überhaupt erst begründen. Wenn man zwei verschiedene Sprechinstanzen annimmt, so ist zu fragen, ob sie gleichrangig nebeneinander agieren oder ob es sich um eine Variante des erzählten Erzählens handelt. Wenn das Gedicht jedoch dem Erzähler der Novelle zugeordnet wird, wie verträgt es sich dann mit dessen prosaischem Berichterstatter-Status? – Unabhängig von einer Antwort auf diese Frage ist die Poetisierung der »Criminalgeschichte, Friedrich Mergel« durch ein vorgelagertes Gedicht, einen ›Peritext‹, der als werkimmanenter Paratext ein lektüresteuerndes Hilfselement abgibt, bemerkenswert. Besondere Brisanz erhält es durch die moralische Leseranleitung, welche die Geschichte zu einem zumindest abhängigen, wenn nicht gar (im wertneutralen Sinne) nachrangigen Text werden läßt. Diese Moral, »Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –« (S. ), steht der Inschrift der Judenbuche, und damit wohl auch der ganzen Novelle, diametral gegenüber.
So Carmen Rieb, »Ich kann nichts davon oder dazu tun«. Zur Fiktion der Berichterstattung in Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche. In: Erzähler. Erzählen. Erzähltes. Festschrift der Marburger Arbeitsgruppe Narrativik für Rudolf Freudenberg zum . Geburtstag, hg. von Wolfgang Brandt, Stuttgart , S. –; hier S. . Droste-Hülshoff in einem Brief an Wilhelm Junkmann vom . August . Gérard Genette, Paratexte, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt am Main, New York, Paris ; Werner Wolf, Paratext. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, ., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar , S. –. Ganz anders verhält es sich mit dem eindeutig erzählten Gedicht ›Ein Kindelein so löbelich …‹ Hier gibt der Erzähler wortwörtlich den Gesang wieder, »der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog« (S. ). Vgl. Wolfgang Wittkowski, Das Rätsel der ›Judenbuche‹ und seine Lösung. Religiöse Geheimsignale in Zeitangaben der Literatur um . In: Sprachkunst, , , S. –. – Vgl. auch Hartmut Laufhütte, Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche als Werk des Realismus. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, hg. von Michael Titzmann, Tübingen , S. –; hier S. ; Laufhütte erachtet das Gedicht als höherrangig, S. : »Denn das Gedicht liefert ja auch, als allererster Bestandteil des Ganzen, eine Vorabinterpretation, die, wahrgenommen, den Rezeptionsvorgang steuern müßte.«
Mergels Tod erscheint nämlich als folgerichtige Strafe für das bis dahin nicht aufgeklärte Verbrechen. Der Racheschwur »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast« (S. ) ist die Prophezeiung eines übernatürlich anmutenden Strafgerichts, das den Mörder aus der Fremde zurückkehren läßt, um ihn schließlich an der Judenbuche zu richten. Ein zweites, altbekanntes Problem der ›Judenbuche‹ liegt in der textinternen Datierung: Friedrich Mergel kehrt am . Dezember in sein Dorf zurück und stirbt einige Zeit später »im September des Jahrs « (S. ). Dies ist schlechterdings unmöglich. Anhaltspunkte, die eine Eingliederung der Novelle in den Bereich der Phantastik erlauben könnten, liegen nicht vor. Weist die Erzählung also einen Fehler auf, und wer hätte ihn zu verantworten? Friedrich Mergel wird im Jahre geboren, dem zweiten Ehejahr von Heinrich und Margarete Mergel. Mit acht Jahren, zum Epiphanias-Fest der heiligen drei Könige, stirbt der Vater des Jungen. Mit zwölf Jahren kommt Mergel zu seinem Onkel Simon Semmler. Als er achtzehn Jahre alt ist, beginnt der Holzfrevel durch die Bande der ›Blaukittel‹. »Es war im Juli früh um drei« (S. ), als Mergel im Wald vom Förster Brandis und dessen Gesellen überrascht, Brandis kurz darauf tot aufgefunden wird. Nach einer deutlichen Absatzmarkierung durch einen Querstrich setzt die Erzählung vier Jahre später wieder ein, im Oktober, »um sieben Uhr Abends« (S. ). Bei der nun geschilderten Festlichkeit kommt es zum Streit zwischen Mergel und dem Juden Aaron. Aaron wird bald darauf erschlagen aufgefunden, Mergel und mit ihm der Knecht Johannes Niemand sind verschwunden. Etwa ein halbes Jahr später (S. ) erhalten die im Fall Ermittelnden ein Schreiben, welches Mergel entlasten könnte. Achtundzwanzig Jahre darauf, »Eine schöne, lange Zeit war verflossen« (S. ), kehrt ein Mann zurück in das Dorf: »Es war am Vorabende des Weihnachtfestes, den sten December « (S. ). Der Bettler wird als Johannes Niemand erkannt; man läßt ihn seine Fluchtgeschichte erzählen und nimmt ihn auf. Eines Tages verschwindet Niemand; man findet ihn zwei Wochen später erhängt an der Judenbuche, erkennt an einer Narbe am Hals jedoch Friedrich Mergel. Der abschließende Erzählerkommentar lautet: »Dieß hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs « (S. ). Diese verkürzende und auch in den Zeitangaben durchaus nicht vollständige Inhaltsangabe macht deutlich, wie sorgfältig hier die Chronologie eines Verbrechens rekonstruiert wird. Das epische Präteritum dürfte dabei zunächst
Rieb, Fiktion der Berichterstattung, S. , spricht in ihrem Beitrag von einer »sicher nicht von der Dichterin (und auch nicht vom Erzähler) beabsichtigte[n] Unvereinbarkeit diverser Zeitangaben«. Die weiteren Zeitangaben sind meist Wiederholungen, haben also noch verstärkenden Charakter.
nicht als echtes Merkmal der Fiktionalisierung dienen, doch die so auffällige wie nebensächliche Thematisierung des zeitlichen Ablaufs und auch des Abstands zum Erzählten ist bemerkenswert: »Die Axt lag zwanzig Jahre nachher als unnützes Corpus delicti im Gerichtsarchiv, wo sie wohl noch jezt ruhen mag mit ihren Rostflecken« (S. ). Wieviele Jahre zwischen dem bloß spekulativen »wohl noch jezt ruhen« und dem »im Gerichtsarchiv [liegen]« vergangen sind, wird nicht mitgeteilt. Vermutlich trennt ein Menschenalter den Erzähler von seinem Erzählgegenstand: Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch in’s Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmüthig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viel theure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. So viel darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Ueberzeugung handelt, und sey sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zu Grunde gehen, wogegen nichts seelentödtender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen. (S. f.)
Die letzten beiden Sätze verdecken in ihrem unbeirrbaren moralischen Gestus den vorsichtigen Angang der ersten beiden. Abwägend wird erklärt, es sei schwer, »jene Zeit unparteiisch in’s Auge zu fassen«; daß dies gar unmöglich ist, macht der Folgesatz deutlich, denn derjenige, der sie erlebte, tadelt oder lobt sie allzu sehr (geblendet von seinen Erinnerungen), während derjenige, der sich unter die Spätgeborenen rechnen kann, sie nicht begreift. Auch der Erzähler kann also nicht wahrheitsgemäß von jener Zeit berichten, einer Zeit überdies, deren »Verschwinden« offenbar ist. Die Vermutung, die Geschehnisse um die ›Judenbuche‹ – also der Fall Friedrich Mergel – seien nur aus zweiter Hand bekannt, wird weiter bekräftigt. Über die Wirkung des in der Stube aufgebahrten alten Mergel heißt es: Friedrich hatte seinen Vater auf dem Stroh gesehen, wo er, wie man sagt, blau und fürchterlich ausgesehen haben soll. Aber davon erzählte er nie und schien ungern daran zu denken. (S. )
Der Erzähler ist aufrichtig genug, nicht unkommentiert von einer ihm zweifelsohne unbekannten Szene zu berichten. Mergel selbst hüllte sich allzeit über den Anblick seines toten Vaters in Schweigen, so daß auf andere Quellen zurück
Frühere Fassung legen die ›Judenbuche‹ als Erinnerungsnovelle eines deutlich stärker konturierten Erzählers an; vgl. etwa H, mitgeteilt in Droste-Hülshoff, Judenbuche. Dokumentation, S. –. Auf die Tendenz zur ›Verdunkelung‹ im Lauf der Textgenese der ›Judenbuche‹ ist in der Forschung mehrfach hingewiesen worden; vgl. insbesondere Bernd Kortländer, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Zu einer Schreibstrategie in der Judenbuche der Droste. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, : Sonderheft, , S. –; vgl. auch Hannes Fricke, Verschleierung der Struktur und Auflösung der Person: Nochmals zu Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche. In: Colloquia Germanica, , , S. –.
gegriffen werden muß: der alte Mergel soll »blau und fürchterlich ausgesehen haben« – »wie man sagt«. Was aber sonst noch ›gesagt‹ wird, und woher der Erzähler Kenntnis von den anderen so detailliert mitgeteilten Geschehnissen hat, bleibt ungewiß. Die hier angestrebte Indiziensuche, welche die Novelle als ›gemachtes‹ Kunstwerk entlarven soll, kann durch den Verweis auf die Datierungszweifel vorläufig abgeschlossen werden. Der am Heiligen Abend des Jahres zurückgekehrte und im September desselben Jahres tot aufgefundene Friedrich Mergel ist nur ein weiterer Beleg dafür, daß es der Erzählung an Zuverlässigkeit gebricht, sie nachgerade als Muster ›unzuverlässigen Erzählens‹ gelten kann. Darf das aber verwundern bei einer Kriminalnovelle, die von uneindeutigen Momenten übervoll ist: Ist der alte Mergel in der Todesnacht noch am Haus gewesen? Wie ist die Ähnlichkeit zwischen Johannes Niemand und Friedrich Mergel zu erklären? Welche Rolle spielt dabei der Onkel Simon Semmler? Wer hat den Förster Brandis erschlagen? Wer sind die Blaukittel, warum verschwinden sie so plötzlich wieder? Was hat es mit dem vermeintlichen Geständnis des Holzfrevlers auf sich? Warum schließlich hat man zuvor nie etwas über die Narbe an Friedrich Mergels Hals erfahren?
Vgl. auch Kapitel . dieser Arbeit. Heinrich Henel hat die Unzuverlässigkeit des Erzählten als das wesentliche Interpretationsmoment genannt. Er pointierte seine These mit der sinnreichen Umkehrung des in der ›Judenbuche‹ erwähnten Zitats von Nicolas Boileau: »Le vraisemblable n’est pas toujours vrai« (Henel) statt »Le vrai n’est pas toujours vraisemblable« (Boileau und ›Judenbuche‹, S. ); Heinrich Henel, Annette von Droste-Hülshoff: Erzählstil und Wirklichkeit. In: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, hg. von Egon Schwarz, Hunter G. Hannum und Edgar Lohner, Göttingen , S. –; hier S. . – Henel ist für diese Einschätzung sehr häufig kritisiert worden; vgl. insbesondere den Beitrag von Benno von Wiese, der die unzweifelhafte Eindeutigkeit aller Geschehnisse in der ›Judenbuche‹ konstatiert, denn sonst »bricht die ganze Geschichte in dunkle Rätsel und in labyrinthische Irrwege auseinander«. Benno von Wiese, Porträt eines Mörders. Zur Judenbuche der Annette von Droste. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, : Sonderheft, , S. –; hier S. . Die Entdeckung der Narbe wird umso skurriler, wenn man einem Wort aus Mörikes erstveröffentlichter Novelle ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ glauben möchte: »Nein, sieh nur her – ich muß es machen, wie’s in der Comödie [!] der Brauch ist, wo sich die todtgeglaubten Söhne oder Brüder durch ihre Muttermäler und Narben legitimiren« (S. ). – Gerard Oppermann sieht mit Blick auf die Motivgeschichte der Narbe deren unerwartete Erwähnung am Schluß der ›Judenbuche‹ hinreichend motiviert. Gerard Oppermann, Die Narbe des Friedrich Mergel. Zur Aufklärung eines literarischen Motivs in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, , , S. –.
. Novellistische Praxis (II) Die auf ›Ästhetisierung‹ ausgerichtete vorliegende Untersuchung soll die üblichen Kriterien zur Definition der Novelle nicht außer acht lassen. Insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der Novelle im . Jahrhundert ist festzustellen, daß das Kriterium der ›mittleren Länge‹ maßgeblich geworden ist. Otto Ludwigs ›Zwischen Himmel und Erde‹ () wird häufig zu den Novellen des Realismus gezählt. – Herr Nettenmeier wohnt mit seiner Schwägerin »in dem Hause mit den grünen Fensterladen«. Der Erzähler blickt in der Art einer Erinnerungsnovelle zurück, und man erfährt, wie vor mehr als drei Jahrzehnten die Liebe von Apollonius Nettenmaier und der schönen Christiane durch den Bruder Fritz Nettenmeier hintertrieben worden ist. Fritz hat das Mädchen durch geschicktes Ränkespiel schließlich für sich gewinnen können und Apollonius sich in sein Schicksal gefügt. Die ständige Eifersucht von Fritz Nettenmeier verstärkt sich, als Apollonius den Auftrag erhält, größere Reparaturen am Kirchdach vorzunehmen. Fritz verkommt zunehmend und stürzt schließlich beim versuchten Mord an seinem Bruder vom Kirchdach. Apollonius Nettenmeier und Christiane, inzwischen um die einstige Intrige des Verstorbenen wissend, leben fortan entsagungsvoll »allein in dem Hause mit den grünen Fensterladen« (S. ). – Der Familienkonflikt bestimmt die einsträngige Handlung, die sich entweder in besagtem Haus oder auf dem Kirchdach abspielt, also ›Zwischen Himmel und Erde‹, wie auch der Titel nicht ohne Ironie totum pro parte feststellt. Das leitmotivisch immer wieder, insbesondere am Ende längerer Erzählabschnitte erwähnte Haus und die (allerdings gleich mehrfach) dramatisch sich zuspitzenden Ereignisse auf dem Kirchdach deuten auf novellistisches Erzählen hin. Ein Rahmen bettet das Erzählte in die anscheinend idyllische Lebensweise der beiden Alten ein. Zu Beginn des vorletzten Erzählabschnitts nimmt der Erzähler den Faden wieder auf: Wir überspringen im Geiste drei Jahrzehnte und kehren zu dem Manne zurück, mit dem wir uns im Anfange unserer Erzählung beschäftigten. Wir ließen ihn in der Laube seines Gärtchens. (S. )
Die Lebensgeschichte von Apollonius Nettenmeier ist also bezeichnenderweise in ›Entfernung‹ von diesem erzählt worden, während die ereignislose
Otto Ludwig, Zwischen Himmel und Erde. In: ders., Zwischen Himmel und Erde. Novellenfragmente, hg. von Paul Merker und Hans Heinrich Borcherdt, München, Leipzig , S. –; hier S. . Im folgenden bloße Seitenangabe. – Zur Interpretation vgl. insbesondere Jörg Schönert, Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde (). Die Wahrheit des Wirklichen als Problem poetischer Konstruktion. In: Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, hg. von Horst Denkler, Stuttgart , S. –. Vgl. dagegen Anm. . Einzelne Erzählabschnitte sind durch einen Längsstrich voneinander abgesetzt.
Rahmensituation die ›Rückkehr‹ zu dem zwischenzeitlich in der Laube zurückgelassenen Mann erfordert. Möchte man von der Erzählzeit ausgehen, so muß konstatiert werden, daß ›Zwischen Himmel und Erde‹ erzählt, wie Herr Apollonius Nettenmeier an einem Sonntagvormittag »nach hergebrachter Weise zu dieser Stunde auf einer Bank in seiner Laube sitzt«. Der Erzähler mutmaßt, es seien die vergangenen tragischen Ereignisse, die in diesem Augenblick »durch das Gedächtnis des Mannes [gehen]« (beide Zitate S. ), und erzählt daraufhin dessen Lebensgeschichte. Er schließt mit einem kurzen Bericht über die zukünftigen Ereignisse, die Verheiratung der Neffen, nicht ohne Apollonius paradoxerweise zu unterstellen: »Heute sieht er mehr vorwärts in die Zukunft als in die Vergangenheit zurück« (S. ). Apollonius und dessen Geschichte scheinen damit novellistischer Spielball des Erzählers zu sein. Dieser Interpretationsansatz mag mit Blick auf das novellistische Erzählmuster aufschlußreich sein, doch macht die Bezeichnung ›Novelle‹ bei einer ›Erzählung‹ von rund Seiten Länge kaum mehr Sinn. Vielmehr wird es sich empfehlen, das Kriterium der ›mittleren Länge‹ neben der geschlossenen Form und dem ›betonten Geschehnismoment‹ als unbedingtes Merkmal der Novellen des Realismus zu berücksichtigen. Die in dieser Arbeit beschriebenen ›Ästhetisierungsstrategien‹ mögen den Kriterienkatalog ergänzen. Paul Heyses ›La rabbiata‹ () kann insofern ein Gegenstück zu Ludwigs Erzählung bilden, als es sich hier um einen verhältnismäßig kurzen Prosatext handelt. Von Heyse selbst den ›Italienischen Novellen‹ zugerechnet, beginnt der Text medias in res: »Die Sonne war noch nicht aufgegangen.« Der Dialog zwischen einer Alten und ihrer Enkelin führt dann in die Situation ein: »Siehst du, Rachela? da ist unser Padre Curato, […]. Eben steigt er ins Schiff.
So der Untertitel von ›Zwischen Himmel und Erde‹ in allen Drucken zu Ludwigs Lebzeiten. Aust, Realismus, nennt ›Zwischen Himmel und Erde‹ eine ›Erzählung‹, vermerkt aber (S. ): »Das Rahmenkonzept der Erzählung funktioniert nach dem Prinzip der Begegnungsnovelle, die erklärend nachholt, was als längst ›fertige‹ Merkwürdigkeit vor die Augen tritt.« Offensichtlich ist, daß ›Ästhetisierungsstrategien‹ in narrativen Großformen erheblich leichter zu handhaben sind und dort eine lange Tradition haben (für die etwa Cervantes’ ›Don Quijote‹ oder Sternes’ ›Tristram Shandy‹ ganz ausgeprägte Beispiele abgegeben). Ab unter dem Titel ›L’Arrabbiata‹. Hingewiesen sei auf Aust, Realismus, S. : »Der berühmteste Novellen-Autor zur Zeit des Realismus ist kein typischer Realist und heißt Paul Heyse.« Der Erstdruck in: Argo. Belletristisches Jahrbuch für , hg. von Theodor Fontane und Franz Kugler, Dessau . In den noch zu Lebzeiten Heyses erschienen ›Gesammelten Werken‹ ( Bde., Stuttgart –, bereits die zweite Werkausgabe) wird ›L’Arrabiata‹ in die ›Italienischen Novellen‹ eingereiht. Paul Heyse, L’Arrabbiata. In: ders., Italienische Novellen, Stuttgart, Berlin [], S. –; hier S. .
Der Antonio soll ihn nach Capri hinüberfahren« (S. ). Man wartet noch auf das Mädchen Laurella und setzt dann über. Während der Fahrt fragt der Padre das Mädchen nach ihrem Spitznamen ›l’Arrabbiata‹, woraufhin diese ihre trotzige Abneigung gegenüber allen Männern erklärt. Sie erzählt von ihrem Vater, der ihre Mutter erst immer schlug, bevor er sie liebte: »wißt, Padre, darum will ich eine Jungfrau bleiben, um keinem untertänig zu sein, der mich mißhandelte und dann liebkoste« (S. ). Am Abend rudert Antonio allein mit dem Mädchen zurück. Der unglücklich Verliebte versucht sich ihr freundschaftlich anzunähern, doch sie weist ihn vehement zurück, und es kommt schließlich zu Handgreiflichkeiten: Antonio will sich mit ihr im Wasser ertränken, Laurella beißt ihn in die Hand. Das Mädchen verbindet nach einem weiteren Zwist die Wunde, an Land trennen sie sich. Noch in der Nacht sammelt Laurella Kräuter, bringt sie Antonio, und die beiden werden ein Liebespaar. Der Padre erfährt schließlich im Beichtstuhl, »in dem Laurella lange gekniet hatte«, den Verlauf der Ereignisse: »Ei, ei, ei! l’Arrabbiata« (beide Zitate S. ). Die auch durch typographische Markierungen deutlich strukturierte Handlung läßt sich in vier Abschnitte gliedern: () die Hinfahrt, in der Laurellas Spitzname von ihr selbst erläutert wird, was ihr Verhalten psychologisch grundiert, () die Rückfahrt mit Antonios Verzweiflungstat, () die Fürsorge Laurellas, die zur Liebenden wird, () der Kommentar des Padre. Das in dieser Arbeit vorgestellte Phänomen der ›Ästhetisierung‹ kommt hier nur schwach zur Geltung. Laurellas Rückwendung während der Bootsfahrt und der abschließende Kommentar des Padre könnten den Eindruck einer Binnenerzählung sowie eines Rahmens vermitteln; Laurellas äußerst kurzer Bericht über ihre Eltern ist jedoch zu sehr Bestandteil des erzählten, stark dialogischen Augenblicks (der Unterhaltung mit dem Padre bei der Überfahrt nach Capri), um eine eigenständige Erzählung abzugeben. Auch kann der Kommentar des Pfarrers nicht als selbständiger Erzählabschnitt im Sinne einer ›Rahmung‹ gelten. Zwar schließt diese Passage sich insofern rahmend um die Geschichte von Laurella und Antonio, als sie wie zu Beginn ihren Fokus auf den Geistlichen richtet, doch ist diese Rahmung einzig das Ergebnis einer Binnenstrukturierung der erzählten Welt, nicht jedoch eine Rahmung, die von der eigentlichen Erzählsituation abhebt. Eine Charakterisierung der Novelle des Realismus kann also keinesfalls allein auf Ästhetisierungsstrategien rekurrieren. Otto Ludwigs ›Zwischen Himmel und Erde‹ und Paul Heyses ›L’Arrabiata‹ zeigen, daß novellistische Merkmale einen Text strukturieren können, ohne daß ein definitorisch fixierter Kriterienkatalog vollständig erfüllt sein muß.
Benno von Wiese hat dem ›novellistischen Erzählen‹ den Vorzug gegenüber der rigideren Bezeichnung ›Novelle‹ gegeben, sich damit aber nicht durchsetzen können. Benno von Wiese, Novelle. ., durchgesehene Auflage, Stuttgart [], S. .
. Zusammenfassung In Wilhelm Raabes ›Die Chronik der Sperlingsgasse‹ () kommt der Erzählerchronist nach der Lektüre von Matthias Claudius’ ›Asmus omnia sua secum portans‹, dem ›Wandsbecker Boten‹, auf eine Idee: Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse; eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich mußte mich wirklich setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen Gedanken und einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee.
Es ist die Absicht des ›malenden Chronisten‹ (Bilderbuch – Chronik), im folgenden aus seinem Leben zu berichten: Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefaßt, zusammenheften, und bin ich müde – nun so schlage ich dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit und kompiliere lustig fort an meinem wichtigen Werke De vanitate hominum, einem ausnehmend – dicken Gegenstande. (. November; S. f.)
Die hier erzählte Initialisierung der ›Chronik‹ ist eine offensichtliche Fiktion, denn die erzählte Welt ist durch den vorangehenden ersten Chronik-Eintrag »Am . November« (S. ) längst eröffnet. Der unpoetische Gestus schlägt sich nieder in der Mißachtung des »schriftstellerischen Kontrapunkts«: der Erzähler gibt sich keine Mühe, zwei oder mehr ›Melodien‹ (Handlungsstränge oder ähnliches) polyphon zusammenzuführen. Der dichterische Prozeß vollzieht sich also nicht mit Blick auf eine poetische Einheit, sondern das Werk wird »lustig fort kompiliert«, wobei »hübsche Rahmen« für den rechten literarischen Anstrich sorgen. Das oben angeführte Zitat bezieht sich zum einen auf die Form des Textes, zum anderen auf dessen Inhalt: der »ausnehmend dicke Gegenstand« ist nichts geringeres als die Vergänglichkeit des Menschen – das Leben in der Sperlingsgasse als ein Abbild ›De vanitate hominum‹. Damit verfolgt Raabes Erzählung
Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse. In: ders., Die Chronik der Sperlingsgasse. Ein Frühling, bearbeitet von Karl Hoppe und Max Carstenn, Göttingen , S. –; hier Eintrag vom . November, S. f. Eine ähnliche Beteuerung wieder am . Januar; S. f. Auch der Titel der Chronik eröffnet die Fiktion, bevor diese sich selbst thematisieren kann. Aufgrund des über die ›mittlere Länge‹ hinausgehenden Umfangs der ›Chronik der Sperlingsgasse‹ kann hier schwerlich von einer Novelle gesprochen werden. – Zu Raabes Erzählverfahren vgl. etwa Hans Jürgen Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an »Alte Nester«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, , S. –.
das thematische Programm der Novellen des Realismus, das sich wie folgt zusammenfassen läßt: Insofern bildet die Novelle vor allem die tragische Erzählvariante im poetischen Realismus, in der das Geistige, Humoristische und Poetische, die Refugien humaner Souveränität, erdrückt werden von scheinbar außer Kontrolle geratenen, über den einzelnen sich hinwegsetzenden Prozessen.
Diese inhaltliche Definition konkurriert freilich mit der Autorität der Dichter. Deren Definitionsversuche sind gleichsam gewinnbringend, wenn man den gemeinsamen Nenner eines »betonten Geschehnismoments« – der die Frage nach der dramatischen Schematisierung mit Höhepunkt oder Wendepunkt zurückstuft – zuläßt. Diesem Geschehnismoment ist die geschlossene Form der Novelle geschuldet, das heißt, die Strukturelemente der Novelle sind funktional geordnet und zielen auf eine Einheit hin. Die novellistische Geschichte selbst zeichnet sich somit zwangsläufig durch ihre verhältnismäßige Kürze aus. Zwar vernachlässigt das Kriterium der ›mittleren Länge‹ die literarische Wirklichkeit des . Jahrhunderts mit ›Novellen‹ zwischen und Druckseiten, doch müßte bei Berücksichtigung solcher Gepflogenheiten der literaturwissenschaftlich durchaus sinnvolle Gebrauch der Gattungsbezeichnung ›Novelle‹ ganz aufgegeben werden, was wiederum aufgrund der literarischen Praxis nicht sinnvoll ist.
Winfried Freund, Novelle. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit –, hg. von Edward McInnes und Gerhard Plumpe, München, Wien , S. –; hier S. . Wörtlich übernommen in Freund, Novelle, S. . Eine (freilich ironische) inhaltliche Bestimmung der realistischen Novelle findet sich bei Theodor Fontane: »Wer’s nicht leicht nimmt, der ist verloren. Roman, Erzählung, Kriminalgeschichte. Jeder, der der großen Masse genügen will, muß ein Loch zurückstecken. Und wenn er das redlich getan hat, dann immer noch eins. Es gibt eine Normalnovelle. Etwa so: tiefverschuldeter adeliger Assessor und ›Sommerleutnant‹ liebt Gouvernante von stupender Tugend, so stupende, daß sie, wenn geprüft, selbst auf diesem schwierigsten Gebiete bestehen würde. Plötzlich aber ist ein alter Onkel da, der den halb entgleisten Neffen an eine reiche Cousine standesgemäß zu verheiraten wünscht. Höhe der Situation! Drohendster Konflikt. Aber in diesem bedrängten Moment entsagt die Cousine nicht nur, sondern vermacht ihrer Rivalin auch ihr Gesamtvermögen. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch … Ja, Herr von Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?« Alles stimmte zu; nur Baron Planta meinte: »Doktor Pusch, pardon, aber ich glaube beinah, Sie übertreiben. Und sie wissen es auch.« Theodor Fontane, Der Stechlin. Roman, hg. von Klaus-Peter Möller, Berlin , S. . Zitiert auch bei Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung (. Auflage), S. , und Aust, Novelle, S. . Thomé/Wehle, Novelle, S. . Meyer, Novelle und Journal, S. f. Die Novellistik der letzten zwanzig Jahre stellt die Forschung durch die entsprechende Untertitelung der Werke vor nicht minder große Probleme; vgl. die prominenten Novellen von Christoph Hein, Thomas Hürlimann, Norbert Gstrein, Günter Grass und vieler anderer.
Eine definitorische Bestimmung, die sich nicht auf irgendwelche Autoritäten stützen kann, sieht sich der literarischen Praxis ebenso ausgesetzt wie deren literaturwissenschaftlicher Auswertung. In diesem Sinne mag der verhältnismäßig wenig vorbelastete Begriff der ›Erzählung‹ im engeren Sinne für Kurzprosatexte des Realismus angemessener sein als derjenige der Novelle. Wenn man jedoch gewillt ist, die Differenzierung von Formen der Kurzprosa etwa in Märchen, Legende, Anekdote, Parabel etc. aufrechtzuerhalten, so hat es wenig Sinn, auf den äußerst prominenten Begriff der Novelle zu verzichten. Zwar verbietet das breite Spektrum all derjenigen Texte, die mit ›Novelle‹ untertitelt sind, eine für alle Epochen verbindliche Definition, doch scheint die Kombination von historischer Begrenzung (hier auf diejenige Epoche, für die die Novelle maßgeblich war, den Realismus) und normativer Bestimmung beinahe zwingend notwendig. Wie nämlich wäre ein Phänomen zu charakterisieren, das nicht benannt werden soll, und was zeichnet einen Gattungsbegriff aus, der zwar andauernd benutzt wird, aber nicht weiter bestimmbar scheint? Die bis hier genannten Kriterien zur Charakterisierung der Novelle ergeben nicht einzeln und fakultativ, sondern nur in ihrem obligatorischen Zusammenspiel einen praktikablen Begriff der Novelle des Realismus. Die Novelle ist demnach eine vornehmlich einsträngige Prosa-Erzählung mittlerer Länge, geschlossener Form, mit betontem Geschehnismoment. Die Untersuchung von über die Epoche hinauswirkenden Texten hat gezeigt, daß die ›Kunstfertigkeit‹, die den Novellisten immer wieder zugeschrieben wird, ein wichtiges Merkmal dieser Novellistik ist: ›Kunstfertigkeit‹ bezieht sich hier auf die markante ›Ästhetisierung‹ des Textes, das Herausstellen der literarischen Fiktion als ›gemacht‹. Formale Differenzierung etwa von Rahmen und Schachtelrahmen sowie inhaltliche Differenzierungen in Erinnerungsnovelle, Chronik- und Briefnovelle, Gewährspersonhinweisen oder sonstigen Herausgeberfiktionen weisen ein und dieselbe Ästhetisierungsstrategie auf: es wird erzählt, daß erzählt wird. Mit
Die Berufung auf antike Poetiken etwa hätte zweifelsfrei zur Folge, daß eine entsprechende literarhistorische Entwicklung auszumachen wäre, die sich immer an dem bereits Überlieferten zumindest orientiert. Die Novelle kann jedoch zwischen Boccaccio, Cervantes, moralischer Erzählung und Gesprächsspiel keinen Traditionsstrang normativ für sich beanspruchen. – Mit Blick auf die Wirkungsmacht von Autoritäten bliebe zu prüfen, inwiefern Goethes »unerhörte Begebenheit« die Novellistik insbesondere seit Mitte des . Jahrhunderts dann doch bestimmt. Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, daß hier eine ahistorische definitorische Setzung erfolgt ist, die auf die Autoren der Gegenwartsnovellistik nicht unwesentlich gewirkt hat. Karl Konrad Polheim hat dementsprechend bewußt auf den Terminus ›Novelle‹ verzichtet (Handbuch der deutschen Erzählung). – Vgl. dagegen Joachim Müller, Novelle und Erzählung. In: Novelle, hg. von Josef Kunz, ., wesentlich veränderte und verbesserte Auflage, Darmstadt , S. –. Vgl. Anm. .
diesen Rahmungstechniken kann das Phänomen der ›Ästhetisierung‹ jedoch noch nicht hinreichend beschrieben werden. Das Beispiel der ›Judenbuche‹ von Annette von Droste-Hülshoff hat etwa gezeigt, daß auch eine schwerwiegende logische Unstimmigkeit dazu dienen kann, das Erzählte als ›gemacht‹ zu markieren. Gleiches gilt für historische beziehungsweise historisierende Novellen, wenngleich die hier vorliegende ›Ästhetisierung‹ sich nur durch die Berücksichtigung der außertextlichen Umstände ergibt: eine Erzählung, die wie Conrad Ferdinand Meyers ›Das Amulett‹ erstveröffentlicht wird und im Ersten Kapitel mit dem Satz beginnt »Heute am vierzehnten März ritt ich von meinem Sitze am Bielersee hinüber nach Courtion« (S. ), distanziert ihren Erzählgegenstand mit der Eröffnung der erzählten Welt. Eine undogmatische Charakterisierung der kanonisierten Novellen des Realismus kann demnach erweitert werden: die Novelle des Realismus ist eine meist einsträngige Prosa-Erzählung mittlerer Länge, geschlossener Form, mit betontem Geschehnismoment und vorgeblichem Anspruch auf Faktenwahrheit bei gleichzeitiger Ästhetisierung.
. Narratologischer Exkurs Es wurde bislang darauf verzichtet, die in den vorangegangen Kapiteln dargestellten ›Ästhetisierungsstrategien‹ terminologisch näher zu erfassen. Es liegt nahe, die entsprechenden Anleihen bei der Erzähltheorie zu suchen. Da die hier vorgestellten Verweise auf ›Gemachtheit‹ allesamt dieselbe Konsequenz mit sich bringen, eben eine Geschichte (histoire) zu ›entwirklichen‹, sollte nach Möglichkeit ein einziger Begriff dieses Phänomen umfassen können. ›Selbstreflexives Erzählen‹ im Sinne »unterschiedliche[r] Formen der Selbstbezüglichkeit einer bestimmten Erzählung (oder einzelner Teile)« könnte den hier vorgestellten Novellen durchaus entsprechen. Der Erzählakt wird reflektiert etwa in dem Eingeständnis des Erzählers von ›Mozart auf der Reise nach Prag‹, der im Laufe seiner Geschichte reichlich unvermittelt angibt, er erzähle nach einem »zugrunde liegenden Bericht«. Diese der erzählten Welt immanente Form der Selbstreflexivität ist jedoch keineswegs in allen Novellen auszumachen, die in nicht geringer Zahl ihren Fiktionsstatus durch die vom ›eigentlichen Text‹ schon im Layout unterschiedenen Vorbemerkungen und
Eine Novellendefinition, die sowohl auf ›technische‹ wie auf ›semantische‹ Strukturen der Rahmung ausgerichtet ist, bietet Blasberg, Augenlider des Erzählens, S. . Zur Komplexität von ›Das Amulett‹ vgl. auch die Ausführungen in der ›Einleitung‹ der vorliegenden Arbeit. Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen , S. .
Motti ausweisen. Die für selbstreflexives Erzählen maßgeblichen Kategorien ›Spiegelung‹ und ›Betrachtung‹ (nach Scheffel) lassen sich nur für wenige der hier vorgestellten Novellen nutzbar machen. Der Terminus ›selbstreflexives Erzählen‹ ist also für die zuvor aufgezeigten Phänomene nicht hinreichend. Die bereits erwähnten ›Peritexte‹, also werkimmanente, dem ›eigentlichen Text‹ jedoch vorgelagerte ›Kommentartexte‹ (Paratexte), finden sich in Meyers ›Das Amulett‹ und Fontanes ›Grete Minde‹ (Herausgeberfiktionen), Saars ›Marianne‹ (Herausgeberfiktion, Briefnovelle) und Droste-Hülshoffs ›Die Judenbuche‹ (Gedicht). Peritexte dieser Art finden sich nicht selten in Novellen des Realismus, doch sind sie für die Prosagattung keineswegs konstitutiv. Noch häufiger als durch Motti und Vorbemerkungen zeichnen sich die Novellen des Realismus durch ihre Untergliederung in Rahmen- und Binnenerzählung aus; Gérard Genette benennt die ›fiktionstheoretische‹ Konsequenz solcher ›Narrationen zweiten Grades‹: Am relevantesten ist hier sicher die Unterscheidung des Niveaus, denn die Bemühung um Wahrscheinlichkeit oder Einfachheit verbietet der faktualen Erzählung im allgemeinen einen allzu massiven Gebrauch der Narration zweiten Grades: ein Historiker oder Memoirenverfasser, der es einer seiner ›Personen‹ überließe, einen wichtigen Teil der Erzählung vorzutragen, ist schwer vorstellbar, und seit Thukydides weiß man, welches Problem die einfache Wiedergabe einer etwas längeren Rede für den Historiker darstellt. Die Präsenz der metadiegetischen Erzählung ist also ein ziemlich plausibles Fiktionalitätsindiz – auch wenn ihre Absenz nichts heißen will.
Die Struktur solcher Erzählungen muss keineswegs die strenge Form Anfangsrahmen–Binnenerzählung–Schlußrahmen einhalten (›voller Rahmen‹). Vielmehr können sich Rahmen- und Binnenerzählung beliebig verschachteln (›Schachtelrahmenerzählung‹) beziehungsweise Anfangs- oder Schlußrah
Vgl. Anm. . Zur Literatur vgl. Anm. . Auch der Erstdruck von Eduard Mörikes ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ ergänzt durch seine Motti diese Reihe; vgl. Anm. . Gérard Genette, Fiktion und Diktion, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München , S. . Zitiert auch bei: William Nelles, Frameworks. Narrative Levels and Embedded Narrative, New York u. a. , S. . Zu den Begriffen und den folgenden Ausführungen vgl. Jäggi, Rahmenerzählung, insbesondere S. –. – Vgl. auch Hans Bracher, Rahmenerzählung und Verwandtes bei G. Keller, C. F. Meyer und Th. Storm. Ein Beitrag zur Technik der Novelle, Leipzig ; Nelles, Frameworks; Peter Stocker, Rahmenerzählung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. : P–Z, hg. von Jan-Dirk Müller u. a., Berlin, New York , S. –. Definition nach Jäggi, Rahmenerzählung, S. : »Die Zweischichtigkeit der einfachen Rahmenerzählung wird bei Rahmenerzählungen mit doppeltem Rahmen, auch Schachtelrahmenerzählungen genannt, zu einer Dreischichtigkeit ausgebaut, in der die zweite Textebene eine weitere mündliche Erzählsituation konstituiert und damit
men wegfallen (›partieller Rahmen‹). Nicht immer ist eine Rahmenhandlung so ausführlich ausgestaltet wie in Gotthelfs ›Schwarzer Spinne‹. Die oben angeführten Peritexte etwa haben gleichfalls rahmende Funktion, jedoch eröffnen sie keineswegs eine ›Rahmenhandlung‹ oder ›Rahmenerzählung‹, sondern nur eine ›Rahmensituation‹. Die Konzentration auf Rahmenerzählungen führt zur Frage nach der Grenzmarkierung zwischen Erzählen und Erzähltem, der ›Metalepse‹. Der Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen läßt die ›Gemachtheit‹ des Erzählten besonders deutlich hervortreten – in Grillparzers ›Der Arme Spielmann‹ etwa wird der Beginn der Binnenerzählung des Alten regelrecht zelebriert. ›Metalepse‹ nach Genette bezeichnet allerdings auch Erzählerkommentare, die die Grenzen der erzählten Welt überschreiten. In der ›Judenbuche‹ von Droste-Hülshoff heißt es zur Mordwaffe: »Die Axt lag zwanzig Jahre nachher als unnützes Corpus delicti im Gerichtsarchiv, wo sie wohl noch jezt ruhen mag mit ihren Rostflecken« (S. ). Da mit ›Metalepse‹ jedoch weniger eine Fiktionsanzeige als vielmehr der erzähltheoretische Akt des ›Umtausches‹ (gr. metálepsis) der Ebenen gemeint ist, kann auch dieser Begriff die hier vorgestellten Novellen des Realismus nicht zutreffend charakterisieren. Das Konzept der ›Metanarration‹ könnte sich für die Novellen des Realismus insofern als brauchbar erweisen, als es verdeutlicht, daß metanarrative Äußerungen keineswegs die ästhetische Illusion stören müssen, sondern im Gegenteil mit ihrer Akzentuierung des Akts des Erzählens eine eigenständige Art von Illusionsbildung begünstigen und eine entsprechend andere ›Naturalisierungsstrategie‹ nahelegen können.
Damit eröffnet die Narratologie die Möglichkeit, die nicht selten behaupteten ›Beglaubigungsstrategien‹ des Realismus erzähltheoretisch zu fundieren. ›Meta-
zum Rahmen einer Binnenerzählung zweiten Grades wird. Theoretisch ist der Ausbau der Mehrschichtigkeit nicht begrenzt, wodurch Binnenerzählungen x. Grades möglich werden.« Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt, München , S. –; Beate Müller, Metalepse. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, ., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar , S. . Hervorhebung LK. Ansgar Nünning, Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration. In: Erzählen und Erzähltheorie im . Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, hg. von Jörg Helbig, Heidelberg , S. –. – Dazu die Replik von Monika Fludernik, Metanarrative and Metafictional Commentary. From Metadiscursivity to Metanarration and Metafiction. In: Poetica, , , S. –. Nünning, Mimesis des Erzählens, S. . Bestätigung erfährt Nünning durch Monika Fludernik. Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt , S. .
narration‹ meint dabei die beliebige Thematisierung des Erzählakts oder -prozesses sowie alle vermittlungsbezogenen (etwa Kommunikation zwischen Erzähler und fiktivem Leser) Funktionen von Erzählinstanzen. Ein Vorteil von Nünnings Konzept ist, daß es sehr unterschiedliche Formen von ›Metanarration‹ gelten läßt und nicht normativ definieren, sondern historisch differenzieren möchte. Weniger erzähltheoretisch als vielmehr fiktionstheoretisch ausgerichtet ist das Konzept der ›Metafiktionalität‹. Metafiktional sind selbstreflexive Aussagen und Elemente einer Erzählung, die nicht auf Inhaltliches als scheinbare Wirklichkeit zielen, sondern den Rezipienten Textualität und ›Fiktionalität‹ – im Sinne von ›Künstlichkeit, Gemachtheit‹ oder ›Erfundenheit‹ – und damit zusammenhängende Phänomene zu Bewußtsein bringen.
Mit dieser Definition ist eine narrative Strategie beschrieben, die mit den hier dargelegten Tendenzen der Novelle des Realismus annährend deckungsgleich ist. Selbstreflexivität ist dabei ein entscheidendes Moment, beschreibt das Phänomen aber nur sehr unzureichend: vielmehr ist es die dem Rezipienten zu Bewußtsein gebrachte Künstlichkeit, die in den Novellen auf strategisch vielfältige Weise vermittelt wird. The German Metafiktionalität designates the effect of uncovering the artefactuality of a piece of fiction (or an aspect of it), whereas Metafiktion – in analogy with Metanarration – has to be ›a discourse or text about fiction [Fiktion]‹ just as Metanarration is ›a discourse about narration‹.
Die Narratologie verbindet Metafiktionalität (wie Metanarration) allerdings nicht zwangsläufig mit einer darstellungsstörenden Wirkung. Da überdies die Gemeinsamkeit der hier vorgestellten Novellen des Realismus nicht vorder-
Nünning, Mimesis des Erzählens, S. . Nünning subsumiert nicht alle Formen selbstreflexiven Erzählens unter ›Metanarration‹; mise en abyme und ›Spiegelung‹ etwa spricht er diesen Status ab (S. ). – Vgl. auch die Charakterisierung des Begriffs durch Fludernik, Metanarrative and Metafictional Commentary, S. f. »Vielmehr ist davon auszugehen, daß die verschiedenen Erscheinungsformen von Metanarration sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen können und daß sowohl die Formen als auch die Funktionen historischem Wandel unterliegen.« Nünning, Mimesis des Erzählens, S. . Werner Wolf, Metafiktion. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, ., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar , S. –. Auf weitere narratologische Differenzierungen soll hier verzichtet werden. Zu einer Typologie der Metafiktion und generell: Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen . Literaturhinweise zur Metafiktion sind Wolf, Metafiktion, zu entnehmen. Fludernik, Metanarrative and Metafictional Commentary, S. .
gründig in der Thematisierung des Erzählens liegt, sondern zunächst in der Herausstellung des Erzählten als ›fictio‹, wird im folgenden auf eine narratologische Terminologie weitgehend verzichtet. Vielmehr gilt es, andere theoretische Konzepte für das Verhältnis von Realismus und Poesie nutzbar zu machen.
. Realismus
›Realismus‹ als ästhetischer Begriff bezeichnet im . Jahrhundert das Konzept einer poetisch überformten Wirklichkeits- beziehungsweise Naturnachahmung. Otto Ludwig bemerkt für die Literatur seiner Zeit: »Die Poesie gründet sich auf Nachahmung. Aber sie ahmt nur das Wesentliche nach, sie wirft das Zufällige weg.« Die Beschränkung auf das ›Wesentliche‹ in der Darstellung des ›Wahrscheinlichen‹ kennzeichnet zwei grundlegende Prinzipien des Realismus, doch ist damit noch nichts über das Verhältnis von Wirklichkeit und Literarizität gesagt. Es gilt abzuwägen, wie der Realismus als eine Bewegung verstanden werden kann, »die zwar von Realismus redet, darunter jedoch keine Mimesis, also Nachahmung von Wirklichkeit, sondern Poïesis, das künstlerische Schaffen von Wirklichkeit also, meint«. Die folgenden Ausführungen sind um eine eindringlichere Differenzierung zwischen »Nachahmung von Wirklichkeit« und »künstlerischem Schaffen von Wirklichkeit« bemüht. Kapitel . gibt Auskunft über die Programmatik des Realismus und damit über den zeitgenössischen Stellenwert von ›Realität‹, ›Poesie‹ und ›Prosa‹. Anhand der einschlägigen Sammlungen soll eine poin
Otto Ludwig, Nachahmung. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. : Studien II, hg. von Adolf Stern, Leipzig , S. –; hier S. . Bernd W. Seiler, Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Vom Sinn des RealismusBegriffs und der Geschichte seiner Verundeutlichung. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Würzburg , hg. von Christian Wagenknecht, Stuttgart , S. –. Aus naheliegenden Gründen wird der Epochenbezeichnung ›Realismus‹ der Vorzug gegenüber ›Poetischer Realismus‹ und ›Bürgerlicher Realismus‹ gegeben. Zur Kritik an der Epochenbezeichnung ›Bürgerlicher Realismus‹ vgl. etwa Dieter Lohmeier, Erzählprobleme des Poetischen Realismus. Am Beispiel von Storms Novelle »Auf dem Staatshof«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; insbesondere S. f. – Die Abgrenzung der Epoche wird in der vorliegenden Arbeit großzügig gehandhabt; vgl. die Erläuterungen im Einleitungskapitel. Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter –, Tübingen, Basel , S. ; Beckers Monographie folgt allerdings anderen Prämissen als die vorliegende Arbeit. Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur –, mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie hg. von Max Bucher u. a., Bd. : Manifeste und Dokumente, Stuttgart ; Ro-
tierte Übersicht über die zeitgenössische Literaturtheorie und die Bemühungen um eine ›Nobilitierung‹ der Prosa vermittelt werden. Eine Annäherung an das grundsätzliche Verhältnis von ›Realität‹ und ›Fiktion‹ erfolgt in Kapitel .. Zentrale Fragestellungen der vorliegen Arbeit können insbesondere mit den Theorien zu ›Illusion‹, ›Darstellung‹ und (aristotelischer) ›Mimesis‹ erläutert werden. Diese drei Konzepte werden in ihren Hauptmerkmalen umrissen. Auf der Basis einer kurzen Skizze der Forschungsliteratur zum Realismus wird in Kapitel . das Konzept einer zeitgenössisch ›poietischen‹ Novellistik erläutert. Damit werden die bisherigen literaturwissenschaftlichen Konzepte mit ›poetischer‹ Ausrichtung nicht verworfen, sondern erweitert. Inwiefern das am stärksten ›Realität‹ suggerierende Moment der ›literarischen Beglaubigung‹ gerade kein mimetisches, sondern ein ›poietisches‹ Prinzip ist, soll anhand von Annette von Droste Hülshoffs Novelle ›Die Judenbuche‹ () in Kapitel . demonstriert werden. Eine vorläufige Zusammenfassung (Kapitel .) beschließt die Ausführungen zum Realismus.
manpoetik in Deutschland: von Hegel bis Fontane, hg. von Hartmut Steinecke, Tübingen ; Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart []. – Die in Kapitel . angeführten Texte sind im wesentlichen diesen Bänden entnommen; in wenigen Fällen wurde für Zitate jedoch auf die Werkausgabe des jeweiligen Autors zurückgegriffen. Hartmut Steinecke, Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus, Bd. , Stuttgart , S. : »Deutlich ist die Absicht zu erkennen, dem Roman […] mehr ästhetische Anerkennung als ›Kunstwerk‹ zu verschaffen und in der Form ein (idealistisches) Gegengewicht gegen den (realistischen) Inhalt zu schaffen.« Eine Einführung bietet Claus-Michael Ort, Was ist Realismus? Mimesis und Poesis: Realismus zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, hg. von Christian Begemann, Darmstadt , S. –. – Zur inhaltlichen Bestimmung des Realismus vgl. die Arbeiten von Wolfgang Lukas, Michael Titzmann und Marianne Wünsch, etwa in den Sammelbänden: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. von Michael Titzmann, Tübingen ; Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, hg. von Michael Titzmann, Tübingen ; Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum . Geburtstag, hg. von Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann, Würzburg ; Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, hg. von Hans Krah und ClausMichel Ort, Kiel ; Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Michael Titzmann zum . Geburtstag, hg. von Gustav Frank und Wolfgang Lukas, Passau ; Marianne Wünsch, Realismus (–). Zugänge zu einer literarischen Epoche, mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker u. a., Kiel .
. Programmatik des Realismus Der programmatische Ansatz des Realismus, von der Kunst eine »Übereinstimmung mit der sogenannten Wirklichkeit« (Julian Schmidt, ) zu verlangen, scheint auf den ersten Blick eine banale Kunstlosigkeit zu provozieren. Darüber hinaus muß er jedoch als schlechterdings unerfüllbar gelten, weil jegliche Art der Fiktions-Produktion eine rein prosaische Abschilderung des wirklichen Lebens verhindert – zumal es zu bedenken gilt: »Wäre übrigens eine absolute Kopie der Natur auch möglich, so ist nicht abzusehen, zu welchem Zweck man sich die Mühe geben soll, zu machen, daß die Dinge doppelt da sind, eigentlich und im Nachdruck« (Friedrich Theodor Vischer, ). Der Realismus möchte nichtsdestotrotz den bis dahin allzu prosaisch erscheinenden Stoff der Wirklichkeit kunsttauglich machen. Künstlerisch wertvoll kann dann auch das zuvor allzu Profane werden; Julian Schmidt () bemerkt etwa zu den Bauern aus Berthold Auerbachs ›Dorfgeschichten‹, sie seien »Gestalten, die, weil sie wirklich existierten, auch poetisch zu existieren berechtigt waren.« Die Kunst soll sich demnach dem realen Leben zuwenden, während andererseits durch Darstellung des realen Lebens in der Kunst jenes nobilitiert werden kann. Insbesondere den romantischen Höhenflügen wird damit der Kampf angesagt: Abgesehen von vielen anderen Paradoxien der Romantiker, die kamen und gingen wie die Luft, z. B. Gespenster sind die Hauptsache, die beste Regierungsform ist der Despotismus, die katholische Kirche ist sehr tiefsinnig, die Rosen singen die gescheiteste Philosophie u. s. w., gab es ein Stichwort, auf das sie immer zurückkamen: das wirkliche Leben mit seinem ganzen Inhalt, mit seinem Glauben, Hoffen und Lieben ist ekel, schal und unersprießlich. Wo sie das Ideal suchten, ob in Indien, oder im Mittelalter, oder in der spanischen Inquisitionszeit, oder wo sonst, war daneben gleichgiltig. (Julian Schmidt, )
Julian Schmidt, [Das Prinzip des Realismus], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauch für Vorlesungen, Bd. : Die Kunstlehre, hg. von Robert Vischer, München , S. f. (Erster Abschnitt: Die Kunst überhaupt und ihre Teilung in Künste. A: Die Kunst überhaupt. b) Die Vorarbeit zur Ausführung. b. Der Rückblick auf das Naturschöne. / Schließliche Lösung der Frage von der Naturnachahmung.) – Vgl. auch Ulf Eisele, Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach am Beispiel des ›Deutschen Museums‹, Stuttgart , S. f. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Theodor Vischer, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche vgl. Gerhard Plumpe, Das Reale und die Kunst. Ästhetische Theorie im . Jahrhundert. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit –, hg. von Edward McInnes und Gerhard Plumpe, München, Wien , S. –. Julian Schmidt, [Die Verwirrung der Romantik und die Dorfgeschichte Auerbachs], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Ebd., S. .
Ex negativo läßt sich für die realistische Kunst zunächst ableiten, daß sie nicht paradox sein darf. Widersinnigkeit, etwa im ›Singen der Rosen‹ tiefsinnig vermittelt, ist anti-realistisch, und ›Gespenster als Hauptsache‹ sind, nach Schmidt, nur eine von vielen Erscheinungsformen des Paradoxen. Die romantische Vorliebe für das Abwegige und die Wahrnehmung des »wirklichen Lebens« als »ekel, schal und unersprießlich«, verleite die Kunst in die Ferne oder gar in die Utopie. Das Ideal, das von Schmidt nicht eo ipso verurteilt wird, hat der Romantiker demnach »in Indien, oder im Mittelalter, oder in der spanischen Inquisitionszeit, oder wo sonst« gesucht – jedoch nicht in der Wirklichkeit. In Abgrenzung zum Exotischen und Vorzeitigen wird die eigene Gegenwart in der realistischen Programmatik entschieden aufgewertet. Der historische Roman nämlich »darf die Historie rückwärts durchmessen, so weit sie reicht. Aber er wird es nur in ganz besonderen Fällen dürfen – die Mehrzahl der geschichtlichen Romane ist einfach ein Greuel« (Theodor Fontane, ). Somit verliert etwa das stilistisch vielgelobte Prosawerk Walter Scotts an Ansehen:
Vgl. auch Johann Wolfgang Goethes vielzitierte Aussage aus dem Gespräch mit Johann Peter Eckermann, . April : »Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen, sagte Goethe, der das Verhältnis [klassisch vs. romantisch] nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke«. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, München, Wien , S. . Vgl. Thomas Anz, Das Poetische und das Pathologische. Umwertungskriterien im programmatischen Realismus. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, hg. von Michael Titzmann, Tübingen , S. –. – Die Programmatiker des Poetischen Realismus haben sich nicht selten explizit auf die Ära der Weimarer Klassik berufen; vgl. etwa die Äußerung Rudolf Gottschalls (): »Gegenüber der realistischen und akademischen Richtung, deren Vorkämpfer Julian Schmidt ist, halten wir an der idealistischen Poesie fest, in deren Fortentwicklung wir die Fortentwicklung unserer klassischen Literatur zu einer neuklassischen Epoche begrüßen.« Rudolf Gottschall, [Gegen Julian Schmidt], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. ; Helmut Widhammer. Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland. –, Tübingen . Vgl. auch den Abschnitt ›Die Abrechnung mit der literarischen Tradition‹ in Max Buchers Kapitel ›Voraussetzungen der realistischen Literaturkritik‹, in: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur –, mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie hg. von Max Bucher u. a., Bd. : Einführung in den Problemkreis, Abbildungen, Kurzbiographien, annotierte Quellenbibliographie und Register, Stuttgart , S. –; hier S. –. Theodor Fontane, Gustav Freytag. Die Ahnen. In: ders., Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. : Aufsätze und Aufzeichnungen, hg. von Jürgen Kolbe, München , S. –; hier S. . – Wenngleich sich Fontans Äußerungen auf den Roman beziehen, so können sie programmatisch für Erzählprosa generell gelten. In diesem Sinne werden im folgenden noch andere Äußerungen zur Romanpoetik herangezogen.
Sehr charakteristisch ist es, daß selbst Walter Scott nicht mit ›Ivanhoe‹ (), sondern mit ›Waverley‹ () begann, dem er eigens noch den zweiten Titel ›Vor sechzig Jahren‹ hinzufügte. Warum griff er nicht gleich anfangs weiter in die Geschichte seines Landes zurück? Weil er die sehr richtige Empfindung hatte, daß zwei Menschenalter etwa die Grenze seien, über welche hinauszugehen, als Regel wenigstens, nicht empfohlen werden könne. Seine besten Erzählungen liegen innerhalb des . Jahrhunderts oder am Eingang desselben. Der Erfolg ließ ihn später die Grenzpfähle weiter rückwärts stecken, aber nur wenige Male, wie in ›Kenilworth‹ und ›Quentin Durward‹, erreichte er die frühere Höhe. (Theodor Fontane, )
Die Empfehlung Theodor Fontanes, historische Sujets nicht weiter zurückreichen zu lassen als zwei Generationen, impliziert das Ideal des Authentischen: des zwar nicht Miterlebten, aber zumindest durch Vermittlung glaubwürdiger ›Zeugen‹ Erfahrenen. Damit ist der historische Roman nicht weit entfernt von dem ›modernen Roman‹ (Fontane), der »ein Bild der Zeit sein [soll], der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten« (Theodor Fontane, ). Dieser ›moderne Roman‹ ist der allerorten eingeforderte ›Zeitroman‹: In diesem Begriff bedeutet ›Zeit‹ zunächst einmal die eigene Gegenwart, ihre gesellschaftlichen und politischen Zustände, die Ideen und Probleme, die sie bewegen und prägen. Die so verstandene Zeit soll im Roman ›getreu‹ dargestellt werden.
Eine übermäßig ›getreue‹ Darstellung wird jedoch nicht angestrebt. Vielmehr wurde ein ›nackter Realismus‹ auch aufgrund der Erfahrungen mit der neueren französischen Literatur nicht goutiert. So gilt der Vorwurf an Gustave Flaubert, er gefalle sich »in den Schilderungen des Furchtbaren, des Widerwärtigen, ja des Ekelhaften am meisten«, und seine Muse wohne »nicht auf dem Helikon, sondern in der Klinik.« (anonym, ) Nicht nur die Darstellung des Häßlichen und Unsittlichen sorgt für Empörung, sondern auch die ›Gleichgültigkeit‹ gegenüber dem Schönen und Tugendhaften: Flaubert will die Dinge an sich darstellen. Unmöglich! Er ist Mensch, und als Mensch denkt er, als Mensch muß er gut gut, und böse böse nennen; andernfalls ist er außerhalb der menschlichen Wahrheit, und außerhalb der menschlichen Wahrheit zu sein ist keinem Menschen gegeben. Nur Gott schwebt über den Gewässern. (Emil Hornberger, )
Ebd., S. . Ebd. Hartmut Steinecke, Die Entwicklung der deutschen Romanpoetik von Hegel bis Fontane. In: ders., Romanpoetik, S. –; hier S. . Beide Zitate Anonymus, [Der Realismus Gustave Flauberts], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Emil Hornberger, [Gustave Flaubert], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. .
Flauberts Hybris läge demnach in seiner nur scheinbaren Objektivität: Angeblich verkennt er das menschliche Wesen, indem er gut und böse unbewertet nebeneinanderstellt, was jeder sittliche Mensch als ›Unwahrheit‹ empfinde, die an Blasphemie grenze. Der Mensch gilt als subjektives und sittliches Wesen, und wo Flaubert dies verleugnet, »ergreift er Partei für die Sinnlichkeit gegen den Geist, für den Zufall gegen das Gesetz, für das Verhängnis gegen die Freiheit.« Die Tendenz der deutschen Literaturkritik, das Unsittliche möglichst mit theoretischem Fundament abzustrafen, trifft auch Émile Zola, dessen Welt (»die Schnapskneipe und das Bordell«) eine einseitige Wirklichkeit wiedergebe: »und damit wird er unwahr; er vergißt daß es neben dem Gestank der Kloaken auch Rosengärten und grüne Wälder […] gibt.« (Moriz Carrierre, ) ›Idealismus‹ wird demnach zu einer der wesentlichen Forderungen der realistischen Literaturprogrammatik. Das angestrebte Ideal darf dabei nicht in unerreichbarer Ferne liegen, sondern muß seine Möglichkeit im Irdischen besitzen, und hier bleibt Sophokles’ Spruch ewig wahr: der Dichter soll die Menschen darstellen, nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollen. Das heißt nicht etwa, er soll sie zu Engeln machen, denn die Menschen sollen keine Engel sein, sondern er soll der Natur ablauschen, was sie aus ihnen machen wollte, was aber vollständig zu erreichen, ihr durch zufällige, nicht zur Sache gehörende Umstände, versagt blieb. (Julian Schmidt, )
Das Ideal ist also der Natur ›ablauschbar‹, läge auch im Wesen des Menschen, wenn ihm nicht »durch zufällige, nicht zur Sache gehörende Umstände« versagt geblieben wäre, es »vollständig« zu erreichen. Die Differenzierung und Abgleichung zwischen Wirklichkeit und ideeller Wahrheit ist bezeichnend für den deutschen Realismus. ›Wahrheit‹ wird in der zeitgenössischen Programmatik der ›Wirklichkeit‹ insofern vorgezogen, als nur jene den poetischen Maßstäben entspreche, während die Wirklichkeit zwar die Grundlage der poetischen Darstellung bilden soll, nicht aber deren eigentliches
Vgl. den Beginn einer Rede Moriz Carrieres (): »Es gibt eine sittliche Weltordnung! Diese Überzeugung der Vernunft auch zu erfahren im thatsächlichen Erlebniß ist etwas Großes und Erhebendes für den Einzelnen, ist das Herrlichste im Geschicke eines Volkes. Es ist der Gott in der Geschichte, dessen Walten wir gespürt haben im Gewissen und Gemüth unserer ganzen Nation, […].« Moriz Carriere, Die sittliche Weltordnung in den Zeichen und Aufgaben unserer Zeit, zitiert nach: Bucher, Realismus und Gründerzeit, S. –; hier S. . Emil Homberger, [Gustave Flaubert], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Beide Zitate Moriz Carriere, [Der französische Roman], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Julian Schmidt, [Der moderne Realismus], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. .
Wesen ausmache. Poesie muß also einen Mehrwert aufweisen, den die Wirklichkeit nicht bieten kann. Dieser Mehrwert findet sich in der Idealisierung. Wahrheit bedeutet demgemäß die ›Verklärung‹ der Wirklichkeit, die Rettung des Poetischen durch das Schöne: Der wahren Kunst ist der Idealismus ebenso unentbehrlich als der Realismus: denn was ist alle Kunst selbst anders, als die ideale Verklärung des Realen, die Aufnahme und Wiedergeburt der Wirklichkeit in dem ewig unvergänglichen Reiche des Schönen? (Robert Prutz, )
Die Opposition zur romantischen Kunstauffassung besteht im programmatischen Einbezug des Realen, in der Vermeidung des rein Ideellen, des bloß Utopischen, der ›Gespenster‹. Der ›Realidealismus‹ veredelt die Wirklichkeit, er bringt die moralische Sittlichkeit des Menschen und die Schönheit der Welt zum Ausdruck. Damit erhalten die Kategorien des ›Wahrscheinlichen‹ und des ›Wesentlichen‹ Einzug in die Programmatik. Nicht ›wirklich‹ muß die Kunst sein, nicht ›wahr‹ im Sinne eines tatsächlichen Ereignisses, sondern ›wahrscheinlich‹. Im aristotelischen Sinne ergibt sich für den Dichter also die Aufgabe mitzuteilen, »was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.« Die Darstellung muß befreit sein von Kontingentem und sich ganz auf das idealisierte ›Wesentliche‹ konzentrieren. Insbesondere die Novelle beschränkt sich (im Gegensatz zum häufig noch mit dem Epos konkurrierenden Roman) auf einen einzigen Ausschnitt und erleichtert somit die Hervorhebung des Exemplarischen, »Schönheitsvol
Robert Prutz, [Realismus und Idealismus], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . – ›Verklärung‹ meint also nicht eine bloße Verhüllung der Wirklichkeit; vgl. auch Arnold Ruges Diktum, es komme darauf an, wie »die gemeine Wirklichkeit so zu verklären sei, daß sie uns die Idee nur um so anschaulicher zeige«. Zitiert nach Eisele, Realismus und Ideologie, S. . Seiler, Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Zum Umgang der Literatur mit ›Wirklichkeit‹ vgl. Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem . Jahrhundert, Stuttgart . Aristotels, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart , Kapitel , S. ; vgl. Anm. . Vgl. etwa Friedrich Spielhagen, Die epische Poesie und Goethe (). In: ders., Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig , S. –, insbesondere S. –. Vgl. bspw. Theodor Mundt, Die Kunst der deutschen Prosa. Ästhetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich, Faksimiledruck nach der . Auflage von , mit einem Nachwort von Hans Düvel, Göttingen , S. : »Dem Roman mit seiner Ausdehnung in die Breite und Ferne des Lebens steht die Novelle mikrokosmisch gegenüber.« – Mundts »›Propagandaschrift‹ für die Prosaliteratur« widmet sich Petra Hartmann, »Von Zukunft trunken und keiner Gegenwart voll«. Theodor Mundts literarische Entwicklung vom Buch der Bewegung zum historischen Roman, Bielefeld , S. –; Zitat S. .
len«. Auch Emil Hornberger verbindet die beiden real-idealistischen Prinzipien, wenn er in seiner Kritik an Flaubert anmerkt: Er will uns volle Wirklichkeit geben, Gestalten die uns um ihrer Tätigkeit, Kraft und Freiheit willen so sehr viel interessanter dünken. Er will uns volle Wirklichkeit geben, und wir fühlen daß er uns nur die halbe Wahrheit gibt, daß seine Welt nur eine Welt niedern Grades ist, und daß ihn die Schwäche seiner Augen hindert eine höhere Welt wahrzunehmen. So wird der des Ideals bare Realismus subjektiv beschränkt, und dadurch unwahr, gerade wie der die Wirklichkeit verachtende Idealismus. Dieser verzerrt die Natur, und jener zerstückt sie. (Hornberger, )
Der ›poetische Realismus‹ verlangt also die ›Verklärung‹ und keinesfalls »das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens«. Die deutschen Autoren sind nicht bereit, der französischen Literatur in deren naturalistischem Realismus zu folgen; vielmehr orientierten sie sich – unter Verachtung der zu wenig bodenständigen Romantik – an der Literatur der Weimarer Klassik. Die Modernität, die sie dennoch für sich in Anspruch nehmen, resultiert aus der dezidierten Hinwendung zur ›Wirklichkeit‹. Man will das ›wahre Leben‹ darstellen, vornehmlich die eigene Zeit, und beruft sich auf einen idealisierten Wahrheitsanspruch. Diese ›Wahrheit‹ bezieht sich nämlich kaum auf tatsächliche Authentizität, sondern meint eine ›höhere Erkenntnis‹, die zwar im Irdischen angelegt ist, sich aber im Alltag verloren hat. Mit anderen Worten: Im Prinzip sind es immer dieselben beiden Forderungen, die in der Programmatik des Realismus zusammenkommen. Die eine lautet auf Wirklichkeitsnähe, Lebensechtheit, Erfahrungstreue, Widerspiegelung der Alltagswelt usw., […]: sie besteht auf der Wiedergabe der wirklichen Erscheinungen oder doch jedenfalls darauf, daß die Darstellung diesen Erscheinungen nicht widerspricht. Die andere lautet auf Beispielhaftigkeit, Abrundung, Steigerung, Verdichtung, d. h. sie verlangt eine Art poetischen Mehrwert, der das gewöhnliche Bild der Erscheinungen gerade übersteigt und uns ihren höheren Sinn, ihr eigentliches Wesen enthüllt.
Theodor Fontane an Emilie Fontane. Brief vom . Juni . In: dies., Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel –, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin , S. f.; hier S. : »Der ächte Realismus wird auch immer schönheitsvoll sein, denn das Schöne, Gott sein Dank, gehört dem Leben gerade so gut an wie das Häßliche. Vielleicht ist es noch nicht einmal erwiesen, daß das Häßliche präponderirt.« Emil Homberger, [Gustave Flaubert], zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Zum wenig ergiebigen Verweis auf die erste Nennung des Begriffs bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling () und die sinnvolleren Rückführungen auf Per Daniel Atterbom (), Carl August Hagberg () oder auf Otto Ludwig () vgl. Hugo Aust, Literatur des Realismus, ., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart, Weimar , S. –. Theodor Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie. In: ders., Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. : Aufsätze und Aufzeichnungen, hg. von Jürgen Kolbe, München , S. –; hier S. . Seiler, Das Wahrscheinliche und das Wesentliche, S. . Vgl. auch Ort, Was ist Realis-
Die literarische Umsetzung der realistischen Programmatik ist auf die Prosaformen zwingend angewiesen. Der künstliche, a priori poetische Vers ist der Alltagssprache fremd; was versifiziert ist, zeichnet sich bereits durch seine Form als Kunst und damit als höchstens sekundär realistisch aus. Auf den ersten Blick ist Prosa bar jeder künstlichen Form und stellt insbesondere, so der Realismus, den vermittelten Inhalt in den Vordergrund: »und des Inhalts bedarf der prosaische Stil immer, um schön und vollendet zu sein, während in Versen bei weitem leichter auch ein inhaltsloser Gegenstand Interesse und Reiz erhält«. Prosasprache ist Alltagssprache und drängt sich somit zur wirklichkeitsgetreuen Schilderung der Zeitumstände auf; Gustav Freytag behauptet gar: »wir müssen wahr werden, bevor wir schön sein können, zur Wahrheit aber kommen wir nur durch die Prosa.« Hier hat also das realistische Fundament Vorrang vor ästhetisch-idealistischer Schönheit. Die »abgeklungenen metrischen Formen der Poesie« gelten als nicht mehr zeitgemäß, Prosa ist Wahrheit und diese wie jene sind nun gefordert: Sobald wir in unserer bisherigen Darstellung die deutsche Sprache und Literatur auf diesem Punct haben anlangen sehen, begegneten wir auch einer vorzugsweise dazu ausgebildeten Kunstform der Prosa, welche dann vorwaltend auftritt, und in der Aufnahmefähigkeit der prosaischen Sprache für das wirkliche und gesellschaftliche Leben sich als poetische Gattung gestaltet.
mus?, S. : »Literatur, die außerliterarische Wirklichkeit zu beobachten beansprucht, ohne ihren Status als Kunstliteratur einzubüßen, ist gezwungen, die Wahrnehmung von ›Realität‹ (Mimesis) und die Produktion von ›Zeichen‹ (Poesis) zu unterscheiden und die Differenz von ›Realität‹ und ›Zeichen‹ selbst in ihre dargestellten Welten einzuführen – etwa durch erzählerische Rahmung oder ironische Distanzierung. Auf welche Weise dies jeweils geschieht, entscheidet zugleich auch über die je spezifischen Anteile, die einerseits der ›Nachahmung‹ (Mimesis) von Natur und Gesellschaft und andererseits der werkintern signalisierten künstlerischen ›Poiesis‹ sowohl bei der Gestaltung dargestellter Welten als auch bei der Auswahl und Kombination der Darstellungsverfahren zufallen – ein Verhältnis, das sich zumindest die deutschen Realisten, sofern sie poetologisch theoretisieren, als harmonischen Ausgleich zwischen Empirie und poetischer Phantasie, zwischen ›Finden‹ und ›Erfinden‹ wünschen (vgl. etwa Friedrich Spielhagens Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, ).« Mundt, Kunst der deutschen Prosa, S. . Gustav Freytag, Die Dichter des Details und Leopold Kompert. In: ders., Vermischte Aufsätze. Aus den Jahren bis , Bd. , hg. von Ernst Elster, Leipzig , S. –; hier S. . (Zuerst in den ›Grenzboten‹, .) Mundt, Kunst der deutschen Prosa, S. . Ebd., S. . Mundt bezieht sich hier zunächst auf den Roman. Unter Rückgriff auf Johann Wolfgang Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und ›Die Wahlverwandtschaften‹ heißt es bei Mundt, ›Kunst der deutschen Prosa‹, auch: »Der Roman ist diejenige Kunstform, in welcher die Einheit von Poesie und Prosa schon durch die Idee des Kunstwerkes selbst geboten wird, indem die realen und gegebenen Lebensverhältnisse sich darin mit den höheren und allgemeinen Anforderungen der Weltansicht durchdringen.« (S. f.)
Dieses Zitat aus Theodor Mundts ›Kunst der deutschen Prosa‹ () verdeutlicht jedoch nicht nur die Vorzüge der ›neuen‹, zumindest modernen Form, sondern transportiert auch die Vorbehalte gegenüber einer bis ins Ende des . Jahrhunderts vorhaltenden Abwertung des ›Prosaischen‹ gegenüber den »poetischen Gattungen«. Angesichts Christian Daniel Rauchs Statue Friedrichs des Großen kritisiert Theodor Fontane, dies sei »der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt« (). Julius Hermann von Kirchmann mahnt, daß »das Prosaische, das Störende« vom literarischen Bilde ferngehalten werden müsse () und Friedrich Spielhagen spricht pejorativ von der »bloß prosaischen Deskription« (). Der Realismus kann also auch in der Diskussion um die adäquate literarische Form nicht auf den Idealismus verzichten. Zwar wird die Prosa gegenüber der Verskunst bedeutend aufgewertet, doch ›prosaisch‹ darf jene eben nicht sein. Dieselben Ansprüche, die für den Realismus als Programm gelten, werden auch für die Prosa erhoben: Idealisierung, Verklärung und Hervorhebung des ›Wesentlichen‹ sind die Forderungen, denen sich Novelle und Roman als Mustergattungen stellen müssen. Um sich von der amusischen Wirklichkeit abzuheben, muß die Prosa einen poetischen Mehrwert gewinnen, der ihrer Form zunächst versagt bleibt. Dies vollzieht sich durch die Wahl des Stoffes, also die gewählte inhaltliche Darstellung (Verzicht auf allzu Naturalistisches und Unsittliches) oder aber durch stilistische Bemühungen. Hier wiederum hat der realistische Anspruch vor der idealistischen Poetisierung Vorrang, denn der Realismus ist der geschworene Feind aller Phrase und Überschwenglichkeit; keine glückliche, ihm selber angehörige Wahl des Stoffs kann ihn aussöhnen mit solchen Mängeln in der Form, die seiner Natur zuwider sind.
Diese Vorbehalte scheinen auch noch in der Studie Hubert Ohls () anzuklingen, wenn es dort eingangs heißt: »Eine Untersuchung von Raabes und Fontanes Romanen, die diese als Dichtungen ernst nehmen will, wird also in besonderem Maße auf jene Momente gerichtet sein müssen, die sie trotz ihres prosaischen Grundzuges zu Werken der Poesie machen, soll nicht gerade das verfehlt werden, was ihren Schöpfern am meisten am Herzen lag.« Hubert Ohl. Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg , S. . Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie, S. . Julius Hermann von Kirchmann, Der Begriff der Idealisierung, zitiert nach: Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. –; hier S. . Spielhagen, Die epische Poesie und Goethe, S. . Vgl. auch das Konzept der ›Situationsnovelle‹ nach Georg von Reinbeck, Alois Wierlacher. Reinbecks Novellentheorie. Zur Situationsnovelle des . Jahrhunderts. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts, , S. –. Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie, S. .
Ein nüchterner, auf das Wesentliche reduzierter Stil wird hier von Theodor Fontane () eingefordert. Abschweifung und Vermischung der Stilebenen wird nicht geduldet, ebensowenig der Hang zu überbordenden Verkleinerungsformen wie in der frührealistischen Biedermeierzeit. Entsprechend dem Handlungsort beziehungsweise der Situation erhält mit diesen Bemühungen auch der zweifelsfrei wirklichkeitsabbildende Dialekt Einzug in die Gattung. – Als Resultat kann, ganz im Sinne einer dichterischen aemulatio, die Prosa als der Verskunst überlegen erscheinen. So heißt es etwa bei Gustav Freytag () unter Rückgriff auf die antike Tradition: Und die Sprache? Die hohe Schönheit des rhythmischen Klanges bei Homer und den Nibelungen, ja auch noch bei Dante und Ariost, entgeht doch der Erzählung des modernen Dichters. Auch hier gilt der Vergleich, daß die Formen des Kindes eigenartige Schönheit haben, welche der Leib des Erwachsenen nicht besitzt. Dagegen hat dieser andere, welche im Ganzen bedeutender und mannigfaltiger sind. Jene alten Dichter schufen in Versen, weil es zu ihrer Zeit noch keine Prosa gab, die zu reichem Ausdruck seelischer Stimmungen und zu gehobener Schilderung befähigt war. Was uns als besondere Schönheit der Alten erscheint, ist im letzten Grunde der größte Man
Vgl. Mundt, Kunst der deutschen Prosa, S. : »Die rhetorische Schönheit unserer Prosa hat sich überlebt, kein höher begabter Schriftsteller wird mehr danach trachten, kein inhaltreicher Geist kann eine Freude daran haben, sich mit Franzen und Tressen zu behängen. Ohne Schönheit wird darum keine ächte und aus ursprünglichem Leben entquillende Schreibart bleiben, die Schönheit der Wahrheit wird sie mit einem reizenden Duft und Hauch umziehen.« Ähnlich S. f. – Zum Verzicht auf alles ›Rhetorische‹ in der Prosa des Poetischen Realismus vgl. auch Helmuth Widhammer, Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland. –, Tübingen , S. –; Helmut Widhammer, Die Literaturtheorie des deutschen Realismus (–), Stuttgart , S. . Dies macht beispielsweise die Ablehnung gegenüber dem Werk Jean Pauls verständlich. Widhammer, Literaturtheorie des Deutschen Realismus, S. . Friedrich Hebbel etwa nennt Adalbert Stifter »das überschätzte Diminutiv-Talent«. Friedrich Hebbel, Das Komma im Frack (). In: Vermischte Schriften IV (–). Kritische Arbeiten III, Berlin , S. –; hier S. . Man vgl. etwa die Bemühungen Theodor Storms um die Nachbildung des bairischen Dialekts für seine Novelle ›Pole Poppenspäler‹; zusammengestellt in Theodor Storm, Novellen –, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main , S. –. Ähnliche Sorgfalt ließ Storm für den schwäbischen Dialekt in ›»Es waren zwei Königskinder«‹ walten. Auf Grundlage seiner Studie über das von Robert Prutz herausgegebene ›Deutsche Museum‹ (–) gilt Eisele die Prosa nur als notwendiges Übergangsstadium für eine ›realistische Klassik‹, die sich dann wieder dem Drama, dem Epos und dem Vers zuzuwenden habe: »Die ›Formel Prosa = Wirklichkeit‹ verweist die ›eigentlich poetische‹, nämlich die ›gebundene Rede‹ – und mit ihr Epos und Drama – in die Zukunft und macht den Roman zur der historischen Gegenwart angemessenen Gattung. Ästhetisch gesehen unzulänglich – die Romanschreiber werden im Deutschen Museum unverkennbar pejorativ ›die Prolearier [sic] der Literatur‹ genannt – ist er nichtsdestoweniger eine Notwendigkeit, die unerläßliche profane Vorstufe auf dem Weg zum Sakralen.« Zitiert nach Eisele, Realismus und Ideologie, S. .
gel. Auch unsere erzählenden Dichter vermögen einmal ihre Erfindung mit rhythmischem, hohem Klang zu umkleiden, und eine Literatur, welche Hermann und Dorothea unter ihrer werthvollsten Habe besitzt, wird die Bedeutung des Verses nicht gering achten dürfen. Aber der moderne Dichter weiß auch, daß er gegen die vornehme Schönheit, welche der Vers für unsere Empfindung hat, vieles Andere, was nicht weniger schön, reizvoll, fesselnd ist, in Kauf geben muß: die behagliche Fülle der Schilderungen, den scharf charakterisierenden Ausdruck, das Meiste von seiner guten Laune und dem Humor, mit welchem er menschliches Dasein zu betrachten vermag, das geistreiche Scherzwort, die scharf bestimmte Ausprägung eines Gedankens, nicht zuletzt die Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit des sprachlichen Ausdrucks, welcher sich in Prosa bei jedem Charakter, bei jeder Schilderung anders und eigenartig äußern kann. Die ungebundene Rede ist in unserem wirklichen Leben ein wundervoll starkes und reiches Instrument geworden, durch welches die Seele Alles auszutönen vermag, was sie erhebt und bewegt. Deshalb dürfen wir auch ihre Herrschaft in der erzählenden Dichtung nicht für eine Minderung, sondern für eine Verstärkung des poetischen Schaffens halten.
Eine solche Nobilitierung der Prosa mußte sich im Laufe des . Jahrhunderts einer neuen Gefahr stellen: die vermeintlich einfache Prosaschriftstellerei verkam zur Jedermanns-Beschäftigung. Rezipiert wurde vornehmlich über Leihbibliotheken und die periodisch erscheinende Presse; beide erfüllten die belletristischen Wünsche des Lesepublikums. Auch die Autoren konnten durch Veröffentlichung in Zeitschriften und Journalen mehr profitieren, als dies mit reinen Buchpublikationen möglich war. Prosabeiträge jeglichen Anspruchs wurden zum einen gut bezahlt, zum anderen konnten insbesondere Erzählungen und Novellen wegen ihrer Kürze sicher abgesetzt werden. Das »Literatengewimmel« und die fortschreitende »Kommerzialisierung des Dilettantismus« beschädigten somit die anstrengend geförderte Reputation der Prosa. Es kann also nicht verwundern, daß »selbst ein Propagandist für realistische Prosa« wie Julian Schmidt vermerkt:
Gustav Freytag, Erinnerungen aus meinem Leben (). In: Romanpoetik in Deutschland: von Hegel bis Fontane, hg. von Hartmut Steinecke, Tübingen , S. –; hier S. . »Dort bezogen gegen % des literarischen Publikums über Jahrzehnte hinweg ihren Lesestoff, am Bestandteil dieser Institute läßt sich der Geschmack der lesenden Öffentlichkeit getreu ablesen.« Reinhard Wittmann, Das literarische Leben bis (mit einem Beitrag von Georg Jäger über die höhere Bildung). In: Bucher, Realismus und Gründerzeit, S. –; hier S. . Zur Einführung vgl. Manuela Günter, Die Medien des Realismus. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, hg. von Christian Begemann, Darmstadt , S. –. »Lyrik findet nur in seltenen Ausnahmefällen Aufnahme und wird dann gering honoriert, Dramen oder Versepik fallen völlig aus.« Ebd., S. . Beide Zitate ebd., S. f. Bucher, Voraussetzungen der realistischen Literaturkritik, S. (dort Anm. ).
Der Roman gehört, nach meiner Ansicht, wegen seiner laxen Form und der Willkür, die er verstattet, nicht zu denjenigen Gattungen der Kunst, die als classisch auf die Nachwelt übergehen werden.
Zwar unterlief die dilettantische Unterhaltungsliteratur die programmatischen Bemühungen um eine ›realidealistische‹ Prosa, doch war die Poetisierung und damit Nobilitierung der Gattung theoretisch vollzogen. Die so vehement eingeforderte moderne Prosa fand man dann auch in der eigenen Dichtung. Mit Gustav Freytags erschienenem Erfolgsroman ›Soll und Haben‹ wurde die ›neue‹ Form etabliert. Theodor Fontane vermerkt dazu in seiner Rezension aus demselben Jahr: »wir glauben nicht zuviel zu sagen, wenn wir diese bedeutsame literarische Erscheinung die erste Blüte des modernen Realismus nennen.«
. Ästhetische Illusion, Darstellung und Mimesis Gegenstand dieses literaturtheoretisch akzentuierten Kapitels ist die fiktionale Literatur, die im folgenden allgemein als ›Literatur‹ oder ›Dichtung‹ bezeichnet wird. Fiktion als Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten wird dabei konfrontiert mit dem Wirklichkeit suggerierenden ›So-tun-als-ob‹ im Rezeptionsakt. Inwiefern ›Illusion‹, ›Darstellung‹ und ›Mimesis‹ eine fingierte, referenzlose Realität der Literatur beschreiben, sollen die folgenden Ausführungen darlegen. Sie gehen von der Prämisse aus, daß Fiktionalaussagen von Wirklichkeitsaussagen abzugrenzen sind: Ihre Unterscheidung beruht nicht darauf, daß sie von unterschiedlichen Inhalten, Gegenständen, Objekten Aussagen machen, sondern besteht in der Art bzw. in der Hinsicht, auf die hin sie ausgesagt werden. Anders formuliert: Der Unterschied zwischen
Zitiert nach: Ebd. Wie komplex diese Umsetzung in die dichterische Praxis sein kann, und wie weit entfernt ein solches Programm von einer bloßen Synthese ist, zeigt Eisele mit einem Zitat Otto Ludwigs: »Der ›poetischen Abstraction‹ müsse, so meint er, die ›Verbesonderung des Allgemeinen‹ folgen. Der Dichter ›nimmt den einzelnen Fall, wie er in der gemeinen Wirklichkeit ist, und zieht das Allgemeine daraus ab, dieses verbesondert er wiederum und bringt so ein höheres Wirkliches hervor, das poetische Wirkliche […]. Das Wirkliche wird zum Ideal simplifiziert und wiederum zum poetisch Wirklichen individualisiert‹.« Eisele, Realismus und Ideologie, S. . Theodor Fontane, Gustav Freytag. Soll und Haben. Ein Roman in drei Bänden. In: ders., Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. : Aufsätze und Aufzeichnungen, hg. von Jürgen Kolbe, München , S. –; hier S. f. – Vgl. dagegen die unter dem Verdikt der Wirklichkeitsverfälschung argumentierende (und damit wenig repräsentative) Kritik des dem Vormärz nahestehenden Robert Prutz im ›Deutschen Museum‹: Eisele, Realismus und Ideologie, S. –. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin , S. .
Wirklichkeitsaussagen und Fiktionalaussagen wird durch ihren Redestatus, hingegen nicht durch den Seinsstatus ihrer Gegenstände gebildet. Noch anders formuliert: Wir haben es mit einer ontologischen, nicht mit einer ontischen Differenz zu tun. Sie besteht darin, daß Wirklichkeitsaussagen ihren Inhalt (Gegenstand) als Wirklichsein aussagen, Fiktionalaussagen hingegen nicht. Letztere sagen ihre Inhalte natürlich auch nicht auf Nicht-Wirklichsein hin aus, sondern: sie sagen aus – nichts weiter. Wirklichkeitsaussagen sagen: Das Ausgesagte ist wirklich und wirklich so, wie es gesagt wird. Fiktionalaussagen hingegen sagen: Das Ausgesagte ist. Mehr nicht.
Ein spezifisches Problem derjenigen Forschung, die sich mit dem Realismus beschäftigt, ist die unabdingbare, da in der Programmatik der Epoche festgelegte Hinwendung zur außerliterarischen Realität. Nach der Kritik an der deutschen Literatur des mittleren und späten . Jahrhunderts und der Unkenntnis um etwaige Theoriebildung galt es seit den er Jahren, den Realismus zu rehabilitieren. Für den Realismus deutscher Prägung konnte festgestellt werden, daß er sich durch ›poetische‹ Qualitäten wie subjektive Erzählhaltung oder eine starke Neigung zur Symbolik auszeichnet. Die Neigung zur ›Verklärung‹ setzt demnach einer vermeintlich profanen Wirklichkeitsabbildung eine Poetisierung des ›realen‹ Stoffs entgegen. Das Ergebnis dieser Forschung »daß auch die Realität des Realismus nur eine Fiktion und Illusion sei, ist eigentlich eine Banalität: was sollte sie in einem Kunstwerk auch anderes sein!« Diese schon früh geäußerte Kritik ist kaum legitim, denn zum einen galt es, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Epoche des Realismus eine Berechtigung zu geben, zum anderen ist die Charakterisierung eines literarischen Kunstwerks als »nur Fiktion und Illusion« mehr als eine ›Grundtatsache‹. Gerade bei einer Literatur, die sich programmatisch auf die Wirklichkeit beziehen möchte, liegt es nahe, sie auf Grundlage ihrer Wirklichkeitsabbildung zu unter-
Jürgen H. Petersen, Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung, Berlin , S. . – Den durchaus möglichen Bezug von Fiktionalaussagen auf die außerliterarische Realität erläutert Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin . René Wellek, Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft. In: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, hg. von Richard Brinkmann, ., erweiterte Auflage, Darmstadt [], S. –; hier S. und : »In Deutschland gab es, soviel ich weiß, keine bewußte realistische Bewegung, obwohl der Begriff manchmal gebraucht wurde.« – »Auf seinen niederen Stufen sank der Realismus dauernd zu Journalismus ab, zu Abhandlungen, wissenschaftlichen Schilderungen, kurz, zu Nicht-Kunst. Auf seiner höchsten Stufe, bei seinen größten Dichtern wie Balzac und Dickens, Dostojewski und Tolstoj, Henry James und Ibsen und Zola ging der Realismus ständig über seine Theorie hinaus und schuf Welten der Phantasie. Letzten Endes ist die realistische Theorie schlechte Ästhetik; denn alle Kunst ist ›Schaffen‹ und bildet eine eigene Welt des Scheins und der symbolischen Formen.« Nähere Erläuterungen in Kapitel .. Clemens Heselhaus, Das Realismusproblem. In: Hüter der Sprache. Perspektiven der deutschen Literatur, hg. von Karl Rüdinger, München , S. –; hier S. .
suchen. Die Wahrnehmung des literarischen Realismus als ›Konstruktion einer Welt‹, nicht als ›Abbildung der Welt‹, ist die konsequente Anwendung der Differenzierung von Wirklichkeitsaussagen (in der ›Realität‹) und Fiktionalaussagen (der realistischen Literatur). Nichtsdestotrotz kann die literarische Fiktion als ›ästhetische Illusion‹ einen realistischen Weltentwurf präsentieren. Das Verhältnis fiktionaler Texte zu ihrer ›Quasi-Wirklichkeit‹ läßt sich anhand zweier Prinzipien beschreiben. Zum einen führt der ›Schein der erlebten Wirklichkeit‹ zum sinnlichen ›Hineinversetzt-Werden‹ des Lesers in die erzählte Welt. Diese Teilnahme an der Fiktion erfolgt jedoch zum anderen aus der distanzierten und damit rationalen Perspektive des lesenden ›Betrachters‹. Die Distanz ist Resultat der ästhetischen Rezeptionshaltung beziehungsweise der ästhetischen Einstellung des Rezipienten, der sich überdies werkinternen wie werkexternen Fiktionsmarkierungen ausgesetzt sieht (etwa der Materialität des Buches). Während die ›Distanz‹ auch den formalen Bereich der Kunst – ihre Vermittlung – betrifft, bezieht sich das ›Hineinversetzt-Werden‹ immer auf den inhaltlichen Bereich des Kunstwerks, also die vermittelte Welt. Für diese Illusionsbildung gilt: Nur wenn der Rezipient […] seine Distanz weitgehend zurückzudrängen vermag, kann er illusionistisch als ›particiant‹ in dessen Welt eintreten. Es ist also an dieser Stelle schon festzuhalten: Einem zentralen Moment der Illusion steht bei gelingender ästhetischer Illusion eine nur untergeordnete – freilich unverzichtbare – Distanz gegenüber.
Vgl. Hans-Peter Ecker, Michael Titzmann, Warum Realismus? In: Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum . Geburtstag, hg. von Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann, Würzburg . S. –; hier S. f. (Hervorhebungen im Text): »Solange man die ›Realitätsabbildung‹, die ›Mimesis‹ gegenüber einer vorliterarisch und extratextuell vorgegebenen ›Realität‹ und also die Beziehungen der ›Literatur‹ zu dieser ›Wirklichkeit‹, als das konstitutive Merkmal der Literatur dieser Epoche ansah oder ansieht statt ihrer besonderen ›Konstruktion‹ einer Welt, solange man die erzählten Geschichten quasi hinnimmt, als würden sie eine außerliterarische Realität – als solche – abbilden, anstatt die Strukturen ihrer dargestellten Welt – und nicht nur die Darstellungsmodi – interpretatorisch zu erforschen, und das heißt, sie aus einer ethnologischanthropologischen Perspektive als epochenspezifisches Weltmodell, als Weltentwurf, interpretiert, der auch ganz anders hätte ausfallen können: so lange wird man nicht die Regularitäten dieser Literatur erkennen können und so lange wird man auch nicht zu einer befriedigenden Neukonzeption von ›Realismus‹ gelangen.« Im folgenden soll nicht der zeitgenössische Illusionsbegriff der realistischen Programmatiker im Vordergrund stehen; vgl. dazu Eisele, Realismus und Ideologie, S. –. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen . Zur »Quasi-Wirklichkeit« vgl. dort S. XI. – Zur Kritik am illusionistischen Konzept siehe unten. Ebd., S. –. Ebd., S. .
Die Minimierung der Distanz wird durch sogenannte ›Illusionsprinzipien‹ erreicht, die je nach literarischer Epoche oder Strömung unterschiedlich gewichtet wurden. Diese Illusionsprinzipien sorgen für die Regulierung der »illusionskonstitutiven Analogie zwischen Kunstwerken und lebensweltlicher Wahrnehmung«. Eines dieser Prinzipien ist das ›Celare-artem-Prinzip‹, welches für die Verschleierung der Künstlichkeit verantwortlich ist; damit ist gleichzeitig eines der Hauptmerkmale der Literatur des Realismus genannt. Mit der Anwendung dieser illusionsbildenden Prinzipien lassen sich einige Charakteristika illusionistischer Erzählkunst ausmachen. So beziehen sich illusionistische Erzählungen »dominant auf [eine] Scheinrealität und nicht etwa auf die Probleme der eigenen Vertextung« (›Heteroreferentialität‹). Sie setzen die Geschichtsebene (histoire) zentral gegenüber der nachrangigen, unauffälligen und transparenten Vermittlungsebene (discours), und nicht zuletzt zeichnen sich illusionistische Erzählungen durch eine ernste Darstellung ihrer Gegenstände aus. Problematisch an diesem differenzierten Zugang ist sein psychologischer Ansatz: Nach Wolf gelingt ›Illusion‹, wenn der Leser sich erfolgreich in die literarische Welt ›hineinversetzt‹. Um ein derart vages, nämlich rezipientenspezifisches Theoriefundament für die vorliegende Arbeit auszuschließen, soll die Opposition ›Hineinversetzt-Werden vs. Distanz‹ im folgenden durch ›Darstellung vs. Darstellungsstörung‹ ersetzt werden. Die Ursache für diese text-, nicht rezipientengerichtete Substitution liegt in der spezifischen Eigenschaft der ›Darstellungsstörung‹: Man kann, um den Ausdruck ›Illusionsstörung‹ auszumerzen, vielleicht von Darstellungsstörungen sprechen, wenn man in den Blick nehmen will, daß es strukturelle Elemente gibt, die die (strukturell gegebene) Aufmerksamkeit weg von der Darstellung hin zum Darstellungsmodus lenken. Damit wären auch die Fälle unter diesen Begriff
Ebd., S. . Die anderen Prinzipien nennt Wolf Prinzipien ›der anschaulichen Welthaftigkeit‹, ›der Sinnzentriertheit‹, ›der Perspektivität‹, ›der Mediumsadäquatheit‹ und der ›Interessantheit‹. Die Vorstellung der Prinzipien ebd., S. f. und ausführlich S. –. Aust spricht von »Vertuschen der Künstlichkeit«. Aust, Literatur des Realismus, S. . Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. . Wolf betont das Charakteritikum der ernsten Darstellung im Gegensatz zur illusionsstörenden Komik. Diese diene »entweder der Verstärkung anderer Merkmale illusionsstörenden Erzählens, oder was noch wichtiger ist, sie ist als deren Motor und Auslöser anzusehen«, S. . – Rosmarie Zellter macht für die Erzeugung von Realitätsillusion folgende Faktoren verantwortlich: ›Referenzillusion‹, ›das Verbergen des künstlerischen Verfahrens‹ und ›das Wahrscheinliche‹. Rosmarie Zeller, Realismusprobleme in semiotischer Sicht. In: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, hg. von Richard Brinkmann, ., erweiterte Auflage, Darmstadt [], S. –. Sowohl in der Kritik am ›Illusions‹-Konzept wie auch in der Bevorzung der Kategorie ›Darstellung‹ folge ich Bunia, Faltungen; zur Kritik am Illusionsbegriff dort S. –.
zu fassen, die wegen ihrer Subtilität sich gar nicht dazu eignen, als ›Illusionsstörungen‹ bezeichnet zu werden, weil sie meist ohnehin nur Lesern auffallen, die das Verhältnis von Darstellung und Darstellungsmodus in den Blick nehmen.
›Darstellung‹ hingegen liegt dann vor, »wenn eine Kommunikation erlaubt, an sie anzuschließen, als nehme man die Gegenstände der Darstellung so unmittelbar wahr wie die Gegenstände der einen umgebenden Welt«. Es liegt auf der Hand, daß demnach ein durchgängig schein-realistisches Erzählen zumindest annäherungsweise möglich ist und sogar ein ganzes Literaturkonzept ausmachen kann: ›mimesis as make-believe‹. Die Geschichte des ›Mimesis‹-Begriffes ist wesentlich geprägt durch die Platon- und Aristoteles-Rezeption. Mit der Entdeckung der aristotelischen ›Poetik‹ in der Renaissance begannen die vielfältigen Begriffsauslegungen, die sich unter Berufung auf Aristoteles mitunter weit von diesem entfernten. Der Begriff Mimesis gehört zur Wortgruppe um gr. mímos, ›Schauspiel‹, ›Schauspieler‹ beziehungsweise gr. mimeísthai ›nachahmen‹, ›darstellen‹, ›porträtieren‹. Zu unterscheiden von der griechischen Mimesis sind die lateinische Übersetzung imitatio und der deutsche Begriff ›Nachahmung‹. Während die imitatio die Nachahmung vorbildhafter (antiker) Autoren in Stil, Wortgebrauch, Bildern etc. bezeichnet, wird mit ›Nachahmung‹ zunächst auf ein Verfahren verwiesen, das sich detailgetreu an einer konkreten Vorlage orientiert und von dieser zu unterscheiden ist. Die Dichtungstheoretiker seit der Renaissance
Ebd., S. . Vgl. auch Monika Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt , S. –. Bunia, Faltungen, S. ; ich übernehme hier Bunias Charakterisierung von ›Darstellung‹ unter mimetischen Aspekten. Bunias Ausführungen zur ›Darstellung‹ sind erheblich ausführlicher, als es hier angedeutet werden kann. Generell gilt ihm ›Darstellung‹, im Sinne von Niklas Luhmanns ›Die Gesellschaft der Gesellschaft‹, als »Beschreibung von Erleben« (S. ). So der Titel der Monographie von Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge (Mass.), London . Stephan Kohl, Realismus. Theorie und Geschichte, München ; Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg ; Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München ; Bunia, Faltungen, S. –. Arbogast Schmitt, Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance. Zum Wandel des Gedankens von der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit. In: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg im Breisgau . S. –. Walter Erhart, Mimesis. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. : H–O, hg. von Harald Fricke u. a., Berlin, New York , S. –; hier S. . Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung, S. . Petersen wendet sich gegen den Nachahmungs-Begriff als ein Mißverständnis, das seinen Ursprung für die deutsche Literatur in Martin Opitz’ ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ () habe, wo es (wertneutral) heißt, »das die gantze Poeterey im nachäffen der Natur bestehe«.
fordern (mit Bezug auf Aristoteles) die ›Nachahmung der Natur‹, also die Übereinstimmung der Dichtung mit der Empirie. Insbesondere seit dem . Jahrhundert konnte unter ›Nachahmung‹ auch die Idealisierung der tatsächlichen Verhältnisse verstanden werden. In beiden Fällen ist der Maßstab für die Beurteilung der Dichtung die reale Welt. In den Schriften Platons findet der Mimesis-Begriff in verschiedenen Kontexten Gebrauch und wird auch wegen Platons Zurückstufung der Künste gegenüber Ideenwelt und realer Welt für dichtungstheoretische Überlegungen weniger oft herangezogen. Die maßgebliche Wirkung des Mimesis-Begriffs geht von der Rezeption der aristotelischen ›Poetik‹ seit Mitte des . Jahrhunderts aus. Es ist inzwischen mehrfach aufgezeigt worden, wie wenig das im . Kapitel der ›Poetik‹ formulierte Dichtungskonzept mit der Auffassung, Dichtung müsse ›Wirklichkeit abbilden‹ oder ›die Natur nachahmen‹, übereinstimmt. Tatsächlich hebt Aristoteles nicht auf ›das Wirkliche‹, sondern auf ›das Wahrscheinliche‹ ab: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.
Demnach ist es geradezu Aufgabe des Dichters, eine fingierte Welt zu erschaffen. Diese kann keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zur realen Welt aufweisen und erhält ihre innere Folgerichtigkeit durch Charakter- und damit Handlungskonsistenz: es entwickelt sich das in der erzählten Welt Mögliche qua ›Wahr
Kohl, Realismus, S. : »Der Begriff der Nachahmung wird beibehalten, seine Bedeutung entfernt sich indes unter der Hand bis zu ›Erfindung des Wunderbaren‹ und ›Darstellung des Neuen‹.« Eine differenzierte, an Aristoteles angenäherte Sicht auf Platon und dessen ›Mimesis‹-Begriff findet sich bei Stefan Büttner, Literatur und Mimesis bei Platon. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des . Jahrhunderts, hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch, Berlin, New York , S. –. Vgl. insbesondere Arbogast Schmitt, Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik ( a–b). In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des . Jahrhunderts, hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch, Berlin, New York . S. –. Aristotels, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart , Kapitel , S. . Fuhrmann verweist zu »Aus dem Gesagten« auf die Kapitel und : »Das wirklich Geschehene bildet im allgemeinen kein in sich geschlossenes, einheitliches Ganzes« (S. ). – Mit anderer Akzentuierung lautet der Übersetzungsvorschlag von Schmitt, Was macht Dichtung zur Dichtung?, S. : »Aufgrund des Gesagten ist evident, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist, zu sagen, was geschehen ist, sondern eine wahrscheinliche oder notwendige Darstellung von dem zu geben, was geschehen müsste und möglich ist.« Vgl. dagegen die eingangs zitierte Äußerung Beckers, Anm. .
scheinlichkeit‹ beziehungsweise qua ›Notwendigkeit‹. Damit beugt Aristoteles einer inkonsistenten, beliebigen inneren Form vor und verhindert in sich widersprüchliche Handlungen und Charaktere: Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit sind also Forderungen an das Verhältnis, in dem das, was ein Dichter eine Person sagen oder tun lässt, zu dem Charakter steht, dem ein Dichter diese Worte und Taten zuschreibt.
Nach dieser kurzen Betrachtung läßt sich also festhalten: Mit dem dichtungstheoretisch fundamentalen Begriff der ›Mimesis‹ lassen sich keine Bezüge zwischen der erzählten Welt und der realen Welt bezeichnen. Dies ist schon allein deshalb nicht möglich, weil es sich bei der Poesie »um einen von der empirischen Realität prinzipiell getrennten Raum [handelt], in dem daher absolute, nämlich von der Wirklichkeit losgelöste Sätze gelten«. ›Mimesis‹ ist nach Aristoteles ein literarisches Konzept, das die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Charaktere und damit die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Handlung garantiert. Die ›wahrscheinliche‹ und ›notwendige‹ Entwicklung der Handlung zielt folglich auf eine verläßliche Darstellung innerhalb des literarischen Werks – ganz im Sinne der Programmatiker des Realismus.
. Poetisierung und Poiesis »Stifter erwähnt nie die im Böhmerwald so häufigen Kreuzottern.« Es darf vermutet werden, daß sich hinter dieser Notiz Hugo von Hofmannsthals eine
Schmitt, Was macht Dichtung zur Dichtung?, S. . Bei Aristoteles heißt es: »Man muß auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt.« Aristoteles, Poetik, S. . Vgl. dagegen Anm. . Petersen, Fiktionalität und Ästhetik, S. . Ansonsten gilt: »Die Studien dieses Bandes antworten nicht auf die Frage: Was ist Mimesis? Sie zeigen vielmehr, daß eine solche Frage in die Irre führt; ihre impliziten Voraussetzungen stimmen nicht, nämlich daß es sich um einen relativ homogenen Begriff handelt, der sich in einem entwicklungsgeschichtlichen Raum entfaltet.« Gebauer/Wulf, Mimesis, S. . Zitiert nach Richard Exner, Hugo von Hofmannsthal zu Adalbert Stifter. Notizen und Entwürfe. Vorläufige Chronik und Deutung. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum . Todestag, hg. von Lothar Stiehm, Heidelberg , S. –; hier S. . Zumindest die Suche in der Digitalen Bibliothek gibt Hofmannsthal recht: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Studienbibliothek, hg. von Mathias Bertram, Berlin .
nicht geringe Verwunderung verbirgt: Wie kann der ›Detailmaler‹ Stifter die für den Böhmerwald so wichtige Kreuzotter vergessen haben? Anders gefragt: sind Stifters Texte weniger realistisch, weil seinem literarischen Böhmerwald die Kreuzottern fehlen? – Setzt man voraus, daß die Kreuzottern für den Böhmerwald tatsächlich ›konstitutiv‹ sind, so wäre ihr Fehlen ›unwahrscheinlich‹ zu nennen, wenn nicht gar eine Verletzung der gültigen Naturgesetze vorläge. Jedoch möchte man eher geneigt sein, Kreuzottern als eines von sehr vielen Merkmalen des Böhmerwalds gelten zu lassen. In diesem Fall ist die Dichtung entschuldigt, da sie immer nur Ausschnitte einer Welt bieten kann und vor der Aufzählung aller ihrer Wesensmerkmale kapitulieren muß. Insbesondere der späte Realismus hat sich einer verstärkt ›subjektiven‹ und damit auswählenden beziehungsweise ausgewählten Darstellung zugewandt. Man hat dem deutschen Realismus seine poetischen Qualitäten dahingehend zugesprochen, daß gerade diese Subjektivität eine Zuwiderhandlung gegenüber dem programmatisch formulierten Geltungsanspruch nach objektiver Welthaltigkeit sei. Der Realismus werde mit der im Verlauf des . Jahrhunderts verstärkt auftretenden subjektiven Darstellungsperspektive der Erzählungen und Romane ›poetisch‹ und entferne sich damit von objektiven, realistischen Ansprüchen: Wirklichkeit oder ›Welt‹ sei kein objektiver Wert an sich, sondern nur durch das erlebende Subjekt vermittelt. Mit ›Objektivität‹ hingegen lasse sich allein die Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit der Erzählstruktur kategorisieren. Mit demselben Begriffspaar ist auf die Differenz von ›subjektiver‹ Erzählweise gegenüber ›objektiver‹ Begebenheit hingewiesen worden. Dieser ›sub-
Zum Detailrealismus vgl. Aust, Literatur des Realismus, S. f. Solch eine ›fehlerhafte‹, der Alltagserfahrung zuwiderlaufende und damit wenig plausible Darstellung kann man etwa Friedrich Schillers prominentem Gedicht ›Das Lied von der Glocke‹ () vorwerfen, das in Versen zwar den Glockenguß feierlich besingt, den zum Läuten unabdingbaren Klöppel jedoch nicht erwähnt. Vgl. Wulf Segebrecht, Was Schillers Glocke geschlagen hat. Vom Nachklang und Widerhall des meistparodierten deutschen Gedichts, München , S. f. und f. Vgl. Seiler, Das Wahrscheinliche und das Wesentliche, S. . Seiler ordnet das Bemühen um exakte Wirklichkeitstreue dem Frührealismus zu: Die aus der Verwechslung von Fiktion und Tatsache resultierenden Vorwürfe der Indiskretion entgingen die Texte der späteren Jahrzehnte, indem eine ›Überprüfbarkeit‹ der vermeintlichen Realien bewußt vermieden wurde. So die Thesen aus der wegweisenden Studie von Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des Neunzehnten Jahrhunderts, Tübingen [], S. –. Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus, dritte, durchgesehene und mit einem Register versehene Auflage, München [].
jektive Humor‹ der realistischen Prosa laufe dann auf ›Verklärung‹ im Sinne Fontanes hinaus und bezeichne das Merkmal einer gleichsam ›klassischen Dämpfung‹, die den deutschen Realismus vom europäischen, naturalistisch geprägten Realismus unterscheidet. Im Humor zeigte sich eine Integrationsform, die eine der poetischen Gestaltung scheinbar entzogene Wirklichkeit darstellbar machte, das humoristische Erzählen bot Gewähr, eine eigengesetzliche objektive Wirklichkeit auf spezifisch poetische Weise zur Sprache zu bringen; vermöge des Humors gewinnt die dargestellte Wirklichkeit das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Identität und Bedeutung, das dem Respekt vor den Gesetzen der Wirklichkeit und der Souveränität der dichterischen Imagination gleichen Spielraum läßt.
Das Begriffspaar ›Objektivität‹/›Subjektivität‹ hat die Realismusforschung insofern geprägt, als damit eine poetische Qualität der Literatur der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts hervorgehoben wurde, die es erlaubte, ›Realismus‹ nicht als banale Wirklichkeitsschilderung zu verstehen, sondern als künstlerische Fähigkeit subjektiver Erzählperspektivierung. Die vorliegende Arbeit kann auf solche Interpretationen und Zuschreibungen verzichten. Das ästhetisierende Moment der Novellen des Realismus soll hier nicht in der Erzählperspektive oder ›Erzählhaltung‹ gesehen werden, sondern in der explizit herausgestellten Künstlichkeit der Prosa. Solange die realistische Literatur als in sich geschlossen bewertet wird, ihr also Glaubwürdigkeit und konsistente Erzählhaltung unterstellt werden, ist eine Betonung hervorgehobener Artifizialität in diesem, qualitativ wertneutralen Sinne nicht möglich. Die ›Scheinrealität‹ literarischer Texte ist von den Kategorien objektiver oder subjektiver Erzählhaltung nicht betroffen. Für die Darstellung ist es
Preisendanz leitet das Begriffspaar ›subjektiver/objektiver Humor‹ insbesondere aus den Ausführungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels ab; ebd., S. –. Vgl. Anm. . Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, S. . Mit semiotischer Ausrichtung haben Hans Vilmar Geppert und Claus-Michael Ort diese Position maßgeblich revidiert. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des . Jahrhunderts, Tübingen ; Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen . Vgl. Stephan Kohl, Realismus. Theorie und Geschichte, München . S. f.: »Da Realismus also weder aus einer Übereinstimmung der literarischen Inhalte mit der tatsächlichen Wirklichkeit begründet werden kann noch […] die Intentionalität des Kunstwerks sich ausschließlich auf die ihm ›transzendente‹ Wirklichkeit bezieht, kann Realismus mit Objektivität nicht identifiziert werden. Sinnvoll kann von Realismus nur gesprochen werden, wenn entweder aus der Wirklichkeit eine ›Wahrheit‹ konstruiert wird oder traditionelle Wirklichkeitsvorstellungen desillusionistisch zerstört werden. In jedem Falle wird aus einer strukturell offenen Realität ›stimmige‹ Wirklichkeit geformt, in diesem beschränkt sich Realismus – und dies nicht wenig – auf die Problematisierung der phänomenalen Wirklichkeit.«
gleichgültig, ob sie auf einer ausgeprägten Figurenperspektivierung oder verklärendem subjektiven Humor beruht. Eine Distanz zur Darstellung stellt sich erst ein, wenn die narrative Vermittlung (discours) des subjektiv oder objektiv erzählten Geschehens (histoire) in den Vordergrund tritt beziehungsweise problematisch ist. In solchen Fällen gibt sich der literarische Text als ›poietisch‹ zu erkennen: künstlich, ›gemacht‹, und weder Wirklichkeit noch literarische Wirklichkeit darstellend, sondern literarische Künstlichkeit. In diesem Sinne wird Mimesis abhängig von einer fiktionsimmanenten Poiesis: Darstellung in den Novellen des Realismus kennzeichnet sich entschieden als Ergebnis eines ›herstellenden Tuns‹ (gr. poiesis). Wie im folgenden am Beispiel von Annette von Droste-Hülshoffs ›Die Judenbuche‹ demonstriert werden soll, kulminiert gerade in der Betonung vermeintlicher Realien die Artifizialität der Novellen des Realismus.
. »Aber dieß Alles hat sich wirklich zugetragen« – wie sich Kunst markiert In Annette von Droste-Hülshoffs ›Die Judenbuche‹ () wird der tatverdächtige Friedrich Mergel mit einer blutbeschmierten Axt konfrontiert, die man im Schädel des ermordeten Oberförsters Brandis gefunden hat. Mergel bestreitet, diese Axt zu kennen, woraufhin der Gerichtsschreiber mangels Erfolgsaussichten das Verhör beendet. An dieser Stelle setzt ein Erzählerkommentar ein, in dem erläutert wird, »daß diese Geschichte nie aufgeklärt wurde«: Die Axt lag zwanzig Jahre nachher als unnützes Corpus delicti im Gerichtsarchiv, wo sie wohl noch jezt ruhen mag mit ihren Rostflecken. Es würde in einer erdichteten Geschichte Unrecht seyn, die Neugier des Lesers so zu täuschen. Aber dieß Alles hat sich wirklich zugetragen; ich kann nichts davon oder dazu thun.
Die hier verfolgte Erzählstrategie ist bemerkenswert: die Konfrontation Mergels mit der Axt brachte nicht die erwünschte Reaktion, etwa das Schuldeingeständnis eines reuigen Täters. Darauf schließt der Gerichtsschreiber das Verhör. Der Erzähler bringt sich ein, um mitzuteilen, daß der nicht aufgeklärte Fall auch später nicht aufgeklärt wurde. Noch nach zwanzig Jahren gilt die Axt als »unnützes Corpus delicti« und ist es »wohl noch jezt«. Der Erzähler löst sich also von Raum, Zeit und Ort des eigentlichen Handlungsgeschehens, über
Vgl. Hubert Zapf, Poiesis. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, ., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar , S. –. Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. In: dies., Historisch-kritische Ausgabe. Prosa. Text, bearbeitet von Walter Huge, Tübingen , S. –; hier S. .
springt zwei (folgenlose) Jahrzehnte und einen weiteren, vollkommen ungewissen Zeitraum bis zur Erzähl- und damit Lesergegenwart. Anlaß für diesen Exkurs ist die vermeintliche Sorge, »die Neugier des Lesers« könnte sich getäuscht fühlen – durch einen erfolglosen Justizfall, in dem es ein Mordwerkzeug, aber keine Beweismittel gibt? Ähnlich einer Verteidigungsrede beschwört der Erzähler die Wahrhaftigkeit seiner Ausführungen: »Es würde in einer erdichteten Geschichte Unrecht seyn, die Neugier des Lesers so zu täuschen.« Der Coniunctivus irrealis des »es würde seyn« ist das Signal für ein ›es ist nicht so‹. In Umkehrung aller Sachverhalte läßt sich also zunächst schließen, daß die vorliegende Erzählung keine erdichtete Geschichte ist. Ist es demnach in einer nicht erdichteten Geschichte rechtmäßig, »die Neugier des Lesers so zu täuschen«? ›Täuschen‹, also »schein für wahres, für wirklichkeit nehmen machen« beziehungsweise »trügen, betrügen, hintergehn, überlisten«, dürfte ein Text nach realistischer Programmatik sicherlich nicht. Die Neugier des Lesers müßte mit ›Realien‹ gestillt werden, in diesem Fall also der exakten Aufklärung über den Mordfall und den Täter. Gerade dieses Verlangen nach einem allwissenden Aufklärer scheint der Erzähler vorzustellen, wenn er für seine Geschichte beteuert, er könne »nichts davon oder dazu tun«, also Fakten weder vorenthalten noch hinzudichten. Tatsächlich wird suggeriert, daß der Wissensstand des Erzählers zumindest hinter dem seiner äußerst verdächtigen Hauptfigur zurückfällt. »Es war im Juli früh um drei« als Mergel im Gras liegend seine Schafe weidet, während im Wald das Fällen von Bäumen zu hören ist: »Aus dem Wald drang von Zeit zu Zeit ein dumpfer, krachender Schall; der Ton hielt nur einige Sekunden an, begleitet von einem langen Echo an den Bergwänden und wiederholte sich etwa alle fünf bis acht Minuten.« (S. ) Der Förster Brandis nähert sich mit seinen Gefährten, die er fortschickt, um sich allein mit Mergel zu unterhalten. Nach der Zwiesprache fragt der Förster Mergel nach dem eingeschlagenen Weg seiner Gefährten; Mergel schickt ihn »an der Buche« entlang.
Beide Zitate aus dem Artikel ›täuschen‹ in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. : T–Treftig, bearbeitet von Matthias Lexer, Dietrich Kralik und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches, Nachdruck der Ausgabe Leipzig , München , Sp. –; hier Sp. . – Deutet man ›täuschen‹ als ›enttäuschen‹, so zielt der Erzählerkommentar auf die Rezeptionshaltung ab: Detailschilderungen dürfen nicht um ihrer selbst willen angeführt werden, sondern müssen im Interesse der ›Spannungslösung‹ erzählstrategisch motiviert werden. In diesem Sinne könnte man die Textstelle auch als Plädoyer für Wahrhaftigkeit in »erdichteten Geschichten« verstehen: ›Es ist zwar in einer erdichteten Geschichte Unrecht, die Neugier des Lesers so zu täuschen – aber dies alles hat sich (in der erdichteten Geschichte) wirklich so zugetragen‹. So jedenfalls die Ausdeutung der folgenden Textstelle.
»An der Buche?« sagte Brandis zweifelhaft, »nein, dort hinüber, nach dem Mastergrunde.« – »Ich sage Euch, an der Buche; des langen Heinrich Flintenriemen blieb noch am krummen Ast hängen; ich hab’s ja gesehen!« (S. )
Mergel hat mit seiner Antwort zunächst keinen Erfolg und muß insistieren, damit der Förster ihm glaubt (»Ich sage Euch«). Nachdem der Förster entschwunden ist, führt Mergel Selbstgespräche, sagt »Es ist zu spät« und, nachdem er den Förster noch einmal den Flintenstein schärfen hört, »Nein!«. Des weiteren erfährt der Leser, daß Mergel bei seiner Heimkehr über Kopfschmerzen klagt und sich in seine Kammer zurückzieht. »Im Dorfe schlug es halb zwölf« (S. ), als der Gerichtsschreiber bei Mergels Mutter Margreth vorspricht, von nächtlichen Rodungen berichtet und davon, daß der Förster Brandis »von den Blaukitteln erschlagen« aufgefunden wurde. Margreths Reaktion fällt wie folgt aus: »Gott im Himmel, geh’ nicht mit ihm in’s Gericht! er wußte nicht, was er that!« – »Mit ihm!« rief der Amtsschreiber, »mit dem verfluchten Mörder, meint Ihr?« Aus der Kammer drang ein schweres Stöhnen. Margreth eilte hin und der Schreiber folgte ihr. Friedrich saß aufrecht im Bette, das Gesicht in die Hände gedrückt und ächzte wie ein Sterbender. (S. )
Margreths Bitte, Gott möge »mit ihm« nicht ins Gericht gehen, verwundert, wenn man bedenkt, daß sie gerade erfahren hat, daß Brandis von »den Blaukitteln« erschlagen worden ist. Diese Verwunderung wird bestärkt, da auch der Amtsschreiber Anstoß nimmt: »Mit ihm! […] mit dem verfluchten Mörder, meint Ihr?« Das schwere Stöhnen, das diesen Worten folgt, macht Mergel weiter verdächtig, gleichwohl ihm de facto nichts vorzuwerfen ist. Die gerichtlichen Untersuchungen nehmen bald ihren Lauf, »die That lag klar am Tage; über den Thäter aber waren die Anzeigen so schwach, daß, obschon alle Umstände die Blaukittel dringend verdächtigten, man doch nicht mehr als Muthmaßungen wagen konnte.« (S. ) Die Gefolgschaft des Försters berichtet, wie sie auf den Waldfrevel aufmerksam wurde, nach dem »Auftritt mit Friedrich« (S. ) alleine weiterzog, den Ort der Verwüstung untersuchte und schließlich den Oberförster tot auffand. Friedrich wird ebenfalls als Zeuge vorgeladen, berichtet alles »ziemlich der Wahrheit gemäß, bis auf das Ende, das er gerathener fand, für sich zu behalten.« (S. ) Sein Alibi ist unzweifelhaft, da der Fundort der Leiche zu weit entfernt liegt von den Plätzen, an denen Friedrich bald nach der Tat von anderen Bauern gesehen wurde. Auch die überraschende Konfrontation Friedrichs mit der Mordwaffe führt zu keinen weiteren Ergebnissen. Er behauptet, die Axt nicht zu kennen.
»Es sey ihnen unbegreiflich, wie man dieses in’s Werk gestellt, da keine Wagenspuren zu finden gewesen. Auch habe die Dürre der Jahreszeit und der mit Fichtennadeln bestreute Boden keine Fußstapfen unterscheiden lassen, obgleich der Grund ringsumher wie festgestampft war.« (S. )
»Am nächsten Sonntag« macht sich Friedrich auf, zur Beichte zu gehen. Er wird von seinem Onkel Simon überrascht, der ihm anrät, er soll an die Zehn Gebote denken: »du sollst kein Zeugniß ablegen gegen deinen Nächsten.« – »Kein falsches!« – »Nein, gar keines; du bist schlecht unterrichtet; wer einen andern in der Beichte anklagt, der empfängt das Sakrament unwürdig.« (S. )
Mergel zeiht seinen Onkel daraufhin der Lüge und fragt ihn nach dessen Axt, von der Simon angibt, sie sei »auf der Tenne«. Simon streitet den ihm implizit vorgeworfenen Mord ab: er wisse nicht mehr als der Türpfosten. Mergel bekennt darauf seine Schuld, den Förster »den unrechten Weg« (S. ) geschickt zu haben. Im Rückblick läßt sich also festhalten: Nächtens ist ein großer Teil des Waldes gerodet worden, und zur selben Zeit hat Mergel seine Herde geweidet und mit dem Förster Brandis gesprochen, der kurz darauf mit einer Axt erschlagen wird. Spekulationen werden vom Erzähler nicht angestellt, jedoch läßt sich feststellen, daß die Auswahl des Erzählten das spannende Moment der Kriminalgeschichte ausmacht. Mergel macht sich verdächtig durch seine Selbstgespräche, nachdem er Brandis den Weg gewiesen hatte. Sein Aufschrei, als im Nebenraum der »Mörder« des toten Brandis genannt wird, kommt einem Schuldeingeständnis durch eine höhere Gerechtigkeit gleich. Die eigentliche Tatzeit wird jedoch in der Erzählung ausgespart; der Erzähler ›verläßt‹ Mergel nach dem Streit mit Brandis und setzt erst Stunden nach seiner Heimkehr und damit Stunden nach dem Mord mit dem Bericht wieder ein. Man wird dies kaum ein sonderlich ›poietisches‹ Verfahren nennen dürfen. Als Kriminalgeschichte ist ›Die Judenbuche‹ dem Aussparen wesentlicher Handlungsmomente geradezu verpflichtet, und auch ein moralisierender Er
Thomas Wörtche, Kriminalerzählung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. : H–O, hg. von Harald Fricke u. a., Berlin, New York , S. –. – Die ›Wahrheitsliebe‹ des Erzählers wird von Carmen Rieb aus genau diesem Grund angezweifelt: »Die Behauptungen des Narrators, er sei der objektiven Berichterstattung verpflichtet und könne nichts Nennenswertes mehr zum Mordfall Brandis mitteilen, sind somit ebenso wie die unterlassenen Schlußfolgerungen aus den im geheimen Dialog verborgenen Informationen und die unscharfen Bemerkungen, mit denen sich der Erzähler auf das Geschehen um den Förstermord bezieht, keineswegs als Ausdrucksformen der Wahrheitsliebe eines vermeintlichen Chronisten zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um Schachzüge eines gewitzten Kriminalgeschichten-Erzählers, der darum bemüht ist, seine Allwissenheit zu verbergen, um die Spannung bis zum überraschenden Ende hin aufrecht zu erhalten.«. Carmen Rieb, »Ich kann nichts davon oder dazu tun«. Zur Fiktion der Berichterstattung in Annette von DrosteHülshoffs Judenbuche. In: Erzähler. Erzählen. Erzähltes. Festschrift der Marburger Arbeitsgruppe Narrativik für Rudolf Freudenberg zum . Geburtstag, hg. von Wolfgang Brandt, Stuttgart , S. –; hier S. .
zählerkommentar, wie er etwa auf die Diskussion zwischen Simon und Friedrich folgt, ist nicht zwangsläufig eine Darstellungsstörung: Der Eindruck, den dieser Vorfall auf Friedrich gemacht, erlosch leider nur zu bald. Wer zweifelt daran, daß Simon Alles that, seinen Adoptivsohn dieselben Wege zu leiten, die er selber ging? Und in Friedrich lagen Eigenschaften, die dieß nur zu sehr erleichterten: Leichtsinn, Erregbarkeit, und vor Allem ein grenzenloser Hochmuth, der nicht immer den Schein verschmähte, und dann Alles daran sezte, durch Wahrmachung des Usurpirten möglicher Beschämung zu entgehen. (S. )
›Poietisch‹ wird eine Erzählung nicht durch Erzählerkommentare, die zwar den Erzählfluß unterbrechen, jedoch nicht zwangsläufig den fiktiven Charakter des Erzählten herausstellen. Problematisch werden die Erzählerkommentare erst, wenn sie ihren Fiktionsstatus thematisieren. Der Satz »Aber dies Alles hat sich wirklich zugetragen; ich kann nichts davon oder dazu tun« erreicht das genaue Gegenteil einer Beglaubigung: »wirklich zugetragen« hat sich in einem literarischen Text nie etwas. Die Darstellung wird also recht unvermittelt durchbrochen und markiert damit eine Distanz zur eigentlichen Geschichte. Man kann es als realistisches Paradoxon bezeichnen, daß ein Text gerade dort, wo er seine eigene Wahrhaftigkeit explizit zur Schau stellt, der Künstlichkeit überführt ist. »Wirklichkeitsaussagen sagen: Das Ausgesagte ist wirklich und wirklich so, wie es gesagt wird. Fiktionalaussagen hingegen sagen: Das Ausgesagte ist. Mehr nicht.« Fiktionalaussagen, also literarische Texte, die behaupten, daß das Ausgesagte »wirklich und wirklich so sei«, können mitnichten ›wirkliche‹ Wirklichkeitsaussage sein und stören die ›Darstellung‹. Die Behauptung, wahrhaftig zu sein, ist also die eigentliche Unwahrhaftigkeit. ›Realistischer‹, da ohne distanzierende Brüche, wäre eine Erzählweise, die ganz in
Vgl. generell Sascha Michel, Ordnungen der Kontigenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um (Wieland – Jean Paul – Brentano), Tübingen . Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. : »die Einmischung des Erzählers bzw. des Autors (insofern man überhaupt im Hinblick auf die Trennung von Autor und Erzähler von Autor-Einmischungen in fiktionalen Texten sprechen will), sind nur sehr bedingt und unter bestimmten Umständen als Fiktionssignale anzusehen.« In der Tradition der Rhetorik wäre die Beglaubigung des Erzählers hingegen legitim: »Ist der der Tatsächlichkeit entsprechende Inhalt der narratio des Redners überzeugungskräftig darstellbar, so müssen die Kunstmittel zur Überzeugungsherstellung auch benutzt werden, da die Tatsächlichkeit selbst durchaus noch nicht glaubwürdig-wahrscheinlich ist: Her. I,, si vera res erit, nihilominus haec omnia narrando conservanda sunt; nam saepe veritas, nisi haec servata sint, fidem non potest facere. – Ist der Inhalt (ganz oder teilweise) unwahr (ficta), so sind die Kunstmittel erst recht notwendig: Her. I,, sin erunt ficta, eo magis erunt conservanda (scil. praecepta).« Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Bd. , München , § , S. . Petersen, Fiktionalität und Ästhetik, S. . Zum Begriff vgl. Kapitel ..
ihrer erzählten Welt verharrt. Die Erzählerbeschwörung »ich kann nichts davon oder dazu tun« verkehrt sich damit von einem der unbedingten Wahrheit verpflichteten, gleichsam automatischen Schreibvorgang in eine Poietisierungsstrategie, die die ganze Macht des jederzeit autonomen und ungebundenen Erzählers in Erinnerung ruft. Es verwundert nicht, daß in ›Die Judenbuche‹ eine derart ›ästhetisierende‹, nämlich Kunst markierende Formel ein zweites Mal an prominenter Stelle Verwendung findet. Bevor im letzten Satz die Inschrift der Judenbuche wiedergegeben wird, heißt es: »Dieß hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs .« (S. ) Selbst wenn man nicht nach den ›Nebenumständen‹ fragt, kann das »wirklich so begeben« keinesfalls überzeugen. Im Gegenteil macht die genaue Datierung des Todesfalls auf den September stutzig, wenn man bedenkt, daß Johannes Niemand beziehungsweise Friedrich Mergel am Heiligen Abend desselben Jahres in seine Heimat zurückkehrt. Eine Rückkehr kann schlechterdings nicht nach der Erhängung erfolgen, so daß nicht nur das »wirklich so begeben« die Fiktionalität anzeigt, sondern auch die vermeintlich ›falsche‹ Jahreszahl. »Nach allen Hauptumständen« hat sich also nichts »wirklich so begeben«, schon gar nicht »im September des Jahrs «.
Aust, Literatur des Realismus, S. : »je täuschender die Kunst, desto realistischer ihr Ruf.« Vgl. Heinrich Henel, Annette von Droste-Hülshoff: Erzählstil und Wirklichkeit. In: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, hg. von Egon Schwarz, Hunter G. Hannum und Edgar Lohner, Göttingen , S. –; hier S. : »Wenn dennoch die Wirklichkeit der Geschehnisse behauptet wird, so ist dies kein Betrug, sondern Betonung einer Erzählhaltung, die auf die Allwissenheit des Erzählers verzichtet. Das Wissen der Menschen über die Wirklichkeit ist immer beschränkt; nur Gott ist allwissend. In der Dichtung dagegen spielt der Autor die Rolle des Schöpfers, der in der von ihm geschaffenen Welt über alles Bescheid weiß. Die Fiktion von der Wirklichkeit der dargestellten Welt ist also nötig, um den Darsteller von der Allwissenheit zu befreien. Sie entlastet ihn und erlaubt ihm, sich als bloßen Berichterstatter auszugeben, der nicht mehr weiß, als was er in Erfahrung hat bringen können.« Vgl. Droste-Hülshoffs Äußerung zur der ›Judenbuche‹ zugrunde liegenden ›Quelle‹ ›Geschichte eines Algiererer-Sklaven‹ in einem Brief an Christoph Bernhard Schlüter, . August : »ich habe jetzt wieder den Auszug aus den Ackten gelesen, den mein Onkel August schon vor vielen Jahren in ein Journal rücken ließ, und dessen ich mich nur den Hauptumständen nach erinnere«. Annette von Droste-Hülhoff, Briefe. –. Text, bearbeitet von Walter Gödden und Ilse-Marie Barth, Tübingen , S. –, hier S. . – Auf diese Äußerung von Droste-Hülshoff komme ich im Abschlußkapitel der vorliegenden Arbeit zurück. Zur paradoxen Datierung vgl. die Ausführungen in Kapitel . der vorliegenden Arbeit.
. Zusammenfassung Die zeitgenössische Programmatik des ›Poetischen Realismus‹ zieht die Grenzen von der idealistischen Utopie bis hin zur naturalistischen Wirklichkeitsabbildung. Zwischen diesen beiden diskreditierten Gegenpolen bewegt sich der Versuch eines ›realidealistischen‹ Literaturprogramms. Literatur soll auf die gegenwärtigen Zeitumstände reagieren, sie zur Darstellung bringen und ihnen objektive Gültigkeit verschaffen. Gleichzeitig wird die Verklärung der als unbefriedigend erfahrenen Wirklichkeit zum Programm. Moralisch hochstehende Werte, ›das Wesentliche‹ soll in der Dichtung zum Ausdruck kommen, ohne dadurch die Gesetze der Wahrscheinlichkeit außer acht zu lassen. Als zeitgemäße Gattung gilt der Prosaroman beziehungsweise die Prosanovelle. Diese Bevorzugung erfüllt das Wirklichkeitspostulat durch die nicht künstliche, prosaische Sprache. Andererseits ist eine solche ›Authentizität‹ das Manko einer nach der klassischen Poetik nicht hochstilfähigen Gattung, zumal auch der Verzicht auf den rhetorischen ornatus explizite Forderung der Programmatiker ist. Um die als notwendig erachtete Nobilitierung der Prosaform ist man trotzdem bemüht. Zum einen werden mit dem Verweis auf inhaltliche Aspekte wiederum Forderungen nach Verklärung laut (etwa Aussparung des Häßlichen, Kranken etc.), zum anderen gilt die Ausübung und Verbesserung der Prosaschriftstellerei als notwendiger Schritt, um zu einem späteren Zeitpunkt zum Vers zurückzukehren. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Realismus hat sich intensiv mit ›poetischen‹ Erzählstrategien beschäftigt, auch um die deutsche Literatur des mittleren und späten . Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer ›radikalrealistischen‹ Literatur insbesondere Frankreichs zu rechtfertigen. Wenn dabei die ›Künstlichkeit‹ dieser Literatur im Vordergrund steht, so wird verkannt, daß diese Poetisierung des Realismus letztlich ein mimetisches Verfahren ist: »das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« kommt zur Darstellung, eine ›wahrscheinliche‹ und ›wesentliche‹ Welt wird konstruiert.
Aristoteles, Poetik, S. . Vgl. die historische Tradition der Gattung Novelle: »Die ›Novellen‹, Zeitungen oder Journale des . Jahrhunderts sind charakterisiert durch ihren Wahrheitsanspruch. […]. Sie stehen mithin der Poesie so fern, wie sie der Geschichtsschreibung naherücken. Wie diese stützen sich die Zeitungen (nach Möglichkeit) auf schriftliche Quellen, ihre Berichte sind datiert und lokalisiert. Letzteres spielt für die später als Erzählungen oder Novellen publizierten literarischen Prosa-Werke eine bedeutende Rolle und verweist immer wieder auf deren Publikationsorgan.« Reinhart Meyer, Novelle und Journal, Bd. : Titel und Normen. Untersuchungen zur Terminologie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen [mehr nicht erschienen.], Stuttgart , S. .
Erst die frappante Bevorzugung von poietischen Strategien ästhetisiert die Literatur des Realismus. Die novellistische Prosa stellt sich als ›gemacht‹ dar, sie durchbricht Konzepte ›einfacher‹ Darstellung, stört Darstellung oder markiert sie als Fiktionskonstrukt. Insbesondere literarische Beglaubigungsformeln bewirken das Gegenteil des Gesagten: Kunst kann nicht ›wirklich so sein‹. Wo sie es behauptet, thematisiert sie ihre Künstlichkeit und signalisiert ihren Realismus als poietisch statt mimetisch.
Vgl. Breuers Resümee zur novellisitschen Erzählform im . Jahrhundert: »Entsprechend wimmelt es bei Rosset, Camus, Zeiller und Harsdörffer von Beteuerungen der Faktizität und Neuheit, die nicht nur als Vermeidung des platonischen Lügenvorwurfs, sondern auch als Versuche einer ›Überbietung‹ des Romans durch imaginierende Ekphrasis und Kartographisierung von Erfahrungswissen in einer stetigen Perfektionierung der optischen und geometrischen, aber auch der erzählerischen Täuschungen zu werten sind.« Ingo Breuer, Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des . Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart, Weimar , S. –; hier S. .
. Adalbert Stifter ›Bunte Steine‹
Kurz vor Weihnachten veröffentlicht Adalbert Stifter sein ›Festgeschenk‹ ›Bunte Steine‹. Versehen mit einer ›Vorrede‹ und einer ›Einleitung‹, bietet der erste Band die Novellen ›Granit‹, ›Kalkstein‹, ›Turmalin‹, der zweite Band die Novellen ›Bergkristall‹, ›Kazensilber‹ und ›Bergmilch‹. Mit Ausnahme von ›Kazensilber‹ liegen allen Novellen frühere Fassungen, nämlich die ab publizierten sogenannten ›Journalfassungen‹ zugrunde. Als exemplarische Analyse eines Novellenzyklus soll im folgenden, ausgehend von der Buchfassung, zunächst das Verhältnis von ›Vorrede‹ und ›Einleitung‹ bestimmt werden (Kapitel .). Es schließen sich detaillierte Einzelanalysen von ›Turmalin‹, ›Granit‹ und ›Kalkstein‹ an (Kapitel .), die – anders als ›Bergkristall‹, ›Kazensilber‹ und ›Bergmilch‹ – auf komplexen Rahmensituationen gründen (Kapitel .). Überlegungen zur Symbolik der titelgebenden Steine und damit zum zyklischen Zusammenhalt der Novellen runden die inhaltlichen Analysen ab (Kapitel .).
. Groß und Klein, Sein und Schein Die Novellensammlung ›Bunte Steine‹ ist keine willkürliche Zusammenstellung bereits veröffentlichter Erzählungen, sondern ein streng komponierter Zyklus. Zwar fehlt eine die einzelnen Novellen miteinander verknüpfende Rahmenhandlung, doch ist ein ganz anderer Zusammenhang bereits durch den Titel gegeben: angekündigt wird eine Sammlung ›Bunter Steine‹, die ihre Vorgänger wie etwa ›Wirkungen eines weißen Mantels‹ (; später ›Bergmilch‹) oder ›Der Pförtner im Herrenhause‹ (; später ›Turmalin‹) nicht mehr wiedererkennen läßt. Nachdrückliche Hinweise auf das Konzept der Zusammenstellung bietet die ›Einleitung‹. Anders als noch die ›Vorrede‹ ist die ›Einleitung‹ nicht mehr mit dem Namenszug Stifters gezeichnet, vielmehr unterschreibt mit »Im Herbste . / Der Verfasser« (S. ). Dieser Verfasser erzählt, wie er
Im Druck sind die beiden Bände gleichwohl später datiert: Bunte Steine. Ein Festgeschenk von Adalbert Stifter, Bde., Pest, Leipzig . Zitiert wird nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe (HKG) der Werke Stifters: Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart u.a. ff. Im folgenden abgekürzt
als Knabe »allerlei Steine und Erddinge« (S. ) gesammelt hat, beschreibt die Umgebung seiner Kindheit und ruft die Freude an den Sammelobjekten ins Gedächtnis. Schließlich heißt es: Dieser Sammelgeist nun ist noch immer nicht von mir gewichen. […] ich lege ja auch hier eine Sammlung von allerlei Spielereien und Kram für die Jugend an, an dem sie eine Freude haben, und den sie sich zur Betrachtung zurecht richten möge. (›Einleitung‹, S. )
Unterhaltsame Jugendliteratur also erwartet den zum produktiven Umgang mit den »Spielereien« gezwungenen Leser (»zurecht richten möge«), und nicht einmal das horazische delectare bleibt dabei ungetrübt; sollte ein »Glasstück« unter den »Steinen« sein, möge man dem Verfasser zufolge bedenken: »es hat doch allerlei Farben, und mag bei den Steinen belassen bleiben« (S. ). Man könnte diese Wendungen als eine bloße captatio benevolentiae abtun. Die Bitte, derartige (literarische) »Spielereien und Kram für die Jugend« nicht sonderlich ernst zu nehmen, wäre demnach ein Versuch, anspruchsvolle Leser milde zu stimmen. Die poetologische Aussagekraft der ›Einleitung‹ manifestiert sich jedoch noch ›wesentlicher‹ im konkreten Bezug auf die ›Bunten Steine‹. Die literarische Fiktion des Steine sammelnden Knaben ist das Abbild des erwachsenen Künstlers, der gleichfalls »Spielereien und Kram« sammelte, um sie hier vorzulegen. Anstelle eines Eingangsrahmens steht diese ›Einleitung‹, doch erfüllt sie einen ganz ähnlichen Zweck, indem sie eine Begründung für die Mitteilung der folgenden Novellen liefert: die ›Bunten Steine‹ gibt es, weil sie mit freudigem Eifer gesammelt wurden; sie werden vorgelegt, um ihrerseits Freude zu bereiten. Die Geringschätzung der literarischen Qualität – bereits die Schlußworte der ›Vorrede‹ leiten über zu den »harmlosen folgenden Dingen« (S. ) – muß den »Verfasser« dabei nicht unbedingt bekümmern, da sein Anteil an der Sammlung zweifelhaft ist. Wenn nämlich die Analogie zwischen den Steinen und den vorliegenden Novellen konsequent zu Ende gedacht wird, so sind auch die Novellen naturgegeben, allenfalls bearbeitet worden: »Ich machte Täfelchen Würfel Ringe und Petschafte aus dem Steine«, »ein Stein, der so fein und weich ist, daß man ihn mit einem Messer schneiden kann«, »daß man den Stein mit einem zarten Firnisse anstreichen müsse« (alle Zitate S. ). Viel mehr noch als die Bearbeitung des Steines steht dessen eigene, beinahe magische Veränderbarkeit im Vordergrund, die als äußeren, ›un-wesentlichen‹ Faktor das Licht zur Ursache hat: als: HKG Band, Seite. Bei Erstnennung eines Einzelbandes erfolgt die vollständige Literaturangabe. Zitate aus ›Bunte Steine‹ werden mit bloßer Seitenangabe nachgewiesen: Adalbert Stifter, Bunte Steine. Buchfassungen, hg. von Helmut Bergner, Stuttgart u.a. . Die Zitate werden, wenn notwendig, nach den Emendationshinweisen in HKG ,, S. – hergestellt. Adalbert Stifter, Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat, Kommentar. Teil I, hg. von Walter Hettche, Stuttgart, Berlin, Köln .
Besonders hatte die Verwunderung kein Ende, wenn es auf einem Steine so geheimnißvoll glänzte und leuchtete und äugelte, daß man es nicht ergründen konnte, woher denn das käme. (›Einleitung‹, S. )
Der Stein verändert sich also je nach Betrachtung, nicht jedoch aus sich selbst heraus, ganz gemäß der Empfehlung an die Jugend, sie möge sich die Sammlung »zur Betrachtung zurecht richten« (S. ). Wie nun der Stein also keineswegs Schöpfung des Künstlers ist, so ist auch die Sammlung ein ungewisses Etwas, scheint zufällig in Auswahl und Anordnung: »Weil es unermeßlich viele Steine gibt, so kann ich gar nicht voraus sagen, wie groß diese Sammlung werden wird« (S. ). Die Novellensammlung eröffnet ihren ›realistischen‹ Charakter also mit einer Analogie zur (unbelebten) Natur. Der Verfasser stellt sich als Herausgeber des Gefundenen dar; und diese ohnehin kaum glaubhafte Fiktion wird durch dezidierte Poiesis-Merkmale weiter ästhetisiert. Wiederum in Analogie zu Steinen liegen die Novellen eben nicht naturbelassen, sondern in künstlerisch bearbeiteter Form vor: »Ich machte Täfelchen Würfel Ringe und Petschafte aus dem Steine« (S. ). Überdies verlangen die Novellen eine je eigenständige, selbsttätige Rezeptionshaltung. Der Verfasser wünscht, daß der Leser sich die »Spielereien«, Gegenstände zur zweckfreien Beschäftigung, »zur Betrachtung zurecht richten möge« (S. ). Solch poetologische Reflexionen in der ›Einleitung‹ sind insofern erstaunlich, als bereits in der ›Vorrede‹ die prominente Begründung des ›Sanften Gesetzes‹ geleistet und damit den dichtungstheoretischen Überlegungen ein eigener Raum geschaffen wurde. Zweifelsfrei ist jedoch die mit »Im Herbste . Adalbert Stifter.« (S. ) unterschriebene ›Vorrede‹ von primär poetologischem Gehalt, während die ›Einleitung‹ bereits eine literarische Fiktion entwirft (»Als Knabe trug ich […] Dinge nach Hause, […] nehmlich allerlei Steine und Erddinge«, S. ) und gar die poetologische Reflexion nur noch sekundär und gleichsam metaphorisch zu erschließen ist: die hier angelegte »Sammlung« (S. ) gibt sich zu keinem Zeitpunkt explizit als Textsammlung zu erkennen, differenziert oder vielmehr parallelisiert wird nur zwischen dem Sammeln als Knabe und dem »noch immer nicht von mir gewichen[en]« Sammelgeist (S. ). Tatsächlich geben sich die Novellen expressis verbis auch nicht als Erzählungen, sondern als Steine zu erkennen: ›Granit‹, ›Kalkstein‹, ›Turmalin‹, ›Bergkristall‹, ›Kazensilber‹, ›Bergmilch‹. Entsprechend wenig eindeutig ist die Gemeinsamkeit der ›Stimme‹ von »Adalbert Stifter« in der ›Vorrede‹ und der des »Verfassers« in der ›Einleitung‹.
Da der Begriff inzwischen nicht nur in der Stifter-Forschung als terminus technicus fungiert, wird hier auf Wiedergabe der originalen Schreibung Stifters (»das sanfte Gesez«, S. ) verzichtet. Vgl. Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, hg. von Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel, Berlin, New York .
Immerhin ähnlich klingt die Beteuerung des Verfassers, er »lege ja auch hier eine Sammlung von allerlei Spielereien und Kram für die Jugend an« (S. ), zur derjenigen Stifters in der ›Vorrede‹: »[so] bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes an zu bieten, nehmlich allerlei Spielereien für junge Herzen« (S. ). Diese Doppelung ist nur schwerlich aufzulösen, denn insbesondere wenn man den hier gebrauchten Verben Glauben schenken möchte, so müßte man mit nicht geringen Zweifeln feststellen, daß die vom Verfasser der ›Vorrede‹ instruierte ›Stimme‹ der ›Einleitung‹ die Sammlung anlegt, die Ersterer anbietet. Plädiert man auf Identität der Stimmen, dann ist der als »Adalbert Stifter« benannte Verfasser der ›Vorrede‹ Teil der literarischen ›Einleitungs‹-Fiktion, die der Sammlung vorsteht – eine literarische Fiktion freilich, die schon bei vollständigem Zitieren der ersten beiden Sätze der ›Vorrede‹ ins Auge fallen müßte: Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes an zu bieten, nehmlich allerlei Spielereien für junge Herzen. (›Vorrede‹, S. )
Und wenn nicht? – Man mag die Textstelle mit dem Verweis auf die Bescheidenheitsformeln der Proömientopik hinnehmen oder gleich zur Interpretation des Sanften Gesetzes übergehen, aber es bleibt doch die Möglichkeit, daß Stifter nicht nur das Kleine bildet und daß seine Menschen keineswegs gewöhnliche Menschen sind. Sollte diese Möglichkeit erwogen werden, müßten die Novellen ihren Status als bloße »Spielereien für junge Herzen« verlieren, und der Verfasser würde auch nicht »ein noch Kleineres und Unbedeutenderes [anbieten]«. Im objektiven Sinne ›klein‹ sind nicht die Pest in ›Granit‹, nicht das Gewitter in ›Kalkstein‹ oder die Schneekatastrophe in ›Bergkristall‹, weder der stadtbekannte Ehebruch in ›Turmalin‹ oder das Feuer in ›Kazensilber‹ noch etwa die Kriegsereignisse in ›Bergmilch‹. »Gewöhnliche Menschen« sind Vater und Tochter in ›Turmalin‹ genausowenig wie das braune Mädchen in ›Kazensilber‹ oder etwa der so unauffällig-demutsvoll sich gebende Karpfarrer in ›Kalkstein‹. Bekanntlich folgt das Sanfte Gesetz einer anderen Auffassung: Weil wir aber schon von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft das Rieseln des Wassers das Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres das Grünen der Erde das Glänzen des Himmel das Schimmern der Gestirne halte
Dem Sinn nach ähnlich heißt es in der Handschrift H: »Ich übergebe hier […] einige Erzählungen.« Die handschriftliche Druckvorlage hat das komplexere »bieten zu müssen«. HKG ,, S. f. Vgl. Hans Geulen, Stiftersche Sonderlinge. »Kalkstein« und »Turmalin«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, , , S. –.
ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Bliz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Geseze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor, und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. (›Vorrede‹, S. )
Während das hier ›Kleine‹ Ergebnis »einseitiger Ursachen« und gleichsam selbst dynamischer Verursacher diverser Katastrophen ist (das Phänomen ist mit einem Relativsatz an das Unglück gekoppelt: »Bliz, welcher Häuser spaltet«), so sind die hier ›großen‹ Dinge eine Enumeratio beinahe statischer Naturerscheinungen und – wenn man die Opposition aufrecht erhalten möchte – weder »Wirkungen viel höherer Geseze« noch »Ergebnisse einseitiger Ursachen«, sondern das höhere Gesetz und die Ursache selbst. Das Große ist das Beständige und geht »auf das Ganze und Allgemeine«, während die Einzelheiten und ihre Wirkungen »nach Kurzem kaum noch erkennbar« sind (S. ). Wenn man nun in den Novellen die Katastrophen und Unglücke als ›klein‹ anerkennt und damit auch der einleitenden Bemerkung der ›Vorrede‹ Glauben schenkt, hier werde »noch Kleineres und Unbedeutenderes« geboten, so bleiben die tatsächlich langwierigen, unaufgeregten Passagen in den Novellen außer acht. Ein Zitat aus ›Kazensilber‹ mag stellvertretend für zahlreiche weitere Belegstellen stehen: Dann gingen sie in den Wald, wo es dunkel war, wo die Beeren und Schwämme standen, die Moossteine lagen, und ein Vogel durch die Stämme und Zweige schoß. Sie pflükten keine Beeren, weil sie nicht Zeit hatten, und weil schon der Sommer so weit vorgerükt war, daß die Heidelbeere nicht mehr gut war, die Himbeere schon aufgehört hatte, die Brombeere noch nicht reif war, und die Erdbeere auf dem Erdbeerberge stand. Sie gingen auf dem sandigen Wege fort, den der Vater an vielen Stellen hatte ausbessern lassen. Und als sie bei dem Holze vorbei waren, das im Sommer geschlagen worden war, und noch ein Weilchen auf dem Sandwege gegangen waren, kamen sie wieder aus dem Walde hinaus. (›Kazensilber‹, S. )
Bereits die zeitgenössische Kritik hat an Adalbert Stifters Prosa die (vermeintliche) Ereignislosigkeit und Harmlosigkeit vielfach getadelt. Nicht zuletzt Friedrich Hebbel polemisiert in seinem zuerst veröffentlichten Epigramm ›Die alten Naturdichter und die neuen. (Brockes und Geßner, Stifter, Kompert u. s. w.)‹: »damit ihr das Kleine vortrefflich / Liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt.« Auf derartige Vorwürfe geht Stifter ein, wenn er bekennt, daß »einmal gegen mich bemerkt worden [ist], daß ich nur das Kleine bilde«, und er übernimmt diese Terminologie in der Ankündigung, mit den folgenden »Spielereien« würde ein »noch Kleineres und Unbedeutenderes« angeboten. Die bereits erläuterte Umdeutung des ›Kleinen‹ durch Stifter vermag aber nicht nur wegen der semantischen Besetzung eines Wortes mit sei
Friedrich Hebbel, Dramen VI: Demetrius . Gedichte I: Gesamt-Ausgabe . Gedichte II: Aus dem Nachlass –, Berlin , S. .
nem Antonym schwerlich zu überzeugen, vielmehr spricht die breite Darstellung nämlich sowohl des ›Kleinen‹ als auch des ›Großen‹ (egal in welcher Bedeutung) gegen die Hervorhebung nur einer der beiden Qualitäten. Die Ausführungen Stifters zum Sanften Gesetz entbehren damit jeder poetologischen Anleitung, sowohl für den Autor als auch für den Interpreten. Was in der ›Vorrede‹ im Stil einer Paralipse erörtert wird, ist zunächst kein strenges dichtungstheoretisches Bekenntnis, sondern Zufallsprodukt: »Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Absichten darlegen« (S. ). Eigentlich sollte gelten: »Großes oder Kleines zu bilden hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesezen geleitet« (S. ). Wie der Steinesammler der ›Einleitung‹ (S. ) hat der Verfasser der ›Vorrede‹ die Absicht, Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schiken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen […]. (›Vorrede‹, S. f.)
Neben dem reinen delectare allerdings – und dem Grüßen – ist hier gleichfalls das von Horaz postulierte und dichtungstheoretisch höchst wirksame ›aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul‹ als »Absicht bei meinen Schriften« (S. ) benannt. Dieser Nutzen ist von moralischer Art, und im hyperbolischen Diminutiv »ein Körnlein Gutes« wird das im folgenden mit dem Sanften Gesetz einhergehende »Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe« (S. ) begründet. Dieses Gesetz will, ganz im Sinne von Mt. , , daß jeder Mensch »sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist« (S. ). Wer allerdings nun die ›Bunten Steine‹ als Erbauungsliteratur betrachten möchte und (wohlbegründet) schließlich doch das Sanfte Gesetz wirken sieht, der wird zu Beginn der ›Vorrede‹ durch eine Erklärung zu den nachfolgenden »Spielereien« verstört: »Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte geprediget werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind« (S. ). Wenn damit nur noch auf das ›Sein‹ abgezielt wird, die Wirkungsmöglichkeiten der Dichtung, delectare beziehungsweise prodesse, also bestenfalls sekundäre Effekte sind, dann muß gelten, daß die folgenden Seiten nichts mit Dichtung zu tun haben. »Spielereien« sind keine Kunst, geschweige denn »Hohes und Erhabenes« (S. ), und folgerichtig heißt es in der ›Vorrede‹, »daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten« (S. ). Mit dieser poetologischen
Eine Vielzahl weiterer Bezugsmöglichkeiten zum ›Sittengesetz‹ (an erster Stelle freilich Immanuel Kant) nennt Walter Hettche im Kommentarband zu den ›Bunten Steinen‹. HKG ,, S. –. Man beachte allerdings die ihnen gemeinsame Zweckfreiheit.
Ontologie steht der Verfasser der ›Vorrede‹ mit dem der ›Einleitung‹ ein weiteres Mal in Widerstreit. Dieser nämlich läßt die Sammlung nur insofern gelten, als die Jugend sie sich »zur Betrachtung zurecht richten möge« (S. ), er berichtet ferner von seiner Bearbeitung der Steine (S. ), welche wiederum Verwunderung gerade dann auslösen, »wenn es auf einem Steine so geheimnißvoll glänzte und leuchtete und äugelte, daß man es gar nicht ergründen konnte, woher denn das käme« (S. ). Während also das Wesen der Steine – laut ›Einleitung‹ – im produktiven Umgang mit ihnen zum Vorschein kommt, zum einen durch den Sammler und zum anderen durch den (ans Licht haltenden) Betrachter der Sammlung, so wird den »Schriften« (S. ) in der ›Vorrede‹ ein Sein eo ipso unterstellt. Diese ontische Basis ist jedoch vom Charakter des Verfassers abhängig, denn wenn das Edle und Gute ihm nicht zu eigen sind, »werde ich mich vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen« (S. ). Demnach sind die Novellen zweifelsfrei ›gemacht‹, wirken durch sich selbst, sind jedoch in ihrer Wirkung von der Gesinnung des Künstlers abhängig. In der ›Einleitung‹ hingegen wird postuliert, die Bestandteile der Sammlung seien gefunden, von der Betrachtung abhängig und entfalten ihre Wirkung durch den Schein. Die Differenz zwischen ›Einleitung‹ und ›Vorrede‹ läßt sich mit dem Verweis auf den Verlust mimetischer Exaktheit beim Wechsel von extra- zu intradiegetischem Erzählen noch halbwegs zufriedenstellend erklären. Keinesfalls verständlich ist jedoch die Behauptung der ›Vorrede‹, in den nachfolgenden Novellen solle »nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, […], sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind« (S. ). In ›Turmalin‹ etwa, einer Novelle, deren Tragik sich nicht zuletzt im Ehebruch begründet, wird erzählt, wie weit der Mensch kömmt, wenn er das Licht seiner Vernunft trübt, die Dinge nicht mehr versteht, von dem innern Geseze, das ihn unabwendbar zu dem Rechten führt, läßt, sich unbedingt der Innigkeit seiner Freuden und Schmerzen hingibt, den Halt verliert, und in Zustände geräth, die wir uns kaum zu enträthseln wissen. (›Turmalin‹, S. )
Ganz entschieden von Tugend und Sitte handeln zumindest auch ›Granit‹ und ›Kalkstein‹. Wenn man überdies Stifters Ausführungen über das ›Sittengesetz‹ (S. –) in der ›Vorrede‹ gelten läßt, so sind auch ›Bergkristall‹, ›Kazensilber‹ und ›Bergmilch‹ unbedingt in das Korpus der tugendhaft-sittsamen Novellen aufzunehmen. Die Widersprüchlichkeit von ›Vorrede‹, ›Einleitung‹ und den Novellen selbst ist von hochartifizieller Art. Die doppelte Rahmung durch zwei einleitende Texte läßt sich weder durch die Nivellierung zu nur einem Rahmen verstehen noch durch ein hierarchisierendes Rahmengefüge von extra- und intradiegetischem Erzählen. Demnach kann festgestellt werden: () Die ›Vorrede‹ von »Adalbert Stifter« (S. ) ist nicht nur in sich explizit widersprüchlich, sondern wird mit ihren poetologischen wie auch interpretatorisch anleitenden
Ausführungen von den nachfolgenden Novellen konterkariert. () In der ›Einleitung‹ des »Verfassers« (S. ) ist bezeichnenderweise an keiner Stelle von den nachfolgenden Novellen die Rede, vielmehr wird die Kindheitsfiktion des Steinesammelns mit der vorliegenden Sammlung verknüpft, ›lapidar‹, ausschließlich auf ›Bunte Steine‹ bezogen. Somit wäre anzunehmen, daß für die »keineswegs für junge Zuhörer passende Vorrede« (S. ) und die ›Einleitung‹, in der die Sammlung als »für die Jugend bestimmt« (S. ) gilt, verschiedene Erzählebenen bemüht werden. () In der Erzählchronologie ist die ›Vorrede‹ der ›Einleitung‹ vorangestellt; demnach folgt der extradiegetischen Erzählebene die intradiegetische, wie es auch der Schritt von der poetologischen Stellungnahme zur literarischen Fiktion nahelegt. Diese Fiktion, die ihrerseits den Paratext ›Titel‹ (›Bunte Steine‹) begründet, spricht von der ›Anlegung‹ (S. ) und dem ungewissen Abschluß der Sammlung (S. ), die jedoch in der ›Vorrede‹ bereits ›angeboten‹ (S. ) worden ist. Selbst, wenn man dieses hysteron proteron nicht gelten läßt, so ist die Hierarchie der Erzählebenen durch die Instabilität der ersten Ebene hochgradig gefährdet. Wenn sich schon der Erzähler der ›Vorrede‹ als ›unzuverlässig‹ erwiesen hat, so sind die nachfolgenden Erzähler der – beziehungsweise innerhalb der – erzählten Welten in ihrer Entfernung vom mimetisch einzig zuverlässigen Kern eines (wie auch immer zu begreifenden) Ausgangsrahmens restlos poietische Erdichtungen. In diesem Sinne ist »Adalbert Stifter« zu folgen, wenn er vom Leser wünscht, »die Hervorbringungen [!] bescheidenerer Kräfte zu genießen, und mit mir zu den harmlosen folgenden Dingen über[zu]gehen« (S. ).
. ›Bunte Steine‹ aus zweiter Hand Einen Novellenzyklus im traditionellen Sinne wird man ›Bunte Steine‹ insofern nicht nennen können, als weder ein handlungsbegleitender Rahmen existiert noch die Herausgeberfiktion der ›Vorrede‹ beziehungsweise der ›Einleitung‹ Wiederaufnahme findet, gleichwohl ein solcher Bezug wegen des offenen Charakters der freilich abgeschlossenen Sammlung (»kann ich gar nicht voraus sagen, wie groß diese Sammlung werden wird«, S. ) keineswegs undenkbar wäre. Dennoch gibt es ganz offenkundig ein Bewußtsein für den übergeordne
Zur langwierigen Titelsuche noch während des Satzbeginns vgl. vor allem die Dokumente in HKG , (insbesondere S. –). Vgl. Claus-Michael Ort, Zyklische Dichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage, Bd. : Sl–Z, hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser, Berlin, New York , S. –; Claus-Michael Ort. Zyklus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. : P–Z, hg. von Jan-Dirk Müller u. a. Berlin, New York . S. –.
ten Zusammenhang der Novellen, der nicht in einer Rahmenhandlung mitgeteilt wird, sondern – erzähltechnisch höchst problematisch – in einer der Novellen selbst. Zu Beginn von ›Turmalin‹ heißt es: Es hat sich in vergangenen Zeiten zugetragen, wie sich das, was in den ersten zwei Stüken erzählt worden ist, in vergangenen Zeiten zugetragen hat. (›Turmalin‹, S. )
Der hier sich manifestierende Erzähler gibt in ›Turmalin‹ weiter, was er – wie der Leser später erfährt – von einer Freundin erfahren hat. Der Erzähler kennt das Geschehen also nur aus zweiter Hand und weiß daher weniger, als die Figuren wissen. Nachdem etwa die Liaison zwischen dem Schauspieler Dall und der Frau des Rentherrn bekannt geworden ist, verschwindet diese, »war ausgegangen, wie sie gewöhnlich auszugehen pflegte, und war nicht wieder gekommen« (S. f.), woraufhin der Rentherr sich mehrere Mal an Dall wendet: Nach einigen Tagen kam er abermals, kniete abermals nieder, und bath mit gefalteten Händen um sein Weib. Dall schwor, daß er nicht wisse, wo die Frau sei, und daß er sie nicht zurük geben könne. Der Rentherr kam nach einigen Tagen noch einmal, that dasselbe, und bekam dieselbe Antwort. Dann kam er nicht mehr. (›Turmalin‹, S. f.)
Das Verschwinden der Frau ist nicht das einzige Ereignis, das im weiteren Verlauf im Dunkeln bleibt, so daß man mit Blick auf die äußerste Objektivität des Erzählten festhalten kann, »that whatever there is of a ›plot‹ is neither complete nor coherent«. Erzählt wird eine (einstmals) stadtbekannte Geschichte, »man hatte mehr oder minder eine Ahnung von dem wahren Sachverhalte, und redete eine geraume Zeit davon« (S. ). Als Gewährsperson gilt eine Freundin des Erzählers, die später das Erzählen sogar selbst übernimmt, jedoch auch ihren Teil der Geschichte nicht restlos ›erklären‹ kann. Diese Vagheiten und damit auch das Mysteriöse werden bereits zu Beginn von ›Turmalin‹ angekündigt, wenn es heißt: Es ist darin wie in einem traurigen Briefe zu entnehmen, wie weit der Mensch kömmt, wenn er das Licht seiner Vernunft trübt, die Dinge nicht mehr versteht, von dem innern Geseze, das ihn unabwendbar zu dem Rechten führt, läßt, sich unbedingt der Innigkeit seiner Freuden und Schmerzen hingibt, den Halt verliert, und in Zustände geräth, die wir uns kaum zu enträthseln wissen. (›Turmalin‹, S. )
Der moralisierende Beginn deutet das detektorische Prinzip der Erzählung an und gibt damit sowohl deren stringenten Aufbau (»wie weit der Mensch kömmt, wenn er […]«) als auch die desinformierte Außensicht des Erzählers zu
Karen J. Campbell, Towards a Truer Mimesis: Stifter’s Turmalin. In: German Quarterly, , S. –; hier S. . Es wird also immerhin in der Geschichte vorausausgesetzt, daß es »wahre Sachverhalte« gibt – wenngleich sie zu einer »mehr oder minder« angemessenen »Ahnung« transformiert werden. Gleiches wird auch für ›Kalkstein‹ in Anspruch genommen. Vgl. Hans Geulen, Stiftersche Sonderlinge.
erkennen (»[…] in Zustände geräth, die wir uns kaum zu enträthseln wissen«). Um so mehr verwundert daher der Vergleich der Erzählung mit »einem traurigen Briefe«. Spätestens seit dem . Jahrhundert darf der Brief als das maßgebliche Medium der (kommunizierten) Selbstaussprache gelten. Die Subjektivität eines Privatbriefs, hier sogar »traurige« Empfindungen bewußt mit einschließend, ist schwerlich vereinbar mit dem Erzählstil, der in ›Turmalin‹ gepflegt wird. Der Vorwurf schließlich, der im obigen Zitat offenbar wird, richtet sich gegen die wahrlich geplagte Hauptfigur. Beim Rentherrn, der seine »wunderschöne Frau« (S. ) gleich zwei Mal verliert, sei »das Licht seiner Vernunft [ge]trübt«. Der erste Schicksalsschlag ist das Verhältnis seiner Frau mit dem Schauspieler Dall. Eben jener Dall, der ein gern gesehener Gast in der Wohnung des Rentherrn ist und für den eigens ein Rollsessel angefertigt wird: In diesem Rollsessel saß er gerne, wenn er kam, und man überließ sich der Plauderei. Auf diese Weise verging eine geraume Zeit. Endlich fing Dall ein Liebesverhältniß mit der Frau des Rentherrn an, und sezte es eine Weile fort. Die Frau selber sagte es endlich in ihrer Angst dem Manne. (›Turmalin‹, S. )
Dall flüchtet vor dem zornigen Rentherrn, doch nachdem klar ist, daß sich nichts Besonderes ereignete, und die Dinge ihren Gang zu gehen schienen, war Dall wieder in der Stadt, und wurde wieder auf der Bühne gesehen. Eines Tages verschwand die Frau des Rentherrn. Sie war ausgegangen, wie sie gewöhnlich auszugehen pflegte, und war nicht wieder gekommen. (›Turmalin‹, S. f.).
Nach dem dreimaligen Kniefall vor Dall und der vergeblichen Bitte, dieser möge ihm seine Frau wiedergeben, nimmt er »das kleine Kindlein aus dem Bette« (S. ) und geht fort. Spätestens hier verliert der Rentherr seinen Halt (vgl. S. ), er wird zum Bettelmusikanten, lebt mit seiner Tochter in einem Kellerloch und läßt diese ein ums andere Mal den Tod von Vater und Mutter aufschreiben. Die Erzählerin, von der sich der Erzähler inzwischen vertreten läßt, berichtet nach dem Fund der entsprechenden Papiere: Was soll ich davon sagen? Ich würde sie Dichtungen nennen, wenn Gedanken in ihnen gewesen wären, oder wenn man Grund Ursprung und Verlauf des Ausgesprochenen hätte enträthseln können. Von einem Verständnisse, was Tod was Umirren in der Welt und sich aus Verzweiflung das Leben nehmen heiße, war keine Spur vorhanden, und doch war dieses alles der trübselige Inhalt der Ausarbeitungen. Der Ausdruk war klar und bündig, der Sazbau richtig und gut, und die Worte obwohl sinnlos waren erhaben. (›Turmalin‹, S. )
»Kaum zu enträthseln« sei auch die gesamte Novelle ›Turmalin‹, wie der Erzähler eingangs erklärt hat (S. ). Während die Ausarbeitungen des Mädchens von »trübseligem Inhalt« sind, ist die Geschichte in toto ähnlich »einem trauri
Die von der Erzählung dergestalt vorgenommene (implizite) Zuschreibung ist erstaunlich genug, wenn man bedenkt, daß im zweiten (längeren) Teil der Erzählung vornehmlich das Mädchen im Mittelpunkt des Erzählinteresses steht.
gen Briefe« (S. ) gestaltet. Es scheint also in beiden Fällen eine sinnlich erfaßbare Bedeutungsebene zu geben, gleichwohl das epische Moment (»Grund Ursprung und Verlauf des Ausgesprochenen«) zumindest bei den Aufzeichnungen des Mädchens ebenso unerklärlich bleibe wie die Worte sinnlos. Immerhin die Grammatik sei korrekt und die Worte seien erhaben. »Dichtungen« jedoch sollen die Texte nicht genannt werden. Während der »Verlauf des Ausgesprochenen« noch verhältnismäßig nachvollziehbar ist, da – wenngleich lückenhaft – in der Binnenerzählung chronologisch erzählt wird, so ist der »Ursprung« des Ausgesprochenen im Sinne einer kohärenten Darstellung höchst fragwürdig. Die Erzählerin des zweiten Teils bürgt als am Handlungsgeschehen beteiligte Figur für deren Authentizität, zumal sowohl die Erzählperspektive als auch das Handlungsgeschehen vollständig auf sie zugeschnitten sind. Wie man jedoch aus der Einleitung zu ›Turmalin‹ weiß, ist die Hauptfigur des Ganzen der Rentherr, über den man freilich im zweiten Teil der Erzählung nicht viel mehr erfährt, als die Erzählerin selbst erlebt oder recherchiert hat. Die Vorgeschichte des Rentherrn jedoch, die gleichfalls »von einer Freundin her[rührt]«, nämlich besagter Erzählerin, ist auch ihr nur aus zweiter Hand bekannt: »Denn sie selber war zur Zeit, da die Begebenheit sich zugetragen hatte, noch zu jung gewesen, um viel von ihr berührt zu werden« (beide Zitate S. ). Der vermeintlich ›authentizierende‹ Erzählerwechsel trägt weder inhaltlich noch formal zu einer stringenten Darstellung bei. Im Gegenteil bleibt festzuhalten: ein Erzähler erzählt, was ihm eine Freundin erzählte, die selbiges erzählt bekam; im zweiten Teil der Erzählung, erzählt diese Freundin schließlich selbst. Auch die Entfernung des Erzählers von seinem Gegenstand ist also »kaum zu enträthseln« (S. ), denn sie wird gleichsam en passant mitgeteilt, beiläufig zwischen erstem und zweitem Teil der Erzählung: »Wir lassen nun aus ihrem Munde das Weitere folgen« (S. ). Wenn bereits die scheinbar beglaubigende Erzählerin ein (Erzähl-)Konstrukt ist, so gilt das noch viel mehr für die eigentliche Geschichte. Der Rah
Die Kategorie des Erhabenen spielt bereits in der ›Vorrede‹ eine große Rolle. Ebenfalls an die ›Vorrede‹ erinnern beispielsweise die Varianten zu S. , Zeile – in H und H, in denen ein »allgemeines Gesez« zur Sprache kommt, während Stifter später vom »inneren Geseze« spricht; vgl. HKG ,, S. f. Zur Parallelität der Textstellen und der mehrschichtig thematisierten Kunst in ›Turmalin‹ vgl. besonders Eva Geulen, Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters, München . S. –; Eva Geulen, Adalbert Stifters Kinder-Kunst. Drei Fallstudien. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, , , S. –; hier S. –; Campbell, Mimesis. Pointiert merkt Beatrice Mall-Grob dazu an: »Die Vielzahl der an der Rede beteiligten Münder macht ihre Autorisation durch den einen Mund fraglich.« Beatrice MallGrob, Fiktion des Anfangs. Literarische Kindheitsmodelle bei Jean Paul und Adalbert Stifter, Stuttgart, Weimar , S. .
menerzähler ist nämlich nicht primäre Vermittlungsinstanz seiner Binnenerzählungen. Er tritt nur selten als merkwürdig kollektives »wir« in Erscheinung (S. , ) und weist mehrfach darauf hin, daß sich das Erzählte »in vergangenen Zeiten zugetragen hat« (S. ; , , ). Der Anfang der ersten Binnenerzählung (»In der Stadt Wien wohnte vor manchen Jahren ein wunderlicher Mensch«, S. ) muß zunächst noch zweifelsfrei dem Erzähler zugeschrieben werden, doch hat dieser sich bereits im ersten Satz dementsprechend entindividualisiert: »was da erzählt wird, ist sehr dunkel« (S. ). »Was da erzählt wird« ist nicht das, ›was ich erzähle‹. Der Rahmenerzähler, der sich die Binnenerzählung einer Figur gerade nicht zu eigen macht, verabschiedet sich damit von seiner erzählten Welt. Dieser Rahmenerzähler hat, wie bereits oben festgestellt worden ist, Kenntnis von den beiden vorangegangenen Erzählungen der ›Bunten Steine‹; er bezieht sich auf das, »was in den ersten zwei Stüken erzählt worden ist« (S. ). Auch diese sind Rahmenerzählungen. In ›Granit‹ berichtet ein Erzähler, wie er als Junge nach einer unverschuldeten Missetat von seinem Großvater eine Geschichte erzählt bekommt. Zum Schluß heißt es: Wie es aber auch seltsame Dinge in der Welt gibt, die ganze Geschichte des Großvaters weiß ich, ja durch lange Jahre, wenn man von schönen Mädchen redete, fielen mir immer die feinen Haare des Waldmädchens ein: aber von den Pechspuren, die alles einleiteten, weiß ich nichts mehr, ob sie durch Waschen oder Abhobeln weggegangen sind, und oft, wenn ich eine Heimreise beabsichtigte, nahm ich mir vor die Mutter zu fragen, aber auch das vergaß ich jedes Mal wieder. (›Granit‹, S. )
Das Erzählte liegt also weit zurück; berichtet wird »von meiner Knabenzeit« (S. ), und »seitdem sind viele Jahre vergangen« (S. ). Die Binnengeschichte wird vom Großvater erzählt, der den Jungen zum Trost für eine erlittene Züchtigung auf Wanderschaft mitnimmt. Das Alter des Großvaters unterstreicht seine Glaubwürdigkeit als Chronist, die Landschaft bürgt für Authentizität. Auf der Wanderung nämlich wird der Junge in die Umgebung eingewiesen.
Die Rahmensituation beschränkt sich auf den deutlich konturierten Erzählakt: der Erzähler gibt einen ersten und einen zweiten Bericht wieder. Nach dem ersten Teil der Erzählung heißt es ähnlich: »was oben erzählt worden ist« (S. ). Gleichfalls problematisch, aber doch sehr viel eindeutiger lautet der Beginn der Journalfassung: »Wir erzählen folgende Geschichte aus dem Munde einer Freundin, die sie uns mitgetheilt hat, und die selber ein kleiner Theil von ihr gewesen ist. Wir getrauen uns nicht, etwas daran zu verändern, […]. Auch wollen wir, so weit es unsere Erinnerung zuläßt, die eigenen Worte unserer Freundin in Schilderungen und Beschreibungen beibehalten, weil sie die handelnden Menschen noch gekannt hat, und uns dieselben in ihren Eigenthümlichkeiten darzustellen vermochte.« Adalbert Stifter, Der Pförtner im Herrenhause. In: ders., Bunte Steine. Journalfassungen, hg. von Helmut Bergner, Stuttgart u. a. , S. –; hier S. .
»Kannst Du mir sagen, was das dort ist?« »Ja, Großvater,« antwortete ich, »das ist die Alpe, auf welcher sich im Sommer eine Viehheerde befindet, die im Herbste wieder herabgetrieben wird.« »Und was ist das, das sich weiter vorwärts von der Alpe befindet?« fragte er wieder. »Das ist der Hüttenwald,« antwortete ich. »Und rechts von der Alpe und dem Hüttenwalde?« »Das ist der Philippgeorgsberg.« »Und rechts von dem Philippsgeorgsberge?« »Das ist der Seewald, in welchem sich das dunkle und tiefe Seewasser befindet.« »Und wieder rechts von dem Seewalde?« »Das ist der Blokenstein und der Sesselwald.« »Und wieder rechts?« »Das ist der Tussetwald.« (›Granit‹, S. f.)
Das pädagogische Spiel zerlegt die Landschaft in ihre Bestandteile und setzt sich alsbald fort in der Aufzählung der aufsteigenden Rauchsäulen: eine aus dem Hüttenwald, eine aus dem Wald der Alpe, eine vom Philippgeorgsberg und eine aus dem Seewald. Zum dritten werden schließlich die Dinge benannt, die sich jenseits vom »Leben der Wälder« befinden, dem »außerhalb« (beide Zitate S. ). Die entsubjektivierte Darstellung eines derart ›buchstabierten Panoramas‹ verliert ihre mimetische Grundlage: Stifters Landschaftsinventur blockiert systematisch das Überspringen von der Ebene der Wörter auf die Ebene dessen, was sie bedeuten und repräsentieren sollen, sie verhindert die Textvergessenheit, aus der überhaupt erst die Realitätsillusion, der fiktionale Charakter von Dichtung hervorgehen.
Was also den Schein der Beglaubigung innehat, die vermeintlich authentische Detailtreue in der Schilderung, ist ein Akt der Künstlichkeit. Das ›buchstabierte Panorama‹ erschafft sich zuerst und allein im Erzählvorgang, es hat aber nicht einmal innerhalb der Erzählten Welt einen mimetischen Status. Was gesehen wird, wird bestätigt und begriffen, aber dennoch kommt dem Sehen paradoxerweise kein besonderer Wert zu. Die den Erzählverlauf begleitende Trias ›Gehen – Sehen – Verstehen‹ ist in ihrer Bedeutung fragwürdig. In dem Moment, in dem der Großvater die Stelle zeigen möchte »von der ich jezt reden werde, und die in unsere Erzählung gehört« (S. ), verhindert die Abendsonne einen klaren Blick. Doch schon bald ist die Sonne gänzlich untergegangen und der Großvater setzt seine Landschaftseinweisung fort:
Man vergleiche die wesentlich reduziertere Darstellung in der Journalfassung von , ›Die Pechbrenner‹, HKG ,, S. –; hier S. . Albrecht Koschorke, Das buchstabierte Panorama: Zu einer Passage in Stifters Erzählung Granit. In: VASILO, , , S. –. Koschorke, Panorama, S. . Mit anderen Worten: »Aus der Summe einzelner Bäume, dem präzisesten aller Protokolle des Waldes, springt kein Gesamtbild eines Waldes hervor« (S. ). Zur visuellen Wahrnehmung und ikonischen Zeichenproduktion in der Literatur des Realismus vgl. Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen . Lori Wagner, Schick, Schichten, Geschichte: Geological Theory in Stifter’s Bunte Steine. In: JASILO, , , S. –; hier S. .
»Siehe Kind, jezt können wir die Stelle sehen, von der ich rede,« sagte der Großvater, »blike da gerade gegen den Wald, und da wirst du eine tiefere blaue Färbung sehen, das ist das Beken, in welchem der See ist. Ich weiß nicht, ob du es siehst.« »Ich sehe es,« antwortete ich, »ich sehe auch die schwachen grauen Streifen, welche die Seewand bedeuten.« »Da hast du schärfere Augen als ich,« erwiederte der Großvater; »gehe jezt mit den Augen von der Seewand rechts und gegen den Rand empor, dann hast du jene höheren großen Waldungen. Es soll ein Fels dort sein, der wie ein Hut überhängende Krempen hat, und wie ein kleiner Auswuchs an dem Waldrande zu sehen ist.« »Großvater, ich sehe den kleinen Auswuchs.« »Er heißt Hutfels, und ist noch weit oberhalb des Sees im Hochwalde, wo kaum ein Mensch gewesen ist. An dem soll aber schon eine hölzerne Wohnung gestanden sein. Der Ritter von Wittinghausen hat sie als Zufluchtsort für seine zwei Töchter im Schwedenkrieg erbaut. Seine Burg ist damals verbrannt worden, die Ruinen stehen noch wie ein blauer Würfel aus dem Thomaswalde empor.« »Ich kenne die Ruinen, Großvater.« (›Granit‹, S. )
Zweierlei ist bemerkenswert: zum einen verschiebt sich die Benennung der Dinge vom Gesehenen zum Gewußten. Das »Kennen« ist ein Erfahrungswert, der auf Vergangenem beruht, während das »Sehen« das Gegenwärtige erst zur Erfahrung macht. Während der Großvater die Landschaft abfragt, wird diese der Gegenwart entrückt, und der Junge muß sich schließlich auf seine Erfahrung berufen. Der fragwürdige Status des zu Sehenden gerät zweitens völlig ins Wanken, wenn man bedenkt, daß der Großvater selbst gar nicht mitsieht, obgleich er noch zu Beginn angibt »jezt können wir die Stelle sehen, von der ich rede«. Der Junge hat »schärfere Augen« und wird dem Alten mit gelenktem Blick das Gewußte bestätigen: »Es soll ein Fels dort sein« – »Großvater, ich sehe den kleinen Auswuchs.« Wie auch der Junge später erfährt, ist das Gewußte höher einzuschätzen als das Wahrgenommene – die eigentliche Binnengeschichte kommt schließlich ganz ohne die zuvor so überaus zahlreich genannten Sehenswürdigkeiten aus. So wie in der Rahmenerzählung Natur allein zeichenhaft dargestellt wird, so scheinen auch die direkten Berührungspunkte von Rahmen- und Binnenerzählung anti-mimetischer Art zu sein. Der Großvater berichtet von der überwundenen Pest:
Ein weiteres Mal als der »Hausberg« abgefragt wird (S. ). – In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, ob die drei Brüder, von denen der Großvater berichtet (S. ), mit der Familie des Pechbrenners identisch sind, von der immerhin bekannt ist, daß ein Bruder auf den Hausberg geht, während einer im Thomaswald bleibt. Sollten hier dieselben Brüder gemeint sind, verliert die Binnenerzählung vollends ihre Glaubwürdigkeit, wenn der Großvater – die Erstgenanntnen meinend – hinzufügt: »Ich weiß nicht ob die Brüder gelebt haben« (S. ). Mit Blick auf zwei andere Textstellen (S. und ) äußert Koschorke: »Damit ist eine klare Priorität festgelegt: Priorität des Wissens gegenüber der Wahrnehmung, der Sprache gegenüber einer begrenzten visuellen Gegenwart.« Koschorke, Panorama, S. .
»viele Häuser wurden neu getüncht und gescheuert, und die Kirchengloken tönten wieder friedfertige Töne, wenn sie entweder zu dem Gebete riefen oder zu den heiligen Festen der Kirche.« In dem Augenblike gleichsam wie durch die Worte hervor gerufen tönte hell klar und rein mit ihren deutlichen tiefen Tönen die große Gloke von dem Thurme zu Oberplan, und die Klänge kamen zu uns unter die Föhren herauf. »Siehe,« sagte der Großvater, »ist es schon vier Uhr, und schon Feierabendläuten; siehst du, Kind, diese Zunge sagt uns beinahe mit vernehmlichen Worten, wie gut und wie glüklich und wie befriedigt wieder alles in dieser Gegend ist.« (›Granit‹, S. )
In dem Moment, in dem die erzählten Glockenklänge der Binnenerzählung erwähnt werden, ertönen die Glocken in der Rahmenerzählung »gleichsam wie durch die Worte hervor gerufen«. Die Aufmerksamkeit auf das akustische Phänomen wird mit dem unpassenden »siehe« eingefordert, in unbeirrbarer Fortsetzung der visuellen Panoramakonstruktion. Gedeutet wird das tatsächlich Gehörte auf Grundlage des Erzählten: die »friedfertigen Töne« der Binnenerzählung lassen darauf schließen, »wie befriedigt wieder alles« in der Rahmenerzählung ist. Der Klang der Glocken transportiert dabei eine zwar unmittelbare, aber nicht evidente Botschaft: »diese Zunge sagt uns beinahe mit vernehmlichen Worten«. Jedoch liegt in der Verbalisierung dessen, was die »Zunge« mitteilt, nämlich »wie befriedigt wieder alles in dieser Gegend ist«, die Verabschiedung des noch vorsichtigen »beinahe«. Der eigentliche Erzählakt des Großvaters findet seine Fortsetzung in der »gleichsam wie durch die Worte hervor gerufen[en]«, mit »Zunge« sprechenden Glockentöne. Nach einem kurzen Gebet berichtet der Großvater über die Tradition des Glockenläutens und fügt abschließend hinzu: »Als dein Oheim Simon einmal vor dem Feinde im Felde lag, und krank war, sagte er, da ich ihn besuchte: »»Vater, wenn ich nur noch einmal das Oberplaner Glöklein hören könnte!«« aber er konnte es nicht mehr hören, und mußte sterben.« In diesem Augenblike hörte die Gloke zu tönen auf, und es war wieder nichts mehr auf den Feldern als das freundliche Licht der Sonne. »Komme, lasse uns weiter gehen,« sagte der Großvater. (›Granit‹, S. f.)
Nicht die interpretatorische Verknüpfung vom »Aufhören« des Glockenklangs und dem »Sterben« soll hier interessieren. Das Unwahrscheinliche dieser Textpassage ist, daß die Glocke in genau dem Moment zu tönen aufhört, in dem erzählt wird, daß man die Glocke nicht mehr hören konnte. Im Erzählvorgang steht das Ersterben des Glockengeläuts in der Binnenerzählung vor dem der Rahmenerzählung; eine derartige Priorität der Binnenerzählung vor der Rahmenerzählung ist jedoch logisch undenkbar. Annäherungsweise wird hier ein
Allerdings, so heißt es im nächsten Absatz, hatten sich Junge und Großvater »bei diesen Worten umgekehrt, und schauten nach der Kirche zurük« (S. ). Die doppelten Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede Simons nach der HKG.
metaleptischer Übergang angedeutet, der im Sinne des Realismus vollkommen undenkbar sein sollte. Das romantisch-fantastische Element rekurriert auf ein Kunstmittel: zwar wird der Großvater das Glockenläuten schwerlich beeinflussen können, wohl aber ist es dem erinnernden Rahmenerzähler möglich, eine derartige Koinzidenz darzustellen. In ›Granit‹ wird die Binnenerzählung auf mehrfache Weise entrückt: () ein in die Jahre gekommener Erzähler erzählt () ein Erlebnis aus seiner Knabenzeit, das wesentlich von () der Erzählung seines Großvaters geprägt ist, der eine sich einst ereignet habende »merkwürdige Thatsache« seinerseits von () seinem »Großvater, dein[em] Ururgroßvater, der zu damaliger Zeit gelebt hat, […] oft erzählt« bekommen hat (S. ) und nun wiedergibt. Die Ereignisse der Binnengeschichte liegen lange Zeit zurück, doch sind sie seit Generationen überliefert. Erzählt wird in Analogie zur durchwanderten Natur. Zu Beginn der eigentlichen Pechbrenner-Geschichte erwähnt der Großvater die Pechbrennerhütte, die aber inzwischen nicht mehr steht: »Mein Großvater hat sie noch gekannt, und er hat gesagt, daß man zeitweilig von dem Walde den Rauch habe aufsteigen sehen, wie du heute die Rauchfäden hast aufsteigen gesehen, da wir heraufgegangen sind.« »Ja Großvater,« sagte ich. (›Granit‹, S. )
Die Rauchsäulen, denen man zuvor ihren festen Platz innerhalb des ›buchstabierten Panoramas‹ zuwies, werden nun in Erinnerung gerufen. Jedoch die ohnehin tote, zeichenhafte Landschaft, die mehr sortiert als erlebt wird, muß schließlich die totale Zerstörung ihrer eben noch sorgfältigen Konstituierung hinnehmen: »Darum haben auch die Rauchsäulen keine bleibende Stelle, und heute siehest du sie hier und ein anderes Mal an einem anderen Plaze.« »Ja, Großvater.« (›Granit‹, S. )
Was sklavisch errichtet wurde, findet auch in seiner bejahenden Negation eine sklavische Bestätigung. Das Geschaute ist konstruiert, die Konstruktion ist widersinnig und die erzählte »merkwürdige Thatsache« (S. ) als Grimmsches Märchen eingeleitet – die Pest-Geschichte läßt der Großvater wie folgt beginnen:
Martin Swales, The German Novelle, Princeton , S. , sieht hierin ein Authentizitätsmerkmal: »Yet the very fact of family continuity and tradition – that the grandfather heard the story from his grandfather and is now passing it on to his grandson – gives the sense both of authenticity and of connection.« – Vgl. aus kulturwissenschaftlicher Sicht: Marcus Twellmann, Bleibende Stelle. Zu Stifters »Granit«. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, , , S. –. Die Parallelität zum außerordentlich prominenten »Ja, Konrad« in ›Bergkristall‹ ist frappierend. Auch diese Textstelle wird im folgenden noch besprochen.
Es war einmal in einem Frühlinge, da die Bäume kaum ausgeschlagen hatten, da die Blüthenblätter kaum abgefallen waren, daß eine schwere Krankheit über diese Gegend kam, und in allen Ortschaften, die du gesehen hast, und auch in jenen, die du wegen vorstehender Berge nicht hast sehen können, ja sogar in den Wäldern, die du mir gezeigt hast, ausgebrochen ist. (›Granit‹, S. )
Die womöglich Zyklus-umfassende Identität des Rahmenerzählers in ›Granit‹ kann nicht erschöpfend diskutiert werden. Anders als in ›Turmalin‹ erhält man hier keinen expliziten Hinweis auf die übergeordnete Rahmenstruktur der ›Bunten Steine‹. Genauso verhält es sich mit der Novelle ›Kalkstein‹, für die sich ein umfangreiches Konstrukt an Erzählebenen nachweisen läßt, die bereits in der Journalfassung angelegt sind: Wir erzählen in den nachfolgenden Zeilen eine Thatsache, welche uns von einem Freunde mitgetheilt worden ist, der den Mann, von welchem die Thatsache ausgegangen ist, noch recht gut gekannt hat. (›Der arme Wohlthäter‹ (), HKG . S. ) Ich erzähle hier eine Geschichte, die uns einmal ein Freund erzählt hat, in der nichts Ungewöhnliches vorkömmt, und die ich doch nicht habe vergessen können. (›Kalkstein‹, S. )
Das Zitat aus Journal- und Buchfassung läßt sich auf ein und dieselbe Begebenheit reduzieren: der Erzähler erzählt etwas, das ihm seinerzeit berichtet wurde. Läßt man einmal das unterschiedliche Personalpronomen außer acht, so ist die erste grundlegende Differenz diejenige zwischen einer erzählten »Thatsache« und einer erzählten »Geschichte«. Während erstere einen unbedingten Realitätsanspruch innehat, das Erzählte nämlich als tatsächlich geschehen ausgegeben wird, so ist letztere eher im Feld der Fiktion anzusiedeln. Die »Geschichte, die uns einmal ein Freund erzählt hat«, erhält zwar durch die nahestehende Person eine Beglaubigung, ist aber nur »erzählt«, während die »Thatsache« weit weniger poetisch »mitgetheilt worden ist«. Während die Journalfassung ihre Beglaubigung nun inhaltlich untermauert (der Freund hat »den Mann, von welchem die Thatsache ausgegangen ist, noch recht gut gekannt«), findet sich in der Buchfassung eine Erzählerreflexion. In der folgenden Erzäh
In der Journalfassung ›Die Pechbrenner‹ heißt es noch: »Vor vielen Jahren in einer sehr schönen Zeit«. Hahn weist überdies auf den Wald hin, der noch ist, »wie er bei der Schöpfung war« (›Granit‹, S. ). Walter L. Hahn, Zeitgerüst und Zeiterlebnis bei Stifter: Granit. In: VASILO, , , S. –; hier S. . Ein Erzähler erzählt die Geschichte eines Freundes. Diese kennt er durch einen Disput, aufgrund dessen besagter Freund die Geschichte erzählte, in welcher der Karpfarrer seine Lebensgeschichte erzählt. Anders: was der Karpfarrer erlebte, erzählt er dem befreundeten Landvermesser. Dieser gerät eines Tages in eine moralische Diskussion, welche ihn veranlasst, die Geschichte seiner Karaufenthalte zu erzählen. Der befreundete Erzähler ist bei dieser Diskussion anwesend. Er erzählt von dieser und wie sich aus ihr die Geschichte des Landvermessers entwickelte, in der die Geschichte des Karpfarrers eingebunden ist. Zur Problematik solcher Beglaubigungen vgl. Kapitel . dieser Arbeit.
lung nämlich komme »nichts Ungewöhnliches« vor. Dieses ganz unpoetische Eingeständnis, mit welchem das fastidium in Erscheinung der Langeweile gleichsam provoziert wird, spricht gegen das Erzählte selbst – es ist im schlechtesten Sinne prosaisch. Um so mehr erstaunt es, daß der Erzähler angibt, daß er die Geschichte »doch nicht habe vergessen können«. Es muß also ein Reiz im Gewöhnlichen liegen, sofern man den Worten des Erzählers Glauben schenken möchte. Das Erzählen ist einem Anlaß geschuldet. In ›Kalkstein‹ kommt die Gelegenheit der Geschichte […] von einem Streite, der sich in der Gesellschaft von uns Freunden darüber entspann, wie die Geistesgaben an einem Menschen vertheilt sein können. (›Kalkstein‹, S. )
Im folgenden werden die unterschiedlichsten Positionen genannt, die sich allein in ihrer Beurteilung der Abhängigkeit von »übergeordneten« und »untergeordneten« Gaben unterscheiden (S. ). Endlich waren noch einige, die sagten, Gott habe die Menschen erschaffen, wie er sie erschaffen habe, man könne nicht wissen, wie er die Gaben vertheilt habe, und könne darüber nicht hadern, weil es ungewiß sei, was in der Zukunft in dieser Beziehung noch zum Vorscheine kommen könne. Da erzählte mein Freund seine Geschichte. (›Kalkstein‹, S. f.)
Der Bezug auf den von vielen als tadelnswert zu bezeichnenden Karpfarrer (S. ) ist recht eindeutig: seine armselige Erscheinung läßt ebensowenig Gutes erahnen, wie die angestrengte Reinlichkeit bezüglich der weißen Wäsche, die »die Armuth noch peinlicher hervor[hob]« (S. ). Wenn sich demnach bereits »das Unhaltbare und Wesenlose« (S. ) in der Kleidung zeigt, wie mag es dann erst um den geizigen Sonderling selbst bestellt sein? – Gut, denn nach seinem Tode zeigt sich, wie sehr man ihn verkannt hat (S. ). Im Testament des Pfarrers wird der Bau eines neuen Schulgebäudes veranlaßt, womit den Kindern der bis dahin unsichere, mitunter lebensgefährliche Schulweg erspart wird. Auch der Pfarrer selbst wird nicht gewußt haben, »was in der Zukunft in dieser Beziehung noch zum Vorschein« kommt. Seine Ersparnisse sind nämlich keineswegs ausreichend, doch »Gott bedurfte zur Krönung dieses Werkes des Pfarrers nicht« (S. ): die »Reichen in dem Umkreise« (S. ) verwirklichen die testamentarische Bestimmung des ›armen Wohlthäters‹ und leisten die noch notwendigen Zahlungen. Die erste Rahmenerzählung benennt also den sehr konkreten Anstoß für die somit motivierte Rahmenerzählung. Nach der Äußerung über die vom Menschen unbegreifbaren Absichten Gottes heißt es: »Da erzählte mein Freund seine Geschichte« (S. ). Warum jedoch in erster Instanz erzählt wird,
Vgl. dagegen ›Der arme Wohlthäter‹, in welchem unten angeführte Diskussion in die Erzählerreflexion verlagert ist.
bleibt unklar, wenn nicht das ›Nicht-Vergessen-Können‹ der Geschichte Anlaß genug ist, sie nachzuerzählen. Nur in der frühen Fassung ›Der arme Wohlthäter‹ findet sich ein bemerkenswerter Hinweis zu dieser ›Nacherzählung‹: Wir verzichten auf den Ruhm künstlerischer Gegenständlichkeit, die wir am Ende doch nicht erreichen würden und erzählen durch das Auge unseres Freundes von dem Manne, wie er ihm erschienen ist, wobei wir uns nur zwei Dinge erlauben, die uns unerläßlich erscheinen: nämlich daß wir das, was uns der Freund in weit auseinander liegenden Zwischenräumen und ohne Ordnung erzählte, in eine Gattung Reihenfolge bringen, in der es sich zugetragen haben konnte, wann eines aus dem andern hervorgegangen ist – und daß wir in den die Wesenheit der Sache nicht berührenden Nebenumständen und Nebenhandlungen so viel veränderten, daß die noch etwa lebenden Verwandten des schon längst gestorbenen Mannes sich nicht unangenehm betroffen fühlen, wenn etwas zu größerer Verbreitung kommt, was sie nur einem kleineren Kreise bekannt glaubten. (›Der arme Wohlthäter‹, HKG , S. )
Die Differenz von unbedingter ›mimetischer‹ Beglaubigung (etwa der Verschleierung von »Nebenumständen«, um die Angehörigen der Hauptfigur nicht zu beeinträchtigen) gegenüber der explizit ›poietischen‹ Bearbeitung (besagter rücksichtsvoller Eingriffe in die Ordnung des Erzählten), soll hier nicht erneut bemüht werden. Vielmehr ist von Interesse, warum Stifter diese Passage für die Buchfassung nicht wiederaufnahm – folgt man der bisherigen Interpretation der ›Bunten Steine‹, so verwundert die ersatzlose Tilgung, weil die inzwischen erwartete ›Ästhetisierung‹ des Erzählens dadurch entfällt. Eine stringentere und damit vereinfachte Erzählweise kann für ›Kalkstein‹ gegenüber ›Der arme Wohlthäter‹ generell festgestellt werden. Insbesondere gilt dies für die Gewitter-Schilderung, die mit häufiger Unterbrechung erzählt wird, ganz anders als in den ›Bunten Steinen‹. Das in der Journalfassung in Anspruch genommene geordnete Erzählen (»wann eines aus dem andern hervorgegangen ist«, HKG , S. ) findet seine Verwirklichung erst in der Buchfassung. Dort liest es sich nach ersten Blitzen, näherrollendem Donner, einsetzendem Sturm, schließlich strömendem Regen wie folgt: Er [der Regen] wuchs schnell gleichsam rauschend und jagend, und wurde endlich dergestalt, daß man meinte, ganze zusammenhängende Wassermengen fielen auf das
Diese betrifft hier sowohl die Binnenerzählung als auch die Rahmenerzählung. Der Verweis auf die »noch etwa lebenden Verwandten« ›entfiktionalisiert‹ (trotz der Einschränkung) die Hauptfigur der Binnenerzählung sowie deren Erzähler; der Erzähler der Rahmenerzählung als höherrangige Instanz wiederum beglaubigt sich selbst durch die Rücksichtnahme auf die in der Rahmenerzählung äußerst realen Verwandten. Vgl. Walter Hettche in HKG ,, S. . »In der Zf [gemeint ist die Zeitschriftenfassung, also ›Der arme Wohlthäter‹] zieht sich das Gewitter in zwölfphasigem Ablauf über den ganzen Besuchabend hinüber […].« Martin Selge, Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft, Stuttgart u. a. , S. .
Haus hernieder, das Haus dröhne unter dem Gewichte, und man empfinde das Dröhnen und Ächzen herein. […] Das Gewitter war endlich über unserm Haupte. Die Blize fuhren wie feurige Schnüre hernieder, und den Blizen folgten schnell und heiser die Donner, die jezt alles andere Brüllen besiegten, und in ihren tieferen Enden und Ausläufen das Fensterglas erzittern und klirren machten. […] Ich hatte selten ein solches Gewitter erlebt. Der Pfarrer saß ruhig und einfach an dem Tische des Stübleins, und das Licht der Talgkerze beleuchtete seine Gestalt. Zuletzt geschah ein Schlag, als ob er das ganze Haus aus seinen Fugen heben, und niederstürzen wollte, und gleich darauf wieder einer. […] allein die Hauptmacht war gebrochen, und alles ging gleichmäßiger fort. Nach und nach milderte sich das Gewitter, der Sturm war nur mehr ein gleichartiger Wind, der Regen war schwächer, die Blize leuchteten blässer, und der Donner rollte matter gleichsam landauswärte gehend. Als endlich das Regnen nur ein einfaches Niederrinnen war, und das Blizen ein Nachleuchten, stand der Pfarrer auf, und sagte: »Es ist vorüber.« (›Kalkstein‹, S. f.)
Die Textstelle ist interpretatorisch nicht übermäßig reizvoll: während des Gewitters sitzt der Pfarrer »ruhig und einfach an dem Tische des Stübleins« (S. ), womit sich an ihm eine der Kardinaltugenden, temperantia, die Besonnenheit und damit das selbstbeherrschte Maßhalten offenbart. Unerschüttert zeigt sich der Pfarrer in der prekären Lage, er läßt die Dinge, im tatsächlichen Sinne des Wortes, über sich ergehen und regt sich erst, nachdem das Unwetter abgeklungen ist. Er steht auf und spricht schließlich die ersten Worten seit Beginn des Gewitters: »Es ist vorüber« (S. ). In biblischem Ton beschließt er den Gewaltakt der Natur, wenn auch die Zeit des Erduldens erst in dem Moment vorüber ist, in dem der Karpfarrer stirbt: »Endlich schlief er sanft ein, und es war vorüber« (S. ). In der Parallelität der Ereignisse verliert das Gewitter damit an Bedeutung. Es ist eine zu erduldende Erschütterung, die nur solange währt, bis sie eben vorüber ist. Damit entwertet die Erzählung, analog zum ruhigen, unaufgeregten Erzählfluß, ihre Höhepunkte, und So wie in der Natur die allgemeinen Geseze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Geseze ist, so wirkt das Sittengesez still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen […]. (›Vorrede‹, S. )
Unaufhörlich hat der Pfarrer gespart, unauffällig hat er gelebt; nur allmählich wird man seiner Lebensgeschichte gewiß, und schlußendlich wird sein Lebenswerk nicht mit, sondern erst nach seinem Tod vollendet. Auch unter erzählstrategischen Gesichtspunkten ist die Gewitterschilderung, wie sich oben bereits andeutet, einfach zu fassen: die sehr detaillierte Schilderung des Gewitters spottet nämlich den poetologischen Bekenntnissen, die die ›Vorrede‹ postuliert: »das prächtig einherziehende Gewitter« (S. ) gehört in die Kategorie des nur vermeintlich ›Großen‹, des eigentlich ›Kleinen‹, das somit keine dichterische Darstellung verdiene und dessen sich der Autor im
Hinweis nach HKG ,, S. .
folgenden enthalte. Überdies berichtet der erzählende Landvermesser, er habe »selten ein solches Gewitter erlebt«, was durchaus erstaunt, da doch die ›Vorrede‹ lehrt, daß gerade diese gewaltigen Einzel-Ereignisse abzuwerten seien. Die besondere, außergewöhnliche Naturgewalt bedroht die beiden Männer, es ist fraglich, ob Dach und Fenster ausreichend Schutz bieten können: »Zuletzt geschah ein Schlag, als ob er das ganze Haus aus seinen Fugen heben, und niederstürzen wollte, und gleich darauf wieder einer.« Dieses gewaltige Erlebnis kommentiert der Erzähler am nächsten Morgen wie folgt: »Was doch so ein Gewitter ist! Das Zarteste das Weichste der Natur ist es, wodurch ein solcher Aufruhr veranlaßt wird« (S. ). Es folgt eine naturwissenschaftliche Erläuterung über den gewitter-verursachenden Zusammenstoß von warmer und kalter Luftströmung. Insofern die vermeintlich ›großen‹ Dinge »nur Wirkungen viel höherer Geseze sind« (S. ), ist es auch das Gewitter. Denn nicht dieses ist (wie man grammatikalisch jedoch zunächst annehmen muß) »das Zarteste das Weichste der Natur«, sondern nur den Veranlassern kommt diese Qualität zu, also den »feinen unsichtbaren Dünste[n] des Himmels« (S. ). Die syntaktische Konstruktion des Erzählerkommentars ist jedoch irreführend: »Was doch ein Gewitter ist!« – »Das Zarteste das Weichste der Natur ist es« – »wodurch ein solcher Aufruhr veranlaßt wird«. Das Ereignis, das in seiner ganzen Naturgewalt geschildert wurde, wird vom (zweiten) Rahmenerzähler anders gedeutet, als man es zunächst vermuten könnte. Wenn man jedoch das Sanfte Gesetz aus der ›Vorrede‹ in Erinnerung behalten hat (»die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach Kurzem kaum noch erkennbar«, S. ), dann frappieren die Nachwirkungen der Gewitternacht durchaus. Zwar ist die Natur durch den Regen erfrischt, »neugeboren« (S. ), doch ist die Gewalt des Niederschlags sowohl an den glatt gewaschenen Kalksteinhügeln erkennbar als auch an der über die Ufer getretenen Zirder. Die überschwemmten Wiesen sind letztlich immer wieder der Grund dafür, daß sich der Pfarrer verpflichtet sieht, den gefährlichen Schulweg der Kinder zu begleiten. In seinem Testament heißt es später: Die Zirder schwillt oft an, und kann dann ein reißendes Wasser sein, das in Schnelle daher kömmt, wie es ja in den ersten Jahren meiner Pfarre zweimal durch Wolkenbrüche alle Stege und Brüken weggenommen hat. (›Kalkstein‹, S. )
Mit den nachhaltigen Wirkungen der Naturkatastrophe wäre nun aber die ›Vorrede‹ außer Kraft gesetzt. Der Bau eines neuen Schulgebäudes gesteht dieses unabänderliche Verhängnis sogar insofern ein, als damit dem Problem nur ausgewichen wird, man es aber nicht beseitigen kann.
Die Nachhaltigkeit großer Naturkatastrophen zeigt sich auch in den anderen Novellen. In ›Granit‹ etwa wird zwar die Pest überwunden, aber zum einen lebt sie in Geschichten fort, zum anderen in der Benennung von »manche[n] Stellen unserer Ge-
Die Schilderung des Gewitters ist streng chronologisch gehalten: beginnend mit Dunkelheit und ersten Blitzen, endend mit dem nachlassenden Regen und der Beschlußformel des Pfarrers. So wie sich das Gewitter entfaltet, entwickelt sich auch die Handlung der ganzen Novelle: Man wird Zeuge ausschließlich dessen, was der Erzähler wahrnimmt. Aufklärung über die Reihe von Merkwürdigkeiten erlangt man nur dann, wenn der Landvermesser sie bekommt, der sich überdies jede Vermutung versagt. Wenn ich mit dem Pfarrer in sein Haus ging, führte er mich nie in das obere Stokwerk, sondern er geleitete mich stets durch ein geräumiges Vorhaus in ein kleines Stüblein. Das Vorhaus war ganz leer, nur in einer Mauervertiefung, die sehr breit aber seicht war, stand eine lange hölzerne Bank. Auf der Bank lag immer, so oft ich den Pfarrhof besuchte, eine Bibel, ein großes in starkes Leder gebundenes Buch. In dem Stüblein war nur ein weicher unangestrichener Tisch, um ihn einige Sesseln derselben Art, dann an der Wand eine hölzerne Bank und zwei gelbangestrichene Schreine. Sonst war nichts vorhanden, man müßte nur ein kleines sehr schön aus Birnholz geschniztes mittelalterliches Crucifix hieher rechnen, das über dem ebenfalls kleinen Weihbrunnenkessel an dem Thürpfosten hing. (›Kalkstein‹, S. )
Wie der Erzähler dem Pfarrer durch das Haus folgt, so folgt der Leser dem Erzähler. Man geht »nie in das obere Stokwerk«, erfährt folglich nichts darüber, wird durch das »Vorhaus« geleitet, das »ganz leer« ist – sieht man von der Bank in der Mauervertiefung ab –, und gelangt schließlich in das »Stüblein«, in dem »nur ein weicher unangestrichener Tisch« steht und einige Sessel und eine Bank und zwei Schreine, »sonst war nichts vorhanden«, nur ein »Crucifix« über einem »kleinen Weihbrunnenkessel«, das man freilich noch »hieher rechnen« müßte. Eine detailliertere Schilderung ist kaum denkbar, denn man erfährt nicht nur, daß eigentlich nichts da ist, sondern bekommt selbst dasjenige recht ausführlich beschrieben, das sich dann doch noch in irgendeiner Ecke verbirgt. Der Verzicht des Erzählers auf jegliche innere Anteilnahme geschieht dabei auf zwei Ebenen. Zum ersten liegt der erzählten Welt eine bedingungslos externe Fokalisierung zugrunde, denn der Ich-Erzähler weiß durchgängig weniger als seine Figur, der Karpfarrer, was nicht zuletzt den detektorischen Stil der Erzählung ausmacht. Zum zweiten ist auch die Auskunft des Ich-Erzählers über sich selbst äußerst spärlich; als eine der beiden Hauptfiguren ist er selbst so sehr Teil der Erzählung, daß er episch ist. Es ist, als unterläge das ›Ich‹ dieser Novelle gleichfalls einer externen Fokalisierung, als
gend, […], zum Beispiele Pestwiese, Peststeig, Pesthang« (S. ). Vgl. auch den zerstörerischen, gar lebensbedrohlichen Hagelschauer in ›Kazensilber‹. Irmscher merkt an, der Erzähler registriere »mit einer Aufmerksamkeit, der nichts zu gering und unbedeutend ist«. Hans Dietrich Irmscher. Adalbert Stifter, Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung, München . S. . Nicht selten wird das Erzählen des Landvermessers als naturwissenschaftliches Erzählen aufgefasst; vgl. dazu Irmscher, Wirklichkeitserfahrung, S. , und Selge, Naturwissenschaft, S. f.
wüßte der Landvermesser als ›Erzähler‹ weniger als die ›Figur‹ des Landvermessers. So sehr ein derart ›erzählter‹ Ich-Erzähler erstaunen mag, so erklärbar ist er, wenn man sich die Rahmenkonstruktion von ›Kalkstein‹ ins Gedächtnis ruft. Der Landvermesser als zweiter Rahmenerzähler wird seinerseits erzählt von dem ersten Rahmenerzähler, der einstmals die Geschichte von ihm erzählt bekommen hat. Damit ist der Landvermesser tatsächlich nur ein erzählter Teil seiner eigenen Erzählung: er ist ›episch‹ nicht nur in seiner eigenen Erzählung, sondern auch qua erster Rahmenerzählung.
. ›Bunte Steine‹ wahrscheinlich Anders als die ersten drei Novellen der ›Bunten Steine‹ lassen sich weder ›Bergkristall‹ noch ›Kazensilber‹ und ›Bergmilch‹ als Rahmenerzählung begreifen. Zu fragen ist demnach, ob die ›Bunten Steine‹ vom ersten zum zweiten Band ihr Erzählverfahren wechseln, ob die ›poietischen‹ Novellen von Erzählungen mit ›ungestörter‹ Darstellung abgelöst werden. ›Bergkristall‹ wird von einem (heterodiegetischen) Erzähler erzählt, der keine Figur der erzählten Welt ist. Nach einigen Bemerkungen über den ›Christabend‹ (S. –) folgen Ausführungen zur Topographie der Geschichte (S. –) und zu den Dörfern Gschaid und Millsdorf sowie deren Bewohnern, insbesondere der Familie des Schusters (S. –). Erst danach beginnt die Erzählung der eigentlichen Geschichte (S. –), die abschließend mit wenigen Worten ausgeleitet wird (S. f.). Mehr als ein Drittel der Erzäh
Die Erzählerkommentare sind so selten, daß sie um so mehr auffallen; vgl. etwa die Äußerung des Landvermessers nach der Lebensgeschichte des Karpfarrers, die sowohl als Auflösung der prekären Wäsche-causa als auch als Interpretationsanweisung verstanden werden kann: »Ich wußte nun, weßhalb er sich seiner herrlichen Wäsche schämte« (S. ). – Mason sieht in der Unkenntnis des Landvermessers eine »durchgehende, subtile Diskriminierung des Erzählers als zuverlässigen geistigen Führer des Lesers«. Eve Mason, Die Gestalt des Erzählers in Stifters »Kalkstein«. In: VASILO, , , S. –; hier S. . Als seiner Erzählung intelektuell unterlegen gilt beispielsweise auch der Erzähler von ›Brigitta‹ (und nicht zuletzt Heinrich Drendorf im ›Nachsommer‹): Cornelia Blasberg, Augenlider des Erzählens. Zu Adalbert Stifters gerahmten Erzählungen. In: Jahrbuch des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, : History, Text, Value. Essays on Adalbert Stifter. Londoner Symposium , , S. –; hier S. . Die ›Bunten Steine‹ wurden in zwei Bänden veröffentlicht, Band mit ›Granit‹, ›Kalkstein‹, ›Turmalin‹ und Band mit ›Bergkristall‹, ›Kazensilber‹, ›Bergkristall‹. Zur Strukturierung der Erzählung vergleiche auch Gerhard Plumpe, Diskursive Textstrukturierung. Versuch zu Adalbert Stifters Bergkristall. In: Literaturwissenschaft. Grundkurs , hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath in Verbindung mit Eberhard Lämmert, Reinbek , S. –; insbesondere S. f.
lung weist also keinerlei Handlungsmoment auf, ist allein gekennzeichnet durch beschreibende Erzählerrede. Mit den Worten: »Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen« (S. ) beginnt die Erzählung, und es folgt eine feierliche Ausschmückung des Kirchenfests. Nach mit zwei Gedankenstrichen deutlich markiertem Abschnittsende (S. ) konzentriert sich der Erzähler auf den Ort der nachfolgenden Handlung: »In den hohen Gebirgen unsers Vaterlandes steht ein Dörfchen mit einem kleinen aber sehr spizigen Kirchthurme« (S. ). Die Landschaft ist eine statische, der Zyklus der Jahreszeiten bringt nur kleine Veränderungen, und so »spinnt es sich ein Jahr um das andere mit geringen Abwechslungen ab« (S. ). In diesem Bergpanorama verweilt der Erzähler und beginnt völlig ›unmotiviert‹ mit der Schilderung einer Bergbesteigung – in abstracto, denn niemand klettert tatsächlich; es wird nur mitgeteilt, wie zu klettern wäre: »Was nun noch die Besteigung des Berges betrifft, so geschieht dieselbe von dem Thale aus« (S. ). Nach zwei Seiten Bergbesteigung und erneuter Panorama-Schilderung erfährt das Geschilderte jedoch plötzlich eine Konkretisierung: »Das Dörflein heißt Gschaid, und der Schneeberg, der auf seine Häuser herab schaut, heißt Gars« (S. ). Die Benennung der Dinge ist, lange nach ihrer detailliert-mikroskopischen Vorstellung, eine zweite ›Setzung‹. Was zuvor in die Landschaft gestellt wurde, bekommt nun eine Namensetikette, und das Beschriebene kann als literarische Fiktion erfaßt werden; mit der personificatio des auf die Häuser herabschauenden Berges wird die eigentliche Handlung eingeleitet. Nachdem im folgenden die Figuren vorgestellt werden, kann endlich die Geschichte, mit beinahe märchenhafter Floskel, beginnen: Einmal war am heiligen Abende, da die erste Morgendämmerung in dem Thale von Gschaid in Helle übergeganen war, ein dünner trokener Schleier über den ganzen Himmel gebreitet, so daß man die ohnedem schiefe und ferne Sonne im Südosten nur als einen undeutlichen Flek sah, überdieß war an diesem Tage eine milde beinahe laulichte Luft unbeweglich im ganzen Thale und auch an dem Himmel, wie die unveränderte und ruhige Gestalt der Wolken zeigte. (›Bergkristall‹, S. )
Jedoch: »Die Bewohner des Thales heißen die geringen Veränderungen große, bemerken sie wohl, und berechnen an ihnen den Fortschritt des Jahres« (S. ). Etwa das »Dörfchen«: »Es enthält außer der Kirche eine Schule, ein Gemeindehaus und noch mehrere stattliche Häuser, die einen Plaz gestalten, auf welchem vier Linden stehen, die ein steinernens Kreuz in ihrer Mitte haben« (S. ; Hervorhebungen LK). Die späte Namensnennung des Helden etwa in Stifters ›Nachsommer‹ hat nur ähnlichen Charakter, denn dort vollzieht sich Handlung auch ohne explizite Benennung der Hauptfigur. Es ist in diesem Zusammenhang natürlich unerheblich, ob der Name des Dorfes (Gschaid), ein »in Österreich häufig vorkommender Orts- und Flurname«, ein reales Vorbild hat. Adalbert Stifter, Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat, Kommentar. Teil II, hg. von Walter Hettche, Stuttgart, Berlin, Köln , S. .
Die iterative Beschreibung des immer Gleichen wird abgelöst vom singulativen »einmal war«. Die Aufmerksamkeit, die dem somit als außergewöhnlich apostrophierten Wetterphänomen zukommt, ist begründet: hier zu beobachten sind nämlich Cirren, hohe Eiswolken, Vorboten einer Schlechtwetterphase, von Niederschlag und Frost. Auch die rote Morgensonne ist ein Menetekel, wie zahlreiche Bauernregeln und selbst Mt. , – nahelegen: Nun kamen die Pharisäer und Sadducäer zu ihm, ihn zu versuchen. Sie baten ihn: Er möchte sie ein Wunderzeichen am Himmel sehen lassen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Des Abends saget ihr: Es wird heiter werden; denn der Himmel ist roth. Des Morgens: Heute kommt ein Ungewitter; denn der Himmel ist roth und trübe. Das Aussehen des Himmels wisset ihr also zu beurtheilen. Warum könnet ihr nicht auch die Zeichen der Zeit verstehen?
Die »Zeichen der Zeit« kann anscheinend auch die Mutter nicht deuten, die den Kindern mit folgender Begründungskette den Weg über den Berghals erlaubt: »Weil ein so angenehmer Tag ist, weil es so lange nicht geregnet hat, und die Wege fest sind, und weil es auch der Vater gestern unter der Bedingung erlaubt hat, wenn der heutige Tag dazu geeignet ist, so dürft ihr zur Großmutter nach Millsdorf gehen; aber ihr müßt den Vater noch vorher fragen.« (›Bergkristall‹, S. )
Auch der Vater erlaubt den Gang, nachdem die Kinder »um die Wiederholung der gestrigen Erlaubniß [baten], weil ein so schöner Tag sei« (S. ). Die meteorologische Fehldeutung beider Elternteile erstaunt, wenn man bedenkt, daß die alteingesessenen Dörfler mit den Naturerscheinungen durchaus ver
›Iterativ‹ und ›singulativ‹ sind Aspekte der ›Frequenz‹. Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt, München , S. –. Vgl. Günter D. Roth, Wetterkunde für alle, München, Bern, Wien , S. . Bauernregeln. Eine schweizerische Sammlung mit Erläuterungen von Albert Hauser, Zürich, München . Die Bauernregeln (nach der Art ›Morgenrot – Schlechtwetter droht; Abendrot – Gutwetterbrot‹) haben sogar ihre meteorologische Richtigkeit: Horst Malberg, Bauernregeln. Aus meteorologischer Sicht, Berlin u. a. , S. –. Zitiert nach: Die Heilige Schrift des Neuen Testamentes. Nach der uralten und in der katholischen Kirche allgemein angenommenen Uebersetzung mit Bezug auf die Grundsprache, und kurzen Anmerkungen für Nichtgelehrte neuerdings übersetzt von Heinrich Braun, Nürnberg . Bei der Einheitsübersetzung (also der maßgeblichen Bibel-Ausgabe für die katholische Kirche dieser Tage) wird der Text von »Am Abend« bis »aber nicht« ausgespart. Hierbei handele es sich, laut Kommentar, um eine Einfügung späterer Textzeugen. Der Nachsatz »weil ein so schöner Tag sei« ist von Stifter erst in der handschriftlichen Druckvorlage hinzugefügt worden. HKG ,, S. . Peter Küpper deutet die falsche Wetterauslegung als Element Stifterscher Dramatik. Peter Küpper, Literatur und Langweile. Zur Lektüre Stifters. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum . Todestage, hg. von Lothar Stiehm, Heidelberg , S. –; besonders S. –.
traut sein müßten. Wenn der Junge Konrad später seiner Schwester gegenüber behauptet, er habe den Schneefall geahnt, so rückt er damit das Handeln der Eltern in ein noch fragwürdigeres Licht: »Siehst du, Sanna,« sagte der Knabe, »ich habe es gleich gedacht, daß wir Schnee bekommen; weißt du, da wir von Hause weg gingen, sahen wir noch die Sonne, die so blutroth war wie eine Lampe bei dem heiligen Grabe, und jezt ist nichts mehr von ihr zu erbliken, und nur der graue Nebel ist über den Baumwipfeln oben. Das bedeutet allemal Schnee.« (›Bergkristall‹, S. )
Allerdings ist der Leser an dieser Stelle allein auf die Glaubwürdigkeit des Knaben angewiesen, denn zu keinem Zeitpunkt ist bis dahin angedeutet worden, daß Konrad Nämliches gedacht haben könnte. Einzig die anfängliche Ausschweifung des Erzählers über den Heiligen Abend erlaubt eine zutreffende Wettervorhersage, den Zusammenhang von Weihnachtsabend, schief stehender Sonne und Schnee: Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren dekt, das Fest der Weihnacht. (›Bergkristall‹, S. )
Anders als mit der Glaubwürdigkeit des Erzählers, an der zunächst nicht gezweifelt werden soll, verhält es sich mit der Glaubwürdigkeit Konrads, um die es nicht gut bestellt ist. Auf dem Rückweg geraten die Kinder in das winterliche Unwetter, verlaufen sich zunehmend. Konrads Tröstungen seiner Schwester gegenüber, suggerierend, er wüßte jederzeit, wo sie sich befänden, sind leere Versprechungen: Denn sie sehen eben nicht die ›Unglückssäule‹, verpassen die Abzweigung, gehen nicht hinab, sondern hinauf und so fort. Der Dialog zwischen den Kindern ist in seiner stereotypen Wiederholung leicht schematisierbar. Auf die Ausführungen des Jungen folgt ein »Ja Konrad« Sannas. Damit bekräftigt diese (ungefragt!) den Irrtum ihres Bruders und folgt ihm bejahend ins Unglück. Genau umgekehrt verhält es sich in der Eishöhle, in der die Kinder einzuschlafen drohen, was ihren Tod bedeuten würde. Insbesondere die jüngere Sanna kann sich schwerlich wachhalten. Der Bruder spricht auf sie ein, »Sanna, schlafe nicht, ich bitte dich, schlafe nicht«, worauf sie antwortet: »›Nein,‹ lallte sie schlaftrunken, ›ich schlafe nicht‹.« (S. ). Mahnung und Beschwichtigung wiederholen sich, wobei Konrad die Gefahr für seine Schwester erkennt, die diese verharmlosend verneint. Erst nach durchstandener Nacht er
Zur ›Morgenröte‹ heißt es: »Die Regel, daß Morgenröte schlechtes Wetter ankündigt, ist allgemein in den nördlich der Alpen gelegenen Landstrichen bei der bäuerischen und städtischen Bevölkerung verbreitet«. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard HoffmannKrayer, Bd. : Waage–Zypresse, Nachträge, unverändeter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin und Leipzig , Berlin, New York , Sp. –; hier Sp. f. Vgl. Küpper, Langeweile, S. f.
hält das Rollenspiel seine alten Formen wieder: »›Sanna, der Tag bricht an,‹ sagte der Knabe. ›Ja, Konrad,‹ antwortete das Mädchen« (S. ). Die Bestätigung des Falschen kann vom Leser erkannt werden, er muß sich nicht in die Irre führen lassen, sofern er der ›Bergbesteigung‹ des Erzählers zu Anfang der Erzählung gefolgt ist. Man erfährt, daß sich auf der höchsten, Tannen umwaldeten Erhebung des Halses die ›Unglückssäule‹ befindet, daß man von hier abbiegen muß, einen Durchlaß passiert, aufsteigt, in Gegenden mit kahlem Haideboden vorstößt, man steiler, »wie in einer Rinne« aufsteigt und schließlich in ein Gebiet mit lauter Felsen kommt, »zwischen deren Mauern man längere Zeit hinan gehen kann« (beide Zitate S. ). Nachdem man wiederum kahle Gegenden passiert hat, gelangt man zum Eis, und um den Weg »sind steile Wände, und durch diesen Damm hängt der Schneeberg mit dem Halse zusammen« (S. f.). Der Berggipfel schließlich kann nur mit Hilfsmitteln erklommen werden. Der Rückweg der Kinder führt sie durch den verschneiten Tannenwald, die Unglückssäule sehen sie nicht, sie gehen den Weg zwischen den Bäumen, aufwärts, schließlich verlassen sie die bewaldete Gegend. Der Junge kennt die Gegend, will »gleich rechts hinab gehen« (S. ). Jedoch führt sie der Weg weiter den Berg hinauf, bis sie schließlich in steiniges, Konrad gleichsam bekanntes Gebiet kommen. »Felsen ließen sie nicht rechts und nicht links ausweichen« (S. ). Sie steigen ungewollt weiter hinauf, gehen wieder durch kahle Umgebung, bis sie schließlich ins Eis geraten. Konrad erkennt, daß sie nun auf dem Berg sind, weiß von dem Weg durch Felsen, Wiesen und Wälder, der hinab ins Tal führt, wie er sie nun hinauf geführt hat (S. ). Der Versuch hinunterzufinden scheitert jedoch aufs neue, die Kinder irren durch das Eis und finden bei hereinbrechender Nacht Zuflucht in der Eishöhle. Die Parallelität von vorangehender Beschreibung und in der Erzählchronologie später mitgeteilter Handlung, weist der Beschreibung retrospektiv Sinn zu. Von Bedeutung ist das ›im Nachhinein‹, denn der Erzählchronologie folgend muß der lange Erzählerbericht zunächst als unmotiviert gelten. Die ›Motivation von hinten‹ ist also ›ästhetisch-kompositorisch‹ gestaltet; erst im Wissen um den Gesamttext lassen sich die einzelnen Erzählabschnitte als motiviert wahrnehmen.
Die Begriffe nach Matías Martínez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen . Martínez selbst beruft sich auf Clemens Lugowski. Vgl. auch Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München , S. –, insbesondere S. etwa mit dem Zitat Tomaˇsevskijs: »Cˇechovs These, wenn man zu Beginn einer Erzählung von einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen, zielt genau auf die kompositorische Motvierung«. Anzumerken bleibt, daß Stifter nicht bloß ein Motiv wiederaufnimmt, sondern eine ganze Erzählpassage einmal deskreptiv-statisch, einmal handlungsbildend doppelt.
Mit dem Wissen um diese kompositorische Gestaltung könnte man hoffen, auch der kontrovers diskutierten Frage nach dem christlichen Gehalt von ›Bergkristall‹ beizukommen. Die Dörfler selbst sind streng gläubig und auch der Erzähler schließt sich bereits in seinem ersten Satz davon nicht aus: »Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen« (S. ). Um so mehr erstaunt es, daß die eigentliche Geschichte, die unfreiwillige Bergbesteigung der Kinder, ganz ohne christliche Konnotationen auskommt, sie sogar explizit negiert. Um Mitternacht, als in den Tälern alle Glocken läuten, während Konrad und Sanna mit dem Kaffeesud gegen den todbringenden Schlaf ankämpfen, heißt es: »nur zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkündigen« (S. ). Wenig später erläutert der Erzähler die Brisanz der lebensbedrohlichen Situation: was auch immer die Kinder noch hätten tun können, so würden sie den Schlaf nicht haben überwinden können, dessen verführende Süssigkeit alle Gründe überwiegt, wenn nicht die Natur in ihrer Größe ihnen beigestanden wäre, und in ihrem Innern eine Kraft aufgerufen hätte, welche im Stande war, dem Schlafe zu widerstehen. (›Bergkristall‹, S. )
Zwei Mal unterläuft der Erzähler damit seine eigene Erzählung. Wer zu Beginn über die Feste der katholischen Kirche ins Schwelgen gerät, dem ist kaum zu glauben, daß er einen Ort kennt, an dem »nichts zu verkündigen« ist, beziehungsweise, daß kein Gott, sondern die »Natur in ihrer Größe« den bedrohten Kindern »Beistand« leiste. Die Skepsis verstärkt sich, wenn man bedenkt, daß weitere Ereignisse in den deskriptiven Erzählpassagen zu Beginn bereits vorgebildet sind. So heißt es beispielsweise gleich am Anfang, daß zur Nachtfeier des Christfests »die Gloken durch die stille finstere winterliche Mitternachtluft laden« (S. ) und
Vgl. etwa Hugo Schmidt, Eishöhle und Steinhäuschen: Zur Weihnachstsymbolik in Stifters »Bergkristall«. In: Monatshefte, , , S. –, gegenüber Larry D. Wells, Adalbert Stifters »Bergkristall«. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich (VASILO), , , S. –. Diese Passage fehlt in der Journalfassung ›Der heilige Abend‹ und lautet in der handschriftlichen Druckvorlage zunächst so: »[wenn nicht die äußere Natur selber den Kindern zu Hilfe gekommen wäre] und in [ihnen] eine Kraft aufgerufen hätte, welche im Stande war, dem Schlafe zu widerstehen[, und ein Unglück zu verhindern, das dann wahrscheinlich eingetreten wäre.]« HKG ,, S. f. – die eckigen Klammern bezeichnen hier den getilgten Text. Vgl. S. : »In diesem Augenblike der heutigen Nacht wurde nun mit allen Gloken geläutet, es läuteten die Gloken in Millsdorf, es läuteten die Gloken in Gschaid, und hinter dem Berge war noch ein Kirchlein mit drei hellen klingenden Gloken die läuteten. In den fernen Ländern draußen waren unzählige Kirchen und Gloken, und mit allen wurde zu dieser Zeit geläutet, von Dorf zu Dorf ging die Tonwelle, ja man konnte wohl zuweilen von einem Dorfe zum andern durch die blätterlosen Zweige das Läuten hören«.
daß man dann »Lichter und meistens sehr viele an[zündet]« (S. ). Auch die Lichterscheinung, der grün-schimmernde Lichtbogen mit »Garben wie verschiedenen Lichtes auf der Höhe des Bogens wie Zaken einer Krone« (S. ), aufgrund dessen Sanna später behaupten wird »Mutter, ich habe heute Nachts, als wir auf dem Berge sassen, den heiligen Christ gesehen« (S. ), läßt sich in der Einleitung wiederfinden: Es hat sich fast in allen christlichen Ländern verbreitet, daß man den Kindern die Ankunft des Christkindleins – auch eines Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war – als ein heiteres glänzendes feierliches Ding zeigt, das durch das ganze Leben fortwirkt, und manchmal noch spät im Alter bei trüben schwermüthigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam als Rükblik in die einstige Zeit mit den bunten schimmernden Fittigen durch den öden, traurigen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt. (›Bergkristall‹, S. f.)
Während also der eigentliche Handlungsraum ›Berg‹ sich durch die Macht der Natur bei gleichzeitiger Abwesenheit Gottes auszeichnet, so darf die ›Rahmen‹-Konstruktion im Gegenteil als unbedingtes Zugeständnis an die göttliche Allmacht und Gnade gelten. Auf die Rettung der Kinder reagiert der Hirte Philipp mit den ersten Worten: »Gebenedeit sei Gott« (S. ). Maßgeblich für den Status der erzählten Welt ist allerdings weniger die Figurenrede Phillipps oder auch Sannas, sondern die Erzählerrede. Ein Erzähler jedoch, der seine Geschichte christlich einbettet, in der eigentlichen Handlung aber der Natur den Vorzug vor seinem Gott gibt, ist als Erzähler nicht glaubwürdig. Die kompositorische Motivation, die in anderen Erzählpassagen noch nachgewiesen werden konnte, läuft an dieser Stelle ins Leere: der Widerspruch nämlich zwischen Natur und Gott bleibt unauflösbar, und weder ist das Naturschauspiel qua ›Rahmen‹ als Gotteswerk interpretierbar noch kann in der eigentlichen Geschichte das mächtige Wirken der Natur der frömmelnden Erzählerrede zu Beginn etwas anhaben. Zu hoffen bleibt, daß für den Erzähler der hochgradig ästhetisierten Novelle ›Bergkristall‹ nicht ähnliches zu behaupten ist, wie es die Dorfbewohner von Gschaid sich nachsagen lassen müssen: Dieser Berg ist auch der Stolz des Dorfes, als hätten sie ihn selber gemacht, und es ist nicht so ganz entschieden, wenn man auch die Biederkeit und Wahrheitsliebe der Thalbewohner hoch anschlägt, ob sie nicht zuweilen zur Ehre und zum Ruhme des Berges lügen. (›Bergkristall‹, S. )
In ›Kazensilber‹, der einzigen originär für die Sammlung geschriebenen Novelle, bilden gleich zwei Katastrophen die spektakulären Handlungshöhepunkte: ein Hagelschauer und ein Hofbrand. In beiden Fällen rettet das braune
Vgl. S. : »Das war der Zeitpunkt, in welchen man in den Thälern die Lichter anzuzünden pflegt. Zuerst wird eines angezündet […] – aber heute erst – am heiligen Abende – da wurden viel mehrere angezündet«. Der Kommentar legt nahe, daß die Kinder das Nordlicht sehen. HKG ,, S. .
Mädchen die Familie, die sich durch liebevolle Sozialisierung beziehungsweise Kultivierung des verwahrlosten Naturwesens bedankt. Eine große Rolle in ›Kazensilber‹ spielen Märchen und Sagen. Den Wahrheitsgehalt der Worte ihrer Großmutter prüfen die Kinder selbst, als sie von Gold und Perlen erzählt bekommen, die in den Bergflüssen zu finden seien: Für sich allein standen die Kinder gerne am Bache, wo er sanft fließt, und allerlei krause Linien zieht, und blikten auf den Sand, der wohl wie Gold war, wenn die Sonne durch das Wasser auf ihn schien, und der glänzende Blättchen und Körner zeigte. Wenn sie aber mit einem Schäufelchen Sand heraus holten, und gut wuschen, und schwemmten, so waren die Blättchen Kazensilber, und die Körner waren schneeweiße Stükchen von Kiesel. Muscheln waren wenige zu sehen, und wenn sie eine fanden, so war sie im Innern glatt, und es war keine Perle darin. (›Kazensilber‹, S. )
Diese Funde sind zweifelsfrei ernüchternd, denn sie beweisen quasi empirischnaturwissenschaftlich, daß die Dinge nicht sind, was sie scheinen: der Goldschimmer rührt vom Sand her, das Glänzen läßt sich auf das profane ›Kazensilber‹ zurückführen und die wenigen Muscheln sind leer. Die Episode hat – abgesehen von der Erwähnung des titelgebenden Gesteins – zunächst keine größere Relevanz, denn daß in einer Geschichte Märchen und Sagen erzählt werden, die freilich kein ›realistisches‹ Fundament besitzen, ist sicher kein Verstoß gegen die Erzähllogik. Problematisch wird es jedoch, wenn die binnenerzählten Sagen sich innerhalb der erzählten Welt als ›unrichtig‹ herausstellen, während sie an anderer Stelle in die erzählte Welt hineinragen, sie gar entscheidend beeinflussen. Genau dies ist in ›Kazensilber‹ der Fall. Lange vor der Bekanntschaft mit dem braunen Mädchen, auch wohl vor der Geburt von ›Braunköpfchen‹ Sigismund, erzählt die Großmutter die Geschichte von einer Magd »mit braunem Angesicht« (S. ). Diese verläßt greinend ihren Bauern, nachdem er ihr die Worte berichtet, die ihm eine Stimme im Wald mitgeteilt hat: »Jochträger, Jochträger, sag’ der Sture Mure, die Rauh-Rinde sei todt – Jochträger, Jochträger, sag’ der Sture Mure, die Rauh-Rinde sei todt« (S. ). Nach der schwer errungenen Eingliederung des braunen Mädchens in die Familie, finden es Vater und Mutter eines Sommertages weinend auf einem Sandhaufen. »Sture Mure ist todt, und der hohe Felsen ist todt« (S. ), gibt es als (schwerlich motivierte) Begründung für seine Trauer an. Die Eltern versi
Neben dem Kommentar in HKG ,, S. –, vgl. insbesondere Hanns-Peter Mederer, Sagenerzählungen und Sagenerzähler im Werk Adalbert Stifters. In: JASILO, , , S. –. Es spielt keine Rolle, ob die Kinder tatsächlich mit prüfender Absicht handeln. Entscheidend ist, daß eine Erzählung innerhalb der erzählten Welt durch diese widerlegt wird. Hier wird (zweifelhafte, »seltsame«) Landesgeschichte tradiert: »In früheren Jahren haben seltsame Menschen, die weit von der Ferne gekommen sind, das Gold in unseren Bächen gewaschen« (S. f.). Vgl. auch Mederer, Sagenerzählungen, S. .
chern dem Mädchen ihre Liebe, dieses umarmt die Mutter heftig, bricht weinend zusammen und läuft schließlich weg: »Sie sahen das Mädchen über die Sandlehne empor gehen, und sahen es seitdem nie wieder« (S. ). Wenn man nun vernünftigerweise annimmt, daß die Sage selbst keinerlei Wahrheitsgehalt besitzt (dies nämlich ist die Folgerung aus der ›KazensilberEpisode‹), so muß das braune Mädchen als beziehungslose Figur der erzählten Welt vielmehr der Sagenwelt entsprungen sein. Die Existenz einer irrealen Märchengestalt innerhalb der ›realen‹ erzählten Welt ist mit der herkömmlichen Realismus-Programmatik in keiner Weise vereinbar und die Unmöglichkeit einer stringenten Fiktion damit evident. Ganz anders verhält es sich mit ›Bergmilch‹. Diese Erzählung entspricht am wenigsten der hier vorgestellten Konzeption von ›Novelle‹ und hat gleichsam anekdotischen Charakter. Zwar ist eine längere Einleitung (S. –) auszumachen, doch steht diese ›Rahmung‹, anders als etwa in ›Bergkristall‹, kaum im Kontrast zur eigentlichen Geschichte, sondern führt vielmehr stringent zu dieser hin. Die Konzentration des Erzählten wird um so deutlicher, wenn man die Journalfassung hinzuzieht. In ›Wirkungen eines weißen Mantels‹ () ist nämlich ein homodiegetischer Erzähler als Nebenfigur der Handlung bemüht, die »Materialien« zu einem Stoff zu geben, der »von der tüchtigsten Feder beschrieben werden sollte[]« (HKG ., S. ); er hat einen Teil der Ereignisse der Nacht inzwischen vergessen, wodurch sie nur noch romantischer wird, daher ich sie gerade auch so erzählen will, nicht aber, wie sie nachher gar oft vom Herrn Amadäus erzählt und entstellt worden ist. (›Wirkungen eines weißen Mantels‹, HKG ., S. )
Der Verweis auf die romantische Tradition nicht nur bruchstückhafter, sondern auch ästhetisierter (»entstellter«) Erzählkunst, erlaubt mit seinen Begleitumständen einen Blick auf das vielgestaltige Panorama novellistischen Schreibens. In der Überarbeitung der Novelle zu ›Bergmilch‹ findet dieser Passus keine Wiederaufnahme, womit sich ein (seltenes) Beispiel für die völlige Konzentration auf die Darstellung offenbart.
Vielerlei deutet tatsächlich auf diese Annahme hin, etwa die (an ›Turmalin‹ erinnernden) intensiven, aber mehrfach erfolglosen Nachforschungen über das ›Vorleben‹ des braunen Mädchens. Mederer, Sagenerzählungen, S. , schreibt, Stifters ›Kazensilber‹ werde mit der Wiederaufnahme der Sture-Mure-Sage »selbst am Ende zu einer auf dem Boden eines ausgestalteten und damit auch in gewisser Weise gesellschaftlichen und individualpsychologischen ›Realismus‹ Sage«; vgl. auch ebd. S. f. Noch stärker konturiert bei Christian Begemann, Metaphysik und Empirie. Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters. In: Wissen in Literatur im . Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert, Tübingen , S. –; hier S. f. Die Erzählung ist somit die früheste der Journalfassungen der ›Bunten Steine‹.
. ›Bunte Steine‹ in Serie Der Beginn von ›Bergmilch‹ nimmt sich wenig spektakulär aus, doch setzt sich in ihm unbemerkt der Gang durchs »Vaterland« fort, der in ›Bergkristall‹ anhebt: In den hohen Gebirgen unsers Vaterlandes steht ein Dörfchen […]. (›Bergkristall‹, S. ) In einem abgelegenen aber sehr schönen Theile unsers Vaterlandes steht ein stattlicher Hof. (›Kazensilber‹, S. ) In unserem Vaterlande steht ein Schloß, […]. (›Bergmilch‹, S. )
Auch schon zuvor wurde gewandert: durch das Berg- und Waldpanorama in ›Granit‹ und durch das Kargebiet in ›Kalkstein‹; einzig die Stadtwohnung in ›Turmalin‹ bildet hier eine Ausnahme. Einigkeit und Disparität bestimmen auch die Behandlung der titelgebenden ›Bunten Steine‹. Der ›Turmalin‹ wird dort nur in der Rahmenerzählung erwähnt, in der eigentlichen Geschichte spielt er keine Rolle. Anders verhält es sich mit den Novellen ›Kazensilber‹ und ›Kalkstein‹, in denen zum einen das Gestein den Handlungsort bestimmt (›Kalkstein‹), zum anderen der Stein immerhin als ›Spielzeug‹ Erwähnung findet (›Kazensilber‹). ›Granit‹ und ›Bergkristall‹ können vielleicht noch im seit Generationen besessenen Stein der Rahmenerzählung (›Granit‹) beziehungsweise in Berg und Eis (gr. krystallos) von ›Bergkristall‹ wiedergefunden werden, doch spätestens mit ›Bergmilch‹ muß der Reigen der bunten Stein-Interpreta
Während es sich bei ›Kazensilber‹ und ›Bergmilch‹ um die Anfangssätze handelt, ist der zitierte Satz aus ›Bergkristall‹ der erste nach den Erläuterungen des Erzählers zu den kirchlichen Festtagen. – Mit der Bezeichnung »unser Vaterland« gibt sich der Erzähler in gewisser Weise als ›beteiligt‹ zu erkennen. Wie schwierig es ist, diese Beobachtung interpretatorisch sinngebend auszuwerten, zeigt die meines Erachtens nicht restlos überzeugende Deutung von Lori Wagner, die Stein und Ort folgende zyklische Bedeutung zuweist: ansteigend im Bergpanorama von den Tiefen des Tales (›Granit‹), zu flachem, steinigen Terrain (›Kalkstein‹), zur Wiener Vorstadt (›Turmalin‹), zu den höchsten Höhen der Berge (›Bergkristall‹), absteigend zu den Hügeln (›Katzensilber‹) in die Tiefe (›Bergmilch‹). Wagner, Schichten, S. f. Diskutabel ist meines Erachtens auch eine zweite These Wagners: »The elements of Bergkristall (rock crytal or quartz), Kalkstein and Bergmilch (calcites such as is Feldspat), Kazensilber (Argentinian mica, a non-indigenous form of mica or Glimmer), and Turmalin (Schörl is black tourmaline), which form the unity of Bunte Steine, are all Bausteine or rock-building minerals present in granite – a mass-unity of diverse aggregate types. Further, Granit as the base of sedimentary ›existence‹, and the first novella in the grouping by Stifter, serves as the foundation for Bunte Steine both in meaning and form. The succeeding novellas proceed in layers, corresponding to the sequence of geological sedimentary or schicht structure with limestone building upon the granite followed by tourmaline, rock crystal, mica, and topped by the surface mineral, rock milk (rock meal).« Wagner, Schichten, S. .
tion sein Ende finden: weder wird der Stein genannt noch spielt ein Berg eine besondere Rolle. In Anbetracht solcher Schwierigkeiten griff man kurzerhand zur symbolischen Interpretation: ›Bergmilch‹ sei repräsentiert durch den weißen Mantel des Fremden, der ›Turmalin‹ durch die rote Pforte des Herrenhauses. Während die erste Deutung eher trivial erscheint, ist die zweite nachgerade waghalsig: »Der Turmalin ist dunkel« (S. ), aber das Pförtchen ist schlicht rot. Viel wahrscheinlicher ist, daß der dunkle Turmalin schwarz ist, also der für Stifter heimische Schörl gemeint ist, wie ja auch alle anderen Steine kein exotisches Moment aufweisen. Betrachtet man nun die Reihe der Steine, fällt auf, daß sie zwar sehr verschieden, aber keineswegs farblich bunt sind: das (vereinfachte) Spektrum reicht vom diffusen Grau-Schwarz (›Granit‹) über Grau-Weiß (›Kalk
Gerhart von Graevenitz nennt den Zyklus »eine Kombination nach wechselnden Zuordnungskriterien« sowie eine »lose, die Gesichtspunkte wechselnde metaphorische Elementenkombinatorik«; er resümiert später: »Wie im Granit Feldspat, Quarz und Glimmer eng verbunden sind, so in Stifters ›Granit‹ Sehen und Verstehen, geometrische und semiotische Ordnung, physikalische und moralische Natur, Konstruktion, Materialisation und Signifikation. Der geologischen folgt die losere personale Vereinigungsinszenierung in ›Kalkstein‹, die Freundschaft von Geometer und Zeichenstifter. Dann aber verfällt das Vereinte (›Turmalin‹) und zeigt in radikaler Dekomposition (›Bergkristall‹) die isolierte Reinheit der Elemente und die Lebensfeindlichkeit der vorelementaren Differenzlosigkeit. Die Dekomposition wird zurückgenommen, findet aber nur zurück zum ›Losen‹, zum problematischen ›Aggregat‹ der ›Bergmilch‹. Der zyklische Durchgang durch Komposition und Dekomposition macht deutlich, was die literarische Konstruktion des anthropologischen Wissens im perspektivischen Dispositiv sein kann, nämlich eine bis zur ›Amme des Werdens‹ zurückführende Analyse aller geometrischen, materiellen und semiotischen Bausteine, aus denen der Anthropos als ›Aggregat‹ zusammengefügt werden kann.« Gerhart von Graevenitz, Wissen und Sehen. Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschriftenpresse des . Jahrhunderts und in realistischen Texten. Zu Stifters Bunten Steinen und Kellers Sinngedicht. In: Wissen in Literatur im . Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert, Tübingen , S. –; hier S. und f. Zur Un-Interpretierbarkeit des Titels bereits Erhard Banitz, Das Geologenbild Adalbert Stifters. In: Gestaltung. Umgestaltung. Festschrift zum . Geburtstag von Hermann August Korff, hg. von Joachim Müller, Leipzig . S. –; hier S. , sowie Hellmuth Himmel, Adalbert Stifters Novelle »Bergmilch«. Eine Analyse, Köln, Wien , S. . Larissa N. Polubojarinowa, Adalbert Stifters Bunte Steine. Zum Problem der zyklischen Aufbauform. In: JASILO, , , S. –; hier S. . Joachim Müller, Stifters »Turmalin« – Erzählhaltung und Motivstruktur im Vergleich beider Fassungen. In: VASILO, , , S. –. Müller mißachtet Stifters Texteingriff, wenn er die dunkelrote Pforte der Journalfassung (ohne titelgebendes Gestein) zur Deutung des titelgebenden Gesteins der Buchfassung (mit bloß roter Pforte) heranzieht. Müller, Turmalin, S. . Darauf deutet auch die zeitgenössische Reaktion einer Freundin Stifters, Antonie Arneth (die überdies als Vorbild für die Erzählerin in ›Turmalin‹ gelten darf), hin: »und ist’s ein Turmalin, so ist er in Perlen gefaßt« (zitiert nach HKG ,, S. ).
stein‹), Schwarz (›Turmalin‹), Durchsichtig (›Bergkristall‹), Durchsichtig-Silbern (›Kazensilber‹) bis Weiß (›Bergmilch‹). Die farblosen Steine verweigern also nicht nur eine symbolisch-mimetische, auf die Erzählungen verweisende Interpretation, sie werden sogar im Titel falsch apostrophiert. Sowohl der Versuch, den Steintitel mit der jeweiligen Novelle in Einklang zu bringen, als auch die Bemühung, die Reihe der ›Bunten Steine‹ in ihrer Zyklizität zu begreifen, hat noch zu keinen überzeugenden Ergebnissen geführt. Die folgende Überlegung kann ersteres Desiderat nicht beseitigen, scheitert also an der Frage nach der Bedeutung der Titelsteine für die erzählten Welten. Hingegen soll vermittelt werden, weshalb die ›Bunten Steine‹ als zyklische Dichtung ein vielseitig ›ästhetisiertes‹ Kunstwerk insofern darstellen, als nicht nur eine textübergreifende Kohärenz klar erkennbar ist, sondern überdies eine bedeutungstragende Relation in der Abfolge der Texte selbst liegt. Interpretatorisch maßgeblich ist dabei der titelgebende Stein. »Wenn ich Zeit hatte, legte ich meine Schäze in eine Reihe, betrachtete sie, und hatte mein Vergnügen an ihnen« (S. ) berichtet der Erzähler in seiner ›Einleitung‹. Das Vergnügen erstreckt sich dabei vom recht profanen ›Granit‹ bis zur kaum exotischeren ›Bergmilch‹. Wenngleich auch die Bestimmungsmerkmale wie etwa Farbe oder Härte nur schwerlich eine durchdachte Reihenfolge erkennen lassen, so verhält es sich anders, wenn man die Steine klassifiziert: den Gesteinen Granit und Kalkstein stehen die Mineralien Turmalin, Bergkristall, Katzensilber und Bergmilch gegenüber.
Czucka interpretiert demgemäß das ›Bunte‹ als das Manngifaltige. Eckehard Czucka, Emphatische Prosa. Das Problem der Wirklichkeit der Ereignisse in der Literatur des . Jahrhunderts. Sprachkritische Interpretationen zu Goethe, Alexander von Humboldt, Stifter und anderen, Stuttgart , S. . Man mag mit der ›Einleitung‹ (S. ) einwenden, zwar nicht der Stein selbst, aber dessen lichtvolles Schimmern und Glänzen stünde im Vordergrund, wie etwa eine Stelle in ›Kalkstein‹ nahelegt: »Der unermeßliche Regen der Nacht hatte die Kalksteinhügel glatt gewaschen, und sie standen weiß und glänzend unter dem Blau des Himmels und unter den Strahlen der Sonne da. Wie sie hinter einander zurück wichen, wiesen sie in zarten Abstufungen ihre gebrochenen Glanzfarben in Grau, Gelblich, Röthlich, Rosenfarbig, und dazwischen lagen die länglichen nach rükwärts immer schöneren luftblauen Schatten« (S. ). Doch auch eine solche Beobachtung kann meines Erachtens nicht für alle Novellen der Sammlung wiederholt werden, womit eine derartige Sammlungs-Interpretation hinfällig wird. Noch einmal seien die umsichtigen geologischen/geometrischen Ansätze von Wagner und von Graevnitz genannt, die meines Erachtens erst in ihrer interpretatorischen ›Sinngebung‹ verblassen. Wagner, Schichten, und von Graenitz, Wissen und Sehen. Vgl. Ort, Zyklische Dichtung, S. . Von Graevenitz rechnet Bergmilch zu den Gesteinen und betont damit den bloß veränderten Aggregatzustand des verwitterten Kalks (von Graenitz, Wissen und Sehen, S. ). Kalkstein ist jedoch eine Zusammensetzung von Mineralien, Bergmilch eine reine Calzitablagerung.
Der Granit war in den Anfängen der Geologie, die sich als Wissenschaft nach heutigem Verständnis seit Ende des . Jahrhunderts herausbildete, in ganz besonderem Maße populär: Bei dem großen Antheil, welchen der Granit an der Gebirgsbildung der Erdoberfläche nimmt, ist seine Entstehung von jeher lebhaft erörtert worden, ja um ihn hauptsächlich dreht sich der alte und bis heute noch nicht ausgeglichene Kampf der Neptunisten und Plutonisten, […].
Der auch von Johann Wolfgang Goethe vielfach diskutierte Streit zwischen Neptunisten und Plutonisten beruht auf den unterschiedlichen Auffassung von der Entstehung der Erdoberfläche: Plutonisten (»Durch Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen«) stritten mit Neptunisten (»Im Feuchten ist Lebendiges erstanden«). Unstrittig war allerdings der Status des Granit als ›Urgebirgsart‹, vor dem Kalkstein, dem allerdings der gleiche Status eingeräumt wurde: »Die uranfänglichen Gebirge sind die ältesten, und alle übrige Gebirge ruhen auf diese, daher sie auch Grundgebirge genennt werden.« Die heute übliche Klassifizierung von Granit und Kalkstein unter die ›Gesteine‹ findet sich sehr differenziert auch schon zur Mitte des . Jahrhunderts: weder die Neptunisten noch die Plutonisten sind im Unrecht. Es kann nämlich unterschieden werden zwischen den ›Gesteinen aus dem Feuer‹, den Magmatiten (darunter Granit), und den ›Gesteinen aus dem Wasser‹, den Sedimentiten (darunter Kalkstein).
Zum Verhältnis von Geologie und Poesie seit dem späten . Jahrhundert: Erika Schellenberger-Diederich, Geopoetik. Studien zur Metaphorik des Gesteins in der Lyrik von Hölderlin bis Celan, Bielefeld ; dort auch zu den ›Bunten Steinen‹ S. –. J. S. Ersch und J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig –, Teil : Grammatik– Granson, Graz , S. –; hier S. Vgl. etwa Andrea Gnam, »Geognosie, Geologie, Mineralogie und Angehöriges«. Goethe als Erforscher der Erdgeschichte. In: Goethe nach . Positionen und Perspektiven, hg. von Matthias Luserke, Göttingen , S. –. Beide Zitate aus ›Faust. Der Tragödie zweiter Teil‹, V. f; vgl. auch V. –. Hier zitiert nach Johann Wolfgang Goethe, Letzte Jahre –. Teil I, hg. von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer, München , S. –; hier S. . Nicht nur in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (etwa ›Über den Granit‹, ) finden sich ›geognostische‹ Überlegungen, sondern auch etwa in den ›Zahmen Xenien. VI‹ () und in ›Wilhem Meisters Wanderjahren‹ (in zweiter Fassung ), Zweites Buch, Neuntes Kapitel. – Zusammenhänge zwischen der (historischen) Geologie und Stifters ›Bunten Steinen‹ stellen unter anderem her: Selge, Naturwissenschaft; Czucka, Emphatische Prosa, insbesondere S. und mit Blick auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften Wagner, Schichten. Johann Georg Lenz, Grundriß der Mineralogie. Nach dem neuesten Wernerschen System, Hildburghausen , S. . Hervorhebungen im Original. Unter den ›Bunten Steinen‹ finden sich keine Metamorphite – anders Czucka, Emphatische Prosa, S. –, die die dritte Klasse der Gesteine ausmachen. Sie entstehen, unter großem Druck und hoher Temperatur, durch Umwandlung anderer
Bei Stifter folgen auf besagte »uranfängliche Gebirge« zwei Schmucksteine: zunächst der Mitte des . Jahrhunderts nicht nur aufgrund seiner noch unbekannten chemischen Zusammensetzung als »sehr merkwürdig« geltende, lichtundurchlässige Turmalin, dann der Bergkristall, reiner, klarer Quarz. Entstehungsgeschichtlich sind sie den Mineralien der Magmatite zuzuordnen, bilden sich also durch Erstarrung von Schmelzflüssen und finden sich überdies als Kristalle in Gesteinen wie Granit und Kalkstein eingewachsen. Im ›Turmalinfels‹ (›Schörlfels‹) sind beide Mineralien vereint. Dieser wird beschrieben als »ein hier und da in Granitgebieten auftretendes, im ganzen wenig verbreitetes Gestein, aus Quarz und schwarzem Turmalin (in Körnern oder Nadeln) bestehend«. ›Bunte Steine‹ werden beschlossen mit dem ausgezeichnet spaltbaren, blättrig-brüchigen Katzensilber (volkstümlicher Name des zur Gruppe der Glimmer gehörenden Muskovit, Mineral der Magmatite) und den weißen, pulverartigen Kalkablagerungen ›Bergmilch‹ (Mineral der Sedimentite), zwei Mineralien, die auf die anfänglichen Urgesteine zurückverweisen. Glimmer nämlich ist neben Feldspat und Quarz Hauptbestandteil des Granits, anders als diese aber weniger stark im Stein eingefaßt. In der ›Einleitung‹ heißt es etwa:
Gesteine. Zur Klassifizierung vgl. etwa Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. , Stuttgart und Augsburg , S. . So die Zuschreibung, auch mit Blick auf Kristallisation und elektrische Fähigkeiten des Turmalins, von August Breithaupt, Vollständiges Handbuch der Mineralogie, Bd. , Dresden und Leipzig , S. –. – Hinweis nach Hans Lüschen, Die Namen der Steine. Das Mineralreich im Spiegel der Sprache, Thun und München , S. . Bis zu Beginn der Frühen Neuzeit galt der Bergkristall insofern als ›Wasser‹-Stein, als man glaubte, er entstehe aus ungewöhnlich erhärtetem Eis. Hans Ulrich Beil, Die Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main u. a. , S. f. Folgt man dieser Bemerkung (wider dem Wissensstand des . Jahrhunderts), so kann man drei Feuer-Wasser-Paradigmen feststellen: Granit–Kalkstein, Turmalin–Bergkristall, Kazensilber–Bergmilch. Die Sorge des »Verfassers«, es könne sich unter den ›Bunten Steinen‹ auch Glas befinden (›Einleitung‹, S. ) ist insofern berechtigt, als die aus Magma erstarrten Mineralien nicht selten Glas-Einschlüsse aufweisen. Artikel ›Turmalin‹, in: Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, Bd. : Turkos–Zz, Leipzig und Wien , S. . – Man mag eine Stelle aus ›Bergkristall‹ heranziehen, die sich allerdings auch schon in der Journalfassung ›Der heilige Abend‹ findet: »Selbst ein großer schrekhaft schwarzer Stein, wie ein Haus, lag unter dem Eise, und war empor gestellt, daß er auf der Spize stand, daß kein Schnee an seinen Seiten liegen bleiben konnte« (HKG ., S. ; vgl. HKG ., S. ). Nicht Quarz wie Banitz, Geologenbild, S. anführt. Vgl. den Artikel ›Bergmilch‹ in J. S. Ersch und J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig –, Teil : Bene–Bibeh, Graz , S. .
In diesen Steinen steken kleine Bättchen, die wie Silber und Diamanten funkeln, und die man mit einem Messer oder mit einer Ahle herausbrechen kann. Wir Kinder hießen die Blättchen Kazensilber und hatten eine sehr große Freude an ihnen. (›Einleitung‹, S. )
Ähnlich bruchstückhaft ist ›Bergmilch‹ beschaffen, meint nämlich nichts anderes als verwitterten Kalk, häufig zu finden in Klüften und Höhlungen von Kalksteinen. Sowohl Katzensilber als auch Bergmilch verkörpern damit nicht unbedingt das, was man sich unter Steinen vorstellt. Die enge Verbindung der beiden Schluß-Steine mit den Anfangs-Gesteinen vervollständigt eine Reihe, die keineswegs der in der Einleitung geäußerten Beliebigkeit anheimgestellt ist: »Weil es unermeßlich viele Steine gibt, so kann ich gar nicht voraus sagen, wie groß diese Sammlung werden wird« (S. ). Ob mit dieser Reihe jedoch mimetisch abgebildet wird, was die einzelnen Novellen in ihren erzählten Welten vermitteln, ist mehr als fragwürdig. Vielmehr wird ein ästhetisches Gerüst offenbar, das nicht mehr narrativ vermittelt werden muß, sondern jenseits der Erzählebenen eine Konzeption erkennen läßt, mit der man freilich nicht ohne weiteres »zu den harmlosen folgenden Dingen übergehen« möchte (S. ). – Damit soll aber auch nicht ausgeschlossen werden, was schon andernorts im ›Wiegenlied. Dem jungen Mineralogen Walther Wolfgang von Goethe‹ verkündet wurde: »Steinchen, die bunten, ein lustiges Spiel!«
Ähnlich in ›Kazensilber‹: »Wenn sie [die Kinder] in den Felsen hinauf gekommen waren, sassen sie auf einem Bänklein oder auf einem Stüke Stein, nahmen eine Steknadel aus den Bändern ihres Hutes, oder bathen die Großmutter um ein spizes Messerlein, das sie in ihrer Armtasche hatte, und gruben die kleinen feinen Blättchen und Flinserchen aus den Steinen, die da staken, und so funkelten und glänzten. Sie thaten dieselben in ein Papierchen, und hoben sie im Schürzensäkchen oder in der Armtasche der Großmutter auf« (S. ). Zitiert nach Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Abt. , Bd. : Schriften zur Geologie und Mineralogie. –, hg. von Günther Schmid, Weimar , S. f. Auch die Schlußverse mögen nicht vorenthalten werden: »Komme! der Stiftende führet dich ein / Unserem Ringe willkommener Stein!«
. Gottfried Keller ›Züricher Novellen‹
Zu Gottfried Kellers ›Züricher Novellen‹ (zwei Bände, ) ist angemerkt worden, daß »die merkwürdig lockere und uneinheitliche Fügung des ganzen Zyklus ein schier unlösbares Rätsel« bilde. Auch die ›Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe‹ verweist auf »eine gewisse Inkonsequenz« in der Gesamtstruktur des Zyklus, erklärt sie allerdings entschärfend »als eine Folge der Entstehungsgeschichte«. Im folgenden soll dieser Erklärung mit einer detaillierten Analyse der Rahmenhandlung begegnet werden, die das Fundament des Zyklus bildet (Kapitel .). Der entstehungsgeschichtliche Hintergrund (Kapitel .) sowie editionsphilologisch begründete Fragen nach der Text- und damit Zykluskonstitution (Kapitel .) werden abgehandelt, um auch nichttextimmanente Bezüge dieser »Inkonsequenz« ins Blickfeld zu nehmen. Es stellt sich heraus, daß ›Ästhetisierung‹ und ›Wahrscheinlichkeit‹ in den ›Züricher Novellen‹ von der Textvorlage abhängige und entsprechend abgestufte Qualitäten sind (Kapitel .).
Ausgeliefert wurde bereits im Dezember , die Auflage betrug Exemplare. Gottfried Keller, Züricher Novellen. Apparat zu Bd. , hg. von Walter Morgenthaler u. a., Basel, Frankfurt am Main, Zürich , S. . – Die Ausgabe wird im folgenden mit der Sigle ›HKKA‹ zitiert. Karl Reichert, Die Entstehung der ›Züricher Novellen‹ von Gottfried Keller. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, , , S. –; hier S. f. – Eindringlicher noch die Beurteilung von Klaus Jeziorkowski: »Zur Qualitätsminderung der ›Züricher Novellen‹ insgesamt trägt nicht wenig bei, daß in der endgültigen Buchausgabe noch zwei Erzählungen außerhalb des Rahmens angeklebt wurden: das früher unter anderen Voraussetzungen entstandene ›Fähnlein der sieben Aufrechten‹ und die Adhoc-Novelle ›Ursula‹, eigens zur Füllung des zweiten Bandes der Buchausgabe unter Zeitdruck geschrieben, nach Kellers eigenen Angaben ›nicht fertig‹ und zumal in der Schlußpartie unausgeführt. Diese beiden Erzählungen fallen im negativen Sinne aus dem Rahmen und tragen das meiste dazu bei, den Gesamtzyklus zusammengestoppelt erscheinen zu lassen.« Klaus Jeziorkowski, Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im . Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers, Heidelberg , S. . HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. .
. Die Geschichten der Paten »Gegen das Ende der achtzehnhundert und zwanziger Jahre« setzen die ›Züricher Novellen‹ ein. Medias in res erhebt »sich an einem hellen Sommermorgen ein junger Mensch von seinem Lager«. Noch vor der ersten Novelle, ›Hadlaub‹, beginnt damit die (unbetitelte) Geschichte des ›Herrn Jacques‹, der gequält wird durch den am Abend vorher in irgend einem vorlauten Buche gelesenen Satz, daß es heutzutage keine ursprünglichen Menschen, keine Originale mehr gebe, sondern nur noch Duzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendpersonen. (S. )
Die Bewertung des Buches als »vorlaut« ist einem ironischen Erzähler geschuldet, der seine Figur zwar hauptsächlich durch den sachlichen Bericht ihrer Grillen der Lächerlichkeit preisgibt, sich aber zuspitzender Kommentare nicht enthält. Jacques’ erwachender Originalitätsdrang spiegelt sich nicht nur in seinen neuen Wendungen wie »die Aurora dieser neuen Ära« (S. ) wider, sondern auch in dem Plan, die ›Metamorphosen‹ mit Zuckerrohr, Pfefferstaude und Kaffeepflanze fortzuführen. ›Der neue Ovid‹, so der Titel des Versuches, ist jedoch in seiner Anlage ohne »Handhabe«, weshalb »jenes Heft bis auf die stattliche Überschrift durchaus rein und weiß« bleibt (S. ). Ausgerüstet mit einem Notizbuch macht sich Jacques, »seiner Jugend gemäß einen raschen Entschluß« fassend, zu einem Spaziergang auf (S. ). Begleitet wird er kurzzeitig von einem kleinen Jungen, der sich jedoch mit Spielsachen an ein Gemäuer zurückzieht »und sich mutterseelenallein aber eifrig zu unterhalten« beginnt (S. ). Der Rückschluß des spöttischen Erzählers fällt vernichtend für Jacques aus: der kleine Junge scheint »ebenfalls ein Original werden zu wollen, ja ihn an Begabung bereits zu übertreffen.« (S. ) Am Ufer der Sihl hofft Jacques auf Inspiration, um mit Stift und Papier sogleich »die Zeugnisse seiner Originalität zu beglaubigen, welche die rauschenden
Gottfried Keller, Züricher Novellen, hg. von Thomas Böning, Frankfurt am Main . Beide Zitate S. . Im Folgenden zitiert mit bloßer Seitenangabe im Text. Die Entscheidung, die ›Züricher Novellen‹ nicht nach der HKKA zu zitieren, wird in Kapitel . begründet. Zur damit verbundenen Leserlenkung vgl. am Beispiel von ›Hadlaub‹: Hermann Kinder, Ermunterung zum Gutsein in G. Kellers »Hadlaub«. Für eine Funktionsgeschichte realistischer Texte. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, , S. –. Zum ›Buch im Buch‹ bei Keller, auch in den ›Züricher Novellen‹, vgl. Gail K. Hart, Readers and Their Fictions in the Novels and Novellas of Gottfried Keller, Chapel Hill, London . Die Darstellung Jacques’ durch den Erzähler gipfelt, durchaus schlüssig, in vehementer Abwertung der Figur: »Jacques ist ästhetischer Kapitalist, Ausbeuter des ›Höheren‹, Nutzanwender, Händler mit Schönem, Krämerseele und darin Philister bis auf die Knochen, Urtyp des Herrn Biedermeier und noch des Herrn Biedermann bei Max Frisch, dem späteren Züricher.« Jeziorkowski, Literarität und Historismus, S. .
Wasser ihm bringen sollten.« (S. ) Der Fluß hat jedoch »anderes zu tun« (S. ): beim Anblick der Holztransporte werden Jacques’ poetische Gedanken vertrieben, und er beginnt mit großem Erfolg und zu seiner eigenen Freude Berechnungen anzustellen, die die Summe des Holzwertes ermitteln. Mit Abschluß dieser Kalkulationen findet sich Jacques auf einer Gemeinweide wieder, auf der eine Gruppe alter, rüstiger Männer ihr jährliches Mörserschießen feiert. Er reiht sich in die Gesellschaft ein und versagt beim Aufsingen von Versen. Bei der Benennung der ›weiblichen‹ Geschütze – bevorzugt anakreontische oder mythologische Namen wie Doris, Chloe, Diana, Minerva usw. – entscheidet sich Jacques mit heftiger Inbrunst für »Sapientia!« (S. ), löst jedoch durch seinen Stimmbruch bloß Heiterkeit aus. Jacques zieht sich darauf zurück und wird von seinem gleichfalls anwesenden Paten nach den Gründen seiner Befangenheit gefragt: So eröffnete er denn dem alten Herrn seine Klage: Jene hätten gut lachen; er dagegen sei in einer Zeit geboren, in der man unbedingt kein Originalmensch mehr werden könne und am Gewöhnlichen haften bleiben müsse, was um so schmerzlicher sei, wenn man die letzten Überbleibsel schönerer Tage noch vor sich sehe. (S. )
Mit dieser Einführung wäre die ideale Konstellation für einen Novellenzyklus gegeben: eine potentielle Erzählgemeinschaft hat sich zusammengefunden, und auch ein Erzählanlaß drängt sich auf. Heilende Wirkung könnte man sich von Geschichten der reihum erzählenden alten und lebensweisen Männer versprechen, womit Jacques von seinen angestrengten Originalitätswünschen nach und nach ablassen würde. Mögliches Resultat wäre entweder Jacques’ Einsicht, Originalität nur auf ›natürliche‹, ungezwungene Weise erlangen zu können, oder aber sein vollständiger Verzicht auf geniale Ursprünglichkeit. Sein Pate jedoch schlägt einen gemeinsamen Spaziergang vor, und so entfernen sich die beiden von der Festgemeinschaft. Unterwegs treffen sie auf eine Gruppe junger Mädchen, darunter Jacques’ »Jugendflamme« (S. ), um die er auch »späterhin zu werben [fortfährt] mit der Ruhe und Gemessenheit einer guten Wanduhr, ohne je den Schlaf zu verlieren, oder, wenn er schlief, von der Sache zu träumen.« (S. ) Die Mädchen zerstreuen sich, als vom nahen Meierhof der Duft frischen Gebäcks herüberströmt. Der hungrige Jacques ist davon so sehr beeindruckt, daß seine Augen zu tränen beginnen, was sein Begleiter mißdeutet: Der alte Herr bemerkte es aber wohl und sah ihn kopfschüttelnd wieder von der Seite an; er hielt jedoch dafür, daß nicht die Kuchen, sondern seine jugendlichen Originalitätssorgen ihm noch zu schaffen machten und das Herz bedrängten, und führte den trauernden Heranwüchsling schweigend den steiler werden Pfad empor, bis […] die letzten Steintrümmer der ehemaligen Burg Manegg zu sehen waren. (S. )
Die Souveräntität des Erzählers offenbart sich in allerlei Voraussagen über die (stets unheilvolle) Zukunft der Mädchen, etwa: »dort das regelmäßige ruhige Engelsantlitz schien unmöglich Raum zu bieten für die Züge anererbter Habsucht und Heuchelei, welche in kurzer Zeit es durchfurchen und verwüsten sollten« (S. ).
Die Fortsetzung des Spaziergangs und damit die folgende Erzählung über die Burg Manegg sind also Resultat eines Mißverständnisses. Nicht der Novelle hätte es bedurft, sondern des Kuchens. Jacques und sein Pate nehmen auf einer Bank Platz, und der Pate beginnt mit seiner Einführung: »Also ein Original möchtet Ihr gerne sein, Meister Jacques?« Nur der seltene Fall derjenigen, die sich Nachahmung verdient haben – welche auf ›Rechtschaffenheit‹ und ›Tüchtigkeit‹ beruhe (S. ) – dürfe als gute Originalität verbucht werden. Als beispielhaft gelte etwa das Geschlecht der Manesses, die »ohne sich durch seltsame Manieren bemerklich zu machen, mustergültig ihren Platz ausfüllten« (S. ). In der Ferne verweist der Pate auf ein »Turmkorpus« (S. ), in dem die Manesses einst lebten. Rüdiger Manesse sei vorbildlich, »weil er die liebe- und freudenvolle und doch so bescheidene Unternehmung« veranstaltete (S. ), den ›Codex Manesse‹ zusammenzutragen: Die Entstehung der Handschrift aber bewirkte, daß wiederum andere Originale sich zeigten und entwickelten; das ereignete sich alles gar heiter und ergötzlich und hat mich in jüngeren Jahren gereizt, mir die Geschichte etwas zusammen zu denken und auszumalen, also daß ich dieselbe fast so erzählen kann, als ob ich sie aufgeschrieben hätte, und ich will Dir sie jetzt erzählen. Es wird eine schöne Mondnacht werden, und bis wir zu Hause sind, bin ich fertig. (S. )
Die folgende Erzählung wird demnach als »etwas zusammen gedacht« und »ausgemalt« bezeichnet, erhebt also mitnichten den Anspruch historischer Faktizität. Der Gestus der Mündlichkeit soll zurücktreten, da die Geschichte vom Paten erzählt wird, »als ob [er] sie aufgeschrieben hätte«. Die Gesprächssituation wird demnach in eine Pseudo-Schriftlichkeit enthoben, wenngleich das eigentliche Erzählen fest in der Rahmensituation verankert ist und dort die Zeit des Spaziergangs einnehmen soll. Es wird nicht, wie nach der Einleitung des Paten zu erwarten gewesen wäre, die Geschichte Rüdiger Manesses erzählt, sondern »es handelt sich dabei hauptsächlich um den Meister Hadlaub« (S. ). Die Rahmenhandlung mündet somit in die erste Novelle ›Hadlaub‹, und im letzten Satz werden der Rückweg und die begleitende Erzählung eingeleitet. Es
Zur Originalität und Jean-Jacques Rousseau vgl. Gerhard Kaiser, Natur und Geschichte. Kellers ›Ursula‹ und der Aufbau der ›Züricher Novellen‹. In: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, hg. von Friedrich A. Kittler, Gerhard Kaiser, Göttingen , S. –; insb. S. –. – Vgl. auch Denis Diderots ›Jacques le fataliste et son maître‹ () und den Melancholiker ›Jaques‹ in William Shakespeares ›As You Like It‹ (entst. ). Zu dieser Textpassage vgl. auch Thomas Böning, Kommentar. In: Gottfried Keller. Züricher Novellen, hg. von Thomas Böning, Frankfurt am Main , S. –; hier S. f. Vgl. die ›Landschaftseinweisung‹ in Adalbert Stifters ›Granit‹; hier Kapitel .. Reichert, Entstehung, S. –, geht von einer ursprünglichen Konzeption des Zyklus um die Figur Rüdiger Manesses aus.
heißt über Jacques und seinen Paten: »Er erzählte ihm, indem sie die Heimkehr nach der Stadt antraten, die nachfolgende Geschichte der Entstehung des Manesse’schen Codex zu Paris.« (S. ) Der Leser wird also aus der eigentlich erzählten Welt, der Rahmensituation mit Jacques und seinem Paten, verwiesen auf »die nachfolgende Geschichte«, die insofern unabhängig vom Rahmen zu denken ist, als ihr gerade die Einbettung der Erzählsituation fehlt. Das vorangegangene »ich will Dir […] jetzt erzählen« (S. ) aus der Figurenperspektive des Paten ist der distanzierten Erzählerperspektive gewichen: »er erzählte ihm« (S. ). Der Pate ist also nicht der Rahmenerzähler der Novellen, sondern es wird bloß erzählt, daß der Pate erzählt. Der souveräne, seinen ›Helden‹ Jacques spöttisch vorführende Erzähler entwirft demnach keine Binnengeschichte im eigentlichen Sinn. Vielmehr stehen Rahmenhandlung und erste Novelle nur schwach verbunden nebeneinander, ohne ineinander verschachtelt zu sein. Damit wird auch der Hinweis des Paten, daß er die Geschichte »fast so erzählen kann, als ob ich sie aufgeschrieben hätte« (S. ), hinfällig: Er nimmt die Erzählerrolle erst gar nicht ein, müßte also auch die Quasi-Schriftlichkeit der Erzählung nicht rechtfertigen. Daraus ergibt sich nicht nur der ironische Reflex auf die Unwahrscheinlichkeit des differenzierten (mündlichen) Erzählens, sondern auch die Bekräftigung eines (schriftlichen) Erzählens, das in seiner Autonomie den Entwurf eines traditionellen Novellenzyklus nachgerade untergräbt. Konsequent ist der Verzicht auf etwaige Inquit-Formeln zu Beginn von ›Hadlaub‹: »Gleich unterhalb des aargauischen Städtchens Kaiserstuhl stehen die beiden Schlösser schwarz und weiß Wasserstelz« (S. ). Auch eine mit Johann Wolfgang Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ legitimierte Leseransprache im Pluralis majestatis deutet nicht zwangsläufig auf einen Ich-Erzähler, sondern vielmehr auf eine souveräne, der Figurenperspektive auktorial überlegene Leitung durch die Erzählinstanz: »Nach ungefähr acht Jahren finden wir den Johannes Hadlaub, wie er jetzt genannt wurde, als blondgelockten feinen Jüngling unermüdlich bei allerhand Arbeit.« (S. ) Der Erzähler von ›Hadlaub‹ ist zeitlich in einer unbestimmten Gegenwart situiert, er spricht vom ›Hadelaub‹, dessen Name auf einen Streit deutet: »er kommt aber unter den jetzigen Flur
Konsens auch in lexikalischen Überblicksartikeln scheint zu sein, daß die Novellen vom Paten erzählt werden. Differenzierter, soweit überblickbar, nur Agnes Waldhausen, Die Technik der Rahmenerzählung bei Gottfried Keller, Reprint der Ausgabe Berlin , Hildesheim , S. : »Die anderen Einlagen [neben dem ›Landvogt von Greifensee‹] der ›Züricher Novellen‹ und sämtliche Innenerzählungen im ›Sinngedicht‹ werden der Fiktion nach mündlich erzählt, aber nicht immer hat Keller die Bedingungen, die diese Fiktion auferlegt, rein erfüllt. Gleich die erste der Erzählungen des Herrn Paten, ›Hadlaub‹, unterscheidet sich in der Form nicht von einer literarischen Novelle.« Auch S. : »die Novelle ›Hadlaub‹ wird ja ›fast so erzählt, als ob sie aufgeschrieben wäre‹, wenn wir dem Herrn Paten glauben; eigentlich müssen wir bekennen, daß sie nicht nur ›fast so‹, sondern ›ganz so‹ erzählt wird.« – Nicht haltbar ist die Behauptung, der Pate sei der »Rahmenerzähler«, etwa bei Reichert, Entstehung, S. .
namen nicht mehr vor, […]; indessen heißt heutigen Tages noch eine kaum fünfhundert Schritte weiter nördliche gelegene Waldparzelle das Streitholz.« (S. f.) Die zeitliche Situierung der Erzählsituation könnte also auf die Gegenwart der Rahmenhandlung verweisen. Auch räumlich scheint der Erzähler eine Ortskenntnis zu besitzen, wie sie dem Paten der Rahmenhandlung zukommen sollte. Die Erwähnung von »unserer Stadt Zürich« (S. ) mag dabei schwerlich einen beliebigen Leser miteinbeziehen, würde indes in Jacques einen angemessenen Adressaten haben. Auch der Spaziergang, Erzählanlaß in der Rahmenerzählung, scheint Wiederaufnahme zu finden: Jetzt müssen wir uns aber nach dem Kinde Fides umsehen, welches eben das natürliche Töchterlein der Fürstäbtissin war. Das tun wir am besten, wenn wir auf der andern Seite der Stadt am Zürichberg hinaufgehen, wo wir das Kind alsbald antreffen werden und zwar auf einem Spaziergang an der Hand des alten Meister Conrad von Mure, […]. (S. )
Diese vergleichsweise umständliche Erzähler-Überleitung suggeriert jedoch keinen in der Rahmenhandlung angesiedelten, sondern einen fiktional gebrochenen intradiegetischen ›Spaziergang‹: denn selbst wenn der Pate und Jacques »am Zürichberg« hinaufgingen, könnten sie am »Ende der achtzehnhundert und zwanziger Jahre« (S. ) schwerlich Conrad von Mure aus dem . Jahrhundert antreffen. So muß der Leser mit dem Erzähler »am Zürichberg hinaufgehen«, um dort zwei Figuren antreffen und den Fortgang der Handlung verfolgen zu können. Es handelt sich also um einen metafiktionalen Verweis, der aus der Binnenerzählung heraus auf die Rahmenerzählung anspielt, aber eigentlich auf einer Meta-Ebene der Binnerzählung anzusiedeln ist, wo sie den intradiegetischen Erzählakt reflektiert. Eine solche Anspielung auf die Rahmenerzählung ist in dieser Novelle singulär, und auch der Gestus der Mündlichkeit wird nur sehr sparsam aufgeru
Vgl. auch folgende, mitunter im Stile des prophezeienden Erzählens gehaltenen Zitate: »Maneß umarmte und küßte den Herrn von Wart, welcher […] nicht ahnte, daß in weniger als zwanzig Jahren seine Burgen zerstört und sein Geschlecht von der Erde hinweggetilgt sein würden.« (S. ) »Nachdem er seine Regierungsgeschäfte abgetan, nahm er den Jüngling in sein Kabinett und zeigte ihm das Liederbuch (dasselbe ist jetzt in Stuttgart und führt den Namen der Weingartner Handschrift, weil es sich eine Zeitlang im Besitze des Klosters Weingarten befunden hat); […].« (S. ) »Und wie Schad’ ist es, daß wir ihren vollen Namen nicht mehr wissen, der von seltenem Wohllaute hätte sein müssen.« (S. ) »Johannes ergriff freudig errötend augenblicklich die Geige und schritt mit dem Chorherren gar stattlich die Kirchgasse, so jetzt Römergasse heißt, hinauf.« (S. ) Paradox genug ist dieser Lektüreanweisung nicht unbedingt Folge zu leisten: der Leser kann den Fortgang der Handlung genauso gut verfolgen, wenn er sich dem Kind Fides und dem Meister Conrad ›ohne Umwege‹ zuwendet; es ist keineswegs notwendig, erst mit dem Erzähler den Berg hinaufzugehen, zumal völlig unklar ist, wie sich dieser Erzähler-Leser-Spaziergang gestaltet.
fen. Tatsächlich scheint es sich bei ›Hadlaub‹ nicht um eine Binnenerzählung des Paten zu handeln, sondern schlicht um eine »nachfolgende Geschichte«, wie sie der Erzähler am Ende der Rahmenhandlung bereits angekündigt hatte. Die klassische Gesprächssituation des Novellenkranzes wird zweifach initiiert (Gemeinschaft der Feuerwerker, Spaziergang mit dem Paten) und geflissentlich suggeriert (›Wir-Erzähler‹, Anspielung auf den Spaziergang), ohne jedoch zur Ausführung zu kommen. Die ›Züricher Novellen‹ geben sich damit schon zu Beginn als Konstrukt zu erkennen, das seine Künstlichkeit dadurch subtil zur Schau stellt, daß es sie verschleiert. Die zweite der ›Züricher Novellen‹ ist mit ›Der Narr auf Manegg‹ betitelt und greift zunächst die Rahmenhandlung wieder auf: Einige Zeit nach dem Spaziergange, den Herrn Jacques mit seinem Paten gemacht, wunderte es diesen, wie dem jungen Adepten des Originalwesens ergehe und welche Fortschritte er darin zurückgelegt habe. (S. )
Der Rahmen schließt also nicht direkt an den Spaziergang an, sondern läßt »einige Zeit« vergehen. Beherrschendes Thema ist nach wie vor Jacques’ Originalitätssucht, was die Vermutung erlaubt, daß die ›Züricher Novellen‹ dem pädagogischen Ziel folgen, mit Jacques auch den Leser über ›gute‹ und ›schlechte‹ Originalität aufzuklären.
Die Textauswahl ist auf nur wenige Beispiele zu beschränken; die Erzählsituation in ›Hadlaub‹ ist im wesentlichen geprägt von einem ausgesprochen ›unauffälligen‹ heterodiegetischen Erzähler. Es stellt sich die Frage, ob die ›Züricher Novellen‹ damit auch die post-romantische Unmöglichkeit eines geschlossenen Novellenzyklus widerspiegeln, gar persiflieren. Novellensammlungen im Realismus sind zumeist lose Sammlungen von Erzählungen, die weder von vornherein mit einem verbindenden Rahmen konzipiert sind noch im Nachhinein einen solchen erhalten (so etwa bei Theodor Storm und Conrad Ferdinand Meyer). Damit löst sich der Realismus auch von dem Modell des ›Decamerone‹, dem etwa Johann Wolfgang Goethe in seinen ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ () noch deutlich anhing. – Eine solche These hätte sich nicht zuletzt mit Gottfried Kellers ›Sinngedicht‹ () als möglicher Ausnahme zu befassen. Hans Bracher, Rahmenerzählung und Verwandtes bei G. Keller, C. F. Meyer und Th. Storm. Ein Beitrag zur Technik der Novelle, Leipzig , S. , geht vom Paten als Erzähler der Novelle ›Hadlaub‹ aus und stellt den ›Realismus‹ des Spaziergang-Gesprächs ironisch in Frage: »Wir wollen auch glauben, daß der Erzähler die Geschichte fertiggebracht hat, bis er auf der Heimkehr zu Hause angelangt ist, und wollen auch glauben, daß das Erzählen ohne jede bemerkenswerte Unterbrechung so vor sich gegangen, wie das Buch darstellt. […] Ob denjengen Herrn Jacques, dem schon am Nachmittag eine verlorene Eßgelegenheit stille Tränen entlockt hatte, dabei nicht ein wenig der Hunger geplagt, da er seit Mittag nicht mehr gespeist, hat der Dichter verschwiegen. Das aber wird bei der Untersuchung deutlich, daß man beim Poeten Keller nicht weit kommt, will man an ihn das Seziermesser moderner naturalistischer Kritik anlegen.« Mit Blick auf Kellers didaktische Prosa äußert Wolfgang Binder: »Deuten wir also Kellers poetischen in einen moralischen Realismus um? Ja und nein.« Wolfgang Bin-
Der Pate findet den Jungen bei der schmuckreichen Gestaltung eines mit ›Züricher Ehrenhort‹ betitelten Schmuckblattes, das den Beginn einer neuen Manessischen Handschrift ankündigen soll: So sei er auf den Gedanken geraten, sein Leben daran zu setzen und einen Codex zu stiften und auszuführen, dessengleichen anderswo nicht zu finden wäre, und dies hier sei das Titelblatt, mit dem er begonnen habe. Alles, was der Stadt und Republik Zürich seit ihrem Entstehen zu Schmuck und Ehren gereiche, wolle er in schönen Versen erzählen und mit schönen Bildern illustrieren, wobei die Entwicklung von den schwächern Anfängen bis zur Vollkommenheit des Endes von selbst den gleichen Verlauf nehmen werde, wie der Gegenstand des Werkes. (S. )
Der Pate ist erzürnt über diese neuerliche Vermessenheit und lädt energisch zu einem weiteren Spaziergang ein. Wiederum bricht er mit Jacques zu den Ruinen der Burg Manegg auf, wo sie unter Bäumen rasten. Jacques fragt nach dem weiteren Schicksal des Geschlechts der Manesse, und der Pate berichtet gerafft von den nachfolgenden Generationen. Erzählt wird zunächst von Ital Manesse, »der die Burg hier verloren hat« (S. ). Der begabte, aber ungeduldige und rastlose Mann macht Schulden und muß seine Besitzstände nach und nach veräußern. Gegen brennt die Burg durch die Schuld Buz Falätschers ab, der »ein letzter Sprößling der Sippschaft war«, der sogenannte »Narr auf Manegg« (beide Zitate S. ), dessen Geschichte im Mittelpunkt der Novelle steht. In diesem Fall ist eindeutig der Pate der Erzähler seiner Binnengeschichte. Zu Beginn der Erzählung über die Manesses heißt es: »›Ihre verschiedenen Zweige‹, erzählte jener, ›haben in geistlichen und weltlichen Würden und auch in dunkleren Trieben noch über hundert Jahre geblüht.‹« (S. f.) Zwar erfährt die Geschichte keinerlei Unterbrechung, doch zeichnet sich der Pate als Erzähler zunächst durch eine Unsicherheit aus: »Dieser Manesse starb hochbetagt, wenn ich nicht irre« (S. ). Die Erzählsituation ist in der Gegenwart der Rahmenhandlung situiert; eine örtliche Anspielung läßt sich ausmachen,
der, Von der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen. Überlegungen zu Gottfried Kellers Realismus. In: ders., Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur, Zürich, München , S. –; hier S. . Vgl. Reichert, Entstehung, S. : »Etwas Ähnliches wie die chronologisch angeordnete Kulturbilder-Reihe, zu der die ›Züricher Novellen‹ eine immerhin deutlich sichtbare, wenn auch gewissermaßen ›rudimentäre‹ Anlage aufweisen, hat sich der junge Jacques in der Rahmenerzählung vorgenommen, als er mit einem ›Zürcherischen Ehrenhort‹ eine Ersatz für die verlorengegangene Liederhandschrift schaffen will«. Dieses sowie die beiden folgenden Zitate gesondert hervorgehoben bei Bracher, Rahmenerzählung, S. f. und Reichert, Entstehung, S. f. Vgl. etwa: »Allein […] er sah sich bald genötigt, seine Wohnung in der Stadt und das Gut mit der Manegg an einen Juden zu veräußern, dessen Witwe später das letztere den Zisterzienserfrauen in der Seldenau oder Selnau, wie wir jetzt sagen, verkaufte.« (S. )
wenn es über die Behausung Buz Falätschers heißt, daß er »in einer alten Lehmhütte unten an der Falätsche hauste, der tiefen Kluft, die einst ein Bergrutsch zurückgelassen hat, wie wir sie da mit ihrem unheimlichen kahlen Wesen vor uns sehen.« (S. ) Gleichfalls auf die Rahmensituation bezieht sich die direkte Ansprache an Jacques: »Aus Schule und Zunftleben ist Dir bekannt, […]« sowie »Auch das Ereignis von Dätwil zu Weihnachten ist Dir geläufig.« (beide Zitate S. ) Diese Signale der Mündlichkeit sind jedoch nicht sehr häufig, zumal sie zu Beginn der Erzählung den Wechsel von der Rahmen- zur Binnenerzählung gestalten. Auch bei dieser Novelle ist ein ›schriftlicher‹ Status denkbar: Bei einer solchen Gelegenheit, es war an einem Herbstgebote, hatte Herr Ital Manesse, der nie zu Hause war, von seiner geschmolzenen Habe das große Liederbuch mitgebracht, von welchem jüngst nach langer Vergessenheit die Rede gewesen ist. (S. )
Geht man von der Rahmensituation aus, der Sprechgegenwart des Paten gegen Ende der er Jahre, so könnte hier ein Verweis auf die beiden Ausgaben der ›Manessischen Liederhandschrift‹ von Johann Jakob Bodmer ( beziehungsweise ) vorliegen. In diesem Fall wäre allerdings die Formulierung, daß der Codex Manesse »dem jahrhundertelangen Schweigen entrissen wurde«, zumindest eindeutiger gewesen. Das entscheidende Ereignis und damit primär mitteilenswert wäre nämlich die Edition des Codex Manesse selbst gewesen, wohl kaum die Rezeption desselben (»die Rede«). Vielmehr kann angenommen werden, daß die Erzählerrede sich auf die vorangegangene Novelle ›Hadlaub‹ bezieht, die nur kurze Zeit vor dem zweiten Spaziergang erzählt wurde, folglich »jüngst nach langer Vergessenheit«. ›Hadlaub‹ hat unter anderem die Entstehung der Manessischen Handschrift zum Thema, von ihr ist »die Rede gewesen«. Damit läßt sich also die oben angegebene Textstelle im ›Narr auf Manegg‹ auf die »jüngst« vorangegangene Erzählung ›Hadlaub‹ beziehen. Kontextualisiert man die Wendung »von welchem jüngst nach langer Vergessenheit die Rede gewesen ist« mit der Rahmensituation, so muß erstaunen, daß der Pate derart von sich selbst abstrahiert. Der Pate hat, im Konzept der Rahmenerzählung, ›Hadlaub‹ erzählt, und er berichtet nun vom ›Narr auf Manegg‹. Es heißt jedoch nicht, ›von welchem ich dir jüngst erzählt habe‹. Es ist also
Es ist nicht auszuschließen, daß dieses Zitat auch die Vorstellungskraft eines Lesers (statt Jacques als Adressaten) ansprechen könnte. Ohne zwingenden Bezug auf Jacques ist der letzte Satz der Binnengeschichte: »Wir aber wissen, daß es die guten Geister des Liederbuches waren, welche dort tönten und klangen, […].« (S. ) So der Kommentar der Züricher Novellen, S. . Bezeichnenderweise ist dies der Wortlaut des erläuternden Kommentars; vgl. Anm. . Der Pate hat ›Hadlaub‹ in seinen Jugendjahren ›erfunden‹ (S. ).
denkbar, daß sich in dem Zitat ein Erzähler konturiert, der keine Figur der Rahmenerzählung ist. Damit wäre dem Paten zum zweiten Mal eine Geschichte entrissen, die er an eine höherrangige Erzählinstanz verliert, obwohl er sie der Erzähllogik zufolge mitteilt. Erst am Ende von ›Der Narr auf Manegg‹ wird, nach einem größeren Absatz, die Rahmensituation wieder aufgenommen: Als die Erzählung vom Untergange der Manegg ihr Ende erreicht hatte, war auch die Sonne hinter die nahe Bergwand hinabgestiegen, und obgleich die entfernteren Landschaften von derselben noch erhellt waren, begaben sich der alte und der junge Züricher auf den Rückweg. Herr Jacques war aber höchst einsilbig und nachdenklich und begehrte keinerlei nähere Aufschlüsse und Erläuterungen, wie er das frühere Mal getan hatte, als ihm der Herr Pate die Geschichte von Hadlaub vorgetragen. Die nachdrückliche Art, wie der Alte die Krankheit, sein zu wollen, was man nicht ist, betont hatte, war ihm aufgefallen, […]. (S. )
Die störungsfreie Erzählung wird durch Jacques’ Einsilbigkeit und Nachdenklichkeit plausibel gemacht: er »begehrte keinerlei nähere Aufschlüsse und Erläuterungen«. Bemerkenswert ist der Rückgriff auf die Erzählsituation zur Novelle ›Hadlaub‹. Erst jetzt erfährt der Leser, daß Jacques diese Erzählung anscheinend unterbrochen, zumindest auf Nachfragen hin ergänzt bekommen hat. Ein weiteres Mal wird also unterstrichen, daß der vorliegende ›Hadlaub‹ nicht die vom Paten erzählte Geschichte gewesen ist. Jacques läßt, abgeschreckt vom tragischen Schicksal Buz Falätschers, vom Plan eines ›Züricher Ehrenhortes‹ ab. Der Pate sieht demnach mit Wohlgefallen, daß der Adoleszent allerdings auf keine außerordentlichen Unternehmungen mehr sann, welche seiner Person nicht entsprachen, jedoch immer noch von dem Originalitätsübel beunruhigt wurde, [und] so übergab er ihm eines Tages ein von ihm selbst erstelltes Manuscriptum. (S. f.)
Dieses Manuskript handelt von Salomon Landolt, dessen Leben von einem »unserer geistreichen Dilettanten […] in einem trefflichen Büchlein« beschrieben wurde (S. ). Da diese Schrift jedoch mit Andeutungen über den unverehelichten Stand Landolts spare, so habe es den Paten »gereizt, eine ergänzende Erzählung abzufassen, um den merkwürdigen Mann auch nach dieser Seite hin vor uns aufleben zu sehen.« (S. ) Diese Erzählung, eine (erfundene?) Ergänzung zum Werk eines Dilettanten, wird Jacques vorgelegt: Hier ist nun meine diesfällige Arbeit, leider ein so unleserliches Schriftstück, daß ich wünschen muß, es von einer saubern Hand in’s Reine gebracht zu wissen. Nimm es mit, Jakobus, und mache mir in deinen Nebenstunden eine hübsche Abschrift davon! (S. )
Eine Fehlerhaftigkeit dieser Abschrift scheint auf Grundlage eines »so unleserlichen Schriftstücks« unvermeidlich, trotz »großer Sorgfalt und Reinlichkeit« (S. ), um die sich Jacques bemüht. Beide Fassungen kämen nun für den Text
der folgenden Novelle ›Der Landvogt von Greifensee‹ in Frage, doch scheint diese einen dritten Textstatus aufzuweisen. Der Erzähler erklärt, daß Herr Jacques vom Manuskript eine Kopie anfertigte, »wie sie im Nachstehenden nicht minder getreu im Druck erscheint.« (S. ) Freilich werden die ›Züricher Novellen‹ nicht die originale Abschrift Jacques’ beigeben können, weshalb sich der Leser mit einer Kopie der Kopie begnügen muß. Damit ist einer realistischen Erzähllogik zwar Genüge getan, jedoch stört der metafiktionale Verweis die Darstellung. Die Umständlichkeit, mit der ›Der Landvogt von Greifensee‹ eröffnet wird, mag in sich schlüssig und nachgerade notwendig sein, doch bewirkt der Verweis auf Glaubwürdigkeit in einem literarischen Text das genaue Gegenteil. Poietisierung offenbart sich in den ›Züricher Novellen‹ also sowohl in Verstößen gegen die Erzähllogik (wie bei der bloß suggerierten Binnenerzählung ›Hadlaub‹) als auch in einer sorgfältigen Detailtreue, die den Erzählakt selbst thematisiert beziehungsweise das Erzählte als ›gemacht‹ darstellt. In der Novelle ›Der Landvogt von Greifensee‹, Kopie einer Kopie eines unleserlichen Manuskripts, das eine ergänzende Erzählung zu einer lückenhaften Lebensbeschreibung Salomon Landolts durch einen Dilettanten ist, wird der ohnehin fragile Textstatus weiter problematisiert. Zu Beginn, am ». Heumonat « (S. ), findet eine von Salomon Landolt veranlaßte Militärübung statt. Nach der Parade erblickt er eine einstige Jugendliebe, von ihm ›Distelfink‹ genannt. Auf dem Rückweg nach Greifensee erwacht »eine eigentliche Sehnsucht in ihm, alle die guten Liebenswerten, die er einst gern gehabt, auf einmal bei einander zu sehen und einen Tag mit ihnen zu verleben.« (S. ) Landolt erinnert sich seiner anderen Jugendlieben, die er gleichsam mit Kosenamen versehen hat: Hanswurstel, Grasmücke, Kapitän und Amsel. Um den Plan aus
Hier hält der Text also dem von Bracher angebrachten »Seziermesser« (Anm. ) durchaus stand. Vgl. Kapitel . dieser Arbeit. Die in der Rahmenerzählung als ›real‹ gedachte Biographie scheint in der Novelle selbst fiktionaler Natur zu sein. Über Salomon Landolt heißt es: »Im übrigen beschreibt ihn der gedachte [!] Biograph folgendermaßen: ›Wer ihn einmal gesehen hatte, konnte ihn nie wieder vergessen. […].‹« (S. ) – Für die in dieser Arbeit angestellten Überlegungen ist es unerheblich, daß sich Keller der Landolt-Biographie von David Heß bediente: Salomon Landolt, Ein Charakterbild nach dem Leben ausgemalt von David Heß, Zürich . Rothenberg bewertet diese Fülle an Fiktionssignalen als »größtmögliche Form der Verlebendigung«; Jürgen Rothenberg, Der Landvogt von Greifensee. Zum Problem des Epigonischen im Werk Gottfried Kellers. In: Sprachkunst, , , S. –; hier S. : »Rokoko und Biedermeier reichen sich in Gestalt des greisen Landolt gewissermaßen die Hände, und rechnet man hinzu, daß von ihm nicht eigentlich erzählt wird, sondern zumindest Jaques die Lebensschicksale dieses Mannes erfährt, indem er sie aufzeichnet, dann ist hier, nächst dem unmittelbaren Erleben, die größtmögliche Form der Verlebendigung erreicht, die sich denken läßt.«
zuführen, bedarf es noch der Beihilfe der nicht minder kauzigen Haushälterin Marianne, »mit welcher er sich ins reine setzen mußte, wenn er die fünf alten Flammen an seinem Herde vereinigen und leuchten lassen wollte.« (S. f.) Schonend bereitet Landolt sie auf die Gesellschaft vor, und nachdem zum einen geklärt ist, ob sie »auf Stühlen sitzen, oder auf einem Stänglein« (S. ), zum anderen Landolt andeutet, daß ihn alle Frauen verschmäht hätten, willigt Marianne (»verfluchtes Pack!«, S. ) ein. Nachdem das Eis einmal gebrochen war, machte er sie nach und nach, wie es sich schickte, mit den fünf Gegenständen bekannt und stellte ihr dar, wie es sich damit begeben habe, wobei der Vortragende und die Zuhörerin sich in mannigfacher Laune verwirrten und kreuzten. Wir wollen die Geschichten nacherzählen, jedoch alles ordentlich einteilen, abrunden und für unser Verständnis einrichten. (S. )
Erneut hat man es also mit Eingriffen in die erzählte Welt zu tun: das Gespräch zwischen Landolt und seiner Haushälterin wird nicht getreu wiedergegeben, die Authentizität der Geschichten ist nicht gesichert. Der Erzähler will nicht nur »nacherzählen« und »ordentlich einteilen«, sondern gar »abrunden und für unser Verständnis einrichten«. Die Manipulation des Erzählten ist, im Kontext der Rahmenhandlung, der Autorschaft des Paten geschuldet. Der Erzähler bedient sich jedoch des gleichen souveränen ›wir‹-Gestus, der bereits die ›Hadlaub‹-Novelle auszeichnet. Es drängt sich also der Eindruck auf, daß sämtliche Erzählabschnitte der ›Züricher Novellen‹ von demselben Erzähler erzählt werden, ganz gleich, welche Mündlichkeits- oder Manuskriptfiktionen zugrunde liegen. Verbindendes Merkmal der Novellen scheint zu sein, daß sie dezidiert dem Kontext der Rahmensituation entzogen werden: die Novelle ›Hadlaub‹ ist nicht identisch mit der Erzählung des Paten, die Novelle ›Der Landvogt von Greifensee‹ ist weder identisch mit der Handschrift des Paten noch mit Jacques’ Kopie und auch die ›reale‹ Gesprächssituation zwischen Landolt und seiner Haushälterin wird in der Binnenerzählung nicht wiedergegeben. Verstöße gegen die werkimmanente Erzähllogik scheinen grundsätzlich in Kauf genommen, nachgerade gewollt zu sein. ›Der Landvogt von Greifensee‹ bildet in der Binnenerzählung die Abfolge der (einzeln betitelten) Erzählungen: ›Distelfink‹, ›Hanswurstel‹, ›Kapitän‹ sowie ›Grasmücke‹ und ›Amsel‹. Der Satz »Dieses waren nun die fünf weiblichen Wesen und alten Liebschaften, welche bei sich zu vereinigen es den Landvogt von Greifensee gelüstete« (S. ) leitet schließlich wieder zu der Rahmener
Auch im ›Landvogt von Greifensee‹ wird deutlich, daß die Erzählsituation in einer unbestimmten Gegenwart liegt: »Geßner’s idyllische Dichtungen sind durchaus keine schwächlichen und nichtssagenden Gebilde, sondern innerhalb ihrer Zeit, über die keiner hinaus kann, der nicht ein Heros ist, fertige und stilvolle kleine Kunstwerke. Wir sehen sie jetzt kaum mehr an und bedenken nicht, was man in füfnzig Jahren von alledem sagen wird, was jetzt täglich entsteht. Sei dem wie ihm wolle, […].« (S. )
zählung des ›Landvogts‹ über, die von dem gemeinsamen Tag auf Landolts Anwesen berichtet. Die ›Landvogt‹-Novelle schließt mit der Rahmensituation, die am Ende von ›Der Narr auf Manegg‹ eröffnet wurde: Über dem sorgfältigen Abschreiben vorstehender Geschichte des Landvogts von Greifensee waren dem Herrn Jacques die letzten Mücken aus dem jungen Gehirn entflohen, da er sich deutlich überzeugte, was alles für schwieriger Spuk dazu gehöre, um einen originellen Kauz notdürftig zusammenzuflicken. (S. )
Noch einmal wird der pädagogische Erzählanlaß thematisiert, die Konfrontation Jacques’ mit Geschichten, die ihn von seiner Orginalitätssucht heilen sollen. Mit dem ›Landvogt‹ muß die Genesung als abgeschlossen gelten, denn »die letzten Mücken [sind] aus dem jungen Gehirn entflohen«, und Jacques verzichtet »freiwillig und endgültig darauf, ein Originalgenie zu werden, so daß der Herr Pate seinen Part der Erziehungsarbeit als durchgeführt ansehen« kann. (S. ) Demnach haben also die Geschichten über den epigonalen Dichter Hadlaub sowie den kauzigen Junggesellen Salomon Landolt als positive Beispiele, und über den Narren Buz Falätscher als negatives Beispiel das Phänomen ›Originalgenie‹ hinreichend erläutert, wonach Jacques nunmehr entschlossen sei, zum einen der Gefahr zu entgehen, ein Narr zu werden, zum anderen sich nicht länger der Mühe aussetzt, ein origineller Kauz zu werden. Jacques wendet sich aber keineswegs von den Idealen selbst ab, sondern macht sich zur Aufgabe, die Künste und Wissenschaften zu fördern. Jacques wird Mäzen einiger Stipendiaten, von denen er insbesondere Bescheidenheit
Das Zitat kehrt die Verhältnisse um: während zunächst festgestellt wird, die Novelle der ›Landvogt von Greifensee‹ sei die Kopie der Kopie Jacques’, heißt es nun, Jacques habe die »vorstehende Geschichte« abgeschrieben, die demnach das Originalmanuskript darstellen müßte. Hail, Reader and Their Fiction, S. f. bezweifelt wohl zurecht, daß die Geschichten ein geeignetes Mittel sein können, Jacques von seiner Originalitätssucht zu heilen: »The godfather’s tales, all written by Keller of course, do have a moral-didactic thrust in this context, and they seem to assume a parallel process: that the appeal to ›higher‹ inclinations can effect a parallel process: that the appeal to ›higher‹ inclinations can effect the improvement of character. Yet the godfather’s stories are not Keller’s stories. Keller’s stories are embedded within a context of failed instruction, which undermines the godfather’s intent and qualifies the novellas themselves. The godfather’s implict confidence in the power of didactic fictions to improve and reform their audience is not shared by the author, who once again constructs his didactic edifice in order to topple it. This is a strategy that allows for the expression of a quixotic wish to reform readers in the face of a straightforward admission that literature is not the appropriate medium for such a project. Thus Keller’s ›marginal‹ tale, which ascribes an extraliterary purpose to ›Hadlaub‹, ›Der Narr auf Manegg,‹ and ›Der Landvogt von Greifensee‹ (in which they fail), actually affirms their independence of such utility by subverting their contextual ›intent.‹«
verlangt. »Einmal nur wäre er fast aus seiner Bahn geworfen worden«, als seine Unterstützung eines jungen Bildhauers auf die Probe gestellt wird. (S. ) Beim Besuch in dessen Atelier wird er Zeuge eines »Bacchanal[s]« (S. ): er fühlt sich ob der festlichen Verschwendung seiner Gelder »schändlich gefoppt« (S. ) und erstaunt über die »vertrocknete Unfertigkeit« eines halb fertigen Fauns (S. ). Der Zorn weicht jedoch der Belustigung, zumal im Wissen um diese »gute Künstleranekdote, um ein prächtiges Naturerlebnis« (S. ). Das Fest findet seinen Höhepunkt in der Taufe des unehelichen Bildhauer-Kindes: Als er zu Hause seinem jetzt sehr alten Herren Paten verdrießlich erzählte, wie er zu Rom selbst Pate geworden sei, lachte jener vergnüglich und wünschte ihm, daß er eben so viele Freude an dem Täufling erleben möge, wie er, der Meister Jakobus, ihm einst gemacht habe und noch mache. (S. )
Mit diesem Satz endet der Erste Band der ›Züricher Novellen‹. Der Pate hat seine Erziehungsaufgabe erfüllt, die Geschichten sind erzählt und schlußendlich ist Jacques selbst zum Paten und Erzähler geworden. Die noch folgenden Novellen, ›Das Fähnlein der sieben Aufrechten‹ und ›Ursula‹ stehen unverbunden nebeneinander, eine Rahmenhandlung ist nicht mehr gegeben. Beide Novellen haben einen ›einfachen‹ Fiktionsstatus, weil das Erzählen in ihnen nicht mehr thematisiert wird. Damit stehen sie auch außerhalb der Legitimation, auf die sich die vorangehenden Novellen beziehen können: die ›Züricher Novellen‹ sind einem Erzählanlaß geschuldet, nämlich der zu heilenden Originalitätssucht des jungen Jacques’. Verantwortlich für die Konfrontation mit den Novellen ist Jacques’ Pate, der seinem Zögling die Geschichten erzählt oder als Manuskript vorlegt. Sowohl bei dem ›Fähnlein der sieben Aufrechten‹ als auch bei ›Ursula‹ ist jedoch unklar, welchem Erzählanlaß sie geschuldet sein könnten. Mit dem Ende der Rahmenerzählung ist grundsätzlich die Möglichkeit genommen, (Binnen-)Geschichten zu erzählen. Die Einbettung in einen Rahmen kontextualisiert die Erzählungen: Geschichten (Binnenerzählungen) werden ausschließlich als Geschichten innerhalb einer erzählten Welt (Rahmenerzählung) kenntlich gemacht. Immer ist es die erste Erzählebene um Jacques und seinen Paten, von der die zweite Erzählebene der eigentlichen ›Züricher Novellen‹ eröffnet wird. Wenn nun diese erste Erzählebene wegfällt, verliert die zweite Erzählebene, auf der sich das
Diese Schlußpassage hat Keller in der Buchfassung der ›Züricher Novellen‹ etwas umfangreicher gestaltet als in der Journalfassung; es ist der einzige wesentliche Eingriff in die frühere Textgestalt. Vgl. auch Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen , S. : »Zum Erzähler […] wird Jacques allerdings erst nach seiner Verheiratung und nachdem er in Rom selbst zum Taufpaten eines Bildhauerkindes geworden ist (). Anstatt der Kunstproduktion unterstützt Jacques die biologische (Re-)Produktion des ›Künstlers‹«.
›Fähnlein der sieben Aufrechten‹ und ›Ursula‹ befinden müßten, an Legitimation: die Erzählungen hängen ›in der Luft‹. Ein Abriß zur Entstehungsgeschichte und die daraus resultierenden Erläuterungen zur Textkonstitution der ›Züricher Novellen‹ sollen im folgenden dazu beitragen, diese ›poietische‹ Auffälligkeit auch fiktions-transzendent zu ergründen.
. Entstehungsgeschichte der ›Züricher Novellen‹ Als die erste Auflage der ›Züricher Novellen‹ im Dezember ausgeliefert wurde, waren weite Teile des Zyklus der Öffentlichkeit bereits bekannt. ›Das Fähnlein der Sieben Aufrechten‹ war eine Arbeit für ›Berthold Auerbach’s deutschen Volks-Kalender auf das Jahr ‹. In der vorbereitenden Korrespondenz mit Auerbach hatte Keller den Plan geäußert, nach u nach eine Reihe Zürchernovellen zu schreiben, welche im Gegensatz zu den Leuten von Seldwyla, mehr positives Leben enthalten sollen. Zu diesen soll dann auch die Fähnleingeschichte kommen […].
Das Projekt ruht allerdings mehr als ein Jahrzehnt, nicht zuletzt aufgrund Kellers zeitraubender Beschäftigung als Staatsschreiber des Kantons Zürich. Erst erwähnt Keller gegenüber seinem Verleger Ferdinand Weibert einen Erzählband, der aus dem ›Fähnlein‹ und »einer noch zu schreibenden Erzählung bestehen [soll], die bereits angefangen ist.« Auf Anfrage von Julius Rodenberg (. . ) sagt Keller zunächst eine Novelle, dann »eine kleine in einander verflochtene Erzählungsgruppe mit gemeinsamem Hinter- oder Untergrund« (. . ), schließlich die »Zürcher Novellen« zu (. . ). Zeitgleich mit der Journal-Veröffentlichung bei Rodenberg wird die Buchveröffentlichung bei Ferdinand Weibert geplant, nur letztere mit dem ›Fähnlein‹. Die Journal-Publikation skizziert Keller wie folgt:
Der Text wird mitgeteilt in HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. –. Gottfried Keller an Berthold Auerbach, Brief vom . . ; zitiert nach HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. –; hier S. . – Die folgende Darstellung folgt der reichhaltigen ›Dokumentation‹ beziehungsweise dem Kapitel zu ›Entstehung und Publikation‹ im Band der HKKA, die bei Angaben zu Briefen im Folgenden mit bloßer Nennung der Korrespondenzpartner, Datum und Seitenangabe zitiert wird. Gottfried Keller an Ferdinand Weibert, Brief vom . . , S. . Es ist unklar, auf welche Erzählung Keller anspielt. Die Spekulationen der Forschung sind zusammengetragen in HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. f. Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Erste Erwähnung Kellers im Brief an Ferdinand Weibert vom . . , S. f. Adolf Exner, der das Projekt kannte, fragt Keller bereits am . . nach seinen »Zürchergeschichten«, S. .
Die – Geschichten oder Novellchen spielen in Zürich; es sind Thatsächlich- u Persönlichkeiten aus dem , u t. Jahrhundert, mit der Rahmennovelle aus dem t. […]. Die einzelnen oder Unter-Titel lauten Herr Jacques (Rahmen t. Jahrh.! )" Hadloub (t. Jahrh.) Der Narr auf Manegg (t.) Der Landvogt von Greifensee (t.)
Gegenüber Weibert ergänzt Keller das Titelverzeichnis mit dem Eintrag »Fähnlein (Gegenwart)« und schlägt Ende des Jahres vor, »noch ein kleineres Stück, aus der Reformationszeit, auszuarbeiten, um – Bogen zu erreichen, die für Bändchen ausreichen würden«. Weibert stimmt erfreut zu und schlägt den Druck für den Sommer vor, die Auslieferung für Herbst . Kellers Arbeit an den Manuskripten verzögert sich jedoch. Rodenberg bittet er am . Mai um Nachsicht wegen seiner »verbrecherischen Nichtleistungen«, stellt aber Besserung in Aussicht, da er das Staatsschreiberamt zum . Juli gekündigt hat, um sich ganz der Schriftstellerei widmen zu können. Inhaltliche Erläuterungen äußert Keller gegenüber Rodenberg am . . : Die »Züricher Novellen« bestehen, wie ich Ihnen schon geschrieben, aus Stücken, von denen in das t. oder vielmehr t. eingeschachtelt sind u zwar so: In der Rahmennovelle erzählt ein Alter einem Jungen die übrigen Novellen, die aber ohne Dialogunterbrechungen u d gl. für sich rund abgeschlossen sind. Es käme also im t. Heft der Anfang der Rahmennovelle u eine ganze Novelle; im folgenden Heft die zweite ganze Novelle u s f. u mit der letzten Novelle dann der Schluß der Rahmennovelle.
›Hadlaub‹, ›Der Narr von Manegg‹ und ›Der Landvogt von Greifensee‹ sollen in der Rahmenerzählung ›(Herr Jacques)‹ »eingeschachtelt« sein. Die Gesprächssituation zwischen dem Paten und Jacques ist bereits entworfen, auch die autonome Form der Binnennovellen »ohne Dialogunterbrechungen«. Am . August beginnt Keller das Manuskript »stückweise« an Rodenberg zu übersenden, doch schon bald kommt es zu weiteren Verzögerungen, die dem programmatischen Realismus geschuldet sind: »Bei dem Hadloub bin ich wegen Verquickung von Wahrheit und Dichtung in unerwartete Verkrempe
Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Gottfried Keller an Ferdinand Weibert, Brief vom . . , S. . Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. . Auch die Reaktion auf die ›Züricher Novellen‹ entspricht zuweilen beinahe wörtlich dem in Kapitel . dieser Arbeit skizzierten realistischen Programm. So berichtet Adolf Exner über seine ›Ursula‹-Lektüre: »Einiges aber doch ein wenig zu kraß für unseren verzärtelten Geschmack, z. B. das Nachlaufen der Heldin hinter den Soldaten bis aufs Schlachtfeld, oder die Kinderspielerei der alten Fanatikerfamilie; dergleichen mag wahr gewesen sein, aber es kommt uns doch nicht wahrscheinlich vor.« (an Gottfried Keller, Brief vom . . ; S. )
lung geraten und muß mit Geduld darüber hinwegduseln.« Erst am . Oktober schickt Keller den Schluß von ›Hadlaub‹. Die ›Deutsche Rundschau‹ unterbricht daher in ihrem Januar-Heft die Folge der ›Züricher Novellen‹ mit Paul Heyses ›Die Frau Marchesa‹. Am . Dezember hat Keller den ›Narr auf Manegg‹ abgeschlossen, am . Januar schickt er die ersten Seiten von ›Der Landvogt von Greifensee‹, am . Januar den Schluß für das März-Heft. Die letzte Lieferung für die ›Züricher Novellen‹ geht dann am . Februar ab, von Rodenberg nicht ohne pathetischen Abschiedsschmerz aufgenommen: Es thut mir leid genug, dß es nun aufhören soll, u. gern gäbe ich Ihnen Absolution, so viel Sie wollten, wenn es nur noch eine Weile fortdauerte! Doch Alles auf Erden nimmt ein Ende; und »wenn Freunde auseinandergehn so sagen sie: auf Wiedersehen!«
Ende Juli beginnen die Vorbereitungen für die Buch-Ausgabe; der Kontakt mit Weibert wird gepflegt und eine weitere Novelle, »die längstens bis Ende August fertig sein wird«, in Aussicht gestellt. Weiberts Vorschlag, die ›Züricher Novellen‹ in Bänden erscheinen zu lassen, wird von Keller aufgenommen: Die bereits in der Deutschen Rundschau erschienenen Sachen sollten, da sie unter sich verbunden sind, jedenfalls einen Band bilden. Derselbe wird aber circa Bogen stark werden, der zweite mithin bloß circa –, was indessen am Ende gleichgültig ist.
Die Überlegung, die Abfolge des ›Rundschau‹-Druckes zunächst mit der Novelle ›Hansli Gyr‹ und abschließend mit dem ›Fähnlein der sieben Aufrechten‹ zu ergänzen, kann nicht weiter verfolgt werden, da die Arbeit an ›Hansli Gyr‹ allzu schleppend fortschreitet: Ich denke, man kann doch Bändchen aus den Erzählungen machen und das erste mit dem »Landvogt von Greifensee« resp. dem daran hängenden Schlusse des »Jacques« abschließen. Die Inhaltsanzeige für diesen Band würde lauten: Hadlaub. Der Narr auf Manegg. Der Landvogt von Greifensee. mithin Jacques in derselben nicht erwähnt werden, zumal es nur eine Randzeichnung ist. Für das zweite Bändchen sende ich Ihnen beiliegend das durchgesehene (ursprüngliche) Manuskript des »Fähnleins«, damit der so rasch fortschreitende Druck nicht unterbrochen wird.
Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Die Schreibung von ›Hadlaub‹ variiert in den Briefen. Julius Rodenberg an Gottfried Keller, Brief vom . . , S. f.; hier S. . Gottfried Keller an Ferdinand Weibert, Brief vom . . , S. . Gottfried Keller an Ferdinand Weibert, Brief vom . . , S. . Später: ›Ursula‹. Gottfried Keller an Ferdinand Weibert, Brief vom . November , S. .
Die Rahmenhandlung, nunmehr als »Randzeichnung« qualifiziert, wird also nicht mehr ausgezeichnet, womit das eigenständige Kapitel des RundschauDrucks, ›Herr Jacques‹, entfällt. Mit dem Vorziehen des seit beinahe zwei Jahrzehnten vorliegenden ›Fähnlein‹ für den Druck erlaubt sich Keller, die Arbeit an der noch nicht abgeschlossenen Novelle ›Hansly Gyr‹ fortzuführen. Vermutlich bis Ende November kann Keller die nun ›Ursula‹ betitelte Erzählung abschließen, wenngleich er später klagt, sie sei »einfach nicht fertig und Schuld daran ist der buchhändlerische Weihnachtstrafic, der mir auf dem Nakken saß; ich mußte urplötzlich abschließen.« Auch gegenüber den anderen ›Züricher Novellen‹ gibt sich Keller kritisch und merkt an, daß er »kein gutes Gewissen habe und ich die Geschichten zum Theil nicht recht fertig gearbeitet finde nach der Vorstellung, die ich bei der Conception davon hatte.« Am . Dezember erhält Keller zwölf Freiexemplare der beiden Bände. Die Reaktionen im Freundes- und Rezensentenkreis sind überwiegend positiv. Die zweite und dritte Auflage schließen sich an, wie gehabt in einer Höhe von Stück, im November und im September . Mit dem Wechsel von der ›Göschen’schen Verlagshandlung, Stuttgart‹ zum Verlag ›Wilhelm Hertz, Berlin‹ folgen im Dezember und im Herbst die vierte und fünfte Auflage mit jeweils Exemplaren. Im Rahmen der bei Hertz veröffentlichten ›Gesammelten Werke‹ erscheinen die ›Züricher Novellen‹ als Band der Werkausgabe zum letzten Mal zu Lebzeiten Kellers, dabei erstmalig in nur einem Band. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte läßt sich demnach resümieren: die ›Züricher Novellen‹ sind zunächst ein Zyklus von vier Novellen. Die Rah
Die Titelgebung in der ›Deutschen Rundschau‹ lautete, jeweils nach »Züricher Novellen. / Von / Gottfried Keller.«: »Herr Jacques« (Folge ), ohne Titel (Folge ), »III. / Der Narr auf Manegg.« (Folge ), »IV. / Der Landvogt von Greifensee.« (Folge ), »Der Landvogt von Greifensee. II.« (Folge ). Mitgeteilt in HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. . – Vgl. auch Anm. . Gottfried Keller an Thedor Storm, Brief vom . . , S. . Gottfried Keller an Henriette Eller, Brief vom . . , S. . Weitere Erläuterungen zu den Textzeugen in HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. –. Von ›Zyklus‹ spricht man bei einer »Gruppe von selbständigen, in narrativer Sukzession oder thematischer Variation aufeinander bezogenen Gedichten, Dramen oder Erzähltexten«, wobei »die im Nacheinander und im Bezug auf die Textgesamtheit je unterschiedlich stark eingeschränkte, aber nie vollständig reduzierte Autonomie der Teiltexte« zu berücksichtigen ist. Claus-Michael Ort, Zyklus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. : P–Z, hg. von Jan-Dirk Müller u. a., Berlin, New York , S. –; hier S. . Als Grenzfälle zyklischen Erzählens bewertet Christine Mielke Gottfried Kellers Erzählzyklen: »Eine Ausnahmestellung nehmen prinzipiell die Zyklen Kellers ein, die die konventionellen Zyklenformen und -inhalte auf sehr spezielle und in der Literatur singuläre Weise abwandeln.« Für den Realismus nimmt
mennovelle ›Herr Jacques‹ bildet die Gesprächssituation, in der die anderen drei Novellen, ›Hadlaub, Der Narr auf Manegg‹ und ›Der Landvogt von Greifensee‹ eingebettet sind. In dieser Form werden die ›Züricher Novellen‹ erstmals in der ›Deutschen Rundschau‹ von November bis April in fünf Folgen veröffentlicht. Die zeitgleich in Erwägung gezogene Buchpublikation erlaubt eine Erweiterung des Textkorpus. Keller greift dafür auf die bereits in ›Berthold Auerbach’s deutschem Volks-Kalender‹ publizierte Novelle ›Das Fähnlein der sieben Aufrechten zurück. Überdies beschäftigt er sich mit der Ausarbeitung der Reformationsgeschichte ›Ursula‹. Eine Aufteilung in zwei Bände wird sowohl vom Autor als auch vom Verleger als sinnvoll erachtet. Während der erste Band sich auf die Textwiedergabe aus der ›Deutschen Rundschau‹ beschränkt, soll der zweite Band die beiden ›neuen‹ Erzählungen enthalten. Da mit der Drucklegung frühzeitig begonnen wird, muß Keller das ›Fähnlein‹ zuerst in Druck geben, um weiterhin an der Ausgestaltung von ›Ursula‹ arbeiten zu können. Die Veröffentlichung der Buchausgabe erfolgt (in zwei Bänden) im Dezember .
. Exkurs: Die Textkonstitution der ›Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe‹ Sowohl die ›Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe‹ als auch die ›Sämtlichen Werke‹ aus der ›Bibliothek deutscher Klassiker‹ nehmen jeweils für sich in Anspruch, den Text in einer »letztgültig« von Keller autorisierten Fassung abzudrucken. Die ›Sämtlichen Werke‹ erläutern: Grundlage aller abgedruckten Texte ist die jeweilig letzte von Keller noch einmal geänderte Ausgabe und damit jene Werkgestalt, die der Autor als letztgültige in den Re-
Mielke nur Theodor Storms ›Am Kamin‹ () und Paul Heyses ›In der Geisterstunde‹ (–) in ihre umfangreiche Korpusanalyse auf. Christine Mielke, Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von Nacht bis zur TV-Serie, Berlin, New York , S. f. Erste Hinweise zu ›Ursula‹ finden sich auf dem Notizblatt ›Seldwyla II‹, das Keller wohl vom Frühjahr bis / immer wieder ergänzte, dort u. a. »Wiedertäufer, die Kindernarren« und »Der Reisläufer«. HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. f. Vgl. dazu Peter Stocker, Gottfried Kellers Arbeitsplan »Seldwyla II.«. Zur genetischen Eigendynamik entstehungsgeschichtlicher Dokumente. In: Text. Kritische Beiträge, Bd. : Textgenese (). S. –. Der Arbeitsplan beziehungsweise die Titelliste ›Seldwyla II.‹ verdeutlicht laut Stocker, wie nach Ausführung des ›Seldwyla‹-Zyklus / das, »was vom Erweiterungsprojekt ›Seldwyla II‹ am Schluß übrig bleibt […] mehr oder weniger offensichtlich in den Zusammenhang der ›Züricher Novellen‹« gehört. (Ebd. S. .)
zeptionsvorgang entlassen hat. Im Falle der Züricher Novellen ist dies die dritte, mit der Jahreszahl versehene Buchausgabe (D), im Falle der Leute von Seldwyla die zweite, um den . Teil des Gesamtwerkes vermehrte Auflage von (B).
Gegenüber dieser Studienausgabe ist die ›Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe‹ (HKKA) per definitionem mit einer erheblich größeren Autorität ausgestattet und erklärt: Es ist oft nicht einfach festzulegen, welche als »die jeweilig letzte von Keller noch einmal geänderte Ausgabe« zu verstehen ist. Außerdem deutet nichts darauf hin, daß dieser bei den Texteingriffen, die sich später als seine letzten herausstellen sollten, eine »letztgültige Werkgestalt« im Sinne hatte, stand doch immer eine nächste Auflage in Aussicht. Erst die Vorbereitung der Gesammelten Werke konfrontiert Keller mit der Frage der Letztgültigkeit.
Demgemäß nimmt die HKKA die ›Gesammelten Werke‹ als Vorlage für den edierten Text; daß sie »damit nicht nur der Willensbekundung des Autors« folgt, läßt sich wohl kaum behaupten, doch die Berücksichtigung der »Durchdringung von Produktions- und Publikationsprozeß […], welcher in den ›Gesammelten Werken‹ seinen gezielten Abschluß fand« scheint legitim. Der »gezielte Abschluß« wird von Keller in seinen Verlagsverträgen bereits früh verankert. So heißt es etwa in § des Kontrakts zwischen Gottfried Keller und der ›G. J. Göschen’schen Verlagshandlung in Stuttgart‹ bezüglich der Buchpublikation der ›Züricher Novellen‹: »Die Aufnahme vorbenannten Werkes in
Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla, hg. von Thomas Böning, Frankfurt am Main , S. . Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Einführungsband, hg. von Walter Morgenthaler u. a. Basel, Frankfurt am Main, Zürich , S. . In der nachstehenden Kritik an der HKKA folge ich zwei Aufsätzen von Hans Zeller: Ein neuer Weg zur Textkonstitution. Die Textverwitterung in der historisch-kritischen Keller-Ausgabe. In: Euphorion, , , S. –, sowie bei lyrischen Sachen wirken Druckfehler etc. doppelt ungünstig und können einem strengeren Geschmacke das Buch gleich anfangs verleiden machen. Der Text in der Historisch-kritischen Keller-Ausgabe. In: Euphorion, , , S. –. Weitere Schwachpunkte der HKKA, etwa die karge Einzelstellenkommentierung, sind genannt bei Norbert Oellers, Rezension zu: Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe. Basel, Frankfurt am Main, Zürich ff. In: Editio, , , S. –. Eine Replik auf Zeller (und Oellers), die deren Einwände meines Erachtens nicht entkräftet, gibt Walter Morgenthaler, Grattier, Gratthier oder Steinbock? Zur Textkonstitution bei Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller. In: MLN. Modern Language Notes, , , S. –. Vgl. auch Walter Morgenthaler, Überlieferung und Textkonstitution bei Gottfried Keller. In: Schweizer Monatshefte, , , S. –. Eine ausführlichere Fassung findet sich auf der Internet-Seite www.gottfriedkeller.ch unter ›Aufsätze‹. (Gesehen am . April .) So jedoch HKKA: Einführungsband, S. . Ebd.
eine später zu veranstaltende Gesammtausgabe seiner Werke ist dem Herrn Verfasser ohne Vorbehalt freigestellt.« Kellers juristische Vorsichtsmaßnahmen bezüglich einer zukünftigen (und sicher auch von ihm selbst gern gesehenen) Werk-Ausgabe kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die ›Gesammelten Werke‹ zwar autorisiert sind, der schwerkranke Keller sich jedoch »an der Herstellung und Kontrolle ihres Textes schon bald nach dem Satzbeginn nicht mehr beteiligte, daß er von keinem der darin enthaltenen Werke vollständig Korrektur las«. In einem der modernen Textkritik angenäherten, bemerkenswerten Zusammenspiel zwischen dem Verleger Ferdinand Weibert und dem Autor Gottfried Keller war es bis zur dritten Auflage der ›Züricher Novellen‹ gelungen, die Druckfehler und Irrtümer der Buchausgabe zu reduzieren und einen stark autorbezogenen, ›authentischen‹ Text herzustellen. Demgegenüber greifen die ›Gesammelten Werke‹ auf die nicht mehr von Keller durchgesehene vierte Auflage der ›Züricher Novellen‹ als Druckvorlage zurück. In der HKKA heißt es:
Zitiert nach HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. . Die ›Züricher Novellen‹ bilden den Band der ›Gesammelten Werke‹. »Die entsprechenden Bogen erschienen im Sommer , die gebundene Ausgabe der Gesammelten Werke lag im November vollständig vor.« (HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. .) Urs Widmer berichtet über dieses Jahr: »Keller war jetzt siebzig Jahre alt und konnte kaum mehr gehen. Tastete sich den Wänden entlang. Im November verließ er zum letzten Mal sein Haus am Zeltweg, dann nie mehr bis zu seinem Tod ein halbes Jahr später. […] Er bleibt im Bett, und bald ertrug er auch kein Tageslicht mehr, so daß die Vorhänge immer gezogen blieben.« Urs Widmer, Geschichten aus einem anderen Land. In: Gottfried Keller, Das Fähnlein der sieben Aufrechten. Neu entrollt und hochgehalten von Urs Widmer, Berlin , S. –; hier S. . – Vgl. auch Jonas Fränkel nach Zeller, Druckfehler, S. : »Vom fünften Bogen des zweiten Bandes an bekam er [Keller] die Korrekturabzüge überhaupt nicht mehr zu Gesicht.« Zeller, Textverwitterung, S. . Über das Verfahren berichtet Peter Stocker, Antizipierte Textkonstitution. Der Verleger Ferdinand Weibert und die textkritische Behandlung der Druckvorlagen Gottfried Kellers. In: Text. Kritische Beiträge, : Textkonstitution, , S. –, etwa S. : »Ferdinand Weibert, der Inhaber des Verlags [G. J. Göschensche Verlagsbuchhandlung], unterzog die Druckvorlagen einer Behandlung, die sich ein Philologe hätte ausdenken können: Er übertrug Kellers eigenhändige Korrekturen aus den Korrekturbogen in die Druckvorlage; bei größeren Korrekturen scheute er nicht die Mühe, nach Schere und Klebstoff zu greifen, um für eine zeichengetreue Übertragung zu sorgen. [Er schnitt] Kellers Korrektur aus den Korrekturbogen aus und klebte sie an der entsprechenden Stelle in die Druckvorlage ein (›Klebezettel-Übertragung‹). Und im Fall der ›Züricher Novellen‹ (, , ) ging er sogar so weit, diesen Vorgang bei der zweiten Auflage zu wiederholen; um die Korrekturen der zweiten Auflage gegenüber den bereits vorhandenen Rückübertragungen abzuheben, verwendete er nun statt Bleistift, Blaustift und schwarzer Tinte vorwiegend rote Tinte und brachte außerdem siglenartige Bezeichnungen an.« HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. .
Gegenüber E, der letzten von Keller durchkorrigierten Auflage, weist GW gegen Abweichungen auf, von denen etwa % auf die vierte Auflage (E) zurückgehen, welche offensichtlich als Druckvorlage verwendet wurde. Der größte Teil ist aber erst bei der Drucklegung entstanden. Dazu gehören mindestens Abweichungen (davon etwa semantisch bedeutsame), die mit Sicherheit nicht von Keller intendiert waren. Druckfehler und fehlende oder überzählige korrespondierende Anführungszeichen wurden korrigiert […].
Eine der herausragenden Tugenden der HKKA, ihre Überprüfbarkeit durch umfassende Dokumentation, macht also gleichzeitig einen schweren Mangel ersichtlich: »Es gehört zu den Verdiensten der neuen Ausgabe, daß dem Leser auf diese Weise die Problematik der Textgrundlage GW ständig vor Augen geführt wird.« Vielleicht erklärt sich damit auch die Zurückhaltung der HKKA bei der Erläuterung zur Textentstehung der ›Gesammelten Werke‹. Auch der Verlagsvertrag, der als Zeugnis des Autorwillens figuriert, wird leider nicht mitgeteilt. Ihm läßt sich aus editionsphilologischer Sicht nicht mehr als die Komposition der ›Gesammelten Werke‹ entnehmen: § . Herr Dr Keller überlässt Herrn Wilhelm Hertz sowie den Erben und Rechtsnachfolgern desselben des [sic] Verlagsrecht an seinen Gesammelten Werken, deren Umfang vorläufig auf Bände festgesetzt ist. Diese zehn Bände soll folgenden Inhalt haben: Band I bis III Der grüne Heinrich. – Band IV und V Die Leute von Seldwyla – Band VI Züricher Novellen – Band VII Das Sinngedicht – Band VIII Martin Salander – Band IX und X Gedichte und Legenden.
Ebd., S. . Dies sind laut Zeller, Druckfehler, S. , »deutliche Hinweise auf die verderbliche Hast, die mangelnde Sorgfalt bei der Drucklegung von GW.« Zeller, Textverwitterung, S. . Ebd., S. . Vgl. etwa HKKA: Einführungsband, S. : »Am . . kam der Vertrag über die Gesammelten Werke zustande. Die Komposition [!] dieser Bände war Kellers letztes Werk.« Es steht zu vermuten, daß die HKKA die mißliche Textgrundlage bewußt in Kauf nimmt, um die Komposition der ›Gesammelten Werke‹ übernehmen zu können: »Nicht weniger unangemessen als der Versuch einer fundamentalen Neuredaktion wäre die pragmatischer orientierte Entscheidung, die jeweils letzte vom Autor durchkorrigierte Ausgabe zur direkten und einzigen Textgrundlage zu nehmen. Dadurch würde die Einheit, die von den Gesammelten Werken beansprucht und – trotz aller Mängel – ›ins Werk gesetzt‹ wird, soweit aufgelöst, daß nur noch deren formale Architektur übrigbliebe.« (HKKA: Einführungsband, S. .) Meines Erachtens wäre die Übernahme der kompositorischen Ordnung der ›Gesammelten Werke‹ für die HKKA unter Rückgriff auf die jeweils letzte von Keller durchgesehene Auflage des entsprechenden Werkteils erheblich weniger problematisch gewesen als die Ausrichtung an den ›Gesammelten Werken‹ auch für den edierten Text. Hans Zellers Plädoyer für eine Überarbeitung der Text-Bände der HKKA auf Grundlage der vorzüglichen Apparat-Bände kann demnach uneingeschränkt zugestimmt werden. Vgl. Zeller, Druckfehler, S. . Zitiert nach: Michael Davidis, Der Verlag Wilhelm Hertz. Beiträge zu einer Geschichte der Literaturvermittlung im . Jahrhundert, insbesondere zur Verlagsgeschichte der
Für eine ›authentische‹ Textkonstitution der ›Züricher Novellen‹ dürfte also nur die Richtlinie der Werkausgabe des Deutschen Klassiker Verlages maßgeblich sein: »Grundlage aller abgedruckten Texte ist die jeweilig letzte von Keller noch einmal geänderte Ausgabe und damit jene Werkgestalt, die der Autor als letztgültige in den Rezeptionsvorgang entlassen hat.« Die ›Züricher Novellen‹ dieser Ausgabe folgen der dritten Auflage, womit sie »trotz der leidigen orthographischen Modernisierung[,] die textlich beste Keller-Edition« bietet.
. Text- und Zykluskonstitution der ›Züricher Novellen‹ Die interpretatorische Relevanz der Textvorlagenauswahl für die ›Züricher Novellen‹ ist beträchtlich. Schemata, die die Erzählebenen mit der Titelgebung und (gegebenenfalls) Bandaufteilung verbinden, sollen dies verdeutlichen: Züricher Novellen, Journalfassung
Züricher Novellen. / – / Von / Gottfried Keller. / –
Band: Titel:
Herr Jacques.
Erzählebene :
Rahmen (Beginn)
Erzählebene :
[fehlt] III./Der Narr auf IV./Der Landvogt Der Landvogt von Manegg von Greifensee Greifensee. II.
Hadlaub Hadlaub (I) (II)
Rahmen
Rahmen Der Narr auf Manegg
Rahmen (Schluß )
Der Landvogt Der Landvogt von Greifensee von Greifensee (I) (II)
Werke von Paul Heyse, Theodor Fontane und Gottfried Keller. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, , , Sp. –; hier Sp. . Vgl. Zeller, Textverwitterung, S. : »Die erste Begründung – nämlich: der Text von GW sei autorisiert – scheint zu übersehen, daß diese Autorisation fast nur juristischen Charakter hat und GW darum den am wenigsten authentischen Text von allen autorisierten Ausgaben bietet. Nach H. Kraft oder N. Oellers ist der Autorisationsbegriff für die Editionsphilologie überhaupt überflüssig, es komme allein auf die Authentizität an.« Stocker, Antizipierte Textkonstitution, macht überdies plausibel, warum nicht der Erstdruck, sondern die dritte Auflage der ›Züricher Novellen‹ sich als Textvorlage für einen edierten Text aufdrängt. Keller, Die Leute von Seldwyla, S. . Zu diesem Resultat kommt eigentlich auch der Mitherausgeber der HKKA, Peter Stocker, Antizipierte Textkonstitution, der jedoch abwehrt (S. ): »Auch die Frage, ob E denn eine geeignete Grundlage für kritische Editionen des Werkes sei, ist unabhängig von der Feststellung, Weiberts Vorgehen habe sich bewährt. Da es im vorliegenden Aufsatz ausschließlich darum geht, zu verstehen, was Weibert unternahm, und mit welcher Absicht, soll die Frage der editorischen Eignung von E hier nicht diskutiert werden. – Zu den Schwächen von E vgl. HKKA , .«
Die inkonsistente Betitelung der Journalfassung mag dem Zeitdruck geschuldet sein, unter dem die ›Deutsche Rundschau‹ aufgrund Kellers später Manuskriptabgabe gestanden hat. Deutlich sorgfältiger scheint die Zyklus-Einrichtung für die ›Gesammelten Werken‹, denen die HKKA folgt: Züricher Novellen, Gesammelte Werke
Züricher Novellen.
Band: Titel:
Hadlaub Der Narr auf Manegg Der Landvogt Das Fähnlein der Ursula von Greifensee sieben Aufrechten
Erzählebene : Erzählebene :
Rahmen (Beginn)
Rahmen Hadlaub
Rahmen Narr
Rahmen (Schluß ) Landvogt
Fähnlein
Ursula
Zunächst wird ersichtlich, auf welche Weise die Rahmenhandlung die ersten drei Novellen verschachtelt: Die ›Züricher Novellen‹ beginnen mit der Rahmenhandlung, bevor die erste Titelnovelle einsetzt, die autonom gestellt ist. Die zweite Erzählung, in der die Fiktion des Paten-Erzählers am stärksten suggeriert wird, ist von zwei Rahmen umschlossen. Die dritte Novelle beginnt mit der titelgebenden Erzählung und schließt mit dem Rahmen. Dieser eröffnet jedoch keine neue Binnenerzählung, sondern ist mit Jacques’ Heilung von der Originalitätssucht und schließlich seiner eigener Patenschaft beendet. Die zuvor aufgeworfene Kontextualisierung der eigentlichen Novellen wird jedoch nicht zurückgenommen, weshalb sowohl das ›Fähnlein‹ als auch ›Ursula‹ auf einer zweiten Erzählebene anzusiedeln sind. Die Crux der beiden Schlußnovellen ist jedoch, daß sie gar keiner ersten Erzählebene zu Grunde liegen: das ›Fähnlein‹ und ›Ursula‹ können also demnach gar nicht erzählt werden. Ihre Existenz ist ein Widerspruch in sich, der keine Auflösung findet: die Novellen
HKKA, Züricher Novellen, Appart, S. : »Unter dem Titel in Folge : (Fortsetzung), in Folge : (Schluß.). Am Ende von Folge : (Fortsetzung folgt.), von Folge : (Die dritte der ›Züricher Novellen‹ folgt.), von Folge : (Fortsetzung im nächsten Heft.). An die Titelzeilen der Folgen schließen sich unsystematische Textüberschriften an: […] Die Textüberschrift Herr Jacques ist durch Schriftgröße und Position am stärksten ausgezeichnet, während Hadlaub als einzige nicht an prägnanter Position (zu Beginn einer Folge oder Seite) erscheint.« Vgl. HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. : »Werden auf diese Weise die Binnennovellen einander angenähert, so wird dagegen der Unterschied zwischen Rahmen und Binnennovellen […] noch verstärkt.« Diese Behauptung läßt sich allerdings leicht entkräften, wenn man auf den zweifelhaften Zusammenhang von Rahmung und Binnengeschichte auch der vorangeganenen Novellen verweist. Das Prinzip der von der Rahmenhandlung emanzipierten Binnenerzählung fände dann im ›Fähnlein‹ und in ›Ursula‹ seine konsequenteste Fortsetzung.
werden erzählt, obwohl innerhalb der erzählten Welt (nämlich der des Rahmens) niemand da ist, der von ihnen berichten könnte. Anders verhält es sich bei den ›Züricher Novellen‹ in der letzten von Keller korrigierten Fassung, der dritte Auflage der Buchausgabe: Züricher Novellen, Buchausgabe, . Auflage
Züricher Novellen. Erster Band.
Band: Titel:
Zweiter Band.
Hadlaub Der Narr auf Manegg Der Landvogt von Greifensee
Erzählebene :
Rahmen (Beginn)
Erzählebene :
Rahmen Hadlaub
Rahmen Narr
Rahmen (Schluß )
Das Fähn- Ursula lein der sieben Aufrechten
Fähnlein
Landvogt
Auch hier beginnen die ›Züricher Novellen‹ mit der Rahmenhandlung, welche die ersten drei Novellen umschachtelt. Mit dem Schluß der Rahmenhandlung endet nun auch der Erste Band. Damit ist ein Werkkomplex in sich geschlossen, ein zweiter kann mit dem Zweiten Band eröffnet werden. Die Zyklizität der ›Züricher Novellen‹ legt zwar eine Ansiedlung von ›Fähnlein‹ und ›Ursula‹ auf der zweiten Erzählebene nahe, doch ist mit dem Bandwechsel die Ansiedlung auf einer ersten Erzählebene durchaus möglich: der Beginn des neuen Bandes kann eine neue Erzählstruktur eröffnen. Es sind verschiedene Bemühungen angestellt worden, eine innere Folgerichtigkeit der fünf Novellen aufzuzeigen. Während eine kulturgeschichtliche Reihenfolge schon an der achronologischen Reihung scheitert (Rahmen: . Jh, ›Hadlaub‹: . Jh, ›Narr‹: . Jh., ›Landvogt‹: . Jh., ›Fähnlein‹: . Jh., ›Ursula‹: . Jh.) sind sowohl der Verweis auf Zürich als gemeinsamen Hand-
Die Unabhängigkeit und Andersartigkeit von ›Fähnlein‹ und ›Ursula‹ wird auch hervorgehoben durch die buchtechnische Gestaltung: »In E–E [der Erstdruck der Buchausgabe und die vier Folgeauflagen] sind die Titel von ZN–ZN [›Hadlaub‹ bis ›Landvogt‹] standardisiert, während der Jacques-Titel entfällt. Die Titel der neu hinzugekommenen Novellen ZN–ZN [›Fähnlein‹ und ›Ursula‹] im . Band dagegen nehmen je ein eigenes Zwischenblatt (mit leerer Rückseite) ein, womit sie deutlich mehr Gewicht erhalten.« HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. . Die ›Gesammelten Werke‹, und damit die HKKA, nivellieren diese kompositorische Differenzierung durch Verzicht auf die Zwischenblätter. Radandt weist darauf hin, daß in allen ›Züricher Novellen‹ Übergangszeiten thematisiert werden und keineswegs epochemachende Hoch-Zeiten. Friedhelm Radandt, Transitional Time in Keller’s Züricher Novellen. In: PMLA, , , S. –.
Ursula
lungsort als auch auf die moralische Ausrichtung der Novellen als nicht hinreichend bewertet worden. Die Vorbildlichkeit des ›originalen‹ Titelhelden (›Hadlaub‹, ›Landvogt‹) beziehungsweise die abschreckende Wirkung seines Schicksals (›Narr‹) mag höchstens für die ersten drei Novellen gelten. Das ›Fähnlein‹ führt seinen Titelhelden Karl Hediger nicht im Titel, und bei ›Ursula‹ wäre die Ersetzung des ursprünglichen Titels ›Hansli Gyr‹ demgemäß kontraproduktiv. Inwiefern sich bei allen fünf Novellen gewinnbringend von einer »ausgesprochen starken aktuellen Intentionalität der pädagogischen Tendenz in kultureller oder gesellschaftlich-politischer Hinsicht« sprechen läßt, sei dahingestellt. Diejenigen Interpretationen, die mit dem Abschluß der Rahmenhandlung einen Bruch innerhalb des Novellenzyklus erkennen, bemühen sich weiterhin um eine stringente Gesamtdeutung: Daß es nach dem Erwachsenwerden von Jaques [sic] mündlich nichts mehr zu berichten gibt, weist indessen auf die innere Problematik von Jaques’ Reifungsprozeß hin: der Lebendigkeit der Gefühle korrespondiert bei Keller das Mündliche des Erzählens. Wo der erwachsen gewordene Pankraz für seinen Gefühls-Roman keine Zuhörer mehr fand, da findet in den ›Züricher Novellen‹ nach dem Erwachsenwerden des Bürgertums kein Rahmen-Erzähler mehr ein (mündliches) Wort.
Reichert, Entstehung, S. : »Daß es sich bei allen Erzählungen um historische – genauer ›kulturhistorische‹ – handelt, daß sie durch den gemeinsamen Schauplatz Zürich verbunden sind und durch das im Rahmen gestellte Originalitätsproblem zusammengefaßt werden können, befriedigt noch nicht.« Vgl. dagegen Gerhard Kaiser, Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt am Main , S. : »Alle Novellen sind durch die Einheit des Ortes – Stadt und Land Zürich – und das Muster des reformatorischen Bezugs auf die Geschichte erkennbar, wenn die Phänomenologie des Citoyen in ihrer Auffächerung nach zwei Seiten hin in den Blick fällt: als Originalitätsthematik und als Thematik des Volkes, der Einheit der Citoyens.« Kaiser, Natur und Geschichte, S. : »Kann als einigendes Band der Züricher Novellen gelten, was fast alle Werke Kellers zusammenschließt?« Vgl. dagegen Kaiser, Natur und Geschichte, S. f.: »Es ist nach alledem leicht zu sehen, daß auch das Thema der Originalität aus dem Block der Rahmenerzählung zum Fähnlein und zu Ursula hinüberläuft. [Denn es] sind Karl Hediger und – trotz zeitweiliger Abirrungen – die beiden Väter im Fähnlein, Hansli und Zwingli in Ursula Originale im paradoxen Sinne der unaufdringlichen Mustergültigkeit, den der Oheim Jakobus vor dem Paten Jacques entwickelt.« Vgl. auch ebd., S. . Hartmut Laufhütte, Geschichte und poetische Erfindung. Das Strukturprinzip der Analogie in Gottfried Kellers Novelle »Ursula«, Bonn , S. . Bernd Neumann, Gottfried Keller. Eine Einführung in sein Werk, Königstein/Ts., . S. . – Vgl. auch Waldhausen, Technik der Rahmenerzählung, S. : »Wenn das Erzählen einem Zweck dient, kann der Dichter seine Personen abbrechen lassen, sobald dieser Zweck erreicht ist. So schließt in den ›Züricher Novellen‹ der Herr Pate seine Mitteilungen an Herrn Jacques, als er an dessen verändertem Betragen merkte, daß er ›seinen Part der Erziehungsarbeit als durchgeführt ansehen konnte‹.«
Der ›Bruch mit dem mündlichen Erzählen‹ verkennt, daß bereits ›Hadlaub‹ und ›Der Landvogt von Greifensee‹ zumindest nicht in der vorliegenden Form mündlich erzählt werden. Damit wird auch die Interpretation von Jacques’ Reifungsprozeß hinfällig: »das Mündliche des Erzählens« fand (überprüfbar) nie statt, es gab auch vorher »mündlich nichts mehr zu berichten«, weshalb auch keine korrespondierende »Lebendigkeit der Gefühle« konstatiert werden kann. Eine einheitliche ›Sinngebung‹ des Zyklus ›Züricher Novellen‹ scheint also angesichts der aufgegebenen Rahmenhandlung schlechterdings unmöglich. Einer ›poietischen‹ Interpretation kommt die Textanordnung der ›Gesammelten Werke‹ insofern entgegen, als sich in ihr der Bruch zwischen erzählter Welt der ersten drei Novellen und fiktionsimmanenter ›Unmöglichkeit‹ der beiden Schlußnovellen besonders stark konturiert. Unter editionsphilologischen Aspekten müssen jedoch alle Ausgaben nach der dritten Auflage von als schwach oder gar nicht autorisiert gelten. Die Entstehungsgeschichte vom frühen Druck des ›Fähnleins‹ bis zur mühsamen (Nicht-)Fertigstellung von ›Ursula‹ während des bereits begonnenen Drucks der Buchausgabe mag die Konzeption des Zyklus erklären, nicht aber Kellers unterbliebene Revisionen. Noch ehe Jakobus beginnt, seinem Patenneffen Geschichte zu erzählen, ist klar, daß an ihr nichts zu erkennen wäre, was Jacques noch irritieren könnte. Mit der Sicherheit dessen, der über alles verfügt, wird Jacques jede Einzelheit, die er hört, zur Spiegelung seiner Eitelkeit dienen. Die ›Züricher Novellen‹ handeln von keiner Wanderschaft, die Individualität ausprägen könnte. Der Erzähler desillusioniert die Vorstellung, hier werde sich noch etwas anderes ereignen als die Freude des Bürgers an dem, was er bereits hat. Erzählt wird nicht, wie das Leben wäre, wie es sein könnte, sondern wie es ist. Was sich nicht ohnehin schon ereignet, wird auch nicht mehr passieren.
Es ist nicht nur der ›Bildungsroman‹, der in Kellers ›Züricher Novellen‹ scheitert. Die Zeit der Originale ist vorbei, aber auch die Zeit des Geschichtenerzählens: die potentielle Erzählgemeinschaft der Feuerwerker wird gleich zu Beginn verschmäht. Die pädagogisch initiierten Geschichten des Paten scheinen
Vgl. auch Neumann, Gottfried Keller, S. : »Die beiden folgenden Novellen haben im Rahmen der Zyklus-Fiktion keinen Erzähler mehr; dies stimmt zu ihrem Charakter als objektive Geschichtsbilder aus der Zeit zweier Reformationen: einer politischen und einer religiösen. Vor allem aber: auch hier wird von der Stillstellung chaotischer Triebe erzählt, ein Thema, das vor allem in seiner Ausprägung in der ›Ursula‹ kein mündliches Erzählern mehr zuläßt.« Vgl. Anm. . Die Bedeutung der Zyklizität in Kellers Werken mag man etwa am komplexen ›Sinngedicht‹ ermessen, doch ist gleichsam Kellers laxer Umgang mit den eigenen Erzählungen zu beobachten, insbesondere wenn es galt, sich buchtechnischen Überlegungen zu beugen (etwa bei der Änderung der Novellenabfolge im ersten Band der ›Leute von Seldwyla‹). Diana Schilling, Kellers Prosa, Frankfurt am Main u. a. , S. . Vgl. ebd., S. .
ihr Ziel zu verfehlen, denn Jacques Einsichten in das Wesen der Originalität sind beschränkt. Die Geschichten des Paten sind seine ›Originalprodukte‹, die aber darauf beruhen, Vorlagen zu modifizieren beziehungsweise auszuschmücken. Die Umstände und Folgen der Entstehung des ›Codex Manesse‹ sind dem Paten Anlaß gewesen, »mir die Geschichte [›Hadlaub‹] etwas zusammen zu denken und auszumalen«, und eine Biographie über Salomon Landolt hat ihn zu einer »ergänzende[n] Erzählung«, nämlich ›Der Landvogt von Greifensee‹ veranlaßt. Dieses Verfahren des ›bearbeitenden Erzählens‹ in der Rahmenerzählung läßt sich auch im Rahmen der Binnenerzählung ›Der Landvogt von Greifensee‹ beobachten. Dort äußert der Erzähler, daß er die vier folgenden Binnenerzählungen »ordentlich einteilen, abrunden und für unser Verständnis einrichten« werde. Bestimmendes Moment der ›Züricher Novellen‹ ist also, daß nicht das ›wirklich‹ Geschehene erzählt wird, sondern nur eine Bearbeitung. Ganz offen
Vehement ist das Urteil von Laufhütte, Geschichte und poetische Erfindung, S. f.: »Die verwirklichte Gestalt der Rahmenerzählung legt die folgende Deutung nahe: aus der ehemaligen Erziehungsgeschichte von der Art des in der ersten Novellensammlung Verwirklichten ist im Laufe der Zeit die Demonstration eines notwendig zum Scheitern verurteilten Erziehungsversuchs geworden, eines Unternehmens, das wegen Unerziehbarkeit des Gegenstandes der erzählerisch-pädagogischen Bemühungen des Paten erfolglos enden muß. Hinter dem Erziehungswerk steht zuletzt sogar der Pate nur noch mit gutmütig-sarkastischer Ironie, vom Autor zu schweigen. […]. Alle drei Erzählungen gehen, wie die Reaktionen des Herrn Jacques zeigen, über das Verständnisvermögen des verhinderten Originalgenies bei weitem hinaus. Er will zwar am Ende kein Originalgenie mehr werden, weil das zu anstrengend ist, zeigt aber ansonsten, daß er gar nicht begriffen hat, was mit des Paten Formel vom ›guten Original‹ und mit den Demonstrationen gemeint war, indem er die eine fixe Idee durch die andere ersetzt: nunmehr will er in edler Entsagung als Mäzen fungieren. Daß er sich auch dabei übernimmt und daß selbst das doppelte Scheitern weder sein Selbstbewußtsein noch seine Maßstäbe auch nur im geringsten erschüttert, zeigen sein Erlebnis in der ›Höhle der Unbescheidenheit‹ und dessen Wirkung.« Vgl. Ort, Zeichen und Zeit, S. : »Um den ›an Originalitätssucht und sentimentalem Traditionalismus krankenden‹ Jacques zu heilen, bindet ihn sein alter Pate in Rezeptions- und Reproduktionsprozesse von selbst wieder metasemiotischen Erzählungen ein, an deren Ende das Verhältnis von rezeptiv motivierter Reproduktion (als toter Mimesis ohne Originalität) und produktiver Originalität nicht nur zum Ausgleich kommt, sondern in kontige Beziehungen zwischen Vorbild und Produkt mündet.« Keller, Züricher Novellen, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Mit diesem Konzept der Nachahmung werden die ›Züricher Novellen‹ dezidiert ›mimetisch‹ gelesen: »Indem Gottfried Keller der autonomen Schöpfung die Nachahmung, der Poesis die Mimesis entgegensetzt, kehrt in einer für die ganze Epoche des Realismus aufschlußreichen Weise den poetologischen Grundvorgang des . Jahrhunderts um, der vom Dogma der Nachahmung zum Postulat ureigener, ›genialer‹
sichtlich geschieht das bei der Kopie, die Jacques von einer unleserlichen Handschrift anfertigen muß. Weniger offensichtlich ist es, wenn man zu Beginn der betreffenden Erzählung erfährt, sie sei die Kopie dieser Kopie, und am Ende doch als Vorlage für die Kopie ausgegeben wird. Ähnlich paradox ist es um den Erzählstatus von ›Hadlaub‹ bestellt. Während diese Novelle so vorbereitet wird, daß sie eine Ich-Erzählung des Paten darstellt, so ist nach eingehender Lektüre ersichtlich, daß der Rahmenerzähler anscheinend keinen Erzählerwechsel zuläßt und auch die Binnengeschichte erzählt, ohne jedoch Figur der Rahmenhandlung zu sein. Diese übergeordnete Erzählinstanz ›besetzt‹ also Rahmen- und Binnenerzählungen (ausgenommen wohl ›Der Narr auf Manegg‹). Dabei reißt jede neue Erzählfiktion, von der Mündlichkeit bis zur Manuskriptkopie, den Text aus der erzählten Welt heraus und ästhetisiert ihn als autonomes Kunstwerk. Die Rahmenhandlung bereitet zwar die Binnenerzählungen vor, jedoch bilden diese eine Folge vollkommen autonomer Erzählungen. Die erzählte Welt der Rahmenhandlung gibt bloß vor, die Binnenerzählungen zu erzählen, jedoch erfährt der Leser nichts über die Binnenerzählungen, sondern er erfährt sie selbst – allerdings nicht in der Form, in der sie die Figuren der Rahmenhandlung kennenlernen. Der Abbruch der Rahmenerzählung nach der dritten Novelle eröffnet eine weitere Spielart solcher Technik: Die beiden Schlußnovellen, ›Das Fähnlein der sieben Aufrechten‹ und ›Ursula‹, sind nicht mehr in die eigentliche ›Geschichte‹ integriert, sondern fallen aus der erzählten Welt heraus. Da die Ebene des Erzählens, die Rahmenhandlung, genommen ist, kann auch nicht mehr erzählt werden. Die Existenz von ›Fähnlein‹ und ›Ursula‹ ist schlichtweg paradox. Mit dieser Bestandsaufnahme soll jedoch nicht das Scheitern des Novellenzyklus festgestellt werden. Vielmehr gilt es, die ›Züricher Novellen‹ in ihrer »Inkonsequenz« ernst zu nehmen – oder gerade dies zu verhindern, denn: »Hier wird überall nicht politisirt sondern nur fabulirt u Comödirt.«
Schöpfung geführt hatte.« Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik –, Bd. : Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt , S. . – Zu ›Hadlaub‹ etwa heißt es ebd., S. : »In der Gestalt Hadlaubs dagegen glückt die Vermittlung von Künstlertum und bürgerlichem Leben – spätes Zeichen eines existentiell ›poetischen Realismus‹.« HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. . Gottfried Keller während der Bearbeitung der ›Züricher Novellen‹ für die ›Deutsche Rundschau‹. Brief an Adolf Exner, . . , zitiert nach HKKA: Züricher Novellen, Appart, S. f.; hier S. . Mit diesem Zitat ließe sich erneut über die Persiflage des Genres ›Novellenzyklus‹ nachdenken; vgl. Anm. .
. Conrad Ferdinand Meyer ›Die Hochzeit des Mönchs‹
Conrad Ferdinand Meyers Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹ (/) macht anschaulich, wie eine Geschichte entsteht. »Ein gravitätischer Mann« (S. ), nämlich Dante Alighieri, stößt zu einer abendlichen Erzählgemeinschaft am Hof des Fürsten Cangrande und wird um einen Beitrag gebeten. Nach und nach entwickelt er die Geschichte von der ›Hochzeit des Mönchs‹, zuweilen mit eigenen Kommentaren und Korrekturen oder unmittelbar auf Einwürfe der Hofgesellschaft reagierend. Die Rahmenerzählung, die Dantes Erzählen reflektiert, verknüpft sich also eng mit der Binnenerzählung, die nicht erinnert oder ›nacherzählt‹ wird, sondern tatsächlich erst entstehen muß. »So wird Dantes Geschichte zum paradigmatischen Fall für Erzählen überhaupt. Dadurch gewinnt der Rahmen eine Bedeutung weit über das in ihm Eingeschlossene hinaus.« Einerseits ist Meyers Novelle in ihrer historischen Situierung und mit der dynamisch entstehenden Binnenerzählung eher eine Rarität unter den Novellen des Realismus, andererseits handelt es sich bei der ›Hochzeit des Mönchs‹ um eine epochentypische Novelle par excellence, deren besondere Akzentsetzung nicht im mangelnden Gegenwartsbezug liegt, sondern in der ganz expliziten Ausrichtung auf das ›Wie‹ des Erzählens.
Der Erstdruck in der ›Deutschen Rundschau‹ erschien in zwei Teilen im Dezember und im Januar . Im folgenden wird die historisch-kritische Ausgabe zitiert, die sich an der ersten Buchausgabe () ausrichtet. Conrad Ferdinand Meyer, Die Hochzeit des Mönchs. In: ders., Novellen II. Die Hochzeit des Mönchs. Das Leiden eines Knaben. Die Richterin, hg. von Alfred Zäch, Bern , S. –; im folgenden zitiert mit bloßem Seitenverweis; hingewiesen sei auch auf Apparat und Kommentar der Ausgabe, ebd. S. –, im folgenden zitiert mit der Sigle ›K‹ und Seitenzahl. Benno von Wiese, Conrad Ferdinand Meyer. Die Hochzeit des Mönchs. In: ders., Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Bd. , Düsseldorf , S. –; hier S. . Auch Gottfried Kellers ›Züricher Novellen‹ berichten zumindest in den Binnenerzählungen von weit zurückliegenden Ereignissen; ähnlich verhält es sich bei den ›Chroniknovellen‹ Theodor Storms. – Ein impliziter Gegenwartsbezug der Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹, insbesondere als Angriff auf bestehende Herrschaftsstrukturen, wird gelegentlich von den Interpreten behauptet, vgl. etwa Sjaak Onderdelinden, Die Rahmenerzählungen Conrad Ferdinand Meyers, Leiden , S. : »Der modellhafte Erzähler Dante vermittelt also in der Form einer Parabel, durch das Modell einer ins Chaos abrutschenden Gesellschaft, das Modell einer im dialektischen Gegensatz zur dargestellten stehenden und anzustrebenden Staatskonzeption.« Vgl. auch Anm. .
Die Konzentration auf Dante, Erzähler der Binnengeschichte und maßgebliche Figur der Rahmenerzählung, mithin auf das Erzählen statt auf das Erzählte, hat der Novelle den Vorwurf des Manierismus eingebracht. Es sei mit der ›Hochzeit des Mönchs‹ »in der Virtuosität des Formalen […] ein Gipfel erreicht, von dem aus der Bereich des Manierierten schon am Horizont sichtbar wird.« Um eine konkretere Bestimmung des ›Manierierten‹ und die dennoch gleichsam selbstverständliche Anbindung an die vermeintlich schmucklose Novellistik des Realismus sind die folgenden Ausführungen bemüht. Nach
Klaus Jeziorkowski, Die Kunst der Perspektive. Zur Epik Conrad Ferdinand Meyers. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F., , , S. –; hier S. . – Vgl. auch Gottfried Keller an Julius Rodenberg, Brief vom . Januar : »Meister Ferdinands ›Hochzeit des Mönchs‹ ist wieder ein Treffschuß bis auf die Ausführung der Töterei am Schluß, die nicht befriedigt; […]. Dann gibt er sich zu sehr einem leisen Hang zur Manieriertheit wo nicht Affektation des Stiles hin, was ich ihm einmal getreulich sagen werde.« Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. ., hg. von Carl Helbling, Bern , S. –; hier S. . Weitere zeitgenössische Kommentare zu Meyers Novelle finden sich in Kapitel . dieser Arbeit. Sjaak Onderdelinden vermerkte schon : »Diese Kompliziertheit [der Novellen CFMs] stieß bisher in der Forschung auf eine Art Verlegenheit, die der Auffassung zu entspringen scheint, daß Artistizität etwas Minderwertiges sei, zumindest keine ›lebendige Kunst‹. Meyers Erzählwerk wurde daher mit Epitheta wie ›monumental‹, ›stilisiert‹, ›manieristisch‹ belegt. Das öffnet den Blick für ein äußerst interessantes Problem, die Frage, inwieweit Meyer Erzählen als realistisch angesprochen werden kann, welchen Platz der Autor in seiner Epoche, der des Realismus, einnimmt. Wir halten diese Frage für eine der wichtigsten, der unsere Arbeit nachzugehen hat.« Onderdelindens Arbeit interpretiert auf bestechende Weise Rahmen- wie Binnenerzählung der Novelle, spricht dem artistischen Verfahren dann aber einen Eigenwert ab, indem es als Verfahren dargestellt wird, daß auf politische Mißstände des späten . Jahrhunderst verweise: »Tatsächlich verlangen auch die historischen Erzählungen C. F. Meyers [darunter laut Onderdelinden auch ›Die Hochzeit des Mönchs‹] einen Vergleich mit und Nutzanwendung auf die Gegenwart. Wenn man diese parabolische Funktion seiner Geschichsnovellen beachtet, lesen sie sich als ein Plädoyer für eine Art aufgeklärten Despotismus, der sich historisch ohne Schwierigkeiten als bewundernde Propaganda für Bismarck-Deutschland einordnen läßt.« Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . Die Sekundärliteratur zu Meyers Novelle ist ausgesprochen ergiebig. Vorrangig seien, neben Onderdelinden, genannt: Friedrich A. Kittler, Der Traum und die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers, Bern und München ; Tamara Evans, Formen der Ironie in Conrad Ferdinand Meyers Novellen, Bern, München ; Eric Downing, Double Exposures. Repetition and Realism in Meyer’s Die Hochzeit des Mönchs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, , , S. –; Christof Laumont, Jeder Gedanke als sichtbare Gestalt. Formen und Funktionen der Allegorie in der Erzähldichtung Conrad Ferdinand Meyers, Göttingen ; Wolfgang Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹: zu C. F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs. In: Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums, hg. von Rosmarie Zeller, Heidelberg , S. –.
einer knappen Inhaltsskizze wird zunächst die Frage nach der intradiegetisch verhandelten Wahrhaftigkeit der Binnenerzählung gestellt (Kapitel .). Die Rahmenerzählung wird in Kapitel . analysiert, welches darüber hinaus unter den Aspekten ›Erfindung‹, ›Störung‹ und ›Spiegelung‹ das Zusammenspiel von Rahmen- und Binnenhandlung entfaltet. Kapitel . fragt nach der folgenreichen Bevorzugung der Prosa-Erzählung gegenüber der höchstrangigen Versepik des Terzinendichters Dante und leitet damit zu einer Schlußbetrachtung über (Kapitel .), die der paradigmatischen Bedeutung der ›Hochzeit des Mönchs‹ für den Realismus nachgeht.
. Die Hochzeiten des Mönchs Der Brautfahrt Umberto Vicedominis mit Diana Pizzaguerra wird die Aufmerksamkeit auf den am Ufer reitenden Tyrannen Ezzelin zum Verhängnis: Die Insassen der Barke erheben sich, grüßen den Herrscher und bringen das Boot durch ihre raschen Bewegungen zum kentern. Der Mönch Astorre, Bruder Umbertos, ist Zeuge des Unglücks und erstattet gemeinsam mit Ezzelin und der einzigen Überlebenden Diana seinem todkranken Vater Bericht. Heftig erregt durch den bevorstehenden Untergang seines Hauses verweigert dieser die Sterbesakramente und lästert Gott. Um ihn vor jenseitigem Unheil zu bewahren, sieht sich Astorre gezwungen, in eine Verheiratung mit Diana einzuwilligen, zumal sein Vater mit einiger Voraussicht das Gelübde des Mönchs durch ein päpstliches Schreiben bereits für nichtig hat erklären lassen. Der Alte führt die Hände Astorres und Dianas zusammen, gibt ihnen seinen Segen und beschwört die heiligen Sakramente. Anschließend empfängt er die Letzte Ölung und entschläft. Nach der Frist von einer Trauerwoche trifft Astorre auf seine Freunde Ascanio und Germano sowie auf den Tyrannen Ezzelin. Letzterer rät dem zögerlichen Astorre eindringlich, sich dem Volk zu stellen und seine Sippe einzuladen, um noch am selben Tage Hochzeit zu halten. Unter den Gästen sollen auf Wunsch Astorres und gegen den Rat Ascanios auch die als töricht geltende Olympia und deren Tochter Antiope sein, an die Astorre eine lebhafte Erinnerung pflegt. Astorre bricht auf, um einen Ring für Diana zu kaufen. Der florentinische Händler gibt ihm zwei Ringe, deren einer aus Astorres Hand fällt, als die Leibwache des sich nähernden Tyrannen die Umstehenden bedrängt. Der Ring wird von der Magd Antiopes entdeckt und ihrer Herrin übergestreift, woraufhin sich ihr der schüchterne Astorre nähert. Noch ehe er den Ring zurückverlangen kann, wird er von Germano, der Ezzelin begleitet, vergnügt auf ein Pferd gehoben und davongetragen. Antiopes Mutter Olympia erfährt durch einen eigenwilligen Bericht der Magd von den Ereignissen und sieht Astorre
nunmehr in der Pflicht, sich mit ihrer Tochter zu verheiraten. Sie schreitet bei der abendlichen Hochzeitsfeier von Astorre und Diana ein, als diese ihre Ringe wechseln. Wie rasend beschwört sie Astorre, er solle dem zuerst gegebenen Ring treu bleiben, nämlich die Hand ihrer Tochter Antiope ergreifen. Als Olympia auch noch Diana beschimpft und ihr Ehrgefühl verletzt, vergißt sich diese, holt zum Schlag aus, trifft jedoch in Antiopes Angesicht. Astorre hilft der Verletzten, und die Gesellschaft löst sich auf. Zunehmend widerstrebend folgt Astorre, der dem Narren Gocciola seine Liebe zu Antiope eingestanden hat, dem Plan Germanos: dieser beabsichtigt, um die Hand Antiopes anzuhalten und somit die Schmach, die seine Schwester Diana der Familie bereitet habe, vergessen zu machen; Astorre möge für ihn werben. Gemeinsam erscheinen die beiden bei Antiope, die Germanos barsche und unziemliche Empfehlung seiner selbst ablehnt. Germano geht ab, Astorre jedoch bringt zur selben Stunde den in der Hauskapelle betenden Priester dazu, ihn mit Antiope zu vermählen. Ascanio bringt Astorre und Antiope vor Ezzelin. Der Tyrann beschließt, den Fall nicht als Staatsangelegenheit, sondern als Familiensache zu behandeln: Zunächst verweigert er Germano, an Astorre für dessen mehrfachen Heiratsfrevel Rache zu üben. Vielmehr bekennt sich Ezzelin an den Geschehnissen schuldig, da sein Erscheinen sowohl an der Brenta als auch beim Ringkauf die Unglücksfälle jeweils eingeleitet hätte. Dianas Vater wird mit den Bergwerken aus dem Besitz der Vicedomini entschädigt, und Diana kündigt ihren Abschied ins Kloster an, nicht ohne zuvor Antiope auf eine Demutsgeste beim Hochzeitsfest verpflichtet zu haben. Ezzelin terminiert die Hochzeitsfeier von Astorre und Antiope auf den Abend. Das Volk feiert in ebenso ungestümer wie unsittlicher Weise die Hochzeit als Maskenfest, auf dem die Braut widerwillig die versprochene Demutsgeste ausführt: Antiope kniet vor Diana und zieht ihr den Ring vom Finger. Diana nutzt diese Gelegenheit und tötet die Nebenbuhlerin. Astorre findet die Tote und nimmt Rache an dem gleichfalls anwesenden Germano, in dessen Schwert er läuft. Der eintreffende Ezzelin vermag nur noch, den Toten die Augen zu schließen. Diese Geschichte von den Hochzeiten und dem Tod des Mönchs Astorre wird in Conrad Ferdinand Meyers Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹ von dem florentinischen Dichter Dante Alighieri vorgetragen, der am Hof des Fürsten Cangrande Gastrecht genießt, um seine Arbeit an der ›Commedia‹ fortzusetzen. Im geselligen Erzählkreis entwickelt Dante die Geschichte, deren Glaubwürdigkeit durch seine zahlreichen Kommentare zumindest implizit immer wieder problematisiert wird. Eines der Mittel zur Beglaubigung ist die Identifikation des Erzählers mit einer Figur. Astorre etwa muß miterleben, wie sein jähzorniger Vater auf dem Sterbebett die Sakramente verweigert und Gott lästert. Dante berichtet:
»Bei allen Teufeln«, raste der Alte, »laßt mich zufrieden mit eurem Geknete und Gesalbe! Ich habe nichts zu verspielen, ich bin schon ein Verdammter und bliebe es mitten im himmlischen Reigen, wenn mein Sohn mich mutwillig verstößt und meinen Lebenskeim verdirbt!« Der entsetzte Mönch, durch dieses grause Lästern im Tiefsten erschüttert sah seinen Vater unwiderruflich der ewigen Unseligkeit anheimfallen. So meinte er und war fest davon überzeugt, wie ich es an seiner Stelle auch gewesen wäre. (S. f.)
Die Einmischung des Erzählers ist weder einer Tatsachenbeschreibung noch dem Handlungsfortgang innerhalb der erzählten Welt geschuldet, sondern kommentiert die innere Verfaßtheit des Mönchs in Bezug auf die mögliche innere Verfaßtheit des Erzählers in derselben Situation. Astorre, den die häretischen Ausfälle seines Vaters »im Tiefsten erschüttert« haben, glaubt seinen Vater »unwiderruflich« verloren, ist »fest davon überzeugt«. Diese bereits apodiktischen Wendungen ergänzt Dante durch die nunmehr fast hyperbolische Beteuerung, daß er »es an seiner Stelle auch gewesen wäre«. – Zur Rettung des »unwiderruflich« verlorenen Vaters willigt Astorre schließlich in die Heirat mit Diana ein, worauf sich die Stimmung des Alten schlagartig bessert: »Der Alte seufzte wie nach einer schweren Anstrengung. Dann blickte er erleichtert, ich hätte fast gesagt vergnügt um sich.« Selbst den Sterbesakramenten fügt er sich nunmehr und drängt: »es eilt, wie ich meine, und ich bin in christlicher Verfassung« (beide Zitate S. ). Im Tod trägt sein Antlitz schließlich »den deutlichen Ausdruck triumphierender List« (S. ), womit sich Astorre betrogen fühlen darf. Die Gotteslästerung des Alten war keine Affekthandlung, sondern hatte den wohlkalkulierten Zweck, den frommen Sohn zur Heirat zu bewegen. Mitgefühl und Barmherzigkeit haben den Mönch dazu gebracht, sich seines Gelübdes zu entledigen und dem Wunsch des Vaters nachzukommen. Da sich der »Ausdruck triumphierender List« erst im nachhinein einstellt, mag man Astorre schwerlich Leichtgläubigkeit unterstellen, zumal weniger List als vielmehr Erpressung vorliegt, nämlich des Gläubigen Wahl zwischen dem Seelenheil des Vaters gegenüber dem Fortbestand des Mönchsgelübdes. Bevor der alte Vicedomini sein Ziel erreicht, den Sohn mit Diana zu verheiraten, hat er sich wie folgt gebärdet: er »tobte«, »schrie«, »heulte«, »kreischte«, »keuchte«, »lachte«, »wimmerte«, »schmeichelte«, »schrie«, »schwur«, »stöhnte«, »lallte« und »zürnte« (S. –). Dieses Schauspiel findet seine Fortsetzung in der Reaktion auf die Kapitulation des Mönches: der Alte blickt »erleichtert, ich hätte fast gesagt vergnügt um sich.« In der Mitteilung des Nicht-Mitgeteilten, der rhetorischen Paralipse, gelingt es dem Erzähler, einen Subtext offenbar zu machen. Die Einwilligung des Sohnes »erleichtert« den Vater nämlich nicht nur, sondern macht ihn »vergnügt«. Indem Dante gerade das Gegenteil behauptet (»Dann blickte der Alte erleichtert, ich hätte fast gesagt vergnügt um sich«), und damit eine im Kontext der theatralischen Aufführung des Alten womöglich stimmigere Variante einführt, mischt er sich ein zweites Mal in seine Geschichte ein.
Ähnlich akzentuiert, diesmal jedoch als Korrektur gibt Dante seinen dritten Kommentar in diesem Erzählabschnitt. Als er Astorres Einsicht schildert, verbessert sich Dante im Gesagten und spezifiziert: »Ihn beschlich, jetzt da er seines Willens wieder mächtig war, der Argwohn, was sage ich, ihn überkam die empörende Gewißheit, daß ein Sterbender seinen guten Glauben betrogen und seine Barmherzigkeit mißbraucht habe« (S. ). Stand Dante zunächst Astorre in seiner Glaubwürdigkeit zur Seite, entlarvt er sodann die Listigkeit des Alten und hebt schließlich die Einsicht des Mönchs in das Schauspiel hervor. Schreibt man Dantes Bevorzugung der ›Erleichterung‹ gegenüber dem ›Vergnügen‹ einzig dem decorum zu, so ist der implizite Verweis auf stilistische Angemessenheit ein Indiz für die ›Geschlossenheit‹ des Erzählten. Ähnlich verhält es sich bei der Korrektur, nicht bloß »der Argwohn« habe Astorre »beschlichen«, sondern »die empörende Gewißheit« habe ihn »überkommen«. Nimmt man andererseits Dantes Einstehen für Glaubwürdigkeit und Angemessenheit als Erzählereingriffe wahr, berücksichtigt des weiteren den unmittelbaren Kontext dieser Kommentare, so liegen Momente der Darstellungsstörung vor. Dantes Schilderung der Situation läßt fast zwangsläufig auf eine Inszenierung des alten Vicedomini schließen, spricht also dagegen, »fest davon überzeugt« zu sein – ebenso wie anzunehmen ist, daß die Einwilligung des Mönchs den Alten nicht nur »erleichtert«, sondern »vergnügt« um sich blicken läßt. Was also illusorisch als Beglaubigung aufgefaßt werden könnte, kann mit Blick auf die (mangelnde) Darstellungskohärenz als Fiktionalisierungsstrategie verstanden werden. Dante macht mit der Kommentierung seiner Geschichte deutlich, daß sie eine Geschichte ist, denn zumindest vom Erzähler dürfte man erwarten, daß er sich nicht offenkundig in seinen Figuren täuscht, sondern eine jederzeit adäquate Beschreibung der Situation liefert. Allwissenheit ist eine der Realitätserfahrung zuwiderlaufende Eigenschaft, weshalb es kaum verwundert, daß die Novellen des Realismus zumeist Erzähler hervorbringen, die bestimmte Elemente ihrer Geschichte explizit nicht erzählen oder erzählen können. Interne und insbesondere variable interne Fokali-
Ähnlich sittsam handelt Dante, als er Olympias Vergleich zwischen ihrer Tochter Antiope und der Nebenbuhlerin Diana wiedergibt, jedoch Dianas Unansehnlichkeit ausspart: »›Hier das herzige Köpfchen, die schwellende Jugend‹ – das übrige vergaß ich, aber ich weiß eines: alle Jünglinge im Saale Vicedominis […] wendeten Ohr und Auge ab von den empörenden Worten und Gebärden einer Mutter, welche Zucht und Scham unter die Füße trat vor dem Kinde, das sie geboren, und dieses preisgab wie ein Kupplerin« (S. f.). Solche Momente klingen in Novellen des Realismus immer wieder an; in Theodor Storms ›Der Herr Etatsrat‹ () etwa erklärt der Erzähler der Binnengeschichte, sein Wissen teilweise vom Nachbarn der Hauptfigur bezogen zu haben, der sich die Zeit damit vertreibe, die Familie des Herrn Etatsrat unter dem Fenster zu belauschen; vgl. dazu Kapitel ..
sierung sowie Berichte über offensichtlich private Ereignisse können für einen Erzähler hochgradig problematisch sein. Spätestens wenn ein Erzähler beginnt, sich über die Herkunft seiner Information zu rechtfertigen, wird offensichtlich, daß die Darstellung nur eine sekundäre ist, nämlich nicht seine eigene, sondern nur eine durch ihn zumindest ›zweitrangig‹ vermittelte. In ›Die Hochzeit des Mönchs‹ gelingt es Dante mehrfach, etwaige Authentizitätsdefizite zu umgehen. Als Olympia durch Astorre von dessen Liebe zu ihrer Tochter erfährt, empfiehlt sie beiden den Weg in die Hauskapelle, wo bereits ein Geistlicher zugegen ist. Fatalistisch begründet Dante dessen Anwesenheit: Ich glaube, daß dieser Barfüßer hier und gerade zu dieser Stunde durch göttliche Schickung knieen und beten mußte, um Astorre zum letzten Male zu erschrecken und zu warnen. (S. )
Für die Motivation der Figur wählt Dante die höchstmögliche Begründung, nämlich »göttliche Schickung«, distanziert sich aber von jeder Bestimmtheit durch das einleitende »ich glaube«. Inwiefern man Dantes Kommentar durch die dezidierte Zwanghaftigkeit (»hier und gerade zu dieser Stunde […] knien und beten mußte«) ironisch bewerten kann, sei zunächst dahingestellt. Dante berichtet ferner, daß das Liebespaar in die Kapelle hinuntersteigt und Olympia »hinter dem Mönch und ihrem Kinde die schwere Türe zu[schlug], wie hinter einem gelungenen Fange, einer gehaschten Beute, und [sie] lauschte durch das Schlüsselloch« (S. ). Er fährt fort: Was sie sah, bleibt ungewiß. Nach der Meinung des Volkes hätte Astorre den Barfüßer mit gezogenem Schwerte bedroht und vergewaltigt. Das ist unmöglich, denn der Mann Astorre hat niemals den Leib mit einem Schwerte gegürtet. Der Wahrheit näher mag es kommen, daß der Barfüßer – traurig es zu sagen – ein schlechter Mönch war und vielleicht derselbe Beutel unter seine Kutte wanderte, den Astorre zu sich gesteckt hatte, da er für Diana den Ehereif kaufen ging. (S. f.)
Der Erzähler kann also nicht in die Kapelle folgen, sondern bleibt wie Olympia außen vor. Implizierend, daß das Erzählte bereits vergangen ist, kann Dante die »Meinung des Volkes« anführen, die er jedoch für abwegig hält; das wiederum gibt ihm, der seine Figur gut zu kennen scheint, die Gelegenheit einen
Gemeint ist die ›Mitsicht‹ des Erzählers im Gegensatz zur externen Fokalisierung, bei der die ›Außensicht‹ des Erzählers weniger mitzuteilen erlaubt, als die Figur selbst weiß. Zumeist auch ›ausschließlich‹ – erst das Thematisieren der Problematik macht auf sie aufmerksam. Nicht selten weiß der Erzähler explizit mehr als die Figur; so heißt es über Astorre auf dessen Nachhauseweg: »Aber was er nicht entdeckte, waren […] zwei brennende hohle Augen, welche durch eine Luke in der Mauer auf ihn und das Weib an seiner Seite starrten.« (S. f.) Überlegen ist der Erzähler auch anderen Figuren, etwa Ascanio, der schwerlich etwas über Astorres (vom Erzähler mitgeteiltes) Schwärmen wissen kann: »Er ahnte nicht von ferne, was sich in der Seele Astorres begab, aber auch wenn er geraten und geforscht, dieser hätte sein keusches Geheimnis dem Weltkinde nicht preisgegeben.« (S. )
Wissensvorsprung auszuspielen. Zur etwaigen Gewalttätigkeit Astorres vermerkt er: »Das ist unmöglich, denn der Mann Astorre hat niemals den Leib mit einem Schwerte gegürtet.« Dantes eigene Mutmaßung, Astorre habe den Mönch bestochen, käme hingegen »der Wahrheit näher«. Diese eher vorsichtige Annahme über den Handlungsverlauf erweitert Dante im nächsten Abschnitt: Daß aber anfänglich der Priester sich sperrte, daß die zwei Mönche mit einander rangen, daß das schwere Gewölbe eine häßlich Szene verbarg – solches lese ich in dem verzerrten und entsetzten Gesichte der Lauscherin. Donna Olympia verstand, daß da unten ein Frevel begangen werde, daß sie als die Anstifterin und Mitschuldige desselben der Strenge des Gesetzes und der Rache der Verratenen sich preisgebe, und da sich die Hinrichtung des Grafen, ihres Gemahls, jährte, glaubte sie auch ihr törichtes Haupt dem Beile unrettbar verfallen. (S. )
Eine dritte Option für die Vorgänge wird damit gegeben, die den Gerüchten der Städter nähersteht als Dantes Bestechungsvermutung. Der Dichter richtet sein Augenmerk auf eine Zeugin der Szene, die freilich ihrerseits interpretieren muß, was sie als »Lauscherin« hört. Dante hingegen scheint nichts zu hören, sondern ›liest‹ »in dem verzerrten und entsetzten Gesichte«. Er sieht also vielmehr und deutet ›lesend‹ das Antlitz derjenigen, die ihrerseits das, was sie hört, zu ›verstehen‹ sucht. Unklar bleibt, ob Olympia damit ›verständig begreift‹, was ihr womöglich droht, oder ob sie ›akustisch versteht‹, was in der Hauskapelle vor sich geht. Dante, der angegeben hat, daß Olympia durch ein Schlüsselloch »lauschte« (»Was sie sah, bleibt ungewiß«), entwirft drei Möglichkeiten für den Ablauf der Ereignisse. Die Meinung der Städter hält er für ausgeschlossen (»unmöglich«), seine eigene Mutmaßung hingegen für tendenziell ›tatsachenkonform‹ (»der Wahrheit näher«). Die ›realistisch‹ begründete Spekulation über die Vorgänge in der Kapelle erfährt mit der dritten Variante eine fragwürdige Wendung: Dante vermag zwar nicht, die Behandlung des Mönchs durch Astorre direkt mitzuverfolgen, aber es scheint ihm ohne Schwierigkeiten möglich, sich die Gesichtszüge der heimlichen Lauscherin zu vergegenwärtigen. Damit liegt eine willkürliche Perspektive des Erzählers vor, der zwar authentisch begründen kann, warum er dieses und jenes nicht sieht, aber schwerlich zu erklären vermöchte, warum er über ›Tatsachen‹ oder auch nur Vermutungen berichtet, die ihm eigentlich verschlossen bleiben müßten.
Dantes gleichsam visionäre Geschick offenbart sich auch im folgenden, ›vergegenwärtigenden‹ Zitat: »Ich weiß nicht, ob der Mönch so wohlgestaltet war, wie der Spötter Ascanio ihn genannt hatte. Aber ich sehe ihn, der wie der blühendste Jüngling schreitet« (S. ). Erneut stehen Visualität und Akustik in einem zumindest fragwürdigen Verhältnis. Vgl. auch Dantes (ironische) Zurückhaltung in folgendem Satz: »Welcher Mund den andern suchte, weiß ich nicht, denn die Kammer war völlig finster geworden« (S. ).
Ungenauigkeiten oder Fragwürdigkeiten in seiner Darstellung gesteht Dante genauso ein, wie er eigene Mutmaßungen anstellt und Ergänzungen liefert: »Während er sann oder träumte, ich weiß nicht was« (S. ), »der Verwalter der Vicedomini – ein Genuese, wenn ich recht berichtet bin« (S. ), »Fraget ihr mich, Herrschaften, warum der Mönch den Freund beurlaubte, so sage ich: er wollte den himmlischen Ton, welchen die junge Märtyrerin der Kindesliebe in seinem Gemüte geweckt hatte, rein ausklingen lassen« (S. ), »In Padua aber, wie auch hier in Verona, wenn mir recht ist, pflegt man den Trauring an der linken Hand zu tragen« (S. ), »Herrschaften, Gott möge uns alle, Männer und Weiber, vor der Eifersucht behüten! Sie ist die qualvollste der Peinen, und wer sie leidet, ist unseliger als meine Verdammten!« (S. ) Neben den durchaus fundiert erscheinenden Vermutungen gibt Dante auch sachdienliche Erläuterungen, reichert die Darstellung, insbesondere die Figurenrede, mit zusätzlichen Informationen an: »›darf der Erlauchte‹ – so und schon nicht mehr den Ehrwürdigen nannte er den Mönch – ›nicht unvermählt bleiben.‹« (S. ), »›Siehe, deine Priester‹ – er meinte die der Pfarrkirche – ›sind nebenan versammelt‹« (S. ), »Dies war eine Anspielung auf die Allgegenwart des Tyrannen, welche die Paduaner in Furcht und beständigem Zittern hielt« (S. ). Selbst wenn die eingeschobenen oder auch nachträglich gegebenen Erläuterungen sowie die (verhältnismäßig) wenigen Eingeständnisse mangelnder Informationssicherheit zumindest andere Darstellungsmomente in ihrer Authentizität stärken, so bleibt andererseits festzustellen, daß jede Einmischung Dantes eine Fokussierung auf den Darstellungsmodus bedeutet, ergo die Darstellung selbst unterbricht und damit die Erzähltheit des Erzählten in Erinnerung ruft. Auf Defizite seiner Erzählkunst sowie verbaler Darstellung überhaupt macht Dante aufmerksam, als er die Tumulte schildert, die sich aus Dianas Ohrfeige für Antiope entwickeln. Antiope sinkt zu Boden, und der Zorn ihrer Mutter Olympia wandelt sich in grenzenlosen Jammer: »Sie haben mir mein Kind geschlagen!« stöhnte sie, sank auf die Kniee und schluchzte: »Gibt es keinen Gott mehr im Himmel?«
Besonders bemerkenswert ist die erzählerische Wiedergabe einer Geste; Dante gibt den Bericht der Magd über den von Astorre verlorenen Ring mit folgenden Einschüben wieder: »habe er – sie ahmte den Mönch nach – die Linke zärtlich auf das Herz gelegt, so! die Rechte aber […]« (S. ). Vgl. etwa Rosmarie und Hans Zeller: »Das Fehlen eines durchgehend eingenommenen Standpunkts und die stellenweise mangelnde Informiertheit des Erzählers bewirken jene Vieldeutigkeit, die der Realität eigen ist.« Rosmarie Zeller, Hans Zeller, Erzähltes Erzählen. Funktion der Erzählhaltungen in C. F. Meyers Rahmennovellen. In: Erzählforschung . Theorien und Methoden der Narrativik. Mit einem Nachtrag zur Auswahlbibliographie in Erzählforschung , hg. von Wolfgang Haubrichs, Göttingen , S. –; hier S. .
Jetzt war das Maß voll. Es wäre schon früher überlaufen, doch das Verhängnis schritt rascher, als mein Mund es erzählte, so rasch, daß weder der Mönch noch der nahestehende Germano den gehobenen Arm Dianas ergreifen und aufhalten konnten. Ascanio umschlang die Törin, ein anderer Jüngling faßte sie bei den Füßen, die sich kaum Sträubende wurde fortgetragen, in ihre Sänfte gehoben und nach Hause gebracht. (S. )
Zunächst ist Dantes Kommentar ein Hinweis auf die schnelle, tumultartig wirkende Abfolge der Ereignisse bis hin zur nicht erzählbaren Gleichzeitigkeit. Die Närrin, Kupplerin und Unruhestifterin Olympia wird des Saales verwiesen, da »das Maß voll« ist. »Schon früher« wäre es übergelaufen, hätte man also eingegriffen, doch vermochten weder Astorre noch Germano Diana in ihrem Angriff aufzuhalten. Der Vergleich der auf einen Höhepunkt zulaufenden Ereignisse mit dem ›vollen Maß‹ ist allerdings durchaus komplexer, nämlich annähernd katachretisch. Während das ›volle Maß‹ sich auf die Gottesanrufung Olympias beziehen muß (nach ihren Worten erklärt der Erzähler: »Jetzt war das Maß voll«), wird das schon »früher« denkbare »Überlaufen« mit der nicht zu verhindernden Ohrfeige Dianas verknüpft. Zum einen füllt also die Tat Dianas das Maß über Gebühr, zum anderen die letzte Frevelrede Olympias. Das »Überlaufen« wird jedoch für das frühere Ereignisse negiert (»wäre schon früher überlaufen, doch«), mit der Begründung, daß Astorre und Germano die Ohrfeige nicht verhindern konnten. Das Eingreifen der beiden Männer ist jedoch schwerlich als ›letzter Tropfen‹ zu bewerten, sondern vielmehr Reaktion auf das »Überlaufen«. Dantes Kommentar ist entsprechend sinnwidrig: »Jetzt war das Maß voll. Es wäre schon früher überlaufen, doch das Verhängnis schritt rascher, als mein Mund es erzählte«. Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ist irrelevant, wenn es um die qualitative Bewertung eines Ereignisses geht. Entweder ist »das Maß voll«, als Antiope Diana schlägt, oder aber erst nach der bigotten Reaktion Olympias. Die Bindung des Kommentars an den Erzählfluß ist also widersinnig, denn das »Überlaufen« vollzieht sich unabhängig vom Fortschritt des Erzählens, zumal wenn gerade die Selbständigkeit der Darstellung dadurch betont wird, daß das Erzählte komplexer, nämlich »rascher« sich vollzieht, als seine Wiedergabe dem Erzähler möglich ist. Andererseits betont Dante in seinem auch literaturtheoretisch anspielungsreichen Kommentar gerade die Abhängigkeit der vermeintlichen ›Realien‹ von seinem Erzählen: er bestimmt, wann das Maß tatsächlich voll ist. Dante ist einerseits ein allwissender Erzähler, der Ereignisse kommentiert, bewertet und mehr weiß als seine Figuren; andererseits gesteht er freimütig ein,
Ganz andere Komplikationen zwischen Darstellung und Erzählen offenbaren sich in der explizit nachgereichten Mitteilung notwendiger Informationen: »Als der Mönch, nachdem er Antiope heimgeführt, seinen Saal wieder betrat – doch ich vergaß zu sagen, daß er Ascanio nicht begegnete, obwohl dieser mit der Sänfte und Madonna Olympia darin denselben Weg gemacht hatte« (S. ).
bestimmte Sachverhalte nicht zu wissen beziehungsweise nur erahnen oder vermuten zu können. Diese zuweilen persönlichen Stellungnahmen fallen durchaus eigenwillig aus. Als Ascanio von den Familienverhältnissen Antiopes berichtet, fährt Dante fort: »Astorre aber versank in seinem Traume. So sage ich, weil das Vergangene Traum ist. Denn der Mönch sah, was er vor drei Jahren erlebt hatte« (S. ). Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, daß die nachgeschobene Faktizitätsbehauptung (»was er vor drei Jahren erlebt hatte«) die vorangegangene ›Fiktionalisierung‹ (»versank in seinem Traume«) schwächen soll. Das Vergangene bezeichnet das faktisch Erlebte, während der Traum gerade in diesem Kontext auf fragwürdige Wirklichkeitskohärenz abzielt. Astorre hätte in seine Erinnerung »versinken« können beziehungsweise von seiner Vergangenheit träumen – die apodiktische Abwertung Dantes, »das Vergangene [sei] Traum«, nimmt der Vergangenheit ihre Faktizität und läßt sie als bloße Vorstellung der Einbildungskraft dem Fiktionalen näherstehen. Demgegenüber heißt es am Ende dieser Traumschilderung mit explizitem Bezug auf die ›faktuale‹ Vergangenheit: »Astorre bebte […], nur daß ihm die Sinne nicht schwanden, wie sie ihm damals geschwunden waren, als die schreckliche Szene in Wahrheit und Wirklichkeit sich ereignete und er erst wieder zu sich kam, als alles vorüber war.« (S. ) Die rhetorisch auffällige Zwillingsformel »Wahrheit und Wirklichkeit« betont das im Erzählkontext ›reale‹ Fundament der Erinnerung, nämlich Astorres einstige Anwesenheit bei einer Hinrichtung. Andererseits sorgt gerade die rhetorische, also genuin poetische Ausschmükkung der Faktizität (die alliterierende »Wahrheit und Wirklichkeit«) für deren Infragestellung; die dezidierte Beglaubigung der »schreckliche[n] Szene« steht nach wie vor im Gegensatz zur »Traum«-Zuschreibung, unter die sich laut Dante alles Vergangene – und damit letztlich auch die im epischen Präteritum vorgetragene (Binnen-)Geschichte – subsumieren lasse. Dantes Erzählen, so läßt sich feststellen, changiert zwischen zwei Polen der Glaubwürdigkeit: einerseits einem allwissenden Gestus, der seine Überlegenheit gegenüber den Figuren nicht nur in variabler Innensicht, sondern auch in zahlreichen erläuternden Kommentaren zum Ausdruck bringt, andererseits der immer wieder explizierten Unwissenheit, die sich zu fehlenden Informationen offensiv bekennt und somit ›realistisch‹ unter Beweis stellt, daß jemand, der nicht einmal Zeuge der Geschehnisse gewesen ist, keineswegs über ein allumfassenden Wissen verfügen kann. In zweierlei Hinsicht kann ein solches Erzählen als ›poietisch‹ aufgefaßt werden: Erstens bedeutet die Ausrichtung auf den Darstellungsmodus, die Art und Weise des Erzählens, eine Abwendung
Vgl. dagegen die vage Einschätzung über Astorres innere Verfassung an einer anderen Stelle: »Während er sann oder träumte, ich weiß nicht was« (S. ). Das »ich weiß nicht was« kann sich sowohl auf Astorres Einbildungskraft beziehen (»sann oder träumte«) als auch auf den Gegenstand seines Gedankenspiels (»was«).
von der Darstellung selbst. Wenn jedoch nicht mehr die Geschichte im Vordergrund steht, sondern das Erzählen, dann wird evident, daß man es mit einer höchstens sekundären, nämlichen vermittelten ›Realität‹ zu tun hat. Ästhetisierend wird die Darstellung an eine Vermittlungsebene gebunden: damit vermittelt die Darstellung nicht mehr eine störungsfreie, gleichsam mimetische Abfolge von Ereignissen, sondern gibt sich als ›poietisch‹ erzählt zu erkennen. Jede Bekundung zum Wahrheitsgehalt (»als die schreckliche Szene in Wahrheit und Wirklichkeit sich ereignete«, S. ) oder auch zu fehlenden Informationen (»Was sie sah, bleibt ungewiß«, S. ) ist eine Darstellungsstörung. Selbst wenn die einzelnen Kommentare Dantes den Leser für sich illusionistisch einnehmen, so muß vermutet werden, daß die Vielzahl der Darstellungsstörungen zugleich illusionsstörend ist. – Zweitens kann die für sich jeweils überzeugende Position von Allwissenheit gegenüber nur teil-informierter Außenperspektive in ihrer Verknüpfung keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben. Unhinterfragt wird man sich sowohl demjenigen Erzähler anvertrauen, der seinen Figuren oder gar seiner Geschichte bedingungslos überlegen ist, als auch einem Erzähler, der mit realitätskompatibler, nachgerade bescheidener Geste seine partielle Unwissenheit eingesteht. Was aber soll man von einem Erzähler halten, der beide Positionen in sich vereint?
. Die Erfindung der Binnenerzählung Dantes Geschichte von der Hochzeit des Mönchs ist Teil eines Gesellschaftsspiels. Die junge Hofgesellschaft sitzt am Abend vor dem Feuer, an welchem »mit bedeutsamen Blicken und halblautem Gelächter Geschichten erzählt« werden. Als Dante hinzustößt, wird er vom Fürsten Cangrande aufgefordert,
Vgl. etwa Zeller/Zeller, Erzähltes Erzählen, S. : »Umgekehrt [zur Erzählweise Fagons in ›Leiden eines Knaben‹] erzeugt Dante durch die zeitweise Betonung eines situationsdefizitären Standpunkts die Illusion eines unabhängig vom Erzähler bestehenden Geschehens. Wir nennen im folgenden diese Wirkung Illusionswirkung. Dieser Illusion eines unabhängigen Geschehens steht in Dantes Erzählung die Betonung der Fiktion gegenüber. Ihr dienen die Stellen, wo er, im Gegensatz zu seiner Uninformiertheit sonst, über die innern Vorgänge seiner Personen Bescheid weiß und sie auktorial kommentiert.« Vgl. auch Rosmarie Zeller, Realismusprobleme in semiotischer Sicht. In: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, hg. von Richard Brinkmann, ., erweiterte Auflage, Darmstadt [], S. –; hier S. . Vgl. Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. : »Die Illusion der Binnenerzählung wird durch die Einbrüche des Rahmens unterbrochen, der Leser erinnert sich, daß er sich während der Lektüre der erzählten Schicht gleichzeitig in einer anderen, der Erzählschicht, befindet: Die Verhältnisse der zeitlichen Perspektive bleiben ihm auf diese Weise bewußt«. Onderdelinden verweist in diesem Zusammenhang mehrfach auf das illusionsstörende ›epische Theater‹ Bertolt Brechts.
»das Spielzeug eines kurzweiligen Geschichtchens, ohne es zu zerbrechen« aufzunehmen (beide Zitate S. ). Die Kunst des delectare erfährt durch den Diminutiv »Geschichtchen« und die Kategorisierung »Spielzeug« eine qualitative Bewertung, die das Erzählen als einen harmlosen, unterhaltsamen Spaß marginalisiert. Mit den Konventionen der Erzählgesellschaft vertraut, fragt Dante nach dem Thema des Abends und entscheidet sich schließlich für »den entkutteten Mönch« (S. ). Zwar haben bereits der kriegerische Germano und die schwatzhafte Isotta jeweils eine Mönchsgeschichte erzählt, doch wählt Dante eine neue Veranlassung der ›Entkuttung‹: wenn nämlich ein Mönch nicht aus eigenem Triebe, […], sondern einem andern zuliebe, unter dem Druck eines fremden Willens, wenn auch vielleicht aus heiligen Gründen der Pietät, untreu an sich wird, sich selbst mehr noch als der Kirche gegebene Gelübde bricht und eine Kutte abwirft, die ihm auf dem Leibe saß und ihn nicht drückte. Wurde das schon erzählt? Nein? Gut, so werde ich es tun. (S. )
Dantes Geschichte hat also den novellistischen Wert einer bislang unbekannten ›Neuheit‹, sie ist originell. Bevor Dante jedoch mit dem Erzählen beginnt, fragt er Cangrande: »wie endet solches Ding, mein Gönner und Beschützer?« (S. ) »Notwendig schlimm« antwortet dieser und wird sogleich von Dante bestätigt: »Du redest die Wahrheit, Herr« (beide Zitate S. ). Nach einigen Ausführungen Dantes zum Bibelwort Röm , und zur Theodizee, breitet sich unter den bereits gähnenden Zuhörern die Besorgnis aus, »der Florentiner möchte sich in seine Scholastik vertiefen statt in seine Geschichte« (S. ). Cangrande greift ein: »Erzählst du uns eine wahre Geschichte, mein Dante, nach Dokumenten? oder eine Sage des Volksmundes? oder eine Erfindung deiner bekränzten Stirne?« Dieser antwortete langsam betonend: »Ich entwickle meine Geschichte aus einer Grabschrift.« (S. )
Drei Möglichkeiten erwägt Cangrande, die in ihrer Authentizität klimatisch abfallen. »Wahre Geschichten« zeichnen sich demnach durch schriftliche Überlieferung aus, sie lassen sich »nach Dokumenten« erzählen. Die »Sage des Volksmundes« hingegen verweist auf eine mündliche Erzähltradition, die »kunde [gibt] von ereignissen der vergangenheit, welche einer historischen beglaubi
Auch der Jüngling Ascanio bittet Dante, sich »in unser harmloses Spiel zu mischen« (S. ). – Vgl. auch die Präliminarien zu Adalbert Stifters ›Bunte Steine‹ (Kapitel .). Zum Anspielungsreichtum auf das ›Decamerone‹ vgl. das nachfolgende Kapitel .. Ascanio hatte das Ende der zu erzählenden Geschichte noch Dante anheimgestellt: »mit gutem oder schlechtem oder lächerlichem Ausgange.« (S. ) Nach Dante: »nicht anders, wenn ich ihn recht verstehe, meint es auch der Apostel, wo er schreibt: daß Sünde sei, was nicht aus dem Glauben gehe, das heißt aus der Überzeugung und Wahrheit unserer Natur« (S. ).
gung entbehrt«. Cangrande schließt seine Reihung mit der ganz und gar ahistorischen und nicht authentischen »Erfindung«, die weder mündlich noch schriftlich fixiert, sondern der »bekränzten Stirne« des Dichters geschuldet ist. Dante greift in seiner Replik keine der Möglichkeiten auf, sondern antwortet eigenwillig: »Ich entwickle meine Geschichte aus einer Grabschrift.« Er scheint also eine Mischform zu bevorzugen, die von einem schriftlichen ›Dokument‹ ausgeht, dem gleichsam authentischen Spruch auf einem Grabstein, und daraus frei »entwickelt« wird. Dante erläutert, die Grabschrift »vor Jahren« bei den Franziskanern in Padua gelesen zu haben. Der schwer zugängliche Stein habe unter »wildem Rosengesträuch versteckt« gelegen, doch sei es den Novizen möglich gewesen, ihn zu sehen, »wenn sie auf allen Vieren krochen und sich eine von Dornen zerkritzte Wange nicht reuen ließen«. Dieser eher abenteuerlich anmutende Zugang wird mit einer außergewöhnlichen Grabschrift belohnt: ›Hic jacet monachus Astorre cum uxore Antiope. Sepeliebat Azzolinus.‹ Cangrande übersetzt für seine Geliebte: »Hier schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope. Beide begrub Ezzelin« (alle Zitate S. ). Die Reaktion der Geliebten fällt heftig aus, weil sie vermutet, der Tyrann Ezzelin habe beide lebendig begraben und die Frau als »Gattin des Mönches« (S. ) auf dem Grabstein verhöhnt. Dante und Cangrande widersprechen: »Kaum«, meinte Dante. »Das hat sich in meinem Geiste anders gestaltet und ist auch nach der Geschichte unwahrscheinlich. Denn Ezzelin bedrohte wohl eher den kirchlichen Gehorsam als den Bruch geistlicher Gelübde. Ich nehme das ›sepeliebat‹ in freundlichem Sinne: er gab den beiden ein Begräbnis.« »Recht«, rief Cangrande freudig, »du denkst wie ich, Florentiner! Ezzelino war eine Herrschernatur und, wie sie einmal sind, etwas rauh und gewaltsam. Neun Zehntel seiner Frevel haben ihm die Pfaffen und das fabelsüchtige Volk angedichtet.« »Möchte dem so sein!« seufzte Dante. (S. )
Dante lehnt die Interpretation der Grabschrift durch die Geliebte Cangrandes nicht vollständig ab, nennt sie aber immerhin »unwahrscheinlich«, auch mit Verweis auf die Historizität anderer Ereignisse, kurzum »der Geschichte«. Zuvor nennt er ein weiteres Argument, das subjektiver kaum ausfallen könnte: »Das hat sich in meinem Geiste anders gestaltet«. Dante hat sich also seinerseits um eine Interpretation des Grabspruches bemüht, die auf einer anderen Übertragung der lateinischen Worte beruht: »Ich nehme das ›sepeliebat‹ in freundlichem Sinne: er gab den beiden ein Begräbnis.« Der Herrscher Can
Artikel ›Sage‹. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. : R–Schiefe, bearbeitet von Moriz Heyne, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig , München , Sp. –; hier Sp. . Man könnte hierin wiederum ein novellistisches Moment sehen, indem nämlich nicht nur die Neuigkeit, sondern auch die Originalität der Geschichte hervorgehoben wird. Brigitte Leuscher weist darauf hin, daß die Entwicklung der Geschichte aus dem Grabspruch das Gewicht auf die Art und Weise der Darstellung legt, weniger auf den
grande pflichtet freudig bei und konstatiert, von Dante mit nachfolgendem Seufzer relativiert, »das fabelsüchtige Volk« habe dem Herrscher Ezzelin ein unangemessen schlechtes Andenken bereitet. Nachdem Cangrande im folgenden von Dante erfährt, das schwarze Haar Ezzelins im zwölften Gesang der ›Hölle‹ gehe auf ihn, Cangrande, zurück, fühlt sich der Fürst geschmeichelt. Dante erläutert des weiteren: »Auch die übrigen Gestalten der Erzählung«, fuhr er mit lächelnder Drohung fort, »werde ich, ihr gestattet es?« – und er wendete sich gegen die Umsitzenden – »aus eurer Mitte nehmen und ihnen eure Namen geben: euer Inneres lasse ich unangetastet, denn ich kann nicht darin lesen.« (S. )
Dantes Vorschlag markiert eine Differenz zwischen Äußerem und Innerem sowohl der Rahmen- wie auch der Binnenfiguren. Während Erscheinungsbild und Name als bloße Äußerlichkeit entliehen werden können, soll das Innere »unangetastet« bleiben – weniger aus Gründen des Anstands als vielmehr aufgrund natürlicher, gleichsam ›realistischer‹ Beschränkung: »denn ich kann nicht darin lesen«. Die Zustimmung des Publikums scheint Dante gewiß, nicht minder die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer: »›Deine Geschichte, Dante!‹ raunte es von allen Seiten, ›deine Geschichte!‹« (S. ) Die folgende Erzählung wird demnach als von Dante abhängig verstanden. Es ist nicht ›die‹ Geschichte,
nun bekannten Handlungsausgang: »Durch diese Vorwegnahme von Thema, Motivierung und Ausgang des Geschehens wird die Spannung auf den Verlauf der Geschichte reduziert und das Interesse vom Stoff weg und auf die Form der Darbietung, auf das Erzählen gelenkt; dieses, das eng mit dem Erfinden verknüpft ist, bildet den Hauptakt des Produktionsprozesses, der hier nicht als Monolog des Erzählers, sondern unter Mitwirkung der Hörer vollzogen wird.« Brigitte Leuscher, Erfinden und Erzählen. Funktion und Kommunikation in autothematischer Dichtung. In: MLN, , , S. –; hier S. . ›Gestalt‹ wohl im Sinne von forma und figura, wenngleich die Deutung als (poetische) persona durchaus reizvoll ist, da sie die Binnenfiguren entgegen Dantes Beteuerung als mehr oder minder vollständig der Rahmenhandlung entlehnt entlarven würde. Zur Bevorzugung ersterer Bedeutung vgl. den Artikel ›Gestalt‹ in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. : Gefoppe–Getreibs, bearbeitet von Rudolf Hildebrand und Hermann Wunderlich, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig , München , Sp. –. Auch die Antwort der Fürstin bezieht sich auf die äußere Gestalt: »Meine Miene gebe ich dir preis« (S. ). Vgl. Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. f.: »Die Aussparung der psychischen Motivation der Figuren leistet zugleich den Rückzug des Erzählers hinter eine Position der scheinbaren Objektivität, Psychologie und implizite Poetologie bedingen einander.« Vgl. auch Downing, Double Exposures, S. f.: »The claim is often accepted by critics, accepted in fact as a statement about realism: they cite the limitation of narrative authority in reading the psychological makeup of other minds as evidence for Meyer’s (or Dante’s) rather modern realism, even perspectivism. […] However, the claim is just as often denied by critics, denied in fact as a disingenuos deceit on Dante’s part; they see ist as a feint aimed at disguising his power, which in the following course of his narration truly does ›touch‹ the inner lives of his audience.«
die von Dante bereits angekündigt worden ist, sondern es ist ›seine‹ Geschichte, gleichwohl recht deutlich geworden sein wird, daß Dante selbst nicht in ihr vorkommen wird. Die Zuhörer verstehen Dantes Erzählung also von vornherein als literarisches Kunstwerk, das auf den ›Autor‹ Dante zurückgeht, nicht jedoch als mögliche historische Begebenheit, wie es Dantes Verweis auf den als authentisch dargestellten Grabspruch nahelegen könnte. In der Tat spricht sehr vieles für eine poietische Qualität der Binnengeschichte: die Erzählgesellschaft am brennenden Feuer pflegt das Geschichtenerzählen als unterhaltsames, kurzweiliges, aber auch regelgeleitetes »Spielzeug« (S. ); Dante gibt an, er »entwickle« seinen Beitrag aus einer (nur ihm bekannten, schwer zugänglichen und überdies mehrere Interpretationsmöglichkeiten aufwerfenden) Grabschrift (S. ); er beruft sich bei der Argumentation zugunsten konkurrierender Handlungsabläufe darauf, daß sich die Geschichte in seinem Geiste »anders gestaltet« habe (S. ); er entnimmt Namen und »Gestalten der Erzählung« (S. ) von seinen Zuhörern; und nicht zuletzt wird die Geschichte explizit seiner Autorschaft zugeschrieben. Andererseits stehen diese Ästhetisierungsstrategien, die das Erzählte als nicht mehr realistisch-mimetisch abbildend, sondern als kunstvoll ›Gemachtes‹ darstellen, einem realitätskompatiblen, Authentizität vorstellenden Kalkül entgegen. Dante geht nämlich keineswegs auf Cangrandes Frage ein, ob die Geschichte »Erfindung deiner bekränzten Stirne« sei (S. ). Die Rückbindung der Grabschrift auf ein gleichsam dokumentarisches Fundament, den von Dante bezeugten Stein, läßt zumindest die Hauptfiguren Astorre und Antiope als authentisch erscheinen. Ezzelin ist als historische Persönlichkeit gleichsam bekannt, so daß sich Dante auf ihn berufen kann, als er eine konkurrierende Interpretation der Grabschrift als »auch nach der Geschichte [Historie] unwahrscheinlich« abwehrt (S. ). Dantes Binnenerzählung kann damit als mögliche oder gar als wahrscheinliche Geschichte über die ›Hochzeit des Mönchs‹ bewertet werden. Die folgenden Ausführungen werden den Widerstreit zwischen QuasiAuthentizität und expliziter Fiktionalität weiter verfolgen. Beide Arten der Darstellungsstörung, zum einen durch die bloße Ausrichtung auf den Darstellungsmodus, zum anderen gravierend durch die ›Entkräftung‹ der Welt, kön
Vgl. auch Zeller/Zeller, Erzähltes Erzählen, S. . Der Realitätsstatus der Grabinschrift wird kritisch betrachtet von Downing, Double Exposures, S. f.: »First, it constitutes a reality that belongs to neither the frame nor the story, but rather falls not so much outside as between them, and so in-between the exchanges between frame and story, between self and re-presentative substitute. Second, although the ›Grabschrift‹ thus functions as a somewhat autonomous, given reality, its more important function comes in that Dante and his audience must themselves discover or invent the ›reality‹ of the inscription, must transform this beginning into an appropriate, authoritative end through the introduction of a credibly motivated, realistic middle.« Vgl. auch Evans, Formen der Ironie, S. .
nen nebeneinander bestehen. Unzweifelhaft ist jedoch schon jetzt, daß die ›Hochzeit des Mönchs‹ eine hochgradig poietische Novelle ist, die ihre Ästhetisierung schon in der Ausgangssituation hervorhebt: es wird erzählt, wie ein Erzähler allmählich seine Geschichte »entwickelt«. Seit der zweiten Auflage der ›Hochzeit des Mönchs‹ ist das Wechselspiel zwischen Binnen- und Rahmenerzählung mit auffälligen Durchschüssen deutlich markiert. Bereits in der typographischen Gestaltung wird der Leser – nicht jedoch die Zuhörer Dantes in der Rahmenerzählung – somit auf Darstellungsstörungen aufmerksam gemacht. Die der Rahmenerzählung zuzuordnenden Abschnitte müssen nicht zwangsläufig auf Dantes Abschweifungen und Kommentare zurückzuführen sein, sondern können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Die erste Unterbrechung der Erzählung Dantes ist der engen Koppelung von Rahmen- und Binnenfiguren geschuldet. Über Astorre heißt es: Und wenn er sich vielleicht nicht Rechenschaft gab, wovon, so wußte er doch, von wem die Rede ging. Aber was er nicht entdeckte, waren – Mitten im Sprechen suchte Dante unter den Zuhörern den vornehmen Kleriker, der sich hinter seinen Nachbar verbarg. – waren zwei brennende hohle Augen, welche durch eine Luke in der Mauer auf ihn und das Weib an seiner Seite starrten. (S. f.)
Zunächst scheint es, als sei Dante selbst derjenige, der sich hier unterbricht. Eine Sprechpause des Dichters wird mit der Wiederholung des Wortes »waren«, nebst den entsprechenden Gedankenstrichen, suggeriert. Die Fixierung auf den »vornehmen Kleriker« ist jedoch dem nicht näher charakterisierten Erzähler der Rahmenerzählung zuzuschreiben, der Dantes Sprechpause nicht in die Binnenerzählung aufnimmt (was ansonsten mehrfach geschieht), sondern in die Rahmenerzählung auslagert. Damit wird auf subtile Weise Dantes Wort von den »aus eurer Mitte« genommenen »Gestalten« (S. ) erneuert: die Augen
Vgl. auch grundsätzlich Downing, Double Exposures, S. f.: »Whereas the frame itself is presented as real – and its mode of representation accepted as realistic – the embedded narrative is not.« Vgl. Anm. . Dafür ist Dantes wörtliche Rede, anders als im Journaldruck, nun nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt. Diese finden sich auch innerhalb der als Binnenerzählung markierten Textabschnitte. Vgl. Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . – Wichtig ist der Hinweis von Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. : »Gerade Dantes Selbstunterbrechungen zeigen sehr schön das Auseinanderhalten von Erzählerfigur Dante und (auktorialem) Binnenerzähler: Während die häufigen Kommentare des Binnenerzählers als integraler Teil der Binnenerzählung konsequenterweise nie graphisch als Handlungsunterbrechung markiert sind, wird andererseits bei Dantes Kommentaren stets durch die Nennung oder Anrede des Publikums (›Cangrande‹ oder ›Herrschaften‹) deutlich gemacht, daß die Binnenebene durchbrochen ist und die Rahmenfigur Dante spricht, nicht ›sein‹ Binnenerzähler.«
des Beobachters innerhalb der Binnenerzählung sind denjenigen des häretischen Klerikers der Rahmenerzählung ›entnommen‹. Verantwortlich für dieses Wechselspiel ist Dante – darauf aufmerksam gemacht wird der Leser vom Erzähler der Rahmenerzählung. Dantes Herrschaft über seine Erzählung wird in der zweiten Unterbrechung der Binnenerzählung verdeutlicht. Sein Verweis auf, »wie ihr wisset, Herrschaften«, die Jahre des heiligen Antonius bei den Franziskanern in Padua, wird von einem scherzenden Zuhörer ergänzt. Dieser berichtet von einem als Reliquie verehrten Hecht, der »›jetzt noch in hohem Alter als strenger Vegetarier‹ – er verschluckte das Ende des Schwankes, denn Dante hatte gegen ihn die Stirn gerunzelt« (beide Zitate S. ). Das Anakoluth unterstreicht, wie die bloße Mimik des Dichters ausreicht, um den somit als unpassend abqualifizierten Kommentar des Zuhörers vorzeitig zu beenden. Der nächste Rückgriff auf die Rahmenerzählungen ist Dantes Erläuterung zum Hochzeitsgebäck ›Amarelle‹ und der nachfolgenden Pause geschuldet, mit der Dante »den weitern Gang seiner Fabel übersinn[t]« (S. ). Diese Gelegenheit ist um so günstiger, als der Majordom des Fürsten hinzukommt und Cangrande eine Nachricht übermittelt. Dantes Blick verweilt auf seinen Zuhörern, den (dann umgehend in der Binnenerzählung auftretenden) Jünglingen Ascanio und Germano. »Zuletzt ließ er ihn sinnend ruhen auf den beiden Frauen, […]. Dann fuhr er fort« (S. ). Dantes wohlüberlegte und derart offensichtlich an seinen Zuhörern ausgerichtete und entsprechend konstruierte Fortsetzung währt jedoch nicht lange. Bei Erwähnung Kaiser Friedrichs II. hält Dante inne und »verneigte sich vor dem großen Schatten« (S. ). Als Dante in der Binnengeschichte erzählt, wie Ascanio auf den Narren Gocciola aufmerksam wird, läßt er jenen Ezzelins Unterhaltungsprogramm beschreiben: Laß dir sagen: er besitzt vier Narren, den Stoiker, den Epikuräer, den Platoniker, den Skeptiker, wie er sie benennt. Diese vier stellen sich, wann der Ernste spaßen will, auf seinen Wink in die vier Ecken eines Saales, an dessen Wölbung der gestirnte Himmel und die Planetenbilder prangen. Der Ohm, im Hauskleide, tritt in die Mitte des Raumes, klatscht in die Hände und die Philosophen wechseln hopsend die Winkel. (S. )
Gocciola fürchtet den Tyrannen und ist fassungslos, als er hört, er solle nun den Stoiker ersetzen. Dante bricht nach dieser Schilderung ab: »Ich streiche die Narren Ezzelins«, unterbrach sich Dante mit einer griffelhaltenden Gebärde, als schriebe er seine Fabel, statt sie zu sprechen, wie er tat. »Der Zug ist unwahr, oder dann log Ascanio. Es ist durchaus undenkbar, daß ein so ernster und ursprünglich edler Geist wie Ezzelin Narren gefüttert und sich an ihrem Blödsinn ergötzt habe.« (S. )
Über diesen heißt es: »Vorgestern ist der Stoiker heulend und winselnd draufgegangen, weil der Unersättliche viele Pfunde Nudeln auf einmal verschlang« (S. ).
Nachträglich korrigiert Dante seine Geschichte. Diese Tilgung seiner gesprochenen Worte vollzieht er mit »einer griffelhaltenden Gebärde«. Der Dichter Dante, nunmehr erzählender Sprecher, verweist mit Geste und Worten auf seine eigentliche Tätigkeit, die schriftliche Textproduktion, die, anders als das mündliche Erzählen, tatsächlich mit Streichungen und Ersetzungen arbeiten kann. Der Erzähler der Rahmenhandlung macht gesondert darauf aufmerksam, daß diese Gebärde derart ausfällt, »als schriebe er seine Fabel, statt sie zu sprechen, wie er tat«. Die eigentlich unnötig betonende Schlußformel »wie er tat« macht auf das Paradox aufmerksam, dem sich der Leser der Novelle ausgesetzt sieht. Einerseits widerruft mit explizit schriftsprachlicher Geste der mündliche Erzähler Dante seinen Zuhörern gegenüber eine soeben erzählte Passage, andererseits hat der Leser der Novelle eben diese Textpassage unversehrt vor sich und wird vom ›schriftlichen‹ Erzähler der Rahmenhandlung explizit darauf hingewiesen, daß diese Tilgung mündlich vollzogen wird. Dantes Kommentar zu seiner Unterbrechung stellt alternativ einen Irrtum in seiner Handlungsführung und einen Irrtum in der Figurenrede nebeneinander. Gemessen an dem bisherigen Figurenentwurf gilt ihm der Umgang Ezzelins mit gleich vier philosophischen Hofnarren als »unwahr«. Die erste Option geht also auf einen Irrtum des Erzählers Dante zurück, der gegen seine eigene Erzählfolgerichtigkeit gedichtet hat und sich nunmehr verpflichtet sieht, die »unwahre« Textpassage zu streichen. Es gibt also trotz der offensichtlichen Fiktionalität dieser Erzählung eine ihr inhärente »Wahrheit« (vielmehr Wahrscheinlichkeit), gegen die auch der fiktionsentwerfende ›Autor‹ verstoßen kann. Mit der zweiten Option entlastet sich Dante, indem er den Erzählabschnitt in die Verantwortung der Binnenfigur Ascanio gibt, der Gocciola von den Narren Ezzelins erzählt. Während Dante seine Schilderung als »unwahr« in Betracht zieht, heißt es über Ascanio, daß er womöglich »log«. Dante unterstellt damit einer fiktiven Figur ein Bewußtsein für ihr Sprechen und erörtert diese Möglichkeit auf gleicher Ebene wie seinen eigenen, unbewußten wie unbeabsichtigten Irrtum. Dante zufolge ist es also möglich, daß entweder ein Erzähler
Vgl. Kittler, Traum und Rede, S. : die Formel ›wie er tat‹ habe »die Funktion, den Novellisten zu indizieren, der so tut, als spräche ein Erzähler die Novelle, statt daß er sie schriebe, wie er tut. Dieser Bezug verdoppelt alle Fiktion der Novelle zur Fiktionsfiktion des Novellisten, den er mit äußerster Ironie als ihre letzte und schlechthin entzogene Instanz bekundet.« Vgl. Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. : »Dantes Geste steht metonymisch für den poetologischen Sinn der Rahmenkonstruktion: Dantes mündliches Erzählen ist eine Allegorie des Schreibens. Das Erzählexperiment im willkürlichen Bereitstellen von Alternativen ist ein Mittel der Illusionsaufhebung, um das Erzählte als Faktur bewußtzuhalten. Die Zuhörererziehung wird zur Lesererziehung: Wie die Zuhörer das Erzählte sollen die Leser das Geschriebene als Artefakt begreifen.«
»unwahre« Momente in seiner Geschichte entwickelt oder aber eine Figur lügt, gegebenenfalls ohne, daß diese Lüge von irgendeiner Instanz aufgeklärt würde. Nur Dantes eigenem Hinweis, es sei »durchaus undenkbar, daß ein so ernster und ursprünglich edler Geist wie Ezzelin Narren gefüttert und sich an ihrem Blödsinn ergötzt habe«, gibt dem Leser Anlaß, gleichfalls an der Narren-Szene zu zweifeln. Der Erzähler erläutert, daß Dantes Kommentar über die ursprünglich edle Natur Ezzelins, der sich derartige Späße verboten hätte, ein »Stich« sei gegen »seinen Gastfreund, auf dessen Mantel Gocciola saß, den Dichter angrinsend« (S. ). Damit steht jedoch in Frage, ob nun die zuvor als »unwahr« gebrandmarkten Narren nur deswegen getilgt worden sind, um eine Injurie Cangrandes zu ermöglichen. Die Entscheidung, wie »wahr« oder »unwahr« die Narren tatsächlich sind, bleibt damit in der Schwebe, zumal Cangrande die Stichelei gegen ihn und seinen eigenen Hofnarren offensichtlich registriert hat: »Er versprach sich im stillen, bei erster Gelegenheit mit Wucher heimzuzahlen« (S. ). Das Resultat von Dantes (vermeintlichem) Irrtum ist die persönliche Befriedigung des Dichters: Befriedigt, fast heiter setzte Dante seine Erzählung fort. Endlich entdeckten die beiden den entmönchten Mönch, welcher, wie gesagt, den Rücken an den Stamm einer Pinie lehnte – »An den Stamm einer Zeder, Dante«, verbesserte die aufmerksam gewordene Fürstin. – einer Zeder lehnte und sich die Fußspitzen sonnte. (S. )
Die Korrektur der Fürstin ist tatsächlich »aufmerksam«. Ursprünglich hatte Dante nämlich berichtet, daß »im Schatten einer Zeder, den Rücken an den
Kittler, Traum und Rede, S. vermerkt zu der Textstelle: »Dantes Sprechakt der Streichung oder (in rhetorischen Terms) der Correctio ist aber Fiktion und Fiktionsfiktion noch in einer anderen Hinsicht. Ihn begleitet eine metakommunikative Geste, die seine Schriftlichkeit fingiert. Eine imaginäre Feder dient Dante (mit Cesare Borgia zu sprechen) als ›erdichtet Schwert‹ gegen Cangrande. Dem Diskurs der Gewalt – Cangrandes Zensur – opponiert der Erzähler also die Gewalt des Diskurses, der symbolisch tötet und ebenfalls Zensurierung ist: Tilgung eines Signifikats und seines Referenten durch Streichung des Signifikanten.« Kittler fährt ebd. generalisierend fort: »Die metakommunikativen Sprechakte des erzählten Erzählers sind Metaphern der Schreibakte des Novellisten. Daß die orale Korrektur eine litterale heißt, bezeichnet aufs genaueste die Spaltung zwischen Erzähler des Erzählten und Erzähler des Erzählers und damit die Textkonstitution selber. Denn beim Schreiben ist die Correctio keine rhetorische Figur, die öffentlich geäußert werden muß, um Geäußertes nachträglich zu tilgen, sondern das verborgene, vor der Veröffentlichung liegende Geschäft, das der Leserschaft schlechthin entzieht, was der letzten Fassung vorausgegangen ist.« Bereits zu Beginn der Erzählung vermerkt der Erzähler, daß Dante womöglich deshalb nicht in der Nähe Cangrandes Platz suchte, weil ihn der Hofnarr »ekelte« (S. ).
Stamm gelehnt und die Schnäbel seiner Schuhe in das brennende Sonnenlicht streckend, der Mönch Astorre« saß (S. ). Dantes neuerlicher Irrtum, bestärkt durch ein »wie gesagt«, ist in diesem Fall keine Frage der Interpretation (ist es wahrscheinlich, daß sich Ezzelin Narren hält?), sondern eine Frage nach der Kohärenz der Erzählung. Astorre sitzt entweder unter einer Pinie oder unter einer Zeder. Dantes Behauptung, der Mönch habe »wie gesagt« unter einer Pinie Platz gefunden, ist zumindest für den Leser durch wiederholte Lektüre eindeutig falsifizierbar. Die Zuhörer jedoch müssen der »aufmerksam gewordenen« Fürstin vertrauen, die den Blick auf ein Detail lenkt, von dem anzunehmen ist, daß es ohne ihre Aufmerksamkeit unbemerkt geblieben wäre. Dante bannt die Gefahr des unzuverlässigen Erzählens durch eine Sofortkorrektur der Art ›den Rücken an den Stamm einer Pinie lehnte einer Zeder lehnte‹. Nur wenige Sätze später läßt er Ascanio die alte wie neue ›Tatsache‹ gleichsam hyperbolisch gesteigert wiederholen. An Astorre gewandt äußert der Freund: »Du liegst hier unter deiner Riesenzeder gleich dem ersten Menschen«. Die nächste Unterbrechung ist Cangrande geschuldet, »der höflich genug gewesen war, eine natürliche Pause der Erzählung abzuwarten« (S. ). Nach einer kurzen Diskussion mit Dante über Charakter und Taten Kaiser Friedrichs II. und seines Kanzlers Petrus de Vinea setzt der Fürst »die Erzählung in spielendem Scherze weiter«: »Auch der Mönch und Ascanio verließen jetzt den Garten und betraten die Halle.« Doch Dante nahm ihm das Wort. Keineswegs, sondern sie stiegen in eine Turmstube, dieselbe, die Astorre als Knabe mit ungeschorenen Locken bewohnt: denn dieser mied die großen und prunkenden Gemächer, welche er sich erst gewöhnen mußte als sein Eigentum zu betrachten, wie er auch den ihm hinterlassenen goldenen Hort noch mit keinem Finger berührt hatte. (S. )
Erneut wird also eine Erzählvariante zunächst entworfen und dann revidiert. Cangrande wird bewußt gemacht, daß er nicht autorisiert ist, die Geschichte weiterzuführen. Er muß erleben, daß seine banal anmutende Beschreibung von Astorres und Ascanios Abgang falsch ist. »Keineswegs« urteilt Dante, läßt die beiden Freunde mit guten Gründen »in eine Turmstube« steigen, »denn
Vgl. oben zu »wie er tat«. So verhält es sich bei der Angabe über denjenigen Sohn des alten Vicedomini, der für Ezzelin auf dem Schlachtfeld gestorben ist: einmal ist es der Zweitgeborene (S. ), ein anderes Mal der dritte Sohn (S. ). Evans, Formen der Ironie, S. , macht auf diesen Fehler, den die Zuhörer nicht zu bemerken scheinen, aufmerksam. Später findet »unter dem Zedergebälke des Prunksaales der Vicedomini« (S. ) der ›Hochzeitsversuch‹ Astorres mit Diana statt. Cangrande knüpft damit an den Schlußsatz Dantes vor der Unterbrechung an; über Ezzelin hatte er nach dessen Gespräch mit den Jünglingen geäußert: »Er schied, Germano winkend ihm zu folgen.« (S. )
[der vormalige Mönch] mied die großen und prunkenden Gemächer«. Dante kann sich also nicht nur auf seine erzählerische Autorität berufen, sondern auch auf die innere Gesetzlichkeit der Erzählung. Es wäre demzufolge unwahrscheinlich, daß sich der an Askese gewöhnte Astorre in die Halle begeben hätte. Dantes Version der Handlungsfortsetzung wird nicht widersprochen, jedoch bleibt es sowohl den Figuren der Binnenerzählung wie auch dem Leser überlassen, in Dantes Korrektur nicht primär eine ›Tatsachenfeststellung‹, sondern eine Zurechtweisung Cangrandes zu sehen. Dantes Wiederaufnahme der Binnenerzählung währt nicht lange. Als er Astorres Majordom Burcardo erwähnt, fühlt sich Cangrandes Haushofmeister angesprochen. Der Erzähler der Rahmenhandlung berichtet: da er nun sich selbst nennen hörte und unversehens und lebensgroß im Spiegel der Novelle erblickte, fand er diesen Mißbrauch seiner Ehrenperson verwegen und durchaus unziemlich im Munde des beherbergten Gelehrten und geduldeten Flüchtlings, […]. Was die andern lächelnd gelitten, empfand er als ein Ärgernis. Er runzelte die Brauen und rollte die Augen. Der Florentiner weidete sich mit ernsthaftem Gesichte an der Entrüstung des Pedanten und ließ sich in seiner Fabel nicht stören. (S. f.)
Da Burcardo nicht zum ursprünglichen, also eingeweihten Zuhörerkreis Dantes gehört, ist ihm das ungewöhnliche Namensspiel »ein Ärgernis«. Dem Dichter scheint die »Entrüstung des Pedanten« insofern Anreiz zu sein, als er den Burcardo der Binnenhandlung im folgenden als traditionsversessenen, obrigkeitshörigen und rundum lächerlichen Kleingeist karikiert. Der Umgang Dantes mit Burcardo ist charakteristisch für sein Erzählen auf Grundlage der Rahmensituation: Mitnichten beschränkt sich Dante auf Namensentlehnung und Abschilderung der Gestalt (S. ), sondern zeigt sein Umfeld tatsächlich »lebensgroß im Spiegel der Novelle«. Diese auffällige Gattungsbezeichnung ist ein Hapaxlegomenom innerhalb der Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹. In den Anfangsreflexionen wird die Binnenerzählung Dantes von seinem Zuhörerkreis ausschließlich als ›Geschichte‹ verstanden (S. ); diese wiederum kann dokumentarisch ›wahr‹ sein, mündlich als Sage überliefert, oder Erfindung des Dichters (S. ). In dem Moment, in dem Burcardo seinen eigenen ›Realitätsstatus‹ in der Geschichte des Dichters derart reflektiert sieht, daß er die Ästhetisierung seiner Person miterleben muß, kategorisiert der Erzähler der Rahmenhandlung, gleichsam als innere Stimme Burcardos, Dantes Erzählen als novellistisch: Burcardo erblickt sich »unversehens und lebensgroß im Spiegel der Novelle«. Dieser »Mißbrauch seiner Ehrenperson« ergötzt den Dichter Dante, der sich angeblich »in seiner Fabel nicht stören läßt« – just unterbrochen vom Rahmenerzähler, der auf den so erstaunten wie erbosten Zuhörer aufmerksam macht.
Es läßt sich freilich nicht überprüfen, ob Astorre tatsächlich den Gang durch die prunkvolle Halle seines Vaters meiden würde.
Die nächsten beiden Unterbrechungen Dantes sind seinen eigenen Kommentaren geschuldet, die er »[ein]flocht« (S. ) und an die ihn umgebenden »Herrschaften« (S. ) richtet. Als er wiederum innehält, weiß der Rahmenerzähler folgendes über Dante zu berichten: »Seine Fabel lag in ausgeschütteter Fülle vor ihm; aber sein strenger Geist wählte und vereinfachte« (S. ). Dantes Geschichte hätte also wesentlich umfangreicher und komplexer ausfallen können, doch entscheidet sich der Dichter für eine Vereinfachung. In dieser Pause spricht Cangrande einen Tadel aus, da Dante seiner Meinung nach zu streng mit Florenz und den Florentinern ins Gericht gehe. Der Dichter antwortet nicht, sondern starrt, bebend vor Kälte, ins Feuer. Als sich der Erzählkreis daraufhin bewußt wird, daß hier ein Heimatloser und Unglücklicher sitzt, bietet Cangrande einen Platztausch an, den der Dichter annimmt, woraufhin er »seine Erzählung folgendermaßen fortsetzte« (S. ). Nachdem Dante von der gescheiterten Hochzeit Astorres mit Diana berichtet hat, wendet er sich der Gemütslage des Mönches zu: Es war der Mönch, der zurückkehrte, und der Mönch war ebenso frohlockend und ebenso berauscht wie er [Gocciola]; denn der Mönch – »Liebte Antiope«, unterbrach den Erzähler die Freundin des Fürsten mit einem krampfhaften Gelächter. »Du sagt es, Herrin, er liebte Antiope«, wiederholte Dante in tragischem Tone. »Natürlich!« »Wie anders?« »Es mußte so kommen!« »So geht es gewöhnlich!« scholl es dem Erzähler aus dem ganzen Hörerkreise entgegen. (S. )
Die vorhersehbare Wendung der Geschichte, die sich mehrfach ankündigende Annäherung Astorres an Antiope ist derart evident, daß die Freundin des Fürsten Dantes Satz zu Ende führen kann, ohne von diesem getadelt zu werden. Im Gegenteil wiederholt er ihre Worte, die ihrerseits von den Zuhörern kommentiert werden: »›Natürlich!‹ ›Wie anders?‹ ›Es mußte so kommen!‹ ›So geht es gewöhnlich!‹« Diese dem Erzähler geltenden und damit nicht ohne Häme vorgebrachten Einwürfe unterstreichen die Konvention derartiger Liebesgeschichten. Dantes Reaktion auf eine derartige Bewertung seiner Geschichte fällt ungnädig aus: »›Sachte, Jünglinge‹, murrte Dante. ›Nein, so geht es nicht gewöhnlich. Meinet ihr denn, eine Liebe mit voller Hingabe des Lebens und der Seele sei etwas Alltägliches‹«. Der Dichter verweist also auf die Alltagserfahrung, die seiner Ansicht nach nicht mit der Fiktion konkurrieren könne. Astorres »Liebe mit voller Hingabe des Lebens und der Seele« sei exzeptionell, für gewöhnlich gelte: »Jeder spricht von Geistern, doch wenige haben sie gesehen« (alle Zitate
Es folgt die Wiederaufnahme der Binnenerzählung. Zum Platztausch vgl. in dieser Arbeit Kapitel .. Es ist anzunehmen, daß der Vorwurf der Konventionalität auf die fiktionale Geschichte und fiktionale Geschichten allgemein abzielt, wenngleich die Textstelle dies nicht expliziert. Dante bezieht die Kommentare in der nachfolgenden Stellungnahme auf die ›faktuale Realität‹.
S. ). Spöttisch und beleidigt kündigt Dante an, die Selbstoffenbarung Astorres nicht zu erzählen: Da ihr alle in der Liebe so ausgelernt und bewandert seid […], überspringe ich das verräterische Selbstgespräch des zurückkehrenden Astorre und sage kurz: da ihn der verständige Ascanio belauschte, erschrak er und predigte ihm Vernunft. (S. )
Dante, der wiederum seine Macht über die von ihm erzählte Geschichte ausspielt, erwägt eine Textkürzung (»überspringe ich«) durch die Verknappung der Darstellung (»und sage kurz«). Insbesondere die weiblichen Zuhörer sind davon enttäuscht und umschmeicheln den Dichter: »Wirst du deine rührende Fabel so kläglich verstümmeln, mein Dante?« wendete sich die entzündliche Freundin des Fürsten mit bittenden Händen gegen den Florentiner. »Laß den Mönch reden, daß wir teilnehmend erfahren, wie er sich abwendete von einer Rohen zu einer Zarten, einer Kalten zu einer Fühlenden, von einem steinernen zu einem schlagenden Herzen – « »Ja, Florentiner«, unterbrach sich die Fürstin in tiefer Bewegung und mit dunkel glühender Wange, »laß deinen Mönch reden, daß wir staunend vernehmen, wie es kommen konnte, daß Astorre, so unerfahren und täuschbar er war, ein edles Weib verriet für eine Verschmitzte […]. (S. )
Die Identifikation der Rahmenfiguren hat nun einen Höhepunkt erreicht, und die Rahmenerzählung hat sich damit nicht bloß zum Muster der Erzählkunst, sondern auch zu einer Geschichte über das Zuhören entwickelt. Die Antiope der Rahmenerzählung wertet die Diana der Binnenerzählung als ›kalt‹ und ›roh‹ ab und freut sich über Astorres Zuneigung zur zartfühlenden Antiope. Die Diana der Rahmenerzählung hingegen schilt den Mönch für seinen ›Verrat‹ an der edlen Diana der Binnenerzählung und nennt Antiope eine »Verschmitzte«. Beide Frauen wünschen die Mitteilung des Selbstgespräches, um die Gefühle des Mönchs eingehender geschildert beziehungsweise überhaupt erst glaubhaft gemacht zu bekommen. Die »rührende Fabel« dürfe Dante nicht derart »verstümmeln«, so daß beide Frauen bitten: »laß deinen Mönch reden«. Der Dichter kann zufrieden sein: Dante für seinen Teil lächelte zum ersten und einzigen Mal an diesem Abende, da er die beiden Frauen so heftig auf der Schaukel seines Märchens sich wiegen sah. Er brachte es sogar zu einer Neckerei. »Herrinnen«, sagte er, »was verlangt ihr von mir? Selbstgespräch ist unvernünftig. Hat je ein weiser Mann mit sich selbst gesprochen?« (S. )
Die Gefühlsregung Dantes ist seinem Erfolg geschuldet: die beiden Frauen sieht er »heftig auf der Schaukel seines Märchens sich wiegen«. Die ›Geschichte‹, die
Es ist daher fraglich, ob man eine einseitige Reaktion der Figuren der Rahmenerzählung auf die Geschehnisse der Binnenerzählung konstatieren darf, also das Kalkül Dantes unterschlagen werden kann; vgl. mit Verweis auf S. der Novelle Downing, Double Exposures, S. : »Dante’s claim is true, that is, insofar as where the ›touching‹ does occur, it results not from Dante’s narration reading into his listeners’ inner lives, but rather from their reading their inner lives into his narrative: it is at least
zuvor noch als ›Novelle‹ stilisiert worden ist (S. ), wird unter Berücksichtigung der Position Dantes nunmehr »Märchen« genannt. Mit der Identifikation der Rahmenfiguren zu ihren Spiegelungen auf Binnenebene, also einer hochgradig illusionistischen Einfühlung, wird dieser Binnengeschichte der höchste Grad an Fiktionalität zugesprochen. Dantes »Märchen« hat funktioniert, seine Zuhörerinnen sind in dieser »Schaukel« befangen. Dieser illusionistisch ›gelingenden‹ Fiktionsbildung steht der grundsätzlich ›desillusionierte‹ Dichter selbst gegenüber, der lächelnd das Spiel durchschaut, es gar selbst veranlaßt hat. Mit dem Verweis auf ein »unvernünftiges« und demzufolge unwahrscheinliches Selbstgespräch gibt Dante dem Bitten der Frauen nicht nach, erkennt jedoch seinerseits durch rationales Argumentieren die Ernsthaftigkeit ihres Begehrens an. Dantes Frage: »Hat je ein weiser Mann mit sich selbst gesprochen?« wird von einem Zuhörer dahingehend beantwortet, daß niemand »geläufiger mit sich selbst« (S. f.) rede als Dante selbst. Unlängst sei der Dichter dabei beobachtet worden, wie er murmelnd auf der Etschbrücke gestanden und dabei eine schöne Frau übersehen habe. Dante repliziert umgehend: Ich ließ das Meer grüßen. Die Woge war schöner als das Mädchen. Doch zurück zu den zwei Toren! Horch, sie sprechen mit einander! Und bei allen Musen, fortan unterbreche mich keiner mehr, sonst findet uns Mitternacht noch am Märchenherde. (S. )
Dante wehrt weitere Diskussionen ab, indem er darauf verweist (»Horch«), die beiden Narren (Astorre und Gocciola) sprächen bereits miteinander. Damit
as much a result of their willing desire and identificatory participation as his perhaps sovereign authority. Morevoer, Dante’s narrative strategy exploits this impulse for displacement, which is at once enabling and endangering for his auditors, as crucial to his achievement of the effect of realism.« Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. , verweist diesbezüglich auch auf das Motiv der Dreizahl in der Novelle. Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. , weist darauf hin, daß in der Rahmenerzählung das Geschehen der Binnenhandlung auch pantomimisch wiederholt wird. Vgl. auch Ascanios Vorwurf an Ezzelin: »Du vermählst das seligste Paar in Padua und machst aus einer gefährlichen Geschichte ein reizendes Märchen, womit ich einst, als ein ehrwürdiger Greis, meine Enkel und Enkelinnen am Herdfeuer ergötzen werde!« (S. f.) Das ›Deutsche Wörterbuch‹ verweist im Eintrag ›Schaukel‹ auf Jean Pauls ›Titan‹ (–) und zitiert daraus die »Schaukel der Phantasie«. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. : R–Schiefe, bearbeitet von Moriz Heyne, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig , München , Sp. . Keine Markierung der wörtlichen Rede am Ende dieses Rahmenabschnitts. Vgl. Anm. . Kittler, Traum und Rede, S. , weist auf die Gefahr der Entlarvung hin: »Indem Dante als ›weiser Mann‹ die Sprecherinstanz von Selbstgesprächen einen ›Toren‹ nennt, spricht er sich selbst die Weisheit, in deren Namen er urteilt, ab und Identität mit dem unvernünftigen Astorre zu.«
hat der Dichter einen Weg gefunden, Astorres Gefühlsleben angemessen zu schildern: nicht im Monolog, sondern im (entsprechend mißverständnisreichen) Dialog mit dem Narren. Der Musenanruf mit der Bitte, nicht weiter gestört zu werden, wird mit der fortschreitenden Erzählzeit »am Märchenherde« begründet, wenngleich Dantes impliziter Störungsvorwurf an seinen Zuhörerkreis ›statistisch‹ schwerlich abgesichert werden kann: insgesamt elf Unterbrechungen gehen auf Dante zurück, nur drei auf seine Zuhörer. Bis zum Ende der Binnengeschichte erfolgen nur noch zwei ›Störungen‹. Zum einen berichtet der Rahmenerzähler, daß Dante Atem schöpft, um die Geschichte »in raschen Sätzen« (S. ) zu endigen. Zum anderen reflektiert Dante, inwiefern Diana der demütigen Antiope erschwert, ihr den Ring vom Finger zu ziehen (S. ). Schließlich beendet Dante seine Geschichte und zieht sich in sein Turmzimmer zurück: »Aller Augen folgten ihm, der die Stufen einer fackelhellen Treppe langsam emporstieg« (S. ). Hat die Binnenerzählung auf verhältnismäßig kohärente Weise die Geschichte der Hochzeiten des Mönchs dargestellt, so problematisiert die Rahmenerzählung beständig die Entwicklung eben dieser Geschichte. Die Rahmenerzählung nimmt mit immerhin vierzehn ›Störungen‹ der Binnenerzählung eine derart beherrschende Stellung ein, daß eine herkömmliche Unterscheidung zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ der Novelle schwerfällt. Schon quantitativ läßt sich eine eindeutige Unterscheidung zwischen den erzählten Mönchshochzeiten (›was?‹) und der Erzählgemeinschaft im Rahmen (›wie?‹) nicht aufrechterhalten. Weniger die von Dante erzählte Geschichte steht im Vordergrund als vielmehr das Erzählen selbst. Conrad Ferdinand Meyers Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹ stellt also nicht eine Geschichte dar, sondern das Geschichten
Streng genommen gehen alle Unterbrechungen auf den Erzähler der Rahmenerzählung zurück, weshalb man Dantes Wunsch auch metadiegetisch auf jenen beziehen könnte. So kommt es vor, daß der Rahmenerzähler Unterbrechungen markiert, um etwa Dantes Sprechpause zu erzählen (S. ). – Eine plausible Differenzierung der Unterbrechungen nimmt Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. , vor. Mit gerinfügig abweichender Zählung unterscheidet er vier Eingriffe des Rahmenerzählers, sechs Selbstunterbrechungen Dantes und fünf (beziehungsweise drei oder gar nur eine) Unterbrechungen durch Zuhörer. Vgl. auch Anm. . – Ein schematischer Überblick findet sich bei Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. . Bereits Louise von François hat nach Lektüre des Korrekturbogens brieflich (. November ) gegenüber Conrad Ferdinand Meyer vermerkt: »das Interesse an dem Erzähler verschlingt geradezu das an dem Helden, der bis jetzt im Grunde ein kläglicher armer Teufel ist.« Louise von François und Conrad Ferdinand Meyer. Ein Briefwechsel, hg. von Anton Bettelheim, zweite, vermehrte Auflage, Berlin und Leipzig , S. –; hier S. . – Die ausschließliche Konzentration vieler Interpreten auf die Rahmenerzählung kritisiert Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. : »demgegenüber wurde die Binnengeschichte vernachlässigt, ja z. T. gar als völlig ›unwesentlich‹ behauptet«.
erzählen und -hören. Das in diesem Kapitel bereits mehrfach angesprochene Spiel zwischen (vermeintlichem) Realitätsstatus und fiktionalen ›Erfindungen‹ ist dabei erheblich breiter gefächert, als es eine einfache Rahmen-/Binnendifferenz beschreiben könnte.
. Tödlicher Platz- und Berufswechsel: »Erzähle, Meister, statt zu singen« Dantes erzählstrategisches Verfahren, mehr als bloße Namen und äußere Merkmale seiner Zuhörer in der Geschichte zu spiegeln, ist im vorangehenden Kapitel bereits hinreichend zur Sprache gekommen. Cangrande provoziert die Gleichsetzung seiner Person mit Ezzelin, die Dante bereitwillig aufgreift. Auf solcher Basis kann der Dichter festlegen, er werde auch »die übrigen Gestalten der Erzählung […] aus eurer Mitte nehmen« (S. ). Allerdings hatte Dante schon zuvor die Grabinschrift ›Hic jacet monachus Astorre cum uxore Antiope. Sepeliebat Azzolinus‹ preisgegeben, worauf tatsächlich Antiope, die Freundin des Fürsten heftig reagiert, ohne jedoch die Namensgleichheit anzusprechen. Offensichtliche Bezugnahmen werden durch die Rückgriffe auf die Rahmenerzählung deutlich, etwa in der Darstellung des fremden Mönchs (S. ), Germanos und Ascanios (S. ) sowie Burcados (S. ). Auch Gocciola, der Hofnarr Cangrandes, hat sein Pendant in der Binnenerzählung, ebenso die schwatzhafte Isotta. Damit ist jedoch nicht das gesamte Figureninventar der Rahmenerzählung gespiegelt: Dante selbst hat keinen offensichtlichen Widerpart, während ausgehend von der Binnenerzählung dieses für den Mönch Astorre gilt. Mit gewichtigen Argumenten ist versucht worden, Figur und Gegenfigur angemessen zuzuordnen. Dante etwa weist bedeutende Ähnlichkeiten mit dem florentinischen Händler der Binnenerzählung auf. Ascanios Rat folgend wird Astorre »einen Ring bei dem Florentiner auf der Brücke« (S. ) kaufen. Dieser sei zu erkennen durch die »riesigen Buchstaben[, welche] über seine Bude geschrieben: Niccolò Lippo dei Lippi der Goldschmied, durch einen feilen und ungerechten Urteilsspruch, wie sie am Arno gebräuchlich sind, aus der Heimat vertrieben« (beide
Vgl. auch Evans, Formen der Ironie, S. : »Ist es einfach Zufall, dass der Name der Gattin auf der Grabschrift – Antiope – gleich lautet wie der Name der Geliebten Cangrandes?« In der Binnenerzählung heißt er Serapion. Nach Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. : ein »heimlicher Schlagabtausch« Dantes mit seinen Zuhörern, »indem er deren fiktive Spiegelfiguren kritisiert oder negativiert.« Diese Interpretation wird selten verfolgt; zu nennen ist Hellmuth Himmel, Geschichte der deutschen Novelle, Bern, München , S. .
Zitate S. ). In der Rahmenerzählung wird von Dante erzählt, er sei auf einer Brücke angetroffen worden (S. ); dem Erzählkreis gilt er – historisch korrekt – als »ein Heimatloser« (S. ). Der florentinische Händler ist ein Betrüger, verspottet den in weltlichen Angelegenheiten unerfahrenen Mönch zunächst, schmeichelt ihm dann aber aus verkaufsstrategischen Gründen. Auch Dantes Erzählverfahren kann kaum als rechtschaffen und arglos bezeichnet werden, vielmehr als manipulativ und bewußt steuernd. Als Astorre im Aufruhr verschwindet, fühlt sich der Händler betrogen, wagt aber nicht das Haus des Mönchs zu betreten, an dessen Eingang das Siegel des Tyrannen Ezzelin haftet. Der Erzähler Dante, der sich die Gunst seines Fürsten Cangrande erhalten muß, hat nicht viel Sympathie für diesen Händler; er nennt ihn einen »Feigling« (S. ), weil er den Tyrannen umgeht, und kritisiert die Verkaufsstrategien seines Landsmannes: »Doch was kostet einen Florentiner eine Lüge!« (S. ) Der Fürst Cangrande nutzt die nächste Atempause Dantes, um ihn für diese Charakterisierung zu tadeln: »Mein Dante«, hub er an, »ich wundere mich, mit wie harten und ätzend scharfen Zügen du deinen Florentiner umrissen hast! Dein Niccolò Lippo dei Lippi ist verbannt durch ein feiles und ungerechtes Urteil. Er selbst aber ist ein Überteurer, ein Schmeichler, ein Lügner, ein Spötter, ein Schlüpfriger und eine Memme, alles ›nach Art der Florentiner‹. […] Lasse dir sagen, es ist unedel, seine Wiege zu schmähen, seine Mutter zu beschämen! Es kleidet nicht gut! Glaube mir, es macht einen schlechten Eindruck!« (S. )
Cangrande kritisiert Dantes literarisches Verfahren, die »ätzend scharfen Züge«, mit denen er den Händler allzu subjektiv gefärbt »umrissen« habe. Die Zuweisung »Dein Niccolò Lippo dei Lippi« gibt Dante die Verantwortung für diese Figur, die Cangrande zufolge mißraten sei, da sie zwar nicht eo ipso, wohl aber durch ihre Bindung an die Autorschaft Dantes gegen ethische Grundsätze verstoße: »Lasse dir sagen, es ist unedel, seine Wiege zu schmähen, seine Mutter zu beschämen!« Der in der Rahmenerzählung ›reale‹ Erzähler Dante wird also verantwortlich gemacht für seine fiktive Figur, mit deren Charakterisierung ›extradiegetisch‹, nämlich wiederum in der Rahmenerzählung gegen das aptum verstoßen wird. Durch diesen Tadel Cangrandes wird Dante, der »Florentiner« (S. und öfter) an dem Händler Lippi, dem »Florentiner« (S. ), gemessen. Die Kritik Cangrandes endet schließlich in einer nicht anders als rührselig zu bezeichnenden Szene: Die mitleidsvollen Zuhörer sehen in dem schweigenden, vor Kälte bebenden Dante einen Heimatlosen, der von seinem Fürsten näher an das Feuer geführt wird, um dort gewärmt und vollständig in den Kreis integriert mit seiner Geschichte fortzufahren.
Die Inschrift ist im Original durch Sperrung hervorgehoben. Auch eine Warnung spricht Ascanio gegenüber Astorre aus: »der Florentiner wird dich überforden« (S. ).
Die eindeutige Zuordnung Dantes zum florentinischen Händler mag allerdings nicht befriedigen, wenn man die Bedeutung der Hauptfigur Dante für die Rahmenerzählung gegenüber derjenigen einer Nebenfigur in der Binnenerzählung abwägt. Ähnlich unsicher kann auch die Zuordnung Cangrandes ausfallen, wenn man ihn mit Astorre gleichsetzt: beiden Männern sind die ihnen zugehörigen, jedoch untereinander konkurrierenden Diana und Antiope beigesellt. Die Macht Ezzelins hingegen spiegelt sich in nicht geringem Maße in der Macht Dantes; beide können gleichsam nach Belieben über das Schicksal anderer walten. Die Präliminarien zur Geschichte Dantes legen allerdings eindeutige Zuordnungen fest, nicht bloß (beziehungsweise: gerade nicht) Übereinstimmungen von Charaktereigenschaften. Die Namensgleichheit von Diana, Antiope, Ascanio, Germano, Gocciola, Burcardo und Isotta sowie Dantes Eingeständnis, die Gestalt Ezzelins sei von Cangrande inspiriert, läßt nur die beiden Hauptfiguren Dante und Astorre ohne Bezugspartner.
Vgl. mit anderer Akzentuierung Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. : »Die Zweiteilung Cangrandes, die Aufteilung der ihm vorzuführenden Warnung auf die beiden Hauptpersonen von Dantes Erzählung, war aus erzählerischen Gründen notwendig, um die beiden Elemente Barmherzigkeit und Gerechtigkeit miteinander in Konflikt kommen zu lassen. Neben der moralischen Verwarnung Cangrandes in bezug auf seine lockeren erotischen Auffassungen wird ihm in den beiden Personen Astorre und Ezzelin vor Augen geführt, welche Folgen das Auseinanderstreben der beiden ethischen Hauptbegriffe Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hat.« Downing, Double Exposures, S. , der mit Blick auf den Platzwechsel zwischen Cangrande und Dante äußert: »In any case, in taking over the position of Cangrande in the frame, Dante clearly seems also to take over the position of the ›Herrscher‹, of Ezzelin, in the tale.« – Vgl. auch Anm. . Dante macht das (kaum eingehaltene) Versprechen: »euer Inneres lasse ich unangetastet« (S. ). Kittler, Traum und Rede, S. , nennt auch den Narren als Repräsentanten Dantes. Die Schlußfolgerung ergibt sich aus Dantes Verknüpfung mit ›auch‹ im folgenden Zitat: »›Woher hast du dieses schwarzhaarige Haupt?‹ ›Es ist das deinige‹, versetzte Dante kühn und Cangrande fühlte sich geschmeichelt. ›Auch die übrigen Gestalten der Erzählung [werde ich] aus eurer Mitte nehmen und ihnen eure Namen geben: euer Inneres lasse ich unangetastet, denn ich kann nicht darin lesen‹« (S. ). Vgl. Kittler, Traum und Rede, S. : »Im System der Zuordnungen zwischen den zwei Mengen gibt es zwei Leerstellen. Im Unterschied zu den Adressaten seiner Rahmenerzählung ist Dante selbst unter den Figuren der Binnenerzählung nicht eineindeutig repräsentiert. Im Unterschied zu allen anderen nicht-marginalen Figuren der Binnenerzählung ist der Titelheld Astorre Vicedomini unter den Figuren der Rahmenerzählung nicht eineindeutig repräsentiert; jenseits der Handlung existiert er einzig als Namen auf dem von Dante gelesenen Epitaph. Die zwei Leerstellen, die die ›Spiegel‹-Symmetrie der ›Novelle‹ durchbrechen, sind also ihrerseits spiegelsymmetrisch: Erzähler und Held gehören zusammen, sofern der eine reines Subjekt der Äußerung ist, das im Geäußerten nicht vorkommt, der andere reines Subjekt des Geäußerten, das unter den Kommunikaten der Äußerung nicht vorkommt.«
Nimmt man Dantes eigene Maßstäbe, so steht zunächst die Identität von Namen und Gestalt in Frage. Wenngleich zwischen dem jugendlichen Astorre und dem alten Dichter keine äußerlichen Ähnlichkeiten festzustellen sind, so lassen sich dennoch gemeinsame Merkmale finden. Über den mönchischen ›Habicht‹ (it. astore) heißt es im Volk, aus »seiner zerrissenen Kutte sei ein gieriger Raubvogel aufgeflattert« (S. ), während die Physiognomie Dantes wenig schmeichelhaft »mit langgebogener Nase und hangender Lippe« (S. ) dargestellt wird. Beide stehen zunächst ähnlich isoliert zu ihrer jeweiligen Gesellschaft: Dante ist gegenüber der sittenfreien höfischen Gesellschaft ähnlich abgesondert wie der asketische Mönch gegenüber dem bunten paduanischen Treiben. Indem Dante zum Erzählkreis stößt, ›entkuttet‹ er mit seiner prosaischen Geschichte den Mönch, der sich wie der Terzinendichter Dante dem Thema des Abends, »plötzlicher Berufswechsel« (S. ), zu fügen hat. Dieser ›Berufswechsel‹ geschieht »nicht aus eigenem Triebe, […], sondern einem andern zuliebe, unter dem Druck eines fremden Willens« (S. ). Diese Inter
Es heißt über Dante, daß er seine Tage »sich entschlüpfen fühlte« (S. ). Gemein ist beiden immerhin das Stirnrunzeln; Dante: S. , ; Astorre: S. . George W. Reinhardt, Two Romance Wordplays in C. F. Meyer’s Novellen. In: The Germanic Review, , , S. –. Reinhardt weist anhand des Gedichtes ›Die Seitenwunde‹ (; beziehungsweise ›Atalante‹) nach, daß Conrad Ferdinand Meyer die Bedeutung des Namens ›Astorre‹ bekannt gewesen ist (ebd., S. ). – Zur Gleichsetzung des Mönchs mit einem Raubvogel vgl. auch Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. . Die Dante-Statue () von Enrico Pazzi stellt den Dichter zusammen mit einem Adler dar. Das Tier, das biologisch der Familie der Raub-/Greifvögel beziehungsweise der ›Habichtartigen‹ angehört, symbolisiert auf der florentinischen Piazza Santa Croce die Kaisertreue Dantes. Vgl. die Adler-Darstellung in ›Paradiso‹, Sechster Gesang, und die einschlägigen ›Commedia‹-Kommentare. Zur Adlernase vgl. Anm. . – Conrad Ferdinand Meyer besuchte Florenz im Jahr . Über Dante heißt es gar, er sei ein Mann »dessen große Züge und lange Gewänder aus einer andern Welt zu sein schienen« (S. ). In dem strukturalistischen Ansatz von Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. , heißt es: »Dante und Astorre kommen jeweils aus einem als ›Nicht-Welt‹ semantisierten, mit Absenz von Erotik und reduziertem Leben korrelierten (nicht dargestellten) Raum, treten vorübergehend in den (dargestellten) Raum der ›Welt‹ ein und damit zugleich in ein geselliges, mit – wörtlicher oder metaphorischer – Erotik korreliertes ›Leben‹, um schließlich dieses wieder zu verlassen und definitiv in einen Raum des ›Nicht-Lebens‹ abzutreten, der schließlich in wörtlichen Tod mündet bzw. (für Dante) münden wird.« Zur Differenz zwischen Prosa und Vers in der ›Hochzeit des Mönchs‹ vgl. die nachfolgende Ausführungen. Downing, Double Exposures, S. f., nennt eine dritte Analogie: »The terms are familiar to us: the audience enter into its exchange (into the tale) ›unter dem Druck‹ of Dante’s authority, even as Dante invents his tale (= enters on his exchange) ›unter dem Druck‹ of Cangrande’s; both in their way initially deny their own, willing participation in their displaced place in the tale.« Zu Dantes Auflehnung gegen diesen frem-
pretation Dantes zur Mönchs-Handlung trifft nicht minder auf ihn selbst zu, der von seinem Fürsten dahingehend begrüßt worden ist, daß des Dichters »wuchtige Hand« es »heute nicht verweigern« dürfe, »das Spielzeug eines kurzen Geschichtchens, ohne es zu zerbrechen, zwischen ihre Finger zu nehmen« (alle Zitate S. ). Der folgende Rollentausch des Versdichters Dantes sowie des Mönchs Astorre versetzt beide Männer zwischen zwei Frauen. Während Astorre zunächst Diana, dann Antiope ehelicht, gelingt es Dante, dem Fürsten die Frauen durch einen Platzwechsel abspenstig zu machen. Das erste Angebot, einen Platz beim Fürsten einzunehmen und sich demgemäß mit den ihn umgebenden »schönen Sterblichen« (S. ) zu vergnügen, hat Dante ausgeschlagen und »stolz den letzten Sitz, am Ende des Kreises« (S. ) gewählt. Der Rahmenerzähler kann über die Gründe nur spekulieren: Ihm mißfiel entweder die Zweiweiberei des Fürsten – wenn auch vielleicht nur das Spiel eines Abends – oder dann ekelte ihn der Hofnarr, welcher, die Beine vor sich hingestreckt, neben dem Sessel Cangrandes auf dem herabgeglittenen Mantel desselben am Boden saß. (S. )
Tatsächlich spricht Dante sich später vehement gegen das Amt des Hofnarren aus (S. ), verrät aber nicht, wie er über die »Zweiweiberei« denkt. Während Diana zunächst noch ausgesprochen gleichgültig auf Dante reagiert (S. ) und erst allmählich Zutrauen zum Dichter und seiner Geschichte gewinnt, bietet die »kleinere und aufgeweckte« Antiope Dante bereits früh ihren Platz an (S. ), gähnt jedoch auch, als Dante sich noch vor Beginn seiner Geschichte in allzu scholastische Abschweifungen versteigt (S. ). In der Entwicklung seiner Erzählung gelingt es Dante dann zunehmend, die Frauen für die Mönchsgeschichte und auch sich selbst einzunehmen, bis er schließlich »die beiden Frauen so heftig auf der Schaukel seines Märchens sich wiegen sah« (S. ). Auch eine Annäherung innerhalb der Rahmenerzählung erreicht der Dichter, mittelbar provoziert durch Cangrandes Vorwurf, Dantes Schmähungen gegen Florenz ziemten sich nicht für den berühmten Sohn der Stadt: Viele junge und scharfe Augen hafteten auf dem Florentiner. Dieser verhüllte sich schweigend das Haupt. Was in ihm vorging, weiß niemand. Als er es wieder erhob, war seine Stirn vergrämter, sein Mund bitterer und seine Nase länger. Dante lauschte. Der Wind pfiff um die Ecken der Burg und stieß einen schlecht verwahrten Laden auf. Monte Baldo hatte seine ersten Schauer gesendet. Man sah die Flocken stäuben und wirbeln, von der Flamme des Herdes beleuchtet. Der Dichter betrachtete den Schneesturm und seine Tage, welche er sich entschlüpfen fühlte, erschienen ihm un-
den Willen durch das Erzählen selbst vgl. Andrea Jäger, Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im . Jahrhundert, Tübingen, Basel , S. .
ter der Gestalt dieser bleichen Jagd und Flucht durch eine unstete Röte. Er bebte vor Frost. Und seine feinfühligen Zuhörer empfanden mit ihm, daß ihn kein eigenes Heim, sondern nur wandelbare Gunst wechselnder Gönner bedache und vor dem Winter beschirme, welcher Landstraße und Feldweg mit Schnee bedeckte. Alle wurden es inne und Cangrande, der von großer Gesinnung war, zuerst: Hier sitzt ein Heimatloser! Der Fürst erhob sich, den Narren wie eine Feder von seinem Mantel schüttelnd, trat auf den Verbannten zu, nahm ihn an der Hand und führte ihn an seinen eigenen Platz, nahe am Feuer. »Er gebührt dir«, sagte er und Dante widersprach nicht. Cangrande aber bediente sich des freigewordenen Schemels. (S. )
Der Erzähler nimmt mit dem ersten Satz verhältnismäßig konsequent die Position der Zuhörer ein, hat also eine Außensicht auf Dante. Mit dem Wechsel ins Präsens betont er, Dante sehr ähnlich, eine ›realistische‹ Binsenweisheit: »Was in ihm vorging, weiß niemand.« Die folgende schwerlich nachvollziehbare physiologische Veränderung Dantes kann (gegen das textintern eindeutige »war«) plausibel begründet werden, wenn man wiederum die Perspektive der Zuhörer aufgreift; demnach scheint es, als sei die Stirn des Dichters nun »vergrämter, sein Mund bitterer und seine Nase länger«. Im folgenden wechselt der Erzähler anscheinend zum Standpunkt Dantes, wenngleich nicht eindeutig feststellbar ist, ob dessen ›Lauschen‹ als Tätigkeit äußerlich sichtbar ist oder nicht. Die Beschreibungen des Hör- und Sichtbaren (Wind, schlagender Fensterladen, Schneegestöber, Herdfeuer) suggerieren eine Innensicht, die der Rahmenerzähler zweifelsfrei einnehmen muß, wenn er behaupten will, daß Dante seine Tage dahinschwinden sah, sie ihm »unter der Gestalt dieser bleichen Jagd und Flucht durch eine unstete Röte« erschienen. Andererseits ist dem Rahmenerzähler eine solche Einschätzung unmöglich, da er anfangs noch betont hat, daß »niemand weiß«, was in Dante vorgeht. Erneut ist zu überlegen, ob die Außenperspektive der Zuhörer (und in diesem Fall Zuschauer des stillen Schauspiels, die den Dichter immerhin mit »scharfen Augen« betrachten) eingenommen wird; der Erzähler würde dann schildern, wie der Erzählkreis Dantes Schweigen interpretiert. Offenkundig sichtbar ist des Dichters Zittern (»Er bebte vor Frost«), das die höfische Gesellschaft mildtätig und mitfühlend stimmt: »seine feinfühligen Zuhörer empfanden mit ihm«. Zum wiederholten Male vermischen sich dann Außenperspektive des Erzählkreises und Innenperspektive Dantes, indem beschrieben wird, wie die Zuhörer gemeinsam »mit ihm« empfinden, »daß ihn kein eigenes Heim, sondern nur wandelbare Gunst wechselnder Gönner bedache und vor dem Winter beschirme, welcher Landstraße und
Dante erläutert vor Beginn seiner Geschichte: »euer Inneres lasse ich unangetastet, denn ich kann nicht darin lesen« (S. ). Die länger gewordene Nase könnte wiederum gegen die Zuverlässigkeit Dantes sprechen; ›Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino‹ erschien in Italien seit .
Feldweg mit Schnee bedeckte«. Empathisch betont der Rahmenerzähler, wie ein Gedanke auf die Gesellschaft einwirkt (»Alle wurden es inne«) und zuerst denjenigen erreicht hat, der die größte Verantwortung trägt und »von großer Gesinnung war«, nämlich den Fürsten Cangrande: »Hier sitzt ein Heimatloser!« Mitleidsvoll handelt der Fürst, schüttelt den Narren von seinem Mantel und geht »auf den Verbannten zu«, geleitet ihn schließlich zu seinem eigenen Platz nahe dem Feuer: »›Er gebührt dir‹, sagte er und Dante widersprach nicht«. Auf subtile Weise bewertet der Rahmenerzähler eine Nicht-Handlung, denn über Dante ist eigentlich nur zu sagen, daß er kommentarlos einen anderen Platz einnimmt. Die Formulierung »widersprach nicht« impliziert eine Zustimmung Dantes, die allerdings dem Charakter des geschickt manipulierenden, selbstgefälligen Dichters gemäß wäre. Demnach ist der Platztausch einer findigen Handlungsweise Dantes geschuldet: indem er (ausnahmsweise) nicht spricht, Cangrandes Vorwürfe also unbeantwortet läßt, stilisiert er sich – mit Hilfe des Rahmenerzählers! – als bemitleidenswertes Opfer. Der Erzählkreis wäre demnach einer Finte Dantes beziehungsweise des Rahmenerzählers aufgesessen, die den Dichter nicht nur dem wärmenden Herdfeuer näherbringt, sondern dem Fürsten überdies seine beiden Frauen abspenstig macht. Dantes Plazierung zwischen Diana und Antiope ist ihrerseits der Position Astorres gemäß, der beide Frauen sogar ehelicht. Dem Dichter gelingt es also, nicht bloß eine virtuose Spiegelung aller Charaktere der Rahmenerzählung in die Binnenerzählung vorzunehmen, er vermag auch seinen persönlichen Nutzen aus der Geschichte zu ziehen, indem er ihm mißliebige Zuhörer abstraft und sogar den Fürsten von seinem ihm gemäßen Platz verdrängt und beide Frauen seines Gönners für sich einnimmt. Der artistische Umgang mit der Fiktion der Binnenerzählung wird auch auf der Rahmenebene vollzogen, indem es dem Rahmenerzähler auf nicht minder subtile Weise gelingt, dem Erzähler Dante zu seinem vermeintlichen Recht zu verhelfen. Manipuliert wird demnach allerorten, etwaige Authentizität wird torpediert, und immer wieder kommt Fiktion in ihrer Fiktionalität zur Sprache.
Man beachte auch die poetisch ›einfühlsame‹ Stilisierung durch Alliteration (»wandelbare Gunst wechselnder Gönner«) sowie Assonanz (»Feldweg mit Schnee bedeckte«). Downing, Double Exposures, S. : »This is arguably the only real action or event in the novelle, or rather, in its frame.« Die Konkurrenz zwischen dem Fürsten und dem Dichter ist mehrfach Gegenstand der Unterbrechungen. Eindringlich, jedoch mit anderem Schwerpunkt interpretiert Downing, Double Exposures, S. , den Platzwechsel: »As we said at the outset, the exchange of places that Cangrande proposes and Dante accepts is clearly the most important point in the novelle, a ›Wendepunkt‹ in the frame coming at the ›Wendepunkt‹ of the narrative.« – Vgl. auch Anm. .
Dem Platzwechsel ist schon zu Beginn der Novelle ein Berufswechsel vorausgegangen: Der frühhumanistische, gesellig-ausgelassene Erzählkreis, der sich an so genuin burlesken Themen wie der Mönchsentkuttung ergötzt, hat mit Dante Alighieri eine Ausnahmegestalt in seinen Reihen. Wird mit den ersten Sätzen der Erzählung »die Boccaccio-Tradition heraufbeschworen, indem dieser Kreis, als Dante hinzutritt, sich schon mit Geschichtenerzählen beschäftigt, welches Erzählen, wie an jedem ›Tag‹ Boccaccios, unter einem bestimmten Thema steht«, so hätte man weit eher den Dichter des ›Decamerone‹ als den der ›Commedia‹ erwartet. Entsprechend verstört reagieren die Zeitgenossen Meyers auf seine Novelle. Louise von François schreibt ihm, es sei »der Dichter der Hölle, der Richter seiner Zeit, – dabei muß ich bleiben – zu groß zum Fabulisten«, und Paul Heyse merkt an: Nun haben Sie es gar gewagt, den größten Epiker zum Erzähler zu wählen, dessen Weise uns so vertraut und doch ewig fremd ist, und lassen ihn neben archaistischen Wendungen sich der modernsten Palettenkünste bedienen, während wir in der Vita nuova ein Exempel haben, wie er und seine Zeitgenossen sich betrugen, wenn sie mit der deutlich ausgesprochenen Absicht zu erzählen an eine Geschichte gingen. Ich wäre sehr begierig zu hören, was Sie zu dem barocken Rahmen um das gewaltige Bild verführt hat, was mit dem rätselhaften Scherz der gleichen Namengebung – in Bild und Rahmen – bezweckt ist, und warum Ihnen überhaupt der direkte Vortrag nicht angemessener erschien, da ja eine persönliche Beziehung gerade dieses Erzählers zu dem Stoffe nicht einleuchten will.
Dante tritt in der Rahmenerzählung mehrfach als Terzinendichter der ›Commedia‹ auf, nicht jedoch als Prosaist der ›Vita Nova‹. Seine Stilisierung zum »Fabulisten« leuchtet weder François noch Heyse ein, zumal auch die burleske Binnengeschichte »eine persönliche Beziehung gerade dieses Erzählers zu dem Stoffe« verhindere. Gegen solche Eingriffe wehrt sich Meyer und konstatiert, sein
Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . Man vgl. auch folgende Einschätzung Onderdelindens: »Es handelt sich um einen ›sinnlichen und mutwilligen Kreis‹, in dem zweideutig-anzügliche Geschichten erzählt werden. Moralische und religiöse Skrupel spielen hier keine Rolle: der Fürst betreibt offene Zweiweiberei, der anwesende Kleriker führt beim Verspotten des geistlichen Standes das große Wort, moralisierende Bemerkungen Dantes rufen sofort ›ein hübsches Gähnen‹ hervor. Der Gesamteindruck, den man von der Lebensatmosphäre dieser Gesellschaft gewinnt, ist denn auch der einer überzüchteten Dekadenz, in der alle Werte fragwürdig geworden sind außer dem einen, der uneingeschränkten Macht des Fürsten« (ebd. S. ). – Die Nähe zum ›Decamerone‹ Boccaccios betont auch Jäger, Poetische Auflösung, S. . Louise von François an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . Januar (Briefwechsel François–Meyer, S. ). Paul Heyse an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November . Hier zitiert nach K . – Auf die im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe zitierten Briefauszüge wird nur dann im Wortlaut zurückgegriffen, wenn keine eigenständige Briefausgabe vorliegt. Vgl. aber auch Anm. .
Dante »bedeutet einfach: Mittelalter« – als sei Dante ein beliebiger Repräsentant für eine längst vergangene Epoche. Anspielungen auf Boccaccio, den ›Vater der Novelle‹, bietet der Text auch über seine Ausgangssituation mit der munteren Erzählgesellschaft hinaus. Dante etwa bezieht sich auf ein »modisches Märchenbuch«, das zwar mit »vielem Wuste« geziert sei, sich jedoch auch durch ein »wahres Wort« auszeichne: »Liebe ist selten und nimmt meistens ein schlimmes Ende« (alle Zitate S. ). Dieser mögliche Verweis auf das ›Decamerone‹ kann text-extern ergänzt werden durch Boccaccios Beschreibung Dantes, an die sich Meyer zumindest in puncto »Adlernase«, Lippe und gedankenvolle Gesichtszüge angelehnt haben könnte. Meyers Novelle hätte nicht zuletzt aufgrund des ›entkutteten Mönchs‹ allen Grund, sich auf das ›Decamerone‹ und damit auf den Erzähler Boccaccio zu beziehen. Nicht umsonst jedoch greift der Text auf Dante zurück, denjenigen Dichter, der Louise von François nicht unplausibel »zu groß zum Fabuli-
Conrad Ferdinand Meyer an Paul Heyse, Brief . November . Hier zitiert nach K , wo es vollständiger heißt: »Mein Dante am Herde ist nicht von ferne der große Dichter, welchen ich in Ehrfurcht unberührt lasse, sondern eine typische Figur und bedeutet einfach: Mittelalter. Er dient, den Leser mit einem Schlag in einem ihm fremde Welt zu versetzen, wo ein Mönch z. B. etwas ganz anderes vorstellt, als im letzten Jahrhundert. Er dient ferner dazu, das Thema herrisch zu formulieren, woran mir, dieses Mal, liegen mußte. Wenn nun einer aus Dantes Rede auch noch eine Warnung an Ezzelin vor Astrologie u. Grausamkeit u. seiner kleinen Freundin vor Schlag oder Stich herausliest, so steht es ihm frei. Einem persönlichen alten Gefühle: Dante habe sein Florenz über das Maß grausam behandelt, Luft zu machen, verführte dann die Gelegenheit.« »Ich will euch einen unverwerflichen Zeugen bringen. Es schleppt sich hier im Hause ein modisches Märchenbuch herum. Darin mit vorsichtigen Fingern blätternd, habe ich unter vielem Wuste ein wahres Wort gefunden. ›Liebe‹, heißt es an einer Stelle, ›ist selten und nimmt meistens ein schlimmes Ende.‹« (S. ) So zumindest Alfred Zäch, einen markanten Anachronismus voraussetzend, im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe: »Vielleicht ist an Boccaccios Decamerone zu denken« (K ). – Auch die Figur des florentinischen Händlers Niccolò Lippo dei Lippi mag an das ›Decamerone‹ erinnern, sofern man eine Namensähnlichkeit zum Messer Niccola da San Lepidio (›Decamerone‹, . Tag, . Geschichte) feststellen möchte. Vgl. Anm. . Boccaccios Beschreibung hat Conrad Ferdinand Meyer aus J. I. Krazewskis ›Dante. Vorlesungen über die Göttliche Komödie, Dresden ‹ entnehmen können (K ). Boccaccios Beschreibung Dantes lautet dort: »Unser Dichter war mittleren Wuchses, und im späteren Alter hielt er sich ein wenig gebeugt – von ernstem und angenehmem Gesichte. Er kleidete sich immer ernst, wie es seinem Alter geziemte. Er hatte ein längliches Gesicht, eine Adlernase, die Augen eher groß als klein, das Kinn länglich, die Oberlippe etwas hervorstehend, die Gesichtsfarbe dunkel, den Bart schwarz und kraus und das Antlitz immer gedankenvoll und trübe« (K ).
sten« scheint. – In einer »hochgelegenen Kammer« ist Dante untergebracht, aus der er zu Beginn der Geschichte herabsteigt. Cangrande hat Dante am Tage »mit dumpfen Gesange Verse skandieren« hören, bittet nun jedoch »die Hand, welche heute Terzinen geschmiedet hat […] das Spielzeug eines kurzweiligen Geschichtchens, ohne es zu zerbrechen, zwischen ihre Finger zu nehmen« (alle Zitate S. ). Dantes Studierstube ist also der Ort ernster, kunstvoller Verse, während der gesellige Erzählkreis Kurzweil und Unterhaltung bevorzugt. Wenngleich das Geschichtenerzählen von Ascanio als »harmloses Spiel« (S. ) abgetan wird, differenziert Cangrande zwischen dem harten Tagwerk des Verseschmiedes gegenüber der ziselierten Abendunterhaltung des Geschichtenerzählers. »Ohne es zu zerbrechen« möge Dante ein »Geschichtchen« zwischen seine Finger nehmen. Der Dichter, dessen Schattenbild einer Parze gleicht (also einer der drei Spinnerinnen, oder Schreiberinnen, des Schicksals), solle dabei die ihm sonst vertrauten Musen, Schutzgöttinnen der Künste, beurlauben. Demnach handelt es sich bei der prosaischen Geschichte, anders als bei den Terzinen der ›Commedia‹, nicht um ein Kunstwerk beziehungsweise um eines, das erst durch den Dichter Dante nobilitiert wird. Dem Erzählkreis zum Gefallen möge Dante sich nun mit den »schönen Sterblichen« (S. ), nämlich seiner unmittelbaren Umwelt, der ›Realität‹, vergnügen. Der »Homer und Virgil Italiens« – tatsächlich also einer der »größten Epiker« wie Paul Heyse anmerkt – solle sich auch intellektuell »herablassen«. Ascanio bittet: »Verschmähe es nicht, du Homer und Virgil Italiens«, bat er, »dich in unser harmloses Spiel zu mischen. Laß dich zu uns herab und erzähle, Meister, statt zu singen.« (S. )
Louise von François an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . Januar (Briefwechsel François–Meyer, S. ). Vgl. auch Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . »Hartes Tagewerk« wird dem Mönchen vor Ablegung der Kutte von seinem Fürsten Ezzelin zugesprochen (S. ). Dies ist nur eine der zahlreichen Spiegelungen Astorre–Dante und Ezzelin–Cangrande. Vgl. Kittler, Traum und Rede, S. : »Während Dante ›Parze‹, d. i. Schicksalsmacht heißt, ist der Held wesentlich Opfer des Schicksals.« Die Mutmaßung stammt vom Rahmenerzähler; Cangrande fordert Dante auf: »›Beurlaube die Göttinnen‹ – er meinte wohl die Musen – ›und vergnüge dich mit diesen schönen Sterblichen.‹ Der Scaliger zeigte seinem Gaste mit einer leichten Handbewegung die zwei Frauen« (S. f.). Mit dem Prosaisten Boccaccio als Erzähler könnte diese Nobilitierung nicht gelingen. – Vgl. auch Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. , mit der wichtigen Feststellung: »Differenz und Gefälle zwischen Versdichtung und Prosaerzählung sind vor dem Hintergrund einer Gattungspoetik zu sehen, welche die oratio prorsa [sic; ungebundene Rede] abwertet: Wenn Meyer, der selbst stets seine Novellen weit über die Lyrik gestellt hat, Dante erzählen läßt, so bedeutet dies auch eine Nobilitierung der Prosagattung.« Paul Heyse an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November . Hier zitiert nach K .
Der Konvention dieses Spiels entsprechend fragt Dante nach dem Thema des Abends: »›Plötzlicher Berufswechsel‹, antwortete der Jüngling bündig, ›mit gutem oder schlechtem oder lächerlichem Ausgange‹« (S. ). Tatsächlich wird im folgenden nicht bloß der Mönch qua Entkuttung einen Berufswechsel vollziehen, sondern auch der Dichter Dante, der, vollkommen inadäquat, eine Geschichte erzählt, die dann tatsächlich sein authentisches Umfeld spiegelnd fiktionalisiert. Cangrande mißt Dantes Geschichte an ›Fakten‹, die ihm bereits aus der ›Commedia‹ bekannt sind. Nachdem Dante berichtet hat, wie Ascanio Ezzelin einen Zettel vorliest, dem zufolge Kaiser Friedrich II. geäußert habe »drei Gaukler, Moses, Mohammed und – er stockte – hätten die Welt betrogen« (S. ), wartet Cangrande die nächste Sprechpause Dantes ab, um ihn dann zu unterbrechen. Er fragt den Dichter: »Traust du dem unsterblichen Kaiser jenes Wort von den drei großen Gauklern zu?« »Non liquet.« »Ich meine: in deinem innersten Gefühle?« Dante verneinte mit einer deutlichen Bewegung des Hauptes. »Und doch hast du ihn als einen Gottlosen in den sechsten Kreis deiner Hölle verdammt. Wie durftest du das? Rechtfertige dich!« »Herrlichkeit«, antwortete der Florentiner, »die Komödie spricht zu meinem Zeitalter. Dieses aber liest die fürchterlichste der Lästerungen mit Recht oder Unrecht auf jener erhabenen Stirne. Ich vermag nichts gegen die fromme Meinung. Anders vielleicht urteilen die Künftigen.« (S. f.)
Dantes juristisch geprägtes »non liquet« zielt auf die Unbeantwortbarkeit der Frage ab: es ist nicht klar, es gibt keine Gewißheit darüber, es ist unentscheidbar, ob der Staufer sich derart häretisch geäußert habe. Cangrandes Insistieren nötigt Dante dann doch eine Einschätzung ab, nach seinem »innersten Gefühle«. Indem der Dichter durch das verneinende Kopfschütteln erklärt, er traue Friedrich »jenes Wort« nicht zu, kann Cangrande (»Rechtfertige dich!«) zum Angriff übergehen. Er fragt, wie es sich Dante erlauben konnte, den Kaiser »in den sechsten Kreis deiner Hölle« zu verdammen, wenn er doch an dessen Unschuld glaube. Cangrande geht also von einem biographistischen Autormodell aus, das den Verfasser für seinen Text insofern verantwortlich macht, als dessen reale Überzeugungen auch die vom Text vermittelten Überzeugungen sein müssen. Dante hingegen verweist auf aktuelle und künftige In
Für Astorre formuliert Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. , noch drastischer: »Das von Dante gewählte Beispiel, die Geschichte der Verweltlichung des Mönchs Astorre, ist nicht nur die Geschichte eines Berufswechsels, sondern die eines radikalen und schließlich tragisch scheiternden Lebenswechsels, mit dem eine ebenso radikale Transformation der Person einhergeht.« Vgl. auch Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . Nachdem sich Dante über den Narren Ezzelins beziehungsweise Cangrandes lustig gemacht hat, bemüht sich der Fürst um Revanche: »Er versprach sich im stillen, bei erster Gelegenheit mit Wucher heimzuzahlen« (S. ).
terpreten der ›Komödie‹, die jeweils »mit Recht oder Unrecht« über die Authentizität der Lästerung stritten. Cangrande gibt sich nicht zufrieden und stellt den Dichter wiederum auf die Probe: »Mein Dante«, fragte Cangrande zum andern Mal, »glaubst du Petrus de Vinea unschuldig des Verrates an Kaiser und Reich?« »Non liquet.« »Ich meine: in deinem innersten Gefühle?« Dante verneinte mit derselben Gebärde. »Und du lässest den Verräter in deiner Komödie seine Unschuld beteuern?« »Herr«, rechtfertigte sich der Florentiner, »werde ich, wo klare Beweise fehlen, einen Sohn der Halbinsel mehr des Verrates bezichtigen, da schon so viele Arglistige und Zweideutige unter uns sind?« (S. )
Erneut versucht Dante, sich einer Bewertung zu enthalten, wird hinsichtlich seiner »innersten Gefühle« zu einer Antwort gezwungen und sogleich gescholten: wie komme er dazu, denjenigen in seiner ›Komödie‹ seine Unschuld beteuern zu lassen, den er selbst für schuldig halte? Dante verweist diesmal auf »klare Beweise«, die für eine Verurteilung von Petrus de Vinea fehlten. Während im ersten Fall die Autonomie der Dichtung durch ihre Unabhängigkeit vom Verfasser bekräftigt wird, wird im zweiten Fall auf die Uneindeutigkeit schon des authentischen Falles verwiesen; Dichtung darf mehr als in der Realität zulässig wäre – und sie realisiert es auch. Cangrande resigniert: »Dante, mein Dante, […] du glaubst nicht an die Schuld und du verdammst! Du glaubst an die Schuld und du sprichst frei!« Der anschließende scherzhafte Versuch des Fürsten, die Geschichte selbst fortzusetzen, scheitert. Dante beharrt auf seinem Recht, korrigiert seinen Gönner und nimmt die Erzählung wieder auf. Anhand der ›Commedia‹ hat Dante also deutlich gemacht, daß Fiktion gerade keine Widerspiegelung von Realität ist und das Kunstwerk daher anderen moralischen Bewertungen folgen kann, als sie in der ›wirklichen‹ Welt berechtigt wären. Zu fragen bleibt, ob dies auch für Dantes Prosa gilt, die er an diesem Abend im Erzählkreis entwickelt. Der »plötzliche Berufswechsel«, dem sich Dante unter dem mehr oder minder sanften Druck seines Fürsten zu fügen hat, kann in »gutem oder schlechtem oder lächerlichem Ausgange« (S. ) enden.
Als Rückgriff mag Dantes späterer Kommentar zur Herrschaftsgeste Dianas an Antiope gelten, dem (womöglich) gekrümmten Finger, von dem Antiope den Ring abziehen soll: »Ob Antiope es sich einbildete? Ob Diana wirklich dieses Spiel trieb? Wie wenig ist ein gekrümmter Finger! Cangrande, du hast mich der Ungerechtigkeit bezichtigt. Ich entscheide nicht« (S. ). – Jäger, Poetische Auflösung, dem die gesamte Binnenerzählung als »grotesk« (S. ) und als »Farce« (S. ) gilt, vermerkt: »Dante, der Erfinder seiner Geschichte, verweigert eine eindeutige Sinngebung der Schlußszene und läßt es offen, ob sich in Dianas erhabener Rache nicht einfach ihr Hang zum Jähzorn bestätigt. Das vermeintlich tragische Ende wird vollends zur Farce durch den sinnlosen Tod von Germano, den Astorre hinterrücks ersticht, obwohl er weiß, daß er nicht der Mörder Antiopes ist, und den ebenso sinnlosen Tod Astorres« (S. ).
Zwei Mönchsgeschichten hat die Gesellschaft bereits gehört; von Germano diejenige, in der sich der Mönch Manuccio entschließt, Krieger zu werden, und von Isotta diejenige, in der Helene Manente ihr Nonnengelübde bricht, um sich ihrem »wunderbar« (S. ) erretteten Freund zuzuwenden. Dante befürwortet diese ›Berufswechsel‹, da der vormals Geistliche jeweils »aus eigenem Triebe« gehandelt habe. Der Dichter jedoch werde sprechen von einem ganz anderen Falle: wenn nämlich ein Mönch nicht aus eigenem Triebe, […] sondern einem andern zuliebe, unter dem Druck eines fremden Willens, wenn auch vielleicht aus heiligen Gründen der Pietät, untreu an sich wird, sich selbst mehr noch als der Kirche gegebene Gelübde bricht und eine Kutte abwirft, die ihm auf dem Leibe saß und ihn nicht drückte. Wurde das schon erzählt? Nein? Gut, so werde ich es tun. (S. )
Dante, der selbst dem Druck eines fremden Willens ausgesetzt ist, der sein ›Versgewand‹ abwerfen muß, obgleich es »ihm auf dem Leibe saß und ihn nicht drückte«, wird zum Geschichtenerzähler degradiert. Bevor er derart »untreu an sich wird«, fragt er seinen Fürsten nach dem Ausgang der Geschichte. »Notwendig schlimm«, antwortet dieser, was Dante nur bestätigen kann: Du redest Wahrheit, Herr, […] und nicht anders, wen ich ihn verstehe, meint es auch der Apostel, wo er schreibt: daß Sünde sei, was nicht aus dem Glauben gehe, das heißt aus der Überzeugung und Wahrheit unserer Natur. (S. )
Dante, der von Cangrande als ›Commedia‹-Dichter, nämlich als »der Wanderer durch die Hölle« (S. ) betrachtet wird, ist von Natur aus dem künstlich stilisierten Wort zugeneigt. Erzählen als widernatürliche Sünde hat in diesem Fall ungünstige Konsequenzen: »Notwendig schlimm« wird der ›Berufswechsel‹ für den Mönch enden und folgerichtig auch für Dante.
»›Er tat recht‹, erklärte Dante« (S. ). »›Sie tat gut‹, sagte er« (S. ). Zu einer Parallele in der ›Commedia‹ vgl. Evans, Formen der Ironie, S. f. Evans sieht die beiden Mönchsgeschichten überdies als ›Intertexte‹, die auf Conrad Ferdinand Meyers ›Der Heilige‹ und ›Plautus im Nonnenkloster‹ verweisen (ebd., S. ). – Downing, Double Exposures, S. , weist darauf hin, daß sich bereits in Germanos und auch in Isottas Geschichte der Erzähler im Helden widerspiegelt. Bereits zu Beginn der Novelle erläutert der Rahmenerzähler (mit einem Kommentar zur ausbleibenden Reaktion auf die Frage: »Muß es denn überhaupt Mönche geben?«) die Vormachtstellung des Fürsten auf eindeutige Weise: »Die dreiste und ketzerische Äußerung erregte hier kein Ärgernis, denn an diesem Hofe wurde das kühnste Reden über kirchliche Dinge geduldet, ja belächelt, während ein freies oder nur unvorsichtiges Wort über den Herrscher, seine Person oder seine Politik, verderben konnte« (S. ) Daher leidet Dante auch mehrfach unter einer Sprachverrohung der Art des elsässischen Majordoms Burcardo, der »das Weich und Hart beharrlich verwechselte, den Hof ergötzend, das feine Ohr des Dichters aber empfindlich beleidigend« (S. ). Entsprechend »kräht« der Burcardo der Binnengeschichte aufgrund seiner »barbarischen Aussprache« (S. ).
Tatsächlich stirbt Astorre, läuft in Germanos Schwert, kurz nachdem dieser ihn noch ermahnt hat: »Geh in dein Kloster zurück, Astorre, das du nie hättest verlassen sollen!« (S. ) Der Fürst, der sich an den tragischen Verstrickungen als »der Hauptschuldige« (S. ) bekannt hat, kann nicht mehr helfend eingreifen: Ezzelin betrachtete den Tod. Hernach ließ er sich auf ein Knie nieder und drückte erst Antiope, darauf Astorre die Augen zu. In die Stille klang es mißtönig herein durch ein offenes Fenster. Man verstand aus dem Dunkel: »Jetzt schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope.« Und ein fernes Gelächter. (S. )
Dante verläßt mit diesem Ende der Geschichte seinen Platz: »Dante erhob sich. ›Ich habe meinen Platz am Feuer bezahlt‹, sagte er, ›und suche nun das Glück des Schlummers‹« (S. ). Dantes Geschichtenerzählen habe also die Entlohnung beziehungsweise den Platzwechsel gerechtfertigt, wie der Dichter selbstbewußt äußern kann. Sein Wunsch nach »Schlummer« mutet angesichts der Anstrengung natürlich an, ist jedoch bedeutungsschwer, wenn man den unmittelbaren Kontext berücksichtigt. Die Binnengeschichte beendet Dante mit dem Tod der Liebenden, denen hämisch nachgerufen wird: »Man verstand aus dem Dunkel: ›Jetzt schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope.‹ Und ein fernes Gelächter« (S. ). Dante kehrt damit zu seiner Ausgangsposition zurück, der Entwicklung einer Geschichte aus einer Grabschrift. »Notwendig schlimm« (S. ) sollte die Geschichte enden, und tatsächlich endet der ›Berufswechsel‹ schlimm, nämlich tödlich. Die Konsequenz für Dante, der sich mit seiner Prosageschichte einem ›Berufswechsel‹ unfreiwillig unterziehen mußte, ist fatal. Das »Glück des Schlummers« wird von ihm herbeigesehnt, verbunden mit der Gebetsformel: »Der Herr der Friedens behüte uns alle!« Was als fiktionales, unterhaltsames Spiel begonnen und sich durch Spiegelungen an der ›Realität‹ des Erzählkreises rückgebundenes Erzählen entwickelt hat, nimmt seine mehr als ernste, nämlich tödliche Konsequenz. Dante ist den prosaischen Maßstäben, die dem ›Commedia‹-Dichter gegen seine Natur auferlegt worden sind, schließlich bis in den Wortlaut gefolgt. Die für Dante folgenreiche Aufforderung: »erzähle, Meister, statt zu singen« (S. ), hat die Möglichkeiten einer durchweg ›realistischen Kunstprosa‹ offenbart. Der Tod Dantes – der dem Erzählspiel unangemessen wäre, gäbe nicht die spiegelnde
Cangrande spricht die Worte »ohne Besinnen« (S. ), womit sich der Ausgang der Novelle als Resultat einer affektvoll-tragischen Kurzschlußentscheidung darstellen ließe. Der Text gibt nicht explizit Hinweise auf einen möglichen Tod Dantes (wenngleich der Dichter immerhin seine Tage »entschlüpfen fühlte«, S. ), auch ist eine vollkommene Oppositionsbildung zwischen Rahmen- und Binnenerzählung keineswegs möglich (in der Rahmenerzählung gibt es etwa keinerlei Anzeichen für einen Tod Antiopes oder Germanos); die vorliegende Interpretation möchte einzig das Motiv des ›plötzlichen Berufswechsels‹ stärker als bislang berücksichtigen, nämlich auch für die
Binnengeschichte allzu viele Anhaltspunkte für eine solche Interpretation – hat nicht zuletzt die Macht der Fiktion über diejenige der Realität gestellt: Astorres tödlicher ›Berufswechsel‹ gibt dem Dichter die famos genutzte Chance, seine Kunst auch in der Erzählung unter Beweis zu stellen – der tödliche Ausgang kann, so scheint es, dafür in Kauf genommen werden.
. ›Die Hochzeit des Mönchs‹ als beispielhafte Novelle des Realismus Conrad Ferdinand Meyers ›Die Hochzeit des Mönchs‹ hat späteren Interpreten immer wieder Anlaß gegeben, Grundzüge des Realismus gerade anhand dieser Novelle zu erläutern. Die zeitgenössischen Fachgenossen hingegen standen Meyers Novelle ratlos und befremdet gegenüber. Insbesondere Paul Heyse intervenierte bei seinen Briefpartnern; Theodor Storm fragte er: Was aber sagst Du zu C. F. Meyer’s ›Hochzeit des Mönchs‹, mit der erkünstelten, noch dazu historisch sehr bedenklichen Rahmen-Erfindung? Die Novelle an sich ist so höchst eigenthümlich, daß ich wahrhaft erbost bin auf den affectirten Vortrag, der zwischen Altertümelei und modernstem Raffinemente hin u. her schwankt.
Gottfried Keller gegenüber heißt es: Die prachtvolle Novelle hat er durch seinen verkünstelten Rahmen und die nach Edelrost schmeckende Schnörkelrede fast ungenießbar gemacht. Mich dünkt, er lebt zu einsam, er hört immer nur sich reden, auch nirgend einen Widerspruch kritischer Freunde. Diesmal habe ich mich geopfert und ihm meine Bedenken nicht verhehlt. Ich weiß, daß nichts damit gewonnen ist, und vielleicht er mir verloren. Aber es mußte heraus.
Rahmenerzählung plausibel machen. – Zum Tod in ›Der Hochzeit des Mönchs‹ vgl. Peter Sprengel, Zugänge zur Unterwelt. Todes-Lust und Mythologie im Spätwerk C. F. Meyers. (Die Hochzeit des Mönchs, Die Richterin). In: Wirkendes Wort, , , S. –. Zwar durchaus mit unterschiedlicher Akzentuierung, aber immer mit der Frage nach ›realistischer‹ Rückbindung verfahren demgemäß die Arbeiten etwa von Sjaak Onderdelinden, Eric Downing, Christof Laumont und Wolfgang Lukas. Von positiven, gar euphorischen Reaktionen berichtet hingegen Julius Rodenberg. Vgl. Rodenbergs Briefe an den Dichter zwischen dem . Dezember und dem . März . Conrad Ferdinand Meyer und Julius Rodenberg. Ein Briefwechsel, hg. von August Langmesser, Berlin , S. –. Paul Heyse an Theodor Storm, Brief vom . November . Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Bd. : –, hg. von Clifford Albrecht Bernd, Berlin , S. f.; hier S. . Paul Heyse an Gottfried Keller, Brief vom . Dezember . Hier zitiert nach dem Briefwechsel Storm–Heyse, S. . – Zu Heyses Brief an Meyer vgl. Anm. .
Während Storm sich eher gegen Aspekte der Binnenhandlung dieser »zusammengekramten Geschichte« wendet und den Rahmen immerhin »wunderlich« nennt, geht Keller etwas detaillierter auf Heyses Kritik ein: Der Rahmen zu F. Meyers »Hochzeit des Mönchs« ist allerdings ein seltsames Ding, da eine einzelne Novelle ja gar keinen Rahmen braucht und der Autor sich ohne allen Grund des Selbsterzählens, d. h. des freien Stils begibt. Meyer hat meines Bedünkens sich von der Höhe der reinen Form zum Berge der Manieriertheit hinübergeschwungen, was in einem Gran närrischen Wesens seinen Grund haben mag, das ihm angeboren scheint und in einer gewissen Neigung besteht, sich etwas aufzublasen, in naiver Weise. Denn er substituiert sich keinen Geringern als Dante, um die Komposition der vorzutragenden Geschichte Stück für Stück selbst bewundern zu können. Ich habe ihm darum auch kein Wort hierüber gesagt, weil ihn diese Andeutung beleidigt hätte. Dennoch sind auch in diesem Rahmen sehr schöne Züge.
Paul Heyse gilt ›Die Hochzeit des Mönchs‹ im negativen Sinne als »eigenthümlich«, »erkünstelt«, »verkünstelt«, »affectiert«, »fast ungenießbar«. Gottfried Keller nennt sogar Rahmung generell einen »Manieriertheit«, »da eine einzelne Novelle ja gar keinen Rahmen braucht«. Die ungerahmte Erzählung, die sich durch »freien Stil« und somit »reine Form« auszeichnen könne, wird von Keller entschiedenen bevorzugt, womit er die Artistik der Meyerschen Rahmenerzählung gar auf das »närrische Wesen« ihres Verfassers zurückführt. Während Keller für die Erzählprosa eine ›ungestörte Darstellung‹ empfiehlt, scheint Heyse die Rahmung nicht generell abzulehnen, sondern vielmehr die Meyer
Theodor Storm an Paul Heyse, Brief vom . Januar : »Vorgestern mußte ich meine vorsichtig genug verbrachten Festtage im Bett abbüßen, wobei ich mir einen Theil der ›Hochzeit des Mönches‹ vorlesen ließ. Mir ist bis dahin, wo die Anthiope das Hälschen auf den Block neben den des Vaters legt, die Langeweile nicht ausgegangen; es ist bis dahin ohne alle Seele erzählt und unmöglich, diese zusmammengekramte Geschichte als ein wirkliches Erlebniß zu empfinden. Dann aber freilich beginnt eine prächtige Geschichte, es kommt auf einmal Blut u. lebendige Bewegung hinein, bis das allerletzte Ende mir wieder – gelinde gesagt – zu gewöhnlich erscheint; ich meine den Mord der Anthiope durch das Mannweib. Es ist wie im Jenatsch. / […] Bei der ›Hochzeit‹ ist übrigens dem Verfasser der wunderliche Rahmen eine besondre Hauptsache.« Briefwechsel Storm–Heyse, S. f. Gottfried Keller an Paul Heyse, Brief vom . Dezember . Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. ., hg. von Carl Helbling, Bern , S. –; hier S. . – Keller verzichtet Meyer gegenüber auf Kritik und schreibt ihm, er habe sich an »der erreichten Stilhöhe […] sowie des Inhalts« erfreut (Gottfried Keller an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November ; ebd. S. ). – Die vorliegende Arbeit verzichtet darauf, die historisch-kritische Ausgabe der Briefwechsel Conrad Ferdinand Meyers zu zitieren; deren diplomatischer Abdruck der Texte (in Bd. sogar mit Nachbildung des Zeilenfalls) ist für die Zwecke dieser Arbeit schwerlich nutzbar. Wie stark die biographistische Lesart vorherrscht, wird deutlich, wenn Keller Meyer vorwirft: »er substituiert sich keinen Geringeren als Dante, um die Komposition der vorzutragenden Geschichte Stück für Stück selbst bewundern zu können.« Diese Kritik mag auch in Heyses Einschätzung anklingen, Meyer höre »immer nur sich reden«.
sche Realisierung zu kritisieren. »Historisch sehr bedenklich« scheint ihm die »Rahmen-Erfindung«, in der Meyer den Epiker Dante als Geschichtenerzähler auftreten läßt. Damit bezieht er sich auf denselben Kritikpunkt, den ganz ironisch bereits Louise von François vortrug: »der Dante versteht sich ja auf vornehme Klatschgeschichten«. Ungeachtet der Skepsis, die Meyers Novelle von den Zeitgenossen entgegenbracht worden ist, hat die literaturwissenschaftliche Forschung mit unterschiedlichsten Ansätzen den ›poetischen Realismus‹ der ›Hochzeit des Mönchs‹ erläutert. Sjaak Onderdelinden hebt die »Modellhaftigkeit der Novelle« hervor: sowohl als Spezimen gerahmten Erzählens, als Paradigma der Entstehung von Erzählen überhaupt, wie auch als dargestelltes Weltbild, einerseits in der Konstellation der stilisierten Charaktere, andererseits in der an Hand dieser Charaktere erzählten gesellschaftlichen Bewegungen und ihrer dialektisch mitzudenkenden Kontrafaktur.
Während ein solches Schema die Novelle an die zeitgenössische Wirklichkeit rückbindet, verweist Christof Laumont auf (mitunter sehr fragwürdige) »Probabilität und Plausibilität« der Erzählung, wonach der Realismus der Novelle in ihrer Wahrscheinlichkeit und Folgerichtigkeit liege. Eric Downing betont die Analogie der Rezeptionshaltung innerhalb und außerhalb des Textes, mit der jeweils der Rezipient dem Erzähler einer Geschichte zu folgen hat. Überdies macht er darauf aufmerksam, daß der »real-making effect to the exchange between the frame and story« wechselseitig auftritt: zum einen sind die fiktiven Binnenfiguren Spiegelbilder der ›realen‹ Rahmenhandlung, zum anderen erweitern die Rahmenfiguren ihre Kenntnisse über ihre ›reale‹ Umwelt anhand der fiktiven Binnenerzählung. Pointiert formuliert Downing: It is precisely in this function of double exposure that the principle of trading places is most decisively at work in shaping reality and affecting a poetic realism; that is, in shaping the reality of both the story and the frame, where the reality of the frame affects the fiction of the story, which then in turn can again affect the reality of the frame. Moreover, this self-reflective function or effect of the doubling can be expected to open up the possibility for further exchanges and further shaping of the story’s reality, not least through the move from denial to recognition, from unconscious to conscious re-presentation of the reality governing the narration.
Vgl. Heyses Brief an Meyer (Anm. ). Louise von François an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November ; Briefwechsel François–Meyer, S. . Onderdelinden, Rahmenerzählungen C. F. Meyers, S. . Zu Onderdelindens Ansatz vgl. auch Anm. . Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. . Downing, Double Exposures, S. . – Der Leser folgt, anders als Dantes Zuhörer, natürlich zwei Geschichten, nämlich Rahmen- und Binnenhandlung, wie auch Downing feststellt. Ebd., S. ; Downing verweist auf die Bewunderung des Fürsten Cangrande, nachdem seine Gattin Diana vehement für ›ihre‹ Binnenfigur eingetreten ist (S. ). Ebd., S. .
Derart markierte beziehungsweise grenzzerstörende Übergänge von ›Realität‹ und ›Fiktion‹ gehen einher mit der Differenzierung von absoluter Beglaubigung und absoluter Poietisierung, wie Wolfgang Lukas anmerkt: Dem Bestreben, eine maximale Motiviertheit der Dichtung durch die vorgegebene Realität zu suggerieren und erstere damit in letzterer gleichsam aufgehen zu lassen, stehen all jene Strategien gegenüber, mit denen Dantes Erzählung eine Differenz von Realität und Literatur setzt und sich damit als selbständiges dichterisches Produkt thematisiert. Da, wo Teile der Erzählung als weglaßbar erscheinen oder geändert werden, rückgeführt wird oder überhaupt als Erfindung auftritt, kurzum, überall da, wo Dante als souveräner und willkürlicher Schöpfer erscheint, thematisiert sich Kunst als arbiträres Produkt einer Wahl zwischen Alternativen. Als Rekonstruktion einer vorgegebenen vergangenen Realität, als welche sich die Erzählung offiziell einführt, ist sie immer zugleich poetisches Konstrukt. In dieser doppelten Zielsetzung von Motiviertheit und ›Natürlichkeit‹ / Notwendigkeit einerseits und von Arbitrarität / Wahl andererseits manifestiert sich das realistische Programm mit seiner »Spannung zwischen der denotativen (referentiellen) und der ästhetischen Tendenz« bzw. mit seiner »paradoxen Tendenz, sowohl die Identität von Literatur und Realität anzustreben als auch gleichzeitig die Literatur von eben dieser Realität abzuheben«.
Bei der ›Hochzeit des Mönchs‹ ist jedoch keine Opposition auszumachen, die ›echte‹ Weltreferenz und ›ästhetische‹ Fiktion klar voneinander abgrenzen könnte, denn bereits der Grabspruch, von dem aus sich die Geschichte entwikkelt, ist nur eine »vorgegeben vergangene Realität«. Man kann sowohl davon sprechen, daß Meyers Novelle »die Identität von Literatur und Realität« anstrebe, als auch davon, daß sich »die Literatur von eben dieser Realität« ganz bewußt abhebe. Tamara Evans erinnert diesbezüglich an ein prominentes Ästhetisierungskonzept: Unter romantischer Ironie seien allgemein jene Kunstmittel gemeint, mit denen der Dichter seine Freiheit gegenüber seinem Gegenstand zum Ausdruck bringt und, spezifisch auf Die Hochzeit des Mönchs angewendet, die spielerische Art und Weise, mit der die Veronesischen Hörer und Meyers Leser immer wieder daran erinnert werden, dass der Realitätsanspruch der Binnenerzählung und des Rahmens – letzterer freilich in entschieden geringerem Ausmass und nur für die Leser – fiktiv ist.
Die zweifelsfrei erfundene Geschichte Dantes, deren Darstellung immer wieder unterbrochen, kommentiert, ergänzt und korrigiert wird, ist eingebettet in
Lukas, Kontingenz vs ›Natürlichkeit‹, S. . Die Zitate beziehen sich auf wesentliche Beiträge zur Realismusforschung von Rosmarie Zeller und Ulf Eisele. Evans, Formen der Ironie, S. . – So bereits Oskar Walzel, Die Kunstform der Novelle. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, , , S. –; hier S. : »Wirklich zerstört Dante in Meyers Erzählung, zerstört Meyer selbst immer wieder aufrichtig die Täuschung, die sie [wohl Dante und Meyer – LK] schaffen, und sie meiden es, der Täuschung den Schein der Wahrheit unterzuschieben. Das ist im höchsten und reinsten Sinn die Ironie, die von F. Schlegel für die Novelle gefordert wird.«
eine Rahmenerzählung, die nicht minder ironisiert beziehungsweise ästhetisiert ist. Nicht nur vermag der Rahmenerzähler als Komplize Dantes zu wirken, er entwirft auch eine ausgesprochen kühne poietische Ausgangssituation. In einem Ambiente und mit einer Geschichte, die Boccaccio gemäß wären, beginnt die Novelle mit dem Auftritt des großen Terzinen-Epikers Dante. Der Aufforderung des Fürsten, dieser möge ein »Geschichtchen« erzählen, kann sich der Dichter aufgrund der hierarchischen Strukturen schwerlich widersetzen. Er entwickelt jedoch eine höchst raffinierte Methode, dem Erzählkreis auf Gauklerart einen Spiegel vorzuhalten, und läßt es sich nicht nehmen, seinerseits einen ›intradiegetischen‹ Machtbereich abzustecken. Der tödlichen Konsequenz dieses »plötzlichen Berufswechsels«, so das Thema des Abends, weicht Dante nicht aus, und er vermag gleichzeitig, aus dem vormals harmlosen Gesellschaftsspiel ein ästhetisch hochentwickeltes Kunstwerk zu machen. Tatsächlich ist das poietische Moment in der ›Hochzeit des Mönchs‹ effektvoll ausgestaltet und mag demgemäß unter Manierismus-Verdacht stehen. Andererseits macht Meyers Novelle nur besonders deutlich, was sich ganz ähnlich anhand der Erzählungen etwa von Theodor Storm und Gottfried Keller unter Beweis stellen läßt: die Novelle des Realismus ist weit entfernt von einer ausschließlichen Ausrichtung auf (›realistische‹) Darstellung. Vielmehr erscheint das Erzählte als ›gemacht‹, es wird ›poietisch‹ dargeboten, nachgerade als Kunstwerk stilisiert, unter mehr oder minder offener »Vorweisung des poetischen Werkzeuges«. Conrad Ferdinand Meyer, der sich ›jeden Abend realistischer zu Bette legt, als er morgens aufgestanden ist‹, hat seiner Novelle ›Die Hochzeit
Vgl. auch Conrad Ferdinand Meyer an Betsy Meyer, Brief vom . Dezember : »Eine kleine Erwiderung: meine Fabel verlangt eine explosive Luft, und unter Ezzelin war sie wohl so in Padua. Die ›Ironie‹ (Vorweisung des poetischen Werkzeuges etc.) soll allerdings mildern, ist aber zugleich ein untrüglicher Gradmesser der entfalteten Kraft, da sie (die Ironie) alles Schwächliche sofort umbringt. Dann schien mir, ein Dante müsse ›erfinden‹, nicht erzählen« (K ). Vgl. auch Jäger, Poetische Auflösung, S. . Vgl. die Schilderung des Platzwechsels (S. –) und die Interpretation derselben in Kapitel . dieser Arbeit. Vgl. etwa auch Louise von François an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . Januar (Briefwechsel François–Meyer, S. ): »Der kunstvolle Rahmen, wie Sie es nennen, ist mir zu reich für das Gemälde«. Conrad Ferdinand Meyer an Carl Spitteler, Brief vom . Dezember : »ich lege mich zeither jeden Abend realistischer zu Bette als ich morgens aufgestanden bin. Mein Glaubensbekenntnis ist das Wort Merk’s zu Goete (sic): nicht das Poetische realisiren sondern das Reale poetisiren.« Briefe Conrad Ferdinand Meyers, nebst seinen Rezensionen und Aufsätzen hg. von Adolf Frey, Bd. , Leipzig , S. f.; hier S. . Zitiert auch bei Laumont, Formen und Funktionen der Allegorie, S. .
des Mönchs‹ den artistischen Rahmen vermutlich recht spät beigegeben. Ursprünglich plante er ein Drama, das er in Ansätzen wohl auch ausgeführt hat. Dem Vetter schickt er Manuskripte (»hier ist der ehemalige Act IV«), die dieser in Reinschrift reproduziert. Im handschriftlichen Nachlaß Meyers finden sich zwar keine dramatischen Entwürfe, wohl aber Blätter, die auf einen Bekenntnisbrief Astorres an einen Antonio, damit möglicherweise auf eine Briefnovelle schließen lassen. Auch die erhaltenen frühen Kapitelübersichten lassen nicht darauf schließen, daß eine Rahmung am Hof Cangrandes geplant gewesen ist, von der es später heißen wird, sie sei »de toute necessité, um den Leser in den richtigen Gesichtspunct zu stellen«. Meyer hat sich viel Kritik am Erzähler Dante gefallen lassen müssen. Seine abwehrenden Rechtfertigungsversuche wirken schwach, wenngleich ihnen ein wahrer Kern nicht abzusprechen ist: »Übrigens warum sollte Dante nicht gelegentlich, wie wir Andern, ein Geschichtchen erzählt haben?« Mit einer solchen Reduktion des »größten Epikers« auf einen Geschichtenerzähler geht jedoch zwangsläufig eine Nobilitierung der Geschichte einher. Paul Heyse hat diese Zusammenhänge zumindest erahnt – und er bewundert, bei aller sonstigen Kritik, die »modernsten Palettenkünsten«, mit denen die Novelle überreich versehen ist. Verhalten reagiert Conrad Ferdinand Meyer auf dieses Lob: »Über die ›modernsten Palettenkünste‹, lieber Freund, habe ich aufrichtig hier oben in Kilchberg ein bischen gelacht.«
Zur Entstehungsgeschichte der Novelle vgl. den Kommentar von Alfred Zäch in der historisch-kritischen Ausgabe (K –). Conrad Ferdinand Meyer an Fritz Meyer, Brief vom . Oktober ; zitiert nach K . Conrad Ferdinand Meyer an Friedrich von Wyß, Brief vom . Dezember ; zitiert nach K . Vgl. auch Anm. . Conrad Ferdinand Meyer an Otto Benndorf, Brief vom . Dezember ; zitiert nach K . So Paul Heyse über Dante (K ). Paul Heyse an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November (K ). Ebd. Conrad Ferdinand Meyer an Paul Heyse, Brief vom . November (K ).
. Theodor Storm. Novellen
Theodor Storms Novellistik umfaßt Novellen nebst fünf nicht ausgeführten Novellenentwürfen. Für diese Texte ist festgestellt worden, daß sie einen Wandel durchlaufen von anfänglich stimmungsvollen, nachgerade ›lyrischen‹ Versuchen bis hin zur vollendet realistischen Altersnovelle, frei von ›poetischidyllischem‹ Zierrat. Trotz einer solch differenzierten, auch von Storm selbst
Zitiert wird die von Dieter Lohmeier (Bde. und ) und Karl Ernst Laage (Bde. und ) besorgte Theodor Storm-Ausgabe. Im folgenden werden Text und Kommentar (K) dieser Ausgabe mit dem Kürzel ›LL‹ sowie Band- und Seitenzahl zitiert. Theodor Storm, Sämtliche Werke, Bde., hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main, –. – Insbesondere die folgenden Briefzitate zur Entstehungsund Rezeptionsgeschichte der Novellen sind dem Kommentar dankbar entlehnt. Es handelt sich um diejenigen Novellen aus den Jahren bis , die von Storm zum Druck freigegeben und in die Bände der ›Gesammelten Schriften‹ aufgenommenen beziehungsweise für diese vorgesehen waren. In einer solchen Zuordnung nicht berücksichtigt sind die sogenannten ›Märchen und Spukgeschichten‹, die heterogene Prosasammlung ›Zerstreute Kapitel‹ und die vor veröffentlichten, von Storm nicht in seine Gesamtausgabe aufgenommenen Prosaminiaturen. Zu Storms Konzept der (durchaus ›dramatisch‹ ausgerichteten) ›Situationsnovelle‹ in Anschluß an Georg Gottfried Gervinus und Carl von Reinbeck vgl. Alois Wierlacher, Situationen. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –. Man vgl. die Überblickskommentare zu Storms Novellen in LL –: demnach zeichnen sich die frühen, idyllisch grundierten Novellen zunächst durch einen resignativen Gestus aus (–) und thematisieren die Selbstverantwortlichkeit des Individuums (–). Die Novellen der mittleren Schaffensphase (–) seien zunehmend realistisch, sowohl durch direkten Zeitbezug als auch in den Chroniknovellen. In den Altersnovellen (–) verschärfe sich diese Tendenz hin zu einem zeitkritischen oder aber zeitlosen Realismus in objektiv-nüchternem Stil. – Als Wendemarke in Storms Schaffen gilt Karl Ernst Laage die veröffentlichte Novelle ›Draußen im Heidedorf‹: »Deutlich ist das Bestreben des Dichters, die Wirklichkeit adäquat wiederzugeben, mit klaren Konturen, ohne zuviel Schnörkel und Stimmung, so objektiv wie möglich.« (LL , K ) – Dieter Lohmeier führt vor demselben Hintergrund ›Auf dem Staatshof‹ () an, und Thomas Kuchenbuch stellt fest: »Die Forschung ist sich darin einig, daß die ›Halligfahrt‹ [›Eine Halligfahrt‹ ()] einen Wendepunkt in Storms Schaffen markiert.« Thomas Kuchenbuch, Perspektive und Symbol im Erzählwerk Theodor Storms. Zur Problematik und Technik der dichterischen Wirklichkeitsspiegelung im Poetischen Realismus, Diss. Marburg , S. ; zu ›Auf dem Staatshof‹: Dieter Lohmeier, Erzählprobleme des Poetischen Realismus. Am Bei-
vorgenommenen Bewertung, beansprucht dieser Autor für seine realistische Prosa jedoch generell »Scenen von poetischem Gehalte«. Laut Dieter Lohmeier findet darin die Kunstauffassung des Poetischen Realismus, dem Storm sein Leben lang verpflichtet bleibt, einen prägnanten Ausdruck, denn realistisch ist die Szene – im Gedicht wie in der Erzählung – insofern, als sie ihren Kunstcharakter zu verbergen sucht und statt dessen im Leser die Illusion erzeugt, er sehe einen Ausschnitt der Wirklichkeit vor sich, der den gewöhnlichen Gesetzen des Raums, der Zeit und des Seelenlebens unterliegt; poetisch wird sie dadurch, daß sie aufgrund der spezifischen Dichte literarischer Texte mit symbolischer Bedeutung aufgeladen ist, daß sie es ermöglicht, die häßlichen, prosaischen Seiten der Wirklichkeit nur in abgedämpfter, indirekter Spiegelung darzustellen, und daß sie es vermeidet, dem Leser die Gesetze und Triebkräfte des menschlichen Handelns und Leidens argumentierend auseinanderzusetzen und dadurch die realistische Illusion zu zerstören. (LL , K )
Demnach wäre Storms Prosa ›realistisch‹ im Sinne einer Wirklichkeitskongruenz und ›poetisch‹ in ihrer abmildernden Ausschnitthaftigkeit und Symbolisierung. Realitätsdarstellung gelänge, indem der »Kunstcharakter« verborgen wird. ›Wirklichkeit‹ würde von ›Poetizität‹ gleichsam ummantelt, damit der literarische Text nicht Gefahr läuft, die Realitätsillusion durch unpoetische Reflexion oder ein Übermaß an Realität zu stören. Für das novellistisches Œuvre Theodor Storms wird also eine ›Erzählweise‹ in Anspruch genommen, die schwerlich als ›poietisch‹ bezeichnet werden kann. Als charakteristische narrative Strategien gelten vornehmlich: . Verzicht auf auktoriales Erzählen zugunsten perspektivischer Brechung; . Verzicht auf faktizistische Beglaubigung des Erzählten; . Verzicht auf erzählerische Lückenlosigkeit beim Entfalten der Handlung; . Verzicht auf explizite Motivierung des Gesche-
spiel von Storms Novelle »Auf dem Staatshof«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –. »Meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwachsen; daher zuerst, was man meinetwegen etwas Sprunghaftes oder auch Guckkastenbilder nennen mochte, obgleich auch hier meist die Verbindungsglieder unmerklich mitgegeben waren; nachher aber ist das überwunden, und ich darf mich wohl zu denen rechnen, denen die moderne Novelle ihre Ausbildung verdankt; ich glaube kaum daß das zu unbescheiden ist.« Theodor Storm an Erich Schmidt, Brief vom . . . Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Bd. : –, in Verbindung mit der TheodorStorm-Gesellschaft hg. von Karl Ernst Laage, Berlin , S. . Theodor Storm an Erich Schmidt, Brief vom . . , Briefwechsel Storm– Schmidt, S. . Storm selbst äußert etwa gegenüber Hartmuth und Laura Brinkmann mit Blick auf ›Immensee‹, ›Späte Rosen‹, ›Im Schloß‹ und ›Auf der Universität‹ am . . : »Sie sind im Gegentheil überall ganz realistisch ausgeprägt, und dabei in der ganzen Durchführung doch durch den Drang nach Darstellung des Schönen u. Idealen getragen.« Theodor Storm – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hg. von August Stahl, Berlin , S. .
hens; . Verzicht auf apodiktische Erklärungen konstitutiver Sinnzusammenhänge. – Insbesondere der Verzicht auf auktoriale Erklärungen und faktizistische Beglaubigung sprechen für störungsfreie Darstellung, die auch erzählerische ›Lücken‹ und mangelnde Motivierung kaum beeinträchtigen. Trotzdem werden auch Theodor Storms Novellen der Jahre bis von Ästhetisierungsstrategien getragen, die mit ›Perspektivenbruch‹ nur unzureichend beschrieben sind. Im folgenden wird der Versuch unternommen, die markanten ›poietischen‹ Grundzüge von Theodor Storms Novellistik offenzulegen. Erneut wird das Verhältnis von Darstellung und ›Ästhetisierungsstrategie‹ verhandelt, ohne daß die Bemühungen Storms um ›wahrheitsgetreue‹ Schilderung zu bestreiten
Die fünf Charakteristika folgen im Wortlaut (und unter Auslassung der jeweiligen Belegstellen) einer Zusammenstellung von Malte Stein, der in seinem Beitrag das intertextuelle Erzählverfahren in ›Auf der Universität‹ demonstriert: Tod und Weiblichkeit in Theodor Storms Novelle »Auf der Universität«. Eine Textanalyse aus intertextueller Perspektive. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. . Vgl. auch Lohmeier, Erzählprobleme. Walter Hettche, Theodor Storm und Paul Heyse. Literarische und biographische Aspekte einer Dichterfreundschaft. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt, , , S. –. Vgl. insbesondere folgende Interpretationen: Das Kapitel ›Storm oder Die Wiederkehr der Toten. Zur Rahmenerzählung von Aquis submersus‹ in: Heinrich Detering, Herkunftsorte. Literarische Verwandlungen im Werk Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns, Heide , S. –; Louis Gerreckens, »Und hier ist es« – Die verwirrende Fiktion erzählerischer Objektivität in Storms Novelle »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; Albert Meier, »Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?« Die Subeversion des Realismus in Theodor Storms Der Schimmelreiter. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, hg. von Hans Krah und Claus-Michael Ort, Kiel , S. –; Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen , S. – (Kapitel zu ›Der Schimmelreiter‹); Eckart Pastor, »Du bist hier Partei!« Theodor Storms Novelle »Draußen im Heidedorf« und ihre Erzähler. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –. Vgl. Wolfgang Preisendanz, Theodor Storm: Novellistik im Zeitalter des Romans. In: Theodor Storm und das . Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus Anlaß des . Todestages Theodor Storms, hg. von Brian Coghlan und Karl Ernst Laage, Berlin , S. –; hier S. : »Unzählige Male verweisen die Texte ausdrücklich auf die ›Sprachhandlung‹ Erzählen, der sie sich verdanken; immer wieder wird das Sujet der Novellen als ›Geschichte‹ apostrophiert; vielmals profilieren Zwischenreden, Unterbrechungen, Erzähler-Hörer-Dialoge u. a. m. die Orientierung an lebensweltlichen Situationen und Formen des Erzählens. Oberflächlich wäre es, darin nur den Rückgriff auf ein traditionelles Mittel der Verschleierung von Fiktionalität zu sehen, die Vorspielung ›de communiquer un sujet préalable‹ und nicht ›sa propre composition‹ (J. Ricardou).« Brinkmann betont ebd. mit Adorno: »Etwas erzählen heißt ja: etwas Besonderes zu sagen haben.«
wären. Tatsächlich unternimmt Storm akribische Recherchen nicht nur bei historischen Stoffen: So ergeht die Bitte an einen Freund nach Auskunft über die Wimpelfarben bei Hamburger Schiffen, nach den Reisezielen dieser Schiffe »vor ca Jahren« und darüber, welche Arbeiter am frühen Morgen zuerst auf den Straßen zu sehen seien (LL , K ). In der Novelle ›John Riew’‹ (), für die diese Fragen gestellt werden, heißt es dann, daß »die rot und weißen Wimpel im leichten Morgenwinde wehten« (LL , ), daß der Kapitän »nach Rio, Hongkong, auch weniger fern nach Lissabon und London« gefahren ist (LL , ), und schließlich: »es war ein eiskalter Frühmorgen; nur ein paar Brotträger sah ich an mir vorbeipassieren« (LL , ). Im Hinblick auf derartige Bemühungen um ›Realismus‹ und auf den »Drang nach Darstellung« mag es um so mehr erstaunen, wie die ›realistische‹ Geschichte dennoch als Dichtung exponiert ist und mit wiederholten Darstellungsstörungen arbeitet. Zunächst zeigt eine exemplarische Analyse von ›Ein Doppelgänger‹ () die Abhängigkeit sozialkritischer und psychologischer Interpretation von einem dezidierten, textimmanenten Fiktionsentwurf (Kapitel .). Im folgenden steht anhand sämtlicher Novellen Theodor Storms das Verhältnis von allgegenwärtiger Rahmung und Binnengeschichte beziehungsweise das Zusammenspiel von Darstellung und medialer Vermittlung der Darstellung im Vordergrund: Binnenerzählungen werden in der Novellistik Storms häufig mündlich vorgetragen (Kapitel .), schriftlich fixiert (Kapitel .) oder medial unbestimmt, gleichsam monologisch erinnert (Kapitel .). In der Storm
Vgl. generell Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem . Jahrhundert, Stuttgart . Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, Brief vom .., Briefwechsel Storm–Brinkmann, S. ; dort mit dem Akzent auf Darstellung des »Schönen u. Idealen«. Einen interpretierenden Überblick über alle Rahmennovellen versuchte R. M. Browning; er kam zu folgendem Ergebnis: »We have tried to show that, depending upon the source of the material and the kind of story to be told as well as upon the period in the author’s development, the Stormian frame may ›mean‹ various things which too broad generalization is liable to falsify rather than to clarify.« R. M. Browning, Association and Disassociation in Storm’s Novellen. A Study on the Meaning of the Frame. In: PMLA, , , S. –; hier S. . Zu einer Werkskizze unter dem Aspekt des Erinnerns vgl. Karl Ernst Laage, Das Erinnerungsmotiv in Theodor Storms Novellistik. In: Schriften der Theodor-StormGesellschaft, , , S. –; S. zu den oben genannten Unterbrechungen: »Durch solche Sprünge aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück in die Vergangenheit wird das Erinnerungsmotiv immer wieder zur Wirkung gebracht und die Vorstellung, daß vergangenes, selbst erlebtes Geschehen erzählt wird, die ganze Innenerzählung über lebendig erhalten.« Vgl. auch Anm. und . Vgl. ferner Jan-Oliver Decker, Erinnern und Erzählen. Konservieren, Transformieren und Simulieren von Realität in männlichen Erinnerungen im Realismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, , S. –.
Forschung prominente Kategorien wie ›Erinnerungsnovellen‹ oder ›Chroniknovellen‹ sollen hier allerdings keinen besonderen Status erhalten; überhaupt wird eine exakt typologische beziehungsweise typologisierende Vorstellung verschiedener poietischer Verfahren nicht angestrebt. Auch auf eine entstehungsgeschichtlich-chronologische Ausrichtung wird verzichtet, da im folgenden Ästhetisierungsstrategien zur Sprache kommen, die sich in nahezu allen Novellen Theodor Storms finden. Von besonderem Interesse mögen diejenigen Novellen sein, die nicht gerahmt sind, sich gegebenenfalls poietischen Kategorien entziehen und ihre ›Gemachtheit‹ tatsächlich verhüllen; sie werden gesondert vorgestellt (Kapitel .).
. Sozialkritische, poetische und poietische Standpunkte: ›Ein Doppelgänger‹ Theodor Storms ›Ein Doppelgänger‹ entsteht von Juli bis Ende September . Die schnelle Verfertigung der Novelle, deren Stoff aus einer »Mittheilung einer Verwandten« hervorgeht, ist auch den Publikationsumständen geschuldet. Storm liefert einen ersten Teil des Manuskripts schon im August , so daß die Veröffentlichung in ›Deutsche Dichtung‹ bereits im Oktober beginnt. Entsprechend groß ist der Zugzwang, dem sich der Dichter aussetzt. Während Storms Freundeskreis ausgesprochen verhalten auf die Novelle reagiert (LL , f.), wird die Geschichte um den Zuchthäusler John Glückstadt von der zeitkritischen Öffentlichkeit euphorisch aufgenommen. In armseliger Hütte spielt sich die Novelle ab; ich kenne nur Zolàs [sic] ›Germinal‹, das mit ähnlich ergreifender Naturwahrheit – denn das ist Naturalismus im edlen Sinne! – das Fühlen und Denken dieser unteren, oft so bedauernswerthen Menschenschicht schildert.
Vgl. dagegen den (schwer durchschaubaren) Versuch von Hildegard Lorenz, Varianz und Invarianz. Theodor Storms Erzählungen: Figurenkonstellation und Handlungsmuster, Bonn , S. –. Der große Umfang des Textkorpus macht es unmöglich, alle poietischen Merkmale jeder Novelle aufzuzählen; insbesondere die bei Storm häufigen Unterbrechungen innerhalb der Binnenerzählungen werden im folgenden nicht en detail angeführt. Theodor Storm an Karl Emil Franzos, Brief vom . . . Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ein unbekannter Briefwechsel. Hg. und kommentiert von Peter Goldammer. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. . »Uebrigens einmal und nie wieder Manuscript drucken lassen, ohne völlig fertig zu sein!« Theodor Storm an Karl Emil Franzos, Brief vom . . , Briefwechsel Storm–Franzos, S. . Aus Alfred Bieses Artikel zum . Geburtstag Theodor Storms: Theodor Storm. Zur Erinnerung und Würdigung. In: Preußische Jahrbücher, , , S. –; hier zitiert nach: LL , K .
In einer anderen Stellungnahme heißt es: Zugleich enthält der »Doppelgänger« – vielleicht unbewußt – einen schneidigen Protest gegen Zustände, die so edle Volkskraft so jammervoll zu Grunde gehen lassen. […] Vertuscht und überzuckert wird hier gar nichts. Die ganze Noth der Wirklichkeit von und schrei’t aus diesem (abgesehen von der nicht ganz glücklichen Rahmenerzählung) mit klassischer Meisterschaft ausgeführten Zeitbilde uns entgegen.
Diese Wahrnehmung der Zeitgenossen ist insofern erstaunlich, als sie sich vom Leitbild des Realidealismus löst und eine Literatur preist, die sich kaum noch vom französischen Naturalismus abhebt. Zwar wird von einem »edlen Sinne« der Novelle gesprochen, doch gleichzeitig beteuert man, hier liege eine ungeschönte Abschilderung der »ganzen Noth der Wirklichkeit« vor. Der Arbeiter und Zuchthäusler ist also kunsttauglich geworden, denn Schilderungen aus dieser »oft so bedauernswerthen Menschenschicht« gelten nun als »ergreifende Naturwahrheit«, womit eine der Hauptkategorien des Realismus berührt ist. Überdies wird Storms Novelle ein über den eigentlichen ästhetischen Wert hinausgehender Impetus zugesprochen; »einen schneidigen Protest« unterstellt man dem Text, der – die Erwähnung suggeriert es – sich von anderer zeitgenössischer Literatur wohltuend abhebt: »Vertuscht und überzuckert wird hier gar nichts.« Der Weg der weiteren Forschung ist verschiedentlich skizziert worden; gegen die Deutung als »Tragödie des Proletariers«, mit der Storm beweise, daß
Aus Johannes Weddes Monographie: Theodor Storm. Einige Züge zu seinem Bilde, Hamburg ; hier zitiert nach: LL , K . Ebd. wird auch eine weitgehende Zustimmung Storms zu Weddes Ausführungen mitgeteilt. Zu naturalistischen Tendenzen der späten Novellen Theodor Storms vgl. Barbara Burns, Theory and Patterns of Tragedy in the later Novellen of Theodor Storm, Stuttgart , S. –; insbesondere S. : »Despite some undeniable similarities in theme, therefore, Storm’s thoroughly different artistic approach and purpose clearly set him apart from the Naturalist school and help explain his strong antipathy towards their work.« Vgl. Kapitel . dieser Arbeit. Forschungsberichte finden sich in LL , K –; wie zu allen anderen Novellen auch bei Regina Fasold, Theodor Storm, Stuttgart, Weimar , S. –; bei Burns, Theory and Patterns of Tragedy, S. –; Christian Neumann, Ein Text und sein Doppelgänger. Eine plurale Lektüre von Theodor Storms Novelle »Ein Doppelgänger«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; vgl. auch die originelle, einen biblischen Subtext herausarbeitende Interpretation von Eckart Pastor, Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen Theodor Storms, Frankfurt am Main , S. –. Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. –, vierte, mit neuem Vorwort und erweitertem Nachwort versehene Auflage, Stuttgart [], S. . Vgl. zum Thema auch Günther Ebersold, Politik und Gesellschaftskritik in den Novellen Theodor Storms, Frankfurt am Main, Bern ; zu ›Ein Doppelgänger‹ S. –. – Dagegen einer der Einwürfe Eckhardt Meyer-Krentlers: »das
er »die Probleme der Unterschicht sieht und ihr Verständnis entgegenbringt, aber nur aus der Position des Höherstehenden«, spricht zunächst das unabhängig von gesellschaftlichen Umständen waltende Schicksal. Ein Brunnen auf dem Feld, auf dem John Glückstadt als Aufpasser arbeitet, wird ihm zum Verhängnis. Bereits zu Beginn der Geschichte wird die unheimliche Macht heraufbeschworen, die von diesem Brunnen ausgeht; sie ist so stark, daß Glückstadt in dessen Nähe »unwillkürlich seine Beine [rührt], um rascher nach Hause zu gelangen.« (LL , ) Die Geliebte, seine spätere Frau, bewahrt er am Brunnen vor dem Jähzorn einer anderen Arbeiterin: »›Nun, Dirne‹, rief er, ›sollten wir hier beide in den Brunnen? Es wär vielleicht das Beste!‹ und hielt sie fest an seiner Brust.« (LL , ) Ihr Versprechen, daß er »nicht drunten liegen [soll, denn] in meinen Armen ist’s besser« (LL , ), kann zunächst eingehalten werden. John Glückstadt findet sein Glück mit der Arbeiterin Hanna, wenngleich ihn der Brunnen weiterhin beunruhigt: »›Ich wollt’, er wäre aus der Welt! […]. Du könnt’st mir einmal da hineinfallen, du bist so wild, Hanna – er darf nicht offen bleiben.‹« (LL , ) Glückstadt wird vom Brunnen magisch angezogen, horcht in dessen Tiefe, als ob diese »ein furchtbares Geheimnis berge« (LL , ) – am nächsten Morgen wird ein Brettergerüst über den Brunnen errichtet. Als »jener furchtbare Winter in den vierziger Jahren« (LL , ) herrscht, ist es dem verwitweten Glückstadt kaum noch möglich, für seine kleine Tochter Christine zu sorgen. Als das Kind fragt, ob nicht zum morgigen Weihnachtsfest die Stube geheizt werden könne, waren ihm die Worte wie ein Schwert durchs Herz gegangen. Aber vor seinem inneren Auge stand jetzt plötzlich jener einsame Brunnen draußen auf dem Felde; er sah den Bretterzaun im Froste flimmern. Sein alter Arbeitgeber, von dem er ihn einst selbst erbeten hatte, war jahrelang tot; auch sie, um deren willen es geschah – wen kümmerte das von damals noch? Hatten die Bretter einst sein Weib geschützt, sie konnten nun sein Kind erwärmen! – Das Blut stieg ihm zu Häupten; sein Herz hämmerte heftig. (LL , )
Vorzeigen sozialen Elends, die Benennung sozialer Ursachen bedeutet noch lange nicht eine Kritik am sozialen System«, Eckhardt Meyer-Krentler, Stopfkuchen – Ein Doppelgänger. Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, , S. –; hier S. . Wolfgang Tschorn, Der Verfall der Familie. ›Der Herr Etatsrat‹ und ›Ein Doppelgänger‹ als Beispiele zu einem zentralen Darstellungsobjekt Storms. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. . Zum Namen vgl. Neumann, Ein Text und sein Doppelgänger, S. . Der Erzähler berichtet in diesem Kontext nicht, daß John Glückstadt dafür in irgendeiner Form verantwortlich wäre. Es heißt vielmehr lapidar: » – Am anderen Morgen erschien zur Verwunderung der Arbeiterinnen ein Zimmermann auf dem Acker und schlug ein rohes, aber derbes Brettergerüst um den alten Brunnen.« (LL , ) Im Jähzorn hatte er seine Frau vor den Ofen geschleudert; ihre Kopfverletzung an einem hervorstehenden Schraubenstift ist tödlich; das spielende Kind hatte den Messingknopf abgedreht.
Glückstadt schärft Säge und Beil, und am nächsten Morgen sieht man im Ofen ein helles Feuer prasseln. Das Glück ist jedoch nur von kurzer Dauer, und Glückstadt sieht sich gezwungen, seine Tochter zum Betteln zu ermutigen. Nach kurzem Besinnen verbietet er es ihr wieder, erinnert sich seiner Frau, und schließlich »entflohen ihm die Gedanken« (LL , ): Wie in unausdenkbarem Elend streckte er die Hände mit ausgespreizten Fingern vor sich hin; aber die Bilder in seinem Kopfe wechselten, und die des Hungers waren doch die stärksten. Da plötzlich streckte sich ein weites Kartoffelfeld vor seinen Augen; es war draußen auf dem Felde neben dem von ihm beraubten Brunnen, der jetzt in einem hohen Ährenfeld verborgen stand. (LL , f.)
Im narrativen Gedankenbericht – fern dramatischer Modi wie etwa dem unmittelbar zitierenden Inneren Monolog – ist vom »beraubten Brunnen« die Rede. Das somit unterstellte Verbrechen wird sogleich gerächt, denn das Opfer straft den Täter: Als Glückstadt in nächtlicher Stunde Kartoffeln auf dem Feld stiehlt, flieht er durch das Feld, »aber sein Fuß fand keinen Boden – – ein gellender Schrei fuhr durch die Finsternis; dann war’s, als ob die Erde ihn verschluckt habe.« (LL , ) Der ehemalige Zuchthäusler ist seit dieser Nacht verschollen; mit einer Kindheitserinnerung bekräftigt der Erzähler (LL , ), daß Glückstadt in den Brunnen gefallen sein muß. Während der Brunnen als magisches Dingsymbol somit zu seinem Recht kommt, wird innerhalb der Erzählung auch eine gesellschaftskritische Interpretation der Ereignisse vorgenommen. ›Ein Doppelgänger‹, der von seiner
Erneut wird zum Zeitpunkt des ›Tathergangs‹ nicht auf Glückstadt fokalisiert: »Dennoch vernahmen die Kranken oder in Sorgen Wachenden, welche in der Norderstraße ihre Schlafkammern nach den Gärten hatten, aus der Ferne die Schläge eines Beiles, die in der grenzenlosen Stille nach der Stadt hinüber schollen. Vielleicht mochte auch ihrer einer sich erheben und vom Bett aus, wiewohl vergebens, durch die flimmernden Fensterscheiben hinauszublicken suchen; aber wen kümmerte es weiter, wer draußen noch so geschäftig wach war?« (LL , f.) Vgl. Harro Segeberg, Theodor Storm als »Dichter-Jurist«. Zum Verhältnis von juristischer, moralischer und poetischer Gerechtigkeit in den Erzählungen »Draußen im Heidedorf« und »Ein Doppelgänger«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. : »Wenn man bedenkt, daß John Hansen es war, der den Brunnen erst vernageln ließ und dann die dazu benutzten Bretter wieder entfernte, um sie als Brennholz zu verfeuern, so scheint es auch hier, als solle der Held selber die alte Gerechtigkeit an sich vollstrecken.« Vgl. Burns, Theory and Patterns of Tragedy, S. : »Throughout the remainder of the story the well continues to function as the symbol of a sinister force by which in the end John is doomed to be destroyed.« Doppelgängermotiv und magisches Dingsymbol erinnern an Annette von DrosteHülshoffs ›Die Judenbuche‹ (); vgl. LL , K und insbesondere Heinz Rölleke, Theodor Storms »Ein Doppelgänger« und Annette von Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«. Produktive Rezeption in der Novellistik des Poetischen Realismus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, , , S. –. – Der Brunnen mag eine Reminiszenz an Friedrich de la Motte Fouqés ›Undine‹ () sein.
Zuchthausstrafe in Glückstadt derart geprägt wird, daß es ihm »den Namen John Glückstadt eingetragen hatte« (LL , ), scheitert an seiner Rehabilitation. Nachdem nämlich John Hansen, so sein bürgerlicher Name, »von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen« (LL , ), wie der menetekelnde Bürgermeister der Stadt seiner Schwägerin gegenüber bemerkt. Im Widerstreit zwischen magischem Dingsymbol und Gesellschaftskritik, einer primär ›poetischen‹ Symbolik gegenüber vermeintlich ›realistischen‹ sozialen Mißständen, darf jene als vorrangig gelten: Bis zum Ende der Erzählung erscheint der Brunnen durchgehend als Symbol irrationaler, nicht benennbarer Mächte, in deren Bann sich John Glückstadt befindet und denen er nicht entrinnen kann. Diese Verweisungen stiftende und das Erzählte verdichtende Möglichkeit des Symbols war zudem für Storm gewiß ein Grund, dieser Novelle zuerst den Titel ›Der Brunnen‹ zu geben.
»›Der Brunnen‹ wird es vermuthlich heißen«, schreibt Storm an Karl Emil Franzos zur neuen Novelle, entscheidet dann aber bei Manuskriptabgabe: »Der Titel ist fast unfindbar; ich nenne es bis auf Weiter: Ein Doppelgänger.« Folgt man nun der Figurenpsychologie, der begründeten Angst Glückstadts vor dem todbringenden ›Brunnen‹, so müssen sozialkritische Anklänge hinter einer poetischen Symbolik deutlich zurücktreten, obschon sie im figurenbezogenen Titel ›Ein Doppelgänger‹ und in der raisonablen Stellungnahme des Bürgermeisters hervorstechen.
Schon kurz nach der Hochzeit John Glückstadts prophezeit er: »aber er selbst ist doch nicht glücklich und wird es nimmer werden.« Grund des abzusehenden Unglücks sei Glückstadts »Brüten« über die Frage »Wie find ich meine verspielte Ehre wieder?« (alle Zitate LL , ) Manfred Schunicht, Theodor Storm: »Ein Doppelgänger«. In: Wege der Literaturwissenschaft, hg. von Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf, Bonn , S. –; hier S. f. Theodor Storm an Karl Emil Franzos, Brief vom . . , Briefwechsel Storm– Franzos, S. . Theodor Storm an Karl Emil Franzos, Brief vom . . , Briefwechsel Storm– Franzos, . – Nach der ersten Buchausgabe erschien die Novelle noch im selben Jahr zusammen mit ›Bötjer Basch‹ in dem Zweinovellenband ›Bei kleinen Leuten‹. Mit anderen Schwerpunkten Neumann, Ein Text und sein Doppelgänger, S. : »Der explizit thematische Textinhalt legt eine soziologische Interpretation nahe, während ein um das mysteriöse Brunnensymbol zentrierter Subtext zu einer psychoanalytischen Lektüre einlädt, die diesen Text freilich nicht als Ausdruck irrationaler metaphysischer Schicksalsvorstellungen, sondern als Sprache des Unbewussten auffasst.« – In ihrer Synthese von Brunnenmystik und Sozialkritik wohl singulär ist die Auffassung von Ebersold, Politik und Gesellschaftskritik, S. : »Der Brunnen, eine Art Leitmotiv der Novelle, muß auch als Symbol für die gesellschaftliche Nullität des Proletariers verstanden werden, der, außerhalb der Gesellschaft stehend, ein Nichts ist.«
Nachdem anfangs berichtet wird, wie sich John Hansen eine Zuchthausstrafe einhandelt, wie er die sechsjährige Strafe schließlich verbüßt und nach einiger Zeit eine nicht unehrenhafte Anstellung als Aufseher bekommt, erwähnt der Erzähler den Brunnen: Aber eines mußte noch hinzukommen. An der weiter von der Stadt liegenden Ostseite des Ackers, wo die Arbeit schon vollendet war, befand sich jener verlassene Brunnen, neben dem schon seit undenkbaren Jahren das Schinderhaus verschwunden war; um drei Pfähle hingen noch ein paar vermorschte Bretter, die keinen Widerstand zu leisten vermochten. John Glückstadt kannte ihn wohl: der Brunnen war eng und an den Seiten mit Moos und einzelnen Pflanzenbüscheln bewachsen, durch die er vergebens mit seinen Blicken den Boden zu erreichen gesucht hatte; aber tief mußte er sein, denn als John eines Abends über das leere Feld ging und im Vorbeigehen einen Stein hinabwarf, dauerte es eine ganze Weile, bevor ein Ton wie ein harter Aufschlag sein Ohr erreicht. »Gott mag wissen, was da unten liegt«, murmelte der Mann; »Wasser nicht, vielleicht nur Kröten und Unzeug!« Und er rührte unwillkürlich seine Beine, um rascher nach Hause zu gelangen. (LL , f.)
Man erfährt damit nicht nur, daß Glückstadt sich mit dem Brunnen bereits gut bekannt gemacht hat, sondern auch, daß zur Vervollständigung des Erzählten noch etwas fehlt: »Aber eines mußte noch hinzukommen.« Zum einen ergänzt der Erzähler damit die Ausgangssituation seiner Erzählung um ein anscheinend notwendiges Detail, zum anderen nimmt er eine direkte Setzung vor. Der Satz »Aber eines mußte noch hinzukommen« darf in der Logik des Erzählten als unnötig gelten, denn er kündigt mit Distanz zur eigentlichen Diegese eine Selbstverständlichkeit an – wäre bereits alles erzählt, dann unterbliebe er; wäre dies nicht der Fall, könnte das Folgende wie selbstverständlich anschließen. Die Einführung des Brunnens kann dementsprechend als darstellungsstörender Eingriff gewertet werden, mit dem der Erzähler den Brunnen in die Erzählung ›hineingibt‹ (»mußte noch hinzukommen«). Die Bedeutung einer derart ›poietischen‹ Tat wird im nächsten Absatz unterstrichen, der keine bloße Fortsetzung bietet, sondern die eigentliche Geschichte qua Suggestion einer spontanen Handlungsgegenwart eröffnet: »Als er jetzt eines Morgens auf das Feld kam, […].« (LL , ; Hervorhebung LK) Eine ähnliche Erzählstrategie findet sich bei der Schilderung von Glückstadts Reaktion auf die Bitte seiner Tochter, zum Weihnachtsfest die Kate zu heizen. Glückstadt überlegt, zu diesem Zweck die Bretter vom Brunnen zu entfernen: Hatten die Bretter einst sein Weib geschützt, sie konnten nun sein Kind erwärmen! – Das Blut stieg ihm zu Häupten; sein Herz hämmerte heftig. Das hörte das Kind, dessen Kopf daran lag. »Vater«, sagte sie, »was klopft so in dir?« »Das Gewissen!« – Er war zusammengefahren. Niemand hatte das gesagt, und war ihm doch, als habe er es gehört, deutlich, dicht vor seinem Ohr. (LL , )
Hier spricht etwas, obgleich behauptet wird, niemand hätte etwas gesagt. Es wird damit nicht nur die vorangegangene Aussage – »sein Herz hämmerte hef
tig« – widerlegt (indem nun »Das Gewissen!« als Ursache des Klopfens genannt wird), sondern auch die herkömmliche Erzählkonvention gebrochen. Zum einen ist es nicht möglich, Glückstadt eine Gewissensäußerung zuzuschreiben, denn diejenige ›Stimme‹, die das Zitat verantwortet, scheint zumindest nicht aus dem Inneren der Figur zu kommen: Glückstadt glaubt die Stimme »deutlich, dicht vor seinem Ohr« (Hervorhebung LK) gehört zu haben. Zum anderen ist eine Rede in Anführungszeichen, die explizit keiner Figur zugeordnet wird beziehungsweise zuzuordnen ist, schwerlich erklärbar. Der ›unmögliche‹ Kommunikationsakt, von dem immerhin Zitat und Reaktion des Empfängers mitgeteilt werden, ist paradox: Wenn niemand etwas gesagt hat, darf das Zitat nicht sein – wenn etwas gesagt worden ist, kann nicht behauptet werden: »Niemand hatte das gesagt«. Als artifiziell markiert ist die Textstelle insofern, als sie etwas als möglich darstellt, das jeglicher Naturgesetzlichkeit widerspricht: wenn nichts gesagt wird, dann kann man keine Äußerung hören. Derartige Ästhetisierung des Erzählten kann schwerlich als ›poetisch‹ rubriziert werden, sondern verweist auf den ›poietischen‹ Charakter der Novelle. Wenn man im übrigen bedenkt, daß der Erzähler sich – wie oben gezeigt – schon einmal in die Erzählung eingeschaltet hat, mag man erwägen, auch im bedeutungsschweren Ausruf »Das Gewissen!« einen Typ der Transgression zwischen zwei Welten sehen: »zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird.« Das Erschrecken Glückstadts, in dieser Weise an sein Gewissen gemahnt zu werden, ist verständlich, jedoch scheint eine echte Gewissensregung kaum begründbar. Der in Erwägung gezogene Brunnenfrevel kann nämlich insofern keine Untat sein, als Glückstadt schlicht das Gerüst abbauen würde, das er einst auf eigene Veranlassung hat errichten lassen. Glückstadts Überlegung, daß die Bretter, die »einst sein Weib geschützt« hatten, »nun sein Kind erwärmen« konnten (beide Zitate LL , ), ist nur zur Hälfte triftig. Die Bretter sind erst angebracht worden, nachdem seine Frau beinahe in den Brunnen gestürzt ist –
Insofern scheidet neben unmarkiert erlebter Rede auch der Innere Monolog als Darstellungsmodus aus. »Das Gewissen!« ist ausdrücklich eine Rede, die nicht Glückstadt zugeordnet wird. Theoretisch könnte der Ausruf auch von den in der Kate anwesenden Alt-Marieken und der Tochter Christine getätigt worden sein, doch fehlt ein Indiz für eine solche Annahme – zumal erstens unerklärlich bliebe, wie sich eine der beiden Figuren bis zum Ohr Glückstadts genähert haben könnte, ohne daß er dies bemerkte, zweitens die Aussage »Niemand hatte das gesagt« ihre Gültigkeit verlöre. Mit Blick auf das Medium Buch könnte immerhin festgestellt werden, daß zwar niemand das Zitat gesagt, wohl aber jemand geschrieben hat. Vgl. die sonst auffällige Zurückhaltung; s. auch Anm. und . Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt, München , S. , im Kontext der ›narrativen Metalepse‹.
des weiteren haben die Bretter sein Weib eben nicht geschützt, da sie in der Kate durch seine eigene Hand hat sterben müssen. Die Frage, ob »Das Gewissen!« nun auf Gattenmord oder Brunnenfrevel abzielt, ist allein figurenpsychologisch von Bedeutung, denn der Brunnen kann schwerlich von sich aus böse sein, und auch die Einrüstung hat keinen moralischen Wert an sich. Wenn nun aber »Das Gewissen!« als unmittelbar Äußerung der Figur oder einer moralischen Instanz in ihr bewertet wird, muß wiederum darauf hingewiesen werden, daß gar keine Äußerung stattgefunden hat, selbst wenn es Glückstadt war, »als habe er es gehört, deutlich, dicht vor seinem Ohr.« Die Novelle ›Ein Doppelgänger‹ hat nicht nur mit ihrer zweifachen, sozialkritischen wie dingsymbolischen Motivation kontroverse Diskussionen hervorgerufen, sondern auch mit ihrer Einbettung in eine »nicht ganz glückliche[] Rahmennovelle«, von der mitunter behauptet wird: Sie dämpft durch das Medium der Erinnerung, sie rückt in die Ferne und versöhnt das einst grausame Geschick durch die gegenwärtige Idylle. […] Im Subjektiven verklärt sich die Realität. Der soziale Konflikt ›versumpft‹ im Gefühlvollen und Rührenden. Die Idylle hebt die Tragödie auf. Gerade der Ausgriff zum sozialen Thema läßt diese Verhüllungstechnik des bürgerlichen Realismus wahrnehmen.
Mit der Wahrnehmung der Rahmenhandlung verliert demnach der naturalistisch anmutende Impetus seine Kraft; eine für den poetischen beziehungsweise bürgerlichen Realismus typische »Verhüllungstechnik« sorge für die Entschärfung des sozialen Konflikts. Ähnlich einer ›klassischen Dämpfung‹ werde die allzu grausame Wirklichkeit »verklärt«, denn das Arbeiter- und Zuchthausschicksal des Vaters ist eingebettet in das Bürgerglück seiner Tochter. ›Ein Doppelgänger‹ beginnt mit der zeitlichen und räumlichen Situierung einer Rahmenhandlung: »Vor einigen Jahren im Hochsommer war es, und alle Tage echtes Sonnenwetter; ich hatte mich in Jena, wie einst Dr. Martinus, in der alten Gastwirtschaft zum Bären einquartiert, […].« (LL , ) Der Ich-Erzähler freundet sich alsbald mit einem Ehepaar an, zumal sich herausstellt, daß er aus derselben Stadt wie die Ehefrau stammt. Der Erzähler ist irritiert: »ich glaube alle damaligen Familien unserer Stadt zu kennen und wüßte nicht, in welche ich Sie hineinbringen sollte«; er weiß auch ihren Familiennamen ›Hansen‹ nicht einzuordnen, denn »der Name Hansen war bei uns wie Sand am Meer« (beide Zitate LL , ), und auf den Einwurf »Sie hätten ihn kennen
Wedde, Theodor Storm, zitiert nach: LL , . Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. f. – Vgl. auch Gunter Grimm, Theodor Storm: Ein Doppelgänger (). Soziales Stigma als ›modernes Schicksal‹. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, hg. von Horst Denkler, Stuttgart . S. –, hier S. ; Burns, Theory and Patterns of Tragedy, S. – und f.; Meyer-Krentler, Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm, S. .
müssen« (LL , ) hat er zunächst keine Antwort. Auch eine knappe Beschreibung ihres Vaters bringt dem Ich-Erzähler keine Aufklärung. Zwar ging ihm »im Kopf ein wüster junger Kerl herum; er war bekannt genug gewesen, aber sein Name war ein anderer«. Demgemäß kann er von der soeben gehörten Kindheitserinnerung behaupten, »daß Ihre Phantasie das Schreckbild in jene von Erinnerung leere Zeit hinabschob«. Die Ehefrau wehrt ab, sie habe »niemals an solchen Gespenstergeschichten gelitten« (alle Zitate LL , ), und erst der Ehemann kann das Mißverständnis lösen, wobei er gleichzeitig den Erzähler bittet, das Geheimnis für sich zu behalten: der Vater meiner Frau hieß freilich John Hansen; von den Leuten aber wurde er John Glückstadt genannt, nach dem Orte, wo er als junger Mensch eine Zuchthausstrafe verbüßt hatte. Meine Frau weiß weder von diesem Übernamen noch von der Strafe, auf welcher er beruht; und – ich denke, Sie stimmen mir bei – ich möchte nicht, daß sie das je erführe; ihr Vater, den sie kindlich verehrt, würde mit jenem Schreckbild zusammenfallen, das ihre Phantasie ihr immer wieder vorbringt und das leider keine bloße Phantasie war. (LL , )
Das Gespräch wird durch die Rückkehr der Ehefrau unterbrochen, man spaziert weiter, während der Erzähler sich mit »andrängenden und sich in einander fügenden Erinnerungen« (LL , ) beschäftigt, die – nachdem der Mann seine Frau noch einmal ermahnt hat, ihre Vergangenheit nicht unnötig heraufzubeschwören – im Zwiegespräch zwischen den Männern in der folgenden Verabschiedungsformel gipfeln: »Gewiß; ich weiß nun freilich, wer John Hansen ist«. Der Erzähler verbringt die Nacht im Haus des gastgebenden Ehepaars, aber »bei mir wollte die Vergangenheit nicht schlafen« (beide Zitate LL , ). Am offenen Fenster sinniert er: vor mein inneres Auge drängten abwechselnd sich zwei öde Orte: ein verlassener Brunnen mit vermorschtem Plankwerk, der in der Nähe meiner Vaterstadt auf einem weiten Felde lag, wo vor Zeiten ein Haus, eine Schinderkate, sollte gestanden haben; als Knabe, auf einer einsamen Schmetterlingsjagd, hatte ich einst erschrocken vor ihm Halt gemacht; – was damit wechselte, war das äußerste der kleinen Stadthäuser am Ende der Norderstraße, mit einem Strohdach, auf dem allezeit ein großer Hauslauch wuchs, so niedrig, daß man’s mit der Hand erreichen konnte; das Ganze zum Einstürzen verfallen und so winzig, daß kaum mehr als eine Kammer und der engste Küchenherd darin Platz haben konnten. Als Junge hatte ich manchmal, […] (LL , )
Wenngleich nicht explizit gesagt wird, daß es sich hier um eine Erinnerung handelt (»vor mein inneres Auge drängten […] sich«), so ist durch die eigene Erfahrung (»Als Junge hatte ich manchmal«) die Authentizität der Örtlichkeiten anscheinend gesichert. Die Erinnerung an die Kindheit fokussiert sich im folgenden auf das Haus mit dem Strohdach, in dem der Ich-Erzähler einst beobachtet hat, wie »ein junger, wilder Kerl« (LL , ) seine Frau mißhandelt: Das war John Glückstadt, der Vater meiner edlen Wirtin, von dem ich heute erfahren hatte, daß er eigentlich John Hansen geheißen habe.
– – John Hansen war von einem Nachbarsdorfe und hatte seine Militärzeit als tüchtiger Soldat bestanden, […]. (LL , )
Mit dem Absatz und den beiden Gedankenstrichen beginnt die eigentliche Binnengeschichte, in der das ›Vorleben‹ John Glückstadts vor seiner Straftat und dem sechsjährigen Zuchthausaufenthalt auf wenigen Seiten geschildert wird, während das aufglimmende Eheglück und der schnell folgende, stetige Abstieg die eigentliche Handlung der Geschichte ausmachen. Die Rahmenerzählung wird nach Beendigung der Binnenerzählung wieder aufgenommen. Während die Binnenerzählung gänzlich ohne den Ich-Erzähler auskommt, werden nun zwei Jugenderinnerungen angeführt, mit denen als gesichert gelten kann, daß John Glückstadt in den Brunnen fällt und schließlich stirbt. Nach diesen Erinnerungen ermahnt sich der Erzähler, nun zu Bett zu gehen, und fügt hinzu: »und, Seele, geh du auch zu Bett!« (LL , ); denn mit der Geschichte ist tiefe Nacht hereingebrochen: Ich zog meine Uhr: es war nach Eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande – seit meiner Jugend haftete dergleichen an mir – hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehen, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Rätsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Totengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. (LL , )
Die zuvor mitgeteilte Geschichte wird nun also nicht der Erinnerung zugesprochen, sondern einem »halbvisionärem Zustande«. Das mit wacher Seele beziehungsweise vor dem im Anfangsrahmen genannten »innere[n] Auge« (LL , ) vorübergezogene Menschenleben macht den Erzähler zu einem außenstehenden Betrachter einer gleichsam automatisierten Geschichte. In der
In der Binnenerzählung heißt es im Resultat eindeutig » – – John Glückstadt ist niemals wieder nach Haus und nie zu seinem Kinde zurückgekommen«, und auch im Geschehen kaum interpretationsbedürftig: »aber sein Fuß fand keinen Boden – – ein gellender Schrei fuhr durch die Finsternis; dann war’s als ob die Erde ihn verschluckt habe.« (beide Zitate LL , ) – Des weiteren wird mitgeteilt, daß die Leute im Dorf verschiedenen Theorien nachhängen, was mit Glückstadt passiert sein könnte; dazu Schunicht, Theodor Storm. ›Ein Doppelgänger‹, S. : »Daneben ist jedoch kaum zu übersehen, mit welchem Nachdruck der Erzähler die Rästelhaftigkeit dieses Todes unterstreicht. Das geschieht vor allem durch den aus unterschiedlichen Perspektiven zweimal erzählten Schluß. Der eine begnügt sich mit der berichteten Wiedergabe der Gerüchte, die die Stadt erfüllen: John Glückstadt sei im Hafen ertrunken, wahrscheinlicher aber nach Amerika ausgewandert. Dieser Schluß bleibt eingeengt auf die Ebene der Wirklichkeit. Der andere schildert John Glückstadt Sturz und begreift seinen Tod als rätselvolle unausweichliche Erfüllung des Schicksals. Sie wird sichtbar in der magischen Kraft des Brunnens, dessen symbolhaft vieldeutige Bildlichkeit den gesamte Bereich unnenbarer Kräfte repräsentiert, die keine rationale Auflösung zulassen.« Auch die Formel vom »poetischen Sich-Erinnern« scheint mir nicht zutreffend nuanciert; Neumann, Ein Text und sein Doppelgänger, S. .
Behauptung »Jetzt kannte ich es plötzlich« wird diese Distanz aufgehoben, denn das rätselhafte Ende John Glückstadts wird zum pseudo-authentischen Erlebnis: »deutlich sah ich die zusammengekauerte Totengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe«. Der Erzähler, der zum Zeitpunkt der Ereignisse, nämlich als Kind, nur durch zwei Freunde vom Spuk um den Brunnen erfahren hat, versetzt sich derart in seine eigene Vision, daß er unmittelbar an ihr teilhat. Er ist nicht mehr reflektierender Visionär am Fenster, sondern vermag als in die Vision eintretende Figur einen Blick in den Brunnen zu werfen. Mit der Binnenerzählung liegt also keine Erinnerung des Ich-Erzählers vor, sondern halbvisionäre, schwerlich verläßliche Erfindung. Es verwundert daher nicht, wenn die Reaktion des Ehemannes ausgesprochen verhalten ausfällt, nachdem er erfahren hat, »was in der vergangenen Nacht mir in Erinnerung und im eigenen Geist aufgegangen war«: »Hm«, machte der besonnene Mann und ließ seine Augen treuherzig auf mir ruhen; »das ist aber Poesie; Sie sind am Ende nicht bloß ein Advokat!« […] »Ich danke Ihnen, lieber Freund«, sagte er dann; »aber der Vater meiner Frau – ich hatte freilich nur Weniges von ihm gehört – ist mir nimmer so erschienen.« »Und wie denn anders?« frug ich. Er antwortete nicht mehr, sinnend gingen wir neben einander, bis wir das Haus erreicht hatten. (LL , )
Das Mißtrauen gegenüber dem Advokaten ist mit Blick auf den Stellenwert einer grundsätzlich ›wirklichkeitsinkompatiblen‹ Poesie berechtigt. Bereits zu Beginn der Rahmenhandlung wird der Ich-Erzähler im Gasthof ›Zum Bären‹ Zeuge, wie ein alter Förster einen jungen schilt: »Und dessen gedenke noch, […] du bist ein Stück von einem Träumer, Fritz; du hast sogar schon einmal ein Gedicht gemacht; laß dir so was bei dem Alten nimmer beikommen!« (LL , ) Auf Nachfrage erfährt der Erzähler, daß die Poesie nicht nur lebensfern ist (poetisches Schwärmen habe dafür gesorgt, daß ein Rehbock selbst dem Alten »darüber aus dem Schuß gekommen [ist]!«, LL , ), sondern gänzlich wirklichkeitsfremd, wenn man etwa über ein bedichtetes Geißblatt »raunt«: »Das war ja nicht von dieser Welt« (beide Zitate LL , ). ›Poesie‹ gilt also
Die Verben ›kennen‹ und ›sehen‹ suggerieren einen faktualen Status der Vision. Demgemäß würde sich auch der Wunsch des Ehemannes zur besagten Nacht erfüllen: »Doch – gute Nacht! Auch die Vergangenheit soll schlafen!« (LL , ); es wacht bloß die in der Vision befangene Seele des Erzählers, der nach der Binnenerzählung nur langsam zu sich kommt: » – – – Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus, und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs.« (LL , ) Es ist unklar, ob Singen, Rezitieren oder Dichten gemeint ist. Über den vom Fenster aus – an dem der Erzähler seinen halbvisionären Zustand durchlebt – sichtbaren Wald heißt es: »der schützt Sie vor allem Weltgeräusch!« (LL , ) Man mag an eine ironisierte Transzendentalpoesie denken.
innerhalb der Rahmenerzählung als verdächtig, sie wird mit Träumerei assoziiert und hat ihren Platz außerhalb der »Welt«. Nicht anders darf die vermeintliche Biographie des ›Doppelgängers‹ bewertet werden, die der Förster zu Recht als realitätsferne Visionsprosa kennzeichnet: »das ist aber Poesie«. Es mag erstaunen, daß eine derart in Frage gestellte Erzählung dennoch große Wirkung entfalten kann: Nachdem nämlich die Tochter die vermeintlich wahre Geschichte über ihren Vater gehört hat, »hat [sie] jetzt mehr an ihm; nicht nur den Vater, sondern einen ganzen Menschen« (LL , f.). Die fragwürdige Aufdeckung der ›Doppelexistenz‹ hat nun also den »ganzen Menschen« ans Licht gebracht. Auch der Ehemann wandelt sich, gibt nämlich zu: »Sie mögen recht haben, er wird wohl so gewesen sein, und er war dann doch noch ein anderer Kerl, als wie er bisher weichselig im Herzen seiner Tochter ruhte«. (LL , ) Die vorsichtige Zustimmung (»mögen recht haben«, »wird wohl«) gründet sich auf der heilsamen Wirkung der Geschichte auf die Ehefrau, so daß man fast mutmaßen möchte: »Die völlige Wahrheit ergibt sich nicht aus ihrer Beweisbarkeit, nicht einmal aus ihrer inneren Stimmigkeit, sondern erst aus ihrem Heilungseffekt bei Frau Christine.« Heilung qua Poesie ist jedoch mitnichten ein Signal oder gar ein Beleg für die »völlige Wahrheit« der Erzählung. Man kann eben nicht von »poetisierter Wirklichkeit« sprechen, denn als ›wahrhaftige Wirklichkeit‹ kann einzig und allein die Situation der Rahmenerzählung gelten, während die Binnenerzählung ›gemachte‹ Poesie ist, Poiesis. ›Ein Doppelgänger‹ deutet somit nicht nur auf die scheiternde Resozialisierung John Glückstadts zu John Hansen hin, sondern auch auf den »halbvisionären« Erzählakt; unter dem Eintrag ›Doppelgänger‹ verweist etwa die vierte Auflage (–) von ›Meyers KonversationsLexikon‹ auf das Lemma ›Zweites Gesicht‹: Z. G. nennt man auch das Doppeltsehen (Deuteroskopie) oder die nach dem Volkswahn gewissen Menschen verliehene Fähigkeit, zu gleicher Zeit an zwei Orten gesehen zu werden, wo dann das eine Gesicht der wirkliche Mensch, das zweite bloß dessen gespenstisches Schattenbild ist. Solche Doppelgänger sollen meist besondern Unglücksfällen ausgesetzt sein und sterben, sobald sie sich selbst erblicken.
Ihr Ehemann erzählt ihr die Geschichte, die ihm der Ich-Erzähler erzählt hat, welcher sie in halbvisionärem Zustand ersann. Auch das Geißblatt wird wieder erwähnt; der Ehemann teilt brieflich mit, daß es »jetzt wieder blüht« (LL , ). Meyer-Krentler, Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm, S. . Ebd., S. . Vgl. Schunicht, Theodor Storm. ›Ein Doppelgänger‹, S. : »Der Versuch, Poesie als erstrebte Alternative zu[r] negativ bewerteten sozialen Wirklichkeit sichtbar zu machen, bildet die eigentliche Intention des Rahmens. Damit teilt Storm durchaus die Poesieauffassung des bürgerlichen Realismus.« Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, ., gänzlich umgearbeitete Auflage, Bd. : Uralsk–Zz, Leipzig u. a. , S. . –
Zwar ist nicht der Erzähler selbst ein Doppelgänger, und auch John Glückstadt muß nicht gegen sein Trugbild ankämpfen, doch liegt die Verknüpfung mit dem Visionären eindeutig in der Rahmen-, nicht in der Binnenhandlung. Das tragische Trugbild – ›den Doppelgänger‹ – erfindet und entspinnt der Erzähler, mag er auch mit dem Unglückstod Glückstadts zu einem heilsamen Schluß finden. Bezeichnenderweise endet die Novelle nicht mit der Heilung der Ehefrau. Nach dem Bericht über die brieflichen Mitteilungen des nunmehr eng befreundeten Ehepaars wird schließlich auch die Darstellung innerhalb der Rahmenerzählung erschüttert: So schrieb der Oberförster damals; aber, wie es so geht, obgleich Briefe ein paar Mal in jedem Jahre zwischen uns hin und her gegangen sind, ich bin nicht wieder dort gewesen. Aber hier links in der Ecke meiner Schreibstube, auf zwei Stühlen steht jetzt mein gepackter Reisekoffer; draußen an den Wallzäunen blüht einmal wieder das Geißblatt, und hier drinnen ist für eine Woche alles sauber weggeordnet; denn gewiß und wahrhaftig – morgen geht es fort zu meinen Freunden, zu John Glückstadts Tochter und zu meinem wackeren Oberförster. Sein Brief, der die Antwort auf meine Anmeldung brachte, war ein rechter Jubelbrief. »Wir harren Ihrer mit Freuden«, schrieb er; »[…] Kommen Sie also; uns fehlt nur noch der Freund!« – – Gewiß, wenn Gottes Sonnenschein mich morgen weckt, ich komme! (LL , )
Die adversative Wendung von der Vergangenheit hin zur Erzählgegenwart »hier links in der Ecke meiner Schreibstube« findet ausnahmsweise unmarkiert und damit um so abrupter statt. Damit eröffnet sich eine neue ›Wirklichkeit‹, die eine Rahmensituation konstituiert: Wenn nämlich der Anfangsrahmen und der erste Schlußrahmen als explizit vergangen bezeichnet werden können, das Präteritum also nicht bloß ›episches‹ Erzählen anzeigt, dann eröffnet sich eine Distanz zwischen dem nunmehr in einer Erzählgegenwart konturierten Erzähler und seinen erzählten Erlebnissen. Die Schachtelrahmenerzählung entsteht jedoch nicht (entgegen der Konvention des . Jahrhunderts), indem »die Binnenerzählung eines ersten Rahmens zum Rahmen einer zweiten Bin-
Im ›Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens‹ heißt es zum ›Doppelgänger‹: »Der D. ist die Verkörperung eines lebhaft erregten Gefühls oder ein warnender Vorspuk. Im ersten Fall wird die Gestalt von einer anderen Person wahrgenommen, im zweiten hat die doppelgehende Person selbst die Erscheinung der eigenen Gestalt.« (Sp. ) Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer, Bd. : C. M. B.–Frautragen, unverändeter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin und Leipzig , Berlin, New York , Sp. –. Der Artikel schließt mit dem Satz: »In Wirklichkeit reichen die meisten derartigen Vorgänge in das Gebiet der Vision (s. d.) hinüber, manche lassen sich auch durch die Annahme hellseherischer Veranlagung und telepathischer Einwirkung erklären.« (Sp. ) Man beachte demgegenüber Storms Einsatz von Gedankenstrichen, sowohl im selben Zitat als auch bei markanten Erzähleinschnitten in vorangegangenen Zitaten (beispielsweise LL , oder LL , ).
nenerzählung wird«, sondern durch die nachträgliche ›Abstufung‹ des Anfangsrahmens. Erst die Offenbarung der Erzählgegenwart durch das Präsens (»jetzt«) und auch die räumliche, nachgerade demonstrativ-deiktische Situierung (»hier links«, »hier drinnen«) der Erzählsituation, enthüllen auf verhältnismäßig radikale Weise den gleichfalls entrückten Status der vorangehenden Rahmenhandlung. In den Blick gerückt wird, wenn auch eher beiläufig, die »Schreibstube«, »hier« und »jetzt«. In all dieser artistischen Komplexität des Erzählens mag der abschließende fromm-euphorische Zukunftswunsch, » – – Gewiß, wenn Gottes Sonnenschein mich morgen weckt, ich komme!«, erneut als Grenzüberschreitung des Erzählers hin zu den Figuren seiner erzählten Welt anmuten. Die Novelle ›Ein Doppelgänger‹ findet somit ein Ende, das unterstreicht, wieviel Distanz zwischen der Darstellung einer prosaisch-naturalistischen ›Irrealität‹ der Binnenerzählung und der einzig authentischen Erzählgegenwart liegt.
. »Ihnen erzähl’ ich’s gern« – erzählte Geschichten Im folgenden werden diejenigen Novellen Theodor Storms vorgestellt, deren Binnengeschichte zum mündlichen Vortrag kommt. Binnengeschichte (zumeist identisch mit der Darstellungs-Ebene) und Rahmensituation (zumeist identisch mit dem Darstellungsmodus) werden dabei konträr gegenübergestellt. Auf durchaus redundante Weise zeigt sich dabei immer wieder, daß Theodor Storms Novellen nicht einfach poetisch-realistisch darstellen, sondern die ›eigentliche‹ Geschichte in eine Erzählsituation einbetten, aus der her
Andreas Jäggi, Die Rahmenerzählung im . Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage, Bern , S. . Die Mitteilung, daß »hier drinnen […] für eine Woche alles sauber weggeordnet« ist, verrät vielleicht nicht nur die Sorgfalt des Reisenden, sondern mag auch auf vorangegangene Unordnung in der Schreibstube schließen lassen. Vgl. ansatzweise auch Brigitte Leuschner, Erfinden und Erzählen. Funktion und Kommunikation in autothematischer Dichtung. In: MLN, , , S. –. – Eine gleichfalls mit Ästhetisierung argumentierende Interpretation, die allerdings einen medientheoretischen Schwerpunkt auf das Phänomen der Erinnerung legt, bietet Gerhard Plumpe, Gedächtnis und Erzählung. Zur Ästhetisierung des Erinnerns im Zeitalter der Information. In: Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten, hg. von Gerd Eversberg und Harro Segeberg, Berlin , S. –. Plumpe macht auch darauf aufmerksam (S. ), daß der Erzähler in ›Ein Doppelgänger‹ die Rahmensituation zunächst auf den Hochsommer datiert (LL , ), den Tag nach der Vision jedoch als »einen schönen Frühlingstag« beschreibt (LL , ). Die mündlich vorgetragene Binnengeschichte kann ihrerseits schriftlich fixiert oder erinnert sein – in solchen Fällen wird die ›Ästhetisierung‹ um so komplexer.
aus die dann sekundäre und somit ›markierte‹ Fiktion entworfen wird. Ferner soll der folgende Abriß verdeutlichen, in welcher Vielfalt diese sekundäre Fiktion ihrerseits fiktionalisiert wird. Ein solches Konglomerat an ›Ästhetisierungsstrategien‹ möge jeweils pars pro toto hervorheben, daß Storms Novellen mit mündlich vorgetragener Binnengeschichte ihren Fiktionsstatus nicht bloß durch eine simple Rahmung markieren, sondern im Sinne einer aemulatio die eigentliche ›Geschichte‹ nachgerade artistisch in ein Netz von Überlieferungen und fiktionsstatuierenden Reflexionen einbetten. Dem Schema von Boccaccios ›Decamerone‹ entsprechend kann das Modell der Erzählgemeinschaft als geradezu ur-novellistisch gelten. Diese Rahmenform findet sich in Storms Einzelnovellen jedoch verhältnismäßig selten. In der frühen Novelle ›Im Saal‹ () handelt die nahezu ereignislose Binnenerzählung von einer frühen Begegnung des Kindes Barbara mit ihrem späteren Ehemann. In der Rahmenerzählung wird eine Taufgesellschaft von der Großmutter, der Erzählerin und Hauptfigur der Binnenhandlung, unterhalten. Ihre Augen sehen »rückwärts in eine vergangene Zeit«, und sie ist im Erzählen ihrer Geschichte geübt: »Es ist achtzig Jahre her; Dein Großvater und ich, wir haben es uns oft nachher erzählt« (beide Zitate LL , ). In ›Eine Malerarbeit‹ () erzählt ein Arzt die Geschichte des Malers Edde Brunken. Innerhalb dieser Binnengeschichte erzählt Brunken jenem einen Teil seiner Lebensgeschichte. Zuhörer des Arztes sind in der Rahmenhandlung »Männer und
Auch ein Novellenzyklus findet sich im Werk Theodor Storms, jedoch wird ›Am Kamin‹ () für gewöhnlich nicht zu den Novellen gezählt, da Storm den Text nicht in die Gesamtausgabe seiner Schriften aufgenommen hat – über die Umstände der ausbleibenden Aufnahme berichtet LL , f. In Klammern angegeben ist das Jahr des Erstdrucks; die Entstehung, rekonstruiert aus ersten Entwürfen oder Briefmitteilungen, liegt bei Storms Novellen in der Regel höchstens ein Jahr zurück. Laage eröffnet mit ›Im Saal‹ seine Studie zum Erinnerungsmotiv in der Novellistik Theodor Storms; thematisierte Erinnerung gilt hier als Beglaubigungsstrategie: »Zusammenfassend läßt sich sagen: der einleitende Teil der Novelle zeichnet die konkrete Erinnerungssituation, aus der sich die nachfolgende Erzählung glaubwürdig – hier als improvisierte Erinnerungserzählung – entwickeln kann.« Laage, Erinnerungsmotiv; hier S. . Ebd., S. f.: Storm wolle den Leser »am Geschehen teilnehmen, das Zustandekommen der Erinnerungserzählung miterleben lassen und auf diese Weise der Fiktion, daß es sich im folgenden um eine erlebte, um eine wahre Geschichte handelt, Glaubwürdigkeit verleihen«. Ähnlich argumentiert No-Eun Lee, Erinnerung und Erzählprozess in Theodor Storms frühen Novellen (–), Berlin , S. ; Storms Novellistik sei charakterisiert durch »eine Perspektivierung, die zwischen dem Erzählenden und dem Erzählten ein unaufhebbares Spannungsverhältnis erzeugt, durch die mehrfach gestaffelten Rahmenkonstruktionen und ein mehrsträngiges Erzählverfahren, das die Glaubwürdigkeit des Erzählten und die Distanzierung zum Erzählten zugleich gewährleisten, und durch das spannungsvolle Wechselverhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung.«
Frauen, eine behagliche Plaudergesellschaft«. Der Ich-Erzähler dieser Rahmengeschichte ist anscheinend stummer Beobachter in der geselligen Runde und konturiert sich nur im ersten Satz: »Wir saßen am Kamin, […].« (LL , ). Man diskutiert in der Rahmengeschichte über eine unglückliche Beziehung, und die vom anwesenden Arzt vorgebrachte Sentenz, die fordert, daß man »sein Leben aus dem Holze schnitzen [soll], das man hat«, veranlaßt zur Nachfrage: »Doktor, […], ich merke schon, dahinter steckt wieder eine Geschichte, aber die Contes moraux sind aus der Mode gekommen.« Nach der Versicherung: »es kommt auf die Moral nicht an« (alle Zitate LL , ), werden Scheite für den Kamin nachgelegt, und der Arzt erzählt die Lebensgeschichte Edde Brunkens. Verwirrt bleiben die Zuhörer zurück, die ob des Verhältnisses von der Binnengeschichte zur Ausgangssituation fragen: »Wie paßt denn das auf unsern Fall?« (LL , ) Eine Zusammenfassung von ›Eine Malerarbeit‹ könnte also lauten: Ein Rahmenerzähler erzählt, wie er in einer Erzählgemeinschaft einen Arzt ›unpassend‹ über den Maler Brunken hat erzählen hören, der seinerseits diesem Arzt erzählt hat. Eine Erzählgemeinschaft bietet auch ›Der Herr Etatsrat‹ (), in dem nach einer knappen Situationsbeschreibung der Übergang zur Binnengeschichte nachgerade medias in res gestaltet wird: Wir hatten über Personen und Zustände gesprochen, wie sie zur Zeit meiner Jugend in unserer Vaterstadt gewesen waren, und zuletzt auch einer eigentümlichen und derzeit nicht eben in bester Weise viel besprochenen Persönlichkeit Erwähnung getan. »Sie müssen die Bestie ja noch in Person gekannt haben?« wandte sich ein etwas derber junger Freund zu mir. (LL , )
Ein Brief Theodor Storms kann Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Dichters geben; demnach werden Ästhetisierungsstrategien nicht als schmückendes Beiwerk schlußendlich hinzugefügt, sondern können genuiner Bestandteil bereits früher Entwürfe sein: »Vor Tagen habe ich denn auch wieder ein wenig zu pinseln begonnen, d. h. zu einem vor ein paar Jahren hingeschriebenen Anfang: ›Also Sie haben die Bestie noch in Person gekannt‹ haben sich unvermuthet die Scenen eingefunden«. Storm an Erich Schmidt, Brief von Mitte November , S. . LL , K vermerkt dazu: »Tatsächlich hat Storm die Novelle ursprünglich mit dem Satz begonnen: ›Also Sie haben die Bestie noch in Person gekannt?‹ Dieser Anfang ist in der Reinschrift noch lesbar, unter einem Blättchen, das den endgültigen Anfang enthält und mit dem Storm in H den ursprünglichen Anfang überklebt hat.« – Vgl. auch die in LL mitgeteilten, nicht ausgeführten fünf Novellentwürfe, von denen immerhin ›Marie von Lützow‹ (er Jahre; »Politischer Fanatismus. – Es geht doch eins darüber – Was denn? – Die Liebe. – Eine Dame zweifelt, und erzählt.« LL , ), die ›Florentiner Novelle‹ (; »Kurzes Vorwort. Er sieht eine junge Rothaarige. Zeitweilige Abwesenheit des Erzählers: ›So will ich es erzählen, d. h. sub discretissima rosa.‹« LL , ) und ›Die Armesünder-Glocke‹ (; »Die meisten der jetzt Lebenden werden von einer solchen Glocke gehört oder gelesen haben; sie selbst gesehen oder ihren Klang vernommen hat wohl niemand. Man meint zu wisssen, […]. In einem Kirchturm unserer nördlichen Städte aber soll zu Anfang des . Jahrhunderts
Tatsächlich weiß der Ich-Erzähler über den ›Herrn Etatsrat‹ zu berichten, wenngleich er nach recht kurzer Zeit eingesteht, daß er für die Authentizität zumindest von Teilen seiner Geschichte kaum wird bürgen können: »Ich habe übrigens, wie ich bemerken muß, diese Dinge nicht aus eigener Wahrnehmung, sondern von dem nächsten Grundnachbarn des Herrn Etatsrat«. Dieser ist ein alter, »schnurrenliebender Rotgießermeister« (beide Zitate LL , ), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Familie des Herrn Etatsrat unter dem Fenster zu belauschen. Wohl auch eingedenk dieses »Gewährsmannes«, bezeugenden Voyeurs und unglaubwürdigen Schnurrenliebhabers scheint der Gesprächspartner des Rahmenerzählers stutzig zu werden. »Hm« lautet seine Reaktion auf die Wiederholung der bereits vor Beginn der Binnenerzählung erfolgten, recht kryptischen Beteuerung des Erzählers, er habe den Herrn Etatsrat »in gewisser Beziehung allerdings gekannt« (LL , ), die nun am Ende in stark veränderter Form wiederaufgenommen wird: »Sie aber sind der Erste, dem zu erzählen mir die Ehre wurde, daß ich den großen Mann mit eigenen Augen noch gesehen habe« (LL , ). Damit entspricht der Erzähler der Prophetie des Herrn Etatsrats, welcher ahnt, daß er den Mann vor sich habe,
ein Armesünderglöckchen gehangen haben, […].« LL , ) bereits als Rahmenerzählung konzipiert sind. – Später hinzugefügt hat Storm die ›Einleitung‹ in ›Auf dem Staatshof‹ (LL K f.). Gerd Eversberg vermerkt zum Erzähler: »es wird sich im Verlauf der Erzählung zeigen, daß er nur wenig weiß, ja daß die eigentlichen Ereignisse für ihn seltsam verschleiert bleiben. […]. Aber im Erzählprozeß tun sich merkwürdige Lücken auf, und das Erzählte bleibt zum Teil unscharf. Warum weiß der Erzähler so wenig über Phias Schicksal? Warum will er nicht wahrhaben, was alle um ihn herum bereits wissen?« Gerd Eversberg, Die Schuld des Erzählers in Theodor Storms Novelle »Der Herr Etatsrat«. In: Theodor Storm – Narrative Strategies and Patriarchy / Theodor Storm – Erzählstrategien und Patriarchat, hg. von David A. Jackson, Mark G. Ward. Lewiston, Queenston, Lampeter , S. –; hier S. f. Der Erzähler beruft sich kurz vor Schluß seiner Erzählung wiederum auf den Nachbarn: » – Was noch folgte, habe ich nicht miterlebt; […] aber mein Gewährsmann ist wiederum jener alte Handwerksmeister, der nächste Nachbar des Herrn Etatsrats.« (LL , ) Tatsächlich spart der Schlußrahmen die Erzählgesellschaft aus und entwirft eine rein dialogische Situation zwischen Ich-Erzähler und dem Gesprächspartner, der weiterhin als »mein ungeduldiger junger Freund« (LL , ) getadelt wird (vgl. LL , ). Der vollständige Satz lautet: »Hm; und Herr Käfer?« (LL , ), fragt also nach dem bis dahin ungeklärten Verbleib einer Nebenfigur. Der Schlußabschnitt im Erstdruck lautet, mit deutlicher Literarisierung der Binnengeschichte: »›Ist das eine Novelle, deren Sie mich da gewürdigt haben?‹ frug er und langte aufs Neue in die Zigarrenkiste, die ich ihm mittlerweile zugeschoben hatte. ›Eine Novelle? Ich glaube kaum; wenn Sie durchaus classificieren müssen, so stellen Sie es zu den ›Zerstreuten Kapiteln‹, die ich neulich so fein mit ›Le capital dissipé‹ übersetzt gelesen habe.‹ ›Hm, ich verstehe. Und der Herr Etatsrath, was ist aus dem geworden?‹ ›Nun, was zuletzt aus Allen und aus Allem wird!‹« (LL , )
»von dem Sie einst erzählen mögen, daß Sie den Mann mit eigenen Augen noch gesehen haben« (LL , ). – Wie in den zuvor genannten Novellen entwirft der Rahmen nicht bloß eine ›einfache‹ Distanz zwischen Binnengeschichte und Rahmenerzählung, sondern es wird über die gehörte Geschichte reflektiert, sie wird als ›Geschichte‹ markiert. Abgesehen von der Novelle ›Im Saal‹ referiert Storms Erzähler dabei nicht seine eigenen Erlebnisse, sondern berichtet über andere, deren Geschichte er gegebenenfalls wiederum nur aus anderen Überlieferungen kennt. In der Novelle ›»Es waren zwei Königskinder«‹ () handelt die Binnengeschichte vom kurzen, tragisch endenden Leben des Konservatoriumschülers Marx. In der Rahmenhandlung gibt eine »laue Sommernacht« auf der »Terrasse unseres Landhauses« Anlaß dazu, daß »lebhaft geplaudert« und gelacht wird. Der Vetter des Ich-Erzählers und der anwesende Arzt kommen dann auf den jungen Marx zu sprechen. Der Arzt kennt dessen Lebensgeschichte bereits (der Vetter: »ich habe es ihnen vor Jahren, da es mich eben stark geschüttelt hatte, auch wohl schon erzählt«; alle Zitate LL , ), besteht aber auf ein erneutes Erzählen: »und wenn die Erinnerung Sie drängt, so erzählen Sie es jetzt auch den Anderen; ich mein’ es ist jetzt eine rechte Stunde, und ein gutes Gedenken könnte, wenn man so sagen dürfte, auch denen wohltun, welche nicht mehr sind.« »Wollen wir das annehmen!« erwiderte Fritz, und da auch wir anderen in ihn drangen, so begann er: […]. (LL , )
Diese Rahmenhandlung, die am Ende der Novelle wieder aufgegriffen wird, ist ihrerseits erinnert vom Ich-Erzähler, der beginnt: Es ist ein Erlebnis, das ich heut erzählen will; nicht mein eigenes, es ist mir selbst erzählt worden; aber von so lebendiger Erinnerung, daß ich nur hätte nachzuschreiben brauchen. (LL , )
Dem Zitat zufolge könnte es sich um einen Erzähler handeln, der seinem Handwerk des öfteren nachgeht und »heut« ein fremdes »Erlebnis« mitteilt. Mit dem Verweis auf die mögliche, hier jedoch nicht vollzogene Verschriftlichung macht der Erzähler darauf aufmerksam, daß auch sein Erzählen mündlich ist – er »hätte [nur] nachzuschreiben brauchen«, hat es aber offensichtlich nicht. Auch die Verknüpfung zwischen »so lebendig« und »nur hätte nachzu
Man beachte auch Einwürfe innerhalb der Binnerzählung wie: »Ich hätte wohl schon erwähnen sollen, daß Archimedes eine Schwester hatte« (LL , ), oder gar als Paralipse: »Ich habe hier nicht von mir und meinem Studentenleben zu reden, sonst müßte ich erzählen, […].« (LL , ) Das ›Deutsche Wörterbuch‹ hat kein Lemma ›mitschreiben‹, bietet aber auch für ›nachschreiben‹ keine Bedeutung an, die auf unmittelbare Verschriftlichung abzielt: ») hintennach schreiben, schriftlich nachmelden: […]. ) hinter eines rücken etwas von ihm schreiben: […]. ) durch schreiben nachbilden, schriftlich wiedergeben: […]. ) vorge-
schreiben brauchen« deutet auf einen Dichter hin, der die Erinnerung nicht weiter hätte bearbeiten müssen, da sie auch als literarischer Text ansprechend lebendig gewesen wäre. Da die Erinnerung jedoch nicht mitgeschrieben wurde, mag man vice versa daraus schließen, daß die Lebensgeschichte Marxens, erinnert vom Vetter des Ich-Erzählers, welcher sich daran erinnert, wie jener die Geschichte vorgetragen hat, schwerlich die ›tatsächliche‹ Biographie der Hauptfigur wiedergeben kann. Die Novelle ›Im Brauer-Hause‹ handelt in der (markant unterbrochenen) Binnenerzählung von den Folgen eines Gerüchts: Sievers glaubt, in seinem Bier einen Daumen gefunden zu haben. Der Brauer Lorenz wird angeklagt und ist wegen des schlechten Leumunds alsbald ruiniert, obwohl offiziell festgestellt wird, daß der vermeintliche Daumen eine unförmige Hefemasse gewesen ist. Die Rahmenhandlung der Novelle beginnt »in einem angesehenen Bürgerhause, wo wir am Abend-Teetisch in vertrautem Kreise beisammen saßen.« (LL , ) Das Gespräch verläuft schleppend und man bemerkt, daß die Wirtin sich allzu still verhält. Ihre Tochter mutmaßt, sie denke an Peter Liekdoorns Finger. »Ja, ja, Peter Liekdoorn!« sagte nun auch der alte Herr; »das ist eine Geschichte! Erzähl’ sie nur, Mutter, deine Gedanken kommen sonst ja doch nicht davon los; und zu verschweigen ist ja nichts dabei!« »Nein, mein Vater«, sagte die alte Dame; »es ist ja einstens auch genug davon geredet worden.« Dann sah sie uns Alle der Reihe nach mit ihren freundlichen Augen an, und als auch wird dann baten, begann sie in ihrer mitteilsamen Weise: »Mein Vater hatte, wie das Ihnen Allen wohl bekannt ist, eine Brauerei; […].« (LL , )
In einer längeren Schweigepause, »als ob ihre Erzählung hier zu Ende sei«, wird der Rahmenerzähler skeptisch, worauf eine »muntere Frau« einwirft: »Was wollen Sie noch weiter? Ende gut, Alles gut!« (LL , ), dann aber die Binnenerzählerin ihre Geschichte fortsetzt. Letztlich »endet diese Geschichte wie hoffentlich auch alle anderen Geschichten auf dieser Erde« (LL , ), wie die Binnenerzählerin meint. Der Rahmenerzähler fügt ein Kompliment hinzu und gibt an, die erzählte Erzählung ›Im Brauer-Hause‹ sei soeben schriftlich fixiert: Sie schwieg und reichte ihrem alten Eheherrn die Hand, der sie wie das Kleinod seines Lebens in die seine nahm. – Und dafür, indem wir jetzt die Feder fortlegen, halten auch wir die Hand einer jeden wahrhaft guten Frau. (LL , )
sagtes niederschreiben: […]. ) schreibend versäumtes nachholen.« Jacob Grimm, Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. : N–Quuren, bearbeitet von Matthias von Lexer, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig , München , Sp. . Die Binnenerzählerin ist in ihrer Geschichte auf Glaubwürdigkeit bedacht: »Ich sehe das alte dumme Weib noch vor mir«, oder: »Und dann las ich, und noch heute weiß ich jedes Wort« (beide Zitate LL , ).
Ausgehend von der Darbietungsform der Binnenerzählung soll auch ›Der Schimmelreiter‹ () an dieser Stelle erwähnt werden; die Binnenerzählung über den Deichgrafen Hauke Haien – welche auf die Erinnerung eines ersten Rahmenerzählers folgt, er habe in seiner Kindheit die nachfolgende Erzählung gelesen – wird in einem Wirtshaus begonnen, in dem der Ich-Erzähler (der zweite Rahmenerzähler) bei nächtlichem Sturm Zuflucht sucht. Als die Rede auf den ›Schimmelreiter‹ kommt, wird der anwesende Schulmeister als Erzähler bestimmt, da er die Geschichte, die »viel Aberglaube dazwischen« (LL , ) hat, »am besten erzählen [kann]; freilich nur in seiner Weise und nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirtschafterin Antje Vollmers es beschaffen würde.« (LL , ) Mündliches Erzählen und damit der Beginn der eigentlichen Geschichte bedarf also auch hier einer immensen ›Vorbereitung‹, in deren Konsequenz sich die Binnenhandlung immer weiter vom Darstellungsmodus entfernt. Die mündlich vorgetragenen Binnenerzählungen in Theodor Storms Novellen werden nicht nur vom Erzählen in größerer Gesellschaft initiiert, sondern auch vom dialogischen Erzählen. Im familiären Kreis spielt die Geschichte ›Unter dem Tannebaum‹ (), in der ein Mann bei Verzehr eines Weihnachtsgebäcks seine Frau an einer Erinnerung teilhaben läßt: »Was für gute Geister aus diesem Kuchen steigen […]; ich sehe plötzlich, wie es daheim in dem alten, steinernen Hause Weihnacht wird.« (LL , ) Auf diesen ersten Abschnitt, der ›Eine Dämmerstunde‹ betitelt ist, folgt das zweite, nach dem Haupttitel benannte Kapitel, in dem der Amtsrichter nun Zwiesprache mit seinem Sohn hält. Gleich zwei mündlich vorgetragene Binnenerzählungen in ebenfalls dialogischer Situation liegen bei der Novelle ›In St. Jürgen‹ () vor. Die Binnenerzählungen handeln von Agnes Hansen und Harre Jensen, einem verhinderten Liebespaar. Bezeichnend für das ›poietische‹ Erzählen wird nicht ›einfach‹ deren Lebensgeschichte erzählt, sondern bruchstückhaft erinnert einer, was er von anderen gehört hat. Die Rahmenerzählsituation wird am Anfang und am Ende der Novelle konturiert: der Rahmenerzähler hört die Schwalbe das Lied ›Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm‹ zwitschern, gedenkt dabei »einer längst Verstorbenen, der ich für manche gute Stunde meiner Jugend zu danken habe.« Er fährt fort: »Meine Gedanken gehen die lange Straße hinauf bis zum äußersten Ende, wo das St. Jürgensstift liegt« (alle Zitate LL , ). Er erreicht sein Ziel in zeitlicher und örtlicher Versetzung: »Durch
Die Begründung für den möglichen Vorzug der Wirtschafterin lautet, daß »bei den Drachen […] derlei Geschichten am besten in Verwahrung« seien. (LL , ). – Zur Interpretation des ›Schimmelreiters‹ vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit. Euphorisch-visionär heißt es später unter anderem: » – Ich sehe Alles; ich sehe Vater und Mutter – Gott sei gedankt, sie leben beide! – aber die Zeit, in die ich hinabblicke, liegt in so tiefer Ferne der Vergangenheit! – – Ich bin ein Knabe noch!« (LL , )
jenes Tor bin ich als Knabe oft gegangen« (LL , ). Das Ende der zweiten Binnenerzählung fällt mit dem Ende des nur vielleicht vernommenen Schwalbengesangs zusammen (»Mir war, als [ob]«): Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Mir war, als höre ich von draußen, fern aus der höchsten Lufströmung, darin die Schwalben ziehen, die letzten Worte ihres alten Liedes: »Als ich wiederkam, als ich wiederkam, War Alles leer.«
Die erste Binnenerzählung wird von der alten Hansen vorgetragen, von der es zunächst heißt, sie pflege von »ihrer eigenen Vergangenheit […] nicht zu erzählen«. (LL , ) Erst die Frage, »wodurch das Unglück über Deine Familie kam«, entlockt der Alten zunächst eine relativierende Bemerkung und ist dann Anstoß für ihre Geschichte: »Das war nichts Besonderes, mein Kind, […] es war anno sieben, zur Zeit der Kontinentalsperre«. (LL , ) Einige Jahre später erfüllt sich der Wunsch eines älteren Herrn, dem der Rahmenerzähler auf einer Reise begegnet: »Ich will Ihnen, wenn Sie hören mögen, dies Stück meines Lebens mitteilen; vielleicht, daß Sie mir dann über die Hoffnung, die ich hege, eine Auskunft zu geben vermögen.« (LL , f.) Die Auskunft über frühere Verhältnisse kann der Erzähler tatsächlich geben, weil der Fahrgast niemand anderer ist als der Geliebte von Agnes Hansen, nämlich der lange verschollene Harre Jensen. In der allen gemeinsamen Heimatstadt angekommen, müssen die Herren jedoch erfahren, daß Agnes Hansen unlängst verstorben ist. Ähnliche Verstrickungen der Figuren in Rahmen- und Binnenhandlungen liegen in ›Abseits‹ () vor. Am Heiligen Abend ist der Schullehrer zu Besuch bei der alten Meta: Sie erzählt die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe zu Ehrenfried. Erst als der Schulmeister wieder gegangen ist, öffnet sie den bereits am Morgen empfangenen Brief, der den Bruder ankündigt. Dieser trägt Schuld an der mißglückten Beziehung zu Ehrenfried, kann nun aber ein Grundstück vor Ort erwerben und somit den familiären Frieden wiederherstellen. In ›Ein stiller Musikant‹ () erinnert sich ein Rahmenerzähler: »Ja, der alte Musikmeister! – Christian Valentin hieß er. – « Die vermeintliche Erinnerung an den Freund scheint jedoch eher einer nicht gerade seltenen, ausgesprochen lebendigen Träumerei geschuldet zu sein, denn: »Zuweilen in der Dämmerstunde, wenn ich vor meinem Ofenfeuer träume, wandelt auch seine hagere Gestalt in dem abgetragenen schwarzen Tuchröckchen an mir vorüber« (LL , ). Der Rahmenerzähler berichtet im folgenden über die ersten Begegnungen mit
LL , . – Die zentrierten Verse können die Frage aufwerfen, inwiefern typographisch unkonventionelle Gestaltung in Erzählprosa metafiktionale Verweiskraft hat. Ähnlich problematisch sind die Erläuterungen dialektaler Ausdrücke in Klammern; ›bearbeitet‹ ist etwa die folgende Aussage von Mutter Pottsacksch in ›Renate‹: »Gnidderswart! Dat mag de Herr wull löwen (glauben)!« (LL , )
Valentin. Man kommt auf die schönen Künste, Literatur und Musik, zu sprechen, und schließlich ist Valentin bereit, von der unglücklichen Zuneigung zu seiner Schülerin Anna, ergo die Binnengeschichte zu erzählen: »Ihnen erzähl’ ich’s gern« (LL , f.). Zehn Jahre später trifft der Rahmenerzähler bei einem Konzertbesuch auf die Tochter Annas, die er über den Tod des alten Lehrmeisters unterrichtet. Der Rahmenerzähler schließt mit einem Segen für die Tochter und deren Familie, so sie inzwischen eine gegründet habe. Alkohol- und Tabakgenuß spielen in den Rahmenerzählungen der Novellistik Theodor Storms eine nicht unbedeutende Rolle. Als der Rahmenerzähler seinen neuen Nachbarn und alten Bekannten, den Kapitän ›John Riew’‹ () besucht, wird »Madeira oder Xeres« (LL , ) serviert, da der Kapitän dem Jamaika-Rum inzwischen abgeschworen habe. Mit der Einladung an den Erzähler, seine Neugier zu befriedigen (»wonach wollen Sie denn fragen?«; LL , ), bricht es aus diesem heraus: »Nun Kapitän, zunächst freilich nach dem Jungen! Waren Sie inzwischen verheiratet? Sind Sie Witwer? Ist der Junge Ihr eigen, oder wo haben Sie ihn aufgelesen? Und wie kommen Sie dazu, sich hier auf dem völlig trockenen Lande anzubauen?« »Holla!« rief er dazwischen, »nun ist’s genug für einmal! Aber Sie erlebten mit mir den Anfang, so mögen Sie auch das Ende wissen!« (LL , )
Was der Erzähler von der Geschichte seines Gastgebers hält, wird bereits im nächsten Satz deutlich: »›Wenn ein Mensch zu viel Tugenden hat‹ – so begann er sein Gespinst, indem er mir eins der dampfenden Gläser zuschob – ›dann ist der Teufel allemal dahinter.‹« (LL , ) Die Binnenerzählung über den Alkoholiker Rick Geyers scheint dem Kapitän bald zu entgleiten, doch kann er sich fassen: »… aber ich will der Reihe nach erzählen.« (LL , ) In einer weiteren Unterbrechung trank er den Rest aus seinem Glase und machte sich daran, ein neues für sich zu mischen; denn der kleine Kessel sauste immerfort. Mir war, als ob ihm das Erzählen plötzlich widerstehe, oder als ob er sich besinnen müsse, wie er fortzufahren habe. (LL , )
Auch später »hielt [der Kapitän] inne und trank den Rast aus seinem Glase« (LL , ), schwieg wiederum, »langte nach seinem halbvollen Glase und trank es in einem Zuge aus« (LL , ), worauf er kundtut: »meine Geschichte ist aus. Wir wollen noch Eins brauen und von anderen Dingen reden!« Der Einwurf des Rahmenerzähler »Aber Ihr wolltet mir noch sagen – « wird abgeschmettert: »Was denn? – Nun ja, seit jener Nacht trinke ich mein Glas nur noch, wie wir es heute Abend tun«. Der Rahmenerzähler verabschiedet sich darauf: »Aber es ist spät; wir wollen heute nicht mehr trinken! Gute Nacht,
Jedoch nimmt der Kapitän seine Erzählung wieder auf, »ohne das dampfende Glas zu berühren«. (LL , )
Kapitän«. Nach einem Absatz geht der Rahmenerzähler (recht überraschend) in die Erzählgegenwart über: »Seit dem hier Erzählten sind fast zehn Jahre vergangen, und es ist wieder einmal Herbst«. (Alle Zitate LL , ) Nach einigen Erläuterungen berichtet er: »Nur eines habe ich noch zu sagen: Eben, vor einer Stunde nur, öffnete sich meine Stubentür, und unser Freund, der Kapitän John Riew’, trat zitternd und bleich zu mir herein«. (LL , ) Die Aufregung ist der Freude geschuldet, daß der Ziehsohn nun selbst als Kapitän zur See fahren kann: »Aber heute Abend, Nachbar«, setzte er, sich ermutigend, hinzu, »trinken wir beide in meiner Koje ein Steifes mit einander und – God damn! – von meinem alten Jamaika!« »Topp«, rief ich, »Kapitän, ich trinke und ich fahre mit Ihnen. Hurra für unseren Jungen!« – – Er ging; und ich habe nichts Weiteres zu erzählen; es ist jetzt Alles gut; denn wir haben die Hoffnung, freilich auch nur diese, wenn wir des alten Ricks gedenken und die Knabenstreiche des jungen nicht auf Abschlag nehmen; aber die Hoffnung ist die Helferin zum Leben und meist das Beste, was es mit sich führt. (LL , )
Die Schlußsätze in ihrer Wendung vom bestimmten »es ist jetzt Alles gut« bis zum »aber die Hoffnung ist die Helferin zum Leben« umgehen die Problematik, die nicht nur die Binnengeschichte aufwirft (die Frau des trunksüchtigen Selbstmörders Rick Geyers wird von John Riew’ zum Alkohol verführt und sucht schließlich an derselben Brücke wie ihr Mann den Tod), sondern auch in der Rahmenerzählung durch den unablässig trinkenden Erzähler Riewe präsent ist. Dessen Ziehsohn, dem jungen Rick Geyer, ist sein Schicksal qua Vererbung gewiß: der erstaunte Doktor Snittger hatte Riewe einst gefragt, ob dieser nicht wisse, »daß selten ein Trinker entsteht, ohne daß die Väter auch dazu gehörten? Diese Neigung ist vor Allem erblich.« (LL , ) Somit entgeht dem alkoholisierten Erzähler, der sich erinnert, die Geschichte über die alkoholkranken Eltern des jungen Rick Geyers von dessen alkoholisiertem Ziehvater John Riewe gehört zu haben, die Problematik seiner nun eigenen Erzählung. Inwiefern jedoch ein Erzähler verläßlich zu nennen ist, der die evidente Brisanz seiner Geschichte nicht zu bemerken scheint, bleibe dahingestellt. Die für den Realismus typische ›Versöhnlichkeit‹ am Ende der Erzählung ist zumindest in diesem Fall nicht bloß Indiz für poetische Verklärung, sondern eine der kategorischen ›Wahrscheinlichkeit‹ zuwiderlaufende Erzählstrategie. In ›Späte Rosen‹ () trifft der Erzähler auf Heimatbesuch einen alten Freund. Man kommt auf dessen familiäre Situation zu sprechen, und der Freund wägt ab: »Es ist kein Unrecht dabei, und auch kein Unheil; ich kann es Dir schon sagen – so weit so etwas überhaupt sich sagen läßt. – –« (LL , f.), beginnt dann aber doch seine Geschichte. Diese dialogische Ausgangssituation findet
Zur ›Sichtbeschränkung‹ des Erzählers in den Novellen des Realismus vgl. etwa Lohmeier, Erzählprobleme; vgl. ferner die Anmerkungen und .
sich nicht selten in Storms Novellen, so etwa auch in ›Von Jenseit des Meeres‹ (). Der Erzähler wartet mit seinem Vetter Alfred in einem Hotelzimmer: »Und wenn Du willst, erzähle mir – von ihr! Ich kenne sie ja nicht; und laß mich wissen, wie Alles so gekommen ist.« Alfred schloß das Fenster und schraubte die Lampe höher, so daß es völlig hell im Zimmer wurde. »Setz Dich und habe Geduld«, sagte er, »so sollst Du Alles wissen.« (LL , )
Nach Beendigung der Binnenerzählung über die hindernisreiche Liebesbeziehung Alfreds zu Jenni bringt der Rahmenerzähler seinen Vetter zum Hafen: »Über ein halbes Jahr ist seit jener Nacht vergangen.« Damit stellt sich auch der Anfangsrahmen als erinnert heraus, zumal der Erzähler berichten kann, daß er »eben jetzt« eine Einladung erhalten habe: »Vor mir liegen zwei Briefe«. (Alle Zitate LL , ) Diese werden zitiert, und der Leser erfährt, daß der Vetter mit seiner Braut alsbald in die Heimat zurückkehren wird. Die Geschichte um Alfred und Jenni ist also ein Konglomerat an Erinnerung, autobiographischer Erzählung, Briefbericht und Informationen Dritter, die vom Erzähler nur bedingt zu einer Einheit gebündelt, vielmehr fragmentarisch zur ›Geschichte‹ zusammengetragen werden. Als der erzählende, junge Nachbarssohn den Meister Paulsen nach seinem Beinamen ›Pole Poppenspäler‹ () fragt, ist dies der Ausgangspunkt einer Geschichte: »Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?« rief er, indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber, bevor ich noch zu antworten vermochte, saß er schon wieder neben mir. »Laß, laß!« sagte er sich besinnend; »es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat. – Ich will es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu. – « (LL , )
Gleichwohl Meister Paulsen von seiner lange zurückliegenden Kindheit berichtet, stehen »gewisse Dinge aus jener Zeit […] noch, wie mit farbigem Stift gezeichnet, vor meinen Augen.« (LL , ) Mit der Lebensgeschichte Paulsens wird der junge Zuhörer nach einer Weile gewahr, daß das ›Puppenspieler-Lisei‹ eben jene Frau ist, von der er mit Meister Paulsen bewirtet wird, nämlich dessen Ehefrau. Meister Paulsen bittet schonend, daß sie »die Geschichte doch nicht wieder hören [soll]« (LL , ), weshalb sich der Erzähler der Binnengeschichte und sein Zuhörer zwischenzeitlich vom Haus entfernen. Die Rahmenhandlung des Zwiegesprächs wird ihrerseits vom jungen Zuhörer, einem nunmehr alten Rahmenerzähler, erinnert, der die Novelle mit folgenden Worten beginnt: »Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln« (LL , ). Den Tod seiner Hauptfiguren implizierend, beschließt er die Erinnerung wie folgt: »Es waren prächtige Leute, der Paulsen und sein Puppenspieler-Lisei.« (LL , )
Das Tempus im Schlußkommentar könnte hier ohne ›epische‹ Funktion sein, also im Kontext von Erinnerung und Sprechgegenwart als präterital aufgefaßt werden.
In ›Ein Bekenntnis‹ () berichtet ein Rahmenerzähler vom Wiedersehen mit seinem Universitätsfreund Franz Jebe im Kurort Reichenhall. Auf die Frage, ob Jebe krank sei, antwortet dieser, es sei »so kurz nicht zu beantworten« (LL , ); er wisse nicht, wo er sein »schweres Bekenntnis ansetzen soll, nicht recht, wie früh das Leid begonnen hat« (LL , ). Schließlich setzt der Binnenerzähler in seiner Primanerzeit an. Nach Erzählen der (häufig unterbrochenen, ›unruhigen‹) Geschichte vertagen sich die beiden Männer auf den nächsten Tag – Jebbe reist jedoch ab. Dreißig Jahre später erhält der Erzähler zwei Briefe, die vom Tod Jebbes berichten beziehungsweise dessen Lebewohl an den Rahmenerzähler enthalten. Dieser schließt mit der Frage nach der Moral, spricht zugleich seinem Freund die nötige Integrität zu: – – So war sein Leiden denn zu Ende. – Ob eine solche Buße nötig, ob es die rechte war, darüber mag ein Jeder nach seinem Inneren urteilen; daß mein Freund ein ernster und ein rechter Mann gewesen ist, daran wird Niemand zweifeln. (LL , )
Das Ästhetisierungsverfahren dieser wie der anderen Novellen liegt in der komplexen Darstellung der als Geschichte durchaus simplen ›Sachverhalte‹. Es liegt weder eine ›Bekenntnis‹-Erzählung eines Ich-Erzählers vor noch der Bericht eines personalen Erzählers über das Leben Franz Jebes. Vielmehr ist das Leben Franz Jebes eine Konstruktion, ›bezeugt‹ durch unterschiedliche Instanzen: ein Ich-Erzähler berichtet vom Wiedersehen mit einem Freund, der ihm dabei ›seine‹ Geschichte erzählt. Dann berichtet der Ich-Erzähler, daß dieses Ereignis dreißig Jahre zurückliege; er legt schließlich zwei Dokumente vor, die eine Fortsetzung der Lebensgeschichte Jebes bieten. ›Ein Bekenntnis‹ ist damit ›poietische‹ Kunst, die auf einfache Darstellung verzichtet und ihre Artifizialität herausstreicht. Mit einer bemerkenswerten Gattungsreflexion beginnt medias in res die Novelle ›Im Nachbarhause links‹ (): »Wenn du es hören willst«, sagte mein Freund und streifte mit dem kleinen Finger die Asche von seiner Zigarre. »Aber die Heldin meiner Geschichte ist nicht gar zu anziehend; auch ist es eigentlich keine Geschichte, sondern nur etwa der Schluß einer solchen.« »Danke es«, versetzte ich, »unserer heurigen Novellistik, daß mir das Letzte jedenfalls besonders angenehm erscheint.« »So? – Nun also!« Es sind jetzt dreißig Jahre, daß ich als Stadtsekretär in diese treffliche See- und Handelsstadt kam, in welcher die Groß- und Urgroßväter meiner Mutter einst als einflußreiche Handelsherren gelebt hatten. (LL , )
Es ist für die Komplexität gleichgültig, ob man etwa die Briefdokumente als authentizitätssteigernd auffaßt, oder das Konglomerat an biographischen Mitteilungen für unglaubwürdig hält. Man beachte den Verzicht auf Anführungszeichen bei Beginn der mündlich vorgetragenen Geschichte.
Die Kritik an der derzeitigen Novellistik ist demnach ihrer ›klassischen‹ Ganzheit mit Anfang, Mitte und Ende geschuldet, die Freude über die eingeforderte Geschichte ihrem unkonventionellen fragmentarischen Charakter. Ganz paradox beginnt dann die Binnenerzählung ab ovo, nämlich bei den Groß- und Urgroßvätern. Die Novelle endet schließlich mit der Versicherung des Binnenerzählers, es sei »außerordentlich tröstlich«, daß es Gespensterspuk »und den Dampf einer guten Importierten« in der Welt gäbe. (beide Zitate LL , ) Mündlich vorgetragene Binnenerzählungen sind in Storms Novellistik ›sekundäre‹ Geschichten, die ihrerseits der Vermittlung durch einen zweiten Erzähler bedürfen. Zumeist sind es fremde Geschichten, die sich ein Erzähler gemerkt hat und an die er sich, meist in großem zeitlichem Abstand, erinnert. Diese Erinnerung wird als solche erzählt und initiiert ihrerseits die vergangene Erzählung des Anderen. Während damit die Binnengeschichte immer motiviert ist (durch Neugier des Freundes, die versammelte Abendgesellschaft, den Erzähldrang des Schuldbeladenen usw.), bleibt die Rahmenerzählung immer unmotiviert – das wäre unproblematisch, wenn nicht der Kontext der Binnenerzählung die Frage nach der Motivierung so nachdrücklich aufwürfe. So wäre es für einen Erzähler ganz selbstverständlich möglich, etwa die Geschichte ›Im Nachbarhause links‹ ohne den Rahmenerzähler zu erzählen und sich damit die Geschichte vollkommen anzueignen. Dieses Verfahren wird aber kategorisch vermieden; es gibt keine ›eigentlichen‹ Geschichten mehr, die vollkommen mit der erzählten Welt kongruent wären, sondern nur noch Geschichten, die jemand erinnert, von einem anderen erzählt bekommen zu haben, häufig von einem Dritten handelnd: in der erzählten Welt wird erzählt, daß Geschichten erzählt werden. Selbst wenn Figuren des Rahmens durch ihre Existenz auf Binnenebene ihre Glaubwürdigkeit unterstreichen können, bleibt das Moment des komplexen Erzählens, das sich von der Binnengeschichte, der ›eigentlich‹ erzählten Welt, distanziert. Mit der Distanz zur Darstellung oder gar Darstellungsstörungen steht die deutsche Novelle des Realismus in einer prominenten Reihe mit Miguel de Cervantes’ ›Don Quijote‹ oder Laurence Sternes ›Tristram Shandy‹. Gar mit dem unvorbereiteten Sprung in eine ›Erzählgegenwart‹ (etwa das »ich komme« in ›Ein Doppelgänger‹) sorgen die derart abschließenden Novellen für apodiktische Markierung des Erzählten als Poiesis.
Die entsprechende Bezugnahme auf das ›Nachbarhaus links‹ und die tote Hauptfigur lautet: »In dem alten Hause spukt es selbstverständlich, zumal wenn sich die Todesnacht der armen Greisin jährt; dann hört man sie auf Trepp’ und Gängen stöhnen, als jammere sie über die vergrabenen Schätze ihrer Jugend.« (LL , ) Unpassend erscheint hier der Begriff ›Schreibgegenwart‹, da der Erzähler in ›Ein Doppelgänger‹ gerade aus seiner Schreibstube aufbricht und eben nicht (mehr) schreibt.
. »Darf ich die Blätter lesen?« – aufgeschriebene Geschichten Erzähltes Erzählen kann selbstverständlich nicht nur auf mündlichem, sondern auch auf schriftlichem und damit auf genuin literarischem Fundament beruhen. Wie für die mündlich vorgetragenen Binnenerzählungen gilt auch hier, daß die Novellen Theodor Storms von einer ›einfachen‹ Rahmung absehen und die Binnengeschichte auf vielfache Weise in ihrem Fiktionsstatus markieren. In ›Aquis submersus‹ () erinnert sich ein Rahmenerzähler, wie ihn einst ein Bild mit der Unterschrift ›C. P. A. S.‹ faszinierte. Jahre später findet er Aufzeichnungen des Malers, »einige stark vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen« (LL , ). Neugierig bittet der Rahmenerzähler den Besitzer der Papiere um die Erlaubnis zur Lektüre: »Darf ich die Blätter lesen?« fragte ich. »Wenn’s Ihnen Plaisir macht«, erwiderte der Meister, »so mögen Sie die ganze Sache mit nach Hause nehmen; es sind so alte Schriften; Wert steckt nicht darin.« (LL , )
Die ›wertlosen‹ Blätter scheinen dem Erzähler trotz der Vergilbung keine Schwierigkeiten zu bereiten: »Ich aber las und hatte im Lesen bald Alles um mich her vergessen.« (LL , ) Wie man später erfährt, sind die Blätter in zwei Heften abgelegt; nach Lektüre des ersten (bis LL , ) fährt der Rahmenerzähler mit dem zweiten Heft fort, »dessen Schriftzüge um ein Weniges unsicherer erschienen.« In diesem zweiten Heft wird auch der Adressat der Aufzeichnungen genannt, »meiner lieben Schwester Sohn«. (Beide Zitate LL , ) Der binnenerzählende Maler beteuert den Wahrheitsgehalt seiner Aufzeichnungen in fragwürdiger Verknüpfung vergangener Ereignisse mit der ausstehenden Verschriftlichung: »und so geschah es, daß Alles sich erfüllen mußte, was ich getreulich in diesen Blättern niederschreiben werde.« (LL , ) Der Schreiber steht damit der Prophetie näher als einer Chronistenrolle, da er den schicksalhaften Lauf der Dinge, »daß Alles sich erfüllen mußte«, mit seiner in Entstehung begriffenen Aufzeichnung verknüpft. Die Handschrift endet mit den Worten »Aquis submersus – aquis submersus!« (LL , ) Der Rahmenzähler schließt mit derselben, dann nur ein Mal vorgebrachten Formel, nachdem er Auskunft darüber gegeben hat, daß der Maler nicht einmal mehr in seiner Heimatstadt bekannt und auch sein Bild verschwunden ist. Die Geschichte wird also durch die Rahmenerzählung zugleich legitimiert und ›entglaubigt‹. ›Ein grünes Blatt‹ () beginnt mit den Worten: »Es war ein altes Buch, eine Art Album; aber lang und schmal, mit groben gelben Blättern.« Dieses Buch enthält »Verse und Lebensannalen« des Feldkameraden, der dem Rah
Eine bestechende, metafiktional ausgerichtete Interpretation der Novelle bietet Detering, Herkunftsorte, S. –. Vgl. ferner Ort, Zeichen und Zeit, S. –.
menerzähler erlaubt, nach Gefallen darin zu lesen. Während man in jenes Poesie mitunter »über manche Härte und über manchen falschen Reim« (alle Zitate LL , ) hinweggehen müsse, sei auch seine Prosa verbesserungswürdig: In den letzteren [d. h. den Lebensannalen – LK] pflegte er sich selbst als dritte Person aufzuführen; vielleicht um bei gewissenhafter Schilderung das Ich nicht zu verletzen; vielleicht – so schien es mir – weil er das Bedürfnis hatte, durch seine Phantasie die Lücken des Erlebnisses auszufüllen. Es waren meistens unbedeutende Geschichtchen oder eigentlich gar keine; ein Gang durch die Mondnacht, eine Mittagsstunde in dem Garten seiner Eltern waren oftmals der ganze Inhalt; […]. (LL , )
Die Ereignislosigkeit fällt zusammen mit einem poetischen, folglich biographisch verfremdenden Gehalt der Aufzeichnungen, die immerhin Lebensannalen sind, sich jedoch durch lückenfüllende Phantasie oder genuin ›lyrische‹ Szenarien wie den Spaziergang im Mondschein auszeichnen. Wieder vertieft sich der Rahmenerzähler in ein Blatt, liest zunächst einige Verse, wird dann vom Dichterfreund angeleitet, die zugehörige Geschichte (in Prosa) zu lesen: sie handelt von der Liebe des Freundes zu einem Mädchen. Nach der Lektüre bleibt dem Rahmenerzähler die Frage: »Und Du bist niemals wieder dort gewesen?« Der Kamerad weicht mit seiner Antwort aus, gibt nämlich als Betroffener keine unmittelbare Antwort, sondern verweist erneut auf das literarische Erzeugnis: »›Pagina hundertunddreizehn!‹ sagte er lächelnd.« Blätternd mischen sich beim Leser Erstaunen und Frustration: »Ich schlug noch einmal nach. Schon wieder Verse!« (Alle Zitate LL , ) – ›Ästhetisierungsstrategien‹ offenbaren sich in der Rahmung, der als poetisch bezeichneten Buchvorlage, der Abstraktion des Erstverschriftlichers von seinem ›Ich‹ sowie in der Antwort des befreundeten ›Zeugen‹, der für ›seine‹ Geschichte nicht bürgen will, sondern auf die genuin künstlerischen Verse verweist. ›Im Schloß‹ () beginnt die spätere Hausherrin Anna mit ihren Aufzeichnungen, einer Lebensbeichte ihrer verbotenen Liebe zum damaligen Hauslehrer Arnold:
Vgl. auch die Interpretation Peter Wapnewskis, der ›Ein grünes Blatt‹ eine »Märchennovelle« nennt. Peter Wapnewski, Diese grünen Träume oder: Der Schwärmer im Feldlager. Zu Theodor Storms Novelle Ein grünes Blatt. In: Euphorion, , , S. –; hier S. ; des weiteren Lee, Erinnerung und Erzählprozess, insbesondere S. –. Vgl. auch Achim Küpper, »Das kommt von all’ dem Bücherlesen«! Intertextualität, Erzählproblematik und alternative Lesepläne in Theodor Storms Novelle »Im Schloß«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, , , S. –; hier S. : »Gerade darin besteht aber auch eine hermeneutische Schwierigkeit der Novelle, denn der Akt des Erinnerns selbst wird in der Novelle – auf allgemeinmenschlicher Ebene, also nicht nur in Bezug auf Anna – zum Gegenstand des Erzählens: Die Novelle thematisiert an mehreren Stellen die Möglichkeit oder Zuverlässigkeit menschlicher Erinnerung und reflektiert damit auch zugleich ihre eigenen erzählerischen Mittel.«
[…]; es war nicht Trauer, es war nur Grauen, das sie empfand. Aber ihre Gedanken waren ihrer Feder weit voraus. –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– ‥
D B Ich will es niederschreiben, mir zur Gesellschaft; denn es ist einsam hier, einsamer noch, als es schon damals war. Sie sind alle fort; es ist nur Täuschung, wenn ich draußen im Korridor mitunter das Husten der Tante Ursula oder die Krücke des kleinen Kuno zu vernehmen glaube. (LL , )
Mit dem Beginn eines neuen Kapitels setzt also die Wiedergabe der ›beschriebenen Blätter‹ ein, von denen unklar bleibt, wie sie in die Erzählung kommen. Von einer Niederschrift Annas erwähnt der Rahmenerzähler nichts, und der Satz »Ich will es niederschreiben« ist Teil des Manuskriptes, nicht der zugrundeliegenden Erzählung. Erneut mit zeilenfüllenden Gedankenstrichen enden diese ›beschriebenen Blätter‹, worauf der Rahmenerzähler durch eine Präteritalform die Zeitdistanz zwischen Niederschrift und implizitem Auffinden dieser Blätter betont: »Hier brachen die beschriebenen Blätter ab.« (LL , ) Die Novelle wird anscheinend an einem der Niederschrift unmittelbar folgenden Tag fortgesetzt (Kapitelüberschrift ›Ein anderer Tag‹), Anna übergibt ihrem Vetter die Aufzeichnungen: »Lies das, Rudolph, lies es jetzt gleich«, sagte sie, die Blätter vor ihm auf die Fensterbank legend; »ich dachte, es sei nur für mich selbst, als ich es niederschrieb; aber ich vertraue Dir, und es wird gut sein, wenn Du weißt, wie es einst mit mir gewesen ist.« (LL , )
Während der Lektüre »durchdachte sie noch einmal den Inhalt des Geschriebenen, und unwillkürlich schrieb sie in Gedanken weiter. Wie Nebelbilder erhellten sich einzelne Szenen ihrer Vergangenheit vor ihrem innern Auge und verblaßten wieder.« (LL , ) Letztlich scheint der kathartische Schreibakt Wirkung zu zeigen; Annas Ehemann ist alsbald verstorben, so daß sie ihre einstige Jugendliebe Arnold auf das Schloß holen kann. Die Novelle ›Renate‹ () spielt in Schwabstedt, einem Ort, um den »Sage und halberloschene Geschichte […] ihren dunklen Efeu« flechten (LL ). Ein Rahmenerzähler erinnert sich der Geheimnisse seiner Knabenzeit und kommt schließlich darauf zu sprechen, daß er »Viele Jahre nachher, da ich diese Dinge längst vergessen hatte« auf eine Schatulle seines Großvaters aufmerksam wird, in der er nicht nur die Brautbriefe seines Ahnen findet: Bei dieser Gelegenheit fiel mir ein Heft in augenscheinlich noch viel älterer Schrift in die Hände, welches ich, nachdem später noch ein demnächst zu erwähnender Fund
Die Segmentierung einer Novelle in Kapitel ist ungewöhnlich und wird auch von Storm recht selten, hauptsächlich in seinen frühen Erzählungen praktiziert. – Zu den Gedankenstrichen im Zitat vgl. auch Anm. .
hinzugekommen, nunmehr in Nachstehendem mitteile. An der Schreib- und Vortragsweise habe ich so viel geändert, als zur lebendigern Darstellung des Inhalts nötig erschien; an einzelnen Stellen für manche Leser vielleicht kaum genug; an dem Inhalte selbst ist nicht von mir gerührt worden. Und somit möge der Schreiber jenes alten Aufsatzes selbst das Wort nehmen. (LL , )
Im Verlauf der Geschichte aus dem frühen . Jahrhundert konturiert sich die Erzählsituation des Binnenerzählers, der seinerseits »wohl dreißig Jahre« zurückblickt und »im Dorfe Ostenfelde […] hier als ein zu früh mit Körperschwäche befallener emeritus und leidiger Kostgänger« sitzt (beide Zitate LL , ). Die Handschrift, die dem Rahmenerzähler vorliegt, ist schließlich lückenhaft (»zunächst fehlen einige Blätter gänzlich, das dann Folgende ist durch Wasserflecke fast zerstört«, LL , ), kann jedoch summarisch von ihm zusammengefaßt werden, bis wiederum »die bis zu einem gewissen Punkte fortlaufend erhaltenen Teile der Handschrift« (LL , ) angeführt werden. Der nächste Übergang von der Binnen- zur Rahmenerzählung wird mit dem Satz »Soweit die Handschrift« angezeigt. Angekündigt wird dann eine Fortsetzung der Geschichte für diejenigen »die dies lesen«, denn »der Zufall« (alle Zitate LL , ) habe folgendes ermöglicht: Die zu Anfang der Erzählung erwähnte Schatulle auf dem Boden unseres alten Erbhauses ward eine tönende Vergangenheit, sobald man Mut und Geduld hatte, den Staub in ihrem Innern aufzuregen. Ich hatte das nicht immer. Aber ein paar Jahre nach dem Funde unserer Handschrift, an einem herbstlichen Sonntagnachmittage, saß ich doch wieder einmal vor ihren eingeklemmten Schubfächern und zog, oft mühsam, eines um das andere auf. Papiere über Papiere; und fast überall jene anheimelnde leserliche Schrift des vorigen Jahrhunderts. (LL , f.)
Mit der Wiedergabe eines zweiten Fundes unter den Papieren, also der Fortsetzung »unserer« Binnengeschichte, endet die Novelle – sofern man nicht gewillt ist, auf Rahmenerzähler und Leser den folgenden Schlußsatz zu beziehen: »Wir aber, wenn du Alles nun gelesen, du und ich, wir wissen besser, wer sie war, die seinen letzten Hauch ihm von den Lippen nahm« (LL , ). Auch die Novelle ›Renate‹ weist also eine Binnenerzählung auf, die das Problem der Manuskripterzählung zwar ›realistisch‹ thematisiert (überarbeitungsbedürftiger Stil, fehlende Blätter, Wasserflecke), aber in dieser dezidierten Konzentration auf den Darstellungsmodus die ›Gemachtheit‹ offenlegt.
Diese Binnenerzählung verläuft nicht ohne Eingriff: »Will dann zum Schluß noch Erwähnung thun, daß unser Gastfreund Petrus Goldschmidt […] ob seiner Gelahrtheit und Verdienste um das Reich Gottes von der . . . . . . (die Handschrift ist hier unleserlich) Facultät zum Doctor honoris causa ist creiret worden.« (LL , ) Auch diese Handschrift kann ihrerseits mit erneut komplexen, mehrstufigen ›Erzählebenen‹ aufwarten. Zu ›Renate‹ vgl. ferner die Interpretation von Hugo Aust, Realismus, Stuttgart , S. –.
In ›Zur Chronik von Grieshuus‹ () erinnert sich ein Alter an seine Spaziergänge in Jugendtagen. Faszinierend sei der weite Blick gewesen, der in der hereinbrechenden Dämmerung »den Rest eines turmartigen Mauerwerkes zu gewahren« gemeint hat (LL , ). Während die Augen bald »nur ein unterschiedloses graues Wogen« wahrgenommen haben, wird die visuelle Reizlosigkeit kompensiert: Nur meine Phantasie hatte sich dort den Turm erbaut: »Nicht jetzt, einst«, sagte ich mir, »hatte ein derartiges Gemäuer dort gestanden«; denn ich glaubte plötzlich zu wissen, wohin der Zufall mich geführt hatte. Nicht, daß ich jemals selber hier gewesen wäre; aber mit aufhorchenden Knabenohren hatte ich, und mehr als einmal, von diesem Orte reden hören. (LL , )
Der Erzähler glaubt schließlich die Ruinen von Grieshuus zu erkennen, dämpft jedoch seine Freude, denn »ein Aberglaube schwebte über dieser Heide«. Schließlich tröstet sich der Erzähler, denn es »war nicht Alles Sage; man wußte noch von denen, welche als die Letzten hier gehaust hatten«. Dokumente aus alten Archiven brächten »es« »an das Tageslicht«, genauso wie die Winterabendstunden in Dorf und Stadt, denn dort »saß man beisammen und erzählte und fügte scheinbar sich Fernliegendes aneinander, von den Urahnen herab bis fast an den heutigen Tag«. (Alle Zitate LL , ) Am Tag jenes Spazierganges kommt der Erzähler nicht zum Schlaf, »denn immer wieder stiegen die alten Mauern vor mir aus dem Boden«. (LL , f.) Jedoch die »Bilder, welche in dieser Nacht in mir lebendig wurden, waren nicht nur Phantasiegemälde«; rastlos sucht der Erzähler nach Informationen: »wo ich irgend in Schrift- oder Druckwerk oder im Gedächtnis eines Menschen derart Verborgenes witterte, mußte es hervorgegraben werden«. (Beide Zitate LL , ) Die Folge ist, daß er sich den Scherznamen ›Chronist von Grieshuus‹ einhandelt: »Und als solcher, nachdem seit damals wiederum ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, will ich es jetzt erzählen« (LL , ). Die folgende Binnenerzählung ist in zwei Bücher aufgeteilt. Gegen Mitte des zweiten Buches überläßt der Erzähler dem Magister Caspar Bokenfeld das Wort, dessen »vergilbtes Schriftstück in den mir hinlänglich bekannten Zügen des letzten Jahrhunderts« er dereinst erhielt. Das Dokument wird der ›Chronik‹ einverleibt, wenngleich der bejahrte Überbringer zum Schriftstück bemerkt: »Klar ist das auch nicht, […] aber es ist erzählt, was sich begeben hat. Der Autor war einer meiner Vorfahren und Pastor an hiesiger Kirche, nachdem er sich das als Informator auf dem Hof verdient hatte.« (Beide Zitate LL , ) Der Erzähler ist zufrieden, denn
Die Erzählsituation ist nicht eigens konturiert, kann aber aus dem ersten Satz der Novelle erschlossen werden: »Zu meinen Jugendfreuden in der Heimat, wo uns die alte Gelehrten-Schule nicht zu sehr den Geist verschnürte, gehörten die Wanderungen aus der Stadt ins Freie.« (LL , ) »›Grieshuus!‹ rief ich fast laut. ›Hier hat Grieshuus gestanden!‹« (LL , )
»die alte Zeit begann ja selbst zu sprechen«, und er fertigt eine Abschrift an: »Und hier ist es« (beide Zitate LL , ). Fiktion und vorgebliche Authentizität, Beglaubigungsversuche und Infragestellung sind ineinander verwoben. Für Novellen mit schriftlich fixierter Binnenhandlung kann gelten, was bereits für Novellen mit mündlich erzählter Binnenhandlung festgestellt worden ist. Beachtlich ist die Komplexität, die über ›einfache‹ Manuskriptfiktion weit hinausgeht. Analog zum ›Schimmelreiter‹ – der auf einer mündlichen Erzählsituation basiert, die als verschriftlichte Geschichte überliefert ist, an die sich ein alter Erzähler erinnert – ist etwa die ›Chronik von Grieshuus‹ die Sammlung verschiedenster Dokumente, vom Erzähler kompiliert oder als vermeintliches Originalmanuskript abgedruckt, insgesamt basierend auf einer GrieshuusPhantasie, die den Erzähler in jüngeren Zeiten um den Schlaf brachte, woran er sich zum Erzählzeitpunkt erinnert.
. »Und ich entsinne mich noch« – erinnerte Geschichten In Storms Novellistik ist insbesondere das Motiv der Erinnerung prominent vertreten. Erinnerungssituationen können mit einer eigenen Rahmenhandlung versehen sein oder aber durch die Differenz vom Erzählten zu einer mehr
Auch im hier nicht ausgeführten Kontext des Zitats erhält das »es« eine Sonderstellung, da der Bezug des Personalpronomens unklar bleibt. Grammatikalisch muß es sich auf »das Papier« beziehen, würde demnach aber nicht die Abschrift, sondern das Original bezeichnen. Eine ausführliche Interpretation bietet Gerreckens, »Und hier ist es«. Mit Blick auf die vielen Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten der Novelle spricht Gerrekkens pointiert vom »wiederholten, bewußten oder unbewußten Betrug am Leser durch den anonymen Erzähler«; S. . Laage, Erinnerungsmotiv, hat eine Zusammenstellung aller Erinnerungssituationen in Storms Novellen vorgelegt; vgl. für Erinnerungserzählungen im späten Realismus Dekker, Erinnern und Erzählen. Laage faßt – so später auch Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. – die entsprechende narrative Grundsituation sehr weit: »Ja, zuweilen ist der Rahmen mit der Erinnerungssituation ganz weggelassen, und nur die Ich-Form, das Plusquamperfekt oder die Tatsache, daß die Erzählung in der Jugendzeit des Erzählers beginnt, ruft in uns die Vorstellung hervor, daß es sich hier um eine Erinnerungserzählung handelt.« (Ebd. S. ) Laage beschreibt die ›Wirkung‹ des Erzählmotivs wie folgt: »Was will Storm damit erreichen? Offenbar doch Nähe zum lebendigen mündlichen Erzählen! Mit Hilfe des Erinnerungsmotivs soll künstlich eine echte Erzählatmosphäre geschaffen und die innere Beziehung zwischen Dichter und Leser hergestellt werden, die jedesmal zwischen Erzähler und Zuhörerschaft entsteht, wenn wirklich ›erzählt‹ wird. Indem wir beim Lesen miterleben, wie die Erinnerung in dem Dichter bzw. in dem fiktiven Erzähler aufsteigt, […], fangen wir an zu glauben, daß es selbst erlebt ist, was da geschrieben steht, ja vergessen wir bisweilen, daß wir lesen und nicht zuhören.« (Ebd. S. ) – Erzählen aus der Erinnerung heraus ist auch in Storms ohnehin gerahmten Novellen keine Seltenheit, wie die vorangegangen Kapitel gezeigt haben mögen.
oder minder stark konturierten Erzählgegenwart sich offenbaren. In diesen Fällen berichtet das Präteritum über tatsächlich Vergangenes, während (zumeist) am Ende der Novelle die ›präsentische‹ Aktualität des Erzählens evident wird. Beide Formen der Erinnerung werden im folgenden als Phänomen der Rahmung, mithin als augenscheinlicher Wechsel von Darstellung und Darstellungsmodus verstanden. In ›Immensee‹ () berichtet ein Erzähler, daß ein Alter durch ein geflüstertes »Elisabeth!« die Gegenwart verläßt: »wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend.« (LL , ) Die folgenden Kapitel geben Zeugnis von der unglücklichen Liebe des nun jungen Reinhards zu jener Elisabeth. Mit der Erinnerung vergeht die Zeit: »Der Mond schien nicht mehr in die Fensterscheiben, es war dunkel geworden; der Alte aber saß noch immer mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl und blickte vor sich hin in den Raum des Zimmers.« (LL , ) – In ›Marthe und ihre Uhr‹ () gedenkt ein Erzähler nicht nur »der letzten Jahre meines Schulbesuchs« (LL , ), sondern auch der alten Marthe, die sich an einem Weihnachtsabend »ungestört der Erinnerung aller Weihnachtabende ihres Lebens« hingibt (LL , ): »es war Weihnachtabend, Weihnachtabend vor – ach vor sehr, sehr vielen Jahren!« (LL , ) – ›Posthuma‹ () gibt zunächst Auskunft über eine Grabstelle, wonach in wenigen Zeilen die Lebens- beziehungsweise Liebesgeschichte der Toten geschildert wird. Über die Novelle ›Auf dem Staathof‹ () heißt es, daß Storm mit ihr sein Frühwerk insofern hinter sich lasse, »als hier zum erstenmal in Storms Novellistik die Personen und Ereignisse räumlich, zeitlich und sozial präzise situiert sind«. Somit markiere die Novelle den Beginn von Storms realistischer Erzählkunst. Tatsächlich kann ›Auf dem Staatshof‹ auch in ›poietischer‹ Hinsicht als besonders originell gelten; der erste Absatz lautet: Ich kann nur Einzelnes sagen; nur was geschehen, nicht wie es geschehen ist; ich weiß nicht, wie es zu Ende ging und ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigeführt wurde. Aber wie es die Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es erzählen. (LL , )
Eine Rahmung der Novelle manifestiert sich auch insofern, als Anfangs- und Schlußkapitel jeweils mit »Der Alte« überschrieben sind. Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. , nennt die Novelle zutreffend die »Erinnerung an eine Erinnernde«. Ähnlich einer »Geisterbeschwörung« ist die Vergegenwärtigung inszeniert: Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. . Lohmeier, Erzählprobleme, S. . Vgl. auch Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. –. Wie Lohmeier, Erzählprobleme, nennt Lee ›Auf dem Staatshof‹ einen »offenkundige[n] Schritt zur charakteristischen Erzählerfigur in den späten Novellen: die Geburt einer charakteristischen Erzähler-Instanz für die späten Novellen, die es leisten könnte, in Konkurrenz mit anderen Stimmen ihre Erzählung mit Anteilnahme und Zurückhaltung durchzu-
Zu erwarten ist also keine Geschichte, die einem aristotelischen, auf Kausalität aufbauenden Handlungsgerüst mit Anfang, Mitte und Ende folgt, sondern Stückwerk »tropfenweise«, »nur Einzelnes«. Je nach Erinnerungsvermögen »will ich es erzählen«. – Wie so häufig wird damit gerade auf das hingewiesen, was eigentlich ausgeschlossen werden soll. Der Erzähler macht also auf besondere Eigenschaften seiner Geschichte aufmerksam, die gar keine Besonderheiten habe, sondern schlicht darlegen werde, »was geschehen« ist. In der Novelle ›Drüben am Markt‹ () zieht ein Arzt mit Erfolg eine Uhr auf: »sie ging wieder wie vor fünfundzwanzig Jahren; es war wieder etwas lebendig in dem Zimmer, worin es sonst still war« (LL , ). Beim anschließenden Blick auf das Nachbarhaus verliert er sich in Gedanken: »Der Doktor erinnerte sich wohl.« (LL , ) Die Wiederaufnahme der Rahmenhandlung fällt mit dem Schlag der Uhr zusammen, die nun jedoch die falsche Zeit anzeigt. – Die Novelle ›Auf der Universität‹ () beginnt mit den ersten Tanzschulerfahrungen des Ich-Erzählers. Insbesondere das schöne, exotische Nachbarsmädchen ist ihm dabei in Erinnerung geblieben: Die bräunliche Hautfarbe und die großen dunklen Augen bekundeten die fremdländische Abkunft ihres Vaters; und ich entsinne mich noch, daß sie ihr schwarzes Haar sehr tief und schlicht an den Schläfen herabgestrichen trug, was dem ohnehin kleinen Kopfe ein besonders feines Aussehen gab. (LL , )
führen, durch Selbstreflexion und offene Erzählverfahren ihre Erinnerung mit den Lesern oder Hörern zusammen zu konstruieren.« (S. ) Vgl. die einleitenden Sätze in ›Im Nachbarhause links‹. Tatsächlich finden sich in der Binnenerzählung Passagen wie »ich sehe auch noch meinen Vater der alten Dame die Hand küssen; dann aber verläßt mich die Erinnerung, und ich finde mich erst nach einigen Stunden wieder, auf Heu gebettet« (LL , ) und sogar als Erinnerung in der Erinnerung: »und besonders mußte ich mich eines übrigens geringfügigen Vorfalles erinnern, der mich gegen die Natur dieses Menschen in völligen Widerspruch setzte.« (LL , ) – Lohmeier bewertet diese Verfahren unter leserpsychologischen Aspekten und kommt zu einem anderen Schluß: »In der Novelle ›Auf dem Staatshof‹ liegt z. B. zwischen den Ereignissen und der Erzählgegenwart ein zeitlicher Abstand, aber dieser ist offenbar nur dazu da, die Erinnerungsperspektive des Erzählers zuzulassen; sonst wird er nicht als Abstand spürbar, den der Erzähler kommentierend überbrücken müßte, wie das in der Erzählweise des historischen Romans oder bei Balzac üblich ist. Solches Kommentieren und Vermitteln ist immer eine Störung der Illusion, weil es diskursives Sprechen ist und weil es die Fiktionalität bewußt macht. In Storms Novelle erfährt der Leser alles durch das Erzählermedium Marx, aber er nimmt es meist nicht als vermittelt wahr, sondern als so ›wirklich‹ wie bei personaler Erzählweise. Das gilt auch für die meisten anderen Novellen Storms, selbst die historischen. Der zeitliche Abstand wird in ihnen nicht zur Analyse eingesetzt, sondern zur Poetisierung.« Lohmeier, Erzählprobleme, S. . Vgl. ferner Aust, Realismus, S. .
Die Geschichte beginnt also nicht mit dem Tanzschulerlebnis, sondern mit dem expliziertem Rückblick (»und ich entsinne mich noch«) auf das Tanzschulerlebnis. Die Erzählgegenwart ist zwar spärlich konturiert, doch erfährt man immerhin in einem Schlußabsatz: »Viele Jahre sind seit jenem Morgen vergangen.« (LL , ) »Ich komme eben heim« (LL , ), erklärt der Erzähler in ›Eine Halligfahrt‹ (). In der vertrauten Landschaft überkommt ihn »das traumhafte Gefühl der Jugend« (LL , ): – Und siehe! – während das Wasser weich, fast lautlos zu meinen Füßen anspülte, plötzlich mit leichten unhörbaren Schritten ging die Erinnerung neben mir. Sie kam weit her aus der Vergangenheit; aber ihr Haar, das sie kurz in freien Locken trug, war noch so blond wie einst. – Es war deine Gestalt, Susanne, in der sie mir erschien; ich sah wieder dein junges, festumrissenes Gesichtchen, die kleine Hand, die lebhaft in die Ferne zeigte, – wie deutlich sah ich es! (LL , )
Unvollständige Papiere eines Verstorbenen (LL , –) ergänzen die folgende Binnenerzählung. In der Novelle ›Beim Vetter Christian‹ () berichtet ein Ich-Erzähler über die Liebe seines Vetters Christian zu dem Mädchen Julie sowie über die erfolglosen Intrigen der alten Magd Caroline. Erst am Ende erfährt man vom Ich-Erzähler, daß diese Ereignisse bereits vier Jahre zurückliegen; inzwischen drängt die Zeit, denn es gilt, einer Einladung beim Vetter Christian nachzukommen: » – – Aber es ist acht Uhr! Frau Julie erwartet mich an ihrem Teetisch; […]. Und also, lieber Leser, gehab’ dich wohl!« (LL , ) – Eine solche ›Entrückung‹ bietet auch ›Zur »Wald- und Wasserfreude«‹ (), wo es in den Schlußabsätzen heißt: »Ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen.« (LL , ) Der zuvor erzählten Geschichte gedenkt der gegenwärtige Landvogt Wulf Fedders bei der alljährlichen Aktenrevision, aber »bevor er noch den Weg vom Amtslokale nach seiner Wohnung zurückgegangen ist, haben diese Erinnerungen ihn schon längst verlassen.« (LL , ) Eine explizite Vergegenwärtigung der Erzählsituation findet in den Schlußsätzen von ›Ein Doppelgänger‹ () statt. Hier bricht der Ich-Erzähler zu seinen einstigen Gastgebern auf (»ich komme!«, LL , ), denen er mit einer Geschichte,
» – Noch jetzt, wenn ich die spanische Tanzweise in Silchers ausländischen Volksmelodien höre, kann ich immer nur an sie denken.« (LL , ) » – Ob mein Schmetterlingskescher noch in dem blühenden Baum am Rande der Heide hängt? – Ich weiß es nicht; ich bin nicht wieder dort gewesen; auch den Brombeerfalter habe ich bis auf heute noch nicht gefangen.« (LL ) »Hier scheinen in den Aufzeichnungen des Vetters ein oder mehrere Blätter zu fehlen; denn das Folgende, womit dort ein neues Blatt beginnt, ist augenscheinlich nur der Schluß eines längeren Aufsatzes.« (LL , ) Vgl. die ausführliche Interpretation des »Proömiums« von ›Eine Halligfahrt‹ bei Kuchenbuch, Perspektive und Symbol, S. –.
die er visionär am nächtlichen Fenster durchlebt, insofern helfen kann, als sie Ersatz für und vermeintliche Aufklärung über biographische Rätsel der Vergangenheit gibt. Vier Zeitpunkte markiert der Anfangssatz von ›Die Söhne des Senators‹ (), einer »einfachen Geschichte«. Zum einen wird die Erzählgegenwart durch das Adverb »nun« angezeigt, zum zweiten der Zeitpunkt der Einsargung des »längst vergessenen« Senators Jovers, zum dritten der Beginn der Binnengeschichte mehrere Jahre nach dieser Einsargung, zum vierten des Senators erfolgreiche Kaufmannsexistenz zu Lebzeiten: Der nun längst vergessene alte Senator Christian Albrecht Jovers, dessen Sarg bei Beginn dieser einfachen Geschichte schon vor mehreren Jahren die stille Gesellschaft der Familiengruft vermehrt hatte, war einer der letzten größeren Kaufherren unserer Küstenstadt gewesen. (LL , )
›Hans und Heinz Kirch‹ () erzählt in den beiden Schlußabsätzen zunächst noch ›episch‹ von Hans Kirchs Tod, geht dann aber in die Erzählgegenwart über, indem mitgeteilt wird: »Das von ihm begründete Geschäft liegt in den besten Händen; man spricht schon von dem ›reichen‹ Christian Martens […]; auch ein Erbe ist längst geboren«. (LL , f.) In auffällig auktorialem Gestus fragt der Erzähler schlußendlich » – wo aber ist Heinz Kirch geblieben?« (LL , ) – Ähnlich auffällig ist der Schlußsatz in ›Bötjer Basch‹ (), der eine gegenwärtige Erzählsituation auch räumlich entwirft: » – – Das ist es, was ich aus diesen engen Wänden zu erzählen hatte.« ›Unnötig‹ ist die
Vgl. die ausführlicheren Erläuterungen in Kapitel . dieser Arbeit. Als Einschub auch: »Aber wo war, was trieb Heinz Kirch in der Stunde, als seine Mutter starb?« (LL 3,85) Vgl. die Interpretation bei: Volker Knüfermann, Realismus. Untersuchungen zur sprachlichen Wirklichkeit der Novellen »Im Nachbarhause links«, »Hans und Heinz Kirch« und »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, Diss. Münster , S. –. Der Titel der Novelle lautet im Erstdruck ›Aus engen Wänden. Eine Geschichte‹; im ersten Satz heißt es ebd.: »Es ist kein Kunstwerk, nur eine Erinnerung, zu deren Niederschrift ich heute meine Feder ansetze; wenn Gedächtnis und Phantasie mir treu bleiben wollen, so mag es immerhin dessen wert sein.« (LL , f.) Auf Anregung Paul Heyses wurde diese Einleitung für die Buchausgabe und alle spätere Auflagen gestrichen: »Wenn es wieder gedruckt wird, wünschte ich die Eingangszeilen weggelassen, wenigstens das fatale Wort ›Kunstwerk‹. Man soll sein Dichten als Künstler betreiben, aber nicht merken lassen, daß man, was als ein Lebendiges wirken muß, mit künstlerischer Absicht producirt hat. Auch vertritt dies reizende Lebens- u. Schicksalsbild sich selbst, mag es von einer hochwohlweisen Aesthetik eingereiht werden in welche Klasse es ihr beliebe.« Paul Heyse an Theodor Storm, Brief vom . . . Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Bd. : –, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hg. von Clifford Albrecht Bernd, Berlin , S. f. – Man kann ›Bötjer Basch‹ auch als Novelle mit aufgeschriebener Binnenerzählung interpretieren, wenn man die Wendung ›aufzeichnen‹ im folgenden Zitat als Verschriftlichung versteht:
ser Schlußsatz für die Vater-Sohn-Geschichte über Daniel und Fritz Basch insofern, als sie bis zur Schlußzeile ohne spezifische Konturierung dieser Erzählsituation auskommt. ›Poietisch‹ ist damit auch dieses Verfahren, das die Geschichte ästhetisiert, nämlich das Erzählte im Schlußsatz als erzählt herausstellt. Die in diesem Kapitel vorgestellten Novellen sind also nicht immer eindeutig ›erinnert‹, grenzen aber eine Erzählgegenwart deutlich von der erzählten Geschichte ab. Die Betonung des Darstellungsmodus gegenüber der Darstellung ist eine Darstellungsstörung, die im Sinne des ›Poetischen Realismus‹ eigentlich romantisches Beiwerk ist: die Konzentration auf das Wesentliche unter Berücksichtigung des Wahrscheinlichen ist mit der ›Binnengeschichte‹ etwa von ›Bötjer Basch‹ allemal gewahrt. Die Betonung des Fiktionsentwurfs hingegen ist die Kenntlichmachung einer ›Poesie der Poesie‹.
. »Es war an einem Herbstabend« – Geschichten Während gerahmte Novellen ihr Ästhetisierungsverfahren offenlegen, sind nicht-gerahmte Novellen prädestiniert für ein tatsächlich ›einfaches‹ und damit rein auf Darstellung ausgerichtetes Erzählen. Storm jedoch scheint ein solches Erzählen zu meiden. Die Novelle ›Eekenhof‹ () beginnt mit dem nachfolgenden Satz: Es klingt wie eine Sage, und man könnte es fast für eine solche halten; an mehreren Orten soll es geschehen sein, und die Poeten haben hie und da einen Fetzen davon abgerissen, um ihn, jeder nach seiner Weise, zu verwenden. (LL , )
Die Möglichkeit, die nachfolgende Geschichte für eine »Sage« halten zu können ist also verbalisiert und damit irreversibel. Etwaigen Unglaubwürdigkeiten werden allerdings Verweise wie auf »den ersten Erzähler, dessen Name in dem
»Die überraschenden und schnell sich folgenden Vorgänge, welche ich jetzt zu erzählen habe, sind es wohl eigentlich, welche uns in der kleinen Seestadt das Gedächtnis des einfachen Mannes bewahren ließen und mich veranlaßten, den kleinen Spuren seines Lebens nachzugehen, von denen ich einzelne hier aufzuzeichnen vermochte.« Vgl. auch Decker, Erinnern und Erzählen, S. : »Wenn in der Literatur deutlich wird, dass die Vergangenheit nicht rekonstruiert, sondern in der Gegenwart subjektiv konstruiert wird, dann ist Realität nicht nur etwas, was in der Vergangenheit entzogen wurde, sondern etwas, was sich auch in der Gegenwart entzieht. Anstelle der erinnerten Vergangenheit ist die Gegenwart des Erinnernden und somit die Situation des Erinnerns und Erzählens selbst problematisch geworden. Durch diese Problematisierung des Erinnerns und Erzählens wird Literatur als vollständig eigenständige, von jeder faktischen Realität entkoppelte, poetische Realität in den späten realistischen Erinnerungssituationen denkbar und möglich.«
noch erhaltenen Kirchenbuche verzeichnet steht« (LL , ) entgegengehalten. Dank ihm könne der ehemalige Sitz eines alten Herrenhauses lokalisiert werden. Das Bild des Hauses, wie es der Ich-Erzähler einst gesehen habe, stimme überein »mit jener bis auf uns gekommenen Erzählung«. »Wenn außerdem die Überlieferung von einem Walde wissen will, an dessen Rande einst ein Haus gelegen habe, so gab auch hievon jenes Epitaphienbild eine Andeutung«. (Beide Zitate LL , ) Sehr ähnlich gestaltet sich das Verhältnis von Erzählen und Erzähltem in ›Ein Fest auf Haderslevhuus‹ (). Während ›Eekenhof‹ im . Jahrhundert situiert ist, greift der Erzähler in ›Ein Fest auf Haderslevhuus‹ auf das . Jahrhundert zurück. »Es war damals gar wilde Zeit bei uns«, kommentiert er. In Korrektur der bisherigen Chronisten beabsichtigt der Erzähler, das Leben des bislang vergessenen Ritters Rolf Lembeck darzustellen, »von dem jede Kunde fast verschollen scheint«. (Beide Zitate LL , ) Nicht ohne Selbstbewußtsein behauptet die Überleitung zur Geschichte des Ritters: »Ich aber weiß von ihm; und was ich weiß, das drängt mich heut es zu erzählen.« (LL , ) Am Schluß verzichtet der Erzähler dann auf jeglichen Anspruch an Authentizität: » – – So endeten zwei schöne Menschenblüten, und so endet diese Märe«. (LL , ) In der Manier eines Märchenerzählers fährt er fort: »Und die Anderen?« fragt ihr, »was war aus denen?« – Die Anderen? – Ich habe von ihnen weiter nichts erkunden können; es gab ja Klöster derzeit, in die hinein sich ein beraubtes, auch ein verpfuschtes Leben flüchten konnte! Was liegt daran? Die Geräusche, die ihre Schritte machten, sind seit Jahrhunderten verhallt und werden nimmermehr gehört werden. (LL , )
Mit einem reflektierenden Nachsatz schließt auch ›Carsten Curator‹ (). Ganz im Sinne einer resümierenden Moral heißt es dort:
Die Erzählung wird hier nicht als Erinnerungsnovelle verstanden, da sich Erinnerung nicht explizit manifestiert; auch wird sie nicht unter die Rahmenerzählungen gereiht, da der Beginn der Novelle vielmehr eine Art Erzählerkommentar als Situierung einer extradiegetischen Ebene darstellt. Eine andere Fassung des Anfangsrahmen (H und Erstdruck) teilt LL , – mit. Vgl. auch LL , : »Der Rabe hatte gekrächzt; ein Hauch des noch verborgenen Wetters mochte ihn gestreift haben; woher es kommen sollte, wußte er nicht. Ich aber will es jetzt erzählen.« – Vgl. ferner Theodor Storm an Wilhelm Petersen, Brief vom . . : »der Held ein Sohn von Claus Lembek, dem bekannten Ritter, von dem nur ich was zu erzählen weiß; Hoffentlich läßt meine Phantasie mich dabei nicht im Stich.« Theodor Storm – Wilhelm Petersen. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hg. von Brian Coghlan, Berlin , S. .
Und so geht es fort in den Geschlechtern: die Hoffnung wächst mit jedem Menschen auf; aber Keiner denkt daran, daß er mit jedem Bissen seinem Kinde zugleich ein Stück des eigenen Lebens hingibt, das von demselben bald nicht mehr zu lösen ist. Heil Dem, dessen Leben in seines Kindes Hand gesichert ist; aber auch Dem noch, welchem von Allem, was er einst besessen, nur eine barmherzige Hand geblieben ist, um seinem armen Haupte die letzten Kissen aufzuschütteln. (LL , )
Man mag einwenden, daß derartige Erzählerkommentare in literarischen Werken keine Seltenheit sind und auf manchen Leser auch nicht illusionsstörend wirken. Unabhängig von solchen leserpsychologischen Annahmen – die nicht Bestandteil dieser Arbeit sein sollen – muß jedoch eine Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem festgestellt werden, die keinesfalls zwingend notwendig ist, am wenigsten in der Prosa des Realismus. Nach programmatischer Lesart macht bereits die Konzentration auf das Poetisch-›Wesentliche‹ den Gehalt des Realistisch-›Wahrscheinlichen‹ aus. Eine solche Charakterisierung geht nicht zwangsläufig mit einer stilistischen Hervorhebung der Art ›die Moral von der Geschicht’ …‹ einher, wie sie in ›Carsten Curator‹ geübt wird. Die Einmischung des Erzählers eröffnet nämlich eine Distanz zur Geschichte, die auf diese Weise explizit außerhalb der ›eigentlich‹ erzählten Welt reflektiert wird. Selbstverständlich ist es auch möglich, weitgehend ›unauffällig‹ zu erzählen, wie es von Storm insbesondere in den frühen Novellen ›Im Sonnenschein‹ (), ›Angelica‹ (), ›Wenn die Äpfel reif sind‹ () und ›Veronica‹ () praktiziert wird. Auch spätere Novellen wie ›Draußen im Heidedorf‹ (), ›Viola tricolor‹ (), ›Waldwinkel‹ (), ›Psyche‹ () und ›Schweigen‹ () verfolgen keine der bislang dargelegten Ästhetisie-
Vgl. dazu Kapitel . dieser Arbeit. Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. , durchaus berechtigt mit Blick auf die Zweiteilung des Textes: »Obwohl diese Novelle keine deutliche Differenz von Binnen- und Rahmenerzählung aufweist, könnte man den ersten Teil doch als eine Art Binnenerzählung bezeichnen, weil er sich durchaus als Inhalt der Erinnerung in die Mitte des zweiten Teils transponieren ließe.« Diese frühen Erzählungen (bis ) gelten Storm als ›Sommergeschichten‹ (vgl. LL , K ). In ›Veronica‹ gesteht die Ehefrau ihrem Gatten einen Ehebruch; da es sich dabei um eine bloße Zusammenfassung, keine ›Darstellung‹ handelt, ist dies keine Binnenerzählung innerhalb einer Rahmenerzählung. Vgl. dazu die Interpretation zu Paul Heyses ›L’Arrabbiata‹ in Kapitel . dieser Arbeit. Lee, Erinnerung und Erzählprozess, S. , stellt jedoch fest: »Zunehmend problematisiert schon der frühe Storm das Verhältnis von Erinnerung als (historischer) Rekonstruktion und (poetischer) Konstruktion, zwischen ›realistischer‹ Mimesis und phantasievoller Poiesis. Der Erinnernde sammelt und sortiert die vergangenen Geschichten und stellt seiner Anschauuung nach daraus eine neue Realität her. Wer sich zu erinnern vermag, so könnte man in diesem Zusammenhang sagen, vermag auch Gegenwart und Zukunft zu beherrschen.« Lee bietet ausführliche Interpretationen zu Storms Novellistik der Jahre bis .
rungsstrategien. Darstellungskonzentriert beginnt etwa ›Draußen im Heidedorf‹: »Es war an einem Herbstabend; ich hatte in der Amtsvogtei ein paar Mittage eingebrachte Holzfrevler vernommen und ging nun langsam meinem Hause zu.« (LL , ) Das epische Präteritum entwirft hier die Geschichte, die weder erinnert noch auf andere Weise ›gemacht‹ wird. Dennoch ist es möglich, daß auch bei solchen Texten ›poietische‹ Momente zu verzeichnen sind, die einem ›poetischen Realismus‹ nach herkömmlicher Typologie fremd sein müßten. »Um mit meinem Bericht zu Ende zu kommen: […]« (LL , ) treibt sich etwa der Ich-Erzähler am Schluß von ›Draußen im Heidedorf‹ voran. Der Verweis auf den »Bericht« ist eine Darstellungsstörung, da mit diesen wenigen Worten die Darstellung eines primär ›ontologischen‹ Status enthoben und in einen sekundären erzählten beziehungsweise erinnerten Bereich verwiesen wird. Gewöhnlich dürfte man annehmen, daß ein Erzähler in Texten des Realismus dafür sorgt, daß »der Schein des dominant sinnlichen (Mit-)Erlebens einer (nicht der) Wirklichkeit« evoziert wird. Die Novellistik Theodor Storms hingegen legt ihren Schwerpunkt auf mehrfach gebrochene beziehungsweise potenzierte Fiktionalisierungen. So werden etwa aufgeschriebene Geschichten erst gelesen, dann weitererzählt und schließlich Jahrzehnte später erinnert. Distanz zur Darstellung ist also das ästhetische Konzept, das diesen Novellen zugrunde liegt. In welchem Ausmaß man die Suche nach ›Ästhetisierungsstrategien‹ legitimieren möchte, ist jedem Interpreten selbst überlassen. Entscheidend ist die Möglichkeit, auch poetische Elemente auf ihre Künstlichkeit beziehungsweise ›Gemachtheit‹ hin zu untersuchen. Wenn etwa in ›Schweigen‹ ein Gespräch zwischen Vater und Sohn wiedergegeben wird, von dem es im letzten Satz heißt: » – Niemand hatte dies Gespräch belauscht, wenn nicht doch der Buchfinke, der gleich danach über der Tür des Forsthauses in dem jungen Grün der Eiche seinen hellen Sang erhob« (LL , ), so wird nicht bloß ein ›poetischer‹ Effekt erzeugt. Mit dem im Kontext der Geschichte unnötigen Verweis auf die Heimlichkeit des Gespräches (Vater und Sohn sind bei ihrem Spaziergang alleine, es gibt keine Andeutungen, daß sie belauscht würden) eröffnet sich zwangsläufig die Frage, woher der an sich unbeteiligte Erzähler seine Informationen haben könnte. Der poetische Buchfink eröffnet damit ein Problem der Poiesis. In ironischer Brechung wird der Vogel als Gesprächzeuge
Die Novelle gilt (ähnlich wie ›Auf dem Staatshof‹) als »zum erstenmal […] durchgängig realistisch ausgeprägt.« (LL , K ) – Eine ausführliche Interpretation, die die Unglaubwürdigkeit des Erzählers unter Beweis stellt, liefert Pastor, »Du bist hier Partei!«. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen , S. .
und Verkünder des soeben Gehörten stilisiert; er offenbart also Merkmale, die eher dem Erzähler zuzuschreiben wären – bereits Theodor Storm hatte festgestellt: »Der Dichter will auch seinen Spaß haben.«
Theodor Storm an Erich Schmidt, Brief vom . . . Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Bd. : –, in Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hg. von Karl Ernst Laage, Berlin , S. . In dem Brief an Erich Schmidt zitiert Storm sich selbst; er gedenkt an Keller zu schreiben: »Lassen Sie mich, lieber Herr Confrater, hier Eines sagen: ›Der Dichter will auch seinen Spaß haben‹. Ich meine, der Spruch stammt von Göthe. Jedenfalls lassen Sie sich dieß Recht in keiner Art verkümmern. Ich für meine Person, z. B. wenn das Seldwyler Kriegsheer den Quast in seinen schwarzen Farbetopf taucht, stemme dann die Hände in die Seite, sehe ruhig zu und denke: ›Ja so, der Gottfried muß erst seinen Spaß zu Ende machen!‹ Und er macht ihn dann auch jedes Mal zu Ende. Aber es sind Leute, kein schofles Volk, sondern gute Leute, denen ich gern den kräftigen Born Ihrer Dichtung gönnen möchte; die rufen: ›Das halt der Deuvel aus!‹ und laufen mir davon. Diese Leute nun sollen mir jetzt ›Die Sieben Aufrechten‹ lesen und ich habe alle Hoffnung, daß sie danach, wenn sie wiederum den Dichter auf seinen Spaß betreffen, respektvoll mit dem Hut in der Hand das Ende abwarten werden.« (S. f.) Vgl. Theodor Storms Brief an Gottfried Keller vom . . .
Poiesis
Adalbert Stifter verweist in seinem Aufsatz ›Über Stand und Würde des Schriftstellers‹ () auf eine geläufige Nachlässigkeit im Journalismus: Wie sehr diese [die Begabung – LK] selbst in dem unbedeutendsten Fache nöthig ist, zeigen so manche Berichterstatter für Zeitungen, die das unterste aller Erfordernisse eines Berichterstatters nicht haben, nämlich das Empfangene einfach weiter zu geben. Wenn z. B. einem solchen Berichterstatter von seinem Bekannten A gesagt wird: »In der Straße B wird eingehauen,« so berichtet er in seine Zeitung: »In der Straße B wird eingehauen,« während er doch eigentlich nur weiß, daß A gesagt habe, es wird eingehauen. Jeder von uns wird wissen, wie zahlreich dieser Fehler geschieht.
Anders als die »Berichterstatter für Zeitungen« haben sich die zeitgenössischen Novellisten dieser Verpflichtung auf ›Wahrhaftigkeit‹ gestellt. Unmittelbar auf Darstellung ausgerichtete Novellen sind die Ausnahme (etwa: »Es war an einem Herbstabend; ich hatte in der Amtsvogtei ein paar Mittage eingebrachte Holzfrevler vernommen und ging nun langsam meinem Hause zu«; Theodor Storm, ›Draußen im Heidedorf‹). Weitaus häufiger wird das Geschehen durch Verweis auf seinen Darstellungsmodus in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht: »Es ist ein Erlebnis, das ich heut erzählen will; nicht mein eigenes, es ist mir selbst erzählt worden« (Theodor Storm, ›»Es waren zwei Königskinder«‹). Während ein auf Faktentreue verpflichteter Journalist fremde Informationen nicht als Tatsachen ausgeben dürfte, verhält es sich bei einem Erzähler literarischer Texte umgekehrt: in diesem Fall hat jede Fiktion zunächst unhinterfragt
Adalbert Stifter, Über Stand und Würde des Schriftstellers. In: ders., Schriften zur Literatur und Theater, hg. von Werner M. Bauer, Stuttgart, Berlin, Köln , S. –; hier S. . Vgl. generell Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem . Jahrhundert, Stuttgart . Erinnert sei an ein Zitat Gérard Genettes (vgl. Kapitel . der vorliegenden Arbeit): »Am relevantesten ist hier sicher die Unterscheidung des Niveaus, denn die Bemühung um Wahrscheinlichkeit oder Einfachheit verbietet der faktualen Erzählung im allgemeinen einen allzu massiven Gebrauch der Narration zweiten Grades: ein Historiker oder Memoirenverfasser, der es einer seiner ›Personen‹ überließe, einen wichtigen Teil der Erzählung vorzutragen, ist schwer vorstellbar, und seit Thukydides weiß man, welches Problem die einfache Wiedergabe einer etwas längeren Rede für den Historiker darstellt. Die Präsenz der metadiegetischen Erzählung ist also ein ziemlich
und ohne etwaige Beglaubigung einen ›es ist so‹-Status. Was im Tagesgeschäft der Berichterstattung gefordert wäre, wird nun ohne zwingende Notwendigkeit von der Novelle des Realismus geleistet: die Reflexion über die Vermittlung von ›Wirklichkeit‹. Erzähltes Erzählen ist ein konstantes Thema der Novellen des Realismus, sei es in Abhängigkeit von einer Erzählgesellschaft, vom Dialog, von der chronikalischen Aufzeichnung oder in der bloßen Erinnerung an ein Jugenderlebnis. ›Erzählen‹ bedeutet in diesen Fällen die Vermittlung einer bereits ›fixierten‹ Geschichte; es verkürzt sich dabei auf die Mitteilung einer vorangegangenen Rezeption: der Erzähler mußte selbst erst (durch Gespräche, archivalische Funde oder gar visionärer Eingebung) zu seiner Geschichte kommen, bevor er sie erzählen kann. Was Adalbert Stifter als journalistische Grundregel empfiehlt, ist der ›Wahrhaftigkeit‹ literarischer Texte nicht sonderlich zuträglich: Gerüchten, Erzählungen Dritter, bearbeiteten Übersetzungen oder der redigierenden Wiedergabe schwer entzifferbarer Aufzeichnungen ist nicht ohne weiteres zu trauen. In Stifters Novellenzyklus ›Bunte Steine‹ () besticht etwa ›Granit‹ durch die Erinnerung eines alten Mannes an ein Kindheitserlebnis, das wesentlich von der ›märchenhaften‹ Erzählung seines Großvaters geprägt sein soll, die diesem seinerseits vom Großvater erzählt worden ist. ›Granit‹ gibt also seine histoire nicht unmittelbar wieder, sondern distanziert die Darstellung und markiert sie dadurch zuallererst als ›gemacht‹. Poiesis kann sich aber nicht bloß durch Rahmung zu erkennen geben, sondern auch intradiegetisch durch anti-mimetische Erzählelemente. Erzählstrategisch auffällig ist die Erzählung ›Bergkristall‹, in der eine vorangehende, ›unmotiviert‹ und nicht ereignishaft erzählte Bergbesteigung durch die später erzählte Verirrung der Kinder Konrad und Sanna erst nachträglich zur Sinngebung beiträgt, und damit eine rein literarisch-funktionale, außerhalb der eigentlichen histoire stehende Ausrichtung offenbart. In ›Kazensilber‹ sind die Kinder bemüht, die empirische Grundlage von Märchen und Sagen zu prüfen: sie müssen feststellen, daß die Geschichten der Großmutter nicht ›stimmen‹, und haben mit dem braunen Mädchen zugleich eine ›reale‹ Sagengestalt an ihrer Seite. Die Novelle thematisiert also einerseits die Inkompatibilität von Sagen für die dargestellte Welt, hat andererseits jedoch die realitätsinkompatible Sagengestalt des braunen Mädchens als Hauptfigur. Gottfried Kellers ›Züricher Novellen‹ verstoßen in mehrfacher Hinsicht gegen die überkommenen Konventionen eines Novellenzyklus: Die Erzählgemeinschaft wird bewußt gemieden, und die jeweilige ›Vorbereitung‹ der Binplausibles Fiktionalitätsindiz – auch wenn ihre Absenz nichts heißen will.« Gérard Genette, Fiktion und Diktion, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München , S. .
nenerzählung im Gespräch zwischen Jacques und seinem Paten findet ihren Konterpunkt in der erzählstrategischen Vermittlung der Geschichten. Der Rahmenerzähler reißt nämlich auch die Binnenerzählungen an sich und kümmert sich nicht darum, ob sie als Dialog oder als Manuskript konzipiert sind. Auf das Ende seiner Rahmenerzählung folgen ohne weiteren Bezug zwei Novellen, die je nach Textvorlage als eigenständiger Erzählkomplex oder als erzählerische ›Unmöglichkeit‹ aufgefaßt werden können. Conrad Ferdinand Meyers Novelle ›Die Hochzeit des Mönchs‹ () hat das Geschichtenerzählen zum Thema. Der Rahmenerzähler Dante Alighieri changiert zwischen Beglaubigung, Allwissenheit, Vermutung, subjektiver Kommentierung und Verstößen gegen seine eigene Erzähllogik. Die vielfach als ›gemacht‹ herausgestellte Binnenerzählung hat ihr Fundament im Figureninventar der Rahmenerzählung; Dante richtet sein Erzählen auf Veränderungen seiner direkten Umgebung hin aus. Die Binnenerzählung ist also nicht eine statisch fixierte, gleichsam historische Darstellung, sondern unterliegt dem dynamisch sich entwickelnden Erzählprozeß. Indem der Fürst Cangrande gegen Mitte der Erzählung seinen Platz mit Dante tauscht, inthronisiert sich dieser vollends als Herrscher über die Figuren der Binnen- und Rahmenhandlung. Der Terzinenepiker hat aus einer burlesken, Boccaccio gemäßen Abendunterhaltung ein ›ernstes‹ Prosakunstwerk geschaffen, in dem er ›seiner‹ Hauptfigur, dem Mönch Astorre, bis in den Tod hinein folgt. Meyers Novelle ist damit eines der artistischsten Zeugnisse einer neuen Novellistik mit den »modernsten Palettenkünsten«. Eine auf ›Ästhetisierungsstrategien‹ ausgerichtete Analyse von Theodor Storms Novelle ›Ein Doppelgänger‹ () macht deutlich, daß rein auf Darstellung bezogene Interpretationen realistischer Texte oftmals nicht zureichen: ›Ein Doppelgänger‹ ist nicht nur als sozialkritische Anklageschrift oder psychologische Studie zu lesen, will aber auch kein Lehrstück poetisch-magischer Dingsymbolik sein. Die Figur des Zuchthäuslers und ein mysteriöser Brunnen sind Resultat der Erinnerung eines Erzählers an eine inspirierte Vision nächtens am Fenster. Die im Text explizit als ›poetisch‹ bezeichnete Binnengeschichte wird durch die verhältnismäßig ausführliche Berücksichtigung des Darstellungsmodus zu einer ›hervorgebrachten‹, mithin poietischen Geschichte. Ähnlich komplex gestaltet sich auch das Korpus der zwischen und veröffentlichten Novellen Theodor Storms. Die Binnengeschichten werden häufig mehrfach gerahmt – ›Der Schimmelreiter‹ ist hierfür nur ein, freilich avanciertes, Beispiel. Die Kombination der ›Ästhetisierungsstrategien‹ kann sich dabei auf den vertraulichen Dialog oder die größere Erzählrunde, auf
Paul Heyse an Conrad Ferdinand Meyer, Brief vom . November . Zitiert nach: Conrad Ferdinand Meyer, Novellen II. Die Hochzeit des Mönchs. Das Leiden eines Knaben. Die Richterin, hg. von Alfred Zäch, Bern , S. .
den Archivfund oder die gleichsam monologische Erinnerung stützen. Eklatant ist die stete Ausrichtung auf den Darstellungsmodus, die für das mimetische Erzählen keineswegs notwendig wäre; wenige, ausschließlich auf Darstellung ausgerichtete Novellen Storms, aber auch einzelne Novellen Adalbert Stifters und Gottfried Kellers demonstrieren dies (etwa ›Viola tricolor‹, ›Bergmilch‹ und ›Ursula‹). Selbstverständlich darf gelten, daß »eine einzelne Novelle ja gar keinen Rahmen braucht«. Stifters Erwartung an den Journalismus, nur das zu berichten, was faktisch gilt, wird also in der realistischen Novelle weit mehr beherzigt als in den Zeitungen. Der Novellenerzähler teilt in der Regel mit, daß »er doch eigentlich nur weiß, daß A gesagt habe, …« Mit diesem durchaus ›umständlichen‹, nämlich komplexen Erzählverfahren gelingt es den realistischen Novellen, wirklichkeitskonform zu sein und ihren Stoff dennoch als Kunst zu markieren. Dieser Novellistik liegt nicht vorrangig ein mimetisches Verfahren zugrunde, das auf Darstellungskohärenz und Wahrscheinlichkeit beruht, sondern ein poietisches, das die ›eigentliche‹ Geschichte als erfundene ›Geschichte‹ durchschaubar macht. Auf diesem Weg gelangt die Kunst in die Prosa, die sich trotz rhetorischer Zurückhaltung und nebst ›poetischen‹ Verfahren wie etwa den Verklärungstendenzen, als ›nobilitiert‹ betrachten darf. Eine solche kunsttheoretische Auffassung kann die historischen Fakten nicht ganz außer acht lassen. Annette von Droste-Hülshoff schreibt an Christoph Bernhard Schlüter am . August anläßlich der Quellenlektüre zu einer neuen Novelle: »ich habe jetzt wieder den Auszug aus den Ackten gelesen, den mein Onkel August schon vor vielen Jahren in ein Journal rücken ließ, und dessen ich mich nur den Hauptumständen nach erinnere«. In ›Die Judenbuche‹ heißt es dann: »Dieß hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs .« (S. ) Im Januar schreibt Antonie von Arneth an Adalbert Stifter: »Wie stolz bin ich, daß Sie meine kleine Skizze einer Beachtung werth gehalten haben. […] Sie sagten in Ihrer Erzählung: eine Freundin erzählte mir dieses – darum nehme ich mir nun die Frei-
Gottfried Keller an Paul Heyse, Brief vom . Dezember . Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. ., hg. von Carl Helbling, Bern , S. –; hier S. . Annette von Droste-Hülshoffs an Christoph Bernhard Schlüter, Brief vom . August : Annette von Droste-Hülhoff, Briefe. –. Text, bearbeitet von Walter Gödden und Ilse-Marie Barth, Tübingen , S. –; hier S. . Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche. In: dies., Historisch-kritische Ausgabe. Prosa. Text, bearbeitet von Walter Huge, Tübingen , S. –; hier S. . – Vgl. Horst-Dieter Krus, Mordsache Soistmann Berend. Zum historischen Hintergrund der Novelle »Die Judenbuche« von Annette von Droste-Hülshoff, Münster .
heit, Sie Freund zu nennen«. In der Novelle ›Turmalin‹ heißt es: »Es war seit der Zeit, in welcher sich das zugetragen hatte, was oben erzählt worden ist, eine Reihe von Jahren vergangen. Die Erzählung rührt von einer Freundin her, welche den Künstler recht gut gekannt hat«. Theodor Storm schreibt an seine Tochter Lisbeth am . Februar : »Jetzt spukt eine gewaltige Deichsage, von der ich als Knabe las, in mir«. Wenige Tage zuvor hatte er bereits vermerkt: »Es ist die, ich glaube, ostfriesische Sage vom ›Schimmelreiter‹, die jetzt in mir spukt, die ich in meinem . od ten Jahr, Gott weiß wo, las, und nicht habe wiederfinden können«. ›Der Schimmelreiter‹ beginnt dann: »Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert […] kund geworden, während ich […] mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; […] vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht«. Es soll an dieser Stelle gewiß kein biographistisches Autor-Erzählermodell bemüht werden; dennoch mag sich mit derartigen Übereinstimmungen der historische Kontext der ›Ästhetisierungsstrategien‹ andeuten. Die Offenlegung von Quellen und Recherchen, die die Geschichten fiktionsimmanent nur scheinbar als ›gefunden‹, genau besehen als ›gemacht‹ signalisiert und die poietische Setzung einer mimetischen Darstellung bedeutet, konnte den Realisten Merkmal der Beglaubigung beziehungsweise Authentifizierung sein. En pas
Antonie von Arneth an Adalbert Stifter, Brief vom Januar . Adalbert Stifters Sämmtliche Werke [Prager Ausgabe], Bd. : Briefwechsel, Bd. , hg. von Gustav Wilhelm, Reichenberg , S. . Adalbert Stifter, Turmalin. In: ders., Bunte Steine. Buchfassungen, hg. von Helmut Bergner, Stuttgart u. a. , S. –; hier S. . – Vgl. auch Helmut Barak, »Gute Freundin« und »glänzender Künstler«. Die dichterisch gestaltete Wirklichkeit in Stifters Erzählung ›Turmalin‹. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler. Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk, hg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder, Tübingen , S. –. Beide Zitate nach Theodor Storm, Novellen. –, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main , S. und . Theodor Storm, Der Schimmelreiter. In: ders., Novellen. –, hg. von Karl Ernst Laage, Frankfurt am Main , S. –; hier S. 634. – Der Beginn von ›Der Schimmelreiter‹ ist überdies durch die Erwähnung von Storms ›Scheherezade‹ Lena Wies biographisch grundiert. Vgl. auch das Kapitel ›Dichtung und lokale Wirklichkeit in Storms Novellistik‹ bei Karl Ernst Laage, Theodor Storm. Studien zu seinem Leben und Werk mit einem Handschriftenkatalog, ., erweiterte und verbesserte Auflage, Berlin [], S. –; hier S. –. Selbstverständlich wird das Verfahren auch ohne biographische Parallelen bemüht. Conrad Ferdinand Meyer nennt (anläßlich einer Rechtfertigung von ›Der Heilige‹) als Vorzüge der Rahmentechnik unter anderem: »Die Hauptsache, Beglaubigung durch einen Augenzeugen des rein aus meinem Gemüte gehobenen u. in der Wirklichkeit schwer ein Analogon findenden Characters des Heiligen.« Brief an Betty Paoli, . . . Zitiert nach: Conrad Ferdinand Meyer, Der Heilige. Die Versuchung des Pescara, hg. von Alfred Zäch, Bern , S. .
sant bedienen sie sich damit eines im höchsten Grade poetischen Verfahrens, indem die Darstellung gerade ihres ›Realismus‹ wegen als Kunstwerk angezeigt wird. Diese Strategie ist von Otto Ludwig als erfolgreiche Durchbrechung der Illusion von Wirklichkeit bewertet worden: Die Kunst ist, auf der einen Seite die größtmöglichste künstlerische Täuschung hervorzubringen, auf der andern Seite immer vorzusehen, daß diese künstlerische Täuschung nicht in die falsche Illusion übergehe, die nichts mit der Kunst zu thun hat, sondern der »unfreiwillige Irrtum« ist, daß das, was der Phantasie zum Spiele hin gereicht wird, bare, blanke Wirklichkeit sei, wirkliche nicht von der Kunst frei reproduzierte.
Die Herausstellung des Kunstcharakters der Novellen des Realismus hat zur Folge, daß rein auf Darstellung ausgerichtete Interpretationen unzureichend bleiben. Das Gros der vorgestellten Novellen, beziehungsweise der als ›Novelle‹ kanonisierten Erzähltexte des . Jahrhunderts, ist mimetisch nur insofern, als es einen Akt der Poiesis darstellt, nämlich Kunstproduktion abbildet. Die ›eigentliche‹ Geschichte gerät damit in ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem sie immer sekundäre ›Wirklichkeit‹, markierte Fiktion ist. Der Effekt der Darstellungsstörung, angefangen von der Rahmenerzählung bis hin zur logischen Paradoxie innerhalb der Binnenerzählung, läßt sich als ›Ästhetisierungsstrategie‹ begreifen. Ein weiteres Mal, freilich mit ganz anderen Voraussetzungen, ist ›Poesie der Poesie‹ das dichtungstheoretische Programm des . Jahrhunderts. »(Ironie nein)« hat Adalbert Stifter auf einem Blatt zu seiner Novellensammlung ›Bunte Steine‹ vermerkt – das freilich ist eine epochale Fehleinschätzung.
Otto Ludwig, Epische Studien. In: ders., Werke. In sechs Bänden, hg. von Adolf Bartels, Bd. : Ausgewählte Studien und kritische Schriften, Leipzig o. J., S. –; hier S. . Zitiert auch bei Horst Steinmetz, Der vergessene Leser. Provokatorische Bemerkungen zum Realismusproblem. In: Dichter und Leser. Studien zur Literatur, hg. von Ferdinand von Ingen u. a., Groningen , S. –; hier S. . Walter Hettche, Eine notwendige Korrektur zur Historisch-Kritischen Stifter-Ausgabe. In: Editio, , , S. –. Hettche bewertet den Vermerk als »eine wichtige Stelle, denn ganz offenkundig handelt es sich um einen der seltenen Eigenkommentare des Autors zu seinem Werk, eine Arbeitsnotiz, mit der er sich selbst die ironische Schreibweise verbietet« (S. ).
Literaturverzeichnis
Von späteren Herausgebern gesetzte Titel werden in eckigen Klammern angegeben.
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Die Forschungsliteratur zur Theorie des Realismus und der Novelle ist vorangestellt; darauf folgt die Forschungsliteratur zu Einzelinterpretationen.
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Register
Das Register erfaßt Theoretiker, Autoren und deren Umfeld, nicht aber Verfasser von Forschungsliteratur; bloße Belegstellen für Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Adalbert Stifter und Theodor Storm verzeichnet das Register nicht. Ariosto, Ludovico Aristoteles , , –, Arneth, Antonie von f. Arnim, Achim von ›Der Wintergarten‹ , Atterbom, Per Daniel Auerbach, Berthold ›Schwarzwälder Dorfgeschichten‹ Balzac, Honoré de Benndorf, Otto Biese, Alfred Boccaccio, Giovanni , , f., , ›Decamerone‹ , , , f., Bodmer, Johann Jakob Boileau, Nicolas Brecht, Bertolt Brinkmann, Hartmuth , Brinkmann, Laura , Brockes, Barthold Hinrich Camus, Jean-Pierre Carrierre, Moriz Cervantes, Miguel de ›Don Quijote‹ , ›Novelas ejemplares‹ Claudius, Matthias ›Asmus omnia sua secum portans‹ Collodi, Carlo ›Le avventure di Pinocchio: Storia di un burattino‹ Dante Alighieri , , , f., f. ›Commedia‹ , , ›Vita Nova‹ Dickens, Charles
Diderot, Denis ›Jacques le fataliste et son maître‹ Dostojewski, Fjodor Michailowitsch Droste-Hülshoff, Annette von ›Die Judenbuche‹ , –,, , , , –, , Eckermann, Johann Peter Eller, Henriette Exner, Adolf , , Flaubert, Gustave f., Fontane, Emilie Fontane, Theodor , , , f., , ›Der Stechlin‹ ›Grete Minde‹ f., Fouqué, Friedrich de la Motte ›Undine‹ François, Louise von , –, , Franzos, Karl Emil , Freytag, Gustav , f. ›Die Ahnen‹ ›Soll und Haben‹ Friedrich II., König von Preußen Frisch, Max ›Biedermann und die Brandstifter‹ Gervinus, Georg Gottfried Gessner, Salomon Goethe, Johann Wolfgang f., , , , , ›Die Leiden des jungen Werthers‹ ›Die Wahlverwandtschaften‹ , , , ›Faust. Der Tragödie zweiter Teil‹
›Herrmann und Dorothea‹ ›Novelle‹ , ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ , ›Wiegenlied. Dem jungen Mineralogen Walther Wolfgang von Goethe‹ ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ , ›Zahme Xenien‹ Gotthelf, Jeremias ›Die schwarze Spinne‹ f., Gottschall, Rudolf Gottsched, Johann Christoph Grass, Günter Grillparzer, Franz ›Der arme Spielmann‹ –, Gstrein, Norbert Hagberg, Carl August Harsdörffer, Georg Philipp Haxthausen, August von ›Geschichte eines Algierer-Sklaven‹ , Hebbel, Friedrich ›Die alten Naturdichter und die neuen‹ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich , Hein, Christoph Hertz, Wilhelm Heyse, Paul , f., , –, –, , , , ›Die Frau Marchesa‹ ›In der Geisterstunde‹ ›L’Arrabbiata‹ f., Heyse, Paul und Hermann Kurz ›Deutscher Novellenschatz‹ , Hoffmann, E. T. A. ›Der goldene Topf‹ – ›Die Serapionsbrüder‹ Hofmannsthal, Hugo von Homer Horaz , Hornberger, Emil f., Hürlimann, Thomas Ibsen, Henrik James, Henry Jean Paul ›Titan‹
Kant, Immanuel Keller, Gottfried , , f., , , ›Das Fähnlein der sieben Aufrechten‹ , f., –, –, ›Das Sinngedicht‹ , , ›Der Landvogt von Greifensee‹ , –, –, – ›Der Narr auf Manegg‹ –, , –, –, ›Die Leute von Seldwyla‹ , , , ›Hadlaub‹ , –, f., , , f., , – ›Ursula‹ , f., –, –, ›Züricher Novellen‹ , , –, , , , , , –, , f. Kirchmann, Julius Hermann von Kleist, Heinrich von ›Erzählungen‹ Kompert, Leopold , Ludwig, Otto , , , ›Zwischen Himmel und Erde‹ – Merck, Johann Heinrich Meyer, Betsy Meyer, Conrad Ferdinand , , , , –, , ›Das Amulett‹ f., , ›Das Leiden eines Knaben‹ ›Der Heilige‹ , ›Die Hochzeit des Mönchs‹ , –, ›Die Seitenwunde‹ ›Jürg Jenatsch‹ ›Plautus im Nonnenkloster‹ Meyer, Fritz Mörike, Eduard ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ –, , , Moritz, Karl Philipp Mundt, Theodor , f., Nietzsche, Friedrich Opitz, Martin Oulibicheff, Alexandre
Ovid ›Metamorphoseon libri‹ Paoli, Betty Petersen, Wilhelm Platon f. Pohlmann, August Wilhelm Prutz, Robert , Raabe, Wilhelm ›Die Chronik der Sperlingsgasse‹ f. Rauch, Christian Daniel Reinbeck, Georg von , Ritner, Andreas Rodenberg, Julius -, , Rosset, François de Rousseau, Jean-Jacques Ruge, Arnold Saar, Ferdinand von ›Marianne‹ f., Sachs, Hans Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schiller, Friedrich ›Das Lied von der Glocke‹ ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ , Schlegel, Friedrich , , Schlüter, Christoph Bernhard , Schmidt, Erich , , Schmidt, Julian f., , f. Schopenhauer, Arthur Scott, Walter ›Ivanhoe‹ ›Kenilworth‹ ›Quentin Durward‹ ›Waverley‹ Shakespeare, William ›As You Like It‹ Sophokles Spielhagen, Friedrich , , Spitteler, Carl Sterne, Laurence ›Tristram Shandy‹ , Stifter, Adalbert , , f., f., f., ›Bergkristall‹ , , , –, , –, ›Bergmilch‹ , , , , –, ›Brigitta‹
›Bunte Steine‹ , –, , , , –, , ›Der Nachsommer‹ ›Feldblumen‹ ›Granit‹ , , –, f., –, , ›Kalkstein‹ , , –, – ›Kazensilber‹ , , , , –, –, ›Turmalin‹ , , –, , , –, Storm, Lisbeth Storm, Theodor , , , , , , , f., , –, ›Abseits‹ ›Am Kamin‹ , ›Angelica‹ ›Aquis submersus‹ , ›Auf dem Staatshof‹ , , f. ›Auf der Universität‹ , , f. ›Bei kleinen Leuten‹ ›Beim Vetter Christian‹ ›Bötjer Basch‹ , f. ›Carsten Curator‹ f. ›Der Herr Etatsrat‹ , – ›Der Schimmelreiter‹ –, , , , , ›Die Armesünder-Glocke‹ f. ›Die Söhne des Senators‹ ›Draußen im Heidedorf‹ , , , ›Drüben am Markt‹ ›Eekenhof‹ f. ›Ein Bekenntnis‹ ›Ein Doppelgänger‹ –, , f., ›Ein grünes Blatt‹ f. ›Eine Halligfahrt‹ , ›Eine Malerarbeit‹ f. ›Ein Fest auf Haderslevhuus‹ ›Ein stiller Musikant‹ f. ›»Es waren zwei Königskinder«‹ , f., ›Florentiner Novelle‹ ›Hans und Heinz Kirch‹ ›Im Brauer-Hause‹ ›Immensee‹ , ›Im Nachbarhause links‹ f., ›Im Saal‹ , ›Im Schloß‹ , f.
›Im Sonnenschein‹ ›In St. Jürgen‹ f. ›John Riew’‹ , f. ›Märchen und Spukgeschichten‹ ›Marie von Lützow‹ ›Marthe und ihre Uhr‹ ›Pole Poppenspäler‹ , ›Posthuma‹ ›Psyche‹ ›Renate‹ , f. ›Schweigen‹ f. ›Späte Rosen‹ , ›Unter dem Tannenbaum‹ ›Veronica‹ ›Viola tricolor‹ ›Von Jenseits des Meeres‹ ›Waldwinkel‹ ›Wenn die Äpfel reif sind‹ ›Zerstreute Kapitel‹ ›Zur Chronik von Grieshuus‹ , f. ›Zur »Wald- und Wasserfreude«‹
Thukydides , Tieck, Ludwig , ›Phantasus‹ Tolstoi, Lew Nikolajewitsch Tschechow, Anton Pawlolwitsch Vischer, Friedrich Theodor Wedde, Johannes Weibert, Ferdinand –, , Wieland, Christoph Martin ›Das Hexameron von Rosenhain‹ Wies, Lena Winkelhagen, Hermann Georg Wohlbrück, Wilhelm Wyß, Friedrich von Zeiller, Martin Zola, Émile , ›Germinal‹