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Nae Herausgegeben von Jürgen Moltmann · .. Mit Beltr~en von .................................... .
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~ Kaiser Traktate
Die Bergpredigt spielte in jüngster Zeit nicht nur bei Theologen, sondern in einer breiten Öffentlichkeit bis in die Leserbriefspalten großer Tageszeitungen eine außergewöhnlich große Rolle. Ein biblischer Text wird öffentlich diskutiert. In diesem Zusammenhang haben die hier veröffentlichten Beiträge eine weiterführende Bedeutung.
An der Geltung der Bergpredigt entscheidet es sich, ob das Christentum in unserem Land zu einer Religion wird, die nichts mehr fordert und niemanden tröstet, oder ob es zur Erweckung einer Jesus bekennenden und ihm allein und ungeteilt nachfolgenden Gemeinde kommt.
~~ Kaiser Traktate
~~ KaiserTraktate
Nachfolge und Bergpredigt
Mit Beiträgen von Werner H. Schmidt . Ulrich Luz . Rolf Heinrich . Helmut Gollwitzer
Herausgegeben von J ürgen Moltmann
ehr. Kaiser
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nachfolge und Bergpredigt I hrsg. von Jürgen Moltmann. Mit Beitr. von: Werner H. Schmidt .... München: Kaiser, 1981 (Kaiser Traktate; 65) ISBN 3-459-01431-8 NE:GT © 1981 Chr. Kaiser Verlag München. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages. Fotokopieren nicht gestattet. Umschlag: Christa Manner. Gesamtherstellung: Georg Wagner, Nördlingen.
Inhalt
Jürgen Moltmann Einführung
7
Werner H. Schmidt Aspekte alttestamentlicher Ethik
12
Ulrich Luz Die Bergpredigt im Spiegel ihrer Wirkungsgeschichte
37
Ralf Heinrich Gott - rücksichtslos der Gott der Armen Leben mit Matthäus 5, Vers 3
73
Helmut Gollwitzer Bergpredigt und Zwei-Reiche-Lehre
89
Einführung
Die Gesellschaft für evangelische Theologie hatte für den 23. - 25. Februar 1981 zu einer Tagung über Nachfolge und Bergpredigt in die Evangelische Akademie Arnoldshain eingeladen. In der Einladung hieß es: »Wir wollen versuchen, uns der Bergpredigt und ihrem Prediger in unserer Situation heute rückhaltlos zu stellen. Angesichts der Forderungen der Bergpredigt sind viele von uns hin und her gerissen: Nachrüstung - möglichst nicht! Aber können wir angesichts von Afghanistan »ohne Waffen leben«? In der drohenden militärischen Konfrontation ist das bedingungslose Friedenszeugnis notwendig, aber sind nicht auch die Widerstandsbewegungen und Befreiungsfronten in der dritten Welt im Recht? Nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz die Frage nach »Grundwerten « in unserer Gesellschaft mit dem Hinweis auf die Zehn Gebote beantworten zu können meinte, wollen wir nach der Auslegung des Dekalogs in der Bergpredigt und nach dem »Außerordentlichen« der Nachfolge (D. Bonhoeffer) fragen. Es müssen auch jene theologischen Lehren überprüft werden, mit deren Hilfe wir uns mit der Bergpredigt eingerichtet haben: die Naturrechtslehre, die ZweiReiche-Lehre, die Herrschaft-Christi-Lehre und die politische Theologie. Steht die Bergpredigt nicht noch einmal quer zu diesen Lehren?« Der große Zuspruch, den unsere Tagung fand, zeigt, wie aktuell das Thema der Nachfolge heute ist und wie drängend die genannten politischen Fragen der christlichen Existenz empfunden werden. Nur die Hälfte der angemeldeten Teilnehmer konnte angenommen werden, und auch mit dieser Zahl war die Evangelische Akademie Arnoldshain so überfüllt, daß die Hauptvorträge in der Dorfkirche 7
von Schmitten gehalten werden mußten. Die Zeit für Diskussionen wurde dadurch zwar über Gebühr verkürzt, doch dafür dehnten sich die Gespräche bis in die Nächte hinein aus. Zum ersten Mal hatten wir offiziell auch die Freikirchen zu unserer Tagung eingeladen. Die mennonitischen und methodistischen Pfarrer brachten ihre besonderen Erfahrungen mit der Bergpredigt auf eindrucksvolle Weise in die Tagung hinein. Als etwas Besonderes wurde auch die Begegnung der Generationen erlebt: Die Kirchenkampfgeneration, wenn ich es so sagen darf, und die Generation der heutigen Friedensbewegung begegneten sich und fanden Gemeinschaft im gleichen Geist. Daß auch der traditionelle »Abend der Kirchenleitung« durch Kirchenpräsident Hild unter das Thema der Bergpredigt heute gestellt wurde, wurde dankbar aufgenommen. Weil am Schluß die Zeit für eine gemeinsame Erklärung zum Frieden zu kurz war, wurde beschlossen, auf Regionalkonferenzen 1982 an diesem Thema weiterzuarbeiten. Der Vorstand der Gesellschaft beschloß, ein Wort zum Frieden vorzubereiten. Mit dem Thema dieser Tagung nimmt die Gesellschaft für evangelische Theologie die theologische Frage nach der politischen Existenz und der politischen Verantwortung des Christen wieder auf, die sie seit ihrer Gründung 1940 beschäftigt hat. Wurde damals der Anspruch der Herrschaft Christi auf das ganze Leben bekannt, so wird ebendieser Anspruch heute durch den Gesichtspunkt der ungeteilten Nachfolge Christi nach der Weisung der Bergpredigt konkretisiert. Nachfolge Christi ist das vergessene Thema der Reformation. Der lutherische Protestantismus überließ die Nachfolgeethik den täuferischen Gemeinden, um sich mit Confessio Augustana 16 auf eine Ordnungsethik zu beschränken. Man muß aber wissen, daß Confessio Augustana 16 nur eine Antwort auf den Artikel 6 des Schleitheimer Bekenntnisses der Täufer von 1527 ist, um das volle Spektrum der reformatorischen Diskussion in den Fragen von Nachfolge, 8
Kriegs- und Friedensdienst zu erkennen. Erst im deutschen Kirchenkampf wurde aus aktuellem Anlaß diese Diskussion wieder aufgenommen. Dietrich Bonhoeffers »Nachfolge«, 1937, ist wohl der klarste Beitrag dazu. Nachfolge Christi ist das eingeschränkte Thema der katholischen Ethik. Seit jene Zweigleisigkeit der christlichen Existenz in der Ordenschristenheit und in der Weltchristenheit entstand, wurde auch eine zweistufige christliche Ethik entwickelt: Die Nachfolgeethik findet sich in den »evangelischen Räten« der Ordenschristenheit, während der Weltchristenheit die christliche Naturrechtsethik gilt. In dieser zweistufigen Ethik ist die Nachfolgeethik wenigstens aufbewahrt worden, obgleich beschränkt und domestiziert in der Großkirche, die beide Christenheiten umfaßt. Es kann aber sein, daß die »Zeit der Orden« (Metz) auf überraschende Weise wiederkehrt, wenn sich heute mitten in der Weltchristenheit radikale Nachfolge- und Gemeinschaftsgruppen bilden. Die Bewegung der Basisgemeinden ist auf genau diesem Wege, und die neue »Theologie der Befreiung« reflektiert die neuen Erfahrungen der sozialen und politischen Nachfolge Christi in der dritten Welt. Mit dieser Tagung mischt sich die Gesellschaft für evangelische Theologie auch in die gegenwärtige theologische und politische Diskussion um Nachrüstung oder Abrüstung im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel ein. Als wir vor zwei Jahren das Thema der Tagung formulierten, konnten wir nicht wissen, daß das Jahr 1981 in Deutschland das Jahr der Bergpredigt werden würde. Durch die Friedensbewegung veranlaßt und auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg öffentlich dargestellt, hat die Bergpredigt nicht nur Theologen und Bischöfe, sondern auch die Führungsgremien politischer Parteien und nicht zuletzt den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler zu Auslegungsversuchen in Kirchen und im deutschen Fernsehen provoziert. Eine so allgemeine und öffentliche »Bibelarbeit« hat es bei uns bisher noch nicht gegeben. Sie zeigt, wie »gefährlich« auf der einen Seite und wie »befreiend« auf der anderen 9
Seite die Bergpredigt wirkt. Sie zeigt auch, daß die Bergpredigt und ihre Auslegung niemals allein Sache der Theologen, auch nicht einmal allein Sache der Kirchen ist. Die Bergpredigt ist an »das Volk« und »die Jünger« gerichtet. Sie gehört darum nicht nur der Kirche, sondern auch dem Volk. Sie ist in diesem Sinne nicht nur religiös, sondern auch politisch. Das haben Politiker in unserem Land, die sich mit der Bergpredigt beschäftigt haben, besser gemerkt als manche Theologen, die traditionellen Auslegungen folgten. Generell kann man wohl sagen, daß die Bergpredigt sowohl die Politik wie die Theologie in der politischen Situation, in der wir leben, in Verlegenheit gebracht hat. »Mit der Bergpredigt kann man keinen Staat regieren«, sagte Bismarck. Er meinte damit offenbar auch, daß ohne die Bergpredigt die Politik einfacher sei. Sie kann dann ohne Störung des Gewissens »Realpolitik« und »Großmachtpolitik« sein. Das deutsche Volk hat seitdem mit solcher Politik, die gegen die Bergpredigt gemacht wurde, jedoch keine guten Erfahrungen gemacht - im Gegenteil! Darum ist angesichts des gegenwärtigen Rüstungswahnsinns für viele Menschen in unserem Volk die Bergpredigt einleuchtend, realistisch, vernünftig und durchaus politikfähig. Die Suspendierung der Bergpredigt aus bestimmten Bereichen unseres Lebens erscheint vielen als suspekt. Die Reduktion der Bergpredigt auf das persönliche Leben und ihre Ausklammerung aus der politischen Verantwortung wirkt nicht glaubwürdig. Die Historisierung der Bergpredigt auf die Jüngerschar und ihre Ausschließung von der gegenwärtigen Christenheit klingt unaufrichtig. Wer endlich meint, er könne sich nur dann an die Bergpredigt halten, wenn sich alle daran halten, hat das Gebot der Feindesliebe übersehen, das gerade in einer feindlichen Umwelt gilt. Mit solchen Auslegungen soll doch nichts anderes gesagt werden, als daß die politische Verantwortung anderen Gesetzen und die gegenwärtigen Kirchen anderen Interessen untertan sind und sein sollen. Wer aber die Weisungen der Bergpredigt von seinem 10
Leben oder von Teilbereichen seines Lebens ausklammert; der verliert auch die Gewißheit der Seligpreisungen der Bergpredigt. Wer den Ruf in die Nachfolge im sozialen oder politischen Leben ablehnt, der läßt die Armen, Weinenden und Leidtragenden in der Welt ohne Trost. Wer die Weisungen der Bergpredigt außer Kraft setzt, der bleibt in seiner eigenen Armut, in seinem eigenen Leid und seiner eigenen Trauer ohne Hoffnung. An der Geltung der Bergpredigt entscheidet es sich, ob das Christentum in unserem Land zu einer Religion wird, die nichts mehr fordert und niemanden tröstet, oder ob es zur Erweckung einer Jesus bekennenden und ihm allein und ungeteilt nachfolgenden Gemeinde kommt. Zur Vorbereitung auf die Tagung hatten wir folgende Literatur genannt: D. Bonhoeffer, Nachfolge, München 1981 12 ; G. Eichholz, Auslegung der Bergpredigt, Neukirchen 19702 ; U. Berner, Die Bergpredigt. Rezeption und Auslegung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1979; H. Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, Würzburg 1970. Zur Nacharbeit in praktischer Hinsicht empfehle ich H. Gollwitzer, Der Christ und die Atomwaffen, ThExh 61, München 1981 6 ; Kirche und Kernbewaffnung. Handreichung der Nederlandse Hervormde Kerk; Grenzgespräche, Band 8, Neukirchen 1981 2 ; R. Strunk, Nachfolge Christi. Erinnerungen an eine evangelische Provokation, München 1981. Tübingen August 1981
]ürgen Moltmann
11
Werner H. Schmidt Aspekte alttestamentlicher Ethik
Angesichts des Themas der Tagung »Nachfolge und Bergpredigt« befindet sich der Alttestamentler in einer keineswegs einfachen, leicht überschaubaren Situation. Das Alte Testament wird, wie die Schwerpunkte einschlägiger Fachliteratur verraten, zwar auf seinen Glauben, aber kaum einmal auf seine Ethik befragt. Ist die Ethik nicht auch in höherem Maße als der Glaube auf die jeweilige Situation wie die Gesellschaft bezogen, so geschichtlicher Veränderung stärker ausgesetzt und damit der Relativität preisgegeben? Zudem scheint der jederzeit allmählich stattfindende Wandel im übergang vom Alten zum Neuen Testament zum Umbruch zu werden. Christliche Theologie beruft sich gerade im Bereich des Handelns - teilweise sogar im bewußten Gegensatz zum Alten - wesentlich auf das Neue Testament. Besteht nicht weithin die Furcht, daß mit dem Alten Testament die Gesetzlichkeit ihren Einzug hält, die Freiheit des Christen, damit auch die Freiheit zu eigener und eigenverantworteter ethischer Entscheidung, verlorengeht? Ja, findet dieser Vorbehalt gegenüber alttestamentlicher Ethik nicht ein Vorbild und eine gewisse Legitimation in den Antithesen der Bergpredigt, auch wenn diese weniger auf das Alte Testament selbst als dessen (zeitgenössische) Auslegung zielen mögen? Gleichwohl bot und bietet das Alte Testament vielfältig Anlaß zu theologischen Reflexionen über Wesen und Verhalten des Menschen. Jahrhundertelang haben die anschaulichen Erzählungen von Saul, David oder Elija die Einsicht in Stärken und Schwächen, Höhen und Tiefen, Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins geweckt, so
12
auch zur Anspannung des ethischen Empfindens, damit zur Schärfung des Gewissens, beigetragen. In solchen Geschichten wird spürbar, was man die Ehrlichkeit des Alten Testaments, seine nüchtern-realistische Sicht des Menschen nennen könnte. Weder die Erzväter, Abraham oder Jakob, noch David handeln stets vorbildlich!. Wie das Alte Testament zu verurteilende Sachverhalte nicht beschönigt und seine »Helden« nicht glorifiziert, so spricht es in den Schuldbekenntnissen der Psalmen die »Tiefe« aus, in die gerade auch der Glaubende geraten kann. Hat darüber hinaus nicht vor allem der Dekalog nachhaltigen Einfluß auf die christliche Ethik ausgeübt? Wie die Erzählungen des Alten Testaments mögen auch die Zehn Gebote gerade deshalb eine solche Breitenwirkung erzielt haben, weil sie den Menschen zwar vor Gott und in die Gemeinschaft mit dem Nächsten stellen, ihm aber (noch) nichts Unmögliches abverlangen, ihn nicht in die zwiespältige Lage zwischen unabdingbarer Forderung und dem von ihm »Machbaren« versetzen. Dabei konnte der Dekalog auch als Naturrecht, als Forderung menschlichen Miteinanders überhaupt, angesehen werden, obwohl er wahrscheinlich aus einer langen, spezifischen, ja einmaligen Überlieferungsgeschichte hervorging und tiefgreifend vom alttestamentlichen Glauben geprägt ist. Doch möchte ich nicht bei diesem gewichtigen Text, sondern bei einem schlichten, aber vielleicht beispielhaften Phänomen, einer Einzelszene aus der Josephserzählung, einsetzen (1.), erst nach einem Hinweis auf die sog. Tempeleinlaßliturgien (11.) das Augenmerk auf den Dekalog (III.) und seinen Nachklang in der Priesterschrift (IV.) lenken, um mit einem Ausblick auf die prophetische Botschaft (V.) zu schließen.
I. Joseph, im Haus des Ägypters wegen seines segensreichen Wirkens zum Verwalter eingesetzt, widersteht der Verführung durch die Frau seines Herrn: 13
»Siehe, mein Herr ... hat alles, was er hat, mir übergeben ... Er hat mir nichts vorenthalten als dich, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich da dies große Unrecht begehen und gegen Gott sündigen?« ( Gen 39,8f)
Drei Beobachtungen seien hervorgehoben: Berufung in ein Amt setzt zunächst Vertrauen voraus; dieses wiederum verpflichtet, verlangt nach Gegenseitigkeit, nach entsprechendem Verhalten des Amtsträgers. So erkennt Joseph ganz selbstverständlich eine Grenze im zwischenmenschlichen Verhältnis an; sie wird schlicht durch »menschliche Anständigkeit«2 vorgeschrieben. Bemerkenswert ist dabei, daß diese Grenze keineswegs nur innerhalb der Beziehungen der eigenen Gruppe oder des eigenen Volkes verläuft, sondern wiederum ganz selbstverständlich, gleichsam »naturgemäß«, auch im Umgang mit Fremden, Nicht-Israeliten, gilt 3 . Es handelt sich um keine »Gruppenmoral«. Vielmehr wird ohne weiteres vorausgesetzt, daß bestimmte ethische Grundgegebenheiten und Grundforderungen - ein Konsens im urtümlich Menschlichen, ein elementarer Schutz des Nächsten - auch im Ausland vorhanden sind oder jedenfalls sein sollten4 • Beachtenswert ist vor allem, daß Josephs Antwort unter der Oberflächenstruktur des Allgemein-Menschlichen um eine Tiefenschicht weiß. Im unmittelbar zutageliegenden Bereich des Beobachtbaren, Erfahrbaren und der zwischenmenschlichen Beziehungen wird eine andere - darf man bei dem räumlichen Bild verharren: »hintergründige« - Wirklichkeit aufgedeckt. Die Welt des Menschen erscheint gleichsam »doppelbödig«. Allerdings ragen jene beiden Ebenen ineinander, durchdringen sich, bestimmen die eine menschliche Wirklichkeit. Theologischer formuliert: Das Verhalten gegenüber dem Nächsten ist zugleich Verhalten gegenüber Gott. Josephs Worte sind »so zu verstehen, daß das Unrecht gegen den Mann eine unmittelbare Sünde gegen Gott sein würde... Das Ethos ist vollständig und bewußt an Gott gebunden« (G. v. Rad5). Derselbe enge Zusammenhang, die Einsicht in theologi14
sche Implikationen des Ethos, kehrt in der David-BatsebaErzählung wieder; sie geißelt ebenfalls den Ehebruch gegenüber einem - im Land ansässigen - Fremden, dem »Hethiter Urija«. Bekennt David, zur Selbsteinsicht geführt: »Ich habe gegen Jahwe gesündigt« (2 Sam 12,13), so geht Ps 51, der nach der Überschrift in jener Situation gesprochen sein soll, einen Schritt weiter: »An dir allein habe ich gesündigt« (V. 6). Das Geständnis wird durch Einfügung der Exklusivitätspartikel »allein«, die im Wortfeld des ersten Gebots verwurzelt ist6 , noch verschärft. Mitmenschliche Schuld wird radikal als Schuld vor Gott erfaßt. Ethik ist ohne Rede von Gott kaum aussagbar. Zwar unterscheidet sich Israel im Bereich des Glaubens durch das erste (und zweite) Gebot tiefgreifend von seiner Umwelt, ist es aber möglich und sinnvoll, auf dem Feld der Ethik in gleicher Weise nach grundlegenden Besonderheiten zu suchen? Um so mehr überrascht, daß das Alte Testament nach Ausweis nicht nur dieser beiden Erzählungen gerade im Bereich des Sexuellen schon früh ein feines Gespür für das Anstößige, dem Nächsten Schädliche hat und im Ehebruch ein so schweres Vergehen gegen Gott sieht 7 . Möchte man diesen Sachverhalt historisch verstehen, wird man Tradition wie Situation zu bedenken haben. Von seiner nomadischen Vergangenheit her war Israel höchstwahrscheinlich ein strenges Ethos, zumal im Bereich der Sexualität, vorgegeben8 . Zudem muß Israel nach der Seßhaftwerdung schon bald die Gefahr erkannt haben, die ihm durch die andere Lebensweise der kanaanäischen Umwelt drohte, in deren Riten, dem sog. Fruchtbarkeitskult, auch die sakrale Prostitution nicht gefehlt haben wird 9 . So bedeutete Teilnahme an fremden, kanaanäischen Sexualriten nicht nur Beeinträchtigung oder Zerstörung der eigenen Familien- und Volksgemeinschaft, sondern zugleich der Gottesgemeinschaft. Die Abgrenzung von der Umwelt im Bereich dessen, was sittlich und statthaft ist, klingt nicht nur in Erzähiungen 10 an, sondern wird ausdrücklich in gewissen, anscheinend 15
alten, formelhaften Wendungen ausgesprochen: »So tut man nicht in Israel« oder »Torheit in Israel«ll. Schon früh scheinen weit außerhalb des »kultisch-religiösen« Bereichs im ethischen, insbesondere sexuellen, Verhalten Trennungslinien gezogen zu sein. Es gibt auch in Sitte und Recht Unterscheidungsmerkmale, Konsequenzen der Zugehörigkeit zu »Israel«, damit - zumindest indirekt - ein zeichenhaftes Bekennen oder Verleugnen des J ahweglaubens 12 . Ober die angedeuteten Zusammenhänge hinaus durchzieht die Verflechtung von Glaube und zwischenmenschlichem Verhalten Prophetie und Weisheit 13 • »Gottesfurcht« umfaßt sowohl den vorbehaltlosen Gehorsam des Glaubens (Gen 22,12) als auch die Verläßlichkeit des Wortes oder den Schutz des Schutzbedürftigen14 ; denn »durch Gottesfurcht bleibt man dem Bösen fern« (Spr 16,6). Auch die Priester wissen, daß Gottes Segen den Menschen nicht ungeachtet seines Verhaltens trifft. Wer Gott im Heiligtum sucht, hat Gerechtigkeit zu üben.
11. Nach dem Zeugnis zumal zweier Psalmen wird der Mensch in oder eher vor dem Gottesdienst auf seinen Umgang mit dem Mitmenschen, auf sein Handeln im Alltag, angesprochen 15 • Es gibt anscheinend bestimmte - im wesentlichen der zweiten Tafel des Dekalogs entsprechende - Bedingungen für den Eintritt in das Heiligtum und damit für die Teilnahme am Gottesdienst: »Wer darf weilen auf deinem heiligen Berg? Wer vollkommen (untadelig) wandelt und Recht übt, von Herzen Wahrheit redet ... , seinem Nächsten nichts Böses zufügt ... « (Ps 15,1-3)
16
»Wer darf hinaufsteigen auf den Berg Jahwes, und wer darf seine heilige Stätte betreten? Wer reine Hände hat und ein lauteres Herz ... « (Ps 24,3f; vgl. Dtn 26,13f; Jes 33,14-16; Mi 6,6-8; Ez 18)
Um vor Gott »treten« zu können, bedarf es menschlicher »Vollkommenheit«. Diese Feststellung steht hier (Ps 15,2) al~ Grundsatz allen sie entfaltenden Einzelbedingungen voran, während sie in der Bergpredigt - zugespitzt - den zusammenfassenden Schlußsatz der Antithese (Mt 5,48) bildet. Gemeint ist eine fehllose, uneingeschränkte und ungeteilte, ungebrochen-beständige Ganzheit 16 . Solche Untadeligkeit soll sich im »Recht tun«, d. h. im richtigen, angemessenen Handeln, wie im »Wahrheit reden« erweisen 17. Die Ausführungsbestimmungen nennen etwa den Meineid (Ps 24,4), der dem Nächsten insbesondere vor Gericht erheblich schaden kann, oder Vergehen im Wirtschaftsleben, sei es Wucher oder Bestechung18 . Doch erschöpft sich die Lauterkeit keineswegs im nach außen dringenden, mehr oder weniger offen beobachtbaren Verhalten, sondern soll selbst das Denken und Planen, das dem Nächsten verborgene Innerste des Menschen, bestimmen: das Herz (Ps 24,4; 15,2). So bleibt einerseits die Grundbedingung der »Vollkommenheit« keineswegs blaß, abstrakt-allgemein, sondern wird durch Einzelhinweise konkretisiert. Beispielhaft wird ausgeführt, was es heißt, »dem Nächsten nichts Böses zu tun« (Ps 15,3). Andererseits wird das Alltagsleben nicht kasuistisch geregelt. Bedrohen alte Rechtssatzungen (wie Ex 21,12ff; Dtn 27,12ff) die übertretung mit Fluch oder Strafe, so schweigen diese Einlaßbedingungen von einer Bestrafung, verheißen vielmehr dem Täter: »Wer dies tut«, nämlich entsprechend jenem Grundsatz und den Einzelausführungen handelt, »wird für alle Zeit nicht wanken« (Ps 15,5), »wird Segen empfangen vom Herrn und Gerechtigkeit/Heil vom Gott seiner Hilfe« (24,5; vgl. 50,23). Gewiß braucht menschliches Verhalten die Gemeinschaft mit dem »Gott 17
der Hilfe« nicht zu schaffen 19 , vielmehr gilt denen, die in dieser Gemeinschaft leben und sich ihr entsprechend verhalten, die Heilszusage - für Gegenwart und Zukunft. Sie sind »das Geschlecht derer, die Gott suchen« (Ps 24,6). Eine eindeutige Stellungnahme zu dem in jenen beiden Psalmen nicht angesprochenen Thema der Schuld des Menschen gibt - in vermutlich späterer, nachexilischer Zeit - Ps 130, der die Frageform »Wer kann bestehen?« aufgreift und radikal abwandelt. Entschieden wird nicht nur über den Zugang zum Heiligtum, sondern das »Bestehen« vor Gott überhaupt: »Wenn du Sünden anrechnetest, ... Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte!«20
Ist das Bekenntnis von der Einsicht bestimmt, daß vor Gott »kein Lebender gerecht ist« (Ps 143,2; vgl. Hi 4,17 u. a.), so ermöglicht doch das Vertrauen in die Vergebung den Ruf »aus der Tiefe« zu eben diesem Gott.
111. Daß durch ethisches Verhalten die Gottesgemeinschaft nicht begründet, sondern (mit Vorbehalt geurteilt) bestenfalls aufrechterhalten wird, verrät schon die Stellung des Dekalogs - nach dem verheißenden Wort (Ex 3) sowie der rettenden (Ex 14) und helfenden (Ex 16f) Tat Gottes. Ausdrücklich erinnert der Vorspruch »Ich bin Jahwe, dein Gott« mit dem geschichtlichen Rückverweis an Zusage und Befreiung21 • Erst denen, die Gottes Zuneigung erfahren haben, gilt der unbedingte Anspruch »Du sollst bzw. wirst nicht«, der die Grenzen der Gemeinschaft absteckt. Diese Ordnung beschränkt sich wiederum keineswegs nur auf den kultisch-religiösen Bereich, sondern umfaßt gerade
18
auch das zwischenmenschliche Zusammenleben. Allerdings lassen verschiedene Unebenheiten innerhalb des Dekalogs auf ein allmähliches Wachstum schließen22 . Das einleitende göttliche Ich prägt nach dem Prolog »Ich bin Jahwe, dein Gott« wohl das erste Gebot und die Begründung des Bilderverbots (Ex 20,2-6), aber schon nicht mehr die - von Gott in dritter Person redende - Warnung, den Gottesnamen zu mißbrauchen, erst recht nicht die ethischen Forderungen. Klingt in diesem Formwechsel nicht nach, daß die Anweisungen der sog. zweiten Tafel (Ex 20,12ff) erst nachträglich göttlicher Autorität unterstellt, als Gotteswort (Ex 20,1) gedeutet und damit in den eigenen Glauben einbezogen wurden?23 Auch sonst meint man hier und da noch beobachten zu können, daß die Jahwegemeinde an vorgegebene Verhaltensregeln anknüpft und sie abgewandelt aufnimmt 24 . Ein entsprechender Vorgang wird dort eindrücklich, wo die Wendung »Ich bin Jahwe, euer Gott« Gesetzesreihen, vorab das sog. Heiligkeitsgesetz (Lev 19,3f u. a.), durchdringt; sie verweist auf die Huld des »Heil spendenden Gottes, der den im Halten der Gebote nun antwortenden Dank seines Volkes erwartet«25. Ist der Zusammenhang zwischen göttlichem »Ich« und ethischen Geboten, der den Dekalog prägt, nicht geradezu eine Besonderheit der J ahwegemeinde?26 Dies gilt zumindest für die Verbindung von erstem Gebot und ethischen Forderungen 27 . Ihrer Absicht nach will die sog. zweite Tafel des Dekalogs nicht, jedenfalls nicht direkt und nicht eigentlich Normen oder Werte wahren, sondern ist schlicht auf den Schutz des »Nächsten« bedacht, d. h. des Menschen, dem man im Leben begegnet 28 . Er soll in bezug auf sein Leben, seine Freiheit, seine Ehe sowie sein Eigentum fremdem Zugriff entzogen werden. Diese Zielsetzung tritt bei den beiden Geboten auffällig hervor, bei denen die landläufige Deutung vom ursprünglichen Wortsinn abweicht. Zum einen schließt das Verbot, »falsch Zeugnis zu reden«, nicht ohne weiteres die Mahnung ein, immer und überall 19
die Wahrheit zu sagen, sondern bezieht sich auf die falsche Zeugenaussage vor Gericht2 9 . Die Lüge wird also zunächst dort untersagt, wo sie dem Nächsten am stärksten schaden kann 30 . Dann mag das Verbot auch die üble Nachrede umfaßt haben 3l . Jedenfalls wird das Thema Wahrheit unter dem Blickwinkel der Lebenssicherung des anderen betrachtet. Zum anderen möchte das Elterngebot - innerhalb des Alten Testaments - nicht die Autorität des Hausvaters, erst recht nicht der Obrigkeit3 2 , aufrichten, sondern die Eltern, die sich, bildlich gesprochen, bereits auf den Altenteil zurückgezogen haben, vor schlechter, verächtlicher Behandlung oder gar Schlägen 33 bewahren. Angeredet sind nicht die Kinder, sondern Erwachsene, die in der Regel selbst bereits verheiratet sind, Haus und Hof besitzen 34 • Diejenigen, die jetzt die Geschäfte führen, sollen denen, die sie versorgt und aufgezogen haben, keinen Schaden zufügen, wenn sich das Abhängigkeitsverhältnis verkehrt hat. Es geht also um den Schutz der nächsten Nächsten eines jeden Menschen, und zwar in gleicher Weise um die Fürsorge für Vater und Mutter. Bei der Vorordnung dieses sozialen Gebots vor alle ethischen Forderungen - im Übergang von der ersten zur zweiten Tafel - könnte mitschwingen, daß die Eltern zugleich Träger der Glaubensüberlieferung35 sind. Mit Mord, Ehebruch oder Diebstahl nennen die Zehn Gebote nur Extremfälle, stellen Warntafeln auf, stecken die Grenzen ab, bei deren Übertretung das Verhältnis zu Gott - und zur menschlichen Gemeinschaft - zerstört ist. Um an das Urteil G. v. Rads zu erinnern: Der Dekalog »beschränkt sich auf einige fundamentale Negationen, d. h. er begnügt sich damit, gewissermaßen an den Rändern eines weiten Lebenskreises Zeichen aufzustellen, die der zu achten hat, der Jahwe angehört ... Hier ist vollends klar, daß diese Gebotsreihen gar nicht die Absicht haben, so etwas wie ein Ethos zu umreißen, denn diese Gebote enthalten ja keine Maximalforderungen Jahwes ... ; es werden ja nur im Negativen, d. h. nach der Seite des Jahwe absolut Mißfälligen hin, die Merkmale dessen bezeichnet, der
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Jahwe angehört. Innerhalb des von den Geboten derart umsteckten Lebensraumes liegt ein weites Gebiet sittlichen HandeIns, das durchaus unnormiert bleibt«36.
Allerdings deutet das Gebot »Du sollst deine Eltern ehren« darüber hinaus an, wie dieses Verhältnis zu gestalten ist. In der positiven Fassung, die auch beim Sabbatgebot37 und gelegentlich außerhalb des Dekalogs38 vorliegt, wird nicht mehr nur das Ende der Gemeinschaft angegeben, sondern diese selbst inhaltlich gefüllt. Damit wird der Mensch stärker verpflichtet. Allerdings wird ihm - schon auf Grund der Allgemeinheit der Formulierung - zugleich Verantwortung und damit Freiheit zugesprochen. Bereits die Verbote geben keine nähere Bestimmung des Tatbestands, ergehen unbedingt, absolut; erst recht nehmen die Gebote keine Rücksicht auf das, was dem Menschen in den vielschichtigen Situationen des Alltags möglich ist oder nicht, sondern fordern ihn vorbehaltlos - gleichsam »von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von aller Kraft« (Dtn 6,5). Darum bedarf das Gebot der Konkretion und Explikation; jedermann hat die Freiheit wie die Notwendigkeit, selbst zu entscheiden, wie die Ehrung der Eltern in der jeweiligen Situation zu geschehen hat. So verlangen die Zehn Gebote nicht Unterwerfung unter ein fremdes Gesetz, sondern rufen den Menschen zum Nachdenken über das auf, was das Leben des anderen schützt, und geben ihm dazu Orientierungspunkte. Dabei beziehen sich die Zehn Gebote - wie jene Einlaßbedingungen für den Gottesdienst - nicht nur auf die Werke, sondern auch die Worte des Menschen39, ja erstrecken sich wohl selbst auf seine Gedanken »im Herzen« (Ps 15,2; 24,4). Im Kontext des Dekalogs überschneidet sich das zehnte Gebot nämlich nur dann nicht mit dem Ehebruchund Diebstahlverbot, wenn das »Begehren« nicht erst ein Besitzergreifen meint, sondern innere Regungen, einschließt. Ausdrücklich mahnt die Weisheit: »Begehre nicht nach ihrer Schönheit in deinem Herzen!« (Spr 6,25; vgl. Hi 31,9 »Wenn sich mein Herz wegen einer Frau betören 21
ließ«.) Entsprechend kann das Liebesgebot (Lev 19,17f) auch negativ umschrieben werden: »Du sollst deinen Bruder nicht in deinem Herzen hassen.«4o Hier werden Tendenzen erkennbar, die in der Bergpredigt (vgl. Mt 5,28 mit Hi 31,1) zum Durchbruch kommen. Erwächst diese Verfeinerung, ja »Verinnerlichung« ethischen Empfindens aus dem Bekenntnis, daß Gott die Herzen kennt und prüft?41 Schon der Dekalog möchte als Zusammenfassung, als eine Art Grundsatzprogramm verstanden werden, das in den folgenden Rechtssätzen entfaltet wird. Darum ist er an beiden Textstellen (Ex 20; Dtn 5) den Gesetzessammlungen vorangestellt und als Wort Gottes formuliert, während jene als Wort Moses ergehen (vgl. Ex 20,19; Dtn 5,25ff). In der christlichen Theologie ist der ethische Teil des Dekalogs seinerseits noch einmal in dem - zwar dem Alten Testament entnommenen42, aber von ihm noch nicht als Kern des Dekalogs gedeuteten - Liebesgebot konzentriert worden (vgl. Röm 13,9f; Gal 5,14). In der Tat kann, auch vom Alten Testament her geurteilt, die sog. zweite Tafel des Dekalogs als Konkretion des Liebesgebots gelten, weil die ethischen Gebote auf den Schutz des Nächsten ausgerichtet sind. Allerdings darf bei dieser Zusammenschau nicht übersehen werden, daß nur das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,29ff) beiden Tafeln gerecht zu werden vermag. Mit dem - dem Gefälle des Dekalogs entsprechend - vorgeordneten Anspruch »Du sollst den Herrn, deinen Gott, aus ganzem Herzen lieben« kommt ein Wort zur Geltung, das im Alten Testament (Dth 6,5) zur mannigfaltigen Auslegungs- oder Wirkungs geschichte des ersten Gebots gehört und als dessen Explikation verstanden sein wi1l43 . Auch in dieser Interpretation wird nicht nur - wie in älteren Gebotsformulierungen (Ex 22,19; 34,14 u. a.) - eine Grenzlinie gezogen, das Verhältnis zu fremden Mächten ausgeschlossen, sondern die Beziehung zu dem einen Gott selbst bestimmt, nämlich als vorbehaltlose Liebe gedeutet. 22
IV. Ansatzweise kennt schon das Alte Testament eine Konzentration der Einzelgebote auf ein Hauptgebot. Ein Beispiel sei herausgegriffen, weil es zugleich die Allgemeingültigkeit ethischer Verpflichtung zum Ausdruck bringt. Indem der Dekalog in die Geschichte eingebettet ist, richtet er sich an eine bestimmte Gemeinschaft. In dieser Hinsicht erwähnt ihn die Priesterschrift innerhalb der Sinaioffenbarung unter dem Namen »Zeugnis« (Ex 25,16.21 u. a.) und wird in ihm einen Zeugen sowohl des Willens als auch des Heils Gottes sehen. Wird dort der Inhalt des Dekalogs aber nicht ausgeführt, so nimmt ihn die Priesterschrift in ihrer Geschichtsdarstellung der Sache nach vorweg und spaltet ihn dabei in die beiden Tafeln auf. Das Tötungsverbot als Mitte der sog. zweiten Tafel ergeht an Noach und seine Söhne, damit an die Menschheit; sie steht unter einer ethischen Grundforderung: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde gemacht« (Gen 9,6).
Was die Erzählung von Kains Brudermord innerhalb der jahwistischen Urgeschichte anschaulich vor Augen führt: Der Mensch tötet im andern sein Mitgeschöpf, seinen Bruder, spricht dieser Rechtssatz in grundsätzlicher Weise aus: Jeder Mensch ist von der Schöpfung her Gottes Bild, Gottes Stellvertreter bzw. Statthalter, auf Erden und steht als solcher unter einem Schutz. Wieder werden nicht eigentlich Normen oder Werte hochgehalten. Der Mensch selbst hat - darf man so sagen? - eine >>Unantastbare Würde«, damit eine Sonderstellung unter und gegenüber allen Geschöpfen. »Bild Gottes« zu sein ist ihm vorgegeben; er braucht diese Würde nicht erst durch sein Denken, Wollen oder Handeln zu erwerben, aber sie hat Folgen für seine Taten. Hier schlägt Glaube unmittelbar in Ethos um. Es bezieht umfas23
send die Angehörigen aller Völker, Mann und Frau ein. Sowohl der Aktionsradius als auch die Motivation dieser Grundgegebenheit wie Grundforderung sind universal. Am Menschen selbst finden Freiheit und Macht des Menschen in seiner Herrschaft über die Erde (Gen 1,26.28; 9,lf) ihre Grenze; er muß vor sich selbst behütet werden. Wendet sich jener ethische Grundsatz an die Menschheit insgesamt, so ist das theologische Herzstück des Dekalogs, der Kern der sog. ersten Tafel, Abraham und seinen Nachkommen, damit Israel, vorbehalten. Wie im Dekalog geht dem Gebot das göttliche »Ich bin« voraus: »Ich bin der allmächtige Gott (EI Schaddai). Wandle vor mir und sei vollkommen (Luther: fromm)!« (Gen 17,1)
In der Formulierung, »vor« Gott zu wandeln und dadurch bzw. darin »untadelig, vollkommen«44 zu sein, wirkt wiederum in anderer Gestalt - das erste Gebot nach. Die Priesterschrift hat ihm bei der Grundsteinlegung der Beziehung zwischen Gott und Volk einen entscheidenden Platz eingeräumt, wenn sie mit dem ersten Gebot den Akt des Bundesschlusses mit Abraham eröffnet. Der Zuwendung Gottes zu Abraham soll die ungeteilte Ganzheit der Zuwendung Abrahams zu Gott entsprechen. In der »Vollkommenheit« ist das Leben als ganzes erfaßt und als Gesamtverhalten »vor« Gott gedeutet45 . Innerhalb des sog. Heiligkeitsgesetzes wird der dem Dekalog ähnlichen Paränese von Lev 19 überschriftartig eine Aussage vorangestellt, die die Gegenseitigkeit zugleich fordert und motiviert: »Ihr sollt heilig sein; denn heilig bin ich, Jahwe, euer Gott« (Lev 19,2; vgl. 1l,44f;20,26; Ex 22,30 u. a.).
Vielleicht ist dieser Satz, der die folgenden Einzelverordnungen vorweg zusammenfassend auslegt, nicht nur als Forderung, sondern zugleich als Feststellung gem"eint: »Ihr seid heilig; denn ich bin heilig!« Ähnlich kann das Deute24
ronomium (14,1) seine Gebote mit einem Indikativ überschreiben und begründen: »Söhne seid ihr Jahwe, eurem Gott.« Klingen beide Auffassungen an, so wird verlangt, »das wirklich zu sein und zu bewähren, was man grundsätzlich« ist46 • Die Gemeinde soll sich so verhalten, wie sie von Gott her schon ist. Sie soll gottgemäß leben, indem sie in ihrem Dasein dem Wesen und Wirken Gottes, durch das sie begründet ist, entspricht. Liegt hier nicht das Vorbild für den Schlußsatz der Antithesen der Bergpredigt: »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48), der den Anspruch auf »Vollkommenheit« von Gen 17,1 (vgl. Dtn 18,13 u. a.) mit der Gegenseitigkeit von Lev 19,2 u. a. verbindet? Übrigens zieht das Deuteronomium aus dem Bekenntnis zur Einheit des Gottesvolkes sozialethische Folgerungen: Wie der König »sein Herz nicht über seine Brüder erheben darf« (Dtn 17,20), so soll jedermann gegenüber dem »armen Bruder« weder »das Herz verhärten noch die Hand verschließen« (15,7ff). Alle sollen an der Freude über Gottes gute Gaben (12,7; 16,11.14f u. a.) teilhaben können.
v. Auch die Propheten können - fernab aller Kasuistik konkret ethische Einzelforderungen in einer Grundforderung zusammenfassen. Micha tadelt die Führer des Volks, »die das Gute hassen und das Böse lieben« (Mi 3,2; vgl. Jes 5,20), oder Jesaja mahnt, bevor er zur Fürsorge für die Schwachen aufruft: »Hört auf, Böses zu tun, lernt, gut zu handeln!« (Jes 1,16; vgl. Am 5,14). Mit solcher Gegenüberstellung von gut und böse, damit der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit ethischer Sprache, knüpfen die Propheten wohl an weisheitliches Denken an, das nach dem sucht, was dem Leben, auch dem menschlichen Zusammenleben, förderlich ist (Spr 11,27; 31,12; vgl. 1 Kön 3,9 u. a.). 25
Darüber hinaus können die Propheten wie selbstverständ-. lich ein auch außerhalb des eigenen Volkes gültiges Ethos voraussetzen 47 . Schon der Gott, den Amos verkündet, ist keineswegs nur auf das Wohl des eigenen Volkes bedacht, straft nicht nur an Israel begangenes Unrecht, sondern zieht die Völker für ihr geg~nseitiges Verhalten zur Verantwortung (Am 2,lf; vgl. Jes 10,7ff u. a.). Entscheidet sich ihr Schicksal an ihrer Einstellung zu einer weltweit gültigen Lebensordnung? In der Tat scheint der Prophet ein allgemeines Brauchtum, eine Art Völker»recht«, vorauszusetzen, greift es aber nur zur Überführung der Schuld auf - wie Paulus die Sündhaftigkeit des Menschen mit dem auch im Herzen der Heiden eingeschriebenen Gesetz aufweisen kann (Röm 2,14f). In dieser Absicht liegt überhaupt die entscheidende Eigenart prophetischer Botschaft. Die ethische Forderung dient als Schuldaufweis, vorab am eigenen Volk: »Es ist keine Treue, kein Gemeinschaftssinn und keine Gotteserkenntnis im Lande. Verfluchen und Täuschen, Morden, Stehlen und Ehebrechen reißen im Lande ein. Bluttat reiht sich an Bluttat« (Ros 4,lf; vgl. 6,4.6ff; Mi 7,2 u. a.).
Ist noch zu betonen, daß die Propheten erst recht aller Kasuistik abhold sind? Auch in diesem Fall geht eine allgemeine Feststellung voran, die anschließend - in enger Nachbarschaft zum Dekalog48 - entfaltet und beispielhaft konkretisiert wird. Die Einzelphänomene zeigen die Folgen auf, die der Mangel an Zuverlässigkeit, Solidarität und Gotteserkenntnis mit sich bringt: »Fluchen (unter Mißbrauch des Gottesnamens), Lügen, Töten, Stehlen und Ehebrechen«. Dabei sind wie im Dekalog das Verhältnis zu Gott und der Umgang mit dem Mitmenschen so eng verbunden, daß mit dem einen zugleich das andere zerstört wird 49 .
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In dieselbe Richtung weist der Prophet Jeremia (22,13ff), wenn er dem König Jojakim Bereicherung, Bedrückung, ja Blutvergießen vorwirft und ihm als Vorbild seinen Vater Joschija vorhält: »Dein Vater - hat er nicht auch gegessen und getrunken >und es sich gut sein lassen Er aber übte Recht und Gerechtigkeit. Er führte die Sache des Elenden und Armen. Heißt das nicht mich erkennen? ist der Spruch Jahwes« (Jer 22,16f).
Der Vater war »bei aller Heiterkeit der Lebensführung ernst in der Erfüllung der wahren Königspflicht« 50, ein gerechter Herrscher, der Schutzlosen zu ihrem Recht verhalf, damit Gottes Willen entsprach. »Im Vollzug des Rechtsanspruchs des Armen liegt Gotteserkenntnis.«51 Allerdings dient die ethische Forderung wiederum nur als Vorwurf. Statt einer Mahnung liegt ein Schuldaufweis, statt eines Aufrufs zu neuem Tun und Lassen eine Anklage vor, die den Hörer bei seiner Tat behaftet52 . Nach prophetischer Einsicht versäumt keineswegs nur der .König, sondern das Volksganze seine Aufgabe: »Israel hat sich verunreinigt« (Hos 5,3; vgl. Jes 6,5). »Ihr Herz ist fern von mir« (Jes 29,13; vgl. Jer 5,23; 12,2); sie sind »ein widerspenstiges Volk, verlogene Söhne«53. Seit Amos' Drohung »Ich suche an euch heim alle eure Schuld« (3,2; vgl. 7,8; 8,2 u. a.) durchzieht diese Zukunfts ankündigung die Botschaft der vorexilischen Propheten. Dabei kann die Ansage kommenden Gerichts die Propheten sogar in einen Widerspruch zu Mose bringen. Erfährt er bei seiner Berufung Gottes Zusage für »mein Volk«: »Ich werde dasein« (Ex 3,10. 12.14), so muß Hosea (1,9) das Gotteswort weitergeben: »Ihr seid nicht mein Volk, und ich, ich werde nicht (mehr) für euch dasein.« Das bedeutet: »Ich habe diesem Volk mein Heil entzogen, spricht Jahwe, die Gnade und das Erbarmen« (Jer 16,5; vgl. Hos 13,14). Selbst Moses Fürbitte - »Wenn auch Mose und Samuel vor mich träten« - würde Gott nicht umstimmen (Jer 15,1).
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Die Schuldverfallenheit des Volkes insgesamt verifizieren und konkretisieren die Propheten, indem sie auf je eigene, persönliche Weise Mißstände im gottesdienstlichen, politischen und sozialen Leben aufdecken und so unterschiedliche Schwerpunkte im Anklageteil ihrer Verkündigung setzen. Einige Themen lassen sich etwa mit den Stichworten umreißen: Rechtsbeugung (Am 5,10.12.15; Jes 10,2; vgl. Spr 17,15), Bedrückung von Armen (Am 2,6ff; 4,1; 8,6; Jes 3,14f; Jer 39,10), auch Witwen und Waisen (Jes 1,17.23; Jer 5,28; vgl. Sach 7,9f; Mal 3,5), Anhäufung von Land (Jes 5,8f; Mi 2,lff), Errichtung von Prachtbauten auf Kosten der Armen (Am 3,10.15; 5,11) oder Amtsrnißbrauch (Jes 3,lff; Zeph 3,3f), selbst bei Priestern und Propheten (Hos 4,4ff; Mi 3,5ff). Diese Kritik reicht so tief, daß sie für Änderungs- und Besserungsmöglichkeiten kaum Freiraum läßt54 . Die Propheten sprechen vielfach aus, daß Israel dls Gute und Rechte, was gefordert wäre, nicht tut, wie etwa Jesaja im Zielpunkt seines Gleichnisses durch den Kontrast anschaulich zur Sprache bringt: »Er hoffte auf Rechtsspruch, doch siehe da: Rechtsbruch, auf Guttat, doch siehe da: Bluttat« (Jes 5,7).
Das Volk will nicht hören (Jes 28,12; 30,9.15; Jer 6,16) und kehrt nicht um 55 . Darüber hinaus spitzen gewisse Aussagen vor allem Hoseas und Jeremias die Erfahrungen vom Nicht-Wollen des Volkes zu der Einsicht zu, daß Israel das Gute nicht (mehr) tun kann: »Ihre Taten erlauben ihnen nicht, zu Jahwe zurückzukehren« (Ras 5,4; vgl. 5,6; 13,12). »Verändert der Mohr seine Raut oder der Panther seine Flecken? Genausowenig könnt ihr Gutes tun, die ihr gewohnt seid, böse zu handeln« (Jer 13,23; vgl. 2,22; 3,lff; 6,10.27ff u. a.).
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Bei so radikaler Schulderkenntnis setzt jedoch prophetische Heilsverheißung ein: »Ich heile ihre Abtrünnigkeit, ich liebe sie aus freien Stücken« (Hos 14,5; vgl. 11,8; Jer 3,22). »Ich läutere« (Jes 1,25f), »bringe Lebensodem in euch« (Ez 37,5f).
Vergebung der Schuld und Ausgießung des Geistes56 machen von der drückenden Vergangenheit frei, ermöglichen eine tiefgreifende Erneuerung, so daß die von den Propheten beklagte Hartherzigkeit 57 aufgehoben wird: »Ich nehme das steinerne Herz aus eurem Leib heraus und gebe euch ein fleischernes Herz«58, ein Herz, das von sich aus Gottes Willen erfüllt (Jer 31,33f). Angesichts des bevorstehenden Heils soll sich der Mensch jetzt schon auf die Zukunft einlassen, sei es mit Freude oder mit Umkehr: ),Jauchze und freue dich, Tochter Zion; denn siehe ich komme und wohne in deiner Mitte!« (Sach 2,14; vgl. 9,9; Jes 42,10-13; 44,23 u. a.). "Kehre zu mir zurück; denn ich habe dich erlöst!« (Jes 44,22; vgl. 55,6f; Jer 3,12f; auch Hos 14; Ez 18).
Ließ das drohende Gericht wenig Freiraum, so eröffnet das verheißene Heil neue Lebensmöglichkeiten. Sie schließen auch das Rechtsverhalten ein: »Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit; denn nahe ist mein Heil, daß es komme, und meine Gerechtigkeit, daß sie sich offenbare« (Jes 56,1).
Der Mensch wird aufgerufen, auf Grund der angesagten Heilszukunft Folgerungen für das Heute zu ziehen, sich auf das Morgen einzustellen: »Auf, werde licht; denn dein Licht kommt!« (Jes 60,1). Diese Tendenz macht es möglich und auch notwendig, über das Alte Testament hinauszudenken. Ein Beispiel sei zum Schluß angeführt. Das Dekaloggebot »Du sollst nicht töten« bezieht sich von Haus aus auf das ungesetzmäßige, rechtswidrige Töten des einzelnen, damit das Vergießen
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unschuldigen Bluts, aber nicht auf die von der Gemeinschaft verantwortete und durch sie vollzogene Tötung, schließt also weder die Abschaffung der gesetzlichen Todesstrafe noch die Ächtung des Krieges ein59 • Vielleicht blieb das Alte Testament in seiner Sicht des Menschen zu illusionslos-nüchtern oder gar zu skeptisch, um jene Grenze zu überspringen. Wenn wir heute angesichts der früher unvorhersehbaren Bedrohung des Menschen versuchen müssen, diese Schranke abzutragen, nehmen' wir dennoch ein Erbe des Alten Testaments auf; denn es hegt die Hoffnung auf eine Zukunft, in der zwischen den Völkern Frieden herrscht und sie - grundsätzlich, ein für allemal auf Gewalt im Umgang miteinander verzichten: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Rebmessern, Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben und sie werden den Krieg nicht mehr lernen« (Jes 2,4; vgl. Mi 4,3f; auch Sach 9,10; Ps 46,10 u. a.).
Haben wir nicht die Aufgabe, die alttestamentliche Verheißung von Frieden in der Welt mit dem Tötungsverbot zusammenzudenken ? Eine entsprechende Verpflichtung stellt die im Alten Testament vielfach anklingende Hoffnung auf ein Ende der Sorge um die tägliche Nahrung60 dar; der Kampf gegen den Hunger in der Welt sucht ein Stückehen Verheißung vorweg in die Tat umzusetzen. Dabei besteht gewiß keine Gefahr, daß wir zu viel von alttestamentlicher Zukunftserwartung verwirklichen; denn sie übergreift weit die natürlich-geschichtlichen Gegebenheiten, ja die menschlichen Möglichkeiten. So bleibt ein hoher Überschuß - schon mit der Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit (Jes 9,6; 1l,3f), auf Aufhebung der Generations- und Sozialunterschiede (Jer 31,34; Joel3,lf), mehr noch auf Einklang von Mensch und Natur (Jes 1l,6ff; 65,25ff), erst recht mit der Hoffnung gegen den Tod (25,8), die wie die Völker so auch die Toten in die Königsherrschaft Gottes einbezieht (Ps 22,28ff).
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Anmerkungen 1. »Die Geschichte von David und Bathseba hat seit alters Entsetzen und Staunen hervorgerufen; Entsetzen darüber, daß der König David ... solche Tat begehen konnte, Staunen, weil die Bibel sie in schonungsloser Offenheit erzählt, obwohl David der Täter ist, der große und gefeierte König, der Prototyp des Messias« (H. W. Hertzberg, ATD 10,41968,253 zu 2 Sam 12). 2. G. v. Rad, ATD 2/4, 91972, 298 z. St. 3. »Die Sittlichkeit Israels hat, wie solche Stellen lehren, nicht allein von den Beziehungen der Israeliten untereinander gesprochen und den Fremden gegenüber alles erlaubt, sondern der Ehebruch als solcher, auch an der Ägypterin, gilt als schwere Sünde wider Gott« (H. Gunkel, Genesis, 31910, 424 z. St.). 4. Vgl. Gen 12,12ff; 19; 20,11; 26,7ff; Ex 1,17ff; Am 2,1 u. a. 5. Vgl. Anm. 2. 6. Vgl. Ex 22,19 u. ö.; dazu W. H. Schrnidt, Das erste Gebot, 1969, 4lf. 7. Vgl. Ex 20,14; Lev 18,20; 20,10; Dtn 22,22ff; Ez 18,6 u. a. Im Folgenden nehme ich Anregungen auf, die ich freundlichen Gesprächen mit E. Würthwein verdanke; vgl. ders., Verantwortung (vorgesehen in: Biblische Konkretionen). 8. Vgl. bes. Lev 18. Die jüngste Untersuchung von J. Halbe bestätigt die Auffassung von K. Eiliger, daß im Kern eine »im Milieu von KleinviehNomaden entstandene vater- und eigentumsrechtlich geprägte Reihe das Leben der Großfamilie schützender Inzestverbote« vorliegt (ZAW 92, 1980, 60-88, bes. 87, mit Lit.). 9. Vgl. das Hoseabuch, bes. 4,llff; Jer 2; auch Lev 19,29; Dtn 23,18f u. a.; dazu beispielsweise J. Hernpel, Das Ethos des Alten Testaments, 21964, 163ff; H. w. Wollt, Hosea, 31976, 14. In den Texten von Ras Schamra-Ugarit, die man als Selbstzeugnisse kanaanäischer Religion verstehen kann, spielen sexuelle Riten insgesamt eine geringe Rolle; doch werden etwa der Umgang des Gottes Baal mit einer Kuh und in einer derben Szene die Zeugung der Götter Schachar und Schalim durch EI erzählt. 10. Gen 9,22ff; 19; 34; 26,10 u. a. 11. 2 Sam 13,12; Gen 34,7; Dtn 22,21; Ri 19,23f; 20,6; vgl. M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels, 1930, 104f. 12. Beziehen sich jene (Anm. 11 genannten) Formeln mehr auf eine volksmäßige oder eine religiöse Besonderheit »Israels«? Oder ist diese Unterscheidung für die Frühzeit unsachgemäß? Ist selbstverständlich
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vorausgesetzt, daß die Abgrenzung auf einem Recht J ahwes beruht? Nach Jos 7 führt eine »Torheit in Israel« zum Schuldbekenntnis vor Jahwe (V 15.19). 13. Vgl. nur Am 5,4.14f; Hos 4,lf; Jes 1,16f; Mi 6,8; Jer 22,16f; Ez 18; Mal 3,5; Spr 14,31; 17,5; 22,22f; 23,10f; Hi 31 u. a. 14. Vgl. Gen 42,18; Ex 18,21 bzw. Ex 1,17.21; Gen 20,11. Alle Stellen gehören dem Elohisten an. 15. Genauer scheint (analog zu Hag 2,IOff; Sach 7) der Pilger auf seine einleitende Frage aus Priestermund eine Auskunft zu erhalten, die in ein Segenswort übergeht; vgl. H. Gunkel-I. Begrich, Einleitung in die Psalmen, 1933, 408f. 16. Vgl. THAT 11, 1976, 1045ff (dazu u. Anm. 44). 17. Ps 15,2 wird V 3 entfaltet: Kein Verleumden mit der Zunge, nichts Böses tun. Ähnlich Jes 33,15: »Wer recht wandelt und aufrichtig redet.« 18. Ps 15,5; vgl. Jes 33,15; Ex 22,24; 23,8; Dtn 23,20; Lev 25, 36f; Ez 18,7f u. a. - In seinem Beitrag»Tempeleinlaßliturgien und Dekaloge« führt K. Koch aus: »In der Gemeinde, die sich zum Einzug in das Heiligtum und damit in die Nähe ihres Gottes rüstet, darf es keine unguten Verhältnisse ... geben. Steht zwischen den Kultgenossen eine ungeklärte Verleumdung, eine nicht gesühnte Gewalttat, ein Eidbruch oder ein Verhältnis von Gläubiger und Schuldner auf der Basis einer Zinsforderung, so ist für die bevorstehende Feier die erforderliche Einheit der Gemeinde gestört« (Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, 1961, 46-60, bes. 51). 19. Die Frage, wieweit die Rechtschaffenheit Vorbedingung oder eher Folge des Heilsempfangs ist, bleibt von den Texten her nicht leicht zu beantworten, wie sie unmittelbar auch nichts über Konsequenzen der Nicht-Einhaltung der Bedingungen aussagen. Jedoch dürfte unbezweifelbar sein, daß die Gottesdienstbesucher nicht erst auf Grund ihres Verhaltens in die Gottesgemeinschaft aufgenommen werden. Vgl. zuletzt F. Crüsemann, Jahwes Gerechtigkeit im Alten Testament, in: EvTh 36, 1976, 427-450, bes. 44lf. 20. Ps 130,3f; vgl. Gott und Mensch in Ps 130, in: ThZ 22, 1966, 241-253, bes. 245f. 21. Vgl. Hos 13,4; Jes 43,11 u. a. - Anscheinend kam Luther um 1530 zu einer neuen Sicht des Prologs der Zehn Gebote, die sich in seinen Katechismen leider nicht mehr niederschlug: Er verstand jetzt die Einleitung »dein Gott« als promissio bzw. Evangelium; vgl. I. Meyer, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, 1929, 163ff.
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22. Vgl. überlieferungsgeschichtliche Erwägungen zur Komposition des Dekalogs: Congress Volume Uppsala. vrs 22, 1972,201-220. 23. Die Selbständigkeit der ethischen Forderungen wirkt etwa noch bei Hosea nach. Vgl. Hos 4,2 mit Anspielungen auf das erste Gebot Hos 3,1; 13,4 (vgl. Ps 81,10f). Die wichtige Parallele Ex 21,12.16f mit den Verboten des Totschlags, Diebstahls und Elternfluchs ist wie die ursprüngliche Fassung des Fluchdekalogs Dtn 27,16-25 ohne (im engeren Sinne) theologischen Rahmen. Er wird mit den breiter gestalteten Formulierungen Dtn 27,15.26 erst nachträglich um die Fluchreihe gelegt. 24. Wirken in Rechtssatzreihen wie Ex 21,12ff; Dtn 27,16ff oder Lev 18 (0. Anm. 8) nicht nomadische Traditionen nach, die sich der Jahweglaube aneignet (Dtn 27,15; Lev 18,2-6 u. a.)? Dringt er wie in andere, ihm zunächst fremde Lebensbereiche, sei es nur den Ackerbau oder gar die Totenwelt, so auch zunehmend in das zwischenmenschliche Zusammenleben ein? Nach E. Gerstenberger (Wesen und Herkunft des »apodiktischen Rechts«, 1965, 6lf) »kann kein Zweifel daran sein, daß sekundär die in das Sinaiereignis oder die deuteronomische Gesetzesverkündigung hineingezogenen Vorschriften mehr und mehr unter dem Gesichtspunkt der Bindung an Jahwe, die eine Scheidung von der kanaanäischen Art verlangte, gesehen wurde«. Wie jene formelhaften Wendungen von der Eigenart »Israels« (vgl. Anm. 11) zeigen, sind Jahweglaube und Ethos zumindest indirekt wohl schon früh verbunden, was später ausdrücklich und stärker ausgestaltet wird. 25. K. Eiliger, Leviticus, 1966, 238. 26. Könnte »eine Eigenart des alttestamentlichen Bundeskultes nicht eben gerade in der Verbindung der Rechtsproklamation mit der Epiphanie Jahwes bestanden haben?« (w. Zimmer/i, Ich bin Jahwe: Gottes Offenbarung, 1963, 40). 27. Vgl. außer dem Dekalog Lev 19,3f; Jer 7,9; Ez 18,6; auch Ex 22,19f u. a. 28. Der »Nächste«, von dem ausdrücklich das neunte und zehnte Gebot (Ex 20,16f) sprechen, bezeichnet in früher Zeit den Nachbarn (Dtn 27,17; vgl. 19,14), auch den Freund o. ä., »weithin ganz allgemein den Menschen der näheren Umgebung, mit dem man durch das tägliche Leben - durch Nachbarschaft, gemeinsame Arbeit oder zufällige Begegnung - in Berührung kommt«, so meist faktisch, aber nicht notwendig den Volksgenossen (G. Fichtner, Der Begriff des >Nächsten< im Alten Testa-
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ment: Gottes Weisheit, 1965, 88-114, bes. 95.101). Vgl. THAT II, 1976, 786ff; L. Perlitt, »Ein einzig Volk von Brüdern«: Festschrift G. Bornkamm, 1980, 27-52, bes. 41ff. 29. Vgl. Dtn 19,18; Spr 24,28; 25,18; 1 Kön 21; dazu 1. L. Seeligmann, Festschrift W. Baumgartner, 1967, 262f. 30. Vgl. Num 35,30; Dtn 17,6 u. a. 31. Vgl. Dtn 5,20; Ex 23,1.7; bes. Lev 19,11. 32. Vgl. Luthers seiner Zeit entsprechende Auslegung im Großen Katechismus: »Also daß alle, die man Herrn heißet, an der Eltern Statt sind und von ihn(en) Kraft und Macht zu regieren nehmen müssen« (BSLK 596). 33. Vgl. Ex 21,15.17; Lev 20,9; Spr 19,26; 20,20 u. a. 34. Vgl. Ex 20,14.17f; Dtn 5,14.18.21. 35. Vgl. Ex 12,26ff; 13,8; Mal 3,23f. u. a. 36. Theologie des Alten Testaments I, 41962, 208. 37. Das Sabbatgebot »Gedenke (bzw. Bewahre) den Sabbattag, ihn zu heiligen!« setzt wahrscheinlich eine ältere Fassung wie »Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebten Tag ruhen« (Ex 34,21; vgl. 23,12) voraus. Das Deuteronomium (5,14f) versteht den Sabbat als soziale Maßnahme, und so hat er seine hohe Bedeutung gewonnen - selbst weit über das Christentum hinaus. 38. Vgl. Ex 23,7.10; Lev 19,10; dazu E. Gerstenberger, Wesen und Herkunft des »apodiktischen Rechts«, 1965, bes. 43ff. 39. Die falsche Zeugenaussage vor Gericht wie der Mißbrauch des Gottesnamens sind Wortsünden. Auch das erste Gebot schließt - etwa mit einem Gebet an fremde Götter - Worte ein. 40. Erinnert sei auch an die eindringliche, zu »Herzen« redende Paränese des Deuteronomiums; vgl. Dtn 4,9.29.39; 6,5f; 10,16; 15,7ff u. a. 41. Vgl. Spr 21,2; Ps 7,10 u. a.; auch 1 Sam 16,7; dazu E. Oßwald, Hiob 31 im Rahmen der alttestamentlichen Ethik: TheolVers II, 1970, 9-26. 42. Lev 19,18. Dabei wird das Liebesgebot auch auf den - im Land ansässigen - Fremden bezogen (V 33f; vgl. Dtn 10,19; 24,14). Zum Liebesverhalten gegenüber Feinden vgl. etwa Ez 23,4f; Hi 31,29f oder die Fürbitte J er 29,7. 43. Vgl. Das erste Gebot (0. Anm. 6), 18ff. 44. Vgl. 1 Kön 9,4 »Wenn du vor mir wandelst ... in Untadeligkeit des Herzens und in Aufrichtigkeit des Handeins«; zu »vollkommen« vgl. Gen 6,9; Dtn 18,13; Jos 24,14; Ps 15,2; auch 1 Kön 8,61; Gen 20,5f; Ps 101,2; 50,23 u. a.; dazu o. Anm. 13.
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K. Eiliger hat beobachtet, daß der programmatische Aufruf Gen 17,1 »eine Vorwegnahme des Dekalogs« darstellt (Sinn und Ursprung der priesterlichen Geschichtserzählung, in: ZThK 49, 1952, 121-143 = Kleine Schriften zum Alten Testament, 1966, 174-198, bes. 197). 45. Gleiche Bedeutung, wenn auch in anderer Ausdrucksweise, hat das erste Gebot für die deuteronomisch-deuteronomistische literatur (vgl. Dtn 5,29; 6,4ff.12ff; Jos 23,6ff; 1 Kön 11,4; 14,8 u. v. a.). Neben Synonynien, wie Gott »fürchten«, »anhangen« o. ä., begegnet hier der Begriff der »Nachfolge«, in dem sich »die Betonung des ersten Gebotes und damit der Ausschließlichkeitsforderung Jahwes« verbirgt (F. J. Helfmeyer, Die Nachfolge Gottes im Alten Testament, 1968,202; vgl. ThWAT I, 222f). 46. M. Noth, ATD 6, 1962, 120. 47. Vgl. auch o. zu Anm. 4 oder Gen 9,6 (0. Abs. IV). 48. Es bleibt unsicher, ob Hosea - wie später Jeremia (7,9) oder Paulus (Röm 13,9; vgl. Lk 18,20) - frei aus dem Dekalog zitiert oder Hos 4,2 in einem Traditionsstrom steht, der erst zum Dekalog hinführt. Vgl. zur Begriindung VTS 22, 1972, 214 2 • 49. Die Parallelität von V. 1 und 2 zeigt, daß »nicht neben dem ,ethischen< Bereich ein ,religiöser< als ein zweiter, andersartiger Bereich erwähnt wird, als wäre die Verbundenheit mit Gott etwas Zweites neben der Verbundenheit mit dem Nächsten. Vielmehr meint das ,Wissen um Gott< ... die Quelle des rechten Gemeinschaftslebens« (H. W. Wolf!, BK XIV/l, 31976, 84). 50. W. Rudolph, Jeremia, 31968, 140. Zur Konjektur in V 15b vgl. Rut 3,7. 51. M. Schwantes, Das Recht der Armen, 1977, 123f. Ähnlich wird im Amosbuch die Mahnung »Sucht mich!« (5,4) erläutert: »Sucht das Gute ... , stellt das Recht her!« (5,14f). Hier werden Gottesverhältnis und Mitmenschlichkeit so eng verbunden, daß im Satz an die Stelle des Objekts »Gott« schlicht »das Gute« treten kann - ein im Alten Testament gewiß auffälliger Vorgang. 52. Jer 22,16f wird durch einen Weheruf V 13f eingeleitet und schließt mit einer Unheilsansage V 18f. Ähnlich läuft Am 2,6ff auf die Zukunftsankündigung 2,13ff oder Am 5,24 auf 5,27 zu. Zur Intention der oben zitierten Mahnung Jes 1,16f im Kontext vgl. EvTh 37, 1977,269. 53. Jes 30,9; vgl. 1,2f.4; 30,1; Jer 4,22; Ez 2,5ff u. a. 54. Nur zwei Zitate aus der einschlägigen Literatur: »Die totale Skepsis gegen Erneuerungsversuche geht Hand in Hand mit einer Kritik, die nicht
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mehr moralische oder kultische Einzelverfehlungen rügt, sondern alles Bestehende bis in die tragenden rechtlichen, politischen und kultischen Institutionen hinein restlos in Frage stellt« (K. Koch, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: Festschrift G. v. Rad, 1971,236-257, bes. 238). Amos »kommt über die Negation des Beschriebenen nicht hinaus, erreicht aber gerade damit seine analytische und seine angreifende Schärfe.« (M. Fendler, Zur Sozialkritik des Amos, in: EvTh 33, 1973, 32-53, bes. 53). 55. Vgl. Jes 9,12 mit 6,10; auch Am 4,6ff; Hos 7,10; Jer 8,4f u. a.; dazu zuletzt H. W. Wolf!, Die eigentliche Botschaft der klassischen Propheten, in: Festschrift W. Zimmerli, 1977, 547-557, bes. 548f. 56. Vgl. Jer 3,12; 31,34; Jes 44,22; 54,6ff; 55,7 bzw. 44,3; Ez 36,26f; 39,29; Joel 3,lff; Sach 12,10. 57. Jes 6,9; 29,13; Ez 2,4 u. a. 58. Ez 36,26; vgl. 11,19; Jer 24,7; 32,39f. 59. Vgl. J. J. Stamm, Dreißig Jahre Dekalogforschung, in: ThR 27, 1962, 296ff; A. Jepsen, »Du sollst nicht töten!«, in: Der Herr ist Gott, 1978, 192-195. Noch Luther erklärt ja im Großen Katechismus: In dieses Gebot »ist nicht einbezogen Gott und die Oberkeit noch (ihnen) die Macht genommen, so sie haben zu töten« (BSLK 606). 60. Vgl. Am 9,13; Hos 2,23f; JoeI2,19.24; 4,18; Jes 29,17; 32,15; Ez 34,26ff; 47; Lev 26,4f u. a.
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Ulrich Luz Die Bergpredigt im Spiegel ihrer Wirkungsgeschichte
I. Historisch-kritische Exegese fragt nach dem ursprünglichen Sinn eines Textes. Sie fragt, was ein Text nach der Absicht seines Verfassers und für seine ersten Hörer, bzw. Leser bedeutet hat. Sie isoliert damit den einzelnen Text und seinen Autor gegenüber dem Ganzen des urchristlichen Zeugnisses. Sie distanziert den Text und seinen Sinn von seinen modernen Lesern, die nach seinem Sinn für die Gegenwart fragen. Exegese kann und darf darum, eigentlich per definitionem, keine direkte Wirkung auf die Gegenwart haben. Nun scheint mir in vielen Fällen dieses Verständnis des Sinns eines neutestamentlichen Textes seiner eigenen Intention nicht zu entsprechen. Gerade in der Bergpredigt haben wir m. E. ein Musterbeispiel eines Textes, der auf diese Weise nicht zureichend erfaßt werden kann. Die Bergpredigt hat ja gleichsam eine ganze Geschichte angestoßen; sie hat während fast zwei Jahrtausenden Geschichte gemacht. Die Texte der Bergpredigt enthielten ein großes Innovationspotential; sie waren immer wieder Anstoß zu neuen Aufbrüchen; sie erschlossen immer wieder neuen Sinn. Die Bergpredigt, wie sie uns im Matthäusevangelium überliefert wird, steht am Anfang einer langen Geschichte, die immer wieder neue Sinnpotentiale für den alten Text erschloß. Keine der vielen Auslegungen und keiner der vielen Verwirklichungsversuche der Bergpredigt ist mit dem ursprünglichen Sinn der Bergpredigt 37
einfach identisch. Die Wirklichkeit der Bergpredigt veränderte sich durch die Geschichte hindurch, war meistens auch höchst strittig, wobei eine teilweise Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Sinn überall blieb. Es wäre m. E. falsch, die jeweiligen Neuentwürfe der Bergpredigt in ihrer Wirkungsgeschichte einlinig am Maßstab des ursprünglichen Textsinns messen zu wollen. Verbale Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Textsinn oder auch gehandelte Übereinstimmung mit der vom ursprünglichen Text intendierten Praxis heißt noch nicht unbedingt der Bergpredigt selbst treu zu sein. Ich möchte das an zwei Beispielen, die Ergebnisse der Textexegese vorwegnehmen, illustrieren: Die ursprünglichen Forderungen Jesu, die in den Antithesen überliefert sind, wollen ja nicht einfach sklavisch getreu befolgt werden. Sie sind vielmehr provokative Forderungen im Anbruch des Reiches Gottes, die mehr meinen als sie sagen und zu ihrer Erfüllung an die kreative Phantasie des Menschen appellieren, der ihre Radikalität über das hinaus, was sie sagen, in andere Lebensbereiche übersetzen soll. Kreative Phantasie, die zum Verständnis der Impulse der Bergpredigt nötig ist, hat mit Freiheit zu tun. Das andere Beispiel solcher kreativer Phantasie bietet uns bereits das Matthäusevangelium. Wir entdecken in ihm nicht nur Treue zu Jesus, sondern ebenso sehr auch Neuakzentuierungen, neue Zuspitzungen J esu, die eine bewußte Veränderung des ursprünglichen Sinns der Jesusworte bedeuten. Auch Matthäus weist uns auf die Freiheit, die zur Wirkung von Jesusworten gehört. Ich meine also, daß die Frage nach dem Sinn der Bergpredigt nicht auf die Frage nach ihrem ursprünglichen Sinn reduziert werden darf, sondern daß die neuen Sinnpotentiale, die sie in ihrer Wirkungsgeschichte sich erschloß, mitbedacht werden müssen. Historisch-kritische Exegese blendet diese Dimension aus und kann dazu verleiten, die Gegenwart in kurzschlüssiger Weise dem Ursprungssinn eines Textes unterwerfen zu wollen oder neue Verwirkli38
chung des Textes in der Gegenwart in kurzschlüssiger Weise am Ursprungssinn des Textes zu messen. Natürlich wird dadurch das Problem der Kriterien zur Beurteilung neuer Verwirklichungen eines Textes nicht aufgehoben und nicht einfacher: Wenn ein Text Freiheit zu neuer Verwirklichung geben will, ist damit ja nicht einfach schrankenlose, unkritisierbare Freiheit gemeint. Die Frage, wie der Ursprungs sinn des Textes neue Sinnpotentiale und Verwirklichungen reguliert und bestimmt, bleibt auf dem Tapet und damit auch die Frage, welchen legitimen, aber begrenzten Stellenwert historisch kritische Exegese im Ganzen der Geschichte des Weiterwirkens biblischer Texte heute haben muß. Ich versuche, diesen Überlegungen so Rechnung zu tragen, daß ich am Beispiel der Bergpredigt nun nicht einfach exegetische Skizzen vorlege, sondern diese mit ausgewählten und m. E. exemplarisch wichtigen Etappen ihrer Wirkungsgeschichte konfrontiere. Dabei steht neben der altkirchlichen Interpretation das Gegenüber von reformatorischer und täuferischer Auslegung im 16. Jahrhundert im Vordergrund. Als Textbasis greife ich auf die beiden grundlegenden Textkomplexe der Seligpreisungen und der Antithesen zurück.
11. Bei den Seligpreisungen nehme ich an, daß die drei Matthäus und Lukas gemeinsamen Seligpreisungen der Armen, der Hungrigen und der Weinenden auf Jesus zurückgehen. Im Unterschied zur formal deutlich anderen Seligpreisung der Verfolgten und Geschmähten Mt 5,1lf zeigen sie noch keinen expliziten christologischen oder ekklesiologischen Bezug. Sie sprechen - vermutlich ursprünglich in der 2. Person - den Benachteiligten das eschatologische Heil direkt zu: den Armen, den Hungrigen, den Weinenden. Es geht hier also um Menschen, die seliggepriesen werden, 39
weil sie sich im Zustande des Elends befinden. Zu der viel diskutierten Seligpreisung der Armen ist zu bemerken, daß aus einem doppelten Grund ein wörtliches, soziales Verständnis naheliegt: Einmal raten die sehr konkreten Parallelbegriffe »hungrig« und »weinend« deutlich dazu, auch »arm« nicht anders als konkret zu verstehen. Zweitens zeigen die alttestamentlichen und jüdischen Texte, daß das hebräische Wort 'anij zwar verinnerlicht verstanden werden kann - die Armen können zu den von Gott besonders Geliebten oder gar zu den Frommen werden -, aber die Spiritualisierung oder Verinnerlichung des Sinns ist immer durch den jeweiligen Kontext klargestellt, also nicht schon ·im bloßen Wort 'anij enthalten. Auch die griechische Übersetzung :7ttwX6~ deutet in diese Richtung: Jt"twX6~ ist das stärkstmögliche griechische Wort für äußere Armut und meint »bettelarm«l. Jesus preist also die Armen selig, ohne Einschränkung und nichts anderes. Man wird sagen müssen, daß Lukas an diesem Punkt nicht nur beim ursprünglichen Wortlaut der Seligpreisung geblieben ist, sondern auch bei ihrem ursprünglichen Sinn. So verstanden passen die drei Seligpreisungen gut in die Verkündigung Jesu hinein: Sie sind Zeugnis für seine schrankenlose Heilszusage an die Disqualifizierten im Anbruch des Reiches Gottes. Sie bedürfen zum Verständnis des Kontextes der Verkündigung und des Wirkens Jesu: Nur dann wird deutlich, daß es in ihnen nicht um eine Vertröstung der Armen und Leidenden auf eine imaginäre Zukunft Gottes geht, sondern darum, daß sie hineingenommen werden in eine Zukunft, die in Jesu Wirken, in seiner Zuwendung zu den Armen, in der von ihm gelebten und geforderten Liebe jetzt schon konkret erfahrbar wird. Zwischen J esus und Matthäus sind die drei Seligpreisungen erweitert und auch uminterpretiert worden. Der Sinn wurde dadurch beträchtlich verlagert: 1. Auf die Logienquelle geht die Zufügung der vierten Seligpreisung Mt S,l1f an die um des Menschensohn willen 40
Verfolgten und Geschmähten zurück. Diese Seligpreisung ist im Unterschied zu den ursprünglichen Seligpreisungen auf die Gemeinde und nur auf sie bezogen. Auch die ursprünglichen Seligpreisungen J esu dürfte die Gemeinde nun auf sich selbst bezogen haben. 2. In einer vormatthäischen Überlieferungsschicht sind die ersten drei Seligpreisungen durch vier zusätzliche erweitert worden. Sie alle legen Zeugnis von einer Ethisierung ab. Selig gepriesen werden nicht mehr Menschen, die in einer bestimmten Situation sich befinden, sondern Menschen um eines bestimmten Verhaltens, einer bestimmten Haltung oder einer bestimmten Tugend willen. Dies entspricht dem ursprünglichen weisheitlichen Gebrauch der Gattung Makarismus. Dem entspricht auch die vermutlich sekundäre Umformulierung der Seligpreisungen in die dritte Person bei Matthäus 2 • Die Seligpreisungsreihe in der dritten Person hat nun die Funktion eines christlichen Tugendspiegels: Angesichts der Seligpreisungen sollen sich die Jünger fragen: Bin ich wirklich SO?3 Bin ich der Verheißung würdig? Die Ethisierung der Seligpreisungen hat also schon vor Matthäus eingesetzt; nur die letzte Seligpreisung der Verfolgten um der Gerechtigkeit willen (V. 10) geht auf ihn zurück. Auf ihn zurück geht ferner die Erweiterung der vierten Seligpreisung: Selig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Vor allem Strecker hat wahrscheinlich gemacht, daß es hier nicht um ein passives Sich-Sehnen nach Gottes Gerechtigkeit geht, sondern um die Haltung des Menschen, der sich nach Gerechtigkeit in der Welt sehnt und zugleich sich aktiv um sie bemüht4 • »Gerechtigkeit« meint bei Matthäus vermutlich durchwegs ein menschliches Verhalten, die menschliche Entsprechung auf Gottes Forderung. Diesem Verständnis paßt sich die neuformulierte erste Seligpreisung an: nt'oox,oL t'Ci> nVEuf.tut'L ist in Analogie zum hebräischen 'anawej rual; zu verstehen und ein fester Ausdruck für »demütig«5. 3. Zusammen mit der Ethisierung der Seligpreisungen gehört eine Tendenz zur Verinnerlichung. Immer stärker
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treten religiöse Tugenden wie Demut, Herzensreinheit in den Vordergrund. Auch hier hat die altkirchliche Interpretation die Tendenzen, die sich schon vor und bei Matthäus abzeichnen, weitergeführt: Aus den Trauernden wurden die, die über ihre Sünde trauern 6 , aus den Friedfertigen zuletzt die, die Frieden mit Gott haben 7 , aus den sich um (menschliche) Gerechtigkeit Mühenden die, die sich nach göttlicher Gerechtigkeit sehnen 8 etc. Die reformatorische Auslegung der Seligpreisungen geht an diesem Punkt besonders weit. Aus der uneingeschränkten und bedingungslosen Heilszusage an die Armen und Leidenden ist bei Matthäus eine Art Christenspiegel geworden, mit dessen Hilfe eine christliche Gemeinde, vermutlich im Gottesdienst, ermahnt und ermuntert wird. Die ursprüngliche Stoßrichtung der Seligpreisungen J esu scheint erheblich umgebogen, um nicht zu sagen, in ihr Gegenteil verkehrt. Die Frage nach der Legitimität solchen Umgangs mit Jesu Verkündigung stellt sich dringlich. Ich möchte sie bejahen. Denn es ist nicht dasselbe, ob Jesus überraschend und unerwartet Gottes Liebe denen proklamiert, die bisher am wenigsten davon gespürt haben, oder ob eine christliche Gemeinde, die schon längst von der Verkündigung der Gnade und der Taufe herkommt, mit dieser Heilsbotschaft konfrontiert wird. Bei Matthäus, nach einem halben Jahrhundert christlicher Gnadenverkündigung, stellte sich offenbar das Problem der » billigen Gnade«, bei Jesus noch nicht. Das Problem der matthäischen Gemeinden scheint das rechte Bleiben bei der Gnade zu sein. So beginnt die Bergpredigt, also die erste, programmatische Verkündigung Jesu, schon in den Seligpreisungen mit dem Imperativ. Vorangegangen ist keine Verkündigung J esu, sondern nur ein kurzes Summ ar des Bußrufs: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe! (4,17). Dabei bedeutet die matthäische Uminterpretation keineswegs einfach eine Verschiebung vom Indikativ auf den 42
Imperativ oder gar eine Vergesetzlichung. Matthäus unterscheidet sich gerade von der Tradition, die ihn primär prägt, nämlich der Logenquelle Q dadurch, daß er die Bergpredigt in den Zusammenhang der J esusgeschichte stellt. Das heißt: Die Bergpredigt ist Teil der Geschichte Jesu, mit dem Gott seit seiner Geburt in wundervoller Weise gehandelt hat und den er als seinen Sohn (2,16; 3,17; 4,lff) geoffenbart hat. So gilt für Matthäus, daß der Imperativ der Seligpreisungen eingebettet bleibt in die Geschichte Gottes mit Jesus, von der die Gemeinde seit ihrer Taufe geprägt ist9. Die Freiheit der Gemeinde und des Matthäus gegenüber dem ursprünglichen Sinn und Wortlaut der Seligpreisungen ist erstaunlich. Wir haben einen bewußten Neuentwurf von J esusworten in neuer Situation, die die Bedeutung und den Wortlaut der alten Jesusworte neu prägt.
IH. Bei der Auslegungsgeschichte der Seligpreisungen kann man ganz grob einen katholischen und einen reformatorischen Auslegungstyp unterscheiden. Die klassische altkirchliche, vor allem ostkirchliche Deutung ist die ethische. Die Reihe der Seligpreisungen wird als königlicher Stufenweg verstanden; der Weg von der ersten zur letzten Seligpreisung ist identisch mit dem Weg von der Buße zur Vollkommenheit. Gregor von Nyssa stellt das bildlich dar: Es geht um den Weg auf die Spitze des Berges lO • Die einzelnen Seligpreisungen werden ethisch gedeutet. Die geistlich Armen werden von den altkirchlichen Vätern zunächst auf die Demütigen gedeutet, obwohl sich vom griechischen Sprachgebrauch her eine solche Deutung keineswegs nahe legte. Erst im Rahmen des Zweistufenwegs, der dann yor allem für die westliche Bergpredigtdeutung des Mittelalters bedeutungsvoll war, taucht eine zweite Deutung auf: Die "Armen im Geist" werden zu den 43
freiwillig Armen, erstmals wohl auch bei Gregor von Nyssa 11. In der vierten Seligpreisung wird das umstrittene »Gerechtigkeit« fast durchwegs auf menschliche Gerechtigkeit gedeutet: »Es genügt uns nicht, die Gerechtigkeit zu wollen, sondern ... hungern nach den Werken der Gerechtigkeit.«12 Die Reinheit des Herzens wird in der griechischen Auslegungstradition weithin auf Enthaltsamkeit, die zur Gottesschau führt, gedeutet 13 • In dieser ethischen Auslegungstradition steht auch die vorherrschende Auslegung der Reformatoren 14, die gerade noch nicht durch diejenige Auslegung geprägt sind, die wir als typisch »protestantisch« empfinden. Diese »protestantische« Deutung setzt m. E. bei der ersten nachreformatorischen Generation ein: Bei der Interpretation der ersten Seligpreisung bringt sie nur eine Verschiebung um eine Nuance: Aus den Demütigen werden die, die sich ihrer Sünde bewußt sind und Habenichtse vor Gott sind, »durch die Erfahrung ihrer Sünden ergriffen, von allem Stolz entfernt sich Gott unterwerfen« 15, oder die »ihre Sünde erkennen, das Gewicht von Gottes Gericht spüren, elend in ihrem Sinn gequält und bedrückt werden und fürchten, von Gott verworfen auf ewig zugrundegehen zu müssen«16. Auch diese geistlich Armen sind demütig, aber ihre Demut ist nun nicht mehr eine eigene Haltung, die man sich aneignen und einüben kann, sondern das eigene Sündenbewußtsein. Ähnlich sieht es bei der vierten Seligpreisung aus: Die Gerechtigkeit, nach der man sich sehnt, wird nun zur göttlichen Gnade, zur iustitia imputata, zur Erlösung des Gewissens, der Versiegelung der Söhne, der Hoffnung auf die Herrlichkeit 17 • Bengel formuliert dann prägnant polemisch den Endpunkt dieser Entwicklung, die für die protestantische Auslegungstradition weithin charakteristisch geworden ist: »Es heißt gerade nicht: Selig sind die Gerechten.«18 Damit ist die matthäisehe Intention der Seligpreisung auf den Kopf gestellt. Der Sinn der matthäisehen Seligpreisungen ist also gerade nicht im Hauptstrom der Auslegung der Reformationskir-
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chen, sondern in der alten Kirche (und später in der freikirchlich-täuferischen Auslegung) erfaßt worden. Dies gilt wenigstens insofern man mit Augustin formuliert, daß »perfectus vitae Christianae modus« 19 in der Bergpredigt enthalten ist und nicht die Bergpredigt von einer Zweistufenethik her interpretiert. Von einer völligen Identität der Deutung bei Matthäus und in der alten Kirche kann man angesichts der sehr verschieden explizierten Christologie und Gnadenlehre nicht sprechen, aber von einer großen sachlichen Nähe. Demgegenüber hat sich die Auslegung im Bereich der Reformationskirchen von der matthäischen Intention zusehends entfernt. Sogar heute noch bekommt man den Eindruck, daß sich protestantische Exegese, etwa bei der Seligpreisung der Armen im Geist oder bei der Seligpreisung derer, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, nur mit großer Mühe zum matthäischen Sinn des Textes durchringen könne. Größer ist die Nähe zwischen dem Normaltyp protestantischer Auslegung und dem ursprünglichen Sinn der Seligpreisungen bei Jesus. Aber auch hier bleiben Differenzen: Zwar geht es beidemale um den bedingungslosen Gnadenzuspruch Gottes, aber dadurch, daß protestantische Exegese eine ganz starke Tendenz hat, das Elend des Menschen in seinem Innern anzusiedeln und die äußerliche und soziale Dimension der ursprünglichen jesuanischen Seligpreisung auszublenden, entsteht dennoch eine starke Diskrepanz. Das Eingeständnis der eigenen Verinnerlichung der Seligpreisungen scheint dabei der protestantischen Exegese manchmal fast noch schwerer zu fallen als die Rückkehr zur ethischen Interpretation des Matthäus. In der Verinnerlichung der »protestantischen« Auslegung kommen aber Ansätze zum Zug, die wir bei Matthäus und gerade nicht bei Jesus beobachten. So kehren verschiedene Etappen der neutestamentlichen Traditionsgeschichte in eigentümlicher Transformation in der späteren Auslegungsgeschichte wieder. Wie steht es mit der Legitimität der »neuen« Interpretatio45
nen, die uns die Auslegungsgeschichte zeigt? Ich meine nicht, daß spätere, in eine andere Zeit hineingesprochene Interpretation der Seligpreisungen sich dem Diktat der exegetischen Resultate ohne weiteres beugen müßte. Vieles spricht dagegen: Zunächst die Freiheit zur Veränderung, die schon im innerneutestamentlichen Überlieferungsprozeß zu beobachten ist und die sachlich größer ist als in irgendeinem späteren Jahrhundert, wo man sich der formalen Autorität der Bibel und der Exegese beugte. Sodann die Erkenntnis, daß bei der matthäischen Uminterpretation der Seligpreisungen offensichtlich die Situation und die Bedürfnisse der eigenen Gemeinde eine erhebliche Rolle gespielt hat. Der biblische Text selbst ist situationsbedingt. Und schließlich macht die Tatsache, daß die Auslegung der Seligpreisungen in der exegetischen Tradition der nachreformatorischen Zeit in engster Weise dem reformatorischen Grundansatz der Rechtfertigung sola fide entspricht, einen leichten Abschied von diesem Deutungsmuster schwierig. Methodisch ergibt sich aus diesen Überlegungen, daß bei der Frage nach dem Sinn der Seligpreisungen in unsern protestantischen Kirchen heute die Frage nach unserer eigenen Situation und die Frage nach unserm Verständnis der Mitte der Schrift neben dem Ursprungssinn der Texte eine erhebliche Rolle spielen muß. Nur wenn wir diesen Dreitakt bedenken, können wir einen heutigen Sinn der Seligpreisungen formulieren. Die Auslegungsgeschichte der Seligpreisungen erweist sich dabei in einem doppelten Sinn als wichtig: 1. Sie gibt uns Modelle an die Hand, wie unsere Väter und Brüder in anderer Situation und von ihrem Verständnis des christlichen Glaubens her die biblischen Texte in ihre eigene Situation haben sprechen lassen. Sie gibt uns Modelle an die Hand, wie die Treue gegenüber dem überlieferten Text, die Identität des eigenen christlichen Glaubens und die Zuwendung zu denen, für die der Text in der eigenen Situation sprechen sollte, miteinander vermittelt wurden. Dabei scheint mir, daß die altkirchliche und 46
reformatorische Bibelauslegung für uns von besonderer Wichtigkeit ist. Sie unterscheidet sich von historischkritischer Bibelexegese ja dadurch, daß der Einzeltext immer schon von einem Ganzen her verstanden wurde, sei es im Lichte der kirchlichen Lehre, sei es bezogen auf die Mitte der Bibel. Ich meine, daß gerade diese Integration des Einzeltextes in ein Ganzes, die der vorkritischen Bibelauslegung eigen ist, eine wichtige bleibende Herausforderung für uns bedeutet, die wir nach wie vor Schwierigkeiten haben, mit der durch die historisch-kritische Exegese geschaffenen Atomisierung des biblischen Zeugnisses in viele und verschiedenartige Einzelzeugnisse umzugehen. 2. Sie lehrt uns, den eigenen geschichtlichen Standort, den wir immer schon haben, wenn wir einem Text begegnen, verstehen. In dieser Hinsicht ist der über die bloße Auslegungsgeschichte hinausgehende Blick in die Wirkungsgeschichte des Textes in den verschiedensten Bereichen christlichen Lebens, in kirchlicher Gestalt, Kunst, Frömmigkeit, in der Ethik etc. besonders wichtig. Ein Blick auf die Besonderheiten der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte in der eigenen Kirche und Konfession weist dabei auf die Defizite, in denen wir leben, und hilft uns, einen Text gerade im Gegenzug zu diesen Defiziten neu zu gewinnen. Die Verinnerlichungstendenzen der Seligpreisungen insbesondere im Protestantismus sind hier ein gutes Beispiel; sie zu erkennen, hilft zugleich, die ursprüngliche Konkretheit der Seligpreisungen wieder zu gewinnen.
IV. Anhand der Antithesen möchte ich diese methodischen Überlegungen inhaltlich konkretisieren. Auch sie haben eine komplizierte Überlieferungsgeschichte. Ich gehe von der Hypothese einer schriftlichen Logienquelle aus, die ich undiskutiert voraussetze. Demzufolge müssen wir zwischen
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den sogenannten pnmaren, d. h. von der Logienquelle nicht überlieferten, und den sogenannten sekundären Antithesen, die in der Logienquelle in nicht antithetischer Gestalt überliefert sind, unterscheiden. Die sekundären Antithesen haben ihre jetzige antithetische Gestalt vom Evangelisten Matthäus erhalten. Diese Annahme ist zwar inhaltlich mißlich, denn Matthäus betont selber gerade die Erfüllung von Gesetz und Propheten durch das Kommen Christi bis zum letzten Jota und Häkchen (5,17ff) und nicht den Gegensatz zum Alten Testament. Dennoch ist sie aus literarkritischen Gründen unausweichlich 2o • Dafür spricht auch, daß die Anordnung der Antithesen weitgehend dem Evangelisten zu verdanken ist: Ecübernimmt vermutlich aus einer schriftlichen Quelle die drei Antithesen vom Töten, vom Ehebrechen und vom Schwören und ergänzt sie durch zusätzliche Logien aus Q, die er in antithetische Gestalt bringt. Durch eine neue Anordnung der Q-Logien erreicht er, daß die sechs Antithesen am Anfang (Verbot des Zorns!) und am Schluß (Feindesliebe!) vom Liebesgebot bestimmt sind. So zeigt er, worauf es ihm ankommt. Den sechs Antithesen stellt er den programmatischen Abschnitt 5,17-20 von der Gesetzeserfüllung voran. Er benutzt hier drei traditionelle Logien (V. 17,18,19), die er aber alle sehr stark bearbeitet. Nur das letzte Logion: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer ... (5,20) ist seine eigene Bildung21 • Auf Jesus zurück gehen also höchstens die primären Antithesen. Ich rechne aber damit, daß die vierte Antithese vom Schwören erst in der Gemeindeüberlieferung zu einer Antithese geworden ist; das Logion vom Ja-sagen (5,37) ist Jak 5,12 in einer offensichtlich älteren, nicht-antithetischen Variante erhalten. Die beiden ersten Antithesen dagegen lassen sich m. E. nicht weiter dekomponieren; sie sind echte ursprüngliche Antithesen. Da die Einleitungsformel zu den Antithesen in dieser Weise im Judentum analogielos ist, werden sie auf Jesus selbst zurückgehen 22 • Vom übrigen 48
Stoff können nur Einzellogien auf J esus zurückgehen. Ich rechne persönlich bei der Mehrzahl der Logien in Mt 5,21-48 damit, daß dies der Fall ist. Die Interpretation des ursprünglichen Sinns der ersten beiden Antithesen bei Jesus ist durch vielerlei Unsicherheiten erschwert. Nicht ganz sicher ist schon der Sinn der sogenannten Antithesenformel: Es ist aus sprachlichen Gründen wahrscheinlich, daß sich das »es ist gesagt worden« auf Gottes Reden im Alten Testament bezieht; EQQE~'Y\ ist also wohl passivum Divinum. Die »Alten« sind höchstwahrscheinlich ein quasi-technischer Ausdruck für die Sinaigeneration. In der Antithesenformel stellt also Jesus sein eigenes Wort nicht der jüdischen Auslegung der Tora, sondern Gottes Wort selbst gegenüber. Er beansprucht damit eine analogielose Autorität, indem er sich selbst neben, bzw. über die Schrift stellt. Mit dieser höchst anspruchsvollen Einleitungsformel kontrastiert dann aber der Inhalt der ersten beiden Antithesen merkwürdig: Warnungen vor dem Zorn und vor dem begierlichen Anschauen von Ehefrauen sind rabbinischer Commonsense23 • Auffälliger ist, daß das, was im Judentum normalerweise als Gegenstand der Paränese erscheint, bei Jesus die Gestalt eines Rechtssatzes hat: Jeder, der seinem Bruder zürnt, kommt vors Gericht. Durch die Form des Rechtssatzes wird die Verbindlichkeit der Paränese aufs höchste gesteigert. Zur Besonderheit Jesu scheint aber zu gehören, daß er sich im Unterschied zu den jüdischen Rabbinern für das konkrete Recht des Volkes Israel hier und jetzt nicht interessiert zu haben scheint. Bei ihm tritt die Paränese, die im Rabbinat die Rechtssprechung ergänzte, an die Stelle des Rechtes. Aber noch immer bleibt die Antithese gegenüber dem Alten Testament, dem Jesus inhaltlich ja gerade nicht widerspricht, verwunderlich: Sinnvoll wird sie für mich erst, wenn man sie in den Kontext von Jesu eschatologischer Gottesreichverkündigung stellen darf: Jesus, der Verkündiger des eschatologischen Gottesreichs, stellt voll-
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mächtig sein Wort dem Gottesrecht des Alten Testaments gegenüber und proklamiert so das Verbot des Zorns und der Begierde als Gottes eschatologisches Recht, das dem im Volk Israel des alten Äons gültigen Recht gegenübersteht24 • Ist diese Deutung richtig, so sind die Antithesen aus dem Gegensatz zwischen dem Anbruch des Gottesreichs und dem durch das Mosegesetz bestimmten Recht des alten Israels heraus zu verstehen. Für eine iustitia civilis neben der Forderung der Bergpredigt oder für ihre Umwandlung in . eine bloß den innern Menschen, das Herz treffen wollende Paränese ist gerade kein Platz. Wir müssen aber zugeben, daß vom Reich Gottes in den Antithesen explizit nichts steht und daß wir also die grundlegende Interpretationsvoraussetzung in den Text hineintragen. Insofern partizipieren die Antithesen am methodischen Grundproblem der gesamten Ethik Jesu. Die einzelnen Logien, aus denen die Gemeindetradition, bzw. Matthäus das Textmaterial für die sekundären Antithesen bezogen, stellen vor ähnliche Probleme: Formal sind die meisten als weisheitliche Mahnsprüche formuliert. Inhaltlich dagegen kennzeichnet sie oft etwas Hyperbolisches, Unrealistisches, Überspanntes: Das gilt sowohl z. B. für die Mahnung, das Opfer vor dem Altar liegen zu lassen und zuerst zurückzukehren (womöglich nach Galiläa!) zur Versöhnung mit dem Bruder (5,23f) wie auch z. B. für das sehr grundsätzlich, offenbar von der Heiligkeit des Namens Gottes her formulierte, aber mögliche Konsequenzen im rechtlichen und sozialen Bereich völlig vernachlässigende Eidverbot (5,34f, 37), als auch für die hyperbolischen Formulierungen vom Ausreißen des Auges und vom Abschneiden der Hand (5,29f). Besonders aber gilt dies von den drei radikalen Forderungen nach Gewaltverzicht (5,39ff). Auch die Forderung der Feindesliebe ist mit äußerster Grundsätzlichkeit und Konsequenz formuliert2 5 • Immer wieder stellt man betroffen fest, daß Jesu Forderungen ihre innerweltlichen Konsequenzen kaum bedenken (etwa die Folge des Verzichts auf den Mantel für den im 50
Pfändungsprozeß stehenden Armen 5,40!). Für die Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Forderungen zum Liebesgebot stellt das schwere Probleme: Radikalismen, die ihre Folgen nicht bedenken, sind potentiell lieblos. Der Ausleger kann sie entweder als orientalisch-überschwengliche Redeweise nicht ernst nehmen, oder er muß feststellen, daß sie bewußt schockieren und verfremden wollen, dann aber ernst gemeint sind, samt ihrer Überspanntheit und Realitätsblindheit. Am besten versteht man sie als ein Stück Kontrastethik: Jesus formuliert seine Forderungen oft bewußt im Gegensatz zu dem, was in der Welt an Reaktionen und Verhaltensweisen üblich ist. Wiederum muß man m. E. auf das Reich Gottes hinweisen, dessen Nähe es möglich macht, derart schroff den Gegensatz zur Welt zu formulieren. Ist das richtig, so gehören die echten ethischen Mahnsprüche der Bergpredigt mit andern Radikalismen Jesu wie Besitzverzicht, Nachfolge, Wanderleben in den Bannkreis des anbrechenden Gottesreichs. Der entscheidende neue Akzent des Evangelisten Matthäus kommt durch den Vorspruch, die Verse 17-20. Matthäus und seine Gemeinde stammen m. E. aus einem Judenchristentum, das offensichtlich durch einen ganz besonders intensiven Konflikt mit d~r Synagoge geprägt worden ist. Zur Zeit des Matthäus hat sich m. E. die Gemeinde von der Synagoge bereits getrennt. In dieser Situation wird das Problem des Alten Testaments zum Grundproblem. Eines der wesentlichsten Anliegen des Matthäus in seinem Evangelium ist es, der Synagoge das Alte Testament zu entreißen und es als auf Christus bezogenes Buch verständlich zu machen. Er mußte den Streit um das Alte Testament gegen die Synagoge in so schroffer und exklusiver Weise führen; anders konnte er den Ausschließlichkeitsanspruch Christi nicht durchhalten. Matthäus wollte zeigen, daß ein Nein zu Christus für Israel zugleich auch die Möglichkeit, sich auf das Alte Testament zu berufen, zerstört. In diesem Kontext sind seine Reflexionszitate zu verstehen, und in diesem Kontext steht auch
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das programmatische Wort: Ich bin nicht gekommen, Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (5,17). Dieses Wort ist die christologische und ethische Entsprechung zum heils geschichtlichen Erfüllungsgedanken der Reflexionszitate. Die folgenden Verse 18 und 19 zeigen dann vermutlich, daß Matthäus wohl denkt, daß das ganze Gesetz von den Christen gehalten werden müsse, bis zu den kleinsten Vorschriften. Die Antithesen versteht er also nicht als Aufhebung des Gesetzes, sondern als seine Verschärfung, die Grundlage der besseren Gerechtigkeit der Jünger ist (5,20). Diese steht nicht in einem qualitativen Gegensatz zur Gerechtigkeit der jüdischen Führer, sondern führt quantitativ über sie hinaus (:7tAELOV, 5,20). Das Liebesgebot, das die Anordnung der Antithesen bestimmt und wieder in der goldenen Regel 7,12 in zentraler Weise zum Zuge kommt, tritt bei Matthäus wohl nicht einfach an die Stelle der Vorschriften des Gesetzes, sondern ist der entscheidende Gesichtspunkt, die gewichtigen Vorschriften im Gesetz zu erkennen. Halten aber soll man alle (vgl. 23,23). Daß Matthäus mit dieser Grundsatzerklärung auch in Spannung zu den Antithesen selbst kommt, macht besonders die zweitletzte Antithese vom Gewaltverzicht (5,38ff) deutlich. Der radikale Gotteswille an dieser Stelle läßt sich nicht mehr als Erfüllung von Gesetz und Propheten verstehen, während es bei den andern Antithesen zur Not möglich ist, sie als Verschärfung des alttestamentlichen Gesetzes selbst zu verstehen 26 . Es ist aber m. E. kaum wahrscheinlich, daß Jesus, der sich selber dem alttestamentlichen Gesetz souverän gegenüberstellt, in der Weise von Mt 5,17 von der Erfüllung von Gesetz und Propheten hätte sprechen können. Hier haben wir also eine matthäische Fundamentalthese. Auf der anderen Seite muß aber klar gesagt werden, daß es Matthäus nicht darum geht, Jesus unter das alttestamentliche Gesetz unterzuordnen. Das souveräne ~A.{}ov in V. 17, das Jesus allein (nicht den Jüngern) vorbehaltene :7tAl]EWÖXL und das betonte »ich« 52
der Verse 17-20 zeigt, daß auch für Matthäus Jesus die Kontinuität zum Alten Testament als souveränen Akt seiner Sendung erst setzt und sich nicht dem alttestamentlichen Gesetz unterordnet. Dennoch bleibt eine Spannung zwischen 5,17 und den Antithesen. Sie kommt daher, daß Matthäus in seiner Situation gezwungen ist, den alttestamentlichen Horizont der Antithesen Jesu in einer neuen und grundsätzlichen Weise durchzudenken, um das Band zwischen Jesus und dem Gott Israels nicht aufzulösen. Dadurch hat Matthäus zwar nicht die Proklamation des eschatologischen Gotteswillens dem Horizont der Mosetora eingeordnet - Jesus bleibt souveräner Gottessohn gerade auch gegenüber der von ihm bejahten und erfüllten Tora - wohl aber behauptet er die prinzipielle Identität von Tora und eschatologischem Gotteswillen mindestens in ihrer Intention. Diese These ist wirkungsgeschichtlich sehr folgenreich gewesen, besonders bei den Reformatoren und dort wiederum besonders bei Calvin. Die Spannung, die zwischen Mosetora und J esu Verkündigung faktisch an manchen Stellen, besonders deutlich in der 5. Antithese, bleibt, hat Matthäus durch sein grundsätzliches theologisches Postulat von der Erfüllung des Gesetzes durch Jesus zwar zugedeckt, aber nicht überwunden. Sie bricht in der Auslegungsgeschichte immer dort auf, wo versucht wurde, alttestamentliches Gesetz und Bergpredigt in eins zu sehen. Ohne Gewalt gegenüber dem einen oder dem anderen war dies nicht möglich.
v. Für den Ausleger der matthäischen Antithesen bedeuten die Nebenbewegungen der Reformationszeit, vor allem die frühen Täufer, ein besonders spannendes Kapitel Wirkungsgeschichte der Bergpredigt. Die sogenannten Schwärmer der Reformationszeit sind in ganz besonders eindrücklicher Weise dem matthäischen Sinn der Antithe-
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sen nahe gekommen. Nur an einem Punkt haben die Täufer die matthäisehe Stoßrichtung nicht voll aufgenommen: Wie die gesamte alte Kirche verstehen sie die Einleitungsformel zu den Antithesen so, daß J esus hier sein eigenes Wort demjenigen des Alten Testaments gegenüberstellt. Sie nehmen die Auslegung der Scholastik auf, die hier das Gegenüber von altem und neuem Gesetz, von imperfecturn und perfectum, von äußerlichem und innerlichem Gesetz sah und die die neutestamentliche Verkündigung unter dem Stichwort des neuen oder evangelischen Gesetzes verstehen konnte. Sie stehen damit in einem auffälligen Gegensatz zur reformatorischen Deutung der Antithesen. Sie stimmen aber mit dem ursprünglichen Sinn der Antithesenformel überein, der auch bei Matthäus, trotz des programmatischen Satzes von der Erfüllung des Gesetzes durch Jesus, erhalten geblieben sein dürfte. Anders als für Matthäus ist aber für die Täufer die Unterscheidung von Altem und Neuem Testament fundamental: das Neue Testament ist vollkommener als das Alte und dort, wo Widersprüche bestehen, von Christus außer Kraft gesetzt27 . Es gab für die Täufer nicht, wie für Matthäus, eine geschichtliche Notwendigkeit, die Gebote Jesu programmatisch mit dem wahren Sinn des alttestamentlichen Gesetzes zu identifizieren; die Juden waren im 16. Jh. nicht in der Lage, den Christen das Alte Testament streitig zu machen. Die Unterscheidung von Altem und Neuem Testament legt die Bahn frei für eine radikale wörtliche Interpretation der Gebote der Bergpredigt. Daß die Täufer die Gebote der Bergpredigt wörtlich zu halten versuchten, also z. B. auf Eid oder - mindestens meistens - das Tragen von Waffen verzichteten, ist ja bekannt. Über die theologischen Grundvorstellungen, die zu solcher Praxis führten, Schlüssiges zu sagen, ist dagegen schwierig. Es ist sicher nicht falsch, darauf hinzuweisen, daß die frühen Täufer in ihrer Mehrzahl Laien gewesen sind, die über das Rüstzeug theologischer Dialektik nicht verfügten, die ihnen eine 54
Relativierung der Forderungen der Bergpredigt von größeren Zusammenhängen her erlaubt hätte. Eine gewisse, zunächst einfach mit dem reformatorischen Sola Scriptura begründete und kaum theologisch definierte Neigung zum Biblizismus ist für sie ebenso charakteristisch wie die Tatsache, daß ihre Frömmigkeit, wie Laienfrömmigkeit oft, in höherem Maße von Jesus bestimmt zu sein scheint als bei vielen begrifflich argumentierenden Theologen, z. B. den Reformatoren 28 . Dennoch aber gibt es theologische Ansätze: Die reformatorische Dialektik von Gesetz und Evangelium, die die Gebote des Alten und des Neuen Testaments gleicherweise dem Evangelium gegenüberstellte und an der Neigung zu ihrer Harmonisierung vielleicht indirekt mitschuld ist, scheint für die Täufer keine bestimmende Rolle zu spielen. Etwa bei Hans Denck haben wir einen im übrigen keineswegs biblizistischen Versuch, das Evangelium als Gesetz auszulegen. »Wem Gottes gebot schwär sind, der hat Gott nit lieb und kennet in nit, wie gut er ist ... Der bund Gottes und das joch seines suns ist niemannt schwäre dann dem, der es nye getragen hat. Ye mer der ausserwölt in Gottes weingarten arbeytet, ye minder wirt er müde, sondern auch die arbayt ist im in Gott ain ruW.«29 Die Nähe dieses theologischen Ansatzes zum matthäischen springt unmittelbar in die Augen. Wenn Matthäus das Evangelium als die Aufforderung zum Halten aller Gebote Jesu, der bis zum Ende der Welt bei seiner Gemeinde sein wird, bestimmt, so kann man wohl sagen, daß das täuferische Verständnis des Evangeliums kaum anders zu beschreiben ist. Vor allem entsprechen sich Matthäus und die Täufer in der Grundthese, daß die wahre Gemeinde der Jünger diejenigen sind, die den Willen des himmlischen Vaters tun (Mt 12,50, vgl. 7,22f). Das Halten der Gebote J esu ist für die Täufer geradezu eine, wenn nicht sogar die entscheidende nota ecclesiae3o • Ich kann nicht anders als zunächst mit einer gewissen Faszination auf diese Gemeinden am Rande der Reformation blicken, die die matthäisehe Bergpredigt in höherem Maße als alle ihre 55
Zeitgenossen nicht nur verstanden, sondern auch praktiziert haben. Eine systematische Reflexion des Verhältnisses von Kirche und Welt im Rahmen der Bergpredigtauslegung, wie wir sie etwa in den Wochenpredigten Luthers finden, gibt es bei den Täufern nicht. In der Praxis hatten die Täufer von vornherein nicht die Möglichkeit, ihr Verhältnis zur Welt zu gestalten und theologisch zu reflektieren. Verfolgungen, Prozesse, Hinrichtungen verhinderten dies. Indem die Täufer die Treue zu Jesu Geboten und die dadurch unvermeidliche Trennung von Gemeinde und Welt ernst nahmen, leuchtete vielleicht gerade im Konflikt zwischen ihnen und ihren Obrigkeiten ein Stück der radikalen Spannung zwischen Gottesreich und Welt auf, die für J esus bei aller Offenheit zur Welt grundlegend war. Blicke ich zu den Reformatoren, so bleibt mir ein tiefes Erschrecken über die reformatorische Auslegung der matthäischen Bergpredigt, die unser eigenes Kirche-sein bis heute entscheidend bestimmt, nicht erspart. Bei allem Wissen darum, daß reformatorische Bergpredigtauslegung nicht von Matthäus her kommt, sondern ein Versuch ist, die matthäische Bergpredigt in einen andern, paulinisch geprägten theologischen Gesamtzusammenhang zu integrieren, ist man dennoch bestürzt über die Distanz, die sich hier zu Jesus, an dem sich Matthäus allein orientieren wollte, auftut. Ich greife einige Punkte heraus: 1. Die Reformatoren deuten die Antithesen durchwegs als ein Nein Jesu gegenüber jüdischen Fehlinterpretationen des Gesetzes Gottes. J esu Bergpredigt bedeutet für sie kein Nein zum alttestamentlichen Gesetz, sondern die Wiederherstellung seines ursprünglichen Sinns31 • Woher dieser neue Interpretationsansatz kommt, ist mir nicht recht klar 32 • Etwas deutlicher sind seine theologischen Implikationen: Calvin deutet einmal seine Abneigung an, Jesus als Offenbarer eines neuen Gesetzes, d. h. als Gesetzgeber zu verstehen: Jesus sei kein zweiter Mose, sein Werk nicht eine verbesserte Gesetzgebung33 • Dahinter steht in modifi56
ziert er Form das auch Paulus in Gal 3f leitende Interesse, Gott von der Zumutung einer minderwertigen Offenbarung zu entlasten; Gottes Gesetz sei geistlich, von Anfang an 34 . Niemals darf es so sein, als ob Christus eine schwache Stelle am Gesetz Gottes flickte 35 . Möglicherweise spielt auch die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium hier eine Rolle: Alt- und neutestamentliche Gebote, die beide im Liebesgebot ihre Mitte haben und beide gerade darin dem Naturgesetz zuzuordnen sind 36 , sind beide als Gesetz vom Evangelium zu unterscheiden und gehören insofern zusammen. Die Konsequenzen dieses Ansatzes für die Bergpredigtauslegung deuten sich bei Luther, der doch sehr deutlich von dem allen Menschen geltenden Gesetz im Sinne des usus politicus diejenigen Gebote unterscheidet, die nur »seinen lieben Christen«37 gelten, erst an. Immerhin ist auch für Luther die Liebe die Wahrheit der Vernunft, und das Naturgesetz, die zweite Tafel des Dekalogs, das Liebesgebot und die Bergpredigt letztlich identisch 38 . Die Konsequenz ist, daß Luther ebenso wie die anderen Reformatoren (z. B.) den Dekalog im Sinne der Bergpredigt auslegen kann39 . Für den Dekalog bedeutete dies eine Verschärfung, für die Bergpredigt aber eine Milderung. Vollends deutlich werden die Konsequenzen bei Calvin. Er kann die Gebote der Bergpredigt geradezu außer Kraft setzen, und zwar vom Alten Testament her: Zu Mt 5,40 meint er: »Es wäre albern, auf den Worten zu bestehen« und fordert dazu auf, den Gegner vors Gericht zu ziehen40 . Zur vierten Antithese, die nach Calvin nur den Mißbrauch des Eids verbietet, formuliert er: »Man muß aus der Absicht des Gesetzes heraus verstehen, was sein Ausleger sagt. «41 Jesus, der eine Antithese zum Alten Testament formulierte, wird also hier am Alten Testament gemessen. 2. Für die Reformatoren gilt durchwegs die Feststellung, daß das vollkommene Halten der Gebote J esu unmöglich sei 42 . Verbunden ist dieser Gedanke mit der überzeugung, daß »uns das übertretten des Gsatztes nümmen verdam57
men mag, so wir vestenklich gloubend, daß es Christus erfüllt hab«43. Dieser Gedanke ist paulinisch, nicht matthäisch; er entspricht Röm 8,3, gerade nicht Mt 5,17. Der Gedanke an die Unerfüllbarkeit des Gesetzes ist von Matthäus her, der vom bleibenden Beistand des erhöhten Herrn gerade beim Gehorsam gegenüber Gottes Willen so viel schreibt, weit entfernt. Zwar führte er bei Luther nicht unbedingt dazu, Gottes Forderungen weniger ernst zu nehmen: Etwa die Untersuchungen G. Heintzes zur Predigt Luthers in den zwei Reichen zeigen das Gegenteil44 . Aber dennoch bleibt der Unterschied der Perspektive m. E. wesentlich. Der reformatorischen These entspricht das tiefe Wissen um die bleibende Sündhaftigkeit des Menschen, der immer simul iustus et peccator und damit von dem von Gott unter der Herrschaft seiner Gerechtigkeit gewollten Menschen real verschieden bleibt. Matthäus dagegen denkt im Modell des Weges zur Gerechtigkeit, auf dem Christus dem Gläubigen helfend beisteht und an dessen Ende der Eingang ins Reich Gottes aufgrund realer, nicht nur zugesprochener Gerechtigkeit des Menschen steht. Von wirklicher Sündlosigkeit hat man im ganzen Neuen Testament weithin mehr gehalten als bei den Reformatoren. Entsprechend größeres Gewicht hatten die Forderungen Jesu für die Identität der Christen. 3. Ein bleibendes Ergebnis der Diskussion über die Zweireichelehre scheint zu sein, daß die Liebe als Kriterium des Handelns des Christen in beiden Reichen ernst genommen werden muß 45 . Die für Luther so wichtige These, daß das Verhalten des Christen dann ein anderes sein müsse, wenn Interessen des Nächsten auf dem Spiel stehen, als wenn es nur um eigene Interessen geht, zeigt m. E. eine tiefe Einsicht in das Zentrum des Neuen Testaments. Der Versuch, die Forderungen der Bergpredigt von der Liebe her auszulegen, entspricht der Intention nach tatsächli~h dem, was Matthäus durch die Anordnung der sechs Antithesen wollte, und vermutlich auch dem innern Zentrum der Verkündigung Jesu. Dennoch ist bei Luther und mehr 58
noch bei Calvin eine merkwürdige Brechung der Dynamik der Liebe zu beobachten. Vordergründig läßt sie sich an Luthers Unterscheidung zwischen einem Christen und einem »Christen in relatione« festmachen, von dem Luther »nicht als von einem Christen« spricht, »sondern gebunden jm diesem Leben an ein ander person ... als herrn, frawen, weib, kind, naclibar ec da einer dem andern schuldig ist zu verteidigen, schutzen und schirmen wo er kan«46. Die erste Frage, die man hier stellen muß, ist die, ob es einen Christen ohne Relationen überhaupt gibt. Soll etwa der Christ seinen Privatbesitz nicht verteidigen, bei dem es ja nicht nur um ihn, sondern auch z. B. um Frau und Kinder geht? Und wenn man sich nun einmal den völlig alleinstehendenChristen denkt - sollte der Unrecht an sich geschehen lassen? Daß Luther auch in einem solchen Fall, wenngleich zögernd, nicht einfach zum Besitzverzicht rät, sondern dazu, »fur gericht zu gehen und klagen uber unrecht, gewalt ec, wO nur das hertz nicht falsch ist«47, ist nicht nur im Blick auf die noch nicht lange zurückliegende Abschaffung des Fehdeinstituts bedeutungsvoll. Vielmehr zeigt sich, daß für Luther auch in seinem solchen Fall der Christ nicht einfach ohne weltliche Relationen existiert, sondern »dem unrecht nicht stat geben« darf »und aus rechter liebe zur gerechtigkeit«48 auf das Halten der Bergpredigt verzichten muß. Calvin hat dann später kurz und bündig geraten, daß die Christen »unbeschadet ihrer Freundlichkeit gegen ihre Widersacher die Hilfe der Obrigkeit zur Bewahrung ihrer Güter in Anspruch« nehmen sollte49 . Die Zweireichelehre muß sicher von ihrer neuzeitlichen Version der Gesinnungsethik und der äußern Entsprechung dazu, der Eigengesetzlichkeit weltlicher Bereiche im Ansatz unterschieden werden. Dennoch sind aber m. E. die spätern Konsequenzen dem Ursprung nicht einfach fremd. Die Gefahr der Reduktion der Predigt in den beiden Reichen auf eine Gesinnungsethik ist bereits in der Reformationszeit virulent. Der Christ, der seine Relationen konsequent durchdenkt, hat m. E. keine Möglich59
keit mehr, gewisse Forderungen der Bergpredigt wirklich zu halten. Auf einer zweiten, tieferen Problemebene bricht die Frage nach dem Wesen der Liebe auf. Wodurch ist die Liebe, die zur Auslegung der Bergpredigt von Matthäus bis heute verbal immer gehörte, inhaltlich bestimmt? Schon bei Jesus selbst ist die Frage brisant und wahrscheinlich kaum schlüssig zu beantworten. Forderungen wie z. B. die der Nachfolge können ja in ihren Konsequenzen extrem lieblos sein (Lk 9,59 f), oder gewisse Forderungen wie die nach Gewaltverzicht oder auch das Scheidungsverbot, vernachlässigen so sehr die innerweltlichen Folgen, die sie für die Betroffenen haben, daß es schwer fällt, hier von Liebe zu sprechen. Wenn überhaupt etwas, dann könnte man sagen, daß für Jesus der wirksam gelebte Anbruch es Reiches Gottes die größte Liebe wäre, die einem Menschen geschieht. Das Fragwürdige solcher Interpretationen springt aber in die Augen. Bei Matthäus stellt sich die Frage nach der Orientierung der Liebe anhand des Verhältnisses der Liebe zu den übrigen Geboten. Er ist gerade nicht der Meinung, daß die Christen eigentlich keine Gesetze brauchen 50 , sondern vertritt die Gültigkeit aller Gesetze bis ans Ende der Welt, wobei das Liebesgebot das größte Gebot ist, dem sich alle andern unterordnen. Dieselbe Frage taucht wieder in der Reformationszeit auf, wo in den Gesprächen mit den Täufern die Prädikanten unentwegt auf Glauben und Liebe als Richtschnur des HandeIns hinweisen, während die Täufer immer wieder sagen: Ja, aber Liebe bedeutet Halten der Gebote - durchaus im Sinne des Matthäus 51 . Matthäus und die Täufer kennen neben dem Liebesgebot grundsätzlich gültige Gebote, die vielleicht nicht einfach die Liebe begrenzen, sondern sie gegenüber innerweltlicher Domestizierung ein Stück weit sichern. Vielleicht kann man auch sagen: Liebe ist für die Täufer vor allem Liebe zu Gott;,Liebe zu den Menschen ist sie insofern, als die Gott gehorsame Gemeinde, gerade weil sie sich von der Welt unterscheidet, Licht der Welt wird52 .
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Auch an Luthers These von der Liebe als Handlungsmaxime in den beiden Reichen muß man die Frage stellen, woran sich die Liebe zu orientieren habe. Der Verdacht wurde oft ausgesprochen, sie orientiere sich primär am Status quo. Er ist wohl nicht ganz berechtigt, denn Luthers Leitbegriff der aequitas führt über eine bloß konservative Position deutlich hinaus. Immerhin bleibt die Liebe bei Luther ein weltliches und auch weltlich vernünftiges Verhalten; bis zu der Liebe, die Signal des die Welt grundsätzlich in Frage stellenden Anbruchs des Reiches Gottes ist, ist noch ein weiter Schritt. 4. Ein letzter Punkt bezieht sich auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinde. Es fällt auf, daß Luther sich im Zusammenhang mit seiner Predigt in den beiden Reichen immer an den einzelnen Christen wendet. Von der Gemeinde spricht er eigentlich kaum, Christen sind Einzelgänger und, immer wieder zu lesen, seltene Vögel, die unter den vielen bloßen Taufchristen, wie es heißt, »fern voneinander wohnen«53. Der für Matthäus so zentrale Gedanke, daß die Gemeinde der Brüder der Ort ist, wo die Bergpredigt praktiziert werden muß, liegt Luther offenbar fern: Angeredet ist der Einzelne. Die Gemeinde derjenigen, die mit Ernst Christen sein wollen, verwirklichte Luther nicht, nicht aus theologischen Gründen, sondern weil die Zeit noch nicht reif war und damit keine Rotterei daraus entstehe 54 . Daß hier Luthers Nein keine theologischen Gründe, etwa von der Zweireichelehre her, hatte, ist m. E. bedeutsam. Die Frage bleibt so erlaubt, ob nicht im Rahmen einer Zweireichelehre auch eine andersartige Verhältnisbestimmung von Gemeinde und Welt möglich wäre. Es bleibt m. E. eine Großtat der Zweireichelehre Luthers, daß sie dem Christen die Möglichkeit, weltliche Werke als Gottesdienst zu verstehen, eröffnete. Es bleibt aber m. E. eine tiefe Schwäche der Zweireichelehre auch in ihrer reformatorischen Gestalt, daß die Integration in die Welt so weit ging, daß auch die Gemeinde kaum zum Ort
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sichtbarer Verwirklichung von Christi Geboten an seine lieben Christen werden konnte. Der Destruktion falscher Kirche von der Zweireichelehre her, wie er etwa in der Polemik gegen geistliche Fürstentümer sichtbar wird, folgte kein Neubau von Gemeinde, sondern der Rückzug aufs Wort, das fast die einzige Weise ist, wie das Reich Christi in der Welt Gestalt annimmt. Das Wort bleibt aber so kirchlich folgenlos und die Kirche ein Stück Welt. Über folgenlose Worte hat Matthäus am Schluß seiner Bergpredigt einiges gesagt (7,22f). Gerade an diesem Punkt unterschieden sich die Täufer entscheidend von den Reformatoren, indem sie die heilige Gemeinde zu verwirklichen versuchen. Auch bei ihnen fällt m. E. eine nur theologische Begründung der Unterschiede schwer. Man kann hier an die Frühgeschichte der Täufer in Zürich erinnern, daran, daß die Mitglieder des Grebelkreises, die späteren Täufer, alle überzeugte Zwinglianer waren, die Zwingli eigentlich nur vorwarfen, daß er seinen Worten keine Taten folgen lasse. Man kann an Luthers eigenen Ansatz in der Deutschen Messe und vielleicht an den frühen Melanchthon 55 erinnern. Es ist schwer zu sagen, in welcher Weise die eigenständige theologische Tendenz der Täufer, die Gebote des Evangeliums ins Zentrum zu rücken, Voraussetzung und wieweit sie Folge einer eigenständigen Verwirklichung von Gemeinde ist.
VI. Hier ist der Ort, auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen, der für das Verständnis der Wirkungsgeschichte der Bergpredigt wichtig ist. Auslegungen der Bergpredigt sind ja nicht einfach frei wählbar. Es gibt vielmehr eine komplizierte Wechselbeziehung zwischen Text, Auslegungstradition, eigenem theologischem Ansatz und kirchlicher und gesellschaftlicher Situation. Den zuletzt genannten Aspekt möchte ich nun in die Überlegungen einbeziehen, und zwar
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im Anschluß an E. Troeltsch, einem der Väter protestantischer sozialgeschichtlicher Exegese, der viel Anregendes zur Geschichte der Bergpredigtauslegung beigesteuert hat. Troeltsch unterscheidet bekanntlich zwei grundsätzlich verschiedene soziologische Typen, die Kirche und die Sekte. Unter Kirche versteht er eine Heils- und Gnadenanstalt, »die Massen aufnehmen und der Welt sich anpassen kann, weil sie von der subjektiven Heiligkeit um des objektiven Gnaden- und Erlösungsschatzes willen bis zu einem gewissen Grade absehen kann«. Die Sekte dagegen »ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Wiedergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten56 . In der Kirche, die die Massen aufnehmen kann, dominiert die Verkündigung der Gnade; sie neigt dazu, das Grunddogma von der Göttlichkeit Christi soteriologisch auszulegen und institutionell und sakramental abzusichern. Demgegenüber ist »der Christus der Sekte ... der Herr, das Vorbild, und der Gesetzgeber von göttlicher Würde und Autorität, der seine Gemeinde in der irdischen Pilgerschaft durch Schmach und Elend gehen läßt, aber die eigentliche Erlösung bei seiner Wiederkunft und der Aufrichtung des Gottesreichs vollziehen wird«57. Der Jesus der Sekte ist also in erster Linie der irdische J esus als Herr und Lehrer, nicht der himmlische Christus als Erlöser58 . Die Realisierung der Heiligkeit steht in der Sekte im Zentrum. Christliche Verkündigung ist zentral Gesetz, wobei mit diesem Begriff nicht eine Antithese gegen die Gnade, sondern ihre Verwirklichung gemeint ist. In der Kirche ist christliche Wahrheit als objektiv-theologische, in der Sekte als subjektiv-persönliche akzentuiert59 . Sektenfrömmigkeit war oft Jesusfrömmigkeit; für kirchliche Theologie war immer wieder Paulus entscheidend. Den kirchlichen Grundtyp charakterisiert durchwegs eine entspannte Eschatologie, während der 63
Sektentyp immer wieder durch intensive Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes gekennzeichnet war 60 • Troeltsch hat die redaktionsgeschichtlich herausgearbeitete Theologie des Matthäus noch nicht gekannt. Ich habe aber selten eine so umfassende und prägnante Beschreibung ihres Skopus gefunden wie die Troeltsch'sche Beschreibung der Theologie des Sektentyps. Von hier aus wird verständlich, wo wir im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder Nachfahren des Matthäus finden: in den asketischen und mönchischen Bewegungen des altkirchlichen Ostens, bei den mittelalterlichen Radikalen, Waldensern und Wyclifiten etwa, in der Reformationszeit bei den Täufern. Überall waren die Evangelien das eigentliche Zentrum der Frömmigkeit, während sie etwa Luther gegenüber Paulus und Johannes deutlich abwertete. Die umgekehrte Konsequenz ist, daß die Reformation und der Katholizismus sehr viel enger zusammenrücken, als dies üblich erweise zugestanden wird und vor allem als dies dem Selbstverständnis der Reformatoren, die von ihrem Verständnis von Gesetz und Evangelium her gerade die Papstkirche und die sogenannten Schwärmer zusammensahen, entspricht. Dennoch ist m. E. gegen die lutherischen Kritiker von Troeltsch zu fragen, ob in seiner Sicht nicht sehr viel Wahres steckt: Die ethisch akzentuierte Bergpredigtauslegung des Katholizismus, etwa der Seligpreisungen, ist kein Gegenindiz, denn sie wurzelt ja traditionsgeschichtlich in der frühesten Kirche, ja bei Matthäus selbst, gleichsam in der Sektenzeit des Katholizismus. Die Zweistufenethik aber, die seit der Reformation als die katholische Auslegung der Bergpredigt gilt, charakterisiert die katholische Bergpredigtauslegung nur an bestimmten Punkten. Sie hat ihre Wurzeln gerade nicht in der Auslegung der Bergpredigt, sondern anderer Texte, z. B. von Mt 19. Sie ist geschichtlich gesehen ein Versuch, rigoristische und perfektionistische Auslegungstraditionen und Gemeindeformen aus der Frühzeit zu erneuern und in die volkskirchliche Wirklichkeit zu integrieren. Sieht man von den beson-
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deren Forderungen für die Priester und die Mönche ab, so kommt sich die aus der Bergpredigt resultierende Praxis im Katholizismus und bei den Reformationskirchen erstaunlich nahe, so verschieden der theoretische Ansatz der Auslegung bleibt. Auch hinsichtlich des Grundverständnisses der Gnade zeigt es sich heute, daß der Kathol~ismus nach der Bewältigung seiner spätmittelalterlichen Gestalt und der Protestantismus, der die geschichtliche Bedingtheit seiner eigenen Genesis erkennen lernte, sich viel näher stehen als dies im 16. Jahrhundert den Anschein hatte. Für die Alternativen, die sich im 16. Jahrhundert in der Bergpredigtauslegung zwischen Täufern und Reformationskirchen auftaten, bedeutet dies: Kirchentyp, Kirchenverständnis und Bergpredigtauslegung gehören eng zusammen. Die reformatorische Entscheidung für eine Bergpredigtauslegung, die sich vor allem an den einzelnen Christen und nicht an die Gemeinde wendet, ist nicht allein theologisch verständlich, sondern hängt mit der kaum ausreichend reflektierten und wohl auch nicht ausreichend reflektierbaren Grundprämisse, die traditionellen Kirchenstrukturen zu bewahren, zusammen. Etwas salopp ausgedrückt: Der Wille, die Volkskirche zu erhalten, hat damals die Bergpredigtauslegung entscheidend mitbestimmt. Bei den Täufern war es wohl umgekehrt: Aus dem Ernstnehmen der Bergpredigt ergab sich in der damaligen geschichtlichen Situation fast zwangsläufig die Entwicklung zur »Sekte«.
VII. Wir versuchen die bisherigen Überlegungen in einigen Thesen und Anfragen zu bündeln. 1. Es hat sich gezeigt, daß der biblische Text der Bergpredigt, weder in ausschließlichem und direktem Sinn unsere eigene Auslegung regulieren kann, noch soll. Eigene Auslegung muß immer durch die eigene Situation und durch 65
das eigene Verständnis des Zentrums des christlichen Glaubens vermittelt sein. 2. Die Bergpredigt selbst zielt auf jeweils neue, eigene und ganzheitliche Auslegung, die das Ganze des Lebens und der kirchlichen Wirklichkeit erfaßt. Anders gesagt: Bergpredigt zielt auf eigene Verwirklichung, nicht auf »bloße Auslegung«. 3. Historisch-kritische Exegese der Bergpredigt ist nicht unsere eigene Auslegung, sondern - wenn sie gelingt - nur Feststellung fremder, vergangener Auslegung(en) der Bergpredigt. Sie unterscheidet sich dadurch fundamental von aller Auslegung der Bergpredigt vor der Aufklärung. Sie darf also nicht eigene Auslegungsentwürfe ersetzen (obwohl sie das de facto beim Exegeten oft tut), sondern hat auf dem Wege zu einer eigenen heutigen Auslegung nur vorläufige Funktionen: Sie macht dem Exegeten die eigene Situation ein Stück weit bewußt, indem sie ihn mit dem Abstand der Vergangenheit konfrontiert, und sie fordert ihn zu einem eigenen Entwurf des Glaubens heraus, indem sie ihn mit vergangenen Entwürfen des Glaubens, deren Konkretisierung Einzeltexte sind, konfrontiert. 4. Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte, die im Unterschied zu bloßer Auslegungsgeschichte damit Ernst macht, daß biblische Texte auf ganzheitliche Verwirklichungen zielen, enthält einen unendlichen Schatz an Erfahrungen, wie Christen und Kirchen in der Vergangenheit das Zentrum des christlichen Glaubens in ihrer Situation mit Hilfe einzelner Texte konkretisiert haben. Sie beginnt im Neuen Testament selbst. 5. Die Geschichte der Bergpredigt auch und besonders in uns ern protestantischen Kirchentümern ist eine Geschichte ihrer Verinnerlichung und der Verdrängung ihrer Forderungen, die die Liebe nur noch innerhalb der Rahmenbedingungen, die die Welt ihr stellte, zum Zuge kommen ließ. Beides läßt sich nicht nur als späterer Irrweg abtun, sondern wurzelt auch im theologischen Ansatz und in der Bergpredigtauslegung der Reformation. Von da her stellt
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sich die Aufgabe kritischer Rückfrage an den theologischen Grundansatz und die kirchliche Gestalt der reformatorischen Bergpredigtauslegung. Umgekehrt scheint es den Täufern und andern Nonkonformisten in weit höherem Maße gelungen zu sein, dem Sinn der Bergpredigt zu geschichtlicher Wirklichkeit zu verhelfen. Von da her stellt sich die Frage nach dem Wahrheitsmoment in ihrem theologischen Grundansatz und ihrer kirchlichen Gestalt. 6. Theologisch scheint eine Wurzel der Probleme bei der reformatorischen Unterscheidung von Evangelium und Gesetz zu liegen, die zwar ihre unaufgebbare Bedeutung für die kritische Herausarbeitung des sola gratia hat, aber 6.1 der Konzentration des Interesses auf das Individuum und der Vernachlässigung der ekklesiologischen Dimension, 6.2 der Interpretation des menschlichen HandeIns im Horizont der Welt statt im Horizont des Reiches Gottes Vorschub zu leisten scheint. 7. Dem gegenüber scheint eine produktive Kraft des täuferischen Grundansatzes, daß das Evangelium auch die Gestalt des Gesetzes haben kann, darin zu liegen, daß so die Wirklichkeit des Evangeliums in der Gemeinde in der Welt sein Stück weit erfahrbar werden kann und nicht mehr ganz unanschaulich bleibt. 8. Unsere Schwierigkeit, Jesu Forderungen als eine Gestalt der Gnade zu erfahren, könnte damit zusammenhängen, daß sie die Gestalt unserer Kirchen so wenig bestimmen und daß so ihr heilsamer Chrakter für die von ihnen bestimmte neue Gemeinschaft so wenig erfahrbar ist. 9. Zur Situation heutiger Bergpredigtauslegung und -verwirklichung: Heutige, an der Tradition der Reformationskirchen sich orientierende Bergpredigtverwirklichung scheint in der umgekehrten Situation zu sein wie die katholische Bergpredigtverwirklichung des Mittelalters: Während damals einer Volkskirche gewordenen »Sekte« 67
die rigoristischen Auslegungstraditionen ihrer »Sektenvergangenheit« vorgegeben waren und sie bei ihrer Integration die Gefahr einer doppelten Ethik nicht vermeiden konnte, scheint es bei uns eher so, daß eine Volkskirche, die dies längst de facto nicht mehr ist, aber sich immer noch so versteht, Denk- und Handlungsmodelle ihrer volkskirchlichen Geschichte um jeden Preis bewahrt. Eine Freiwilligkeitskirche mit dem Ethos einer Volkskirche riskiert, salzlos gewordenes Salz zu werden. M. E. ist eine Wiedergewinnung der Bergpredigt in unserer heutigen Situation untrennbar verbunden mit bewußten und gewollten Schritten heraus aus unsern volkskirchlichen Strukturen. Unter diesem Aspekt halte ich eine Beschäftigung mit den Überlieferungen der Nebenbewegungen der Reformationszeit heute für wichtig, ohne einer einfachen Kopie ihrer Modelle das Wort reden zu wollen. 10. Zur theologischen Mitte, die heutige Bergpredigtauslegung leiten könnte: Die Erfahrung, daß die Forderung des Evangeliums heilsam ist und Gnadencharakter haben kann, die die matthäische Theologie prägt, die Täufer bestimmte und auch in reformatorischer Theologie nicht ganz verschüttet war, ist m. E. der zentrale Punkt, der bei einem Nachdenken über die Mitte des christlichen Glaubens von der Bergpredigt her zu bedenken ist. Gerade Jesu Leiden und Kreuzestod, Grund des Heils für die Welt, vertieft diese Erfahrung, indem Heil für die Welt so entstanden ist, daß Jesus den in den Forderungen der Bergpredigt vorgezeigten Weg selbst konsequent zu Ende ging und den Konflikt mit der »Welt« auf sich nahm. Von Jesu Kreuzestod her gilt m. E., daß die Forderungen der Bergpredigt zur Mitte und zur Gestalt des Evangeliums gehören. Ihre Verinnerlichung, ihre Beschränkung auf den Einzelnen und ihre Interpretation im Rahmen des weltlich Möglichen scheint von da her unweigerlich zu einem Substanzverlust des Evangeliums selbst zu führen.
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Anmerkungen 1. Griechisch gebräuchlicher wäre JtevT); gewesen. Als Faustregel gilt: Der JtEvT); muß arbeiten, der Jt1;WX6; muß betteln. 2. Die 3. Person beim Makarismus entspricht dem Gattungstyp. 3. Vgl. E. Neuhäusler, Anspruch und Antwort Gottes, Düsseldorf 1962, 145. 4. G. Strecker, Die Makarismen der Bergpredigt, abgedruckt in: Eschaton und Historie, 1979, 119-121. 5. Vgl. die Darstellung bei J. Dupont, Les Beatitudes IH. Les Evangelistes, Paris 1973, 399-411. Da diese Deutung griechischem Sprachempfinden widerspricht, ist sie besonders bemerkenswert. 6. Seit Origenes. 7. Z. B. bei M. Bucer, Ennarationes perpetuae in Sacra qu. Evangelia, Argentoriati 1530, 43C. 8. Seit Melanchthon und Calvin. 9. Dadurch daß Mt die Lehre Jesu in die Geschichte des Gottessohns Jesus, in der Gott für die Gemeinde am Werk ist, einbettet, verstärkt er gegenüber der Logienquelle das Moment des Indikativs, die Betonung der Gnade. Diese Einbettung der für seine Gemeinde bestimmenden Traditionen von Q in die Geschichte Jesu und die so mögliche Betonung des Prae von Gottes Handeln und von Gottes Gnade vor jeder menschlichen Tat ist wahrscheinlich die entscheidende theologische Leistung des Matthäus gewesen. 10. Gregor von Nyssa, De Beatitudinibus, PG 44, 1194-1302; übers. BKV I/56, München 1927, 153-240. Zu Augustin vgl. U. Duchrow, Der Aufbau von Augustins Schriften Confessiones und De Trinitate, ZThK 62 (1965), bes. 344f. 11. Ebd. 1,5 = BKV 163f. 12. Hieronymus, Commentariorum in Mt libri IV, z. St. 13. Johannes Chrysostomus, Homilien zu Mt, BKV I/25, München 1915, 15,4 = 247. 14. Luther kann geradezu »barthianisch« formulieren: »Dies Evangelium . .. enthält auch Gebote in sich, nämlich wie man arm im Geist, sanftmütig, barmherzig usw. sein soll« (in: hrsg. E. Mülhaupt, Luthers Evangelien-Auslegung H, Göttingen 41973, 56. 15. Theodor v. Beza, Iesu Christi Novum Testamentum, Genf 1582, 18. 16. Johannes Brentz, In scriptum Matthaei de rebus gestis Jesu Christi Commentarius, Tübingen 1566, 228.
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17. A. Calov, Biblia Illustrata NT. Tom. 1, Dresden 1719, 179; Joh. Cocceius, Comrnentariolus sive Notae Breves in Mt., Werke IV, Frankfurt 1702,9. 18. J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, Stuttgart 81915, 38. 19. Augustin, De Sermone in Monte 1,1. 20. Das Verfahren des Evangelisten in den sog. primären Seligpreisungen (Ergänzung der Seligpreisungen durch Q-Stoff 5,23-26.29 f) entspricht seinem Verfahren im Ganzen (Ergänzung der primären Seligpreisungen durch sekundär aus Q-Stoff neugebildete; 5,3lf ist nur deshalb vorweggenommen, weil hier aus inhaltlichen Gründen der Anschluß an 5,27ff nahelag. 21. Für Einzelheiten zu 5,17-20 vgl. U. Luz, Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus (Mt 5,17-20), ZThK 75 (1978), 398-435. 22. Die rabbinischen Parallelen hat E. Lohse, »Ich aber sage euch«, abgedruckt in: Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 73ff zusammengestellt. Der Befund entspricht m. E. den grundsätzlichen Kriterien für Echtheit. Bei allgemeiner Nähe zu jüdischen Formulierungen zeigen sich bei Jesus charakteristische Unterschiede: Ähnliche rabbinische Wendungen stellen durchwegs verschiedene Deutungen der Bibel einander gegenüber; das Gegenüber ist nicht der Bibeltext selbst. 23. Besonders hilfreich sind hier die Untersuchungen von C. G. Montefiore, Rabbinic Literature and Gospel Teaching, Nachdruck New York 1970, bes. 38ff und ders., The Synoptic Gospels 11, London 1909, bes. 497ff. Sein Resultat: Jesu Forderungen entsprechen inhaltlich weithin rabbinischer Ethik, präsentieren sie aber so absolut und radikal, »that it has failed to produce solid and practical results« (Gospels 11 523). 24. Besonders gut ist das herausgearbeitet worden von L. Goppelt, Das Problem der Bergpredigt, abgedruckt in: Christologie und Ethik, Göttingen 1968, bes. 40. 25. Es gibt sehr viele jüdische Aussagen, die in eine ähnliche Richtung weisen, wie Jesu Gebot der Feindesliebe, aber eine grundsätzliche Forderung im Sinn der Feindesliebe formulieren jüdische Texte nicht. 26. Vgl. C. Burchard, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: Jesus Christus in Historie und Theologie, FS H. Conzelmann, Tübingen 1975, 422-426. 27. Täuferische Stimmen zum Verhältnis AT-NT: Bemer Gespräch mit H. Pfistermeyer von 1531, QGT (Schweiz) IV, Zürich 1974, 4-14; Bemer Gespräch von 1538, ebd. 269-274, vgl. C. Bauman, Gewaltlosigkeit im Täufertum, SHCT 3, Leiden 1968, 155-170. »Das nüw testament ist volkomner dann das allt« (Pfistermeyer aaO. 7 u. ö.).
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28. »Min leer is gsin uss den worten Christi. Unnd was ich in Christo Jesu finden und funden hab, das hab ich gelert .... Darumb was in Christo Jesu mag funden werden unnd in siner leer und leben, das will ich für recht geben, was nit, wurd ich nit annemen« (Pfistermeyer aaO. 6). Luther, Tischrede von 1532, WA Tischreden In, Nr. 2823 weist auf die Bedeutung von Paulus und Johannes für die Predigt der Kirche, »pro vulgo« aber stehe Matthäus voran. 29. H. Denck, Vom Gesetz Gottes, in: Schriften n. Religiöse Schriften, hrsg. W. Fellmann, QFRG 24, Gütersloh 1956, 62. 30. J. H. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 11 204f, vgl. 187-191. 31. »Das gesetz jst an sich selbs so reich und volkomen, das man nichts dazu thun darff ... Darumb kan niemand, auch Christus selbs, das gesetz nicht bessern« (Luther, Wochenpredigten, WA 32,356 zu 5,17; Christus hebt daher das Gesetz nicht auf, sondern er legt es aus (vgl. Luther, Von weltlicher Obrigkeit ... , WA 11, 259). 32. Vielleicht hilft ein Hinweis auf Nikolaus von Lyra, Postilla super Novum Testamentum, o. O. ca. 1480, zu 5,20f: Zum Erlangen des Heils genügt das Halten der Gebote des Dekalogs. »Et ideo salvator nova praecepta moralia non dedit, sed praecepta decalogi repticavit«. Er befreit vielmehr von den Irrtümern der Juden und »dat intellectum antiquorum praeceptorum moralium«. 33. Institutio 11 8,7. 34. Institutio 11 8,6. 35. Auslegung der Evangelienharmonie I, Neukirchen 1966, 185. 36. Vgl. U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung, Stuttgart 1970, 499ff; C. Link, Die Welt als Gleichnis, BEvTh 73, München 1976, 42ff. 37. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit ... , WA 11, 252. 38. Duchrow aaO. 550. 39. Vgl. Luthers Auslegung im Großen Katechismus, BSLK 606; Calvin, Institutio n 8,26.39. 40. Evangelienharmonie I aaO. 196. 41. Ebd. 193. 42. Luther, Von den Konziliis und Kirchen, WA 50; Zwingli, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, Hauptschriften 7, Zürich 1942, 53; Calvin, Institutio 11 7,5. 43. Zwingli, ebd. 68. 44. G. Heintze, Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, FGLP Xl11, München 1958.
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45. P. Althaus, Luther und die Bergpredigt, Luther 27 (1956), 2f, l1f; Duchrow aaO. 542ff. 46. Wochenpredigten, WA 32, 390. 47. WA 32, 392. 48 Ebd. 49. Institutio IV, 20,20. 50. Vgl. Luther, Von weltlicher Obrigkeit ... , WA 11, 250. 51. »Recht liebe ist haltung der botten gottes« (QGT Schweiz aaO. IV 75). »Das evangelium ist vol underwysung und lyt in haltung der botten gottes« (ebd. 77). 52. Vgl. QGT Schweiz IV aaO. 85f. 53. Von weltlicher Obrigkeit ... , WA 11, 251. 54. Vgl. Deutsche Messe, WA 19, 75. 55. Vgl. dazu Duchrow aaO. 538. 56. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Sehr. I, Tübingen 1912, 967. 57. Ebd.968. 58. Vgl. ebd. 370. 59. Vgl. ebd. 424. 60. Vgl. ebd. 970.
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Rolf Heinrich Gott - rücksichtslos der Gott der Armen Leben mit Matthäus 5, Vers 3
I. Arme inmitten unseres Reichtums? Wir sind hier unter uns, mit unserer Sprache, unserer Denkweise und unserem Diskussionsstil. Haben Arme, Menschen am Rande, die Kleinen, die Menschen, die im gesellschaftlichen Ansehen unten sind (vgl. Mt 18,1-4) eine Stimme? Sprechen sie mit uns und wir mit ihnen in unseren Gemeinden, da wo wir leben und arbeiten? »Geht uns mit gutem Beispiel voran und beseitigt die Unrechtssituationen, die in eurer eigenen Gesellschaft bestehen. Ändert zunächst einmal bei euch die falschen Strukturen, damit es keine Armen mehr gibt inmitten eures Reichtums! ... Geht uns mit gutem Beispiel voran und schafft schnell und entschieden Gerechtigkeit bei euch!«, sagt der brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara l . Arme inmitten unseres Reichtums? Ein Schwarzer, der vier Jahre in Gelsenkirchen als Pastor gelebt und gearbeitet hat, sagt: »In Deutschland sind viele Menschen arm dran: Nichtseßhafte und Obdachlose, Bergleute und Schichtarbeiter, die durch ihre Arbeit krank werden und auf ein geselliges Leben verzichten müssen; die Menschen, die sich von einem Schwarzen nicht taufen, nicht trauen und nicht beerdigen lassen wollten, weil die . Werte, die die christliche Kirche ihnen gegeben hatte, weiße Werte waren; 73
die Kinder und Jugendlichen, die sich nach Wärme und Geborgenheit, nach Gesprächspartnern sehnen. Ihr in Deutschland seid arm dran. Ihr seid Missions- und Entwicklungsland, ohne es zugeben zu können und zu wollen.« Arme inmitten unseres Reichtums? 5-7 Millionen Menschen sind arm, wirtschaftlich, sozial und kulturell benachteiligt: Nichtseßhafte, Obdachlose und Stadtstreicher, Arbeitslose und kinderreiche Familien, Menschen in Altersheimen, geistig und körperlich Behinderte 2 • Die ungleiche Einkommensverteilung hat sich seit 1960 erstaunlich wenig geändert. Die Quote milder Armut liegt zwischen 12 und 13 Prozent3. Arme inmitten unseres Reichtums: Ich will sie selbst zu Wort kommen lassen eingedenk der Äußerung eines ausländischen Arbeitnehmers: »Die Intellektuellen kommen zu uns und sagen genau das, was wir sagen würden und nicht sagen können. Sie sprechen in unserem Namen. Sie gewinnen unser Vertrauen. Und ohne daß man es merkt, beginnen sie in ihrem Namen zu sprechen, nicht mehr in unserem, aber sie haben unser Vertrauen. . . Aber schon von Anfang an, als sie noch wirklich in unserem Namen redeten, gab es etwas, was nicht hinhaute: nämlich daß sie redeten und nicht wir.«4
1. Ein Bergmann erzählt Ein Bergmann erzählt, während er 900 Meter in die Erde hinein an seinen Arbeitsplatz fährt: »Enggedrückt wie Sardinen in der Dose stehen wir im Förderkorb. Ich kann mich anlehnen ohne umzukippen. Bisher haben wir uns unterhalten. Wenn der Förderkorb sich nach unten senkt, wird es sehr still. Es wird dunkel; einige nicken ein. Ich schließe die Augen. Was erwartet mich an meiner Arbeitsstelle? Hoffentlich habe ich nicht zu schlechte Arbeitsbedingungen. Hoffent-
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lich ist es nicht zu heiß, nicht zu staubig, ist der Zeitdruck nicht so groß. Hoffentlich geht eine Stempeluhr etwas nach, damit ich mittags an einer anderen Stempeluhr etwas eher stempeln kann und so früher wieder an die frische Luft, ans Tageslicht komme. Hoffentlich sehe ich das Tageslicht wieder, komme ich heil zu meiner Familie zurück. Wie mag wohl das Wetter heute mittag sein? Langsam wird der Förderkorb abgebremst. Ich sehe das Leuchtstofflampenlicht der vierten Sohle. Es beginnt wieder ein trostloser Tag, mir kommt es vor als wäre es Nacht.«5 30-40 Jahre wird dieser Bergmann so leben. Obwohl er nicht in materieller Armut lebt,. an seinem Arbeitsplatz und in der Freizeit lebt er elend und bedürftig. Am kulturellen, geselligen und am Gemeinde-Leben kann er als Schichtarbeiter nicht teilnehmen. Er wohnt mit seiner Familie an lärmreichen Straßen, wo die Schadstoffe der Luft, des »Dreckgemisches quer durch die giftige Chemie«6, die Gesundheit ruinieren, seine Kinder anfälliger gegenüber Infektionskrankheiten sein lassen als anderswo und die Lernfähigkeit seiner Kinder beeinträchtigen7 • Auch ökologisch gesehen lebt er arm, elend und bedürftig. Er erzählt weiter: »Manchmal habe ich Angst, daß mein Arbeitsplatz nicht sicher genug ist und daß nicht ich als Mensch im Mittelpunkt stehe, sondern die geförderte Tonne Kohle wichtiger ist als ich. Wenn ich krank werde, dann möchte ich ein vollwertiger Mensch bleiben. 20 Jahre und länger muß ich schuften, um ebensoviel zu verdienen wie ein Aufsichtsratmitglied in einem Jahr. Ist das gerecht?« Hört die christliche Gemeinde diese Stimme, oder überläßt sie die Lösung dieses Leidens vertrauensvoll den Gewerkschaften? Hört das Leben der Gemeinde am Zechentor auf? Die Angst davor, arbeitslos zu werden, und der Druck am Arbeitsplatz vereinzelt die Schichtarbeiter, läßt sie verstummen. 75
Lebt die christliche Gemeinde, wenn dieses Leiden in ihr zur Sprache kommt, wenn die Arbeitsplatzsituation besprochen werden kann, öffentlich gemacht wird und gemeinschaftlich überlegt wird, was getan werden kann, um die menschenunwürdigen Lebensbedingungen zu ändern? Kann ich diesem Bergmann glaubwürdig die frohe Botschaft verkündigen, daß der Mensch angenommen, geliebt und schön ist, bevor er etwas leistet, obwohl er das an seinem Arbeitsplatz nicht erfährt? 2. Eine behinderte Frau Eine behinderte Frau, die von der Sozialhilfe lebt, wird in einer Gemeindegruppe behinderter und nichtbehinderter Menschen ermutigt, die ihr bisher verweigerte Anerkennung als 100% Behinderte vor einem Sozialgericht zu erkämpfen. Der vom Sozialgericht bestellte Gutachter schreibt sie 60% behindert. Sie will einen Gutachter eigener Wahl, muß aber nach den Gepflogenheiten der Sozialgerichte diesen Gutachter vorfinanzieren, was sie nicht kann. Sie bittet das Gericht, auf den Kostenvorschuß zu verzichten. Das Sozialgericht schreibt ihr: »Ein Verzicht auf den Kostenvorschuß bei finanziellem Unvermögen des Antragstellers würde eine ungerechtfertigte Bevorzugung gegenüber finanziell besser gestellten Antragstellern bedeuten. . .. teilen Sie uns mit, ob Sie eine gerichtliche Entscheidung wünschen oder Ihre Klage zurücknehmen.«8 Lebt die christliche Gemeinde, die im Kreuz Jesu alle Armut selig preise, indem sie diese Frau ermutigt, ihre Klage nicht zurückzunehmen und ihr den Kostenvorschuß zahlt? Lebt die christliche Gemeinde, indem sie gleichzeitig diese Frau ermutigt, ihr Unrecht öffentlich zu machen und nach den Gründen für die Entscheidung des Sozialgerichts zu fragen? 76
3. Obdachlose Menschen am Rande Zu den armen Menschen am Rande, die mitten unter uns leben und noch nicht einmal eine Gruppe sind, gehören die Obdachlosen. Sie wohnen an den Rändern der Städte in Notunterkünften, ihre Kohlen sind in der Küche gestapelt, weil sie im Keller gestohlen werden; 5 qm Raum steht jedem von ihnen mindestens zu; die Grundfläche eines Hundezwingers muß mindestens 6 qm groß sein 10 . Sie sind die 1,5 Millionen Asozialen, die keinen Mieterschutz genießen, nicht jeden Besucher empfangen und in der Regel auch kein Tier halten dürfen l1 . Ämter und Behörden verwalten dieses Elend. Sie entlasten sich gegenüber diesen Armen, indem sie sie belasten: »Armut ist eigene Schuld, eigene Schwäche und eigenes Versagen.«12 Obdachlose sind »bindungsscheu, verhalten sich gemeinschaftswidrig und sind arbeitsscheu« 13. Daher muß nicht die Armut behoben, sondern der Mensch verändert werden. »Obdachlos gewordene Familien werden bei Bewährung, d. h. pünktlicher Zahlung der Nutzungsgebühren, Sauberkeit und Einhalten der Hausordnung in eine bessere Unterkunft umgesetzt.«14 Sie erleben nicht, daß sie so wie sie sind angenommen, geliebt und geschätzt werden. Sie erfahren, daß eine soziale Benachteiligung, die andere bedingt: 80% ihrer Kinder besuchen Sonderschulen15 , und vom Obdachlosenasyl zum Strafvollzug ist es nicht weit 16 . Weil ihre Armut an den Rändern der Städte verwaltet wird, bleiben die Ursachen für Obdachlosigkeit verborgen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, steigende Mieten oder Sanierungsmaßnahmen im alten Wohnviertel. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktlage, Wohnungsmarkt und Obdachlosigkeit bzw. Nichtseßhaftigkeit. Die Gesamtzahl der Obdachlosen und Nichtseßhaften steigt parallel zur Arbeitslosenzahl 17 • Nichtseßhafte sind überwiegend in den Städten, in denen die Wohnungsmarktlage besonders angespannt ist. 77
Diese Menschen am Rande haben keine Organisation, keine Gewerkschaft, keine Interessengruppe, in der sie ihre Rechte öffentlich einklagen könnten. Sie sind noch nicht einmal eine Gruppe, weil die Kommunikation zwischen diesen Menschen mit gleichem Schicksal erschwert oder gänzlich unmöglich gemacht wird. Dies geschieht - beabsichtigt oder nicht -, wenn Obdachlose in verschiedene Teile der Stadt umgesiedelt werden 18 oder wenn der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit als Vorzug der bargeldlosen Auszahlung von Arbeitslosenunterstützung rühmt, »daß es draußen noch so ruhig bleibt... Hätten wir Schlangen vor den Arbeitsämtern sähe es wohl anders aus«19. Was erwarten diese Menschen von der christlichen Gemeinde? Viele von ihnen erwarten von Gott nichts, von der Kirche höchstens ein paar Mark oder einen Lebensmittelgutschein, Arbeit im Garten und Geschenke zu Weihnachten. Die christliche Gemeinde lebt, indem sie zur Gemeinschaft der Armen wird, in der Menschen am Rande sich als Gruppe und Gemeinschaft erfahren können, in der nichts von ihnen erwartet wird, in der sie mit Hilfe kirchlicher Einrichtungen ihre Rechte öffentlich zur Sprache bringen, in der sie sich ermutigen, Widerstand zu leisten, indem sie z. B. auch leerstehende Wohnungen besetzen. Sie erleben dann ihre Macht, weisen öffentlich auf Spekulanten hin, die erst modernisieren und sanieren, um dann hohe Mieten zu verlangen. Die christliche Gemeinde der Armen steht so den Hausbesetzern näher als den Hausbesitzern. Arme und Obdachlose müssen mehr Macht gewinnen, wenn sie ihre Lebensbedingungen ändern wollen. Sie verfügen über die wenigsten ökonomischen Mittel, über die geringste Macht und meistens auch über ein nur ungenügendes Wissen, um ihre Situation zu erkennen. Als Arbeiter können sie streiken, aber nicht als Arme. Sie verfügen über keine Institution wie die Betriebe und Industriezwei-
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ge, in denen oder um die herum sie sich organisieren könnten. Lebt die christliche Gemeinde, indem sie die Kirche der Lebensmittelgutscheine für die Armen ist oder zur Gemeinschaft der Armen wird? Lebt die christliche Gemeinde, indem sie mit den Armen die Lüge aufdeckt, daß jeder in unserer Gesellschaft eine Chance hat, sofern er nur will? Die Kirche verkündigt die frohe Botschaft der Armen, ihr Gott ist der Gott der kleinen Leute 2o . Warum aber fragt der Landstreicher: »klopfe ich an die haustür, bist du der besitzer. schleiche ich über den hof, kläffst du. will ich das ei greifen, schreist du nach der polente. les ich, um abzulenken, im kaffeesatz, weißt du es besser. drehe ich den dietrich im schloß, schlägst du alarm. selbst vor dem richter verteidigst du mich nicht. in den zellen spielst du den heimtückischen wärter. warum, so frag ich, stellst du dich, gott, zu denen, die haben?«21
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H. Heil den Armen »Heil den Armen im Geist, denn ihnen fällt die Herrschaft der Himmel zu« (Mt 5,3). 1. Arm bis in das Innerste der Existenz Arm im Geist, arm bis in das Innerste der Existenz 22 sind die Menschen am Rande, weil sie zusätzlich zu ihrem menschenunwürdigen Leben von sich selbst nichts mehr erwarten. Viele von ihnen erwarten nicht mehr, daß sich etwas ändert. Sie haben die von der Gesellschaft ihnen zudiktierte Schuld übernommen, sie identifizieren sich mit ihrer Lage. »Die da oben machen ja doch mit uns, was sie wollen.« Sie haben keine Sicherheiten, »keine eigene geistliche Kraft, Erfahrung, Erkenntnis, auf die sie sich berufen, deren sie sich trösten können«23. Es ist selbstverständlich, daß ihre elende und bedürftige Situation kein Grund zur Seligpreisung sein kann. Sie erwarten nichts mehr von sich, aber auch nicht alles von Gott. Sie sind nicht deshalb empfänglich für das Evangelium, weil sie ihr Leben nicht mehr selbst gestalten können. Sie versuchen in ihrem Alltag »über die Runden zu kommen«. »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Sind sie deshalb hier in dieser Seligpreisung nicht gemeint? Werden sie diese seliggepriesenen Armen nur, »indem sie in ihrem harten sozialen Geschick ihre Hoffnung auf Gott setzen und Hilfe alleine bei ihm suchen«24. Können die Armen ausgeschlossen werden, die ihre Hoffnung noch nicht und vielleicht nie auf Gott setzen? Wie muß auf Menschen, die nicht handeln, die viel eher gelebt und gehandelt werden, wie muß auf diese Menschen der häufig vorgetragene theologische Spitzensatz wirken: »Der Mensch darf nicht zum Akteur der sich verändernden Verhältnisse und zur Schlüsselfigur werden, die das Reich Gottes heraufführt«25?
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Was für den Bereich der Genetik und Atomenergie, für Aufrüstung und Wirtschaft ethische Bedeutung haben mag, auf Arme wirkt es lähmend, auf die, die allererst wieder Mut und Hoffnung bekommen müssen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. »Heil den Armen im Geist«, das beinhaltet mehr als ein Rechtsanspruch auf Versorgung und Sozialhilfe, mehr als eine rechtliche Absicherung gegenüber dem Reichen (Ex 23,2-9), mehr als Besitzausgleich (Dtu 15,1-18). Es ist die Hoffnung der Armen, glücklich zu werden, zu lachen und satt zu sein. Jesus begegnen heißt, vereinzelte Arme erleben sich als Gemeinschaft: Sie erwarten etwas von sich, sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand, sie schreien nach Gerechtigkeit, sie erfahren sich als Macht, sie werden ermutigt, Widerstand zu leisten, sie versuchen ihre Hoffnung nicht aufzugeben, auch wenn sie lebenslang im Widerstand leben müssen. 2. Gemeinschaft der Armen So entsteht dann eine christliche Gemeinde, die teilbekommen hat an Jesu Macht, deren Verkündigung Geschehnis ist und deren Hoffnung Veränderung beinhaltet. Sie wird nicht Kirche für die Armen und für die Menschen am ~Rande sein, die immer zu spät kommt, wenn Menschen schon arm, krank, obdachlos und elend geworden sind. Sie wird über die Kirche mit den Armen 26 zur Gemeinschaft der Armen werden, die auch danach fragt, wie verhindert werden kann, daß Menschen arm und elend werden. Sie wird nicht freiwillig auf ihren Besitz verzichten. Sie wird ihren Besitz und ihren Reichtum verlieren, weil und indem sie zur Gemeinschaft der Armen wird, die in Konflikt gerät mit Ämtern und Behörden und mit wirtschaftlich Mächtigen. Sie wird hoffen, daß die Teufelsmächte vernichtet werden, die Menschen dazu verführen, eher das Maschinenmögliche als das Menschenmögliche zu tun, Rentabilität und Gewinn für wichtiger zu halten als Leben, Unver81
sehrtheit und Gesundheit des Menschen und als den sanften (ja sanftmütigen) Umgang mit der Natur 27 und Umwelt des Menschen. Die christliche Gemeinde wird dann auch entdecken, daß Gewalt, Krieg und Rüstung Auswüchse des Wohlstandes und des sogenannten Wirtschaftswachstums sind. Sie wird erfahren, daß die Hoffnung auf Frieden am Evangelium der Armen hängt28. Leidtragende der Rüstung sind die Armen. Gekürzt werden z. Z. Etats für Behinderte, jugendliche Arbeitslose und Selbsthilfegruppen.
3. Freiwillige Selbstverpflichtung? »Heil den Armen im Geist« beinhaltet dies die Verpflichtung, ja Selbstverpflichtung, freiwillig zu verzichten, um »des Dienstes an den Armen, Mißhandelten, Elenden willen«29? Einmal in der Woche bescheiden essen; einmal anstelle von Fernsehen für die Familie da sein; einmal im Monat am Sonntag auf das Auto verzichten; freiwillig Energie einsparen; Jute statt Plastik und Leben auf dem Lande 3o • Sich selbst verpflichten und freiwillig verzichten, kann nur der, der etwas hat und ist. Ist das freiwillige Verzichten die Voraussetzung für die Nachfolge, wie in der Geschichte vom reichen Jüngling, oder führt das Zusammenleben, die Gemeinschaft mit Menschen am Rande zu einem anderen Lebensstil, wo ich dann entdecke und erlebe, daß arm werden, anders leben und freiwillig verzichten häufig vom schwächsten Glied in der Kette der menschlichen Gemeinschaft erwartet wird? Es ist eben einfacher, vom einzelnen einen anderen Lebensstil zu verlangen, als z. B. die Herstellung und den Verkauf von Wegwerffeuerzeugen zu unterbinden, die Vergeudung durch Manöver und Übungsflüge der Luftwaffe aufzugeben oder die Abwärme der Industrie zu nutzen 31 . Nachfolge Jesu, muß das nicht auch bezogen werden auf Warenproduktion und wirtschaftliche
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Strukturen, oder gibt es Bereiche, die ausgeschlossen sind von der Armut Jesu Christi? Von hier aus ist zu bedenken, ob wir von Gott sprechen als dem Herrn, dem Herrscher und König, der freiwillig auf sein Herr-Sein und Herrschen, der freiwillig auf seine Macht verzichtet hat, um Knecht und um Leidender zu werden. Oder ob wir von Jesus Christus erzählen, der arm ist, der verfolgt, unterdrückt und elend ist, der aber am Kreuz und über das Kreuz hinaus nicht aufgegeben hat zu hoffen, daß die Teufelsmächte vernichtet werden: Alle Tränen werden abgewischt, die Armen werden lachen, es gibt den Tod nicht mehr, keine Trauer, keine Klage und auch keine Not (Offb 21). Dies ist die Verheißung, die Grund genug ist für die Seligpreisung der Armen.
4. Schrei nach Gerechtigkeit Wenn ich versuche mit Mt 5,3 zu leben, dann wird für mich die Frage nach Gott zum Schrei nach Gerechtigkeit. Ja, die ganze Frage, ob es Gott gibt oder nicht, ist für mich eine leere Frage, entscheidend ist der Schrei nach Gerechtigkeit von unten, der identisch ist mit der Frage nach Gott 32 • Dieser Schrei nach Gerechtigkeit verstummt häufig und wird oft unterdrückt. Aufgabe der christlichen Gemeinde ist es, ihn öffentlich zu machen. Nicht der barmherzige Gott, der sich den Armen zuwendet, der sich ihrer annimmt, steht dann im Mittelpunkt des Bekennens, sondern der Gott, d~r die Hoffnung der Armen ist und mit ihnen nach Gerechtigkeit schreit. »Heil den Armen im Geist, denn ihnen fällt die Herrschaft der Himmel zu.« Hier wird den noch machtlosen Armen Macht und Herrschaft verheißen. Bedeutet das nicht, daß christliche Gemeinden auch über den Gebrauch und Umgang mit Macht reden müssen? Über Macht wird selten gesprochen, viel lieber über »Schwestern und Brüder«, 83
»Lieben und Dienen«. Und Macht wird gebraucht und angewandt. Die Macht wird anders. verteilt, wenn die Menschen am Rande, die Armen mächtig werden sollen. Das wird dann eine Macht sein, die nicht der eigenen Machterweiterung auf Kosten anderer, sondern dem Frieden dient. Nicht Strafe soll die Reichen treffen, sondern Ausgleich (Lk 1,53). Leben mit Mt 5,3, das heißt für mich: Die Gemeinschaft der Christen verwirklicht sich da, wo Menschen am Rande nicht resignieren müssen, wo sie hoffen können, wo eigentlich nichts mehr zu hoffen ist. Diese Gemeinschaft der Christen wird gelebt und besprochen, erzählt und erfahren, gefeiert und erkämpft im täglichen Kleinkram. Wer im täglichen Elend seinen Nachbarn kenneruernen kann, wer Kämpfe durchsteht, der erlebt geübte Gemeinschaft in kleinen Dingen. Daran, wie Menschen am Rande sich verwirklichen können, wird unsere Gemeinschaft gemessen werden. Solange aber die Menschenwürde mit Füßen getreten wird und unsere Umwelt bewußt vernichtet, vergiftet und zerstört wird ohne Rücksicht auf uns und unsere Kinder, nur um des Gewinns willen, solange der Schichtarbeiter kratik wird durch seine Arbeit und alle sozialen Kontakte verliert, solange der Arbeiter sagt »Ich ackere von früh bis spät, da habe ich keine Zeit für Solidarität«, solange wird die Gemeinschaft der Armen, die Gemeinschaft der Menschen am Rande ein Traum sein. Aber für diesen Traum, für diese Verheißung lohnt es sich zu leben und zu kämpfen, weil wir gleich viel wert sind, unabhängig von dem, was wir leisten, besitzen oder können, weil wir liebenswert, bejaht und angenommen sind, so wie wir sind. Diesen Traum, diese Hoffnung haben wir noch. Solange sie uns nicht genommen sind, sind wir noch nicht verloren.
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IH. Wie lebe ich? Dietrich Bonhoeffer sagt in der »Nachfolge« an einer Stelle, daß das Gebot Jesu bejaht wird, indem der Mensch frei von sich, statt noch mehr in sich gefangen wird 33 . Frei von sich sein: Frei davon, Pastor für alle in einer Kirche für alle zu sein, sondern als Gemeindeglied unter Gemeindegliedern zu leben und Partei zu ergreifen. Frei davon, daß die Zahl der Gottesdienstbesucher, die Höhe der Spenden und Kollekten, die Zahl der Kircheneintritte und -austritte Erfolg oder Mißerfolg bedeuten. Frei von der Sicherheit einer beamteten Stellung. Frei davon, von anderen bestätigt zu werden. Frei davon, daß Druckmittel der Kirchenleitung mich einschüchtern. Frei von einer bestimmten Gehaltsgruppe. Frei von meiner Angst, die mich lähmt. Das gelingt nur manchmal und nur in der Gemeinschaft, in der ich mich geborgen fühle, in der ich mir und anderen eingestehen kann, wie schwer es für mich ist und wie schwer es einem gemacht wird, über das eigene Leiden und das eigene Arm-Sein zu sprechen. Ich erlebe, daß ein Stein nicht blühen kann, und wir werden die Verhältnisse auch nicht zum Singen bringen, aber wir finden uns nicht mit der Welt ab, wie sie ist. Lassen Sie mich schließen mit zwei kurzen Texten. Zunächst das Wort eines türkischen Dichters: »Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, ist unsere Sehnsucht.«34 »Es beginnt erst der Mensch, wo die Ausbeutung endet, wo das Brot, das du ißt keinen würgt, 85
wo die Frau ihren Pfennig nicht tausendmal wendet, wo das Leben das Leben verbürgt. Es beginnt erst der Mensch, wo das Sterben verständlich, weil die Jahre zur Neige gelebt, und wo endlich der menschliche Friede unendlich, wo das Schwert keine Gräber mehr gräbt. Es beginnt erst der Mensch, wo die Herzen erklingen, wo die Flamme der Menschlichkeit brennt, und wo Hände die toten Gesteine bezwingen, wo der Mensch sich zum Menschen bekennt.«35
Anmerkungen 1. Zitiert nach U. Seidel/ D. Zils (Hsg.), Aktion Politisches Nachtgebet, Wuppertal1971, 216; vgl. dazu: Helder Camara, Ist Gewalt der einzige Weg?, in: E. Feil / R. Weth, Diskussion zur Theologie der Revolution, München/Mainz 1969, 269 und L. Ossa, Die Revolution - das ist ein Buch und ein freier Mensch, Hamburg 1973, 163f. 2. Vgl. Statistisches Jahrbuch 1979, hg. vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden; dazu: Thema: Armut in Deutschland, Zeitschrift »Diakonie«, Heft 2/1980, Stuttgart. 3. Vgl. Lebensbedingungen in der Bundesrepublik, hg. von einer Forschergruppe an den Universitäten Frankfurt und Mannheim im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn 1977. 4. Vincenzo, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 11/1973, Frankfurtl Main 38. 5. Bericht des Bergmannes Detlef Spill, Gelsenkirchen-Buer-Hassel. 6. »stern«, Heft 37/1979, 33. 7. Vgl. Luft-Reinhalteplan Ruhrgebiet West 1978-1982, hg. vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW, Düsseldorf 1977, bes. 337ft. 8. Sozialgericht Gelsenkirchen, Schreiben vom 26. 9. 78, Az: S 19 V 53/77. 9. Vgl. D. Bonhoeffer, Nachfolge, München, 111976, 82f. 10. Vgl. dazu: U. Christiansen, Obdachlos weil arm. Gesellschaftliche Reaktionen auf die Armut, Lollar 1977; Unterprivilegiert. Eine Studie über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland, hg. von der Spiegel-Redaktion, Neuwied/Berlin 1973, 1-37; Jugendliche
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im sozialen Brennpunkt, hg. vom Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München, 1977; Schlechte Schüler gibt es nicht im handelnden Unterricht. Arbeit in den städtischen Unterkunftsanlagen über die Bereiche Vorschule und Schule, hg. vom Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München, 1977. 11. Vgl. Unterprivilegiert, aaO. 1-37. 12. Obdachlosigkeit - eine Stadt aus der Randperspektive, Köln, in: Aktion Politisches Nachtgebet, Wuppertal 1971, 213. 13. AaO. 217f. 14. AaO. 213. 15. Vgl. U. Christiansen, Obdachlos weil arm, aaO. 101f; dazu: Vaskovics u. a., Stand der Forschung über Obdachlose und Hilfen für Obdachlose, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1979. 16. Vgl. Arbeitskreis junger Kriminologen (Hg.), Randgruppenarbeit. Analysen und Projekte aus der Arbeit mit Obdachlosen, München 1973. 17. K.-H. Marciniak, Die Armut der Nichtseßhaften und die Armut der Sozialarbeit, in: Diakonie, 2/1980, 102f. 18. H.-I. Harborth, Anmerkungen zum Randgruppenproblem aus ökonomischer Sicht, Diskussionspapier, Aachen 1977, 5. 19. In: Handelsblatt vom 4.3.76, zitiert bei: V. Brandes, Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, 1977,214. 20. Vgl. dazu: W. Schottroff / W. Stegemann, Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Auslegungen, Neues Testament, München/Gelnhausen 1979. 21. Fr. Hauser, in: Das baugerüst, Nümberg 1/80. 22. Vgl. G. Eichholz, Auslegung der Bergpredigt, Neukirchen-Vluyn, 1978,34. 23. D. Bonhoeffer, Nachfolge, aaO 82. 24. Zwischenbericht der theologischen Kommission zum Unterthema von Melbourne »Das Reich Gottes und die Armen«, zitiert in: Diakonie, Heft 2/80, 77; vgl. auch G. Eichholz, aaO., der zustimmend Julius Schniewind zitiert, 33. 25. Th. Schober, Armut im Gespräch, in: Diakonie, 2/1980, 77. 26. Vgl. A. Tevoedjre, Armut - Reichtum der Völker, Wuppertal 1980. 27. Vgl. H. Swoboda, Der Kampf gegen die Zukunft, Frankfurt/Main 1978, 158: »Es schickt sich für einen Atheisten ganz und gar nicht, aus der Bibel Prophezeiungen zu entlehnen, aber ich komme immer mehr zu der Ansicht, daß die Worte der Bergpredigt >Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen< auch in einem sehr buchstäblichen Sinne
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wahr werden könnten. Es ist eindrucksvoll, Luthers Marginalie zu dieser Stelle zu lesen. Da heißt es als Anmerkung zu ,besitzen<: ,Die Welt vermeinet die Erden zu besitzen, vnd das jre zu schutzen, wenn sie gewalt vbet. Aber Christus leret, das man die Erden mit sanfftmütigkeit besitze.< Das ist die wahrhaft christliche Deutung des Dominium-terrae-Auftrags: die Gewaltausübung, die Vergewaltigung der Natur bedeutet nicht den wahren Besitz der Erde. Dieser sinnvolle Besitz ist vielmehr die sanftmütige Nutznießung - und man ist bei dem Wort 'sanftmütig< versucht, an jene ,soft technology< zu denken, die weit eher den Besitz der Erde sichern wird als die Gewaltdemonstrationen der Superstaudämme und der Kernexplosionen. « 28. VgI. L. Schottroff, Die Befreiung von Geld und Gewalt, in: Junge Kirche, 1/1981, 14-21. 29. D. Bonhoeffer, Nachfolge, aaO. 182. 30. VgI. auch »Neue Arbeit GmbH«; »Entschuldungsfonds für Straffällige und Strafentlassene«; Aktion »e« von Brot für die Welt, in: Diakonie, aaO.93f. 31. VgI. J. Kraft, Wozu die Energie? Anmerkungen zum Sparen und Verschwenden, in: Die Zeit, 29. 1. 81, 37. R. Todd, Die Gretchenfrage der modemen Industriegesellschaft, in: Frankfurter Rundschau, 2. 2. 81, Überschuß trotz überdruß, in: Wirtschaftswoche, Nr. 48/1980, 27f. 32. VgI. H.-J. Iwand, Nachgelassene Werke, Band 2, München 1966, 54. 33. D. Bonhoeffer, Nachfolge, aaO 59. 34. Nazim Hikmet, Sie haben Angst vor unseren Liedern, hg. vom Türkischen Akaderniker- und Künstlerverein, Berlin 1977, Urnschlagrückseite. 35. In: Aktion Politisches Nachtgebet, aaO. 261.
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Helmut Gollwitzer Bergpredigt und Zwei-Reiche-Lehre
I. Jesu Verkündigung und der Christus des Glaubens 1.1 Mit Bergpredigt ist sowohl die Spruch sammlung Mt 5-7 und Lk 6 wie auch Jesu ganze Umkehrpredigt gemeint. 1.2 Die Frage nach der Bedeutung der BP für uns heute ist identisch mit der Frage nach der Bedeutung Jesu für uns heute - und zwar des Menschen Jesus, des irdischen, des »historischen Jesus« für uns heute. 1.3 In der kirchlichen Verkündigung trat die Ausrufung der Heilstat Gottes für uns in Kreuz und Auferstehung Jesu vor die Weitergabe der von Jesus geforderten Lebensänderung. 1.4 Das vielerörterte Thema »J esus und Paulus« betrifft auch die Frage, inwiefern die neue Botschaft die alte Gesellschaft angreift oder nicht. 1.5 Faktisch ist der Übergang vom Verkündiger Jesus zum verkündigten J esus auch eine Abschwächung des Angriffs J esu auf die bestehende Gesellschaft gewesen. Ernst Troeltsch spricht deshalb vom »Konservatismus« des Paulus, und Erich Fromm sagt: »Die Wandlung des Christusdogmas wie der ganzen christlichen Religion entsprach nur der soziologischen Funktion der Religion überhaupt, die gesellschaftliche Stabilität unter Wahrung der Interessen der herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten« (»Das Christusdogma«, München 1963, 67). 1.6 In der Geschichte von Kirche und Theologie findet sich nebeneinander die Zurücksetzung der Verkündigung Jesu hinter die Christusverkündigung und deren paulini-
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sche Lehrfassung (Beispiele: Athanasianum, Luthertum, . Bultmann) und die Berufung auf die radikale Predigt Jesu, erstere bei der kirchenoffiziellen Theologie, letztere bei den sozialen Ketzerbewegungen. Hinter der Frage nach dem »historischen J esus« und nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus steht immer auch die soziale Problematik: der von der gesellschaftlich anerkannten Kirche gelehrte Christus und der heimatlose Mann von Nazareth, mit dem immer wieder unterdrückte Menschen sich identifizieren. 1.7 Die Schlußfolgerung aus diesem Sachverhalt wird nicht in einem Entweder-Oder bestehen dürfen. Die theologische Aufgabe ist das Zusammenhören des verkündigenden und des verkündigten Jesus, die Verhütung einer Konkurrenz zwischen beiden. 1.8 Die Autorität der Bergpredigt hängt an dem, was das christologische Dogma von Jesus sagt. Ohne Kreuz und Auferstehung wäre die Bergpredigt für uns nur moralischer, ohnmächtiger Appell. Echte Verbindlichkeit bekommt sie nur, wenn Realität hinter ihr steht. Das meint die Formel von der »Erfüllung der Bergpredigt durch Jesus Christus« (Luther, Thurneysen, Barth). 1.9 Das Verständnis der Botschaft Jesu als nova lex hätte eine die bestehende Gesellschaft bedrohende Wirkung gehabt, wenn diese nicht seit dem Frühkatholizismus aufgefangen worden wäre durch die Unterscheidung von Durchschnittschristen, für die die mandata des Dekalogs, und besonders Berufenen, für die die consilia der Bergpredigt richtungsweisend sind. 1.10 Die lutherische Nacheinanderordnung von Gesetz und Evangelium reihte Jesu Predigt ein in den Bereich der Vor-läufigkeit des Gesetzes im usus paedagogicus, darum konsequent bei Bultmann ins Judentum (»Theologie des Neuen Testamentes«, Tübingen 1968 6 , lf). »Die Urgemeinde hat den Schritt von Verheißung zur Erfüllung, von der Ankündigung des Heils durch Jesuszum Kommen des Heils im Geschick J esu so stark empfunden, daß sie die
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Stufe der Verheißung in dem Geschehen der Erfüllung >aufgehoben< wußte ... Der Weg von Jesus zu Jesus Christus ist der Weg vom alten zum neuen Bund, der Weg von der Hoffnung auf Heil zum Heil in der Hoffnung« (W. Schmithals, »Kein Streit um des Kaisers Bart«, in: Evangelische Kommentare, 8/1970, 81). 1.11 Gegen solche heils geschichtliche Reihenfolge spricht, daß die damit geschehene Abwertung der Predigt J esu ihre Entbehrlichkeit zur Folge hat (das bloße »Daß« Jesu bei Bultmann), was sicher nicht die Meinung der Urgemeinde bei der Überlieferung der Predigt J esu gewesen ist. Die Stimme J esu ist vielmehr die Stimme des Heils selber. Die Predigt Jesu spirat resurrectionem (Bengel). Der Unterschied der Zeiten ante et post Christum Crucifixum et resurrectum ist nicht der Unterschied von Gesetz und Evangelium, sondern der Unterschied der »Zeit der Erwartung« und der »Zeit der Erinnerung« (Barth), welch letztere wiederum eine Zeit gestärkter Erwartung ist. Darum steht auch Israel nicht nur in der Hoffnung auf das Heil, sondern im Heil, in dem einen Bund, der schon der Bund Abrahams ist (Calvin); und der »neue Bund« (Jer 31; Hes 34) ist weder die Ausstoßung Israels aus dem Bund noch die Ersetzung des Abrahambundes durch einen anderen, sondern die zuerst Israel zugesagte Erfüllung des einen Bundes in neuer Gegenwart des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs für Israel und für die Völker. 1.12 Darum ist die Predigt Jesu nicht »Stufe« zum Heil, sondern gehört in die Erfüllung des Heils.
II. Bergpredigt und Zwei-Reiche-Lehre bei Luther 2.1 Zwischen Luthers und der von ihm abgelehnten römischen Auffassung der Bergpredigt besteht eine wichtige Gemeinsamkeit: In beiden Fällen wird die Bergpredigt 91
gelesen als eine rigorose Forderung, die den Einzelnen in einen harten Gegensatz zur Realität stellt, zur Realität um ihn und zur Realität in ihm. In beiden Fällen soll der Christ realitätsfähig gemacht werden und doch Christ bleiben. 2.2 Der Unterschied: Luther sah in der römischen Unterscheidung von mandata und consilia einen Versuch, den Christen die Forderung der Bergpredigt zu ersparen. Demgegenüber ging es ihm darum, jeden Christen als Jünger Jesu anzusehen und deshalb die Bergpredigt als Forderung an jeden Christen unabgeschwächt festzuhalten. 2.3 In Luthers theologischem System gehört die Bergpredigt in den Bereich des göttlichen Gesetzes als dessen schärfster Ausdruck. In Luthers Predigten ist die Bergpredigt auch Wort des Auferstandenen, also Wort des Heils, Evangelium in der Form des Gesetzes (Barth; vgl. Gerhard Heintze, »Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium«, München 1958). 2.4 Entsprechend tritt in Luthers gesamter Theologie a) einerseits die Bergpredigt als Form des Gesetzes hinter das Evangelium von Gottes Vergebung zurück und verliert ihren Charakter als Anspruch des Heils in Christus an die Jüngergemeinde, b) andererseits das Gesetz als Forderung Gottes an den Menschen vor das Evangelium, wo es um das weltliche Handeln des Christen geht, und die Bergpredigt verliert damit ihren Charakter als Aufforderung zu einem veränderten und verändernden Verhalten. 2.5 Luthers Bemühen war, den Anspruch der Bergpredigt an den Christen, den Anspruch des neuen Lebens, nicht abzuschwächen und dennoch den Christen realitätsfähig zu machen zu verantwortlichem, die Gesellschaft besserndem Handeln in der Welt. Dem diente seine Form der ZweiReiche-Lehre, insbesondere seine Unterscheidung von Person und Amt. So ist das Resümee von Paul Althaus zu verstehen: »Luthers Anweisung zum Leben hat die Bergpredigt Jesu nicht verraten, sondern hell leuchten lassen« (»Luther und die Bergpredigt«, in: Mitteilungen der Luthergesellschaft, 1956, Heft 1). 92
2.6 Luther sah den Jünger Jesu als einen Menschen, dem der Gegensatz der Gott verlassenden Welt zu Gott aufs schärfste bewußt wird, und zwar als der Gegensatz der Welt-Realität um ihn wie der Welt-Realität in ihm zu Jesus und dem neuen Leben. Damit entdeckte er den radikalen Sinn der Jüngerschaft, ihren Gegensatz zu der uns umgebenden und uns innerlich prägenden Gewalt- und Egoismusstruktur der Welt. 2.7 Luther dachte immer die Kirche anders als die Welt und die »Kirche für die Welt« (Bonhoeffer) zusammen. Darum wollte er die Kirche als eine herrschaftsfreie Bruderschaft und zugleich die Mitarbeit der Christen in der durch Herrschaftsstrukturen geordneten Welt. Er dachte in bezug auf Evangelium und Kirche strikt anarchistisch, in bezug auf die Welt strikt herrschaftlich. 2.8 Luther hat nicht, wie oft dargestellt, den Christen dualistisch auseinandergerissen in eine »Christperson« und eine »Welt-« oder »Amtsperson«. Ihm ging es vielmehr gerade um die Einheit des Christen angesichts der faktischen Dualität des alten und des neuen Lebens, der Welt als des Bereichs des alten Lebens und der Kirche als des Bereichs des neuen Lebens. Der eine Christ nimmt als Mensch des neuen Lebens teil an dem alten Leben der Welt, das er nicht beseitigen kann: a) unvermeidlich, da er weiterhin Mitglied der vom alten Leben geprägten Gesellschaft ist; b) unvermeidlich, da er immer noch auch ein Mensch des alten Lebens ist (simul justus et peccator); c) mit einem neuen Auftrag, sofern er als neuer Mensch befreit ist zum selbstlosen Dienst in der alten Welt für die alte Welt, zu ihrer Erhaltung und Besserung. 2.9 Die Möglichkeit, die alte Welt zu bessern, steht unter dem eschatologischen Vorbehalt, unter den aus menschlicher Kraft nicht aufzuhebenden Rahmenbedingungen der alten Menschheit. Auch der Christ kann Sünde und Tod nicht beseitigen, weder um sich noch in sich. Die Bösen können und sollen nicht ausgerottet werden (Th. Müntzer), aber das Böse kann und soll so weit eingedämmt werden, 93
daß die Menschen sich und ihre Lebensmöglichkeiten nicht selbst zerstören. Zur Verhinderung gänzlicher Selbstzerstörung dient den Menschen ihre ihnen von Gott trotz ihrer Sünde gelassene Vernunft. Der stets neu durch die Wandlungsmacht des heiligen Geistes zur Selbstlosigkeit befreite Christ dient mit seiner von der Liebe geleiteten Vernunft in Zusammenarbeit mit anderen der Selbstzerstörung vernünftig entgegenarbeitenden Menschen den lebenserhaltenden Ordnungen in der alten Gesellschaft. Dieses »konservative« Tun hat ein eschatologisches Telos: das irdische Leben geistlich alter Menschen, der Kains-Menschen, will Gott erhalten wissen, damit sie Hörer des Evangeliums werden können. Um sie für sein Regiment zur Rechten zu gewinnen, erhält Gott den Menschen ihr irdisches Leben durch sein Regiment zur Linken. 2.10 Für diese Mitarbeit an der Welterhaltung ist der Christ ausgerüstet durch das Gesetz im usus civilis seu politicus. An ihm haben alle Menschen teil dank der lex naturalis. Weil deren Inhalt durch die Sünde verdunkel ist, ist sie im biblischen Gesetz, der lex moralis der Thora, von Gott wieder klargestellt, im Dekalog ebenso wie in der Goldenen Regel (Mt 7,12). Dies, nicht aber die besonderen Gebote der Bergpredigt, ist »politischer Maßstab« für das Handeln der Christen in der Welt. (Wenn die Erklärung »Sicherung des Friedens«, 1980, auch die Bergpredigt als »politischen Maßstab« versteht, so ist das ein Fortschritt über Luther hinaus, aber nicht im Sinne Luthers!) 2.11 Die Bergpredigt mit ihrer Radikalisierung des Dekalogs beschreibt einerseits die neue Möglichkeit des zu selbstlosem Dienst durch den heiligen Geist befreiten Christen, andererseits zeigt sie als schärfster Ausdruck der göttlichen Forderung dem Christen im Gewissensgericht coram Deo sein unverändertes Sündersein, seine bleibende Vergebungsbedürftigkeit (usus elenchthicus). 2.12 In Luthers Lehre vom Gegensatz von Gesetz und Evangelium bekam diese unserer Sünders ein entlarvende Funktion der Bergpredigt ein solches Übergewicht, daß die
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Verheißung eines real neuen Lebens durch die Wandlungsmacht des heiligen Geistes zwar in seinen Predigten über Texte aus der Bergpredigt vorkommt, aber den Geboten der Bergpredigt keine inhaltliche Bedeutung für das Wirken des Christen in der Welt läßt. Sie ergeben nur den allgemeinen Hinweis auf die im weltlichen Amt geforderte Selbstlosigkeit. Wo sie inhaltlich geltend gemacht werdenetwa von den Täufern -, setzt Luther ständig die Notwendigkeiten des weltlichen Amtes in der weltlichen Realität dagegen, die auch von Jesus nicht aufgehoben worden seien (so besonders Eidespflicht und Schwertamt). Dadurch wird ihre inhaltliche Bedeutung ebenso ausgeschaltet wie durch die Zuspitzung ihrer Forderung auf die innersten Regungen des Herzens. So muß wider ihren Wortlaut die impossibilitas legis behauptet werden: Jesus habe gar nicht die Erfüllung seiner Forderungen im Auge. 2.13 »So geht beides fein miteinander zusammen, daß du zugleich dem Reich Gottes und dem Reich der Welt äußerlich und innerlich Genüge leistet, daß du zugleich Übel und Unrecht leidest und doch Übel und Unrecht strafst, zugleich dem Übel nicht widerstehst und doch widerstehst. Denn mit dem einen siehst du auf dich und das Deine, mit dem anderen auf den Nächsten und das Seine. Wo es dich und das Deine angeht, da verhältst du dich nach dem Evangelium und leidest als ein rechter Christ für deine eigene Person Unrecht; wo es den anderen und das Seine angeht, da verhältst du dich nach der Liebe und leidest kein Unrecht für deinen Nächsten; und das verbietet das Evangelium nicht, ja vielmehr gebietet es das an anderer Stelle« - gemeint ist z. B. Röm 13 - (»Von weltlicher Obrigkeit«, 1523; WA 11, 255; Textfassung nach GTB 404, 26). 2.14 Dies ist der Kernsatz von Luthers Zwei-ReicheLehre. Er enthält ihre Wahrheit: Wo es um das Recht des Nächsten geht, verlangt die Liebe, daß wir uns nicht die Hände sauber halten durch Abstinenz von der Gewalt, sondern die Gewaltmittel, mit denen in der Welt die 95
Stärkeren die Schwächeren vergewaltigen, gegen die Stärkeren zum Schutz der Schwächeren einsetzen. Das gilt sowohl für die Beteiligung am gesellschaftlichen Rechtswesen wie - in einer von Luther nicht gesehenen Konsequenz - für den Widerstand gegen unrecht handelnde Obrigkeit. 2.15 Luther hat diese logische Konsequenz nicht gezogen aus einem jenem Kernsatz fremden Motiv, aus seiner Obrigkeitslehre. Während jener Kernsatz, für sich betrachtet, das Widerstandsrecht gegen unrecht handelnde Obrigkeit zur Widerstandspflicht der Liebe macht, blockiert Luther die Liebe durch eine Tabuisierung der Obrigkeit, gegen die er nur passiven Widerstand (Leiden, Auswanderung) und Kritik nur durch die berufenen (geistlichen und weltlichen) Amtsträger erlaubt. Seine Ordnungsangst fällt der Liebe in den Arm. Die gesellschafts- und obrigkeitskritische Konsequenz seines Kernsatzes wird abgeblockt, und seine Aufforderung zur Teilnahme des Christen am weltlichen Amt wird infolgedessen positivistisch-affirmativ. Hierin liegt ein Hauptschaden seiner Zwei-Reiche-Lehre.
111. Die Bergpredigt als Auslegung der Thora 3.1 Leonhard Ragaz (Vorwort zu seiner Auslegung der Bergpredigt 1945; GTB 451,9): Der »fundamentale Fehler« in der traditionellen Auslegung der Bergpredigt: »Man hat sie rein individualistisch verstanden, das heißt rein als Verheißung und Forderung für den Einzelnen, und hat das, was wir mit einem freilich etwas belasteten Worte ihren sozialen Sinn nennen können, und der, wie in der ganzen Botschaft Jesu, der fundamentale ist, fast völlig übersehen.« 3.2 »Der Jude Jesus wirkt unter Juden und will nur unter ihnen wirken« (David Flusser, »Jesus«, Rowohlt-BildMonographien 140, 1968, 63). 3.3 Jesu Wirken gilt dem ganzen Volk Israel. Er verkün96
digt den nahe bevorstehenden Einbruch der Gottesherrschaft als das erfüllende Heil für Israel und damit für die Menschheit. Israels Gott hat sich entschlossen, bedingungslos Israels Heil zu sein (H. Merklein, »Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip«, Würzburg 1978). Das Kommen des Heils soll Motiv für gänzliche Lebensänderung sein. Jetzt schon darf und soll so gelebt werden, wie im Reich Gottes gelebt wird. Jesus malt die Gottesherrschaft nicht als Zustand aus, er beschreibt aber das der Gottesherrschaft entsprechende Leben, im besonderen in der Bergpredigt. Weil Gott ganz für Israel ist, kann in Israel real und radikal brüderlich gelebt werden. Nur umgriffen von dieser Heilsbotschaft ist in Jesu Predigt die Gerichtspredigt Johannes des Täufers enthalten: »Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr ebenso umkommen« (Lk 13,3). 3.4 Matthäus konzipiert die Bergpredigt als Aufdeckung des wahren Grundsinnes der Thora (Kap. 5,17-20). Wie die Propheten will Jesus Israel angesichts der bevorstehenden Gottesherrschaft zubereiten zu einem Volk, das· im wahren Thora-Gehorsam lebt. Wie der Umkehrruf der Propheten immer dem ganzen Volke gilt und zugleich jedem Einzelnen, der für das ganze Volk haftbar gemacht wird und mit seiner individuellen Umkehr bei sich selbst anfangen soll mit dem, was das ganze Volk tun soll, so sieht Jesus die Jüngergemeinde und jeden einzelnen Jünger als pars pro toto für das ganze Israel. 3.5 »Israel ist nicht auf Grund einer bestimmten Qualität auserwählt. Israel ist wegen der Bestimmung, die Er gegeben hat, auserwählt: Hüter Seiner Thora zu sein, sehen zu lassen, was Gemeinschaft von Menschen sein kann und Verbundenheit mit der Erde« (Yehuda Asch-Kenasi, in: B. Klappert/H. Starck [Hg.], »Umkehr und Erneuerung«, Neukirchen 1980, 205). 3.6 Ganz Israel ist eine von Gott gesetzte Bruderschaft. Unbrüderliches Verhalten ist also Abfall von Gott. Israels Sünde ist, daß man in Israel lebt wie sonst in den Völkern auch. »Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein« 97
(Dtu 15,4) - aber das jetzige Israel ist eine Unrechts- und Ausbeutungsgesellschaft ebenso wie die Gesellschaft der anderen Völker. 3.7 Im Unterschied zu den beiden anderen Erneuerungsbewegungen im damaligen Judentum, dem Pharisäismus und den Zeloten, sieht Jesus den Schaden Israels tiefer: weder begrenzt auf mangelnde religiöse Observanz noch auf die römische Fremdherrschaft und das ausbeuterische Steuersystem, sondern im Sozialverhalten und in der Sozialordnung einer Privilegiengesellschaft. 3.8 Wie die Thora auf das ganze Volksleben sich richtet, auf das Sozialverhalten der Menschen Israels und auf die Sozialordnung, so auch Jesu Predigt. Dabei überbietet Jesu Beschreibung des wahren, gerechten, dem Gott des Heils gemäßen Lebens die Bestimmungen der Thora ebenso, wie die Zeit der hereinbrechenden Gottesherrschaft die Zeit seit dem Sinai-Bunde überbietet. Die Thora-Bestimmungen trugen - besonders in ihren Gewalt- und Kult-Bestimmungen - dem Leben Israels in der vor-messianischen Zeit Rechnung. Darum konnten sie auch berechnend, kasuistisch, als starre Regeln religiöser Justiz verstanden werden. Jetzt, in der messianischen Zeit, in der Zeit der Verkündigung des messianischen Heils, muß uneingeschränkte Brüderlichkeit sich durchsetzen. Das ist der wahre Grundsinn der Thora. 3.9 Verheißungen wie Imperative der Bergpredigt zielen auf ein neu es Sozialverhalten, also nicht so sehr auf die Introspektion im Gewissensgericht (Luther) als vielmehr auf ein brüderliches Verhalten im Dienste des bedrängten Nächsten (Mt 25,37ff). Mit der Jüngerschar bildet Jesus eine Gruppe, die jetzt - in der messianischen Zeit als der Vorbereitungszeit auf die bald hereinbrechende Gottesherrschaft - ein neues Sozialverhalten lebt und dadurch als Licht, Salz und Sauerteig im Volksleben sich auswirken soll mit dem Ziele, daß endlich Israel als Ganzes Licht, Salz und Sauerteig unter den Völkern werde. 3.10 Neues Verhalten hat neue Verhältnisse, neue Sozial-
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ordnung zur Folge. Jesus hat - dies hat Luther richtig beobachtet - die Institutionen des Rechts und der öffentlichen Ordnung nicht aufheben wollen, damit auch nicht die Gewaltmittel, mit denen eine gerechte Ordnung in einer sündigen Menschheit gesichert werden muß. Aber es sollte eine Ordnung sein, die der Bestimmung Israels entspricht, eine gerechte und brüderliche Ordnung.
IV. Die Bergpredigt - ein Wort für uns heute 4.1 Dies ist es, was die Jünger alle Völker zu halten lehren sollen (Mt 28,20). Jesus ist damit bei seinem Volk wie bei seiner Kirche historisch gescheitert. Für das Israel seiner Zeit war die Ablehnung seines Weges und die Entscheidung für den zelotischen Weg die Ursache der nationalen Katastrophe. Jesu Kommen macht die Zeit zur Endzeit, zur messianischen Zeit, zur Vorbereitung für die nahe bevorstehende Gottesherrschaft. Die Umkehr, zu der er ruft, betrifft nicht nur eine Wendung im Inneren und im Religiösen, sondern bei den Völkern wie bei Israel eine Wendung im Sozialverhalten. Die Zuspitzung der Menschheitsentwicklung zur heutigen globalen Menschheitsgefahr verbietet es uns, die Umkehr für eine Utopie zu halten. Sie ist Gottes Ultimatum an uns (Max Scheler, 1914), in diesem ultimativen Jahrhundert. 4.2 Die Bergpredigt setzt uns auf den von ihr gewiesenen Weg in eine gerichtete Bewegung: hin auf ein anderes Sozialleben. Das ist in der Kirchengeschichte auf jenem schmalen Strang der sozialen Oppositionsbewegungen von den Waldensern bis zu den Religiösen Sozialisten besser, textgemäßer verstanden worden als in den Großkirchen. Sie haben - in den Schranken ihrer Zeit - die Bergpredigt als einen gesellschaftlichen Gegenentwurf gelesen. 4.3 Als Thora-Auslegung verstanden, bezieht sich die Bergpredigt auf das gesamte Gemeinschaftsleben, für die 99
Einzelnen und Gruppen auf ihr Sozialverhalten, für die Gesamtheit Israels auf die Sozialordnung. Was die Jüngergruppe beginnen soll, ist das richtige Leben, das für ganz Israel bestimmend werden soll. 4.4 Der Gegensatz zur damals bestehenden israelitischen Gesellschaft wie zu allen Gesellschaften bis heute zeigt sich am deutlichsten in der gegensätzlichen Beurteilung der Privilegien der verschiedensten Art. Privilegien, d. h. Vorteile vor anderen, erwachsen aus den faktischen Unterschieden, die es unter den Menschen immer geben wird. Die Bergpredigt beschreibt Bevorzugungssituationen als Dienstgelegenheiten. Damit greift sie die bestehenden Gesellschaftsordnungen an, weil sie aus Vorzügen Vorteile machen und diese Vorteile festschreiben und vererbbar machen in der Privilegiensicherung der Klassengesellschaften. Israel als brüderliche, solidarische Gesellschaft meint eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen den Menschen nicht zu gesicherten Privilegien der einen vor den anderen gerinnen; Israels Grundregel ist Mt 7,12. Weil heute die Menschheit am Kampf für die Aufrechterhaltung der Privilegienherrschaft zu sterben droht, ist die soziale Auslegung der Bergpredigt von höchster Aktualität. 4.5 Ohne das Bemühen um Sicherung von Privilegieninteressen gibt es keinen Staat. Es gibt den Staat entweder für sie oder gegen sie. Was die christliche Theologie als Auftrag des Staates zu beschreiben pflegt (Barmen V), wendet den Auftrag, den die Thora und die Bergpredigt jedem gibt, der durch irgendeinen Unterschied irgendeine Macht über andere Menschen hat - nämlich den Auftrag der Liebe - auf den Staat an: »Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr jedoch nicht so! Sondern der Größere unter euch werde wie der Jüngere und der Führende wie der Dienende« (Lk 22,25f). Entsprechend Luthers Wort: »Was nicht im Dienst steht, steht im Raub.« Der in der christlichen Sozialethik dargelegte Auftrag des Staates 100
beschreibt weder dessen »Wesen« noch dessen Entstehung, sondern die göttliche Zumutung, unter die der Staat wie jedes Privileg, jeder Vorteil eines Menschen vor einem anderen gerückt wird. Dieser göttliche Auftrag ist zugleich die Entlarvung der anderen Aufträge, unter denen der Staat in der Privilegiengesellschaft steht. 4.6 Staat gibt es historisch, seitdem mehr als in den Gesellschaften vor der Ackerbauzeit - also in sehr egalitären und auf ihre Egalität bedachten Gesellschaften - zu unterdrucken gewesen ist. Staat gibt es, seitdem die gesellschaftliche Produktion individuelle Güteranhäufung, ungleiche Verteilung und Versklavung der menschlichen Arbeitskraft ermöglichte. Der Staatsapparat dient der Sicherung der ungleichen Verteilung und der Ausbeutung fremder Arbeitskraft. Staaten waren und sind bisher immer Unterdrückungssysteme zur Privilegiensicherung. 4.7 Auch die staatlichen Rechtssysteme haben als Hauptauftrag die Privilegiensicherung. Soweit sie auch den Unterprivilegierten· Rechtsboden und Rechtsansprüche gewähren, dient dieser Schutz der Schwächeren durch das Recht zugleich der Aufrechterhaltung des Privilegiensystems, innerhalb dessen Rahmen Recht gesetzt wird. Gerät das Rechtssystem mit dem Privilegiensystem in Konfikt, dann wird es, wie unzählige Beispiele beweisen, rücksichtslos beiseite gesetzt, sobald und soweit dies die Hauptaufgabe des Staates, die Aufrechterhaltung des Privilegiensystems, erfordert. 4.8 Soweit in den fortschrittlichsten Industriestaaten Rechtsgleichheit erreicht ist, ist auch sie noch beschränkt durch das Privilegieninteresse. Sie ist ermöglicht sowohl durch das Ansteigen der Produktivkräfte und das Interesse der privilegierten Schichten an Massenkaufkraft und Massenlegalität wie auch durch die Ausbreitung von Ideen sozialer Gerechtigkeit, die sich vor allem der jüdischchristlichen Überlieferung verdanken. In letzterer Hinsicht gehört sie in die Geschichte der messianischen Zeit, de~ Wirkens des auferstandenen Bergpredigers. Wie be101
schränkt sie noch ist, zeigt sowohl ihre ständige Gefährdung, ihre häufige Abschaffung und ihre Vorenthaltung, wenn die Interessen der mächtigeren Staaten die Entdemokratisierung schwächerer Staaten erfordern - vgl. die Erklärungen der neuen USA-Regierung! Diese geben deutlich an, unter welchen Bedingungen und bis zu welchem Maße die herrschenden Schichten in Klassengesellschaften Demokratie und Rechtsgleichheit meinen sich leisten zu können. 4.9 Der größte Teil der öffentlichen Gewalt dient in Klassengesellschaften der Privilegiensicherung. Ebenso ist Rechtsbruch in Klassengesellschaften zum großen Teil der Versuch von Individuen, gegen die geltenden Gesetze sich zu verschaffen, was ihnen vorenthalten ist. Der asoziale Charakter der Privilegienherrschaft hat asoziales Tun der Individuen zur Folge. Das Recht, durch das asoziales Tun geahndet wird, ist in Klassengesellschaften selbst immer auch asoziales Recht, d h. Recht zur Aufrechterhaltung asozialer Zustände. 4.10 Luther hatte Recht: Jesus hat die weltlichen Ämter, besonders das Amt der Rechtswahrung, nicht aufgehoben (vgl. These 3.9). Sein Fehler war nicht, daß er durch sein individualistisch-pazifistisches Verständnis der Bergpredigt sich nicht beirren ließ, die Gewalt im Dienste des Rechts und die christliche Beteiligung an ihr zu bejahen. Sein Fehler - und nicht nur der seinige, sondern ebenso der Fehler der ganzen traditionellen christlichen Staatsethik war, daß diese Bejahung pauschal und abstrakt geschah, d. h. ohne Anlegung der Kriterien, die von der Bergpredigt her für jedes konkrete Recht sich ergaben. Dies zeigt sich an folgenden Fragen: a) Inwieweit ist das vorhandene Recht, das durch Gewalt geschützt werden soll, Recht im Sinne des Gottesrechtes der Thora? b) Sind mit der Rechtfertigung der Gewalt im Dienste des Rechts alle möglichen Gewaltmittel pauschal gerechtfertigt? Welche Unterscheidung unter ihnen wird nötig, wenn 102
bedacht wird, daß es immer um Gewalt gegen den Bruder sich handelt? (Vgl. Grundgesetz, Art. 1: Menschenwürde als kritisches Prinzip.) c) Welchem Zweck dient die Gewaltanwendung: Ausmerzung, Vergeltung - oder (nach Gal 6,1) Resozialisierung des Bruders (Problematik der Todesstrafe)? d) Besteht zwischen der Rechtsgewalt nach innen und der staatlichen Gewalt nach außen (Militär, Krieg) ein qualitativer Sprung? Wenn ja, bedarf es dann nicht für die Beteiligung der Jünger Jesu an der militärischen Gewalt noch besonderer Kriterien? Zusatzfrage: Letzteres wurde in den Kriterien für ein bellum justum versucht. Ihre grundsätzliche Notwendigkeit zugestanden - was ergibt ihre Anwendung in einer Zeit, in der (nach C. Fr. von Weizsäcker) durch die militärtechnische Entwicklung antiquiert ist, was 6000 Jahre lang Krieg und Waffe geheißen hat, und für Beteiligung an Armeen, die einander mit den Produkten moderner Militärtechnik bedrohen? (Vgl. Thesenreihe V) 4.11 Die Ausbreitung des Christentums hätte den übergang von der früheren Enthaltung von regierenden und rechtswahrenden Ämtern zur Beteiligung an ihnen unaufhaltsam gemacht, auch ohne die konstantinische Wende. Insofern ist die Absicht der verschiedenen Formen von Zwei-Reiche-Lehre, diese Beteiligung der Christen zu begründen und für sie Leitlinien und Kriterien anzugeben, zu bejahen aus dem Gebot der Nächstenliebe. Entscheidend ist, wie die Gewalt, an der Jünger Jesu sich beteiligen, ausgeübt wird und wofür: Für oder gegen die Privilegienstabilisierung, für oder gegen das Gemeinwohl aller, für oder gegen den Schutz der Schwächeren, für oder gegen das Leben auf Kosten anderer. Darum ist für den Eintritt der Christen in die Verwaltung des bestehenden Privilegiensystems entscheidend, in welcher »Richtung und Linie« (Barth) sie ihre Teilnahme betätigen, mit welcher Durchdringungsabsicht und -kraft, als Einzelne je an ihrem Ort und als Gruppe und Lobby in systemüberwindender 103
oder systemstabilisierender Tendenz, hin auf die jeweils möglichste Annäherung an eine solidarische, brüderliche Gesellschaft. 4.12 Die »göttliche Anordnung« über dem Staat, nämlich »mit Androhung und Anwendung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen« (Barmen V), ist also weder eine Beschreibung des Wesens des Staates noch eine Rechtfertigung des Staates durch eine Lehre von seiner vermeintlich für alle Zeiten geltenden Notwendigkeit. Sie besagt vielmehr, wofür das faktische Vorhandensein des Staates als eines Apparates, der Gewalt androhen und anwenden kann, von Gottes Liebeswillen beschlagnahmt wird: die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen, genauer: den Schwächeren gegen die Stärkeren zu ihrem Recht zu verhelfen und dadurch den durch die Gewalttat der Stärkeren gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. »Recht« und »Frieden« sind nicht einfach vorhandene Zustände, sondern Aufgaben. Wer also am staatlichen Gewaltapparat sich aktiv beteiligt (passiv sind wir ja ohnehin alle beteiligt), wird durch die »göttliche Anordnung« in eine der historischen Hauptaufgabe des Staatswesens gegenläufige Richtung gesetzt: entgegen dem Privilegienrecht, zu dessen Gunsten der gesellschaftliche Friede mit Androhung und Anwendung von Gewalt erzwungen wird, für kritische Scheidung gemäß der Frage: Was ist im bestehenden Rechtssystem (offen oder verschleiert) Klassenrecht, und wo sind schon Elemente eines solchen Rechtes, das dem wahren Gemeinwohl dient, an dem alle gleichmäßig interessiert sind? Indem die Bergpredigt uns das »Recht des Nächsten« (Erik Wolf) zur Aufgabe macht, ist sie die inhaltliche Beratung für diese kritische Scheidung und für die Tendenz, in der wir uns in der Beteiligung am Staatsleben bewegen sollen. 4.13 Jeder von uns ist als Bürger einer Klassengesellschaft tief verstrickt in das Privilegiensystem, von ihm geprägt, an seiner Aufrechterhaltung - nolens volens - mitarbeitend und von ihm profitierend. Wir werden ernährt, gut ernährt 104
durch entmenschlichende Unterdrückung, die schon alten Datums ist und die heute in vielerlei Formen an uns, den von ihr ernährten, entmenschlichend sich auswirkt. Schlimm wäre es, wenn wir durch unsere Teilhabe an unserem Privilegiensystem uns bestechen ließen, es zu rechtfertigen (als angeblich unveränderbar, als Gottes Ordnung für die gefallene Welt usw.) und zu beschönigen durch Ignorierung oder Bagatellisierung seiner Brutalitäten, die die massenhaften Opfer unseres Systems mehr zu spüren bekommen als wir. So haben Oberschichten immer schon ihre Gemüts- und Gewissensruhe sich erhalten. Die Bergpredigt will uns darin stören. Sie fordert uns auf, die Unbrüderlichkeit und Brutalität unserer Privilegienordnung unbeschönigt ins Auge zu fassen. In der Verstrickung gegen das Verstrickende zu arbeiten, ist die von der Bergpredigt uns gestellte Aufgabe: sowohl indem wir die uns gegebenen Spiel- und Freiräume ausnützen, um im Einzelnen, systemimmanent, zu korrigieren, was sich korrigieren läßt, wie auch durch praktische politische Beteiligung an Bestrebungen zur Überwindung des mörderischen Privilegiensystems, im Sinne der Grundregel von Mt 7,12.
v.
Staatsgewalt und Krieg
5.1 Wenn wir gemäß der Predigt Jesu unser Handeln vom Liebesgebot leiten lassen, so bedeutet das: a) Wir können die Imperative der Bergpredigt nicht als buchstäblich auszuführende Handlungsvorschriften - und b) nicht als abstrakte und pauschale Prinzipien auffassen, durch die die Entscheidung für das Handeln in der jeweiligen Situation schon im voraus festgelegt ist. Daß Bonhoeffer in Fanö 1934 pazifistisch sprach und in der Kriegszeit das Attentat auf Hitler bejahte, ist weder Bruch noch Gegensatz, sondern geschah im gleichen Hören auf das Liebesgebot, aber in verschiedener Situation und auch in verschiedener Hin105
sicht (Massentötung im Kriege - Tötung eines Einzelnen zur Beendigung des Krieges). So gebietet das Liebesgebot auch Unterscheidungen gemäß immer neuer Fragen, z. B. hinsichtlich der Gewaltmittel: a) Unterscheidung der Problematik innerstaatlicher Gewalt (Polizei, Justiz) und militärischer Gewalt; b) Unterscheidung von rebellio justa (zur Herstellung der Rechtsgewalt, wo diese durch ein Mordregime zerstört ist, z. B. 20. Juli 1944, Nikaragua, EI Salvador) und bellum justurn; c) Unterscheidung je nach Entwicklung der militärischen Technologie (von Pfeil und Bogen und Schwert über Schußwaffen und Artillerie bis zu den A-B-C-WaffenVernichtungsmitteln). Man darf nicht alles in einen Topf werfen. In dieser »noch unerlösten Welt« muß das Recht bewaffnet sein (Barmen V). Mit diesem allgemeinen Satz ist aber noch nicht gesagt, ob jede Waffe ihrer Natur nach geeignet ist, eine Waffe des Rechts zu sein. Für die Entdeckung, daß Handgranaten und Maschinengewehre keine geeigneten Waffen für eine an ihre Rechtsaufgabe gebundene Polizei sein können, hat es bei uns erst einer längeren Debatte bedurft. Im zwischenstaatlichen Leben ist heute in Frage, ob A-B-C-Waffen geeignete Mittel für Staaten zur Verteidigung ihrer Rechte sein können. Veränderte Situationen stellen veränderte Fragen. 5.2 Liebe und Gewalt liegen nicht auf gleicher Ebene und sind deshalb nicht Gegensätze. Liebe ist der Täter, Gewalt ist eine Weise des Tuns, sei es der Liebe, sei es ihres Gegenteils, des Egoismus. Gewaltfreies Tun ist der Liebe adäquater als Gewalttätigkeit, ist opus proprium der Liebe, wogegen Gewaltanwendung opus alienum der Liebe ist. Deshalb ist Gewaltanwendung gegen Menschen eine paradoxe Gestalt der Liebe, zu der die Liebe sich erst überwinden muß, und die für sie darum nur ein Durchgangsmodus sein kann: vom opus alienum zum opus proprium. Adressat des Tuns der Liebe ist nach der Bergpredigt immer der »Bruder«, der geschwisterlich verbundene Mensch; auch der Feind jeder Art gehört unter Gottes Vaterschaft zu
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meinen Geschwistern. Deshalb steht die Anwendung der äußersten Gewalt, der tötenden Gewalt, unter der schwersten Fraglichkeit und ist nur im äußersten Grenzfalle als Tun der Liebe denkbar. 5.3 Die Aufhebung des Faustrechts durch das staatliche Gewaltmonopol ist ein zivilisatorischer Fortschritt, den der Jünger Jesu bejahen muß. Die Erhaltung und Verbesserung des Rechtsstaates gehört deshalb zu seinen Aufgaben (vgl. These 4,5.8.12). Die rebellio justa ist ein Grenzfall: Dort, wo das staatliche Gewaltmonopol nicht nur teilweise, sondern hauptsächlich dem Unrecht dient und keine Chance für eine gewaltlose Veränderung des Unrechtszustandes mehr gesehen wird, dient der gewaltsame Sturz einer verbrecherischen Regierung der Wiederherstellung des Rechts. 5.4 Im zwischenstaatlichen Bereich besteht bisher noch kein Gewaltmonopol; es herrscht Faustrecht. Deshalb ist der Krieg bisher eine nicht entfernbare Institution des Staatenlebens gewesen. Die Entwicklung der Militärtechnik ist der entscheidende Sachzwang, der die Beseitigung der Institution des Krieges zur dringendsten Aufgabe heutiger Politik macht. John F. Kennedy: »Entweder wir schaffen den Krieg ab, oder der Krieg schafft uns ab.« 5.5 Es ist Gehorsam gegen das Liebesgebot, wenn Jünger Jesu sich dafür entscheiden, an der staatlichen Gewalt (und d. h. auch: an der Verwaltung und Anwendung der staatlichen Gewaltmittel) aktiv sich zu beteiligen und diese nicht denen zu überlassen, die nicht unter dem Einfluß der Weisungen Jesu stehen. Diese Entscheidung hat aber zur Folge, daß sie, solange zwischen den Staaten das Faustrecht herrscht, die Beteiligung an Militär und Krieg nicht mehr absolut ablehnen können. Daß die Glieder und Gruppen der Kirche in der Frage dieser Beteiligung nicht zu einer einheitlichen Antwort fanden, war sachlich unvermeidlich. Die Verneinung der Beteiligung an Militärwesen und Krieg war Selbstausschluß von der Beteiligung an der staatlichen Gewalt. Weil diese Beteiligung vom Liebesgebot gefordert
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wird, weil aber die daraus folgende Beteiligung am Kriegswesen ein äußerster Grenzfall des opus alienum der Liebe ist, war es unvermeidlich, daß das christliche Gewissen bei den einen für die Beteiligung, bei den anderen für die Nicht-Beteiligung sich entschied. Beide Entscheidungen können eine legitime Antwort auf das Liebesgebot sein beide sind miteinander nicht zu vereinbaren - beide stellen die unvermeidliche, harte Alternative dar, ohne eine dritte Möglichkeit als Ausweg - beide können einander dienen zur Korrektur und Gewissensbeunruhigung - jede von beiden ist, für sich selbst genommen, unbefriedigend. Man kann sie »komplementär« nennen; denn erst miteinander stellen sie dar den ganzen Dienst der Kirche am Staatsleben in der Zeit des internationalen Faustrechts als einer besonders brutalen Zeit der »unerlösten Welt« (Barmen
V). 5.6 Die christlichen Großkirchen, die zum Dienst an der Welt in Gestalt der aktiven Beteiligung an der staatlichen Gewalt anhielten, haben die Beteiligung an Militär und Krieg nie absolut, sondern immer nur bedingt und begrenzt bejaht. Sie entwickelten dafür die Kriterien des »gerechten Krieges«. Damit sollte ein Krieg nicht objektiv als »gerecht«, also als schuldfrei erklärt werden, sondern diese Kriterien sind tauglich zur seelsorgerlichen Beratung und zur eigenen Gewissensbefragung der Regierenden und Regierten: Hoffe ich, die aktive Beteiligung an diesem Krieg hinsichtlich des Streitgegenstandes (causa justa), des Zieles (pax, Rechtsfrieden mit dem Gegner und nicht seine Ausrottung), der militärischen Mittel (modus debitus) und angesichts des durch ihn angerichteten Schadens (übelabwägung) als opus alienum der Liebe in der Zwangslage, die mir nur die Wahl zwischen Beteiligung und Nicht-Beteiligung läßt und mich mit der Verantwortung für die Folgen meiner Entscheidung belädt, vor Gottes Angesicht verantworten zu können? Diese Frage soll jeder sich stellen; jeder soll anhand jener Kriterien selber entscheiden und ist darum auch verpflichtet, sich möglichst selbständig zu J
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informieren. Keiner soll blind dem Befehl der Obrigkeit gehorchen. Der recht verstandene Gehalt der Lehre vom »gerechten Krieg« fordert den mündigen und kritischen Staatsbürger, der weiß, daß er nur das tun soll, was er nach eigener, gewissenhafter Prüfung hofft vor Gott vertreten (»rechtfertigen«) zu können. Diese Lehre gibt die strengen Bedingungen an, unter denen allein eine christliche Beteiligung am Ernstfall eines Krieges zu rechtfertigen ist, und sie legt den christlichen Gemeinden und den kirchlichen Amtsträgern die Pflicht auf, die vor diese Entscheidung gestellten Gemeindeglieder zu strenger Prüfung anzuhalten und dabei durch Information, Verkündigung und Gebet zu beraten und zu stärken, gegebenenfalls auch ihr Urteil über einen akuten Kriegsfall öffentlich auszusprechen. 5.7 Der Schaden dieser traditionellen Lehre vom »gerechten Krieg« lag nicht in ihr selbst, sondern in ihrer NichtAnwendung, bzw. in ihrer mißbräuchlichen Verwendung. Sie diente faktisch zur Rechtfertigung jedweder Beteiligung am Kriegswesen statt zur kritischen Befragung dieser Beteiligung. Nach der Äußerung eines katholischen Theologen kann man die Kriege in der europäischen Geschichte, die jenen Kriterien entsprechen, an den Fingern abzählen. Als kritisches Instrument blieb sie auf dem Papier; nie hat , sie den europäischen Kirchen Anlaß zur Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung gegeben. 5.8 Ein Ziel aber der aktiven Beteiligung an der staatlichen Gewalt muß für die Jünger Jesu, die sich dafür entscheiden, die Überwindung des zwischenstaatlichen Faustrechts sein. In der Neuzeit sind dafür Ansätze entwikkelt worden (Völkerbund, Vereinte Nationen, Haager Konventionen, Rote-Kreuz-Konvention, Kellog-Pakt, Nonproliferation-Vertrag, Verhandlungen über Rüstungskontrolle u. ä.). Die Groß kirchen haben viel zu wenig erkannt, daß dies in der Linie ihrer Kriegsethik liegt, und haben weithin unterlassen, mit aller Kraft an diesen Ansätzen sich zu beteiligen. Das Anti-Militarismus-Programm des Ökumenischen Rates fordert sie auf, das Versäumte in
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einer Stunde allerhöchster Weltgefahr endlich nachzuholen. 5.9 Nach jenen Kriterien hat ein mit den heutigen Massenvernichtungsmitteln (A-B-C-»Waffen«) geführter Krieg keine Chance, ein »gerechter Krieg« zu sein. Christen können also an ihm sich nicht beteiligen. Die Kirchen haben das heute öffentlich und rechtzeitig zu erklären. 5.10 Die beiden atomar gerüsteten Militärblöcke, NATO und Warschauer Pakt, bedrohen sich heute mit einem Krieg, der nach jenen Kriterien und nach den genannten internationalen Verträgen ein bellum iniustum, ein verbrecherischer Krieg ist. Christen könnten an ihm deshalb auch dann sich nicht beteiligen, wenn er nur die Vernichtung des gegnerischen Gebietes und nicht auch, wie es für die Deutschen der Fall ist, die Vernichtung des eigenen Landes zur Folge hätte. Standen schon die früheren Kriege unter einer Fraglichkeit, die eine Beteiligung an ihnen nur in den seltensten Fällen christlich möglich gemacht hätte, so stehen heute die Weisungen der Bergpredigt urid die Beteiligung an einem atomar geführten Krieg in einem unüberbrückbaren Gegensatz. Die bei einem solchen Krieg zur Vernichtung verurteilte Bevölkerung der Gegenseite - in unserem Falle der DDR, der Warschauer-Pakt-Staaten und der Sowjetunion - sind unsere Brüder und Schwestern nicht weniger als unsere eigenen Mitbürger. Die Reue und Buße der Kirche dafür, daß sie durch ihre Versäumnisse zur heutigen Entwicklung der Militärtechnologie beigetragen hat, muß u. a. darin bestehen, daß sie in ihrer Verkündigung die Menschen der anderen Seite heute als Gottes geliebte Kinder und also als unsere Brüder und Schwestern erkennen läßt. 5.11 »Gewalt androhung« dient der Abschreckung, sowohl innerstaatlich wie zwischenstaatlich, für letzteren Bereich also: si vis pacem, para bellum. Wie viele Kriege in der Vergangenheit durch Rüstung verhindert worden sind, wie viele trotz Rüstung ausbrachen und wie viele gerade infolge von Rüstung entstanden, ist statistisch kaum zu erfassen. 110
Für heute gilt jedenfalls die Vorhersage von C. Wright Mills (1958): »Die Ursache des dritten Weltkriegs wird vermutlich die Vorbereitung auf ihn sein.« Die heutige Abschreckungstheorie geht vom schlimmsten Falle (worst case) aus, unterstellt der Gegenseite Wahnsinn und beruht auf einer Abschreckungspsychose (vgl. Anton-Andreas Guha, »Der Tod in der Grauzone«, Fischer-TB 4217, 1980, 182ff: »Beruht das Abschreckungssystem auf einer Psychose?«). Daraus ergibt sich die Aufgabe für die christliche Kirche, durch ihre Verkündigung dieser Psychose entgegenzuwirken und zu einer Sanierung der Vernunft beizutragen. 5.12 Schon vor dem Atomkrieg ist die Rüstung für ihn tödlich für uns. Denn Rüstung zur Abschreckung unterscheidet sich heute von früher in folgendem: a) Jedes der beiden Lager baut zu seiner Sicherung riesige Schutzmauern auf, die so labil sind, daß sie durch einen politischen Windstoß zusammenbrechen können, um dann alles, was sie schützen sollen, unter sich zu begraben; sie verlangen von uns den unchristlichen Glauben an die übermenschliche Weisheit, Selbstbeherrschung und reine Friedensabsicht der Menschen an der Spitze, alles so im Griff zu haben, daß es nie aus ihrer Kontrolle gerät. Kein vernünftiger Mensch würde im Einzelleben sich durch eine solche »Sicherung« gesichert fühlen. b) Nicht erst der Krieg, sondern schon die jetzige Rüstung tötet: zuerst die vielen Millionen, die heute an der Welthungerkatastrophe sterben und gerettet werden könnten, wenn die für die Rüstung vergeudeten Finanzen, Energien und Ressourcen ihnen zugute kämen - neben ihnen die Opfer unserer Waffenexporte, ohne die unsere Rüstungsindustrie nicht bestehen könnte - dann uns selbst durch Fehlen dieser Mittel für soziale Bedürfnisse und durch Erdrosselung unserer Demokratie - schließlich unsere Erde durch UmweltZerstörung und -Vergiftung. Die Verwüstung der Erde, die in der offiziellen US-amerikanischen Umweltstudie »Global 2000« (Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M., 1981)
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für die nahe Zukunft vorhergesagt wird, könnte nur abgewendet werden, wenn die soeben vom US-amerikanischen Verteidigungsminister C. Weinberger für die nächsten fünf Jahre vorgesehenen Rüstungsausgaben in Höhe von 1 300000000000 (1,3 Billionen) Dollar für diese Abwendung ausgegeben würden. Jede weitere Mark, die wir für Rüstung ausgeben, ist ein Beitrag zur Zerstörung von Gottes Schöpfung. c) Wer sich auf solche Weise sichern läßt, der kann nicht mehr glauben und lieben im Sinne der Bergpredigt. 5.13 Breschnew hat in seiner Rede auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU (Februar 1981) das einzig Richtige und Vernünftige angeboten: jetzt sofort die Rüstung einfrieren und dann ernsthafte Verhandlungen auf Herunterschrauben der Rüstungen auf ein möglichst niedriges Niveau beginnen. Breschnews Angebot ebenso abzulehnen wie die früheren Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion, verrät . zweierlei: a) die hinter den Lippenbekenntnissen für die Abrüstung im Westen bestehende Unlust zur Abrüstung, die vermutlich zusammenhängt mit der Absicht, die militärische Überlegenheit über den Osten zu erhalten bzw. immer wieder zu erreichen (Fähigkeit zum Erstschlag), und auch mit der Macht des militärisch-industriellen Komplexes; b) die Macht eines - von rationaler Sowjetkritik wohl zu unterscheidenden - irrationalen Antikommunismus, den man zu Recht die heimliche Staatsreligion des Westens genannt hat. Daß auch in den christlichen Kirchen weithin dieser Staatsreligion gefrönt wird, hat zur Folge, daß die Kirchen nicht den Mut haben, sie zu bekämpfen. Dies schließt sich an ihre früheren Versäumnisse an und zeigt ihre Verdrängung der Bergpredigt. 5.14 Helmut Schmidt hat im Wahlkampf 1980 gesagt, es genüge nicht, friedenswillig zu sein, man müsse auch friedensfähig sein. Ob jemand friedensfähig ist, ist heute daran zu erkennen, ob er abrüstungsfähig ist. 5.15 Entweder wir schaffen die Rüstung ab, oder die Rüstung schafft uns ab. Dieses Entweder-Oder ist jetzt 112
exakt bewiesen worden durch die von Präsident Carter 1977 in Auftrag gegebene Studie des US-amerikanischen Amtes für Umweltfragen: »Global 2000« (Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1981). Diese bisher genaueste Zukunftsprognose, in der übrigens das Rüstungsproblem ausgeklammert ist, zeigt den erschreckenden Zustand, den die Menschheit mit Naturverwüstung, Hunger und weltweitem Massenelend im Jahre 2000 erreicht haben wird, in einer sprunghaft sich vollziehenden Entwicklung mit unumkehrbaren Folgen. Nur »große gemeinsame Anstrengungen« können, wie in der Studie immer wieder versichert wird, diese katastrophale Zukunft verhindern. Dieses Jahr 2000 - das ist die Weltgefahr Nr. 1, auf deren Verhinderung sich alle Kräfte konzentrieren müssen. Die Rüstung nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein: sie verhindert, daß es zu den gemeinsamen Anstrengungen kommt; sie beschleunigt durch ihre riesenhafte Vergeudung die Verwüstung der Welt. Nur wenn die Gelder, Kräfte und Ressourcen, die heute in die Rüstung gesteckt werden, für die »gemeinsamen Anstrengungen« verwendet werden, wird die Erde im Jahre 2000 ein Platz für lebenswertes Leben sein. Ost und West haben einen gemeinsamen Feind, diese Weltgefahr Nr. 1. Sie ernähren diesen gemeinsamen Feind durch die Rüstung, mit der sie sich vor einander schützen zu müssen meinen. Wer für die Rüstung arbeitet, arbeitet nachweislich für den größten Menschheitsfeind. Das alles ist jedem Politiker bekannt und liegt auf der Hand. Das Wort Rüstungswahnsinn ist kein übertragener Ausdruck, sondern eine exakte klinische Bezeichnung. Die Politik, mit der heute Rüstung gerechtfertigt wird, gehört in die Zuständigkeit der Psychopathologie. 5.16 Sowohl wegen der Tödlichkeit der heutigen Rüstung wie wegen der Unmöglichkeit, am Ernstfall des Krieges sich zu beteiligen, stehen die beiden möglichen Entscheidungen des christlichen Gewissens - »Friedensdienst mit Waffe« und »Friedensdienst ohne Waffe« - nicht mehr so komplementär nebeneinander, wie es in These 5.5
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beschrieben worden ist und wie es für die auch heute noch möglichen vor-atomaren Kriege und für Kampfhandlungen von Freiheitsbewegungen noch denkbar ist. Die Formel der »Heidelberger Thesen« war schon 1959 nur mit großen Bedenken akzeptabel (vgl. mein damaliges Votum in G. Howe [Hg.], »Atomzeitalter - Krieg und Frieden«, 1959), vor allem nur unter der Bedingung einer unverzüglich einsetzenden Entspannungs- und Abrüstungspolitik zur Ausnutzung der »Gnadenfrist«. Heute, nach über 30 Jahren, sind wir gerade infolge der ungehemmten Rüstungspolitik der Wahrscheinlichkeit des Atomkrieges erschreckend näher gekommen als 1959. Wer sich im Gewissen für den Militärdienst entscheidet, ist zu respektieren, wie auch ein irrendes Gewissen zu respektieren ist. Daß er seinen Wehrdienst als Friedensdienst versteht, müßte er wahr und erkennbar machen durch öffentliche Beteiligung an der heutigen Bewegung für Abrüstung. Friedensdienst ohne Waffen ist als Absage an Rüstung und Kriegsbeteiligung heute »ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensangebotes unseres Herrn« (Erklärung der DDRKirchen »Zum Friedensdienst der Kirche«, 1965). Die Entscheidung für den Friedensdienst ohne Waffen vollzieht individuell, wozu die holländischen Kirchen jetzt uns alle, Kirchen und Bevölkerung in der Bundesrepublik, aufrufen in der Erkenntnis, »daß das heutige Wettrüsten unseren Glaubensgehorsam auf die Probe stellt«, und »in dem Bewußtsein, daß die Sünde, die sich hierin äußert, sich auch tief in unsere Herzen eingenistet hat«: »Schafft die Atomwaffen aus der Welt - beginnt damit bei uns selbst und jetzt!«
VI. Einige nachträgliche Bemerkungen 6.1 Die Wehrlosigkeit des Bergpredigers: Er kann sagen, was er will - jeder legt in ihn hinein, was er will. Beispiele bringt jeder Tag: a) Bei einer Tagung leitender Vertreter 114
der bei den Kirchen mit Politikern, Wissenschaftlern und Offizieren bekannte ein General der Bundeswehr, »als aktiver Christ könne er es ethisch rechtfertigen, nach einem vorhergegangenen Angriff einen vernichtenden atomaren Schlag gegen die Staaten des Warschauer Paktes zu führen, selbst wenn dieser Gegenschlag nur noch eine Vergeltung wäre und dabei eine unvorstellbare Millionenzahl von Zivilisten den Tod fände; denn die Freiheit sei >das höchste Gut<, ihr Schutz rechtfertige das letzte und höchste Opfer. Ähnlich argumentierten viele Geistliche« (Frankfurter Rundschau, 24. 2. 1981). b) Zwei bekannte deutsche Neutestamentler attestieren dem z. Z. um Finanzierung weiterer Aufrüstung bemühten Verteidigungsminister Hans Apel - ihn gegen einen entsprechenden Vorwurf in Schutz nehmend -, er bemühe »sich erkennbar, diesen Geist (sc. der Bergpredigt) unter den Bedingungen der unerlösten Welt politisch verantwortliche Tat werden zu lassen« (Göttiger Predigt-Meditationen, in: Pastoraltheologie 1981/2,244). - Wie ehrlich dagegen Luther: »Christlich und brüderlich handeln gehört nicht ins weltliche Regiment« (WA 24, 677). Oder Friedrich Naumann bei seiner Schilderung eines Geschäftsmannes, der Christ ist: Im Beruf streift er sein Christentum ab und antwortet auf die Frage, ob das nicht Mammonsdienst sei: »Nein, das Geschäft ist eine Sache für sich. Mammonsknecht bin ich, wenn ich außerhalb des Geschäfts hart und geizig bin.« Der Grund aber für diese Unmöglichkeit, nach der Bergpredigt zu leben, ist: »Unsere kapitalistische Welt, in der wir leben, weil es keine andere für uns gibt, ist nach dem Prinzip eingerichtet: Du mußt begehren deines Nächsten Haus!« (»Briefe über Religion«, 1903, 19. Brief; Werke I, 609f). Oder schlicht Kaiser Wilhelm 11. 1914 zu einer Eingabe von Friedrich Siegmund-Schultze: »Das ist wahres Christentum, leider zur Zeit nicht praktikabel.« - Es muß aber ein Drittes geben zwischen dieser Ehrlichkeit, die »die Welt, in der wir leben«, resigniert dem Angriff des Bergpredigers entzieht, und jenem vagen »Geist der Bergpre-
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digt«, den jeder für sich reklamieren kann, wie wenig sein Handeln auch mit dem Inhalt der Bergpredigt zu tun hat. 6.2 Christen samt Juden vor der Bergpredigt (vgl. die Kirchentagsrede von Robert Raphael Geis, 1967, in: »Gottes Minorität«, München 1971, 206-219): Die Exegeten pflegen eingehend das Verhältnis Jesu zur Thora zu behandeln und je nach eigenem systematischen Interesse die Bergpredigt mehr oder minder von der Thora abzuheben als deren Verschärfung, Überbietung, Antithese oder auch tiefste Interpretation. Sie sind alle Christen, und so kommt dann heraus: Die Differenz zwischen Bergpredigt und Thora ist identisch mit der Differenz von Christentum und Judentum. Denn Jesus gehört ja uns und nicht den Juden, und wir sind seine Gemeinde, nicht die Juden. Die Thora - das ist die Position der Juden; die Bergpredigt das ist die Position von uns Christen. Das ergibt eine Verfälschung der Perspektive, von der man gar nicht energisch genug sich frei machen kann. Das ergibt sich aus zwei Erwägungen: a) Das Defizit der Thora, das man dabei durch Jesu Thora-Kritik aufgedeckt findet, ist weder etwas Spezifisches der Thora noch des Judentums. Gesetzliches Denken, überwuchert-Werden des göttlichen Willens durch menschliche Fixierungen, Werkgerechtigkeit, Lieblosigkeit im Namen Gottes, Verlust der Freiheit für Gott, Opferung des Nächsten für den Buchstaben, für die Norm und die Institution - das gibt es im Christentum genau so wie im Judentum, auf der dogmatischen wie auf der moralischen Ebene. J esu Kritik trifft die christliche Gesetzlichkeit nicht weniger wie die jüdische. Er gehört weder den Christen noch den Juden, sondern steht beiden als Ruf Gottes gegenüber. b) Als neue Thora, als neue gemeinschaftliche Lebensordnung für die Jünger-Gemeinde hat vermutlich Matthäus die Bergpredigt verstanden. Zur gemeinschaftlichen Lebensordnung der christlichen Kirche ist aber die Berg-
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predigt nicht entfernt geworden, geschweige denn zur gemeinschaftlichen Lebensordnung der durch die Kindertaufe in die Kirche aufgenommenen christianisierten Völker. Versteht man die Bergpredigt als die Ethik des Christentums gegenüber dem Judentum und ihre Überlegenheit über die Thora als eine Überlegenheit des Christentums über das Judentum, dann soll man sich schleunigst klar machen, wie überlegen das Judentum über das Christentum z. B. einem Juden innerhalb der mittelalterlichen christlichen Umwelt vorkommen mußte: hier sah er kein neues, überlegenes Lebensgesetz in Geltung, geschweige denn eschatologische Existenz, die aus dem nahe gekommenen Heil Gottes lebt, sondern nur das alte, wüste Leben der Gojim, durch Gesetze, die der Thora weit unterlegen waren, mühsam im Zaum gehalten, und hinter den Ghetto-Mauern unter dem Einfluß des beständigen Studiums der Thora eine Spiritualität und eine Pflege von anderen, menschlicheren Tugenden, die ihn nicht in Versuchung kommen ließ, das Christentum der Umwelt höher zu schätzen als seine Tradition. Immer aber wird es die Frage des Judentums an das Christentum sein, der wir uns nicht entziehen dürfen: Steht die Bergpredigt nur auf dem Papier oder wird sie zur Lebensrichtschnur der Gemeinschaft, sei es der Gemeinschaft der Kirche oder gar der Gemeinschaft eines getauften Volkes? 6.3 Denjenigen, die sich heute auf den christlich-jüdischen Dialog einlassen, den Juden zuhören, wie es die Christen jahrhundertelang nicht getan haben, und darum die überkommenen Unterscheidungslehren von Synagoge und Kirche neu überprüfen, wird von christlichen Kritikern nicht selten »theologischer Besitzverzicht« vorgeworfen. Der Vorwurf verrät ein Privilegiendenken: Christen sind eine Besitzerschicht gegenüber den jüdischen Habenichtsen, und wer sich als Christ zu sehr mit den Juden einläßt, wird zum Klassenverräter, weil er nicht mehr an der Verteidigung des Besitzes sich beteiligt. Aber was »besitzen« wir Christen? Eine Gnadenbotschaft von der Rechtfertigung 117
des Gottlosen, die zum angstfreien und besitzfreien Leben in der »Solidarität mit den Gottlosen« (Heinrich Vogel), zur grenzüberschreitenden Liebe verhelfen will - und eine Lebensrichtschnur, die der Bergpredigt, die in die Verwirklichung diese Liebe einweist. Fragen Juden, Heiden und Atheisten nach dem »Tun«, von dem das Schlußgleichnis der Bergpredigt (Mt 7,24-27) spricht, dann kann von Besitz nicht mehr die Rede sein, höchstens vom Besitz einer gegen uns gerichteten Anklageschrift oder auch vom Besitz einer Hoffnung, es könnte mit uns und unserem Tun vielleicht doch noch einmal anders werden, und zwar bei uns allen - bei uns Christen, die wir nun aus den Ersten die Letzten geworden sind, und bei den Juden, die ja auch noch weit hinter der Thora zurückbleiben. 6.4 Die Bergpredigt stellt uns zu Israel. Nicht an uns Gojim, sondern an Israel hat J esus gedacht, als er seinem Volke die Ankunft der Gottesherrschaft als bedingungsloses Heil ankündigte und mit seiner überbietenden ThoraAuslegung zum Leben der Liebe einlud, wie es der Gottesherrschaft entspricht. Wie alle Gerechten in Israel, wenn sie nicht nur durch heidnische, sondern auch durch jüdische Hand den Märtyrertod fanden, ist er nicht gegen sein Volk, sondern für sein Volk gestorben (vgl. Apg 3,26). Je näher wir J esus kommen, desto näher kommen wir Israel. Sollte wie man in der Heidenkirche sich ausgedacht hatte - Israel verworfen sein wegen seiner Ablehnung J esu und ersetzt worden sein durch die Kirche - was hätte dann die Kirche zu erwarten nach all diesen Jahrhunderten des christlichen Abendlandes, des raubgierigsten Kontinents? Was hätte die Kirche zu erwarten, die nicht nach Mt 28,19 alle Völker gelehrt hat, die Bergpredigt-Weisungen zu tun, sondern sie zu umgehen? Wir leben alle von der Rechtfertigung der Gottlosen und erhalten von daher Möglichkeit und Aufgabe, uns nicht weiterhin der Welt gleichzustellen (Röm 12,lf). Das ist die Art, wie Paulus und Jesus, Römerbrief und Bergpredigt zusammengehören. 6.5 Die christliche Theologie muß sich der Frage stellen: 118
Wie konnte es kommen, daß gerade die christianisierten Völker von Europa aus die Erde ökonomisch und politisch sich unterwarfen und dadurch ihren Vorsprung an Reichtum und politischer Macht sich sicherten? Sollte das Christentum dazu beigetragen haben, »das Erdreich zu besitzen«, dann offenbar genau im Gegensatz zur dritten Seligpreisung (Mt 5,5). Worin aber bestand tatsächlich der Beitrag der christlichen Theologie aller Konfessionen zu dieser Welteroberung? Wie hängt das kulturelle Überlegenheitsbewußtsein der weißen Völker, ihre Respektlosigkeit gegenüber fremden Kulturen mit der theologischen Formulierung der Absolutheit des Christentums zusammen? Welche Uminterpretation der Bergpredigt war nötig, damit diese der gewalttätigen Welteroberung, dem Sklavenhandel, dem Kolonialismus, der Ausbeutung der übrigen Welt (klassisch von K. Marx beschrieben im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation, »Das Kapital«, 24. Kapitel) nicht mehr störend im Wege stand? Welche heutige Interpretation ist imstande, diese Störung wiederherzustellen ? 6.6 Die Bergpredigt stellt uns zu den Armen dieser Erde, also nach links. Sie stellt uns nach links, weil sie uns zu den Armen stellt. »Links« bedeutet hier (gemäß dem Sinne, den das Wort durch die Sitzordnung der europäischen Parlamente erhalten hat) die Tendenz der Änderung des bestehenden Privilegiensystems zugunsten der in diesem System Benachteiligten. Die Beschränkung der Bergpredigt auf den Einzelnen hatte ihre Beschränkung auf das Einzelleben abseits vom politischen Leben zur Folge. So konnte sie nicht mehr das politische Leben, den großen Raubzug der christianisierten Völker stören. Die Beziehung der Bergpredigt auf das politische Leben hat eine andere Einschätzung des Gesetzes zur Folge: nicht mehr die Entgegenstellung des Gesetzes zum Evangelium, aus der die Irrelevanz der Bergpredigt für die Ordnung des Gesellschaftslebens durch Gesetze folgte, sondern die Umsetzung der Weisungen der Bergpredigt in die Gesetze 119
der Sozialordnung. Das war der Sinn der Thora, und darum ist der positive Zusammenhang von Bergpredigt und Thora wichtig: Maxima caritas lex. 6.7 Rosa Luxemburgs Alternative vom Anfang unseres Jahrhunderts: »Sozialismus oder Barbarei« hat sich als prophetisch erwiesen. Die Menschheit steht am Ende dieses Jahrhunderts im barbarischsten Zeitalter ihrer Geschichte. Die Verweigerung einer echten sozialistischen Veränderung in den Industrienationen hat uns dahin gebracht: über zwei Weltkriege an den Vorabend des dritten, in die Welthungerkatastrophe, in die Zerstörung der Lebensgrundlagen für die Zukunft, in die zunehmende Brutalisierung bei der Abschiebung der Millionen von Überflüssigen, für die unser Wirtschaftssystem keine Verwendung hat, auf den Müllhaufen. Die christlichen Kirchen haben durch ihr Paktieren mit Kapitalismus, Nationalismus und Antisozialismus dazu beigetragen. Wer durch die Bergpredigt auf die Seite der Armen, der Unterdrückten, der für den Verwertungsprozeß des Kapitals Überflüssigen gestellt wird, bekommt viel zu tun. In harter Arbeit wird er sich informieren müssen über die heutige Weltsituation und ihre Ursachen, mit Abbau seiner eigenen, durch sein Privilegien-Interesse bedingten Illusionen, gefeit gegen die beschönigende Propaganda der Verteidiger des status quo. »Die heutige Sünde heißt Nichtinformiertsein « (Margaret Mead). Selbstkritische Information und zugleich Aktivität in den Bewegungen, die in letzter Stunde für die Alternativen kämpfen - das ist heute die weltliche Gestalt der christlichen Existenz. Die Botschaft des auferstandenen Bergpredigers gibt den Auftrag, die Richtung, die Kriterien und die Verheißung. Man kann die Verheißung nicht haben ohne den Auftrag. Aber der Auftrag ist nicht ohne die Verheißung, die uns befreit vom Verzagen, von der Frage, ob es noch gelingt. »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn sie gehören zur Gottesherrschaft« (Mt 5,10).
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