Doja Hacker
Nach Ansicht meiner Schwester Roman
Piper München Zürich
ISBN 3-492-04180-9 © Piper Verlag GmbH, Münche...
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Doja Hacker
Nach Ansicht meiner Schwester Roman
Piper München Zürich
ISBN 3-492-04180-9 © Piper Verlag GmbH, München 2000
Satz: Uwe Steffen, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
Die Autorin erzählt in ihrem autobiographischen Debütroman die Geschichte zweier Schwestern, deren Lebenswege sich mit Ende Zwanzig noch einmal kreuzen. Nach der Trennung von ihrem Mann zieht die ältere zur kleinen Schwester. Früher hatte sie sich mit dem Gedanken beruhigt, daß die jüngere ihr immer ein wenig unterlegen sein würde. Doch inzwischen war nichts mehr so wie früher. Die Dinge hatten sich eben geändert. Doja Hacker wurde 1960 in Hamburg geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Kiel und ging 1979 nach Berlin, um zu malen. Nach einer halben Ausbildung zur Kostümbildnerin studierte sie Literaturwissenschaft und schrieb Kritiken für verschiedene Tageszeitungen. Seit 1995 schreibt sie für das Kulturressort beim Spiegel in Hamburg.
1
Meine Mutter empfiehlt mir, darüber nachzudenken, weshalb ich mich immer in alte Männer verliebe. Muß das sein? frage ich sie. Weiß ich nicht, mußt du wissen. Ich habe das Gefühl, es wäre an der Zeit. Mit so was solle sie mir nicht kommen, bitte ich sie. Später denke ich darüber nach. Vielleicht kann ich es herausfinden. Ich habe immer alte Männer geliebt, schon als junges Mädchen. Nie die kraftstrotzenden. Im Unterschied zu meiner Schwester, die immer junge Männer liebte. Jungs so alt wie sie. Oder jünger. Ich liebte Männer, deren Körper von Geschehnissen und Einsichten wußten, die mir noch bevorstanden. Leben, Gefahr, Enttäuschung, das Immergleiche, über das man vielleicht lachen könnte, wäre man ein alter Mann. Alte Männer erregten mich. Ich wollte sein wie sie. Ich wollte nicht bloß mit diesen Männern Zusammensein, ich wollte sie sein. Nicht mit der Luftigkeit eines Mädchens durch den Tag wehen, nicht morgens in den Spiegel schauen und entdecken, daß der Kragen der Bluse nicht zum Ausschnitt des Pullovers paßt. Ein alter Mann wollte ich sein mit einem Bauch und einem Hemd und einer Krawatte und lange zurückliegenden Erfolgen. Nichts könnte mich aus der Ruhe bringen, wäre ich ein alter Mann.
Bei Jan war es die Art, kurz innezuhalten, wenn er etwas entscheiden mußte. Ein junger Mann hätte viel Energie verbraucht. Jan machte eine Handbewegung, griff in die Zeit hinein. Es gab kein Alter in solchen Sekunden. Er ist wie der
Wind, sagte die Nachbarin Jolante, wenn sie mich unter der Linde auf ihn warten sah. Warten Sie lieber nicht, Sie verlieren sich selbst dabei, Frau. Ich hatte keine Wahl. Hätten wir uns vor zehn Jahren kennengelernt, sagte Jan einmal, wäre aus uns ein großes Paar geworden. Vor zehn Jahren war ich ein Mann, heute nicht mehr, ich bin schon fast am Ende. Schade um uns. Gut für uns, dachte ich. Wir gehören zusammen. Du machst dir Gedanken über Dinge, die nicht zu ändern sind. Das gefällt mir, dann kann ich sagen: Laß uns über Dinge reden, die wir ändern können. Kann man etwas ändern? Wenn ich als Kind einen alten Mann unsere Straße entlanggehen sah, in seinem zu kurzen Mantel, mit einem kleinkrempigen Hut, überfiel mich Mitleid. Alte Frauen, die allein gingen, schienen mir gefeit gegen die Nutzlosigkeit. Auch sie waren allein, Witwen wahrscheinlich oder immer allein gewesen, aber sie kamen mir nicht so verloren vor. Sie hatten nicht jene Vergeblichkeit der alten Männer, die mürrisch auf die nach oben geschossene Ligusterhecke vor unserem Haus schauten. Heute glaube ich, daß ihre Verdrossenheit übrigblieb vom Staunen darüber, daß die Liebe aufhört und daß man es nicht verhindern kann.
Ich erinnere mich nicht genau an den Abend, aber ich erinnere mich an die Schwere und Kühle der Schlüssel in meiner Jacke, vor der Wohnungstür. Peter und ich hatten in einer Charlottenburger Kneipe Romme gespielt. Er war nach ein paar Runden nach Hause gegangen, hatte sich ins Gästezimmer gelegt, um allein zu bleiben in der Nacht. Als ich die Wohnung aufgeschlossen hatte, wußte ich es: So konnte es nicht weitergehen, keinen Tag. Am frühen Morgen, er war schon fort, rief ich meine Schwester an, heute noch würde ich zu ihr ziehen. Sie war
nicht überrascht. Also komm, seufzte sie, vielleicht wird es ja lustig. Um elf besuchte ich eine Pressevorführung im Kino. Eine Frau auf sehr hohen Pumps wurde von einem Psychopathen bedroht. Der Polizist, der sie bewachte, verließ ihretwegen seine kleine Tochter und seine Frau, die flache Schuhe trug. Der Psychopath drang nun in das Haus des Polizisten ein, Frau und Tochter waren in großer Gefahr. Ich versuchte so viel zu begreifen, daß ich vierzig Zeilen füllen könnte: Der Polizist erschoß den Psychopathen, es folgte ein ergreifendes Gespräch mit der Hochhackigen, dann kehrte er zu Tochter und Frau zurück. Es ist gut, daß du wieder da bist, sagte die Frau, aber gib mir jetzt ein bißchen Zeit für mich selbst. Ich rief Peter an: Wir brauchen etwas Zeit für uns selbst, glaubst du nicht? Ich fürchte, die brauchen wir. Ziehst du aus? Für eine Weile. Hosen, Blusen, Pullover und Schuhe paßten in meine Reisetasche, der Laptop, die Zahnbürste, zwei Gesichtscremes in den Aktenkoffer. Mit einer kleinen Aufwallung von Stolz nannte ich dem Taxifahrer die Adresse, wo ich von jetzt an wohnen würde: Pfalzburger Straße in Wilmersdorf. Meine Schwester hatte die Wohnung vor ein paar Wochen gefunden. Für vier Zimmer war sie günstig, dazu rechnete Jill, die von sich gern behauptet, gut kalkulieren zu können, mit bis zu zwei zahlenden Mitbewohnern. Es gebe immer Schauspieler, die für eine Produktion ein Zimmer brauchten. Man könne ja am Bühneneingang des Schiller-Theaters einen Zettel aufhängen. Den Schlüssel hatte sie in der Kneipe unten im Haus hinterlegt: Nimm dir den Tapeziertisch ins hintere Zimmer, falls du schreiben mußt. Ein bißchen zu nüchtern, dieser Ratschlag. Freute sie sich nicht? Schließlich hatte ich fünf Jahre Vorsprung in Berlin. Von mir kannte sie die Unterschiede zwischen der Kreuzberger und der Schöneberger Szene. Ich hatte sie damals freundlich
empfangen, meine kleine Schwester, die eigentlich Julia heißt, als Kind aber ihren Namen nicht aussprechen konnte und sich umtaufte – in Jill. Bei ihrem ersten Berlinbesuch war sie fünfzehn, kaum selbständig genug, mit der U-Bahn vom Bahnhof Zoo zum Nollendorfplatz zu finden. Ich blieb freundlich, wenn sie ihr kleines Handgepäck in die Ecke feuerte, sich gleich aufs Bett schmiß, um schon mal vorzuschlafen für die Nacht im Dschungel. Später kamen dann Anrufe von Mami. Was ich denn wieder mit ihr gemacht hätte, das Kind habe ja tiefe Ränder unter den Augen. Ihre Schritte knarzten auf dem frisch abgezogenen Parkett: Willkommen, große Schwester. Ist es dir ernst mit der Entscheidung? Gutes Timing, die Handwerker sind weg, die Wohnung ist renoviert. Du kommst immer, wenn die Arbeit getan ist. Bleib in diesem Zimmer, bis du eine eigene Wohnung gefunden hast. Wieso eigene Wohnung? Hier ist doch genug Platz für uns beide. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Immerhin lächelte sie. Manchmal kommen die Dinge anders, kleine Schwester. Sie ging zur Tür, sah in den Flur, schien nachzudenken oder Zeit gewinnen zu wollen, drehte sich mir wieder zu, zwei Falten auf der Stirn, redete deutlich und langsam: Das hintere Zimmer paßt für dich, ich bekomme mehr Besuch als du. Der Raum ist vollkommen in Ordnung, daraus muß kein Vorwurf entstehen. Aber niemand macht irgend jemandem einen Vorwurf, erwiderte ich schwach. Zwei tiefe Stirnfalten warnten vor einer weiteren Unterbrechung. Sie setzte ihre Rede fort: Übrigens ist das vordere Zimmer laut, der Straßenlärm donnert ins Bett, aber das macht mir nichts aus, ich stehe sowieso früh auf im Unterschied zu dir. Sie hatte sich dafür gerüstet, einen eventuellen, tatsächlich vollkommen unberechtigten und auch von mir gar nicht geplanten Vorwurf abzuschmettern, und war bereit, sofort einen eigenen an die Stelle zu schieben. Ich brauch jetzt erst mal einen Milchkaffee,
seufzte sie. Gut, daß sie mir nicht zum Empfang noch die Hand gibt, dachte ich, meine Handflächen waren naß. Ich gab mir Mühe, auf unserem gemeinsamem Weg in die Küche leise zu gehen. Am Abend kam ein Anruf aus Kiel. Jill hatte unsere Mutter informiert. – Bist du sehr unglücklich? Es hat sich so entwickelt. Bitte jetzt nicht nach Gefühlen fragen, Mami, du bringst mich so leicht zum Weinen, und ich will jetzt vor Jill nicht weinen. Meine Mutter schien zu lauschen, ob ich jetzt mit dem Weinen anfinge. Mami, sie kann so hart sein! Diesen Satz hast du schon einmal gesagt, Liebchen, genau so. Ich glaube, da warst du elf und sie sechs. Du kamst zu mir gelaufen und hast geschluchzt, du könntest ihre Härte nicht ertragen. Bitte, Mami, denk dir jetzt nichts dabei. Sie hat auch gesagt: Vielleicht wird es ja lustig. Möbel brauchst du wohl ein paar. Er hat bestimmt noch welche im Keller, ruf ihn mal an. Mein Vater bot mir seinen alten Sekretär an, die Beschläge fehlten leider, zwei Thonetstühle, deren Korbbeflechtung repariert werden müsse, den Lehnstuhl, auf dem er seine Doktorarbeit geschrieben habe. Sonnabend könne er alles nach Berlin bringen. Über Gefühle kein Wort. Laßt Taten sprechen. So geht das. Am Sonnabend nachmittag hievten wir die Sachen die vier Treppen hinauf. Der Sekretär war ein Problem. Auf der dritten Etage glitt er mir aus den Händen, krachte auf die Treppe. Die Wohnungstür unter uns wurde aufgerissen: Mein Gott, habe ich mich jetzt erschrocken, rief eine blonde Frau, brauchen Sie Hilfe? Vielen Dank, keuchte mein Vater, suchte nach dem Türschild, wir sind ja gleich oben, Frau Magunna. Sie habe an einem ähnlichen Möbel gearbeitet, in Schwerin. Aus Schwerin kommen Sie? fragte er, slawische Herkunft? Dann sind Sie eine Obotritin. Ich wollte der Nachbarin erklären, daß mein Vater immer gleich feststellen müsse, woher die Leute
stammten, aber sie kam mir zuvor. Den slawischen Namen habe sie von ihrem Mann. Hätte mich auch gewundert, murmelte mein Vater, während er mit dem Ärmel Staub von seinem Sekretär wischte: Sie sind ja blond, groß und schmal, die Slawen sind kleiner… haben dunklere Haare und rundere Gesichter, ergänzte die Frau liebenswürdig, jetzt müsse sie aber gehen. Seid freundlich zu dieser Frau, bat mein Vater oben, sie hat eine tiefe Seele. Jill brachte ihn zur Tür. War er peinlich? wollte sie von mir wissen. Frau Magunna habe zwei Jungs, fünf und neun, die beim Vater auf dem Land lebten, manchmal kämen sie für ein paar Tage zu Besuch. »Obotritin« gefiel ihr. Jeder, der einmal eine Berliner Altbauwohnung bewohnt hat, weiß, daß die quadratischen, zum Hinterhof hinausgehenden Zimmer nicht einzurichten sind. Ich schob die Möbel herum, drehte sie im Uhrzeigersinn und gegenläufig, vertauschte ihre Reihenfolge, kaufte auf dem Trödelmarkt einen alten Paravent, um das elende Quadrat durch eine mobile Trennwand zu zerschlagen, grundierte das bordeauxrote Möbel in langer Nachtarbeit weiß, stellte es auf, kein Effekt, faltete es wieder zusammen und deponierte es in einer Zimmerecke, zu müde, das zentnerschwere Holz vier Treppen hinunter in den Keller zu schaffen. Kraft hat der Mensch nur, wenn er eine Vision verwirklichen will, nicht mehr beim Abtransport ihrer materiellen Überreste. Nach jedem Umbau, wenn ich den Staub von der Stirn gewischt, »Guns ‘n’ Roses« aufgelegt hatte und rauchend auf dem Sessel saß, steckte Jill ihren Kopf durch die Tür, sah sich die neue Ordnung an, verschwand im Bad. Ich hörte den energischen Strahl des Wasserhahns im Waschbecken zischen und wußte: Es hat ihr nicht gefallen. Eines Tages beschloß ich, die Dinge so zu lassen, wie sie gerade waren, und ging in die Küche. Jill schnetzelte Kalbfleisch: Was machst du? Ich gebe auf und trinke darauf
unten einen Wein. Sag mal, wolltest du nicht Bühnenbildnerin werden? Seltsame Berufswahl für jemanden, der nicht einmal sein eigenes Zimmer einrichten kann. Diese Unterhaltung wird etwas dauern, dachte ich. Da sie sich nicht zu mir umdrehte, konnte ich ruhig eine von ihren Zigaretten rauchen. Auf das Geräusch des Feuerzeugs sagte sie: Dann bring mal Zigaretten mit! Sie schob mir ihren zuklappbaren winzigen Aschenbecher hin, in dem kaum Platz für zwei Kippen war. Inzwischen hatte ich mir eine Antwort zurechtgelegt: Deshalb verbringe ich die Nächte am Computer und schreibe in Zeitungen hinein, daß andere Bühnenbildner Mist bauen. Offenbar kann ich das einigermaßen, ich bekomme dafür Geld, jedenfalls ein bißchen. Du aber, Jilly, willst Schneiderin werden, ohne je versucht zu haben, zwei Stück Stoff für ein einfaches Kissen aufeinander zu nähen. Das klang zu hart, aber ich hatte einen Auftrag von Mami. Ich sollte Jill klarmachen, daß ihre Fähigkeiten weniger in der exakten Verarbeitung gewebter Stoffe lägen als in der temperamentvollen Wiedergabe von Gelesenem. Meine Mutter hatte vor ihrer Heirat als Buchhändlerin gearbeitet, nach der Ehe den Beruf der Kindertherapeutin vorgezogen. Und sie hatte mir früh beigebracht, daß ich für meine kleine Schwester verantwortlich sei. Genaugenommen, seit Jill damals einmal einfach fortging. An einem warmen Sommerabend im Alter von drei Jahren packte sie ein halbes Pfund Butter und eine Packung Zucker in einen Stoffbeutel und verließ das Haus. Offenbar wollte sie fort. Niemand wußte, weshalb. In ihrem kurzen Rock, auf ihren strammen Beinchen, wanderte sie die Straße entlang. Einfach so. Stunden später lieferten Spaziergänger sie bei uns ab. Unserer Mutter machte das angst. Man müsse dem Kind beweisen, daß es bei uns schön sei. Wenn ich an etwas Freude hätte, sollte ich sie daran teilhaben lassen. Als ich das Pony bekam, brachte ich Jill bei, im Stadtwald eine Treppe
hinaufzureiten, gegen ihren Willen. Sie sollte das können, was ich konnte, sie war ja meine kleine Schwester. Und würde es immer bleiben. Sie würde immer das, was ich konnte, ein bißchen weniger können. Das erschien mir keine schlechte Aussicht. Vier Stockwerke unterhalb meines Zimmers in der Pfalzburger Straße befand sich der Lieferanteneingang einer Kneipe. Weil der Hof die Form eines aus dem Häuserblock herausgestanzten Luftkubus hat, behandelt er Geräusche wie ein Trichter: Er verstärkt unten fabrizierten Lärm auf seinem Weg in den Himmel. Morgens um sieben warfen die Getränkefahrer ihre Bierkästen aus Brusthöhe auf den Boden. Eine Viertelstunde vorher saß ich im Bett, wartete mit einem täglich sich verstärkenden Herzklopfen auf das Geschepper. Ein Literaturwissenschaftler, der das gesamte Werk Bertolt Brechts von der Tatsache des Brechtschen Aufwachsens neben einer Wassermühle her gedeutet hat, syntaktisch und semantisch, klärte mich über diese Aktivität meines Herzens auf. Ich hatte mit Brecht etwas gemein: Akustophobiker waren wir beide. Das hob die Sache. Ab sofort murmelte ich morgens mit durchgedrücktem Kreuz dieses zackige Wort gegen mein schlagendes Herz an. Bis ich eines Nachts einmal jemanden mitbrachte, eine nahezu unbekannte Versuchsperson aus einer Wilmersdorfer Stammtischrunde. Um sechs schlief mein neuer Liebster tief. Ich fand, einzuschlafen gehöre sich in solchen Nächten nicht, und wartete auf eine Gelegenheit, ihn zu wecken. Nun hör dir das an, rief ich noch vor dem ersten Kistenwurf, hör dir das an! Geliefert muß werden, brummte der Mann und schlief weiter. Eine Woche später wollte er wiederkommen, an meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag. Täglich entwarf ich von neuem, was ich anziehen würde. Am frühen Abend rief er an, er habe lange nachgedacht, er könne nicht kommen, seine
Freundin befinde sich in einer Krise. Es gelinge ihr einfach nicht, ihre Artikel über Punkmusik abzusetzen, obwohl die gut seien und sie immer pünktlich liefere. Ja, antwortete ich automatisch, geliefert muß werden. Ein Mühlstein rollte mir die Atemwege hinauf. Nach dem Gespräch nahm ich ein weißes Blatt Papier und notierte: Der Witz ist die plötzliche Entladung einer Vorfreude in nichts. Dann starrte ich auf diesen Satz, beurteilte ihn als gelungen und nahm mir vor, vier Büchsen Holsten darauf zu trinken. Jill riß die Tür auf: Gute Nachricht, Schwester. Eine Buchhandlung im Westend wird mich als Lehrling nehmen! Komisch, du hast einen ganz platten Kopf, guck mal in den Spiegel. Was ist denn mit deinen Locken? Sie strich mir über die Haare, halb tröstend, halb naturwissenschaftlich interessiert. Versetzt. Ich hatte ein bißchen damit gerechnet, ehrlich gesagt. Dann kommst du jetzt mit uns ins Kino, wenn man Geburtstag hat, kann man nicht in seinem Zimmer sitzen, ohne Licht. Wenn sie’s sagt. Unser Leben: Sonnabends schlenderten wir über den Wochenmarkt auf dem Winterfelder Platz, kauften ein: büschelweise Radieschen und Porreestangen, die aus der Plastiktüte ragten. Lauter Gemüse, aus dem wir dann nichts machten, weil sie abends immer verabredet war. Die Radieschen schrumpelten im Roten und faulten im Grünen, der Porree vertrocknete auf dem Balkon. Weshalb sollten wir auch kochen, wir lebenshungrigen, berufstätigen Frauen? Gegen zwei Uhr mittags besuchten wir einen Trödel oder ließen uns in einer Parfümerie die neuen Gesichtsmasken vorführen. Von solchen Ausflügen kamen wir erschöpft zurück. Jill faltete die schweren Samstagsausgaben der »Frankfurter Allgemeinen« und der »Süddeutschen« auseinander und legte die Anzeigenteile auf den Entsorgungshaufen, die Wochenendbeilagen ordentlich auf den Noch-zu-lesen-Stapel. Morgen abend, verkündete sie,
beschäftige ich mich mit dem Islam. Von da wird noch einiges auf uns zukommen, Schwester. Dann schüttete sie heiße Milch, aufgeschäumt mit dem neuen dänischen Stoßpatent, in zwei große Becher mit Espresso, und wir überflogen die Feuilletons. Nach wenigen Minuten schob sie ihren Teil zur Seite, weil sie zu einem Schluß gekommen war, der ausgesprochen werden wollte. Es folgte meistens etwas wie: Mein Gott, diese Paare und ihre jämmerlichen Haben-wir-noch-genügend-Eier?Gespräche. Diese partnerschaftliche Wochenendeinkaufswut, wie ich das hasse! Nie im Leben möchte ich die Hälfte eines solchen Paares sein. Mußt du ja auch nicht, sagte ich dann, bleiben wir doch zusammen. Du gehst abends aus, ich mache es mir hier auf diesem Sessel bequem und schaue fern. Wir zündeten uns eine Zigarette an, und Jill beschwerte sich über die Angewohnheit der Marlboros, sonnabends nach dem Marktgang nicht zu schmecken. Wenn sie ihren Milchkaffee ausgetrunken hatte, erhob sie sich, seufzte etwas über ihre linke Hüfte und ließ sich mit einem zufriedenen Bettschwer auf ihre Matratze fallen. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und lauschte, wie sie ihr Buch aufschlug, wie es wenig später raschelte, wenn sie sich umdrehte, ohne ihr Buch. Dieses, dachte ich dann, ist das bestmögliche Zusammenleben.
Anfang September wurden wir von unserem Onkel Pontus auf seine kanarische Finca eingeladen. Ich rief Mami an, sie solle mal nicht glauben, ihre Töchter seien noch so unselbständig, mit ihr und Großmama Ferien zu machen, bei einem Onkel, der den ganzen Tag Klavier übt und dabei auch noch bewundert werden möchte und der alle unmusikalischen Verwandten für so etwas wie lebensunwertes Leben hält. Entscheidungen wie Urlaubsziele treffe sie immer noch selbst, erklärte Jill, übrigens hielten sie Pontus’ Starallüren und auch
sein stundenlanges Geklimper überhaupt nicht davon ab, sich mit einem guten Buch am Swimmingpool zu bräunen. Sie fahre also selbstverständlich mit. Und da seien ja auch immer noch andere Leute als die Familie. Nach zehn Tagen kam sie zurück. Daß etwas passiert war, hörte ich an ihren schnellen Schritten. Sie strahlte sonnenbraun: Stell dir vor, ich bin verliebt! Jahrelang hatte sie behauptet, sich nicht verlieben zu können, weil sie, wenn es denn Gelegenheit gegeben habe, immer an Mami habe denken müssen und wie die sich verändere, wenn sie verliebt sei. Es folgte dann immer ein Versuch, Mamis Wandlung im Zustand des Verliebtseins zu beschreiben. Etwa so: zartes, feinfühliges Aufschauen zu Männern mit politischer Meinung, ewige Bereitschaft zu trösten, Sanftheit als Programm. Stolz, als Person gemeint zu sein. So was werde ihr nicht geschehen. Aber nun: Sie habe einen Mann dort kennengelernt, aus Ostholstein, vom Lande, absolut kein Intellektueller. Ein Landmann eben, ein Praktiker. Sicher werde er sie bald besuchen. Ich würde dann ja selbst sehen. Der Landmann ließ nicht auf sich warten. Braun im Gesicht, hellblond wie meine Schwester, gut abgehangene BarbourJacke, Cordhosen, Budapester Schuhe. Streckte mir die Hand hin, mit festem Druck: Freut mich. Gleichfalls. Jill lauschte, während sie Milchkaffee machte. Du schreibst für Zeitungen, habe ich gehört. Kann man damit eigentlich Geld verdienen? Jill pfiff leise eine Melodie aus einer Mozart-Oper. Es gibt noch einen besseren Milchschäumer, erklärte mein neuer Schwager, einen aus Chrom, die aus Glas taugen nicht viel. Während des Kaffees kam er richtig in Fahrt. Wo welches Hundefutter am günstigsten, wann der Knick vom ostholsteinischen Acker verschwunden sei, welchen Filmkritiker er am liebsten lese. Na, dann laß uns mal in die
Stadt, Jilly. Er griff seine Jacke. Abends legte Jill Huhn mit Oliven, Zwiebeln und Tomaten in eine Kasserolle. Theaterkritiken, überlegte mein neuer Schwager laut, während er sich einen Sherry eingoß, sind im Grunde überflüssig, Cliquenwirtschaft. Da läuft alles über Mundpropaganda. Ich suchte den Blick meiner Schwester, die suchte den ihres Geliebten. Der machte weiter: Dein letztes Stück, Schwägerin, diese Glosse über die Höflichkeit, habe ich gelesen. Der Artikel hatte, mit Verlaub, einen Fehler. Es war zuviel Selbstmitleid drin. Du bist stärker im Beschreiben als im Glossieren. Jill hockte vor dem Ofen und piekste mit einer spitzen Gabel in das Olivenhuhn. Gleich dreht sie sich um, hoffte ich, steht auf und trägt ihren neuen Freund vor die Tür. Und weil er groß ist und sie es nicht allein schaffen wird, helfe ich ihr. Seine Reisetasche werfen wir ihm hinterher. Dann ist alles wieder gut. Nichts dergleichen. Jill nahm sich mit einer eleganten Bewegung die Schürze ab, rief zu uns herüber: Gebt mal eure Teller! Der Landmann ging zu seinem Lieblingsthema Gartenbau über, bis der Ärger in mein Rückgrat stach. Ich preßte es heraus: Dank für all die Auskünfte, Schwager. Nützlich sind sie ja, nur möchte man die Welt auch ein Stück weit selbst erfinden dürfen. Bube hat einen Jack-RussellTerrier, unterbrach Jill fröhlich, sie heißt Lili, nächstes Mal bringt er sie mit. Der Landmann, der inzwischen zärtlich Bube getauft worden war, setzte die Aufzählung seiner Erkenntnisse fort. Er habe gerade eine Untersuchung über Dosenfutter gelesen, das könne man nicht mehr füttern. Wieso, was ist denn damit? fragte Jill interessiert. Dreck ist es, Abfall. Jetzt sei mal wieder ich dran, glaubte ich: Müssen wir das beim Essen besprechen? Jill machte eine abwinkende Handbewegung in meine Richtung.
Auch daß unser Bube das einzige Bad in der Wohnung übertrieben in Beschlag nahm, störte Jill nicht. Beim Frühstück am nächsten Morgen flüsterte sie mir zu: Er ist ein Feinmacher, er genießt gern. Schön für ihn, aber ich muß mal, Schwesterchen. Die Kneipe hat schon geöffnet. Mit welchem Recht, fragte ich mich auf dem Vier-Treppen-Rückweg, macht sich dieser Knabe bei uns ein schönes Leben? Was hat der Jill zu bieten? Was ist der denn? Ein Landmann, der bis in die Puppen schläft, bloß weil er irgendwann einmal ein viereckiges Gutshaus erbt, wo er seinen Besuchern einen trockenen Keks zum Tee anbieten wird. Es stand nicht gut um meine Autorität als ältere Schwester. Einige wenige Male noch bäumte sie sich auf. An einem Sonnabend beschlossen wir, einen Ausflug nach Polen zu unternehmen. Früh aufbrechen, hieß es am Abend. Morgens um elf entschied Bube, erst mal ein Bad zu nehmen. Krieg. Als er im halbvollen Schaum saß, drehte ich den Hahn zu, beschäftigte mich dann in der Küche damit, meinen Kaffee in kleinen Schlückchen zu trinken. Er erschien in der Tür. Wenn das noch einmal vorkommt, Schwägerin, donnerte er schaumtropfend, setzt es Prügel! Ruhig bleiben, dachte ich, noch vier bis fünf ganz kleine Schlückchen, dann hast du ausgetrunken. Was hat sie denn gemacht? wollte Jill wissen. Das Wasser hat sie mir abgedreht. Das geht zu weit, fand Jill. Die Stimmung während der Fahrt nach Frankfurt/Oder war labil. Sie fuhr, ihren Liebsten neben sich, ich hockte hinten wie eine ledige Großtante. Goldgelb und karminrot leuchteten die Blätter. Die Bäume taugen nichts, murmelte mein Schwager, zu dünn, aufgeforstet. Ich finde es sehr schön hier, rief ich aus dem Fond. Schön ist allenfalls das farbige Laub, wußte Bube, und das ist überall gleich schön. Hier also nicht weniger, rief Tante Ich von hinten. Der Wald taugt trotzdem nichts, Jill. Auf der Rückfahrt kam es zu keinem Gespräch. Beim nächsten
Besuch brachte Bube seine Terrierhündin Lili mit, die hochnäsig über die Dielen tänzelte und mir aus der Armbeuge ihres Besitzers heraus verächtliche Blicke zuwarf, als wisse sie ganz genau, wer hier nicht hingehöre. Manchmal erkundigte sich Mami leicht besorgt: Ihr beiden wollt doch nicht als zwei herumzauselnde Hutzelweiber enden, die Pralinen voreinander verstecken, oder? Ich hegte langsam den Verdacht, Mami hielte Bube für eine gute Partie. Das wußte ich nun besser, da mußte ich vielleicht sogar Jill von einem Irrglauben erlösen. Vom norddeutschen Adel war nichts mehr zu erwarten. Von uns aber auch nicht viel: Buchhandelslehrling die eine, freie Journalistin ohne Aufträge die andere, alles nicht besonders geldversprechend. Einmal, bei einer Abendveranstaltung mit gesetztem Essen, fragte mich ein prominenter Essayist ohne jede Vorankündigung und ohne sich bis dahin besonders um mich gekümmert zu haben, einen halbzerkauten Bissen Tafelspitz noch in der Backentasche: Und womit wollen Sie mal groß herauskommen? Daß mir darauf so gar nichts einfiel, vergällte mir den Rest des Abends. Fest stand: Weder Jill noch ich wußten, was wir werden wollten, geschweige denn hatten wir einen Plan, mit irgend etwas groß herauszukommen. Wochentags sah ich sie ja kaum, nachts schrieb ich und schlief morgens länger. Nur sonntags frühstückten wir gemeinsam. Sie dachte an Bube, den sie vermißte, ich versuchte das Gespräch auf seine Hündin Lili zu lenken, die mir gefallen hatte. Irgendwann beim Frühstück klingelte immer das Telefon, und eine der zahlreichen Freundinnen meiner Schwester fragte, ob sie Lust hätte, um den Grunewaldsee zu laufen, sie hätte etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen. Jill sollte ihr einen Rat geben. Wenn die beiden alles beredet hatten, die Freundin trotz des Liebeskummers wieder ein bißchen lachen konnte, beobachteten wir die
Hunde. Flitzte ein Jack-Russell-Terrier vorbei, hielt Jill einen schwungvollen Vortrag über die besondere Intelligenz dieser Rasse. Auch in meinem Leben würde ein Jack-Russell-Terrier sicher vieles vereinfachen, überlegte ich mir beim Mittagsschlaf. Ach, Pappi, was du wohl gerade machst. Mein Vater hatte immer mittags geruht. Gegen eins kam er aus der Kanzlei nach Hause. Beim Essen versuchte er uns Töchter aufs Leben vorzubereiten. Mit der Frage »Wie würdet ihr folgenden Fall entscheiden?« lenkte er das Gespräch auf sein Tagwerk. Er wollte unser Rechtsempfinden prüfen. Hört euch das mal an: Ein siebenjähriger Junge, nennen wir ihn Mark, bringt über Ostern Krötchen, seine geliebte griechische Landschildkröte, in ein Zoogeschäft, weil die Familie verreisen will. Krötchen kommt in ein Terrarium zu zwei Artgenossen. Der Verkäufer markiert es mit einem Kreuz auf dem Panzer. Als Mark sein Krötchen Tage später abholen will, ist es fort. Der zweite Verkäufer hat es nichtsahnend an einen anderen Jungen, nennen wir ihn Freddy, verkauft. Aber auch Freddy hat Krötchen liebgewonnen, er weigert sich, es wieder herzugeben. Wem gehört Krötchen nach unserem Recht? Was glaubst du? Gespannt fixierte er mich. Während ich nachdachte, schob er seine Lippen hin und her. Mark? flüsterte ich. Falsch, Kindchen, gutgläubiger Erwerb, in unserem Recht bleibt sie bei Freddy. Bis ich zehn Jahre alt war, strengte mich diese Befragung so an, daß ich nach dem Essen zur Beruhigung auf Mamis Schoß flüchtete. Nach dem Essen verschwand mein Vater in seinem Schlafzimmer. Probierte ich einen neuen Akkord auf unserem Flügel aus, erschien er in seinen gerippten Baumwollunterhosen und einem blaßblauen Hemd oben im Flur, ließ eine wütende Drohung die Treppe herunterrollen. Sein Ruhen war ihm wertvoll. Auch nach Mittagessen bei seiner Mutter, unserer Großmutter Elsa, sank er auf den
Teppich nieder, streckte sich, den Kopf unter dem blanken Mahagonitisch. Das war für uns ein gewohnter Anblick, unser Vater da unten ohne Kopf. Er selbst erklärte seine schlagartige Müdigkeit mit den holsteinischen Rahmsoßen, Elsas Spezialität. So und nicht anders hätten Soßen zu sein, bekräftigte sie jedesmal, schließlich war sie immer noch aktiv im Bund deutscher Unternehmerinnen, was hatte sie mit ihrem Sohn, der ein unordentlicher Advokat geworden war, über Soßen zu diskutieren: Kümmer dich mal lieber um deine Ligusterhecke, warnte sie ihn, der Vorgarten ist die Visitenkarte des Hauses. Diese unter den Tisch gejagte Bemerkung sollte ihm beweisen, sie sei in der Lage, sich jederzeit mit denen zu verbünden, die seine wuchernde Hecke nicht zu schätzen wußten. Uns Enkelinnen warf sie dabei einen verliebten Blick zu, bei dem sie die Zähne etwas schief aufeinanderpreßte. Daß wir auf ihrer Seite waren, wußte sie, aber es gefiel ihr, sich dieser Tatsache immer wieder zu vergewissern.
Anfang Oktober bot mir ein Bekannter, seit kurzem Chefredakteur einer Ostberliner Wochenzeitung, eine Anstellung an. Ein Hamburger Verlag habe das Blatt gekauft, es könne jetzt noch ein paar junge Leute aus dem Westen gebrauchen. Ich solle mal bei den Ostkollegen vorsprechen. Die hatten Bedenken: ein bißchen zerstreut, eure Nachwuchskraft. Der Chefredakteur beruhigte sie, Kieler Bourgeoisie, es werde sich schon einspielen. Das Problem war jetzt der Mittagsschlaf. Den Kopf unter dem Schreibtisch auf Zeitungen gebettet versuchte ich eine Weile fortzudriften. Sehr weit kam ich nicht. Die Ostzeitung wurde eingestellt, ich blieb tagsüber wieder zu Hause. Aufträge kamen selten, es gab nicht viel zu tun.
Dadurch geriet der Mittagsschlaf ein wenig aus der Form. Ich mußte mich bald immer häufiger hinlegen, manchmal bloß um einen Hauptsatz mit einem Nebensatz zu verknüpfen. War mir der Einfall für die Filmkritik nicht gekommen, so wußte ich vielleicht nach dem Aufwachen, weshalb unsere Waschmaschine nicht funktionierte. Jill beobachtete meinen Tagesablauf mit Argwohn. Sei es, daß sie sich sorgte, ich könne tatsächlich vereinsamen, sei es, daß sie es leid war, Hauptverantwortliche für meinen Gesprächsbedarf zu sein und mir zu diesem Zweck sogar ihre Freunde zur Verfügung stellen zu müssen, jedenfalls spürte ich, daß sie irgend etwas gegen mich vorbereitete. Eines Tages überraschte sie mich mit dem Vorschlag: Du solltest mal verreisen. Findest du nicht auch? Wir hocken hier so aufeinander. Wäre es nicht für dich ganz gut, du würdest mal was anderes sehen als dein Zimmer oder Kinos und Theater? Andere Leute als mich und Bube? Ich überlegte: Reiten würde ich gern mal wieder. Sie schien erleichtert: Dann mach doch eine Reitreise, schlug sie vor. Jill ist praktisch. Am nächsten Morgen besorgte ich mir Kataloge und blätterte. Alle Länder der Welt boten Reitreisen an. Der Hamburger Reiseveranstalter empfahl Südpolen, die Karpaten, phantastische Tour. Eine Woche später stieg ich in den Nachtzug nach Krakau. Die zwei deutschen Ehepaare im Abteil hatten denselben Trail gebucht. Wir blieben schlaflos, auf den polnischen Gleisen quietschte es. Ein großer Mann mit Schirmmütze holte uns in Rzeszów ab: Meine lieben Gäste, ich heiße Jan. Willkommen in Südpolen, lassen Sie uns Tee trinken, und dann können Sie entscheiden. Wollen Sie gleich aufs Pferd oder in einer Cessna die Gegend erkunden. Cessna! riefen die beiden Paare. Der schnauzbärtige Flieger war lustig gestimmt. Im Achtzig-Grad-Winkel schob er die Maschine in die Luft, ließ sie unangekündigt wieder fallen.
Ich tippte ihm auf die Schulter: Mir wird schlecht, bitte tun Sie das nicht noch mal. Der Pilot verstand kein Deutsch, er vermutete, ich fände das prima, dieses Fallenlassen. Beim drittenmal formte ich meine Hände zu einer Schüssel. Als die Cessna unter dem begeisterten Gejauchze der beiden deutschen Frauen zum viertenmal hinabfiel, sauste mein Mageninhalt in die vorbereitete Handschüssel. Jan bat den Flieger, vorsichtig zu landen. Mißverständnis, lachte er. Als wir ausgestiegen waren, reichte er mir eine Flasche Wasser, die Hände abzuspülen. Abends hielt Jan aufgespießte polnische Würste über ein Lagerfeuer, löschte dann gegen Mitternacht schnell die Glut: Liebe Freunde, ich möchte euch jetzt unseren Urwald zeigen, die Pferde werden gerade gesattelt, sagt also nicht nein. Meine Landsleute waren wieder begeistert. Wir galoppierten durch den stockdunklen Wald, dicht an Bäumen vorbei. Die Pferde schienen zu wissen, wie weit sie Abstand zu halten hatten, damit unsere Knie nicht gegen Stämme prallten. Vier Uhr morgens waren wir zurück. Ruht euch jetzt aus, liebe Gäste, bat Jan höflich, um sieben reiten wir weiter. Ich sah, daß er beim Gehen leicht schwankte vor Erschöpfung, sich aber bemühte, uns das nicht merken zu lassen. An einem Hang verfehlte mein Pferd mit dem Vorderbein den Pfad, strauchelte, kippte nach links. Wir stürzten die Böschung hinab. Als ich aufstand, war Jan schon da, putzte mir die Erde aus den Haaren. Nichts passiert, oder? Hast du geschlafen? Ich muß viel schlafen, sagte ich, ich habe einen niedrigen Blutdruck. Jan rief seinem Gefährten Leszek zu, er solle nach der Stute sehen. Erzähl weiter, bat er und setzte sich auf einen Baumstamm. Den beiden deutschen Paaren machte er ein Zeichen, sie möchten sich einen Moment gedulden. Mit der flachen Hand schlug er auf das Holz. Ich hockte mich neben ihn. Sprich langsam, sagte er, damit ich dich verstehe.
Die große Nase hast du schon vor dem Sturz gehabt, oder? Es ist so, quasselte ich los, man stirbt nicht daran, daß da keine Voltstärke im Blutstrom vorhanden ist, man hat nur immer kalte Füße und morgens geschwollene Augen und keine Lust aufzustehen. Was ist das, Voltstärke? fragte er. Zittrig zog ich eine Zigarette aus der Brusttasche. Rauchst du? fragte er erstaunt. Muß ich doch! Rauchen hilft, weil es die Gefäße verengt. Das Gehirn glaubt, da sei was los in den Adern. Jan half mir hoch: Komm, laß uns weiterreiten. Nach dieser Zigarette, bat ich. Mir war schwindlig. Er nahm mir die Zigarette aus der Hand und trat sie aus: Rauchen macht, daß du stinkst, Kleine. Jetzt reitest du exakt hinter mir her, hörst du? Sonnenflecken leuchteten auf seinem karierten Hemd. Schau mal nach rechts, Stadtkind, da sind Wildschweinspuren. Ich mache aus dir einen polnischen Pfadfinder, Kleine, ich wette, du kriegst kein Feuer an, wenn es regnet. Ich habe in Berlin dazu selten Gelegenheit, Jan. Man sollte trotzdem wissen, wie es geht. Erzähl weiter von eurer interessanten Stadt. Ich schreibe über Theater. Das schien auf ihn keinen großen Eindruck zu machen. Für welche Zeitung? Sie heißt »Wochenpost«, es war die größte Wochenzeitung Ostdeutschlands. Oho! Schöner Name. Erst seit zwei Jahren führe er Touristentrails, erzählte er, vorher sei er Architekt gewesen: Sieh dir bei Gelegenheit mal den Marktplatz in Warschau an. Nach dem Krieg stand dort kein Haus mehr. Wir Polen sind gute Restaurateure. Jetzt gibt es keine Arbeit mehr für uns, das Land ist pleite, Kleine, komplett, vielleicht erlebst du so was auch noch. Beim Abendessen im Rzeszówer Hotel sprachen wir deutschen Touristen über die Wende und was wohl auf uns zukomme insgesamt. Über Rationalisierung, Arbeitslosigkeit, Gewinne von Konzernen, Sozialabbau, die Klimakatastrophe. Ich redete am meisten, euphorisiert von meinem Sturz. Die
Leute fragten, ob ich mir wehgetan hätte. So ein Sturz habe durchaus etwas Gutes, erklärte ich ihnen, er schütte Adrenalin aus, rüttele einem den Kopf zurecht. Man fühle sich hinterher wie befreit. Jan bewirtete uns. Manchmal sah er spöttisch zu mir hinüber. Möchtet ihr Wodka, liebe Gäste? Seid aber vorsichtig damit, morgen haben wir einen langen Tag. Dann verschwand er. Mir war danach, noch ein bißchen über Stürze zu sprechen oder über den Sozialabbau, was immer. Hauptsache, noch etwas reden. Aber die anderen wurden schnell müde, als sie sahen, daß Jan fort war. In meinem Hotelzimmer mit seinen zwei Furnierschränken, dem aufgesprungenen Linoleumboden und den vier Betten versuchte ich zu lesen. Die Nachttischlampe flackerte, der Wasserhahn tropfte, und ich glühte vor Stolz, so gut gefallen zu sein. Um halb fünf weckte mich Klopfen an der Tür: Wach auf, Kleine! Jans dunkle Stimme. Laß uns die blaue Stunde ansehen. Ich stolperte in meine Reithose, streifte den Pullover über das Nachthemd. Jan sah aus, als sei er die Nacht lang durch den Wald gelaufen. Du erlebst sie zu Hause nie, die blaue Stunde, weil du immer schläfst morgens um halb fünf. Sie ist etwas Besonderes. Er nahm mich in den Arm. Schlaftrunken trottete ich zwischen ihm und seinen zwei Hunden. Schlampiges Hotel, was? Polen ist eine einzige Schlamperei. Er zupfte am Fabrikschild meines Pullovers: Schau, schau, du bist aus Deutschland, Kleine, aber trotzdem unordentlich, das Ding hier hast du falschrum angezogen. Wir liefen über eine Wiese. Er bog Sträucher zur Seite, half mir, über einen Graben zu springen auf eine kleine Lichtung, die in kräftigem Grün leuchtete. Dort breitete er seine Jacke auf das feuchte Gras. Nach einer Weile flüsterte er: Sieh mal, dort! Ich konnte nichts entdecken. Er setzte sich hinter mich, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und lenkte meinen Blick.
Vom hinteren Ende der Wiese spazierten zwei dunkelgraue Störche in unsere Richtung. Ihre orangeroten Füße leuchteten im Morgengrauen. Nach fünf Tagen ritten Leszek und drei Mädchen die Pferde zurück. Uns Touristen brachte ein kleiner Bus nach Rzeszów. Im Zug nach Krakau erzählten die anderen von Ungarn und Irland, dort würden sie im Herbst reiten gehen. Diese Polenreise ist noch lange nicht zu Ende, wußte ich, jedenfalls nicht für mich. Ich fragte mich, in welchem Moment genau ich mich in Jan verliebt hatte. Auf dem Flugplatz, als er mir dunkel lachend Wasser gab, meine Hände abzuspülen und ich, weil ich ihm nicht ins Gesicht sehen wollte, entdeckte, daß seine Schnürsenkel lose waren wie bei coolen Jungs. Wenn du erlaubst, hatte er beim Abschied gesagt, besuche ich dich in Berlin, ich rufe dich an. Der Anruf kam nicht. Während meines Mittagsschlafs träumte ich von einem Hund, der mich über den Tag begleitete, so wie Jans Hunde ihn begleiteten. Mit einem Hund wäre ich vollständig. Wie Jan. Jill war skeptisch: Erinnere dich, wer damals für Joseph immer das Futter gekocht hat, du doch nicht – Mami. Ihr zu widersprechen ist schwer, sie hat von klein auf trainiert, im Recht zu sein. Diesmal riskierte ich es: Als wir damals den Hund bekamen, war ich sechs, jetzt bin ich siebenundzwanzig, Hundefutter werde ich wohl kochen können. Na denn, nur zu. Jill, die Argumente gegen ihre Ansichten für grobes Benehmen hält, schlürfte ihren Milchkaffee aus. Für sie war die Sache erledigt. Fünf Jahre jünger, aber anderthalb Köpfe größer als ich. Auf der Straße ging sie schnell. Einer muß doch für einen zuständig sein, hechelte ich, ein Hund würde das sicher gern übernehmen. Sie verringerte ihr Tempo: So? Ich dachte immer, es wäre umgekehrt. Vielleicht fielen mir die überzeugenderen Gründe nicht ein. Daß ich das Leben schwieriger machen wollte, damit
es weniger schwer sei, durch die Gegenwart eines Wesens, das von seinem Tod nichts weiß. Oder daß der Mensch im Westen Europas, seit er sich über die großen Dinge nur noch schwer Klarheit verschaffen könne, gezwungen sei, diese für sich wieder so weit zu verkleinern, bis sie einigermaßen überschaubar wären. Ein Hund sei doch wohl überschaubar! Oder daß Pappi sich auch, exakt in meinem Alter, einen Cocker-Spaniel angeschafft hatte. Ich mußte meinen Vater nur ansehen, um zu wissen, daß ich seine Fortsetzung war. Was aus mir einst werden würde, begriff ich, wenn ich ihn beobachtete. Irgendwann würde ich auf die Idee kommen, meine Haare mit einem Gummiband daran zu hindern, vor die Augen zu fallen. Irgendwann würde ich mir sein Stottern zulegen. Vielleicht reichte die Zeit nicht für diese Erläuterungen, Jill war noch verabredet mit jemandem, der ihren Rat brauchte, und wollte jetzt das Gespräch beenden: Hunde machen nur Schwierigkeiten. Man liebt sie, und dann fressen sie Rattengift. Oder laufen einfach weg. Grausam. Weißt du nicht mehr, wie wir damals auf Fanø Joseph verloren haben? Auf der dänischen Nordseeinsel Ferien zu machen war eine Leidenschaft unserer Mutter. Im rauhen Seewind träumte sie von der Côte d’Azur und der Toskana, wo maßgebliche Leute ihren Urlaub verbrachten. Den Dackel Joseph nahmen wir mit. Pappi brachte uns hin, reiste gleich wieder ab, um zu arbeiten. Am Wochenende kam er uns besuchen. Wir bewohnten jedes Jahr dieselbe Kate, nur die Zimmer wurden immer anders verteilt. Morgens zogen wir in unsere Sanddüne, bei jedem Wetter. Man mußte früh aufbrechen, damit nicht irgendeine rheinische Großfamilie auf die Idee käme, sich in unserer Düne niederzulassen. Joseph pflockten wir an, er hätte sich sonst in Richtung der Kaninchenlöcher davongestohlen. Jeder von uns legte sich mit seinem Buch auf ein großes Handtuch. Die
Wolken hatten es eilig, die Sonne, wenn sie denn einmal durchbrach, schnell wieder zu verdecken. Trotzdem sah Mami es nicht gern, wenn wir angezogen blieben. Sonne mußte auf die Haut. Der Wind füllte die Buchseiten mit feinem Sand. Ein paar Dünen weiter lag eine befreundete Familie, ein Slawistikprofessor, der ununterbrochen vor sich hin summte, Frau Elfchen und Sohn Christoph. Wir waren gleichaltrig, Christoph kam oft zu uns herüber. Eines Sommers riet mir Mami, Dostojewskis »Idiot« zu lesen, Pappi fand, ich sei jetzt mit sechzehn im richtigen Alter für Thomas Manns »Buddenbrooks«. Ich hielt es für angemessen, erst Mamis Rat zu befolgen. Als sie sah, daß ich bei den letzten Seiten angelangt war, wollte sie wissen, ob ich Lust hätte, mit ihr über das Buch zu sprechen. Im Moment nicht, sagte ich, erst kommen die »Buddenbrooks« dran. Ich bin gerade im Schwung. Christoph war empört. Wie man Thomas Mann, diesen zynischen Materialisten, noch zu lesen wünsche, wenn man Dostojewski schon kennengelernt habe, unbegreiflich. Testen darf man es aber doch, bat ich ihn. Nach einer Stunde kam er zurück. Ich sagte, mir schiene, man könne die Dinge auch so sehen wie Thomas Mann. Außerdem hielten die dickeren Seiten dieses Buchs dem Sand besser stand als die Dünndruckblätter des Taschenbuchs. Mein Freund schüttelte unwillig seine Locken, erhob sich aus der Hocke von meinem Handtuch, ging zu den Seinen zurück. Die Kinder, die ihre Sommer mit uns auf Fanø verbrachten, waren jedes Jahr dieselben. Die runderen hielten es Stunden im Wasser aus, weil die Kälte lang brauchte, bis sie sich durch die schützenden Polster hindurch bemerkbar machte. Die dünnen staksten mit Fohlenbeinen ins Meer, verschränkten die Arme vor den heranrollenden Wellen, beugten sich der Pflicht, kurz unterzutauchen, spielten dann am Strand zitternd Federball
gegen den Seewind, der den kleinen Plastiktrichter von den Schlägern fortwirbelte. Jill war ein Wasserkind, ich gehörte zu den Fröstelnden. An den Wochenenden waren wir eine vollständige Familie. Jill und ich lauschten, wann die Sticheleien beginnen würden. Die Eltern lagen in der Sandkuhle wie Zeiger auf einem Zifferblatt. Er der große für die Minute, sie der kleinere für die Stunde. Die Füße nah beieinander, die Köpfe weit auseinander. Er trug seine einstmals marineblaue Frotteebadehose, die mehrere Nummern größer geworden war über die Jahre und nach dem Schwimmen bis auf die Knie reichte. Regelmäßig ließ er ein frisches Gummiband durch den Bauchsaum ziehen, damit die Lieblingshose der Schwerkraft trotzen könne. Das war sie ihm wert. Mami haßte die Hose. Kam er vom Schwimmen zurück, drehte sie sich weg und begann ein Gespräch. Ihr gehe es ähnlich wie Christoph, Dostojewski sei ihr näher als Thomas Mann. Warum? wollte Pappi wissen. Mami überlegte: »Die Brüder Karamasow« verstehe ich als ein Buch über das Gleiten der Seelen. Was ist das? fragte er knapp. Sie fühlen sich nicht sicher in ihren Körpern, die Seelen, sie sind Zwängen unterworfen, von denen die Körper nichts wissen. Pappi wrang seine Hose aus: Kannst du das mal so beschreiben, daß ich ein bißchen verstehe, wovon du redest? Nein, sagte Mami leise, du versuchst ja gar nicht zu begreifen, du willst mich bloß verbessern. Es schien geschickter, nicht allzulang in der Düne zu bleiben. Wir packten das Picknick und die Badetücher ein, fuhren zu der Kate zurück. Sie bot mehr Platz, einander auszuweichen. Einmal brachen wir sehr hastig auf, so schnell, daß wir Joseph vergaßen. Jeder von uns dachte, der andere habe ihn mitgenommen. Wir bemerkten es erst bei der Ankunft, jagten an den Strand zu unserer Kuhle zurück, fanden aber nur die durchgebissene Leine am Pflock. Den Rest des Tages fuhren
wir im Schrittempo rufend die Strecke zwischen Strand und Haus ab. Nichts. Am nächsten Morgen kam die dänische Nachbarin mit einer verbundenen Hand. Unser Dackel sei nachts durch ihren Garten gestreunt. Als sie ihn greifen wollte, habe er sie gebissen, sei dann wieder fortgelaufen. Voller Hoffnung schwärmten wir wieder aus. Niemand hatte Joseph gesehen oder etwas von ihm gehört. Spät am Abend kam unser weißes Auto mit wilden Lichtzeichen den Sandweg heran. Mir war übel vor Aufregung. Joseph saß auf Jills Schoß, stützte die Pfoten auf das Armaturenbrett. Sie hatte ihn auf einem Sportplatz entdeckt. Da saß er, schaute den dänischen Kindern beim Kicken zu. Kurz vor dem Einschlafen sagte sie gelassen: War doch klar, daß wir ihn wiederfinden, Mensch. Vielleicht wäre die Familie schon früher auseinandergebrochen, hätten wir damals Joseph nicht wiedergefunden. Selbst ein banalerer Verlust kann uns unter Umständen schwächen: Einen Seidenschal, mit dem wir abends ausgegangen sind, am nächsten Morgen zu vermissen kann uns beschämen. Nicht weil wir uns fortan mit diesem Schal nicht mehr schmücken können, sondern weil wir ihn, für den wir zuständig waren, sich selbst überlassen haben an einem ihm vielleicht nicht genügend freundlich gesinnten Ort. Mach’s, wenn du es machen mußt, seufzte Jill, während sie die Wohnungstür aufschloß, ich bin nicht dagegen, aber du mußt die Hundemutter sein. Parke ihn nicht bei mir, wenn du keine Zeit hast. Dein polnischer Freund hat immer noch nicht angerufen? Nein. Glaubst du, der ruft noch an? Ja. Sie schien nicht so überzeugt, sogar ein bißchen verärgert über meine Sicherheit. Mich wunderte, daß sie die für echt hielt. Ihr Ton wurde herrisch, offenbar mußte ich jetzt bestraft werden: Hast du Frau Magunna in der letzten Zeit mal gesehen? Nur gehört. Vorgestern donnerten Bach-Kantaten aus ihrer Wohnung. Die
Frau hat ihre Gefühle nicht im Griff. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß das mir galt und nicht unserer Nachbarin. Am nächsten Morgen besorgte ich mir eine Anzeigenzeitung: vier Jack-Russell-Terrier. Die Züchterin wirkte beglückt, ja, ja, zwei Rüden gebe es noch. Sie hätten allerdings, das wolle sie mir nicht verschweigen, zu lange Nasen. Das störte mich nicht, meine ist zu lang und zu dick dazu. Als ich vierzehn war, behauptete mein Vater, diese Nasenform sei durch seine Großmutter mütterlicherseits in die Gene geraten, die habe auch schon damit gehadert und mehrmals täglich kräftig mit Daumen und Zeigefinger seitlich am Nasenbein hinabgestrichen, später sogar ihre Kinder und Enkel angehalten, das Verschmälern ihrer Nasen nicht zu vernachlässigen. Ich könne das ja auch mal probieren. Mami bat ihn, mit so blöden Geschichten aufzuhören, meine Nase sei vollkommen in Ordnung und werde nach der Pubertät sicher noch hübscher, auch kleiner. Die Züchterin öffnete das Gartentor, neben ihr zockelten die beiden Welpen. Der eine, lockig, rotweiß gefleckt, kugelte sich auf den Rücken, der andere, drahthaarig, weiß mit einem roten Fleck auf der rechten Hüfte wie auf der japanischen Flagge, suchte irgendwas. Suchte und suchte, nahm keine Notiz von mir. Den da will ich! Herausforderungen sind anzunehmen. Feigling kann man immer noch werden. Wir tauschten Schutzgebühr gegen Impfpapiere. Mit einem Kescher lockte die Frau das Hündchen unter der Mähmaschine hervor, setzte es in einen Pappkarton auf alte Scheuerlappen. Getrennt werden die sowieso, brummte sie, getrennt werden sie immer. Wir luden den Kasten auf den Beifahrersitz. Zu Hause verkroch sich der Kleine in der Kleiderkammer, wimmerte dort eine Stunde lang, legte sich dann erschöpft ins unterste Fach meines Bücherbords. Jill hockte sich dazu,
streichelte seinen Welpenbauch. Süß ist er ja. Vielleicht will er die Nacht bei mir verbringen. Laß ihm die Wahl. Auf gar keinen Fall, Jilly. Heute nacht schlafe ich auf dem Sofa neben dem Bücherbord. Morgens lag der Kleine auf dem Kopfkissen, den Rücken an meinem Gesicht. Ich erschrak vor Glück: Er wollte also für mich zuständig sein! Jill hatte inzwischen Zuständige gefunden, einen Restaurantkritiker und einen Drehbuchschreiber, Männer Mitte Zwanzig. Seit sie die beiden zusammengebracht hatte, waren sie unzertrennlich, huldigten ihrer Freundschaft, indem sie deren Patin täglich Besuche abstatteten. Dabei offenbarten sie ihre Einfälle. Jede ihrer Ideen passierte die Küche meiner Schwester, die, während sie zuhörte, gewöhnlich ein Huhn mit Reis bereitete. Wenn ich den Hund allein ließ, zerfetzte er mit seinen spitzen Milchzähnen Jills Filzpantoffeln. Der ist ja niedlich, der Zuständige, seufzte sie, wackelte mit dem Zeh im löchrigen Hausschuh. In den vergangenen Wochen hatte Jill ein intensives Überlegenheitsgefühl entwickelt. Ich könne den Geschichten, die sie erzähle, nicht mehr richtig folgen. Ob ich mich denn in einem ständigen und ganztägigen Mittagsschlaf befände? Die Geschwindigkeit der Hauptstadt habe sich wohl von mir zurückgezogen. – Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, fragte sie, während sie schneidig die Kurven eines ehemaligen Grenzübergangs nach Ostberlin nahm, daß ich als einzige in unserer Familie anständig Auto fahre? Ich fahr auch gut, mein Schwesterlein – dich würde ich auf langen Strecken gar nicht ans Steuer lassen. Lebensmüde bin ich noch nicht. Sie wußte von jedem Restaurant im Ostteil der Stadt, fand den Weg dorthin auf Anhieb. Am Ärmel zog sie mich in einen neueröffneten Techno-Club. Großmama geht es schlecht, brüllte sie von einem abgewetzten Sessel, ihr Herz hat einen
Wackelkontakt, Mami ist jeden Tag mehrere Stunden bei ihr. Wer von uns beiden pflegt eigentlich Mami, wenn ihr Herz einen Wackelkontakt bekommt, brüllte ich zurück. Das werde wohl ich tun. Daß du jemanden pflegst, kann ich mir nicht vorstellen. Übrigens möchte sie endlich wissen, ob du das Brillantherz auf einem schwarzen Halsband willst oder an einer Kette. Seit einigen Jahren läßt meine Mutter nacheinander sämtlichen aus Schlesien geretteten Schmuck von einem Juwelier auseinandernehmen und neu zusammenbauen. Zu gleichen Teilen für Jill, für sich selbst und für mich. Aus eins mach drei. Der Juwelier ist ständig für sie beschäftigt. Woher kommt wohl die Nähe zwischen Mami und Großmama, Jill? Vom Vertriebenenschicksal, schrie Jill gegen das pumpernde Schlagzeug an, was hältst du übrigens davon, mir ein paar neue Pantoffeln zu kaufen? Ich nahm mir vor, beim nächsten Mittagsschlaf über das Vertriebenenschicksal und Pantoffelersatz nachzudenken.
Großmama Luises Mann, ein junger Staatsanwalt in Breslau, starb als Soldat im Frühjahr 1944 an einer Schußverletzung im Rußlandkrieg. Als die Russen Schlesien einnahmen, flüchtete Luise mit ihren fünf Kindern, das jüngste war gerade geboren, nach Schleswig-Holstein. In Kiel angekommen, widmete sie sich der Anthroposophie. Sonntags schmückte sie in der Christengemeinschaft, einer Vereinigung, die Katholizismus und Protestantismus zu versöhnen suchte, den Altar. Abends lauschte sie charismatischen Predigern, die der Frage nachgingen, was die Engel in unserem Astralleib so anstellen. Damit auch mein Vater mit der anthroposophischen Weltsicht vertraut werde, bat Luise ihn, sie zu einem Vortrag über Rudolf Steiners Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage«
zu begleiten. Auf ihre Frage, wie er den Abend empfunden habe, rutschte ihm eklig heraus. Dir fehlt der Sinn fürs Metaphysische, Schwiegersohn, erwiderte sie. Das blieb. Weil Luise damals nur eine kleine Zweizimmerwohnung in Kiel bekam, gab sie ihre Kinder zunächst zu ihrer kinderlosen, mit einem Richter verheirateten Schwester, ein paar Häuser weiter. Meine Großtante verteilte ihre Gunst unterschiedlich. Zwei der Kinder – darunter meine Mutter – schienen ihr wert, mit Butter ernährt zu werden, die anderen drei bekamen Margarine. Diese unterschiedliche Behandlung führte zu einer lebenslangen Anhänglichkeit der Butterkinder an die Pflegeeltern und zu einem lebenslangen Mißtrauen der Margarinekinder gegenüber den bevorzugten Geschwistern. Luises Schwester, eine harte Frau, wurde von uns allen bei ihrem Spitznamen »Hoppla« genannt. Sie hatte von einem Kutschenunfall in der schlesischen Heimat eine zitternde Hand zurückbehalten. Wenn sie Tee einschenkte, gab es jedesmal eine Pfütze in der Untertasse. Mit hoppla überspielte sie das Mißgeschick. Sie war auf Contenance bedacht. Daheim auf dem schlesischen Landsitz engagierten sich Luise und Tante Hoppla im örtlichen »Jungfrauenverein«. Es galt, Gutsmägde und Kätnerstöchter an die schönen Künste heranzuführen. Beide Schwestern schrieben heißblütige Ritterstücke, die von den Elevinnen auf der Gutsveranda aufgeführt wurden: Liebe, Mord, Tod. Wie die Vorabendserien im Fernsehen, erklärte uns Luise später. In den Kriegsjahren versorgte Tante Hoppla als grau-weiß-gestreifte Rote-KreuzSchwester durchreisende Frontsoldaten mit stärkendem Kaffee. Sie war sich mehr noch als Luise ihres Standes bewußt. Unserem Vater erzählte sie gern von der Mama, meiner Urgroßmutter. Sie hätte dich gemocht, versicherte sie ihm, sie sah den Menschen ins Herz, das übrige hätte sie nicht gestört. Das meinte seine kaufmännische Herkunft.
Tante Hoppla selbst störte das übrige ein wenig. Deutlich gab sie ihm zu verstehen, daß es allein die Unbill des Vertriebenenschicksals sei, die ihn, Kaufmannssproß, als Schwiegerneffen akzeptabel mache. Jill und mir erschien Tante Hoppla wie ein Schmuckkästchen, in dem sich die Platinketten und Perlen, die verwaisten, aus ihren Fassungen gerissenen Brillanten, die abgewetzten Goldringe einer vergangenen Zeit befanden. Ein verschlossenes Kästchen, uns nicht zugänglich. Was verstanden wir von ihrer Heimat? Von einem schlesischen Gutshaus, von der Weite und Feinheit der Durchblicke im Park, der Gliederung des Rosenteppichs, der Reinheit des Wassers, das sich aus der Fontäne in die Luft hob, glitzernde schmale Säule. Was verstanden wir davon? Wir Nachgeborenen, Geschöpfe zwischen Damals und Morgen, Menschenkinder, die niemals einen im Gutspark herumspazierenden Pfau über den Kopf streicheln würden wie unser Urgroßpapa. Im Moment ihres Sterbens, im spanischen Domizil ihres Lieblingsneffen Pontus, Luises Jüngstem, soll sie im Patio unter blühenden Bougainvilleen gerufen haben: Licht! Mami, die sogleich zum Ort des Hinscheidens ihrer Tante eilte, gab dieses letzte Wort an uns weiter. Uns war nicht ganz klar, ob Tante Hoppla Licht vermißte oder Licht wahrnahm in jenem Moment. Mami hielt es in der Schwebe. Hoppla, sagte Pappi, habe sich immer schon für etwas sehr Besonderes gehalten und nicht profaner als Goethe die Fronten wechseln wollen. Einer jener Abende, an denen bei uns zu Hause wenig gesprochen wurde. Meine Mutter entdeckte damals ihre Aufgabe darin, andere Menschen Tiefe zu lehren. Und Tiefe bedeutete für sie das unbedingte Gegenteil von Ratio. In dieser Zeit schloß sie Freundschaften, die nicht von kurzer Dauer sein sollten. Sie lernte einen Hamburger Anwalt kennen und einen eifrig veröffentlichenden Schriftsteller, der zwischen Südfrankreich
und New York pendelte. Männer mit Glanz, anerkannte Intellektuelle, denen es nach Mamis Ansicht aber an der Möglichkeit fehlte, Zugang zur eigenen Seele zu erlangen. Da könnte sie helfen. Jedes Treffen mit ihr würde diese Männer ein wenig weiter öffnen für sich selbst. Jede Unterhaltung mit ihr würde ihnen beweisen, daß analytisches Denken den von ihr tief hineingeschlagenen Nagel des Gefühls nicht würde herausziehen können. Ein Pakt auf Gegenseitigkeit. Die Männer ließen sie teilhaben am gesellschaftlichen Glanz, an der Befindlichkeit bedeutender Menschen, an den schweren Geburten ihrer Werke, an ihrer Verzweiflung über den politischen Werdegang der Bundesrepublik, an ihren Depressionen, die nur mit Arbeit und noch mehr Arbeit zu bekämpfen seien. Mami verschenkte großzügig Mitgefühl, ließ dieses aber nie die Oberhand gewinnen. Beizeiten wurde sie schelmisch und gab ihre Beobachtungen bekannt, nach denen der Besucher seine Traurigkeit brauche, um kreativ sein zu können. Er solle mal in sich hineinhorchen, ob da nicht ganz fröhliche Töne mitschwingen. Von Mamis Unterhaltungen mit wichtigen Männern erfuhr Pappi stets nur ein Detail, nämlich wie wahnsinnig viel diese Männer arbeiteten. Das sollte ihm einen kleinen Stich versetzen, denn auch wenn er viel arbeitete, an das Pensum dieser beiden kam er nicht heran, und so berühmt oder erfolgreich wie ihre Freunde würde er wohl nicht werden. Bald sah Luise ihre Aufgabe darin, ihre Tochter vor den diesseitigen Ansprüchen der Familie zu schützen. Sie packte die Reste ihrer Mahlzeiten in eine Tasche auf Rädern und rollte damit zu uns. Mami sollte ruhen, sie wollte kochen. Zu uns sagte sie: Eure Mutter ist chronisch überlastet, schade, daß ihr das nicht merkt. Von diesem Moment an standen die Mittagessen bei uns unter elektrischer Spannung. Das Geheimnis von Luises Küche bestand in der Überzeugung, daß
alles mit allem vereinbar sei, wenn man ein verbindendes Drittes hinzufüge. Dies konnten Rosinen sein oder auch Bananen, oder beides. So machte in ihren Gerichten ein Hackfleischauflauf von gestern durch die Zugabe von Rosinen die Bekanntschaft mit einem Paprika-Auberginen-Potpourri von vorgestern. Oder kleine Bananenscheiben hatten dafür zu sorgen, daß sich Curryreis mit einem Auflauf aus Nudeln, Fischfilet und saurer Sahne vertrug. Sie selbst glaubte an ihre Kombinationen. Biologisch-dynamischer Anbau nach Rudolf Steiner, versicherte sie sachkundig. Uns Enkelinnen erschien das ein Versprechen auf weit mehr als bloß giftfreie Kost. Besorgt sahen wir Luise bei ihrem Vereinigungswerk zu. Nicht weil es uns nicht schmeckte, wir ließen uns gern von ihren Phantasiegerichten überraschen. Aber wir wußten, daß Luises Wirken in der Küche Pappis Vorstellungen von Mamis Pflichten zuwiderlief. Ein solides Mittagessen könne man von seiner nicht berufstätigen Ehefrau doch wohl erwarten. Und das hätte Mami ja auch gern bereitet. Nur widerstand sie nicht Luises Einflüsterungen, sie müsse sich dringend ausruhen, sie sehe furchtbar müde aus. Pappi wollte seine präzise abgegrenzte Mittagszeit nicht mit Debatten vergeuden, bat also darum, stets ein Glas vorgekochter Kartoffeln und ein Steak vorzufinden. Sah er Luise am Herd, machte er zunächst eine Runde durch den Garten. Zurück im Haus, schlug er ihr in aller Form vor, ihm die Küche zu überlassen. Luise reagierte mit der energischen Erklärung, er sehe doch, daß sie gerade koche. Eben deshalb, knurrte er, verschwand nochmals im Garten. Blieb auch seine zweite Abmahnung folgenlos, trug er seine Schwiegermutter einfach ins Entree. Wortlos räumte er die brodelnden Töpfe beiseite, briet sich sein Steak. Dieser barsche Umgang mit Luise kränkte uns. Wir sahen darin eine Demütigung unserer Mutter. Fürchtete er, daß wir gleich loskrakeelen würden, schob Pappi auch uns hinaus, warf
die Küchentür ins Schloß. Von außen hörten wir das unwirsche Klappern seines Tellers auf dem gekachelten Tisch.
Der schmust überhaupt nicht, dein Hund, beschwerte sich Jill eines Abends beim Flicken von Frankensteins Hausschuh. Mit dir auch nicht, oder? Mit mir auch nicht. Wozu hat man dann einen Hund? Weiß ich nicht. Ich hatte andere Sorgen. Mir fehlte etwas zu schreiben. Ich wollte mir ein Thema ausdenken, aber Josch drängte schon wieder hinaus zum Spielen. Er hatte entschieden, sein Leben Dingen zu widmen, die von Menschen geworfen werden konnten, Stöcken, Tennisbällen, Kastanien. In jedem Gebüsch wurde er fündig: Ich brauch, ich brauch, ich brauch, ich brauch dieses zerknüllte Papier. Seine Sprache ähnelte der meines Vaters. Der hatte sich in seinem sechzigsten Lebensjahr ein zunächst kleines und kaum hörbares, dann aber heftiger, lauter und schneller werdendes, ein schließlich selbstbewußt auftrumpfendes Stottern zugelegt. Er selbst machte seine nur noch halb funktionierende Bauchspeicheldrüse dafür verantwortlich, mir schien es eher eine bewußte Anschaffung, zum Zweck, sich beim Zuhörer die Zeit zu reservieren, die er für die Ausarbeitung eines Gedankens beim Sprechen benötigte. Jill läßt sich das nicht gefallen, sie reagiert generell mit einer selbstbewußten Robustheit auf die Malaisen der Familie: Du, ich hab wenig Zeit, was gibt’s denn? bremst sie ihn am Telefon aus. Ich kann das nicht, als Erstgeborene. Mir unterläuft allerdings, daß ich mich unbewußt mit ihm verbrüdere und auf eine Frage antworte: Ich weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß das eben auch nicht. Er tut so, als habe er es nicht gehört. Vielleicht hört er es wirklich nicht.
Habt ihr eigentlich eine Enzyklopädie? wollte er eines Abends wissen. Hatten wir nicht. Ein paar Tage später brachte ein Spediteur den »Großen Brockhaus« in vierundzwanzig Bänden. Kreiselte der Hund nachts um seine Rute und versuchte sich in den Schwanz zu beißen, machte ich mich alarmiert auf die Suche nach dem Symptom. Hundestaupe: Verblödung, rhythmische Muskelzuckungen. Stand da schwarz auf weiß in Band achtzehn. Entfremdung am Ende. Damit mußte ich also rechnen. Ab wann wohl der Tierarzt morgen früh erreichbar wäre? Ich weckte Jill, die telefonisch Bube um Rat fragte. Völlig normaler Spieltrieb, gähnte der. Ich fand nichts mehr normal im Zusammenleben mit dem Hund. Allein, wie er mich ansah, egal was ich tat. Er verfolgte jede meiner Bewegungen. Mache ich was falsch? fragte ich ihn. Er musterte mich, und ich verstand. Wenn du ständig was nachschlagen mußt, nimm den Brockhaus in dein Zimmer, bat Jill. Ich stapelte die vierundzwanzig Bände unter meinem Schreibtisch. Weil ich ständig etwas nachschlagen mußte. Bei Müdigkeit oder Nasenbluten schlug ich unter Leukämie nach, beim leisesten Kopfschmerz suchte ich zittrig unter Hirntumor. War ich offensichtlich momentan gesund, schlug ich trotzdem was nach, Myome, Melanome, Sarkome. Wissenschaftlich begreifbare Vorgänge mit oft tödlichem Ausgang. Irgendwie beruhigend verglichen mit dem Warten auf einen Telefonanruf aus Polen.
Jill und ich hatten als Kinder gerade so viele Tiere, wie Haus und Garten am Stadtwald zuließen. Den Dackel Joseph, das Pony Sammy und zwei Enten. Unsere Mutter interessierte sich nicht besonders für diesen Minizoo, sie hatte aber auch nichts dagegen. Einmal, vor ein paar Jahren, als wir allein waren,
erzählte sie mir beim Toskanawein, wie sie es empfunden habe, ihr Leben als junge Mutter. Sie war dreiundzwanzig, und sie fürchtete sich vor dem Gefühl der Langeweile, das sie mit dem Kinderwagen und dem Dackel im Stadtwald überfiel. Da saß sie nun auf dem Spielplatz zwischen Schwebebalken, Schaukel und Wippe, neben anderen Müttern mit Kinderwagen. Der Daseinsentwurf, den ihr tägliches Leben zu erfüllen hatte, schien ihr überraschend klein. Mittagessen mit Luise, Abende mit ihrem Mann, der müde aus seiner Kanzlei nach Hause kam. Nicht wissend, was er eigentlich von ihr erwartete, was sie von ihm. Erfüllt von Liebe für ihr Kind sei sie gewesen, aber doch auch selbst noch ein Kind mit einer ungestillten Neugier. Dennoch, erzählt sie mir, habe sie dieses Leben bisweilen vergnügt, die Versuche unseres Ponys, die Freitreppe hochzuklettern, um im Wintergarten den Obstkorb leerzuräumen, der Dackel, der die Enten unter dem Zaun durchscheuchte, und deren empörtes Gekreisch. Sie erinnere sich an Freude und an Sehnsucht. An ununterbrochenes Warten auf einen Anruf. Sie habe ja die beiden Freunde damals schon gekannt. Sie habe sich so sehr zurückgesehnt nach Hamburg, wo sie die ersten drei Anwaltsjahre meines Vaters verbracht hatten. Immer geglaubt, dort wäre alles anders gekommen. Ihre Küche hätte sich in einem weißblitzenden Haus mit Blick auf einen der sonnenbeschienenen Alsterarme befunden. Die Sonntage hätten sich ausführlich genießen lassen, statt zu deprimieren. Alles wäre größer ausgefallen, raumgreifender die Gespräche. Paris, London, New York, über all dies hätte man debattiert. Die Gäste wären abends länger geblieben. Alles hätte mehr Stil. Manchmal habe sie ihn wirklich verflucht für die Entscheidung, zurückzugehen nach Kiel, meinen Vater.
Auch mein Vater spricht immer wieder davon. Wie er während seiner Hamburger Jahre zu dem Schluß gekommen sei, die Häuser in dieser Stadt seien zu hoch, die Geschäftspaläste aus zu großquadrigem Granit. Wie er fürchtete, auf längere Sicht den Überblick zu verlieren. Daß der singende Tonfall der hanseatischen Juristen eine ihm fremde Schwingung besessen habe, ihr Lachen einen ihm fremden Schliff. Es habe ihn sehr zurück nach Holstein gedrängt, in die Stadt seiner Kindheit, die kriegsversehrte Fördestadt mit ihren backsteinroten Neubauten. Er erzählt, wie sie gegen den Umzug protestierte. Erspar dem Kind wenigstens den Makel der Kieler Geburt, habe sie, meine Mutter, ihn gebeten. Aber er habe das Haus gesucht und bald gefunden. Kurz nach meiner Geburt habe er sie ihr gezeigt, die Villa, in der er mit ihr leben wollte, seine Villa mit ihrer immergrünen Ligusterhecke vorn, einem abschüssigen Garten hinten. Wie ein schlesischer Vorstadtbahnhof, habe sie gleich gesagt. Ja, daran erinnere er sich ganz genau. Er ist beim Nachdenken über sich selbst als junger Mann zu folgendem Schluß gekommen: Er habe eben schon damals erkannt, daß nur in der Beschränkung Ergebnisse zu erzielen seien. Deshalb habe er sich auf Holstein konzentriert und, dabei muß er kichern, im Segeln bloß ein Diplom für ortsnahe Küstenfahrt angestrebt. Schließlich wären auch seine Ahnen erst nach gründlicher Abwägung der Chancen und Risiken aufs für gefährlich gehaltene Festland übergesiedelt und hätten ihre Frachtsegler gleich am gegenüberliegenden Hafen festgemacht. Dort wären sie ja geblieben. Er habe damals das Gefühl gehabt, es gebühre ihm nicht, sich weit zu entfernen. Sie möchten uns das also erklären, weshalb es mit ihnen schiefgelaufen ist, die Eltern. Jill und ich finden es inzwischen normal, daß die Liebe schiefgeht. Wir sind erwachsen. Wir haben Augen im Kopf. Wir interessieren uns jetzt mehr dafür,
warum wir so sind, wie wir sind. Wir möchten wissen, was mit uns los ist. Damit haben unsere Eltern was zu tun. Sie haben mit uns was angestellt, sie haben uns Rollen zugeteilt. Sie wußten, was mit uns los ist, kaum daß wir vom Kinderstuhl auf einen normalen umgesetzt wurden. Mami federführend, Pappi folgsam. Mami hatte ihr System entwickelt, jetzt wandte sie es auf uns an: Wenn jemand intellektuell begabt ist, entschied sie, denkt er nicht sozial. Das betraf mich. Wenn jemand eine besondere Fähigkeit besitzt, Gemeinschaften zu fördern, geht er im Leben nicht abstrakt und begrifflich vor. Das galt Jill. Sind wir so? Das hättet ihr wohl gern. Wir sind sehr befreundet, Jill und ich. Wir wohnen zusammen. Zugegeben: Sie kann besser ohne mich als ich ohne sie. Sie genießt es, daß ich keine Freunde habe. Bald werde ich in ihrem Leben ein Störfaktor sein. Manchmal, wenn wir zusammensitzen, sagt sie: God Poske! In den Osterferien unserer Kindheit reisten wir zum Skilanglauf nach Norwegen, ins Gudbrandsdal. Ein Holsteiner, erklärte Pappi, hält an einer einmal für gut und richtig befundenen Sache zeit seines Lebens fest. Das war sein allerliebster Satz. Die Norweger begegneten uns, den einzigen Deutschen im Berghotel an der Baumgrenze, zurückhaltend. Allein am Poske-Aften, Ostersonnabend, wurde die Geschichte abgeworfen. Verantwortlich dafür waren kleine Schnapsflaschen, die die norwegischen Gäste hinter den Tischbeinen versteckten und während des Essens heimlich leerten, das Hotel besaß keine Schnapskonzession. Wir waren glücklich hier, eine glückliche Familie. Morgens zogen wir los, in Kniebundhosen und roten Strümpfen, Pudelmützen bis über die Ohren. Wenn wir bergab fuhren, brüllten wir: God Poske! und krachten nacheinander in den Schnee, bis die von Elsa uns mitgegebenen Schokoladeneier im Rucksack zermatscht waren. Auf der Rückfahrt war uns allen bang.
Im Souterrain unserer Villa wohnten damals drei Schwestern zwischen zwanzig und dreißig. Zwei Apothekerinnen, die dritte unterrichtete Mathematik. Annie, die Lehrerin, erledigte manchmal für mich die Hausaufgaben, während ich bei ihr Fernsehfilme sah. Das war unser Geheimnis. Eines Tages – wir waren gerade aus Norwegen zurück – mußte sie ins Krankenhaus. Als sie ins Taxi stieg, drückte Mami mich ans Fenster, rief der Abfahrenden zu: Annie, heute kaufe ich ihr den ersten Bikini. Ich schubste sie wütend, weshalb mußte die ganze Straße davon erfahren? Annie winkte lächelnd zurück. Eines Abends nahm Mami mich in die Arme und bat, ich möge ihr jetzt genau zuhören, Annie werde nicht mehr wiederkommen, Annie sei gestorben. Das ist ja blöd, dachte ich. Mir fielen all die wundervollen Filme ein, die ich jetzt verpassen würde. Und nicht nur das, ich müßte meine Mathematikgleichungen von nun an selbst lösen. Meine Freundin hatte unsere geheimen Treffen aufgekündigt. Ich beschloß, mich dafür zu rächen, indem ich eine Weile nicht an sie dächte. Tage später stand Mami am Schalter einer Bank, in einem Sessel wartete ich auf sie. Beim Betrachten der Inneneinrichtung, für violett und gelb und grau hatten die Architekten sich entschieden, fuhr es mir in den Leib: Annie ist tot! Sie kommt nie mehr zurück! Sie ist jung und trotzdem tot! Sie wird nicht zurückkommen. Nie mehr. Violett und gelb und grau. Wer war nur auf diese Idee gekommen? Schluchzen schüttelte mich. Einen Moment, bat meine Mutter den Bankmann hinter der Scheibe. Sie ging mit mir nach draußen, zog mich an sich. Ich weiß, flüsterte sie, ich weiß, was du jetzt fühlst. Annies weiße Zähne standen in einem etwas vorgebauten Halbrund wie bei Prinzessin Anne, der wilden Reiterin. Wilhelm, ihr Freund, hatte glänzende dunkelbraune Haare und
fuhr immer in einem Kabriolett vor. Die beiden nahmen mich mit aufs Land, als mein Arm eingegipst war nach einem Ponyunfall. Ich saß hinten und schämte mich meiner roten Mütze, aus der mein Gesicht wie ein ausgespartes Oval blaß herausschimmerte, als sei ich ohne Ohren geboren. Wir gingen quer über die Felder, ich zog Zuckerrüben aus dem Acker. Paß auf, warnte Wilhelm, das ist Diebstahl. Laß dich bloß nicht erwischen! Annies Gesicht leuchtete in der Kälte, sie lachte über meinen Versuch, mit dem brauchbaren Arm die riesigen Rüben unter meinem kurzen Cape zu verstecken. Stand das Kabrio vor unserem Haus, streunte ich durch den Garten und lugte durch Annies Fenster, um Wilhelm ein Zeichen zu geben. Ich sprach gern mit ihm über Ponys und Hunde. Irgendwann blieb es fort, dieses Kabrio, und Annie schwieg, während sie meine Hausaufgaben löste. Ich überlegte eine Weile, ob ich es tun sollte, dann fragte ich schnell: Wo ist eigentlich Wilhelm? Er kommt nicht mehr. Sie fand es besser so: Wilhelm und ich paßten nicht zueinander. Was heißt das wohl, nicht zueinander passen, fragte ich mich. Ob sie seine Schirmmütze und seine olivfarbene Flanelljoppe meinte? Oder seine Angewohnheit, immer in Knickerbockern herumzulaufen, obwohl er doch Städter war? Mit meiner Mutter hatte Annie wohl darüber gesprochen. Die beiden saßen abends zusammen, wenn mein Vater in Kunstdingen unterwegs war.
Die Wochenenden verbrachten Pappi und ich im Stall. In einer Reiterrunde am Linoleumtisch der Kantine sprachen wir über die Eigenarten der Pferde, ihre Stärken und Schwächen, Fehler, die wir vermeiden müßten. Sonja, ein mageres Mädchen, das mit jedem noch so schwierigen Pferd zurechtkam, blieb am längsten bei uns. Sie machte sich gern
über meinen Vater und seine reiterlichen Theorien lustig. Meist stand sie an die Stalltür gelehnt, eine Bierflasche zwischen Mittel- und Zeigefinger. Sie ritt elegant und kraftvoll. Wenn Pappi seine Gedanken aussprach, seufzte sie, wandte den Kopf ab und hielt ihn auffällig lang mit gespanntem Hals neunzig Grad zur Seite gedreht, als könne sie es nicht mehr aushalten, dieses Zeugs. Ein Reiter müsse auf Ausritten die Erscheinungen der Welt mit dem vergleichsweise winzigen Pferdehirn analysieren, erklärte er ihr vergnügt, selbst wenn er dann nicht an sein Ziel komme. Er müsse akzeptieren, daß sein Pferd vor einer Straßensperre stehenbleibe, einer Barrikade, an der zwei Petroleumlampen hängen wie Affenschaukeln an einem Mädchenkopf, das sei ein natürlicher Instinkt. Ihm gehe es manchmal ähnlich. Beim Anblick eines Baggers verliere er jedes Vertrauen in die Menschheit. Instinktiv meide er Baustellen, ihr Zukunftsglaube sei ihm widerlich. Dem Pferd wohl auch. Dann drehen Sie um und reiten zurück, oder wie? fragte Sonja gereizt. Pappi nickte glücklich: Oder woandershin.
Dieses Jahr will er nicht nach Rom, ich glaube, er möchte Heiligabend lieber mit der Familie verbringen. Jill schien ernsthaft besorgt um das Wohl unseres Vaters. Oder wir machen es so: Du bleibst mit Josch Heiligabend bei ihm, ich fahre zu Mami und den anderen. Ein trostloses Zweipersonenstück baute sich vor mir auf: Er und ich, alternder Vater und fast dreißigjährige Tochter, neben einem verkrüppelten Weihnachtsbaum mit fünf flackernden Kerzen. Josch drippelt eine Christbaumkugel. Wir kauen angetrocknete Schwarzbrotscheiben, der Hund einen Zipfel Leberwurst. Statt der Weihnachtsgeschichte liest er ein Traktat
über den magischen Realismus in Lübeck. Von Bescherung, sei sie noch so bescheiden, ganz zu schweigen. – Pappi ist Weihnachten bisher immer nach Rom gefahren, hielt ich ihr entgegen, soviel ich weiß schon fünfzehnmal nacheinander, wieso sollte er dieses Jahr eine Ausnahme machen? Weiß nicht. Ich habe einfach das Gefühl, er möchte nicht. – Dann kommt er eben mit nach Buchenhof. Das kriegen wir schon hin. Heiligabend fand seit einigen Jahren bei meinem Onkel Philip statt, dem nächstjüngeren Bruder meiner Mutter, Margarinekind bei Tante Hoppla. Mit seiner Frau Milena, einer Exiltschechin, und dem zehnjährigen Sohn Anselm lebte er im ehemaligen Verwalterhäuschen eines Landsitzes nördlich von Kiel. Hier versammelte sich um Luise ihre Familie. Mein Vater war bisher noch nie dabeigewesen, wurde auch nicht besonders vermißt. Offenbar mußte er dieses Jahr mit, wo sollte er sonst hin? Hast du Wein? fragte ich meine Schwester, durstig durch das unerwartete Problem. – Nein. Das war glatt gelogen. Gestern hatte sie eine Weinsendung von einem Verleger abgestaubt. Ich sollte es auf mich nehmen, Heiligabend allein mit Pappi zu verbringen, und sie versteckte Wein vor mir! Such ihn ruhig, du wirst ihn nicht finden, brummte sie. Ich zog Bücher aus ihrem Regal, hob sämtliche Sofakissen hoch. Hinter dem Sessel entdeckte ich etwas unter einem Plaid verborgen, jede Menge Pakete, liebevoll verpackt, mit Seidenschleifen. Was ist das denn jetzt? Meine Geschenke, was denn sonst? Pappi bekommt den Katalog der Pariser Impressionistenausstellung, teuer, du kannst dich daran beteiligen. Für Mami habe ich eine weiße Seidenbluse gefunden. Großmama schenke ich Alfred Kerrs »Briefe aus Berlin«. Schon war ich im Hintertreffen. Am nächsten Morgen klapperte ich die geschäftsstarken Querstraßen des
Kurfürstendamms nach Geschenken ab. Für Mami fand ich auch eine weiße Seidenbluse, für Pappi einen Katalog, für Großmama Schriftstellerbriefe. Abends lugte Jill in mein Zimmer: Alles geklärt. Er darf mit. Mittags trafen wir in Kiel ein. Auf der Fahrt nach Buchenhof wollte er wissen, wie er sich den Ablauf der Veranstaltung dort vorzustellen habe. Jill bereitete ihn vor: Um fünf geht es in die Kirche. Gegen sieben ist Abendessen. Dann wird der Baum angezündet, Großmama liest die Weihnachtsgeschichte. Zieh dich warm an, geheizt wird bei denen nicht, die sind wahnsinnig sparsam. Ich beschloß, den Kirchgang zu schwänzen, mit Hinweis auf Josch, den man nicht allein in einer fremden Umgebung lassen könne. Jill wollte noch schnell Bube besuchen, der Weihnachten auf dem Gut seiner Eltern verbrachte, wenige Kilometer entfernt. Die anderen waren schon da, nahmen Pappi herzlich in Empfang. Schön, daß er auch einmal gekommen sei. Es gehe gleich los, in die Kirche. Luise, wegen der Kälte im Wohnzimmer in eine Kamelhaardecke gehüllt, blieb im Haus, um auf keinen Fall Pontus’ Ankunft zu versäumen. Wie sehr sie Pontus bevorzugte, mußte für Philip qualvoll sein. Aber neu war es nicht, deshalb erwarteten wir, Jill und ich, von Philip, daß er seinen Frieden damit gemacht habe. Alle Viertelstunde erhielt Luise von Pontus oder seinem Sohn Benjamin Auskunft, durch welches Dorf die beiden gerade gebrettert waren. Reinhard, ihr Chauffeur, fuhr offensichtlich mit Bleifuß. Wo seid ihr? Sag’s noch einmal, ich hab’s nicht verstanden! Nein, immer noch nicht. Sag’s doch mal lauter. Daß ich fünfundachtzig bin, weiß ich selbst, Lieber. In der Küche fand ich eine Straßenkarte. Luise und ich verfolgten die Route des Porsche, der durch die holsteinischen Dörfer jagte. Je näher sie kamen, desto nervöser wurde Luise.
Jetzt durfte niemand einen Fehler machen. Er würde gleich da sein. Er verlangte Perfektion. Ab sofort durfte nicht mehr geraucht werden, weil er den Geruch von Zigaretten nicht ertrage. Er würde die wesentlichen Geschenke überreichen. Und, das Entscheidende – er würde spielen, jedenfalls wenn man ihn lang genug darum bäte. Er näherte sich. Sein Autotelefon verkündigte ihn wie die drei Damen der »Zauberflöte« ihre Königin der Nacht: Sie kommt, sie kommt, sie kommt! Was macht ihr denn da, wollt ihr auswandern? Jill war zurück: Mein Gott, ist es hier kalt. Wie war’s bei Bube? Er mußte sich um eine Stute mit Kolik kümmern. Wir haben sie auf und ab geführt. Wieder Telefon. Luise nahm ab: Wo seid ihr jetzt? In Kühlwasser? Nein, was ist denn damit? Ach so, dann laßt euch Zeit. Wir warten sowieso. Mist, fluchte Jill, jetzt haben die auch noch eine Panne, dann ist ja wohl erst mal nichts mit Essen. Die rückkehrenden Kirchgänger rumpelten in der Diele: Bitte nicht mit den Stiefeln ins Haus, bat Philip, ist Pontus etwa immer noch nicht da? Nein, rief Luise aufgeregt, das Kühlwasser ist aus dem Porsche gelaufen. Wollen wir trotzdem essen? fragte Milena gleichgültig. Wir warten! befahl Großmama. Aus dem Gästezimmer war Rascheln und Klappern zu hören. Pappi hatte mehrere ausrangierte Silberlöffel zu Geschenken erklärt, das Zeugs mußte aber erst noch geputzt werden. Wir anderen suchten unsere Plätze an der Festtafel, blickten auf die Sardinencremeschnittchen hinab. Pappi verteilte stoisch seine in Zeitungspapier eingewickelten Löffel auf die Geschenkestapel unter dem Weihnachtsbaum, fand dann seine Namenskarte neben Pontus’ ehemaliger Lebensgefährtin Susan, einer Cembalistin aus Philadelphia. Wir Ehemaligen sollen uns näherkommen, frohlockte er. Susan lächelte förmlich. Also, jetzt warten wir nicht länger, entschied
Luise. Während wir Prager Karpfenbouillon löffelten, hörten wir ein auftrumpfendes Motorengeräusch. Herein rauschten Pontus und Benjamin, beide in wehenden Mänteln. Kalt bei euch, mein Gott! Kommt Reinhard nicht mit herein? fragte Luise mit besorgtem Ton. Nein, er wünsche ausdrücklich im Auto zu warten. Pontus schien schon jetzt leicht nervlich strapaziert. Es sei aber doch zu kalt im Wagen! Hier auch, Mutter. Man mag ja seinen Mantel gar nicht ausziehen. Noch etwas Bouillon? Tante Milena stand neben Pappi und hielt ihm die heiße Suppe gefährlich dicht vor die Nase. Danke, ich hätte lieber etwas vom Karpfen persönlich. Bei uns gibt es an Heiligabend keinen Hauptgang, Schwager, du bekommst später noch ein Dessert. Während Mami, die die Mousse au chocolat bereitet hatte, für deren Vorzüglichkeit gelobt wurde, erhob sich Pappi, klingelte gegen sein Glas, dankte, daß er dabeisein dürfe. Eine große Ehre. Mit Verbeugung in Richtung der Hausfrau: War köstlich, die Prager Brühe. Er wolle jetzt, kündigte er an, die Berechtigung jedes einzelnen dabeizusein überprüfen. Jill sank, von einer schlagartigen Müdigkeit überfallen, halb unter den Tisch. Mami blickte entrückt, Milena kicherte leise. Du, Susan, zum Beispiel, Pappi wandte sich seiner Nachbarin zu, hast so wenig Berechtigung hierzusein wie ich, Ehemalige, die wir beide sind. Mühsam schluckte Susan einen Löffel Mousse. Sie kämpfte mit Tränen. Lange habe ich über die Geschenke nachgedacht, setzte Pappi ungerührt fort, für die Löffel habe ich mich entschieden, weil… Du sie nicht mehr brauchst, Schwager, fiel ihm Philip ins Wort, du lebst ja allein, soviel ich weiß. Pontus beobachtete die inzwischen geräuschlos weinende Susan, rief dann Mami zu: Wenn der noch einmal eingeladen wird, bin ich nicht dabei. Pappi hatte das nicht gehört, strahlte immer noch, begeistert von seiner stimmigen Rede.
Nach dem Essen sicherte ich mir das Amt, den Baum anzuzünden, auch in der Hoffnung, das Kerzenlicht könne das Zimmer ein wenig erwärmen. Mami reichte Luise die Bibel. Paß auf, gleich geht’s los, flüsterte Jill Pappi zu, an einer Stelle der Weihnachtsgeschichte unterbricht Pontus jedes Jahr. Da war sie schon. Falsch. Falsch. Falsch, rief Pontus aufrichtig entflammt, es muß heißen »Und den Menschen ein Wohlgefallen«, Mutter. Nein, so einfach ist es nicht, Lieber, die anthroposophische Übersetzung trifft es eben besser: »Allen Menschen, die eines guten Willens sind«. Ich bleibe dabei, das hat Luther in Wahrheit gemeint! Nein, rief Mami, man muß nicht guten Willens sein, es ist ein Wort der Gnade, da hat Pontus recht. Wofür verdienen Arschlöcher Gnade, flüsterte Milena in Philips Richtung, wo kommen wir denn da hin? Es ließ sich auch diesmal nicht klären. Anselm stampfte wütend mit dem Fuß auf: Bescherung! Der ältere Benjamin kippelte auf dem Stuhl, warf nacheinander allen Anwesenden verächtliche Blicke zu. Vor dem Auspacken wollen wir aber noch singen, befahl Luise. Ein energischer Wink seines Pianistenvaters jagte Benjamin an den Flügel. Meine Mutter übernahm den Part der Chorleiterin. Die ersten beiden Lieder, »Es ist ein Ros’ entsprungen« und »Kommet, ihr Hirten« gingen leidlich gut, »Joseph, lieber Joseph mein« mißlang total, zu kompliziert die Melodie. Mit einem kurzen Blick streifte Mami Pappi, Jill und mich. Wir waren schuld. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen feuerten Wutstrahlen. Sie steckte mir eine kleine Schachtel zu. Endlich durfte ausgepackt werden. Ich legte mir das Brillantherz gleich um den Hals. Das kenn ich doch, rief Luise mit leichtem Vorwurf: Faltet wenigstens das Geschenkpapier wieder zusammen, bat sie, das können wir nächstes Jahr wiederverwenden. Und Ruhe bitte, er wird jetzt spielen!
Pontus saß schon am Flügel, hämmerte auf das Instrument ein, als habe er noch niemals ein Publikum so verabscheut wie dieses, seine Verwandten. Engel, die das hörten, müßten beschließen, Familien generell aufzulösen. Philip holte sein Cello. Paß auf, daß es sich nicht erkältet, flüsterte Jill ihm zu. Während seines Solos waren alle besonders still, großzügig wurde applaudiert. Jeder wußte, daß Philip gern Cellist geworden wäre. Er entschied sich damals für den Juristen, weil nur einer in der Familie Künstler werden kann. So heißt es in bürgerlichen Familien, und so sah es auch Tante Hoppla, seine Pflegemutter. Von Jill und mir wird, was das Musizieren betrifft, seit Jahren nichts mehr erwartet. Jill hatte als Kind Geigenunterricht, Tante Hoppla trennte sich dafür sogar von ihrem kostbaren Instrument. Nach wenigen Unterrichtsstunden flehte die Lehrerin mit vor Aufregung brechender Stimme Mami an: Bitte verlangen Sie nicht von mir, daß ich dieses Kind weiter unterrichte, so viel Unmusikalität habe ich noch nicht erlebt. In Wahrheit litt sie an einer Nervenkrise. Ihr Mann war mit einer Konzertgeigerin durchgebrannt. Ich bekam von Elsa und meinem Großvater Ferdy Klavierstunden geschenkt, ein paar Jahre lang. Meine Lehrerin beendete den Unterricht immer mit der Bemerkung: Nicht schlecht, aber so gut wie dein Onkel Pontus wirst du nie! Entmutigt durch den ständigen Vergleich hörte ich auf. Obwohl ich im Grunde gern spielte. Gäbe es eine Sammelstelle für alles das, was Menschen aufgeben, obwohl es sie glücklich macht, sie wäre mit Sicherheit die beste aller Welten. Gegen Mitternacht, das Vier-Solisten-Konzert war gerade zu Ende gegangen, versuchte Milena ihrer Schwiegermutter einzureden, sie müsse doch jetzt todmüde sein. Ich bin hellwach, protestierte Luise, übrigens unterhalte ich mich gerade rauschend. Die Hausherrin begann nervös, das
Wohnzimmer aufzuräumen. Jill begriff den Wink, weckte Pappi, der mit dem Kopf unter dem Tannenbaum eingeschlafen war. Wachstropfen hatten auf sein Jackett einen Weihnachtsstern getupft. Mami zog mich mit einem harten Griff am Ärmel in die Küche, wies auf das schmutzige Geschirr: Hilf mal! Aber Milena schob mich gleich nach dem ersten Glas von der Spüle weg: So doll muß man Gläser nicht abwaschen! Fahrt lieber gleich nach Hause, ich mach das schon. Pappi trottete schlaftrunken zu Jills Auto. Mami bat mich, bei ihr mitzufahren. Sie wollte sich ausschimpfen, vermutete ich, nahm Josch, der den ganzen Abend lang regungslos und aufrecht in einer Ecke des Wohnzimmers gesessen hatte, auf meinen Schoß. Als Luise auf dem Beifahrersitz eingeschlafen war, ging’s los: Mußte diese Rede sein? War doch nicht schlimm, Mami. – Du bist eben genau wie dein Vater. Ihr überseht immer, wie anderen zumute ist. Was euch durch den Kopf geht, wird mitgeteilt. Ihr bemerkt nicht einmal, ob eure Geschichten Pointen haben. Ein grimmiger Blick aus dem Rückspiegel. Ihr seid auch nicht sensibel, du und die Deinigen, wehrte ich mich, ihr mit eurem Musikterror. Immer muß geklimpert und gecellogeigt werden, als könne man sich nicht auch mal etwas erzählen! Musik ist reiner als alles Gerede! Störrisch schlug sie mit der Hand auf das Lenkrad. Am ersten Weihnachtstag waren wir abends wie immer bei Elsa eingeladen. »Kling, Glöckchen, klingelingeling« jauchzte der Bielefelder Kinderchor vom Plattenspieler. Das Experiment Buchenhof müsse er nicht wiederholen, teilte Pappi beim Tranchieren der gewaltigen Pute seinen Verwandten mit, noch nie sei er so ausgekühlt, so hungrig und mit dermaßen von Klavierspiel zerschundenen Ohren ins Bett gegangen. Schweigend schenkte Mami Weißwein ein. Pscht, Junge, laß doch, zischte Elsa beim Verteilen der schweren
Mandelfüllung: Pute hat sieben Sorten Fleisch, Kinder, wovon möchtet ihr? Onkel Jochen brachte das Gespräch besorgt auf das Weihnachtsgeschäft im Wäscheladen. Die Zahlen wären schlechter als in den letzten Jahren. Fachgeschäfte verlören an Kunden, die Kettenläden böten ihre Ware immer billiger an. Die Gutbetuchten, für die es bisher Ehrensache war, ihre Aussteuer bei ihm zu kaufen, schienen nicht mehr so viel auf die Ehre zu geben. Ich habe sogar Lauterbachs bei Benetton rauskommen sehen, erzählte er betrübt. Sein Sohn Florian, der das Geschäft später übernehmen sollte, schlug vor, die Front des Gebäudes zu vergrößern, damit mehr im Schaufenster untergebracht werden könne. Weniger wäre mehr, brummte mein Vater. Halt du dich da raus, unterbrach ihn Elsa, du bist kein Kaufmann. Was habt ihr gestern zu essen bekommen? Hoffentlich nicht Luises Reste aus dem Reformhaus! Luises quasi religiöser Einkaufsgang zum Reformhaus hatte Elsa schon immer verstört. Elsa schwor auf Fachgeschäfte. Allein dort schien ihr die Frische der Produkte gewährleistet. Bevor sie sich von ihrem Stammschlachter Rindsrouladen einpacken ließ, verlangte sie eine präzise Auskunft, seit wann genau das Fleisch sich im Laden befinde. Sagte sich Luise an einem Dienstag bei uns zum Kochen an, konnten wir sicher sein, daß Elsa uns schon am Mittwoch zu sich rief, um mit Gulasch, gebutterten Bandnudeln und Gurkensalat in Sahnesoße die Folgen der Reformhausküche aus unseren Kindermägen zu putzen. Weihnachten bei Elsa ist die pure Erholung, seufzte Jill auf der Rückfahrt nach Berlin, einfach, weil dort von ganz normalen Dingen gesprochen werden darf und weil es Geldgeschenke im Briefumschlag gibt. Wenn man sich schon trifft, dann doch lieber bei Pute mit sieben Sorten Fleisch als bei Karpfenbouillon mit sieben Sorten Hauskonzert. Nickend
bat ich sie, an der nächsten Tankstelle haltzumachen, möglichst schnell, mir stehe eine Putenkolik bevor, die mit zwei Fläschchen Underberg vielleicht noch gerade zu stoppen war. Wie geht’s denn Bubes krankem Pferd? – Weiß nicht, er war wortkarg. Er ist sowieso seltsam im Moment, irgendwie abwesend. Sie zuckte mit den Achseln, schaltete das Autoradio ein. Jill hat die Fähigkeit, immer und in jeder Situation dem Weltgeschehen ein Stückchen Aufmerksamkeit zu schenken. Während sie eine Sendung über Umsatzschwund im Einzelhandel verfolgte, überlegte ich, was abwesend bedeuten könne. Abwesend war Jan. Weshalb rief er nicht an? Warum ruft Jan nicht an? fragte ich Jill. Weil du eine Touristin für ihn warst, sagte sie zufrieden, davon gibt es reichlich. Schlag ihn dir aus dem Kopf. Ich will aber nicht, wimmerte ich, es war zu schön, und morgen ist Montag, Schule fängt wieder an. Das strenge Profil meiner auf das Fahren konzentrierten Schwester erinnerte mich an Angela, meine Tischnachbarin in der Grundschule. Männer leben im Augenblick, sagte Jill. Darauf wußte ich nichts zu antworten und nickte ein. Was war das bloß, das mit Angela? Sie und ich wurden nebeneinandergesetzt, damit die guten Seiten der einen auf die andere abfärbten. Angela hatte den Schultag, die von Fach zu Fach unterschiedlichen Denksysteme fest im Griff, sie war in jeder Disziplin gleich gut, es mangelte ihr, fand unsere Lehrerin, nur ein wenig an Höhen und Tiefen. Angela meldete sich im Unterricht mit einem kerzengerade erhobenen Arm, schleuderte nie ungeduldig mit dem Handgelenk. Sie ging ökonomisch mit ihren Kräften um. Mich hingegen schaffte Heimatkunde um Viertel nach sieben so, daß ich für den darauffolgenden Englischunterricht nicht mehr zu gebrauchen war. Diese Erschöpfung stellte sich manchmal schon vor der Schule ein, gleich nach dem Aufwachen. An Aufstehen war dann nicht zu
denken. Mami hielt es für das Vernünftigste, wenn ich im Bett bliebe. Den Müdigkeitsverdacht, unter dem sie stand, sobald Luise bei uns kochte, gab sie an mich weiter. Wenn sie mich zu mustern begann, wußte ich schon, was folgen würde: Schlafdefizit. Dieses Wort begleitete mich wie ein leicht meschuggener Schutzengel. Denn wenn es etwas gab, an dem es mir nicht mangelte, dann war es Schlaf. Dösend gingen mir Dinge durch den Kopf: die Haushaltsschere in der Küchenschublade, die Uhu-Tube im Schreibtisch, zwei kleine Taschentücher mit aufgestickten Monogrammen im Kleiderschrank, ein Karton, Buntstifte. Am späten Vormittag hatten sich die Dinge geordnet, ich konnte die Augen öffnen, das Material zusammensuchen, es auf der Bettdecke ausbreiten. Ich schnitt die Monogramme aus den Taschentüchern, klebte sie auf den Karton, zeichnete mit Buntstift Figuren um die Stickerei, bis die Buchstaben sich heimisch fühlten in ihrer neuen Umgebung. Mami hielt an solchen Tagen Klebstoffspuren auf dem Bettzeug für unvermeidbar. Kreativität war ihr wichtiger als die Anhäufung von Schulwissen, dem sie mißtraute, seit sie den Lehren Rudolf Steiners folgte. Aus Angela und mir wurden trotz unserer Bemühungen keine Freundinnen. Eines Tages packte sie mitten im Unterricht ihre Schulsachen, erhob sich und setzte sich wortlos an einen freien Tisch. Am Ende der Stunde rief mich unsere Lehrerin zu sich. Angela könne meine ständigen Lügen nicht mehr ertragen. – Was für Lügen? – Zum Beispiel die mit dem Pony. Meine Lehrerin kniff forschend die Augen zusammen. Ich hatte Angela vor der ersten Stunde mein Ferienerlebnis mit unserem Shetland-Pony erzählt. Sammy verabscheute Wasser, er vermied selbst im Galopp, seine Hufe in eine Pfütze zu setzen. Lieber wetzte er in einem
scharfen Bogen drumherum. Manchmal flog ich dann runter. Dieses Mal aber ritt ich nackt, nur mit einer Tüte Pflaumen in der Hand, mit denen ich ihn fütterte, die Kerne spuckte er seitlich aus. Wir erreichten das ruhige Wasser an der Südspitze der Insel Fanø. Sammy trabte munter hinein, so tief, daß ich von seinem Rücken hinuntergleiten mußte und die Pflaumen ins Wasser werfen. Einen Arm um den Ponyhals gelegt, die andere Hand fest in die Mähne gekrallt, schwammen wir zwei eine große Runde. Diese Geschichte war für Angela der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Sie beschwerte sich bei unserer Lehrerin: Gelogen, das Ganze. Ich war tief getroffen vom Verrat meiner Freundin, dem Zweifel der Lehrerin. Meine Erzählung war ja nicht erfunden, genauso hatte es sich zugetragen. Verlegenheit und Trotz stiegen mir heiß hinauf in die Stirn. Meine Mutter riet mir beim Gutenachtkuß, in Zukunft nicht alle meine Erlebnisse sofort weiterzugeben. Morgen gehen wir dir eine weiße Bluse kaufen, versprach sie, für das Reitturnier am Wochenende.
Was ist denn mit dir los? fragte Jill, du fiepst ja wie Josch, wir sind doch schon da. Vor Frau Magunnas Wohnungstür stand ein Bataillon Weinflaschen, Bordeaux. Vielleicht hatte sie über Weihnachten ihr Mann mit den Jungs besucht? Oben setzten wir uns an den Küchentisch, erschöpft von der Sorge um das Wäschegeschäft, von dem wir hofften, es werde auch für uns später einmal etwas Taschengeld abwerfen. Kurz vor Mitternacht klingelte das Telefon. Meine Schwester nahm ab: Für dich. – Wer denn? – Weiß nicht. – Liebling, komme ich morgen, wenn du möchtest. Jan. Liebling, sagte er, vier Monate, nachdem wir uns begegnet waren, in denen er nicht angerufen hatte.
Mit Mütze, Schal und Wintermantel wartete ich am nächsten Morgen auf dem Balkon. Jill legte sich aufs Bett, gab vor, beim Milchkaffee einen Roman zu lesen. Gegen halb elf bog ein polnischer Fiat um die Ecke, rumorte wie ein Trecker, offenbar war der Auspuff defekt. Jemand stieg aus. Am hellblauen Anorak, diesem vernebelten Blau, das es nur im Osten Europas gibt, erkannte ich ihn. Auf seinem Kopf hing schief die Schirmmütze. Er zerrte ein großes Paket aus dem Auto, suchte unseren Hauseingang. Kurz überlegte ich, ob es mir gelingen könnte, auf den Nachbarbalkon zu entkommen, mich dort zu verstecken. Da läutete es schon, und er stand vor mir, die Schirmmütze drehte er zwischen den Fingern der rechten Hand: Darf ich hineinkommen, Liebling? In seinem Paket waren Krakauer Würste. Probiert mal, ihr beiden, sie sind besser als eure, keine Konservierungsmittel, keine Farbstoffe. Ist er etwa ein Erklärer? flüsterte Jill spöttisch. Könntest du Tee machen? bat ich. Also einen Hund hast du jetzt, Liebling, gut für dich. Jan warf Josch Wurststückchen zu. Am Nachmittag zeigte ich ihm die Stadt, die ihm nicht besonders gefiel, zuviel Verkehr, zu fettig die Luft. Auch das italienische Restaurant, das ich stolz vorführte, gefiel ihm nicht. Er griff meine Hand, murmelte: Hier stinkt’s nach Geldwäsche, Kleine. Komm mit nach Polen! In der Nacht schlossen wir eine Wette ab. Er lobte die Zähigkeit der polnischen Angloaraber, ich bestand darauf, daß die ostpreußischen Trakehner noch ausdauernder seien. Härter sind sie vielleicht, eure Preußen, lachte er, aber lange nicht so gewitzt wie wir Polen. Morgen kaufen wir dir ein Trakehnerfohlen, Liebling, in Masuren sind sie billig. Deinen Hund schmuggeln wir. Gegen sieben brachen wir auf, meiner Schwester legte ich einen Zettel hin: Kaufen Pferde. Bald zurück.
Je näher wir der Grenze kamen, desto glücklicher schien mir Jan. Er band sich die Schnürsenkel los, auf seine Arme kehrte die Bräune zurück. Unser Ziel war das Gestüt östlich von Bartoszyce. Wieviel Geld hast du, Liebling? fragte er vergnügt. Es stand ihm gut, daß sein Bart etwas weißer geworden war an den Seiten. Er sah aus wie ein listiger alter Kerl. Vielleicht ist er einer, dachte ich, wir sollten es miteinander versuchen. Mal sehen, wer gewinnt. Kurz vor der Grenze bat er mich, meine Jacke über den Hund zu legen und die Hände vors Gesicht. Er gab Gas, überholte die wartenden Autos rechts. Meine Frau hat sich übergeben! rief er dem Zöllner zu. Es funktionierte, wir durften hineinsausen in sein Land. Siehst du, Kleine, so geht das. Er streckte sich: Alles geht irgendwie. Wir suchten die Jährlinge aus, trennten uns gleich danach. Jan wollte seinen Lastwagen holen, um sie zu seinem Hof in den Süden zu bringen. Ich fuhr zurück nach Berlin. Jill begrüßte mich mit polnischer Salami, entschied, ungarische sei genauso gut, italienische sogar noch besser. Manchmal berichtete Jan, wie die Fohlen sich entwickelten, wollte wissen, was wir Schwestern so machen. Wenn ich ihm erzählte, daß wir Sekt getrunken hatten in einer Buchhandlung, daß es meist in Strömen regnete, seufzte er: In Polen liegt meterhoch Schnee. Er hielt nichts von unserem Leben in Westberlin. Auch ich fand nun nichts mehr daran. Nachts hörte ich polnische Sprachkassetten. Sonntags zog es mich auf den Schöneberger Polenmarkt. Dort unterhielt ich mich mit den Händlern, prüfte, ob ich mich verständlich machen könne. Mit Klappmessern und Taschenlampen für die kommenden Reisen kehrte ich zurück, berichtete Jan am Telefon von meinen Fortschritten. Er verbesserte mich hartnäckig. Es schien kein Wort zu geben, das ich richtig aussprach: Sag mal Macius! Ich wiederholte das Wort. Nein, Macius, der letzte Zischlaut muß
weicher klingen. Ich versuchte es wieder. Gib’s auf, Kleine, du wirst es nicht schaffen. Aber macht nichts. Im Krieg ließen die Polen Fremde diesen Namen aussprechen. Sie wußten dann mit Sicherheit, ob es Polen oder Deutsche waren, die sie besuchten. Mitten in der Nacht rief er selten an, aber diesmal wußte ich, daß er es war. Er klang aufgeregt und glücklich: Ich habe es gefunden, du mußt es sehen, es ist dein Haus! Du wirst dich dort wohl fühlen. Es kann nicht viel kosten. Ein paar tausend Mark. Komm, so schnell es geht, mit Geld. Er holte mich am Rzeszówer Bahnhof ab, erlöste Josch aus der Reisetasche. Er habe Fieber vor Freude. Sofort sprudelte die ganze Geschichte aus ihm heraus: Er habe den kleinen Hof in der Waldsenke von Zalesie zufällig entdeckt. Wie eine dunkle hohe Mauer umgrenze der Wald die Weide. Die alte Bäuerin sei stolz auf den Pfad aus Beton, der Haus, Stall und Brunnen verbinde. Sie wolle weg, habe die Frau erzählt, nach Rzeszów ziehen zu ihren Enkeln, in ein Zimmer mit Zentralheizung. Den Hof wolle sie verkaufen, der Pfad aus Beton müsse extra bezahlt werden. Verrückt, lachte er, sie hat eines der schönsten Häuschen im südostpolnischen Wald, aber sie denkt nur an den kleinen Pfad aus Beton, den irgendein Neffe ihr dort hingegossen hat. Das wird das erste sein, was wir tun, Liebling, wir reißen den Beton heraus und legen einen Pfad aus Feldsteinen. Er bog in einen Weg am Waldrand ein, drückte das Gaspedal durch, daß der Fiat-Bambino hüpfte. Am Ende des Weges stand eine stattliche Bäuerin im Fellmantel, mit einem fest um den Kopf geknoteten Blumentuch. Achtung, warnte Jan aufgeregt, das ist deine Nachbarin Jolante, das Biest. Bitte gib mir jetzt keinen Kuß! Die Bäuerin begrüßte ihn überschwenglich, tätschelte seinen braunen Ellenbogen. Als er mich vorstellte, schlug sie die Hände vors Gesicht, klagte etwas. Jan übersetzte: Sie hat noch
nie jemanden aus Deutschland gesehen, Kleine. Wir sollen vorsichtig sein, sagt sie. Die Hexe, der das Haus gehört, werde zuviel Geld verlangen. Die schmächtige Greisin schichtete in Gummistiefeln Holzscheite auf einen Stapel. Hastig bat sie uns herein, schloß sofort das Gartentor. Während sie auf Jan einredete, lief ich mehrmals um die vier Gebäude herum. Die Bäuerin lebte in dem Holzhaus, ihre Kuh im Ziegelsteinstall gegenüber, neben einer kleinen Scheune. Dahinter lag der Obstgarten mit seinen verwaisten Bienenhäusern und zwei dicht zugewachsenen Birnbäumen mit holzigen Früchten. Den Rock gerafft, stapfte die Bäuerin am Haus vorbei in Richtung einer gelbbraunen, von Schneeflecken betupften Wiese, auf der Farnbüsche, junge Birken und Kieferntriebe wuchsen. Jan legte seinen Arm um mich, lenkte meinen Blick: Schau, der Boden beginnt zu versteppen, in hundert Jahren sieht man hier nur noch Sand. Schade eigentlich. Jenseits eines kleinen Baches reihten sich schmale Streifen Ackerland, begrenzt von hüfthohen Weidensträuchern. Mein Gast würde gern auch die Tiere sehen, bat Jan. Die Alte führte uns widerwillig zu ihrem Stall. Eine Kuh und zwei Schafe mit klötig verklebtem Fell dösten auf dem Mist. Die Tiere kommen morgen weg, erklärte die Alte grimmig, auch meine Hunde. Auf der kleinen Veranda hinter der hölzernen Balustrade lagen verrostetes Werkzeug, alte Kescher, ein paar durchlöcherte Imkerhüte, zusammengerollter Draht. Schau, schau, murmelte Jan, der Alte war nicht nur Imker, er hat auch gewildert! Die Bäuerin wies uns an, die Schuhe auszuziehen. In ihrem Wohnzimmer roch es nach alten Stoffen, eine Häkeldecke lag auf dem Bett. Mehrmals schob sie die vergilbte Gardine zur Seite, überprüfte wohl, ob die Nachbarin Jolante sich irgendwo versteckt hielt. Was ist los mit den beiden,
fragte ich leise. Wir sind im polnischen Urwald, Liebling, flüsterte Jan, es wird eine Weile dauern, bis du ihn begreifst. Er hielt eine lange, ernste Rede, gab mir schließlich ein Zeichen, ich solle das Geld auf den Tisch legen, kniff in jeden einzelnen Schein, als wolle er seine Echtheit überprüfen, zählte laut mit. Unschlüssig blickte die Bäuerin auf den Haufen Papier. Nach einer Weile griff sie die Scheine, schob sie in ein Couvert, verschnürte es mehrmals mit einem Band, verschloß es in der Kommode neben dem Bett. Schimpfend schenkte sie uns aus einem Tonkrug warmen Himbeersaft ein. Sie beklagt sich, daß sie das Haus zu billig verkauft hat, erklärte Jan. Während der Rückfahrt machte er Pläne: Um den Baumstumpf bauen wir eine Holzbank, der Stall wird zum Gästezimmer, ich installiere dort eine einfache Dusche. Unter die Linde stellen wir einen langen Holztisch. Den Ofen in der Küche nehmen wir wieder in Betrieb, dann kannst du Brot backen. Den Brunnen muß ich ausbaggern. Viel zu tun, aber wir schaffen es. Seit gestern wußte er Bescheid: Die Bäuerin, die uns gerade ihr Haus verkauft hatte, war die Stiefmutter der Nachbarin Jolante, ihr Mann, Jolantes Vater, vor zwanzig Jahren gestorben. Zwanzig Jahre lang war Jolante jeden Tag hinuntergekommen, um der Stiefmutter Vorwürfe zu machen, sie sei schuld am Tod des Vaters. So geht das, lachte Jan. Nachmittags fuhren wir Leute einsammeln. Die Männer, die Jan sprechen wollte, saßen in ihren Stammkneipen. Jan holte jeweils einen aus der Runde heraus, redete auf ihn ein, zerrte ihn freundlich am Arm ans Tageslicht: Das ist Jarek, unser Tischler. Der Gemeinte suchte mit glasigen Augen schwankend meine Hand für den Begrüßungskuß. Jan half ihm in den Fiat, wir jagten zurück zum gerade erworbenen Hof. Dort begann Jan, alles mögliche zu vermessen. Die Alte lief um ihn herum, erregte sich über Geschehnisse, die Generationen zurückreichten. Zuletzt schob Jan dem vergnügt
lallenden Handwerker einen Stapel Zlotys in die Jackentasche, brachte ihn in seine Kneipe zurück. Abends hatten wir sie zusammen, einen Glaser, einen Maurer, einen Anstreicher, einen Fensterrahmentischler, einen Elektriker, einen auf Holzbänke spezialisierten Zimmermann und einen Teichausheber, sämtlich stocktrunkene Männer um die Sechzig. Der Glaser kam mit seinem einäugigen Onkel, der sich von ihm nicht trennen mochte. Dieser Herr wird aus den Weiden Körbe für dich flechten, sagte Jan, wenn es zu viele sind, kannst du sie in Berlin weiterverkaufen. Sei beruhigt, ich werde deine Handwerker wieder ans Arbeiten gewöhnen. In zwei Tagen treten sie an, ich kenne die Bande. Gegen Mitternacht lag ich im Rzeszówer Hotelzimmer, den erschöpften Josch zu meinen Füßen, versuchte Pläne zu machen: Wenn ich freitags nach dem Schreiben im Berliner Bahnhof Lichtenberg den Zug nähme, wäre ich kurz nach neun Uhr morgens in Rzeszów. Gegen zehn könnte ich mir auf Jans Hof ein Pferd satteln, über die Felder zu meinem Haus reiten, dort Tee kochen, einen Roman lesen. So würde ich auf Jan warten, mich auf Jan freuen. Die ganze Woche könnte ich mich auf das Wochenende freuen. Ich freute mich schon auf die Vorfreude, die zuverlässigste aller Freuden. Am Sonntag nachmittag müßte ich in Zalesie aufbrechen, um Montag früh wieder in Berlin zu sein.
Zerzaust und glücklich stolperten Josch und ich morgens um halb sieben ins Treppenhaus. Vor Frau Magunnas Wohnungstür standen wieder leere Weinflaschen Spalier. Jill saß schon am Küchentisch, kein Licht. Es war seltsam still. Süße, ich habe den Hof gekauft! Sie reagierte nicht. Was ist los? Etwas mit Bube, antwortete sie, ich weiß nicht, wo er ist. Was heißt das? Sie zuckte die Achseln: Ich glaube, er hat mich
verlassen. Du bist nicht jemand, den man verläßt. Red doch keinen Quatsch, er hat vier Tage nicht angerufen, das ist bisher noch nie vorgekommen. Frag einfach seinen Untermieter, Jill. Kann ich machen. In einer Stunde, jetzt ist es noch zu früh. Er bringt mich in eine ungute Lage, klagte der Untermieter, er ist in London und trifft sich mit einer Studentin. Ich finde es nicht gut, daß er es so macht. Er hätte es dir selbst sagen müssen. Nach dem Telefonat mit Bube saß Jill aufrecht im Bett, ihren Oberkörper nach rechts und links pendelnd. Am nächsten Morgen besorgte ich ein starkes Schlafmittel, Rohypnol. Sie nahm es nicht, sie müsse da durch, nütze ja nichts. An den Wochenenden besuchten sie ihre zwei besten Freundinnen, befahlen ihr zu essen. Das Leben sei gelegentlich ekelhaft, aber essen müsse man doch. So doll sei er nun nicht gewesen, dieser Graf mit seinem ungezogenen Terrier und seinen ständigen Alleswissereien, diesen überflüssigen Erklärungen. Jill setzte sich nach wenigen Bissen aufs Sofa, überlegte vor sich hin, was sie am Montag erledigen müsse. Die beiden warfen sich besorgte Blicke zu. Danke, daß ihr gekommen seid, sagte Jill. Alles, was sie tat, schien automatisch mit ihr zu geschehen. Sie frühstückte, verließ das Haus, trug ihr Fahrrad aus dem Keller, fuhr zu ihrem Laden. Zehn Minuten vor neun stellte sie die Tische mit den Angeboten nach draußen, wie immer. Auf meine Frage, ob es ihr etwas besser gehe, antwortete sie: Ich funktioniere. Bald habe ich mein Diplom in Leiden. Ich könnte beide schütteln! entfuhr es Elsa immer wieder. Sie hielt meine Eltern für ein wundervolles Paar. Weshalb nur begriffen sie selbst es nicht? Elsa lenkte ihr Mißfallen über die Lage auf andere Menschen um. Dieser oder jener, schimpfte sie, wenn wir bei ihr zu Mittag aßen, habe das Pulver nicht erfaßt. Es heißt erfunden, liebe Mutter, kam es dann unter dem Mahagonitisch hervor, wohin Pappi seinen Kopf gesteckt hatte
nach dem Kaffee. Elsa winkte ab. Sprachliche Verbesserungen hatte sie hinter sich. Nicht die ihrer Statur. Regelmäßig fuhr sie zur Schönheitsfarm, auf der sie sich ein paar Pfunde forthungerte. Kaum zurück, bestellte sie uns Enkelinnen ein. Wir sollten uns überzeugen, wie ihr Kleid unterhalb der Brustpartie locker nach unten falle. Zum Beweis zwickte sie in den Stoff, der wirklich Spielraum bot: Ich bin nur noch’n Strich in der Büx, freute sie sich, schob die rechte Hüfte keß nach vorn. Wenige Wochen später spannte der dunkelblaue Stoff wieder stramm auf dem Mieder. Als Kind wohnte ich bei ihr, wenn meine Eltern auf Reisen waren. Morgens spähte ich durch die Tür ihres Schlafzimmers, ob sie schon wach sei. Noch’n Augenblick besinnen, mein Deern, rief sie aus ihrem üppigen Federbett. Nach dem Frühstück brachte uns Schuchardt, früher Firmenchauffeur, jetzt selbständiger Taxifahrer, ins Geschäft. Sie nahm mich an der Hand, machte sich über das Angebot der zwei Etagen kundig, prüfte die Qualität der schottischen Pullover, strich über die Damasttischdecken, ob sie auch fehlerlos seien, befühlte skeptisch die neuerdings beliebte Satinbettwäsche, ließ Abteilungsleiter zu sich kommen, hörte sich deren Vorschläge an, was neu zu bestellen oder aus dem Sortiment zu nehmen sei. Zwischendurch führte sie mit Kundinnen ein Gespräch, mich fest an der Hand. Meistens über die frischen Toten, die sie morgens den »Kieler Nachrichten« entnommen hatte, und woran genau sie gestorben seien. Dann setzte sie sich eine Weile zu ihrem Sohn Jochen ins Kontor, machte Ordnung auf seinem Schreibtisch. Ich bekam ein Ausmalheft. Schuchardt holte uns ab. Zu Hause wärmte sie die vorbereiteten Gerichte. Nach dem Essen brachte sie mich ins Gästezimmer, klappte ein kühles Federbett auf, das nach ihr roch, nach ihrem Haushalt, dem Parfüm, nach ihrer Freude.
In einem dieser schweren, frischen Federbetten starb im Sommer 1976 mein Großvater Ferdy. Wir sollten von ihm Abschied nehmen. Lieber nicht, baten wir. Diesem Menschen, sagte Pappi mit einer ungewohnten Strenge, verdanken wir einen zwar nicht maßlosen, aber doch soliden Wohlstand. Also werdet ihr euch jetzt von ihm verabschieden. Er ging voraus, die Treppe hinauf, den Gang entlang, an dessen Ende der tote Ferdy in seinem Zimmer lag. Angstvoll blieben Jill und ich im Türrahmen stehen. Am oberen Ende des Federbetts lag es akkurat in der Mitte des Kopfkissens: das Gesicht unseres Großvaters, der meine Klavierstunden bezahlt hatte, dem ich »Stille Nacht, heilige Nacht« vorspielen mußte, damit er sich davon überzeugen konnte, ob sich der Unterricht lohnte. Das Gesicht unseres Großvaters, der uns gesmokte Kleidchen aus dem Geschäft mitbrachte, wo wir doch Cordhosen tragen wollten, die gab es dort auch. Jetzt war es ein kleiner gelber Stein am oberen Ende des Federbetts, sein Gesicht. Akkurat auf der Mitte des Kissens. Als das Wirtschaftswunder auch dieses Fachgeschäft mitriß, als vom Handwerker bis zum holsteinischen Landmann jede Familie hier ihre Aussteuer einkaufte, war mein Vater bei ihm in Ungnade gefallen. Ferdy bat ihn, seinen Erstgeborenen, die Dekoration des Schaufensters zu begutachten. Unter gerüschten Samtvoliéren mit Bommeln lag dort alles, was das Geschäft zu bieten hatte, Pullover in vielen Farben, ordentlich gestapelt neben Hemden, aufgefächerte Socken, Tischdecken und Bettwäsche. Zuviel des Guten, urteilte mein Vater engagiert: Eine Krawatte, von oben beleuchtet, ein Stück im leeren Raum, das lockt die Leute an. Ferdy verschlug es die Sprache, absurder Gedanke. Mit einem kleinen Fußstoß unter dem Tisch signalisierte er Elsa: Hat sich erledigt. Unser Ältester ist nichts fürs Geschäft! Er beschloß, diesen Sohn, auf den er seine Hoffnungen gesetzt hatte, an künftigen
Entscheidungen nicht mehr teilhaben zu lassen. Der nächstjüngere Sohn Jochen bekam seine Chance, bezog das Zimmer im Geschäftskontor. Werbung wurde das Zeichen der Zeit. Der Junior ging ans Werk. Unter den prüfenden Augen Ferdys montierte er Schilder über die Auslagen. »Guten Appetit in jeden Haushalt« scholl es vom Topflappenregal. Mit »Zeigen Sie, daß Sie ein Mann sind« lockte er Kunden zu den modernen bunten Herrenunterhosen. Es funktionierte. Begeistert vom Erfolg drang Jochen mit freien Versen immer tiefer in die Interieurs der Kunden: »Für Leute, die gern auf großem Fuß leben, aber auf Zehenspitzen nach Hause kommen – Socken in allen Farben des Regenbogens«. Es ging stetig aufwärts. Ferdy erkannte, daß er nicht mehr gebraucht wurde. Mürrisch zog er sich ins Private zurück, von verschiedenen Altersübeln geplagt. Nach der Beerdigung beantwortete Elsa ein paar Tage lang die Kondolenzbriefe der Kundinnen, öffnete das Haus für die Beileidsbesuche ihrer Freundinnen, widmete sich mit großer Energie dem Geschäft. Kräftiger denn je überstand sie die Schönheitsfarm, das ständige Auf und Ab ihres Gewichts. Kaum zurück, führte sie uns neue Kleider vor mit gewagten weißen Kragen, belebte die kleine Ecke in ihrem Garten mit der Pergola, empfing uns dort zum Kaffee, deckte den Tisch mit einer frischen weißen Damasttischdecke, reichte selbstgebackenen Blitzkuchen. Fragte uns Enkelinnen, ob wir Freunde hätten, wir wüßten schon, was sie meine. Verneinten wir, ermunterte sie uns: Kommt aber noch, ihr Süßen.
Wochen später fand Jill ihre Strategie, Trennungsschmerz zu überwinden. Sie verzieh und entzauberte zugleich. Wenn sie jetzt von Bube sprach, blühte sie auf, aber anders als vorher, entspannter. Äffte ich ihn nach, verteidigte sie ihn milde: Also,
so ist er nun wirklich nicht. Ja, wie ist er denn bloß? fragte ich ungeduldig. Er weiß es eben noch nicht so genau. Elsa erinnerte uns Mitte März: Nächstes Wochenende ist Tante Friedes Rosenfeld! Sie wird neunundsiebzig. Rosenfeld paßte mir ganz schlecht, ich hatte Polen eingeplant. Einfach wegbleiben geht nicht, entschied Jill, du kannst doch im Auto deine polnischen Kassetten hören, und für Josch ist es schön dort. Einmal im Jahr lud Friede, Elsas ältere Schwester, die ganze Familie zu einer Landpartie ein. Tante Friede, deren Gesicht wegen des waagerechten oberen Abschlusses ihrer Brille unter den buschigen Augenbrauen männlich wirkte, lebte seit Urzeiten allein in ihrer Kieler Wohnung. Als sie Mitte Dreißig war, erwischte ihre Mutter, unsere Urgroßmutter Emma, sie mit einem Mann auf dem Kanapee. Weil das Wäschegeschäft damals gerade florierte, gab sie ihrer Tochter zu bedenken: Friede, will der nicht bloß an dein Geld? Friede nahm sich die Warnung zu Herzen, entsagte der Verbindung. Emmas Hausarzt, Sanitätsrat Dr. Brandt, verordnete ihr einen Strohhut zur Besänftigung des Gemüts. Uns beeindruckte an Tante Friede, daß es ihr in der Schule gelungen war, von den Fächern Turnen, Singen, Handarbeit und Zeichnen freigestellt zu werden. Dr. Brandt, an dessen Weisungen Emma sich strikt hielt, bezeichnete sie als zu »zartbesaitet« für nervlich strapaziöse Schulfächer. Der Arzt riet zur regelmäßigen Luftveränderung und zur Beschäftigung mit stabilen Werten, das Mädchen müsse robuster werden. Friede lernte die regierenden Fürstenhäuser auswendig, die Daten der vaterländischen Kriege. Das würde sie brauchen können. Später kontrollierte sie im Kontor des Wäschegeschäfts die Additionen, überprüfte die orthographische Korrektheit der Straßennamen, sorgte dafür, daß mit Briefmarken nicht verschwenderisch umgegangen
wurde. In ihrer freien Zeit bannte sie die Wirklichkeit, von der sie sich ansonsten fernhielt, auf Hochglanzfotos: die Badeanstalt in Kiel, die Forstbaumschule, die Marinedenkmäler in Laboe und Möltenort. Stets Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund. Diese Dias zeigte sie im Frauenbildungsverein: Nummer sieben, das Laboer Ehrenmal. Sehen wir doch, Friede! rief Mutter Emma ungeduldig aus dem Zuschauersaal. Jill und ich gaben Tante Friede immer Anlaß zur Besorgnis. Überall schienen Mitschnacker uns Mädchen aufzulauern. Ach, ich könnte das ja nicht, sagte sie öfters zu Mami, das mit den Kindern, ich würde mir immer zuviel Sorgen machen. Dabei schien Sorge ihr Lebensgefühl zu heben. Als sie siebzig wurde, beschloß Friede, ihren Geburtstag von nun an mit einer Landpartie zu begehen, die sie im Grunde für zu gefährlich hielt. In einem Bus fuhren wir etwa dreißig Ausflügler ins ostholsteinische Rosenfeld. Onkel Jochen genoß diesen Ausflug. Jedes Jahr setzte er sich neben den Busfahrer, griff zum Mikrofon, den lieben Mitfahrenden die Herrlichkeit der blühenden Rapsfelder, das Liebenswürdige der von fern herübergrüßenden Seenplatte nahezubringen. Bleibende Schönheit, die sich so erholsam unterschied von der Apartheit der bestickten Tischdecken, deren Käufer immer seltener wurden. Im Gutshaus aßen wir zu Mittag, tranken Kaffee auf der Terrasse. Anschließend gab’s eine Kutschfahrt. Jill und ich begleiteten die Landauer auf gemächlichen Pferden. Dieses Jahr bekam ich einen runden Schecken. Zurück auf dem Gutshof, lenkte ich ihn in Richtung des gutseigenen Sandvierecks, einen flotteren Trab auszuprobieren. Daraus wurde nichts, Jochen paßte mich ab: Kann ich mal deinen Zossen haben? Verblüfft sprang ich vom Pferd. Hilf mir mal rauf! Ich hielt ihm den Steigbügel hin. Er stieg auf, griff die Zügel mit Fäusten, jagte sofort los in vollem Galopp, unzählige
Runden, obwohl er – soviel ich wußte – noch niemals geritten war. Seine Hosenbeine flatterten über nach außen gedrehten Füßen, Jackett und Seidenkrawatte wehten im Wind, Jochen aber drückte dem Schecken Runde für Runde die blanken Halbschuhe in die Flanken, heizte ihm tüchtig ein. Am oberen Ende des Platzes stand der Rosenfelder Gutsherr im Lodenmantel und beobachtete argwöhnisch den Vorgang. Jochen! rief ich, was wird das? Er parierte das dampfende Pferd, flüsterte mir, wobei er mit dem Daumen in Richtung des Lodenmantels wies, atemlos und mit einem befriedigten Lächeln zu: Der da hat seit zwei Jahren seine Rechnungen im Geschäft nicht bezahlt, jetzt reite ich ihm sein Pferd zuschanden! Sauber, sagte Jill.
Zurück in Berlin, tranken wir auf Jochens Wohl ein Kronenbourg in der Paris-Bar. Das Lokal, das in der letzten Zeit auffällig leer gewesen war, quoll an diesem Abend über von Westberliner Kulturschaffenden. Vor einer Weile waren dieselben Leute fast täglich in den Ostteil Berlins gefahren, jetzt gingen sie wieder regelmäßig in ihre westlichen Stammlokale. Das wäre vielleicht ein Thema für dich, überlegte Jill: Die Westberliner ziehen sich aus dem Osten zurück. Schlag das doch mal vor! In der Haustür trafen wir Frau Magunna. Ich wollte gerade einen Wein in der »Traube« trinken, begrüßte sie uns, möchten Sie nicht vielleicht mitkommen? Ein andermal gern, wehrte Jill höflich ab, die Vernünftige, aber wir kommen gerade aus Kiel zurück, von der Familie, jetzt müssen wir schleunigst ins Bett. Wir hätten mitgehen sollen, schnaufte ich auf der Treppe, Nachbarschaftspflege, ein letzter Wein wäre doch auch nicht schlecht gewesen. Jill drehte sich um, schwenkte den schlafenden Josch auf ihrem Arm: Sie säuft, merkst du das
nicht? Und sie wird manisch, wenn sie getrunken hat. Kümmer du dich um sie, du hast mehr Zeit als ich. Das stimmte. Am nächsten Morgen setzte ich mich früh an den Sekretär, mein Thema anzubieten. Nach mehreren Telefonaten bekam ich eine Chance. Eine Tageszeitung wollte mehr erfahren über die nicht zustande kommende Verständigung von Ost und West. Sogar ein Hotel wollte sie mir bezahlen, damit ich Intellektuelle angemessen empfangen könne. Beflügelt durch den bevorstehenden Erfolg rief ich Mami an. Meine Mutter unterbrach mich gleich, in diesem Moment habe auch sie mich anrufen wollen: Elsa hatte am frühen Morgen einen Schlaganfall. Sie ist außer Lebensgefahr, aber linksseitig gelähmt. Sie muß noch eine Weile im Krankenhaus bleiben. Kommt nach Kiel, sobald ihr könnt, ihr beiden. Mami, wir müssen aber jetzt mal was arbeiten, Jill und ich auch! Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Ich bin Journalistin, ich suche nach Themen für Artikel. Aha. Was aha? Findest du das überflüssig? Elsa zu helfen finde ich jetzt wichtiger. Es hat keinen Zweck, mit meiner Mutter über den Umstand zu diskutieren, daß man traurige Mitteilungen nicht im selben Moment begreift, in dem man sie hört, daß man etwas Zeit braucht, angemessen zu reagieren. Mami verlangt Ergebenheit dem Leben gegenüber, Gegenwärtigkeit von Seele. Ich finde es auch wichtiger, Elsa zu helfen, Mami, meine Stimme knödelte durch die aufsteigenden Tränen, aber wir müssen etwas Geld verdienen. Jedenfalls hin und wieder. Es geht nicht ohne das! Ohne Liebe noch weniger, Schätzlein. Jill entschied: Ein paar Tage arbeiten, dann fahren wir zu Elsa nach Kiel. Mein vorübergehender Auszug kam ihr sehr gelegen. Sie vermietete manchmal das winzige Gästezimmer unserer Wohnung an Leute von der Treuhand. Jetzt könne sie dem gut zahlenden Gast ja für eine Woche mein Zimmer anbieten.
Am zweiten Hotelmorgen bat ich Josch, sich einen Moment zu gedulden, ich wollte unten schnell frühstücken. Als ich ins Zimmer zurückkam, sprang mein Hund mit allen vieren vom Boden ab, warf sich gegen das geschlossene Hotelfenster im dreizehnten Stock. Als ich mich ihm näherte, kreiselte er wie verrückt um seinen Stummelschwanz: Fort von mir, siebenköpfige Schlange. Auf dem Fußboden lag die leere Packung Rohypnol. Ich hatte das Schlafmittel Jill gestohlen, um es in der Tasche zu haben, falls die mangelnde Verständigung zwischen den Ost- und Westintellektuellen mir schlaflose Nächte bereiten würde. Es waren noch sechs Kapseln drin. Josch hatte die Schachtel in meiner Jackettasche entdeckt und alle weggefuttert, während ich im Restaurant einer very important person beim Brötchenaufschlitzen zusah. Statt einzuschlafen nach dieser sechsfach überhöhten Dosis, geriet der Hund in eine Art Extasy-Taumel. Den Magen auspumpen, war mein Reflex, Josch greifen und ihm den Finger tief in den Hals stecken, so daß er das Zeugs wieder herauswürgt. Funktionierte nicht. Flößen Sie dem Hund soviel Kaffee ein, wie es irgend geht, riet der Tierarzt am Telefon, jagen Sie ihn durch den Park, auf keinen Fall darf er einschlafen. Ich lief hinunter in die Lobby, zerrte den torkelnden, immer wieder auf den Bauch plumpsenden Josch hinter mir her. Kaffee, schrie ich in die Runde der wartenden Hotelgäste, mein Hund braucht Kaffee! Den beiden war anzusehen, daß sie dachten, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie erkannten aber schnell, daß etwas mit dem Hund nicht stimmte, denn Josch rollte gefährlich mit den Augen, alle viere seitlich von sich gestreckt. Du wirst nicht einschlafen, brüllte ich ihm in die Ohren, gab ihm dazu ein paar Backpfeifen, wie es im Kino Männer tun, wenn sie Selbstmörderinnen finden. Die Damen holten frischen Kaffee aus dem Restaurant, gossen ihn zum Abkühlen in einen
Sektkübel um. Dem Hund die Schnauze aufsperren wollten sie nicht. Also rüttelte ich einen gedankenverloren auf jemanden wartenden Hotelgast an den Schultern, er müsse helfen, diesen Hund zu retten. Der schlug vor, ich solle Joschs Maul aufsperren, er werde den Kaffee hineingießen. Wir schoben Sektkübel und Terrier in eine Toilette. Dem hustenden, schnaufenden Josch rann der Kaffee aus den Maulwinkeln. Das müßte reichen, der Helfer rieb sich betrübt die klitschnassen Hosenbeine, der überlebt das schon. Den kaffeesabbernden Hund auf dem Rücksitz, raste ich zum Tiergarten. Josch wandelte in seiner Drogenwelt. Die Betonpoller erklärte er zu feindlichen Torposten, fliegende Vögel hielt er für gut geworfene Bälle, sprang in die Luft, um sie zu fangen. Zurück im Hotelzimmer, fraß er zwei Kilo Trockenfutter auf einen Schlag, legte sich in die Ecke und schlief eine Spitze weg. Ihn wieder auf die Füße zu stellen gelang mir nicht. Also legte auch ich mich hin, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Zu Hause versuchte ich Jan zu erreichen, ich wollte davon erzählen. Eine automatische Ansage behauptete, das Telefon sei nicht in Betrieb. Hatte ich wirklich einen Geliebten und ein Haus in Polen? Weshalb rief Jan mich nicht an? Vielleicht hat er jemanden kennengelernt, gab Jill zu bedenken, das solltest du immerhin nicht ausschließen. So was passiert. Eines Tages, kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag, läutete es bei uns in Kiel. Ich glaubte, unsere Cousine käme, um mit meiner Schwester zu spielen, freute mich schon darauf, sie zu verscheuchen. Jill war bei den Nachbarskindern. Es gefiel mir, in ihre Ordnung hineinzustören. Manchmal traf ich sie dabei heftiger, als ich vorhatte: Sie schlafen nicht mehr miteinander, schon seit langem. Mir erschien das keine bedeutende Angelegenheit, eher eine normale Entwicklung in der Ehe, etwas, das wenig änderte am Lauf der Welt, nicht
verantwortlich zu machen sei für deren Katastrophen. Jill, die wie Elsa ein Interesse an den vitalen Funktionen des Lebens hat, war entrüstet: Stimmt doch überhaupt nicht! Woher weißt du das denn? – Ich weiß es eben. Basta. Und ich glaube es dir nicht. Basta. Aber diesmal stand dort vor der Tür nicht das kleine Mädchen mit der rauhen Haut, nicht meine Cousine, sondern Sonja aus dem Reitstall: Hallo, wie geht’s? Ich möchte mit deiner Mutter reden. Das klang nicht gut. Erstaunt bat Mami die unbekannte Besucherin ins Wohnzimmer. Ich wartete vor der Tür auf der Treppe. Was sie wohl wollte? Der Reitstall und sein Linoleumtisch befanden sich im Ostteil der Stadt, wir wohnten im Westen, am Stadtwald. Dazwischen lagen doch Welten. Zwischen Ost- und Westufer unserer Stadt. Zwischen den sich gleichenden Mietshäusern dort und unserer unordentlichen Villa mit dem Pony im Garten, den beiden Enten, die der Hund täglich mehrmals unter dem Zaun durchjagte. Nach einer Stunde verabschiedete Sonja sich höflich, Mami begab sich nach oben. Worüber habt ihr gesprochen? fragte ich Sonja in der Haustür. Ich wollte wissen, was sie hier noch macht, nach all dem, was passiert ist. Ließ die Tür hinter sich zufallen. Ging und verschwand hinter der Ligusterhecke. Ging und hinterließ etwas, das nicht mit ihr ging. Sie wollte wissen, was sie hier noch macht? Meine Mutter? Nach all dem, was passiert ist? Sie, Sonja, wollte wissen, was meine Mutter hier noch macht, nach all dem, was passiert ist! Ich setzte mich auf die Treppe, wartete darauf, daß Mami etwas sagen würde. Was könnte das sein, dieses Nachall-dem-was-passiert-ist? Auf der Treppe wartete ich. Mami blieb oben, in ihrem Zimmer. Ich wartete, daß Pappi kommen würde, hörte irgendwann den Schlüssel, berichtete es ihm noch in der Tür. Wo ist deine Mutter? Hastig lief er die Treppe hinauf, ich
hinterher. Mami hörte das Geräusch, kam aus ihrem Zimmer, blaß: Moment noch, Schätzlein. Stimme komisch. Sie bat mich, meine Schwester ins Bett zu bringen, danach in meinem Zimmer zu bleiben. Am nächsten Morgen rief sie uns zu sich. Es war etwas geschehen. Es gab im Leben unseres Vaters eine andere Frau. Er war sehr viele Abende nicht bei seinen Kunstfreunden gewesen, wie er uns erzählt hatte, statt dessen bei einer Frau. Bei Sonja. Während sie dachte, er sitze bei Kulturleuten, plane Ausstellungen. Sie müsse jetzt nachdenken, wie es weitergehen solle. Hier könne sie nicht bleiben. Hier könnten wir drei nicht bleiben. Oder er könne hier nicht bleiben. Eins von beidem. Der Rest war Verhandlung. Wer behält das Haus? Wer zieht aus? Wohin mit Sammy und Joseph? Die Kindheit war zu Ende. Wir ergriffen die Partei unserer Mutter. Auch sie hatte Geheimnisse. Mit wem telefonierte sie auf französisch? Weshalb bekam ihre Stimme währenddessen diesen seltsamen Klang, mit jener anderen Zärtlichkeit darin als die, die sie für uns empfand? Doch jetzt hieß es, die Lage nicht zu komplizieren, jetzt mußte solidarisch gehandelt werden. Wir steckten ja schon mitten im Verteilungskampf. Einmal rief ich Pappi im Garten zu: Deines Bleibens ist hier nicht länger! (Daran erinnert er sich noch heute.) Am Anfang wollte er uns Frauen – er sagte es so: euch Frauen – das Haus überlassen, dann schlug er vor, die Villa zu teilen. Wir sollten die obere Etage bekommen, er wolle unten einziehen. Diese Lösung würde sich schon einspielen im Alltag. Mami gab seinen Vorschlag an uns weiter. – Wir Mädchen sollten entscheiden. Dann bleibt alles, wie es ist, sagte Jill, das will ich nicht. Sie überlegte kurz: Es ist nicht schön! Was genau? fragte Mami. Mit euch beiden zu leben! Es ist besser, mit einem von euch allein zu sein. Wenn ihr zusammen seid, ist es irgendwie… wie Arbeit. Seit wann verstehst du was von Arbeit, du mit deinen
elf Jahren? nölte ich gereizt. Sei mal still, bat Mami. Was schlägst du vor, Jilly? – Wir finden für uns ein neues Haus. Mitten in der Nacht stand Jill auf, setzte sich an ihren Kindertisch, malte, weckte mich: Guck mal! Auf dem Bild war ein kleines Haus mit Hundehütte, Zaun, grünem Garten, königsblauem Teich für die Enten, strohausgelegter Garage für Sammy, drei mit gelben Wachsfarben gemütlich beleuchteten Zimmern: Unser Haus, das lege ich jetzt Mami vors Schlafzimmer. Wir finden das. Zufrieden kam sie zurück und schlief gleich ein. Was wir fanden, war nicht ganz nach dem Plan meiner kleinen Schwester, eher eine Wohnung als ein Haus, Hinterhof statt Garten, aber akzeptabel. Sammy kam zu einem Mädchen aus dem Reitstall, Joseph nahmen wir mit in die neue Wohnung. Eine Weile wollte Pappi uns nicht sehen, weil er, wie er sagte, uns nicht in Zweifel bringen wollte. Die Straße vor dem Haus, in dem sich die neue Wohnung befand, war abschüssig. Autofahrer, die von oben kamen, glaubten rasen zu müssen. Eines Abends, als ich Joseph aus dem Hinterhof hereinholen wollte, war er verschwunden. Ich suchte vorn. Auf der Straße traf mein Blick tote Hundeaugen. Sie leuchteten schwach im Dunkeln. Wir begruben ihn im Hinterhof. Jill wollte es am nächsten Tag Pappi erzählen, allein, darauf bestand sie. Sie ging zu ihm. Sonja öffnete: Dein Vater ist nicht zu Hause. Schloß die Tür. Mami sagte, er werde ganz gewiß eines Tages vor unserer Tür stehen, um seine Töchter zu besuchen. Wir sollten uns einfach darauf freuen. Vier oder fünf Monate später kam er. Klingelte, wurde hereingebeten, setzte sich an den Küchentisch. Eine junge Frau war gestorben, Postbotin, zwei kleine Kinder. Völlig unnötig. Bauchschmerzen, dann eine Verkettung unglücklicher Umstände, eine inkompetente
Nachtschwester, die Kranke ließ sich nach Hause schicken, der Hausarzt verreist. Noch in derselben Nacht gestorben. Er sei der Anwalt des Mannes. Todunglücklich, dieser Mensch. Wir hörten ihm zu, betrachteten sein Schluchzen. Im Juni wurde der Artikel über die nicht zustande kommende Verständigung zwischen Ost- und Westintellektuellen in der Tageszeitung gedruckt. Am selben Abend rief Jan an, voller Pläne. Laß uns beide ein Fest machen, schlug er vor, damit deine Familie Polen kennenlernt und mich. Komm, sobald du kannst, Liebling! In der Nacht entwarf ich eine Einladung mit Wegbeschreibung, verschickte sie am nächsten Morgen an dreißig Leute. Achtzehn sagten zu, die Reichsbahn wollte sogar einen zusätzlichen Schlafwagen an den Nachtzug hängen. Mit Josch fuhr ich voraus. Mein kleiner Hof glich einer abenteuerlustigen Baustelle. Einige Fenster hatten neue Rahmen, andere starrten noch leer. Auf dem Baumstumpf ein Haufen Weidenkörbe ohne Böden. Alles schien akkurat halbfertig. Handwerker waren keine da. Er habe die Leute bezahlt, erklärte Jan, jetzt feierten sie, nächste Woche kämen sie wieder, dann hätten sie ihr Geld aufgebraucht. Wird denn bis zum Fest alles fertig sein? Jan war zuversichtlich: Kein Problem, wir schaffen das. Leszek wird den Rest organisieren, wir müssen los. Die Touristen warten. Der Trail sollte quer durch das angrenzende Waldgebiet bis zu den Schlössern des Grafen Potocki führen. Ein seltsamer Vierertrupp: Der Hamburger Dachdecker hielt einen Tag, an dem er nicht schon vormittags volltrunken war, für nicht geglückt, gleich nach dem Frühstück klemmte er sich die Wodkaflasche in den Bart. Das Stuttgarter junge Paar vertrieb sich die Zeit mit dem Überprüfen des Preis-LeistungsVerhältnisses, mißgönnte einem extra mit dem Bus herangeschafften Chor aus Rzeszów die Teilnahme am Abendessen. Mir händ die doch nit zom Saufa bezahlt, sondern
zom Singa, beschwerte sich die zierliche Frau. Der ostfriesische Rechtsanwalt hockte vom ersten Aufsteigen an kreideweiß auf seinem Wallach und war überglücklich, als ein Huftritt gegen sein Schienbein ihn reituntauglich machte. Beim Anblick der Stopfnadel, mit der der polnische Arzt seine Platzwunde zu nähen plante, verlor er kurz das Bewußtsein, wachte dafür als Held wieder auf. Für den Rest der Reise erklärte er sich zum Berichterstatter und dokumentierte, das bandagierte Bein im Auto leicht angehoben, den Ritt mit der Kamera. Auch der südostpolnische Chirurg legte, nachdem er das deutsche Bein geflickt hatte, die Arbeit nieder, um uns zu einem Picknick einzuladen. Die Stuttgarterin nörgelte, das stehe so nicht im Reiseprospekt. In einem dunklen Kiefernwald drapierte der Chirurg eine Tischdecke über die Kühlerhaube, breitete alles aus, was er eingepackt hatte, geräucherten Speck, krümeligen Frischkäse und Wodka, von dem sich vor allem der Anwalt reichlich gönnte. Die zweite Hälfte des Abends ließ er den Arzt nicht mehr aus seiner Umarmung, nannte ihn mein Bester, kündigte an, ihm Pakete mit Operationsgarn und feineren Nadeln zu schicken. Jan erzählte von seinen Reisen, konnte nicht glauben, daß wir alle noch nie in Israel waren. Auf dem Berg Sinai, wo Gott Moses seine zehn Angebote gemacht habe, müsse man gewesen sein. Zehn Gebote, verbesserte die Stuttgarterin. Der Dachdecker und der Anwalt fanden Angebote eigentlich besser. Mein Traum, sagte Jan, ist die Mongolei, ein Trail durch die Wüste Gobi. Liebste Gabi, da bin ich dabei, sang der Anwalt begeistert. Am nächsten Vormittag bat Jan meine Landsleute um Verständnis, wir zwei müßten schnell etwas besorgen, es werde nicht lang dauern. Wir jagten den Bambino die karpatischen Almen hinauf, liefen über Wiesen, bis wir keine Kraft mehr hatten. Jan legte eine Decke ins Gras und seine
Jacke für Josch. Die feuchte Wiese dampfte in der Sonne. Siehst du, das ist es, was ich meine, sagte er, das ist der Osten. Jetzt ist es dein Osten. Niemand wird ihn dir je nehmen können. Niemand kann uns das hier nehmen. Schau! Wieder lenkte er meinen Blick mit seiner Hand, und diesmal sah ich es. Ich erkannte es im selben Moment. Deshalb hatte er mich hierhergebracht: Dies war das Glück! Laß uns diesen Tag niemals vergessen, bat Jan. Ist es nicht wunderschön hier? Ja. Wir müssen einmal wiederkommen. Schon. Schon, Liebling. Aber ich muß weiter, in die Mongolei, dort ist es noch schöner. Kommst du mit? Morgen kommen erst mal unsere Leute, Jan, laß uns schnell noch nach Zalesie fahren, ob die Handwerker wirklich da waren. – Mißtrauische kleine Deutsche. Helles Flutlicht aus einer Keramiklampe beleuchtete den Hof. Im Stall neuer Holzfußboden. Auf seinem Dachboden standen vier mannshohe Bananenmarkdosen, randvoll mit Wasser. In die Böden waren Rohre geschraubt, darauf Brausen gesteckt. Jan schüttelte seinen Kopf, während er kleine Plastikhebel drehte: Wenig Wasser tröpfelte heraus, suchte auf dem frisch gekachelten Boden vergeblich nach einer Senke zum Abfließen. Diese Polen, seufzte er, aber immerhin können deine Gäste duschen. Ist doch was. Am nächsten Morgen stiegen sie aus dem Zug. Meine Mutter, meine Schwester, Freunde mit Kindern, mein Vater, Tante Milena und Anselm, Onkel Philip aus irgendwelchen Gründen nicht. Jan begrüßte die Frauen mit Rosen, die Kinder mit Körben voller Blaubeeren. Die Ankömmlinge sahen müde aus, waren aber fröhlich gestimmt. Sonne glitzerte über Rzeszów. Jan schlug vor, zuerst die Stadt zu besichtigen. Es ging vorbei am scheußlichen sowjetischen Denkmal, den mißlungenen gelben Neubauten. Die Ankömmlinge fragten höflich, was es denn mit diesem oder jenem Gebäude auf sich habe. Jan gab
zufrieden Auskunft. Er liebte seine Stadt. Auf dem Reiterhof deckten drei Mädchen zwischen den Ställen eine lange Tafel mit Tee, Brot, Quark, Würsten, geschälten Tomaten. Tomaten ungeschält anzubieten hielt Jan für westliche Nachlässigkeit. Während wir frühstückten, sattelten die Mädchen die Pferde. Jan blies einen polnischen Tusch zum Aufbruch. Als mein Vater die Zügel aufgenommen hatte, rief er: Liebe Leute, ich habe seit zehn Jahren nicht zu Pferd gesessen. Meine Mutter Elsa, sie läßt alle hier herzlich grüßen, würde jetzt sagen: Wolln’s Beste hoffen. Im Namen aller Gäste danke ich dir, Jan, und deinen hinreißenden Helferinnen für die Einladung. Leute, es kann losgehen! Mein Vater solle vorn reiten, ordnete Jan an, hielt mich fest umarmt zurück: Schau! Deine Bande! Ich strampelte mich frei: Ich muß mich um sie kümmern, Jan! Manche ritten, andere führten ihre Pferde am Zügel. Sogar meine Mutter, deren Hände geübt sind im Halten dünnwandiger Teetassen, führte ein Pferd, auf dem ein von der Fahrt erschöpftes Kind saß. Jans Jagdhunde, die Josch aufgenommen hatten in ihre Horde, begleiteten uns durch Erlenwald, den die Einheimischen auf manchen Lichtungen als Müllplatz für Plastikeimer und Kochtöpfe benutzten, über eine Kiefernhöhe, schließlich vorbei an schmalen Feldstreifen mit Rotkohl, Kartoffeln, Kohlrabi. Eine am Feldrand angepflockte Kuh hob den Kopf, als wir vorbeizogen. Nach einer Stunde Marsch bogen wir in den Waldweg zu meinem Hof ein. Auf dem mit Wiesenblumen geschmückten Tisch dampften Suppen. Meine lieben Gäste, rief Jan, Entschuldigung, darf ich euch unsere Köchinnen vorstellen, Jasifiska und ihre Tochter Elena. Zwei Frauen winkten von der Veranda zu uns herüber, die rundliche Mutter mit vom Rühren der Suppe gerötetem Gesicht. Elena überragte sie um eine Handbreit, mit ihrem fast schwarzen Pagenkopf.
Jan lief nervös zwischen Küche und Tisch hin und her, immer wieder sah er auf die Uhr: Sie müßten längst hier sein, schimpfte er, wo bleiben sie nur? Ich versuchte ihn zu beruhigen: Die Leute sind doch zufrieden, sie trinken Wein, sie wünschen sich bloß noch, daß du dich zu ihnen setzt. Die Musiker haben versprochen, um halb vier hier zu sein, Liebling, nichts funktioniert in diesem Polen. Und gleich kommt der Bürgermeister. Weniger meinen Leuten als diesem Ehrengast schien seine Nervosität zu gelten. Der Mann der Gemeinde stieg schon wenige Minuten später aus seinem Mercedes, begleitet von seiner Frau. Ein wenig abseits hielt sich das Paar, auch nachdem Jan es vorgestellt hatte. Schließlich bat er beide an den Tisch, sie setzten sich ganz an den Rand, unschlüssig, ob diese Vertraulichkeit mit Deutschen sich zieme. Er spricht etwas französisch, flüsterte Jan, er ist ein kultureller Mensch. Könnte deine Mutter sich vielleicht ein bißchen mit ihm unterhalten? Ich sah ihn aufatmen, als der Bürgermeister und Mami ein lebhaftes Gespräch über Paris und seine Oper begannen. Gegen fünf Uhr hörten wir ein Motorgeräusch. Also bitte, seufzte Jan erleichtert, jetzt kommen sie. Ein kleiner grüner Bus, uraltes Modell, schob die Räder durch den Sand. Zwei Männer in schwarzen Hosen und weißen Hemden halfen zwei Frauen in langen dunkelblauen Taftröcken beim Aussteigen. Pappi ging ihnen entgegen. Als er den beiden Frauen die Hand geben wollte, hoben die lächelnd ihre Hände zum Kuß. Die Männer stellten vor der Balustrade ihre Instrumente auf. Vier stählerne Notenständer, zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello reflektierten das Sonnenlicht. Jan bat um Ruhe. Die Musiker spielten Haydns Sonnenaufgangquartett, Schumann und Brahms. Vor jedem Stück erhob sich der Cellist, kündigte das Stück an. Die Sonne wanderte von den Baumwipfeln zum Kamin, zeichnete zuletzt
Streifen und Punkte auf das Gras. Sie werden verrückt vor Glück, meine Gäste, dachte ich, ihr Leben wird nicht mehr sein, was es war, nach diesem Fest im Wald von Zalesie. Liebe Freunde, rief Jan, darf ich noch zwei Gäste, Touristen aus Deutschland, hierher einladen? Natirrlich, antworteten alle, so singend, wie es bei ihm klang, der bulgarische Rotwein begann zu wirken. Wenige Minuten später brachte der Pilot mit dem verwegenen Schnurrbart den Dachdecker und den Anwalt. Der Dachdecker begutachtete sofort die maroden Ziegel. Wenn er das nächstemal hierher komme, werde er sie ausbessern. Jan stupste mich leicht in die Seite: Siehst du, einer möchte schon wiederkommen, in dein Haus. Pappi ließ sich mehrmals das geflickte Bein seines Anwaltskollegen zeigen. Hat das sehr weh getan? fragte er. Ging so, beruhigte der Anwalt, auf jeden Fall Tierhalterhaftung. Er rückte seinen Stuhl etwas näher an den meines Vaters. Der Cellist bat höflich um Aufmerksamkeit, er wolle uns jetzt noch mit einem polnischen Komponisten der frühen Moderne bekannt machen, Karol Szymanowski. Besonders im dritten Satz des Quartetts sollten wir genau hinhören, vielleicht würden wir Motive aus Volksliedern der Tatra wiedererkennen. Jan übersetzte: Aber danach bitte etwas weniger Kompliziertes, etwas, das unsere Gäste kennen. Als Zugabe wählten die Musiker Haydns Kaiserquartett. Die Siebenschläfer, die ich morgens auf dem Dachboden rumoren hörte, wunderten sich wohl, daß mitten in ihrem südostpolnischen Wald ein paar Westdeutsche »Gott erhalte Franz den Kaiser« sangen, obwohl die Majestät doch längst tot war, ihre Nachfolger aus Südostpolen schon abgezogen. Die Musiker lobten unsere festen Stimmen, setzten sich dann zu uns. Jan schichtete Holz auf den Baumstumpf. Wo sind die Reitermädchen? wollte Pappi wissen. Im Moment sind sie Pilzmädchen im Wald, lieber Freund, aber bleib bei uns, da
hinten sehe ich sie schon. Die Mädchen breiteten ihre Steinpilze auf der Veranda aus. Jan führte ihnen vor, wie sie sie putzen sollten. Jasinska brachte aus dem Backofen der Bäckerei das Spanferkel, stellte es auf den Tisch zwischen Kerzen. Die Mädchen reichten gedünstete Steinpilze. Siehst du, rief Jan Pappi zu, jetzt sind sie Serviermädchen, deine Freundinnen. Wir Polen sind vielseitig. Am knisternden Feuer lehren die Jagdhunde Josch, wieviel Abstand nötig ist, sich den Rücken zu wärmen. Ein wunderschönes Anwesen, flüsterte Pappi, gern würde ich bald wiederkommen, wenn nur die Fahrt nicht wäre über diese holprigen Schienenschwellen und dieses furchtbare Quietschen. Meine Mutter half Jasifiska, die Windlichter anzuzünden, rief mich mit dem Zeigefinger zu sich, feierlich: Jetzt könntest du dich langsam umziehen, Schätzlein. Jan hatte mir für diesen Abend eine Warschauer Tracht geschenkt, ein in allen Farben leuchtendes Gewand, das ich über einer blumenbestickten Bluse tragen sollte: So was steht dir! hatte er laut gerufen in dem kleinen Rzeszówer Trachtenladen. Er haßte die Art, wie ich mich anzog in Berlin. Daß du dich nicht schminkst, sagte er oft, gefällt mir an dir. Aber warum trägst du Schwarz und Grau oder, was am schlimmsten ist, Dunkelbraun? Warum habt ihr deutschen Frauen solche Angst vor Farben? Und warum tragt ihr am liebsten Kleider, die wie Säcke hängen? Die armen Polinnen ziehen sich eleganter an als ihr deutschen Frauen. Prima, diese Tracht, rief Jill, als ich zurückkam, winkte mit einem Stück Spanferkelkruste, die mußt du unbedingt mal in Berlin anziehen, wenn du einen Artikel ablieferst. Ein zweiter Bus fuhr vor, sechs Gestalten sprangen heraus, Musikanten aus der Stadt Przemysl an der ukrainischen Grenze. Die Kapellmeisterin begrüßte gutgelaunt alle mit Buketts, dirigierte dann ihre Kapelle, Männer in blauen
Trachten mit bunten Knöpfen. Während sie musizierten, kippten sie Wodka. Ihre Polkastücke gerieten immer mehr aus den Fugen, bis sie schließlich windschief über den Hof schrammelten. In einer Pause nutzte mein Vater seine Chance. Übersetz bitte das Wichtigste, befahl er, stieg auf seinen Stuhl. Oft habe er sich gefragt, weshalb seine Tochter so häufig nach Polen reise: Jetzt weiß ich, warum! Jan warf mir einen beunruhigten Blick zu. Er war ein verheirateter Mann, der von seiner Frau getrennt lebte. Getrenntleben bedeutete in Polen nicht Freiheit. Ob mein Vater wohl sehr deutlich werden würde, fragte sein Blick. Der Redner wollte auf etwas anderes hinaus: Ein Achtel slawisches Blut fließt durch meine Tochter… – Das reicht! unterbrach der Schlagzeuger. Milena lachte auf. Pappi hielt inne, vermutete, er solle langsam zum Schluß kommen. Dann darf sie hierbleiben, die Tochter, rief der Musiker. Er hatte das Achtel slawisches Blut gemeint. Mein Vater holte neuen Schwung: Den Hang zu Polen hat meine Tochter von ihrem Ururgroßvater, meinem Großvater mütterlicherseits, Slawe von Fehmarn. Dann zu mir: Haben sie das verstanden, sonst übersetz es bitte. Verstanden! grölten die Musiker. Ziemlich lange Rede für so’n bißchen slawisches Blut, flüsterte Mami ihrer Schwägerin Milena zu. Die anderen tanzten schon wieder Polka. Bis auf Jill. Die erklärte gerade dem Piloten etwas. Offenbar verstand der ihre Handbewegungen, unversehens griff er ihre Rechte, führte sie an seine Lippen. Die polnische Kavallerie, hörte ich ihn wispern, ist schon gegen deutsche Panzer geritten. Wir Polen haben Mut, Mademoiselle. Der Schlagzeuger drohte ihm mit seinem Trommelschlegel. Morgen will er uns mit seinem Hubschrauber die Gegend zeigen, erklärte Jill. Eine kleine Röte huschte über ihr Gesicht.
Gegen Mitternacht kamen letzte Gäste, Jolante und ihr viel älterer Mann Tadeusz. Die Musikanten unterbrachen für einen Moment, gossen sich Wodka ein. Jolante bedeutete mit energischem Gefuchtel allen, still zu sein. Mit heller Stimme besang Tadeusz den Mond, eine Strophe inniger als die andere, sang für sich allein, als treffe er schon eine Verabredung mit Gott. Mitten im letzten Ton brach er ab, schaute lang in die Runde, setzte sich. Mami trat mit einem Glas zu ihm, schenkte ihm Wein ein. Nur ein halbes, bedeutete ihr Jolante harsch, indem sie ihre rote Hand auf das Glas legte. Wie sie ihren heiligen Mann bevormundet, stöhnte Jan, Paare sind nicht zu ertragen. Später warf er Kartoffeln und Äpfel in die Glut, erzählte von der blauen Stunde im polnischen Urwald, die sich schon ankündige. Niemand wollte sie versäumen. Meine Mutter verschwand mit dem gähnenden Josch in einem Gästezimmer. Die Musikanten torkelten zu ihrem Bus, holten ihre Schlafsäcke, sie wollten unter freiem Himmel auf der Wiese übernachten. Kurz vor der blauen Stunde schliefen alle. Beim Tee in der Morgensonne schob sich Jans Bambino ächzend über den Sandweg. Er brachte Wasser und Apfelsaft, den Dachdecker und den Anwalt: Diese Abenteurer wollen mit euch fliegen! Der alte Fuchs, polterte es in meinem schmerzenden Schädel, sicher hat er den beiden empfohlen, ihren Urlaub eine Woche zu verlängern, um ein original polnisches Fest mitzuerleben. Ein surrendes Geräusch. Der blaue, an einigen Stellen frisch übermalte Hubschrauber ließ sich schon auf die Wiese nieder. Die Kinder hüpften vor Freude, kein Wort hatten sie geglaubt von dieser Sache. Nie und nimmer könne man auf so kleinem Platz landen. In gebrochenem Deutsch erklärte der Pilot den Kindern, weshalb das Ding von der Erde abhebe. Nacheinander verstaute er die Leute im Bauch seines Fliegers, kreiselte nach oben. Jan zeigte meinen Eltern Jolantes Gemüseanbau. Ohne Kunstdünger,
erklärte er, deshalb schmeckt polnisches Gemüse noch nach Gemüse, anders als bei euch. Biologisch-dynamischer Anbau? fragte Mami. Was heißt das, wollte Jan wissen. Führt jetzt zu weit, brummte Pappi. Trinken wir auf dieses Wochenende, liebe Freunde, rief Jan später, gleich müßt ihr leider packen, euer Zug fährt in einer Stunde. Es war schön mit euch. Kommt bitte bald wieder. Den Hubschrauber möchte aber ich bezahlen, flüsterte meine Mutter mir zu. Mein Vater zog mich zu Elena, die auf der Veranda mit Draht den Henkel eines Suppentopfs reparierte. Liebe Elena, eröffnete er feierlich, ich wünsche mir, daß du später für mich sorgst, in Kiel. Ich möchte deine wundervolle Suppe essen und dabei in deine schwarzen Augen sehen. Übersetz ihr das! Elena sah meinen Vater an, dann mich, dann ihre Mutter, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Pappi fragte erschrocken: Habe ich jetzt was Falsches gesagt? Er ahnte ja nicht, daß sie sein Angebot wörtlich nehmen würde, daß es für sie kaum Zukunft gab hier in Südostpolen, allenfalls die Bäckerei am Dorfende, daß Kiel, dieser Name einer Stadt in Westdeutschland, für sie nach einer ganz unerwarteten Chance klang. Jan brachte uns zum Zug. Auf dem Bahnsteig reichte er jeder Frau eine Rose, die Kinder bekamen Tüten mit Walnüssen vom Baum hinter meinem Haus. Meinem Vater steckte er eine Nuß in die Jackettasche: Mit Grüßen von deinen Nußmädchen. Es gefiel mir, daß er Pappi duzte, ein bißchen spöttisch. Hastig küßte er mir die Hand, wie immer auf diesem Bahnhof. Wenn er mich umarmte, hatte er mir früher erklärt, wären wir das Stadtgespräch für Wochen. Komm bald zurück, Kleine, flüsterte er, wir haben noch was zu tun hier, wir beide.
2
Das Glück mag es nicht, wenn man ihm ins Angesicht sieht. Dann beschließt es, sich eine Weile zu verstecken. Wir saßen wieder in der Küche, jede mit eigenen Dingen beschäftigt, meine Schwester und ich. Jill öffnete einen Briefumschlag, der mehrere Zettel enthielt: Schön war’s auf deinem kleinen polnischen Bauernhof, fährst du jetzt jedes Wochenende dorthin? Vorsichtig legte sie die Papiere nebeneinander auf den Tisch. Nein. Ich suche mir einen Job, ich muß Geld verdienen für das Haus, damit es fertig wird. Und du? Sie überlegte einen Augenblick, sah mich dann fest an: Ich habe jemanden kennengelernt, Matthias, er ist Stadtplaner, verheiratet, zwei kleine Kinder. Er gefällt mir. Zum Beweis hielt sie einen Bogen hoch, auf dem ein strahlender Putto unser Berliner Haus in die Luft zog: Diese Zeichnungen sind von ihm! Als ich, von meinen eigenen Plänen abgelenkt, nicht gleich reagierte, fuhr sie fort: Ich weiß nicht, ob es gutgeht, wenn man sich das Glück immer so weit entfernt vom Alltag sucht. Willst du ewig Sehnsucht haben? Was hast du gesagt, Jilly, er ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder? Willst du ewig Sehnsucht haben? Ich bin selten schlagfertig und fand, diese erstaunliche Ausnahme sei jetzt ein Grund zu feiern, zündete mir also eine Marlboro an. Jill beobachtete mich mit leichtem Ekel. Schwieg. Also Jill, machte ich weiter, ohne genau zu wissen, wohin ich wollte, ich mag Sehnsucht. Habe ich von Mami. Wir sind die Schnittmenge unserer Eltern. Vielleicht mehr vom Vater oder mehr von der Mutter, in jedem Fall Schnittmenge. Widerlicher Gedanke. Du hast mehr von Pappi, du Klugscheißerin, das steht fest. Bilde dir doch nicht ein, du
könntest aussteigen, Jilly. Du schleppst die Unverträglichkeit unserer Eltern mit dir herum, genau wie ich. Wir sind nicht dafür geschaffen, Familien zu gründen. Wir sind dazu verdammt, unser Leben als Ehebrecherinnen zu verbringen. Bis es nicht mehr klappt, weil wir alt und zänkisch sind. Dann verstecken wir Pralinen voreinander und haben wahrscheinlich immer noch Spaß miteinander. Jills Ekel wich dem Gesichtsausdruck, den ich an ihr am meisten liebe: Amüsiertheit, trocken. Morgen kommt Pappi, seufzte sie, er karrt Kieler Revolutionskunst in die Hauptstadt. Natürlich hatte er mir nichts davon erzählt. Es ist ein Familiengesetz: Mein Vater ruft meine Schwester an, fragt: Wie geht es ihr? Frag sie doch selbst, antwortet sie. Ja, mache ich, verspricht er gequält. Hat Pappi dich angerufen? erkundigt sich Jill später. Dabei weiß sie, daß er mich nicht angerufen hat. Die Frage, wie es mir geht, kann er mir nicht stellen. Ich will es ja auch nicht so genau wissen, wie es ihm geht. Jedenfalls nicht von ihm. Ich frage Jill danach. Sie sagt: Ruf ihn doch selbst an, Mensch! Ich rufe ihn aber nicht an, jedenfalls nicht, um zu fragen, wie es ihm geht. Nach dem Galeriebesuch trank er bei uns Milchkaffee, setzte sich, stand wieder auf, setzte sich. Minuten später lag er auf dem Fußboden: Ich schaffe es einfach nicht. Was denn? Alles. Allein der Garten! Was ist denn mit dem Garten? fragte Jill. Ein einziger Sumpf. Wir könnten das in Ordnung bringen, bot sie an. Dann zu mir: Du hast doch Zeit, oder? Jill kann eine Strenge ausstrahlen, der man sich nicht widersetzen möchte. Sie zieht zwei scharfe Falten zwischen ihre Augenbrauen, über die Mami sagt: Na, schon gut, nun laß das mal. Wir kommen am nächsten Wochenende, beschloß sie für mich mit, du mußt bloß einen Gärtner und ein paar Helfer besorgen. Gärtner? rief er entsetzt, diese naturvernichtenden Saubermacher, so was laß
ich bei mir nicht rein! Dann machen wir es eben allein, seufzte sie. Als wir ihn hinunterbegleiteten, heftete an Frau Magunnas Wohnungstür ein weißer Zettel. »Ich sehe mir die Sache in Ruhe an« stand darauf in breiten Blockbuchstaben. Er blieb verblüfft stehen: Hat das die Obotritin geschrieben? Was bedeutet das? Sagt mal! – Weiß ich nicht, Pappi. Jill schob ihn weiter: Du, ich muß morgen früh aufstehen. Auf dem Rückweg verabredeten wir, am nächsten Tag bei Frau Magunna zu klingeln. Etwas schien nicht zu stimmen. Morgens war der Zettel weg und niemand zu Hause. Mehrere Tage versuchten wir es, ohne Erfolg. Heute abend wirst du Matthias kennenlernen, murmelte Jill eines Morgens. Er wünscht es auch. Also soll es wohl sein. Du hast doch nichts vor heute, oder? Selbstverständlich hatte ich nichts vor. Der Stadtplaner reservierte in einem weißen Restaurant im Osten Berlins um acht für uns drei. Ich war schon früher da, ergab sich so, bestellte einen Bordeaux, setzte mich mit einer Zeitung an einen der kleinen Tische vor dem Lokal, fixierte über den Zeitungsrand die Straße und erkannte ihn schon von weitem. Ein hübscher Mann. Groß, lockig, schlaksiger Gang. Etwas unbeholfen öffnete er die Tür. Ich sah ihn den Kellner nach unserem Tisch fragen, vertiefte mich wieder in meine Zeitung. Aus der anderen Richtung kam Jill, eilig für ihre Verhältnisse, winkte mir kurz zu, blieb nicht stehen, verschwand im Lokal. Das ist was Ernstes, dachte ich, und eine blitzschnelle Schwäche rieselte mir durch die Glieder, wie wenn ein anderer den Zuschlag erhält für eine Theaterkritik, auf die ich mich schon lang gefreut hatte. Immer noch schwächlich, aber bemüht um einen federnden Gang, suchte ich die beiden im Lokal. Da kommt meine Schwester, sagte Jill seelenruhig, und das ist Matthias. Der Stadtplaner stand auf, lächelte mich
herzgewinnend an: So was Komisches, verzeihen Sie, ich habe ja schon von Jill gehört, daß ihr euch nicht sehr ähnlich seht, aber – ich darf doch Du sagen – daß ihr so vollkommen verschieden… Ja, unterbrach ich ihn, wir haben unsere Eltern schon oft gebeten, uns die Wahrheit zu sagen. Aber wir sind wohl tatsächlich richtige Schwestern. Ich bin nach unserem Vater geraten, Jill ist aber nicht nach unserer Mutter, sie ist was ganz Eigenes. Setz dich doch erst mal hin, bat Jill, damit wir bestellen können. Zappel doch nicht so rum. Der Stadtplaner setzte sich auch wieder, umarmte meine Schwester und küßte sie schnell: Ich finde dich auch was ganz Eigenes, Jill, da hat sie recht. Also, worauf habt ihr beide denn Lust? Verdammt, dachte ich, die mögen sich wirklich, jetzt wird alles anders.
Am folgenden Sonnabend warfen wir Gummistiefel, Cordhosen und einen Handspaten in den Kofferraum. Istanbul wäre mir lieber, knurrte Jill. Ob ich überhaupt wisse, daß die türkische Küche bei sich zu Hause eine der weitbesten sei. Wir übersahen fast den Eingang zu unserer Kindheit, die Ligusterhecke war oben zugewachsen. Mit beiden Armen teilten wir die Zweige. Das Gras im Vorgarten war so hoch, daß Josch ganz darin verschwand. An der Tür hing immer noch das glänzende Messingschild: Anwaltskanzlei. Mandanten, die hierher kommen, glaubten sicher, jemand habe ihren Plan geändert und sie als Prinzen einbestellt, damit sie ein Dornröschen aus dem Schlaf küßten. Jill klingelte. Keine Reaktion. Vom Garten aus lugten wir ins Wohnzimmer. Guck mal hier! Jill zog mich ans Fenster. Er lag auf einem Haufen vergilbter Zeitungen, eine Häkeldecke unter dem Kopf, blätterte in einem Katalog. Wir klopften ans Fenster. Er sah auf, erhob sich unschlüssig, wirkte überrascht, als er uns die
Tür öffnete. Schmaler als früher erschien er mir. Was macht ihr denn hier? Den Garten. Ach ja, Menschenskinder, hab ich ganz vergessen! Zeig uns erst mal das Haus, Pappi, wie’s heute aussieht, schlug Jill vor. Über den Sesseln im Wohnzimmer unten spannten sich helle Schonbezüge wie in Tschechow-Inszenierungen, wenn die Gutsleute zu Reisen nach Moskau aufbrechen. Und das? Jill wies auf die vergilbten Zeitungen. Mein Mittagsschlafplatz. – Mensch, Mensch, Mensch! Sie zog die Falten zwischen ihre Augenbrauen: Wenn da ein Funke reinspringt, brennt’s ja gleich lichterloh. Aber das Grundstück ist wohl mehr wert ohne das Haus. Er lachte los: Laßt uns mal in den Garten, Töchter. Im oberen Teil wünschte er ein halbrundes Plateau, das den Schwung der Freitreppe aufnehmen sollte. Diese barocke Form hatte er den italienischen Gärten des Seicento abgeguckt. Nachts schlich er zu den Nachbarn, um auszukundschaften, was man unbedingt vermeiden müsse: Artenvielfalt. Zwei Sorten Pflanzen seien genug, entschied er, grüner Efeu und weißer Jasmin. Wir brauchten zwei Tage, den verwilderten Garten umzupflügen. Josch begleitete uns, wenn wir mit den Schubkarren rangierten, furchte Steine durch die umgegrabene Erde. Mami brachte abends Kartoffelsuppe mit frischem Koriander: Schwer zu bekommen in Kiel, müßt ihr wissen. Unser Vater sah ebenso verwildert aus wie sein Garten. Seine Forschungen erforderten Zeit, die er irgendwo einsparen müsse, erklärte er uns. Wir sahen, daß er die Zeit sparte, seine Schuhe zum Schuster zu bringen, sich einen Pullover zuzulegen. Statt seine Haare schneiden zu lassen, hielt er sie mit einem Gummiband davon ab, vor die Augen zu fallen. Er dachte, jeder müsse sehen, wie gut die holsteinische Geschichtsforschung vorankäme. Morgen suchen wir dir im
Geschäft einen Pullover aus, beschloß Jill. Niemals! protestierte er: Ein neuer Pullover ist der krasseste Beweis, daß man altert. Man muß sich aber nicht verkommen lassen, Pappi, bloß weil man heute älter ist als gestern. Mit einer Nagelschere kam Jill aus der Küche zurück: Halt mal kurz still, Pappi, am Ohr brauchst du keine Haare. Er legte seinen Kopf schief: Eure Mutter war letzte Woche in Sarajewo. Wie ist sie da eigentlich hingekommen? Mit dem Flugzeug. Ich meine, wie sie dazu gekommen ist, da hinzufahren? Pontus hat eine Organisation gegründet, die Geld für vertriebene Bosnier sammelt. Aber frag sie doch selbst. Dann versteh ich kein Wort. Sie hat also ein neues Ehrenamt, ja? Halt still, Pappi, sonst schneide ich dir ins Ohr. – Sie ist genauso wie Luise. Arbeit muß karitativ sein und umsonst. Geld zu verdienen mit Arbeit gilt bei denen als unanständig. Wieso arbeitet sie eigentlich nicht wieder in ihrem Beruf als Buchhändlerin? Jill rollte mit den Augen: Es ist dreißig Jahre her, Pappi, außerdem ist ehrenamtlich zeitgemäß, bald gibt es sowieso keine Arbeit mehr in Europa. Gut, dann mache ich meine Kanzlei jetzt auch ehrenamtlich. Tust du doch sowieso. Oder verdienst du Geld damit? Die Kanzlei trägt sich selbst, meine Liebe. Klingt nach einem Ehrenamt. Hast du den Artikel über Mami in den »Kieler Nachrichten« gelesen? Sicher. Ich habe leichte Kritik an der Farbe ihres eleganten Pullovers, anthrazit und aubergine. Das Bild war schwarzweiß, Pappi. Aber sie trägt diese Farben. Ich hab sie neulich in einem Konzert gesehen. Kann sein. Spende doch mal was. Ich hab nichts über im Moment. Dann geht’s wohl nicht, Thema durch. Euch jetzt zum Essen einzuladen schaffe ich noch. Ich habe einen Tisch bestellt, halbe Stunde Fahrt. Jill lehnte dankend ab, sie habe noch eine Verabredung mit einem ehemaligen Schulfreund. Also fuhren er, Josch und ich.
Im Gasthaus erzählte er von seinem Malerfreund Gottfried, dem Ende der Zwanziger ein paar sehr interessante Bilder gelungen seien. Er habe etwas darüber verfaßt. Ob ich mir das mal anhöre. Das Manuskript lag schon auf dem Tisch. Er schob mir eine Abbildung hin: Auf einem Stuhl eine nackte männliche Figur, neben ihr auf einem Küchenschemel ein ausgeweidetes Huhn ohne Kopf. Jetzt hör mal zu, Tochter. Er las vor: »Die verhaltenen Andeutungen weiblicher, aber auch männlicher Formen geben dem küchenfertigen Produkt ein wenig Eros mit auf den Weg.« Stimmt doch, oder wie siehst du es? Es kommt mir darauf an, daß Gottfrieds androgyne Hühner einen Zustand konfliktfreier Geschlechtlichkeit symbolisieren! Begreift man das? Ich denke schon, Pappi. Auf der Rückfahrt stockte die Unterhaltung. Mir schien, das sei schon einmal so gewesen. Der Regen, schoß es mir in den Kopf, gleich haben wir beide nasse Füße. Ich zog meine Knie auf den Autositz. Vier Jahre nachdem wir ausgezogen waren, besuchte er uns für einen Tag auf Fanø. Jill blieb bei Mami in der Sønderhoer Kate, Johannisbeergelee einkochen. Wir liefen am Strand entlang, er und ich. Etwas lag in der Luft. Es fing an zu regnen. Nicht bloß ein wenig, es goß gleich in Strömen, als wolle das Wasser aus dem Himmel uns auf der Stelle erlösen von dem, das uns bedrückte. Wir flüchteten in einen Strandkorb, beschlossen zu warten, bis der Regen weiterziehen würde, hin zu anderen Menschen, die andere Geschichten mit sich herumtrugen. Aber der Regen meinte damals uns, riet uns, die Knie hochzuziehen, damit unsere Füße nicht naß würden. Wir sahen uns nicht an, beide versuchten wir, den dunkelgrauen Horizont über dem Meer durch die Milliarden von Tropfen hindurch nicht aus den Augen zu verlieren. Was machen wir denn jetzt? fragte ich. Keine Antwort. Und dann redete er. Gegen den prasselnden Regen an: Ich mußte damals meine Kanzlei aufbauen, der Anfang war nicht leicht. Natürlich war
sie zu jung. Aber das war nicht der einzige Grund. Sie wollte diesen bürgerlichen Alltag nicht, den ich anstrebte. Sie war zu Hause in Sehnsucht. Was ich tat, damit wir eine Familie sein könnten, machte sie nicht glücklich. Die Tropfen trommelten laut auf den Strandkorb, ich verstand nicht alles. Aber ich bemerkte das Gequälte in seiner Stimme. Nichts ist zur Ruhe gekommen, dachte ich. Nichts wird jemals zur Ruhe kommen für ihn. So geht das. Einmal, während eines Abendessens, brüllte er durch das Prasseln des Regens, strich sie mit ihren Fingern über meinen Handrücken. Dabei sagte sie: Wir haben doch ein schönes Leben, wir zwei! Es war die Art der Berührung, sie widersprach dem, was sie gerade gesagt hatte. Etwas fiel mir zu fragen ein: Weißt du, was sie damals manchmal geträumt hat? Daß du ihr deine Hand hinstreckst und sie gleich wieder wegziehst. So geht das. Er fuhr so langsam, daß ich fast losgelacht hätte. Ich unterdrückte es, sah ihn von der Seite an: Woran denkst du, Pappi? – So was fragt man einen alten Mann nicht. – Verzeihung. Aber fang nicht wieder von Mami an. Wir haben schon alles besprochen, ein bißchen mehr Gas geben könntest du übrigens. Erleichtert beobachtete ich, wie der Tachozeiger sich von fünfzig auf sechzig zubewegte. – Warum ist Sonja so schnell wieder ausgezogen damals? – Es war gar nicht geplant, daß sie einzieht. Nicht von mir. Sie wollte es. Sie hatte nicht einmal ein Bett im Haus. Es ging nicht lang gut.
Am nächsten Morgen erwartete Elsa Jill und mich. Sie saß unter der Pergola, küßte uns, drückte dabei die Zähne schief aufeinander: Meine Süßen! Ich erschrak: Der rechte Arm ruhte auf ihrem Schoß wie ein frisch erlegtes Tier. Ihr vorher dunkelblondes Haar lag weiß und vom Mittelscheitel herabgekämmt neben ihrem verzogenen Gesicht. Kein
marineblaues Kleid mit gewagtem weißen Kragen, sondern eine formlose hellgraue Strickjacke. Ihre Zuversicht war der Skepsis gewichen. Es gab noch so viel zu tun, weshalb ließ ihr Körper sie jetzt schon im Stich. Sie wußte, was kommen würde, und sie war nicht einverstanden: Euer Vater macht mir Sorge, seufzte sie bekümmert, wie er das Haus verkommen läßt, schrecklich. Ich könnte sie schütteln, die beiden. Ihn noch mehr als eure Mutter. Die mag ich sehr gern. Wartet, ich bringe euch Kaffee. Vorsichtig erhob sie sich: Portionseis hab ich für euch und ein Foto. Egal, ob sie gerade ihr Lieblingsgewicht hatte oder ein wenig darüber war, immer war sie schnellfüßig gegangen, mit etwas auseinandergestellten Füßen. Jetzt schlich sie. Mit Eis und Apfelkuchen kam sie zurück. Ihre zwei Freundinnen, beide mit frisch blondiertem Haar, standen in der Gartentür, riefen, sie wollten später wiederkommen, als sie uns Enkelinnen sahen. Elsa schaute den beiden nach, wie sie sich mit geraden, den Zweitakt haltenden Schritten entfernten. Es waren die Freundinnen, die sich immer wieder über Pappis Vorgarten, die aufgeschossene Ligusterhecke beschwerten. Elsa gehörte nicht mehr zu ihnen, zu ihren Unternehmungen. Sie gehörte jetzt dem Ungeordneten. Meine Schwester legte ihr eine Decke auf die Knie. Ich glaubte, sie wolle von mir eine Liebesgeschichte hören wie früher, erzählte ihr von Jan, gab dem Bericht einen Anschein von Atemlosigkeit, von Drama und der Notwendigkeit vieler Telefonate zwischen uns beiden. Es gelang mir nicht, sie zu überzeugen. Sie überhörte mein hektisches Gerede, achtete mehr auf die Temperatur des Kaffees, auf das Verhältnis von Teig und Obst in der Apfeltorte, die nicht mehr selbst gebacken war. Mit langsamen Bewegungen öffnete sie das Couvert, zog zwei Farbfotos heraus: Seht mal! Auf den Bildern sprangen
ihre kreisrunden Bäckchen hervor über einem sehr lächelnden Lächeln und einem sehr gewagten weißen Kragen. Mit Standbein, Spielbein hält sie das Gleichgewicht bei eingezogenem Atem. Wahrscheinlich war sie gerade wieder von der Schönheitsfarm zurückgekommen, als sie sich aufnehmen ließ, und niemand sollte sagen, man sehe keinen Effekt: Das ist für euch, so sollt ihr mich erinnern. Jill küßte sie: Du riechst so gut, Elsa. Was ist das für ein Parfüm? Immer das gleiche, Süße. Jill packte ihr Geschenk aus, einen großen dunkelgrünen Schal mit eingewebten roten Tupfern, drapierte ihn um Elsas dünner gewordenen Hals. Es erinnerte mich daran, wie sie als Siebenjährige Elsa die Strumpfhalter ordentlich an die Strümpfe geknöpft hatte: Süße, kommst du mal? Das war das Signal. Wenn Jill es hörte, schlüpfte sie schnell unter Elsas Rock. Elsas linke Gesichtshälfte lächelte, während sie die Qualität des Schals befühlte. – Fahrt vorsichtig, ihr Süßen. Wie geht’s dem Geschäft? fragte meine Schwester noch schnell. Mal so mal so, Jill. Ferdy sagte immer: Kaufmannsgut ist Ebbe und Flut. Vergeßt nicht, mich gleich anzurufen, wenn ihr angekommen seid.
Mami fuhr mit nach Berlin, sie hatte eine Premierenkarte für die Uraufführung einer modernen Oper in zwei Tagen. Josch strampelte sich nach vorne auf ihren Schoß, sie streichelte seinen Kopf. Jill bestellte noch im Auto über ihr Handy ihre beiden Zuständigen ein, den Drehbuchschreiber und den Restaurantkritiker. Das freue sie, sagte meine Mutter, daß sie die beiden heute noch kennenlernen werde. Es sollte Huhn mit Reis geben. Der Reis und die Geschichten sprudelten in der Küche. Jill beobachtete, wie sehr Mami die Sprudelei genoß, schlurfte in ihren geflickten Hausschuhen zum Küchenschrank. Besteck
schepperte. Mami räusperte sich: Ich habe plötzlich etwas Kopfweh, klagte sie sanft, könnte ich ein Aspirin bekommen? Sicherlich. Eine Tablettenschachtel landete mitten auf dem Tisch. Der Drehbuchschreiber verzog sich in Jills Schlafzimmer, den Videorecorder neu zu programmieren, das Gerät war vergeßlich geworden. Jill legte Huhn auf die Teller: türkisch. Sehr gut gewürzt, lobte Mami. Der Restaurantkritiker hob amüsiert seine Augenbrauen: Bißchen viel Thymian, finden Sie nicht? Überhaupt aufschlußreich, wie hier so gekocht wird, verehrte Frau. Diese Hellblonde, ihre jüngere Tochter, kocht generell gern Weißes, am liebsten Hühner, Kaninchen mit Nudeln oder Reis, als Dessert gibt es oft Griesflammerie oder Bayrische Creme. Ihre Erstgeborene dagegen bevorzugt tiefrotes Fleisch zum Kurzbraten, Lammkoteletts, Kalbsleber, vier Minuten von jeder Seite, keine Nachspeise, bloß Espresso, sehr stark. Beide verstehen wenig von Suppen, das fällt auf. Frauen, schloß er, haben generell ein gespanntes Verhältnis zu Suppen. Also mein Verhältnis zu Suppen ist entspannter als das zu meinen Töchtern, klagte Mami ein bißchen kokett. Der Restaurantkritiker versprach, sie in seinem nächsten Artikel namentlich zu erwähnen. Espresso? unterbrach Jill. Mami sah sie verblüfft an: Habt ihr keinen grünen Tee? Ihr müßt grünen Tee trinken! Er ist gesund, und man nimmt mühelos ab dabei, Jilly. Der Restaurantkritiker krähte mit hoher Stimme: Nee, doch nich immer uff det Schlimme, Madame. Det darf man doch nich. Mami lächelte meine Schwester an: Dein Telefon klingelt, Schätzchen. Jill stürzte in ihr Zimmer. Aber diesmal war es nicht Matthias, sondern Jan. Er habe in Hamburg zu tun, werde abends in Berlin sein. Borschtsch, zum Beispiel, setzte der Restaurantkritiker fort, eine polnische Nationalsuppe, ganz leicht zu bereiten, müßte sie doch
inzwischen können, Ihre Tochter, habe ich aber noch nie hier bekommen. Freust du dich? fragte Mami. Ich holte ihn ab, er sah müde aus. Wir fuhren gleich zur Wohnung. Einer seiner Ställe sei abgebrannt. Ein Mitarbeiter habe eine Zigarettenkippe ins Stroh geworfen, verfluchte Raucherei. Wir haben unsere Mutter zu Besuch, Jan. Schön, Liebling. Freu dich, daß du noch eine hast. In unserer Küche packte er seine Mitbringsel aus, Krakauer aus Rzeszów und mehrere Brote aus der Bäckerei von Zalesie. Jill machte im vollen Kühlschrank Platz: Lieber Jan, glaubst du, es gibt hier in diesem Land, in Deutschland, dem Land der Schlachter, keine Würste? Er lächelte erschöpft: Entschuldigung. Erzählen Sie mir von sich, Jan, bat meine Mutter, ich weiß so wenig von Ihrem Leben. Was möchten Sie hören, Liebe? Jill schob ihm eine gebutterte Scheibe Brot hin: Probier die mal, Jan, die ist auch nicht schlecht. Ihm schmeckte das deutsche Brot nicht. Das polnische sei wenigstens noch Brot. Ich warf einen Fertigsatz meines Vaters über den Tisch: Vieles ist nur anders, nicht besser oder schlechter. Hör doch auf mit diesem Unsinn, bat Mami. Quatsch von meinem Vater, erklärte ich Jan. Verstehst du? Nein, antwortete er nervös, ich verstehe nur einfache Dinge in eurer Sprache. Taugt nichts, euer Brot, schmeckt nach Fabrik, Entschuldigung. Mami schlug vor, ein polnisches Abendbrot aus den Mitbringseln zu bereiten. Ich kann nicht mehr, ihr Lieben, sagte Jan, ich bin todmüde, Entschuldigung, ich muß jetzt erst mal schlafen. Er verschwand in meinem Zimmer. Als ich ihm folgte, spürte ich den Blick meiner Mutter und meiner Schwester im Rücken, wußte, daß sie gleich über uns sprechen würden, über uns als Paar. Sein Entschuldigung reizte mich. Es riß jedesmal eine Kluft auf zwischen uns, zwischen Ost- und Westeuropa, wie zwischen Knecht und Herrin. Er spielte Knecht, ich sollte Herrin sein. Dieses Entschuldigung hieß: Ich
weiß es im Grunde besser, aber ihr seid mächtiger, die Geschichte hat entschieden, daß ich euer Diener sein soll. Das Wort Entschuldigung nahm uns die Ebenbürtigkeit, vernichtete den Streit, der uns zugestanden hätte. Hör auf mit deinem Entschuldigung, bat ich, das ist nicht nötig. Entschuldigung, antwortete er lächelnd, ich bin ein sturer Pole. Weshalb schaffen wir es hier nicht? fragte ich mich. Ich wollte allein schlafen. Verschwindest du, Liebling? flüsterte er. Ich kann nicht einschlafen, Jan, ich gehe etwas lesen. Die Küche war blitzsauber. Sicher hatte Mami abgewaschen, während Jill ihr einstündiges Telefonat mit Matthias führte. Berlin war nicht unserer Liebe Ort. Die Rose, die er mir immer am Bahnhof überreichte, kam mir hier fehl am Platz vor. Hier roch sein Pullover nach der osteuropäischen Synthetik, nicht nach wogenden Feldern und Wildnis. Das vernebelte Blau seines Anoraks machte mir Sorgen. Weshalb verzog sich unser Wildnisgefühl hier in Berlin? Der Alltag konnte es nicht vertreiben, wir hatten ja nie einen miteinander. War das etwa doch keine Garantie? In Polen würden wir unsere Sprache wiederfinden. Wir sollten bald aufbrechen dorthin. Nachmittags fuhr er weiter nach Hamburg, seinen Reiseunternehmer zu treffen. Mami bereitete ein schnelles Abendbrot vor ihrem Opernbesuch, berichtete von enormen gesundheitlichen Erfolgen, die sie allein grünem Tee und einer Getreidediät verdanke, nach einer Weile setzte sie sich zu mir: Ich glaube, es ist immer schwierig, wenn man verschiedene Sprachen spricht. Ihr könnt euch doch im Grunde gar nicht richtig unterhalten. Das ist es nicht, Mo. Wenn man dieselbe Sprache spricht, ist es noch schwieriger, verstehst du? Gerade daß wir uns nicht über gesprochene Worte verständigen, macht uns freier. Die Sprache ist das größte Handicap der Liebe. Ich weiß nicht. Mir geht es anders. Bei mir ist das Gespräch sehr
wichtig in der Liebe. Es gibt einfach viele Wörter, Mami, die mir vom Klang her nicht gefallen. Besser ist doch, man versteht sich über Pläne. Unternehmungen können nicht so mißverständlich sein wie Worte, auf die man gereizt reagiert. Wie jetzt zum Beispiel, beschwerte sie sich vorsichtig, jetzt klingst du schon wieder gereizt, obwohl es dafür im Moment überhaupt keinen Grund gibt. Ich wollte nur wissen, ob es dir gutgeht. Sehr gut sogar. Jan und ich fahren in die Mongolei. Das ist doch wunderbar, Schätzlein. Bringst du mich gleich zum Opernhaus? Wann geht die Reise denn los? Erst mal fahr ich nach Polen, Mami.
Der Wasserspiegel im Brunnen war tief abgesunken, ich mußte Wasser von Jolante holen, eine mühsame Schlepperei. Josch war glücklich, streunte den Tag lang mit Jolantes Hunden durch den Wald. Am Tisch unter der Linde wartete ich auf Jan, bis ich nicht einmal mehr mit der Taschenlampe noch lesen konnte, ging dann schlafen. Das Motorengeräusch seines Bambino weckte mich gegen zwei Uhr nachts. Viel zu tun, flüsterte er, Entschuldigung. Er baute auf seinem Hof ein neues Gästehaus, hoffte auf weitere Reisegruppen. In diesem Jahr hatten sich weniger Reiturlauber angesagt als im letzten. Damals hatte der Hamburger Reiseunternehmer seine Urwaldritte unterstützt. In diesem Sommer ließ er Jan fallen, förderte einen Pferdezüchter, der Ritte in Masuren anbot. Die Deutschen, erklärte er Jan, wollen lieber nach Ostpreußen. Dort finden sie ihre Vergangenheit. Der polnische Süden ist ihnen nicht vertraut, er gehörte ja den Österreichern. Jan redete im Schlaf. Ich verstand nur wenig, spürte aber, daß er besorgt war. Wenn er anfing, laut zu träumen, weckte ich ihn. Er erzählte mir dann von den früheren Reisen, die er unternommen hatte, als es in Polen kein Geld und keine Arbeit
mehr gab für Architekten, sprach zuletzt von Paris und Rom. Und wieder von der Mongolei, die er unbedingt noch einmal sehen müsse: Ich weiß bloß nicht, ob meine Kraft noch ausreicht, Liebling. Als ich aufwachte, war er fort. Am nächsten Tag kam er gar nicht. Ein Fohlen hatte sich stranguliert, er mußte die um sich schlagende Mutterstute beruhigen. Auch am folgenden Tag blieb er fort. Ein Hund war überfahren worden, Jan saß bei ihm, während Leszek die umliegenden Dörfer nach dem Tierarzt absuchte. Jolante zog mich schweigend am Ärmel zu Tadeusz ans Feuer: Pech, klagte sie, Jan hat viel Pech. Das war das einzige deutsche Wort, das sie kannte. Eines Abends hörte ich einen Bambino den Feldweg herunterholpern. Jan könne auch die nächsten beiden Tage nicht kommen, rief Leszek, der Hamburger Dachdecker sei wieder da. Er wolle fünfhundert Pullover in der Rzeszówer Fabrik kaufen, um sie auf dem Wochenmarkt in Berlin abzusetzen. Der Hamburger verspreche sich davon einen Gewinn von über fünftausend Mark, erzählte Jan später. Er solle ihm mit seinem Lastwagen helfen, die Pullover über die Grenze zu schmuggeln. Das ist doch gefährlich! Ich schaffe das. Ich muß es schaffen, ich habe kein Geld mehr, gar keins, Liebling, komm jetzt, wir müssen dich zum Zug bringen. Er fuhr nicht die gewohnte Strecke, wollte noch schnell eine Pumpe für meinen Brunnen kaufen. In einem schmutzigen Stadtteil, den ich noch nicht kannte, parkte er den Bambino: Nimm deinen kleinen Schatz an die Leine, bat er. Wortkarg marschierte er neben mir. Vor uns lag ein Marktplatz, am Rand standen etwa zwanzig Busse, bis zum Dach mit Schlamm bespritzt. Der Platz quoll über vor Menschen. Ukrainer, erklärte Jan, aus Lemberg oder aus Kiew, sie sind die ganze Nacht gefahren. Wir liefen durch die Reihen der Händler. Manche spielten Karten, andere tranken Tee aus
Thermoskannen zwischen Bohrmaschinen, Kohlrabiköpfen, alten Schuhen, Billiggläsern. Ich dachte bloß: Das kann nicht sein, daß sie die Nacht in einem Bus verbringen, um dieses Zeug hier zu verkaufen. Jan zog mich weiter: Sie sind viel ärmer als wir Polen. Wir haben schon wenig Chancen, aber diese Leute noch viel weniger, fast keine. Jedes Land hat seinen Osten, siehst du? Er bückte sich, hob eine elektrische Wasserpumpe auf, drehte sie mehrmals um. Der Händler nannte seinen Preis, Jan legte die Pumpe auf ihren Platz zurück, ging weiter, der Händler redete auf ihn ein. Jan winkte ab, ohne sich umzudrehen. Der Russe lief mit der Pumpe hinter Jan her, rief eine geringere Summe. Jan drückte ihm einen Stapel Zlotys in die Hand: Freu dich, Kleine, ein Schnäppchen. Aber ich hätte gern den echten Preis bezahlt, Jan. Guter Mensch. Du denkst westlich, so kommst du hier nicht weiter. Keine Sorge, dieser Russe ist jetzt genauso glücklich wie ein Pole, der in deinem Berlin etwas Kaviar loswird. Er strich mir über die Wange: Vielleicht finden wir noch etwas für deine Schwester. Mit zehn Holzlöffeln stieg ich in den Zug nach Berlin.
Folklore, jubelte Jill, jetzt muß ich bloß noch einen Platz dafür finden. Komm! Heute machen wir es uns gemütlich, nur wir beide. Ich koche uns etwas, du legst dich aufs Sofa. Ich erzählte ihr von dem Markt in Rzeszów. Worauf willst du hinaus? Deine Meinung möchte ich hören. Jill hat ein gutes Verhältnis zu Meinungen. Sie bildet sich in kurzer Zeit über alles mögliche eine Meinung. Ihr entgeht kein Irrtum des Papstes, keine Ungeschicklichkeit eines Regierungssprechers, kein Flüchtigkeitsfehler einer Cutterin. Mitten in einem Film ruft sie: Falscher Anschluß! Eben hatte er noch einen Pullover an, jetzt ist es ein Sakko!
Meine Meinung wozu? Zur Frage, ob das Glück absolut ist oder relativ. Erleben alle Menschen, die reichen im Westen und die armen im Osten, die gleiche Portion Glück? Sie überlegte kurz: Ja. Das Glück schlägt sicher gleich hoch aus, egal ob man als Konzernchef eine gute Bilanz vorweist oder ob man seine fünf Kohlrabiköpfe losgeworden ist oder seine Holzlöffel. Es gibt für dich also keinen Fortschritt, was das Befinden der Menschen angeht? Was ist mit den Frauen? Daß wir jetzt hier sitzen und uns unterhalten können, daß wir uns nicht in einer Fabrik die Finger wundweben müssen, das ist doch für uns angenehm, also ein Fortschritt. – Schon, aber was hat das mit Glück zu tun? Meine kleine Schwester besteht auf ihrer These, es gelingt mir nicht mehr, sie zu überzeugen, dachte ich. Ich versuchte es aggressiver: Du leugnest also tatsächlich den Fortschritt? – Du brauchst nicht zu brüllen, ich bin ganz in der Nähe. Ja, in der Frage des Glücks leugne ich den Fortschritt. Mich zum Beispiel kann man nicht glücklich nennen. Ich liebe einen verheirateten Mann, der seine Frau nicht verlassen kann, selbst wenn er es wollte, wegen der Kinder. Zugegeben, manchmal bin ich auch glücklich. – Weil du nicht einen ungeliebten Mann heiraten mußt wie die Frauen vor hundert Jahren. – Was ist daran so schlecht? Effi Briest sitzt auf einer Schaukel, ich verbringe meine Tage in einer Buchhandlung, zweimal in der Woche besucht mich der Mann, mit dem ich gern zusammenleben würde, für ungefähr eine Stunde. Jetzt erkannte ich einen Weg, wieder Oberwasser zu bekommen: Wenn ihr zusammenlebtet, wäre es mit der Liebe bald vorbei. Du bist die Unabhängigkeit gewohnt. Sie zuckte mit den Achseln: Wenn es so bleibt wie jetzt, wird es auch nicht lang dauern. Wenn Situationen stagnieren, verschwindet das Glück. Das ist eine Regel, der wir nun mal unterliegen. Man braucht ein Ziel. Glaubst du denn, daß das Glück auf der
Welt zugenommen hat? Sag du doch mal was! Aber bitte was Schlaues. Während ich nach einer Antwort suchte, klingelte das Telefon. Jill stellte es laut, damit ich mithören könne. Der Restaurantkritiker wollte wissen, was wir so machen, an diesem milden Oktoberabend. Er jedenfalls wisse nicht so genau, was er machen solle, der Drehbuchschreiber sei seit Tagen mit dem Expose zu einer Seifenoper beschäftigt, die den idiotischen Titel habe: Gestern noch Schwestern. Komm doch einfach her, sagte Jill. Sie setzte Kaffee auf, schäumte Milch, ich legte mich auf das Sofa und ließ die polnischen Pferde durch den Halbschlaf galoppieren. Ohne Touristen auf ihren Rücken. Frei – und hungrig. Es läutete. Der Restaurantkritiker steuerte auf seinen Platz am Küchentisch zu: Wie geht’s unserem Jan? Jill antwortete für mich: Er baut Häuser, vergrößert seine Ställe, züchtet Hunde und Pferde, aber es gelingt ihm nicht, was er hat, instandzuhalten. Die Hunde werden überfahren, die Pferde strangulieren sich, die Ställe brennen nieder. Er schafft etwas, dann fackelt er es ab und schafft etwas Neues, das geht später auch kaputt. So ist nun einmal der Osten, unterbrach ich sie. So ist die Menschheit, antwortete unser Besucher, erfindet, aber hält die Erde nicht instand, sondern brennt sie nieder. Menschen haben die Baukunst entwickelt, Menschen werden sämtliche Gebäude auf dieser Welt in die Luft sprengen. Bald ist Schluß! Dann wird die Natur was Neues erfinden, für ein paar Millionen Jahre. So geht das. Er warf mir eine Zigarette zu: Mußt nicht traurig sein, lohnt sich nicht. Jill setzte sich: Ob Stadtplaner darunter sind? Unser Besucher blies Rauchringe in die Luft: Mir egal, ich bin jedenfalls nicht mehr dabei. Das Telefon klingelte wieder. Ich nahm ab. Pappi: Was machst du eigentlich dieses Weihnachten? Polen. Und du? Rom. – Und Jill? Feiert mit Mami in deren Wohnung. Philip
will niemanden bei sich sehen. Er ist aus der Familie emigriert. Spätfolge des Margarinetraumas. – O Gott. Dann klickte es in der Leitung. Mein Vater pflegt Telefongespräche ohne abschließende Formeln zu beenden. Ich rief gleich Jan an. Er schien über meinen Plan nicht so sehr beglückt. Heiligabend verbringe er immer mit seinen Leuten bei seiner Frau. Mit klingelnden Pferdeschlitten führen sie von seinem Hof zu ihrem Haus. Er könne mich an diesem Tag nicht mitnehmen, sosehr er es auch wünsche: Wir sind polnische Katholiken, Liebling. Macht mir nichts, erwiderte ich, Heiligabend möchte ich sowieso bloß lesen, wir sehen uns dann am nächsten Tag. Einen Abend vor Weihnachten reiste ich, ohne Josch, den Jill mit nach Kiel nehmen wollte, um seine verfeinerte Ballkunst vorzuführen. An Schlafwagen war nicht zu denken, nicht mal an einen Sitzplatz. Es schien, als hätten sämtliche in Berlin arbeitenden Polen denselben Zug gewählt. Die Kanten meiner Büchertaschen stachen mir auf dem Gang in die Rippen. Fröstelnd trug ich im Haus Holzscheite zum Ofen, stapelte meine Bücher neben dem Lesesessel. Am frühen Heiligen Abend rief ich zu Hause an. Bist du ganz allein heute? fragte Mami besorgt. Zum Glück, Mo, ich habe zu tun. Grüße an alle. Und gebt Josch bitte keine Geflügelknochen. Liebchen, ich verstehe was von Hunden, das weißt du doch. Ihr liebt euch wohl sehr, ihr beiden? Ich ihn schon. Frag ihn mal! Jilly möchte dich noch sprechen. Hallo, meine Süße, dein Josch schläft auf meinem Kopfkissen! Du bekommst ein Stück aus der goldenen Kette, die Mami von Hoppla geerbt hat, war mal ziemlich lang, jetzt haben wir alle was davon. Deins ist drei Zentimeter länger als meins, ich tausch sie aber nachher heimlich aus. Später war mit Lesen nicht viel. Heiligabend blieb Sieger. Mit Hilfe des vom Fest übriggebliebenen Rotweins schrieb ich
zehn Briefe an ehemalige Freunde, von denen sich nachher bloß einer des Abschickens wert erwies. Am nächsten Morgen brachte mir Jan kalten Gänsebraten. Hast du alles, was du brauchst, Kleine? Als er wieder fort war, beschloß ich abzureisen. Beim nächsten Mal würde ich üben, hier allein und glücklich zu sein. Die Warschauer Tracht nahm ich mit. Auf der Silvesterparty bei dem Drehbuchschreiber führte ich sie vor. Ein kleiner Feuerwerkskörper verfing sich im Rock, brannte ein kreisrundes Loch hinein. Der Restaurantkritiker, der den Knaller abgeschossen hatte, war untröstlich. Daß es ausgerechnet dieses einmalige Gewand habe treffen müssen. Nee, sowat passiert bloß mir, knödelte er, keen annern Mensch. Der Drehbuchschreiber fand, das passe nicht schlecht in sein Expose, hielt den Vorgang in seinem Notizbuch fest. Josch sauste entsetzt über die Ballerei ins Freie. Ich suchte ihn überall. Matthias und Jill fanden ihn schließlich, er kauerte in einem Gebüsch. Vor Frau Magunnas Tür hing wieder ein Zettel: »Man kann sich nicht beurlauben von den Kümmernissen des Sein«. Die Obotritin durchlebt eine Phase äußerster Klarheit, sagte Jill auf der Treppe. In der Küche gerieten wir in ein unverhofft ernstes Gespräch über Lebenspläne. Sie wolle sich demnächst als Buchhändlerin selbständig machen, erklärte sie mit Nachdruck, zwei Jahre arbeiten, dann ein Kind. Will ich auch, japste ich. Dich kann ich mir als Mutter nicht vorstellen, meine Beste. Dann eben nicht, stotterte ich, von plötzlichem Schluckauf gequält. Mir fielen die jungen Mütter ein, die ich beim Spazierengehen mit Josch im Grunewald beobachtete. Todunglücklich! entfuhr es mir. So todunglücklich wie Mami mit mir! Wer denn jetzt? fragte Jill. Mütter und Kinder. Das Kind wird doch nicht gefragt, ob es auf die Welt kommen will.
– Hättest du denn Nein gesagt? Nein. Mal sehen hätte ich gesagt. Auch Jan sprach oft von einem Kind: Warte, bis wir ein Söhnchen haben. Und wenn es ein Töchterchen wird, Jan? Dann schicke ich dir Jasinska. Ein Söhnchen nehme ich mit nach Polen, du kommst es dann besuchen. Am Neujahrsmittag, als ich mit Josch die Treppe hinunterlief, traf ich Frau Magunna. Schelmisch versperrte sie mir den Weg: Mein Mann kommt heute mit den Jungs, schönes neues Jahr, auch für Sie beide. Am Nachmittag horchte ich an ihrer Tür, es war totenstill. Am Abend kein Geräusch, auch in den nächsten Tagen nichts. Mami erzählte es Jill. Wir sollten mal anrufen bei den Eltern. Das würde sie freuen. Christoph, der damals auf Fanø mit uns seine Ferien verbrachte, hatte sich das Leben genommen. Als ich mit Josch um den Grunewaldsee lief, fiel mir auf, daß die Bäume schon blühten. Irgendwo hatte ich gelesen, daß die meisten Selbstmörder sich im Frühjahr umbringen, nicht im Herbst. Das Ende des Sommers bedroht sie nicht so, dem Aufbruch im Frühling halten sie nicht stand. Aber vielleicht spielte das bei ihm keine Rolle, wer kann das wissen? »Selbstmord ist der höchste Punkt des Eigenwollens«, sagt der Held in Dostojewskis »Dämonen«, Christophs Lieblingsbuch. Seine Entscheidung wunderte mich nicht. Totsein hatte ihn schon als Vierzehnjährigen brennend interessiert. Friedhöfe waren immer das Ziel seiner Nachtwanderungen. Mir fiel wieder ein, wie er einmal, als wir Lakritze einkauften im Sønderhoer Supermarkt, einem deutschen Paar, das darauf beharrte, es hätte vor uns in der Schlange gestanden, zuflüsterte: Wartet nur, ihr beiden liegt auch bald in der Kiste! Er selbst hatte es also nicht mehr abwarten können. Ende Februar hielt er den Zeitpunkt für gekommen, schluckte eine Handvoll Schlaftabletten. Sein Sterben interessierte ihn, er
machte sich Notizen. Im Grunde habe er alles begriffen, nur Sterben nicht. Jetzt wolle er es kennenlernen. Seine Entscheidung habe nichts mit seinem Lebensgefühl zu tun, sie sei Konsequenz seiner Gedanken. Einer seiner letzten Sätze lautet: Ich werde blind. Von da an schrieb er die Worte übereinander. Ich brachte nicht den Mut auf, zu den Eltern zu fahren. Jill fuhr allein. An einem Sonntag, Mitte März, wachte Elsa nicht mehr auf. Nach der Beerdigung versammelten wir uns in ihrem Garten, unter der Pergola. Meine Mutter kümmerte sich um Tante Friede, Onkel Jochen sprach mit den Geschäftskunden. Pappi verschwand im Haus, Jill und ich fanden ihn in der Küche. Er stand vor einer gerahmten Stickerei: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß«. Sicher hat Friede das gestickt, murmelte er, und Elsa hat es es über den Brotkorb gehängt. Sie nahm ja alles wörtlich. Komm raus, draußen warten sie, sagte Jill. Er drehte sich weg: In fünf Minuten, mal sehen, ob noch Portionseis für euch im Kühlschrank ist.
Kurz vor Ostern bat Matthias Jill um Verständnis: Über die Feiertage müsse er mit seiner Familie verreisen, das sei lang geplant, aus dieser Verabredung könne er nicht heraus. Jill nahm es zur Kenntnis. Ganz gewiß werde sie an diesen Tagen nicht zu Hause hocken, herrschte sie mich an, davon könne ich mal ausgehen. Offenbar war ich an der Familienverpflichtung des Stadtplaners mitschuldig. – Wir beide verreisen! Istanbul möchte ich endlich mal kennenlernen. Du solltest auch mal etwas anderes sehen als dein niedliches polnisches Dorf. Ein Bus mit einem ins Mikrofon brabbelnden Gutelaunemacher vorn brachte uns zu einem Hotelkasten direkt an einer Hauptstraße. Während der ersten beiden Tage lief ich im Nieselregen um meine blonde Schwester herum,
versuchte die jungen Türken zu verscheuchen, die ebenfalls um sie herumliefen. Sie hatte eine lange Besichtigungsliste zusammengestellt, es kam zu gereizten Wortwechseln: Mir ist deine Gier auf Leben unbegreiflich, schimpfte ich. Mir deine Schläfrigkeit, schlug sie zurück, außerdem schnarchst du schon wie Pappi. Drei Tage regnete es in Strömen, wir vertrieben uns die Nachmittage im Basar. Hatten wir uns verlaufen, brachte ein Spähtrupp junger Türken uns an eine bestimmte Kreuzung zurück. Von dort war es nicht weit zu ihrem Auftraggeber, einem fülligen Teppichhändler, der wie ein Hengst Alexanders des Großen zu schnauben begann, sobald er uns sah. Seine schimmernden Haarwellen streichelnd, verwickelte er uns in Teppichkaufüberlegungen. Unsere Nerven hielten seiner Erwartung nur zwei Tage stand. Am dritten Tag marschierten wir, begleitet von seiner Truppe, in die Teppichhütte, begannen zu handeln. Der Füllige schaute ernsthaft besorgt. Er könne uns gut leiden, wir seien kluge junge Frauen. Anders als die meisten deutschen Touristinnen. Denen könne man ohne Anstrengung einen erst gestern maschinell gewebten Kelim als handgeknüpftes Stück aus dem achtzehnten Jahrhundert verkaufen. Er schüttelte traurig den Kopf. Wieviel wir denn auszugeben gedächten. Mit aller Dreistigkeit, die uns in dieser morgenländischen Fremde zu Gebote stand, schlugen wir zwei Drittel des Preises vor. Der Händler lächelte mild. Jill wurde es jetzt zu bunt: Dann kommen wir eben morgen wieder. Für einen Tee habt ihr ja wohl noch Zeit! entschied der Füllige. Wir einigten uns auf den Dreiviertelpreis. Nun, nachdem diese leidige Sache endlich überstanden sei, schloß er mit müdem Augenaufschlag, würde er uns gern zum Essen einladen. Schelmisch piekste er mit dem Zeigefinger meiner Schwester in die Taille: Ihr habt es mir nicht leichtgemacht, meine
Damen. Kommt am frühen Abend wieder, meine Leute bringen euch zu mir. Abends hielten wir Ausschau nach den Männern. Wir fanden sie nicht. Auf dem Rückflug setzte sich ein älterer Herr zu uns, stellte sich als Onkel Ürsün vor und orderte bei der Stewardeß Champagner für seine vier Neffen. Ein Gemüsegroßhändler. Seid froh, daß ihr mich kennengelernt habt, jubelte er, das heißt: Gemüse satt! Was macht ihr denn so? Sie lebt mit ihrem Hund, antwortete Jill gelangweilt. Onkel Ürsün tat, als habe er noch nie etwas so Absurdes gehört, klatschte sich so heftig auf die Schenkel, daß seine goldene Armbanduhr aufsprang: Mal ehrlich, was macht ihr? Jill, die wie Pappi bei keiner noch so kleinen Lüge erwischt werden möchte, dachte, ihre Antwort sei dem Onkel nicht ausführlich genug gewesen: Sie lebt mit einem Hund, wiederholte sie, ich habe einen Freund, der ist aber verheiratet. Noch zwei Gläser für die Damen, rief Onkel Ürsün. Die fünf Männer wurden von einem Chauffeur abgeholt, der Onkel bot an, uns in Berlin nach Hause zu bringen. Während der Fahrt in dem schwarzmetallicfarbenen Mercedes hatten alle fünf Probleme mit ihren Handys, deren Seele offenbar noch nicht angekommen war in Berlin. Aufgeregt reichten sie die Geräte reihum weiter, als seien die Chancen auf Heilung größer, wenn jeder ein fremdes Handy behandelte. Vor unserem Haus wollte Onkel Ürsün von Jill wissen, ob er denn bei ihr Chancen habe. Er jedenfalls sei gerade von seiner Freundin verlassen worden, also im Prinzip bereit für eine neue Beziehung. Adressen wurden ausgetauscht. Obst und Gemüse, dachte ich, jede Menge Pfirsiche. Die Reise hat sich gelohnt. Ich melde mich, versprach Jill, tätschelte den Arm des Onkels. Den finde ich etwas frech, keuchte sie, während wir unsere Koffer und die Teppiche die vier Treppen hochwuchteten.
Keine Pfirsiche also. Keine Erdbeeren für Frau Magunna, die sicherlich eine vorzügliche Bowle daraus bereitet hätte. Diesmal hing kein Zettel an ihrer Tür. Dafür standen große Pappen davor.
Als es Sommer wurde, besichtigte Jill, flankiert von ihren zwei Zuständigen, zahlreiche kurz vor der Geschäftsaufgabe stehende Buchhandlungen, auf der Suche nach einem geeigneten Laden. Pappi forschte vermutlich, jedenfalls rief er nicht an. Mami verbrachte ihre Tage jetzt ganz bei Luise, versorgte sie mit chinesischem rotem Tee, von dem sie sich seit kurzem noch mehr Gesundheit versprach als vom grünen. Die Wände von Luises Herz seien dünn wie Pergamentpapier, zitierte sie den Hausarzt, eine schöne Zeit sollten ihre letzten Tage werden. Also packten die beiden ihre Koffer und flogen nach Gran Canaria, auf Pontus’ Finca. Am Abend ihrer Abreise klingelte aufgeregt das Telefon. Unser Vater: Sie fliegt nur so durch die Gegend, und ich war dieses Jahr bloß einmal in Husum. Jill und ich besprachen diese von ihm offenbar als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfundene grundverschiedene Lebenslage, beschlossen, ihm eine Reise vorzuschlagen. Komm doch mal wieder mit nach Polen, probierte ich. Jill wollte mich überbieten: Warst du eigentlich schon mal in Venedig? Nein. Wollen wir nicht mal zusammen hinfahren, Pappi, nur für ein paar Tage? Auf keinen Fall! Er sitze an einem Artikel für die holsteinische Landeszeitung, über die Bedeutung der Hühner in Gottfrieds Gesamtwerk. Und es sei noch keine Zeile verfaßt, obwohl der Abgabetermin schon feststehe, in vier Monaten müsse er mit dem Text fertig sein. Bis dahin, bekräftigte er heftig stotternd, sei an eine touristische Unternehmung nicht zu denken.
Was ihn so erregte, schien nicht die Reise selbst zu sein, sondern die Art und Weise, wie Mami davon sprach. Es wird Luises letzter Aufenthalt in Gran Canaria sein, hatte sie uns allen feierlich erklärt. Wenn sie mit Pappi über ihr Leben sprach, ihre neue Lebensaufgabe, für die er, wie sie glaubte, sich nicht interessierte, bekam ihre Stimme eine sakrale Schwingung. Dieser von höherem Wissen kündende Ton versetzte ihn beinahe in Raserei. Die beiden Frauen kamen kräftig gebräunt von der Reise zurück. Luise klagte über die Langeweile, die ihr jetzt nach Gran Canaria in ihrer Kieler Wohnung bevorstehe, lobte den spanischen Kaffee, den sie auf Dauer rotem Tee doch vorzöge. Mami fuhr sie über den Wochenmarkt, empfahl ihr, mittags ein wenig zu schlafen, las ihr abends vor. Sie besorgte sich Bücher, in denen einfühlsam vom Sterben berichtet wurde. Und von der Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gebe. Das werde ich dann ja sehen, unterbrach Luise nach wenigen Seiten, ob denn auch mal was anderes gelesen werden könne. Was »Zeit« und »Spiegel« über die Kurdenfrage berichteten, interessiere sie. Zu einem Übungskonzert vor ausgewähltem Publikum bestellte Pontus seine Mutter und Mami wieder nach Gran Canaria ein. Der Hausarzt war keineswegs einverstanden. Der Zustand dieses Herzens sei dermaßen kritisch, befand er, daß vor der Strapaze einer solchen Reise dringend gewarnt werden müsse. Luise hatte schon gepackt. Wir sollten schnell nach Kiel fahren und ihr auf Wiedersehen sagen, verlangte Mami. Es werde Luises letzte Reise sein. Den Herbst werde sie sicher nicht mehr erleben. Wir würden uns unser restliches Leben Vorwürfe machen, hätten wir uns nicht von ihr verabschiedet. Wir jagten nach Kiel. Luise wirkte überrascht. Zwei Wochen später trafen sie wieder in Kiel ein, große Reisetaschen voller Obst und Gemüse aus Pontus’ Finca im
Gepäck. Jetzt reicht’s mir! fluchte Pappi. Er hegte inzwischen den Verdacht, daß Mami die Sache mit der letzten Reise wohlüberlegt inszeniere, damit ihm nicht auffalle, daß er von früh bis spät Akten herumschiebe, zum Wohle seiner Familie, während diese beiden Frauen nach Erledigung ihrer ehrenamtlichen Geldsammeleien cocktailschwenkend am Swimmingpool saßen und Luise einen Sterbetermin nach dem anderen verstreichen ließ. So ginge das irgendwie nicht. Eines Abends flog die Tür auf, Jill tanzte ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen: Ich habe meinen Laden. Superlage, beste Gegend, guter Kiez. Der Platz wimmele von Menschen. Mehrere Restaurants in der Nähe, auch Cafés. Viele Leute hätten beim Cappuccino gelesen! Nicht Zeitungen, Bücher! Sie eilte gleich zum Telefon, Mami vom Glücksfall zu erzählen. Mit dir will sie auch noch sprechen, rief sie mir zu, über ihren Geburtstag. Ich übernahm. – Sag mal, muß ich ihn einladen? Wen? Deinen Vater. Woher soll ich das wissen? Eigentlich möchte ich ihn diesmal nicht einladen, er interessiert sich ja überhaupt nicht für mein Leben, und auch wegen der Rede, die er an meinem Fünfzigsten gehalten hat. Von der bin ich immer noch traumatisiert. Laß mich nachdenken, bat ich. Ich melde mich morgen. Sein Anruf kam meinem zuvor. Er habe in Berlin zu tun, ob wir da seien. Immerhin bedeutete sein Besuch eine Chance, diese Angelegenheit zu regeln. Sicher würde er nach den Geburtstagsplänen unserer Mutter fragen. Wir drei gingen nebeneinander her, herum um den Grunewaldsee, Vater, Tochter, Hund. – Eure Mutter hat im November Geburtstag. Weiß ich. Was will sie denn machen? Die Frage klang ein bißchen scheinheilig. Ein Fest, murmelte ich. Bin ich auf der Gästeliste? Ich fürchte nein, Pappi. Er nahm schweigend den gelangweilten Josch an die Leine, der in Richtung Wasser zerrte, er starrte vor sich hin. Ich erzählte von Jills These, die
deutsche Vereinigung werde zu einer mordsmäßigen Staatsverschuldung führen. Er könne sich nicht konzentrieren, klagte er, er müsse erst was essen. Als wir später beim Wilmersdorfer Italiener saßen, wollte er wissen, wer denn eingeladen sei zu diesem Geburtstag. – Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich als älteste Tochter die Familienrede halten soll. Bei diesem Wort schaute er auf. Listig, wie mir schien: Was willst du denn sagen? Das, was Mami mir vorgeschlagen hat. Sie hat mich gebeten, ich möge doch einfach erzählen, was für eine Rolle die Liebe zwischen ihr und uns Töchtern gespielt habe. Ja gut, darauf kannst du doch aufbauen! Sie hat ein feines Gehör, Pappi, sie erwartet von mir, daß ich wahrhaftig bin. Sie will kein konventionelles Gequatsche. Ein bißchen unterhaltsam sollte es aber auch sein! Das ist die Schwierigkeit, oder? Warum, du liebst sie doch! Ja. Also, probier es jetzt. Sag mir, warum du sie liebst! Das geht jetzt mit Sicherheit schief, dachte ich, aber versuchen muß ich es immerhin: Wenn es mir wirklich schlechtgeht, Pappi, ist sie die einzige, mit der ich sprechen möchte. Nein, mit Jill auch, aber mit Mami ist es intensiver. Wir haben eine ganz verschiedene Sprache, aber wenn’s drauf ankommt, wenn man sich selbst wegrutscht, weißt du… – nein, was ist das denn? Wenn ich mir abhanden komme, dann fängt sie mich auf. Sie gibt mir dann die Informationen, die ich brauche. Was sie früher an mir beobachtet hat, wie ich in bestimmten Situationen reagiert habe. Wann ich unglücklich war, wann besonders glücklich als Kind. Sie gibt mir mich selbst zurück. Das ist etwas, das in unserer Familie nur sie tun kann, und sie tut es. Mir wird das zu kompliziert, unterbrach mich Pappi, ich meine, du solltest mit dieser Rede die Leute nicht zum Weinen bringen, du mußt versuchen… ach, was weiß ich, stimmig muß
es sein, dann ist es auch witzig. Du machst das schon. Ich helfe dir, wenn du willst. Er fuhr beschwingt zurück nach Kiel, als sei sein Ausschluß von diesem Fest vom Tisch gewischt. Ich rief gleich Mami an, obwohl es schon nach Mitternacht war: Du mußt ihn wohl einladen! Ich hatte doch keine Ahnung, daß er das will, murmelte sie schläfrig, erst recht nach unserer letzten Begegnung. Es war etwas vorgefallen zwischen den Eltern. Mami erzählte: Dein Vater ist letzte Woche kurz vor Ladenschluß in den Supermarkt gekommen, um für seine wilden Katzen Futter zu holen. Er hat mich sehr wohl an der Kasse warten sehen, mir aber bloß kurz zugenickt, ist dann gleich nach rechts gelaufen, zum Regal mit dem Katzenfutter. – Wenn der Laden doch schließen wollte, Mami. Du verteidigst ihn sowieso. Morgen schreibe ich ihm. Eine Rede will ich von ihm aber nicht hören. Sag’s ihm, bat ich. Sag du’s ihm, Schätzlein. Mein Vater wurde zum Fest nachgeladen, unter der Bedingung, daß er, falls er eine Rede zu halten beabsichtige, sie einer seiner Töchter zur Prüfung vorlege. Er rief sofort an, als der Brief da war, schwor, mit Sicherheit nicht zu reden. Das wäre ja das erste Mal, dachte ich. Am nächsten Tag lag die berüchtigte Ansprache, die er vor ein paar Jahren zum Fünfzigsten meiner Mutter gehalten hatte, im Briefkasten. »Zur Kenntnisnahme« hieß es anwaltlich nüchtern auf der Kopie. Sofort war die Geschichte wieder da: Meine Mutter hatte bei diesem Geburtstag die, wie sie sagte, wertvollsten Freunde ihres Lebens, an der Tafel neben sich plaziert. Lucius, den renommierten Hamburger Anwalt, dessen Prozesse über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt wurden, rechts, und Friedrich, den Verfasser faustdicker Biographien, links. Mein Vater hatte seine Ansprache damit begonnen, die beiden mit sämtlichen kulturhistorischen Männerpaaren zu vergleichen,
die er in der Enzyklopädie gefunden hatte. Von Rosenkrantz und Güldenstern war die Rede, von Johannes und Judas. Stille war ausgebrochen nach dieser Rede. Die beiden Männer hatten mit ihren Rückgraten auf den Sitzflächen herumgearbeitet, als säßen sie auf zu engen Stühlen, Mami hatte eine Viertelstunde zum Fenster hinausgeblickt in den nächtlichen Garten.
Eine Woche nachdem ich das Schriftstück erhalten hatte, klingelte es am frühen Abend an der Tür. Jill schrieb gerade die Einladungen für ihre Buchhandlungseröffnung: »Alle machen zu – wir machen auf! Hurra!« Josch und ich spielten Sperren-ohne-Ball, dribbelten durch den Flur. Auf dem Monitor erschien eine lange und breite Nase, so dicht an der Eingangstür, als wolle der Träger sie durch Vorschieben seines Zinkens daran hindern, wieder zuzufallen. Du, der ist schon wieder in Berlin! Gibt’s doch nicht, stöhnte Jill. Seid ihr zu Hause? Diesmal versuchte ich, den Überraschungsbesuch schüchtern abzuwehren: Wir schlafen gerade ein bißchen, wir zwei, genauer gesagt, wir drei, Josch träumt schon. Wir sind genauer gesagt auch zu dritt! scholl es aus der Gegensprechanlage. Ich drückte den Türöffner, was soll man machen? Herein marschierten mein Vater, nach ihm ein weißhaariger Mann, Typ des früh im Leben schon Gelehrten, dann eine drahtige Frau mit zinnoberrot bemalten Lippen. Die beiden, Kunsthistoriker Feltgen und seine Frau, habe er gerade eben in der Charlottenburger Ausstellung getroffen. Dort hinge eines seiner Bilder, der »Liegende Baumstamm mit Wildpflanzen« des Altonaer Landschaftsmalers Louis Gurlitt. Günstig erworben, ein Glücksfall. Und Kunsthistoriker Feltgen habe doch tatsächlich vor diesem kleinen Gemälde gestanden und noch dazu eine ganz interessante These erhoben.
So eingeführt, bat Pappi seine Gäste, doch bitte Platz zu nehmen, entschuldigte sich für die Hundehaare, fragte, ob wir etwas Wein, vielleicht auch Käse oder Käsegebäck anzubieten hätten, und setzte das in der Ausstellung begonnene Gespräch ohne weiteres Aufheben fort. Jill stellte eine mit Radieschen und Gemüsezwiebeln dekorierte Käseplatte zusammen. Ich denke eben, begann der weißhaarige Experte, dabei gönnte er sich einen kräftigen Schluck Rotwein, daß dieses Bild Gurlitt eindeutig als Frührealisten ausweist. Ach wie schön, ich merke schon, man darf hier rauchen, krähte die Lippenrote beglückt. Man sehe das ja an der naturgetreuen Wiedergabe der unterschiedlichen Flora, beendete ihr Mann die gerade begonnene Erklärung, die man genauso bei den zwei Holsteinische-Kate-Studien finde, welche man mit Sicherheit den vierziger Jahren zuordnen könne. Pappi glühte. Das habe ich doch immer gedacht, Feltgen, im Grunde schon immer, seufzte er glücklich. Dann fuchtelte er mit dem Handrücken in Richtung meiner Schwester: Jill, hol doch mal eben den Katalog, den ich dir geschickt habe, zum Vergleich. Und zu mir: Die beiden würden gern hier übernachten, wo gibt’s denn in der Nähe ein Hotel, finde das bitte mal heraus! Josch füßelte seinen Tennisball unter dem Sofa hervor, glaubte, die ganze Erregung gelte ausschließlich ihm und seinen Künsten, wirbelte den Ball hoch, fing ihn mit eigentlich unnötigen Neunzig-Grad-Drehungen wieder auf, als erhoffte er sich von diesen Gästen eine Anstellung fürs Leben. Der Experte vertiefte sich in den Katalog, verglich Baumstamm mit Katen, beklagte die farblich mangelhafte Wiedergabe des Drucks. Seine Frau wies auf meine Hanteln in der Zimmerecke: Ach, Sie sind auch Mitglied in einem Klub? Eine Sekunde bekam ich Lust, ihr die Wahrheit zu erzählen. Daß ich diese Hanteln während meiner drei Monate als Redakteurin für die Wartezeit
im Büro gekauft hatte und sie, um meine Schwester zu ärgern, nicht in den Keller trage, weil Jill keine Gelegenheit auslasse, mir klarzumachen, daß sie Hauptmieterin dieser Wohnung sei. Statt dessen log ich und sagte: Ja. Frau Feltgen hielt einen lebhaften Vortrag über ihren Fitneßklub, dessen Geräte, Trainerinnen und Öffnungszeiten. Jill schenkte Wein nach, Pappi fächelte mit seiner Rechten immer wieder über den Ärmel der Kunsthistorikersfrau, dort hatten sich eine Vielzahl weißer Hundehaare festgesetzt: Habt ihr denn keine Bürste, Menschenskinder, gebt doch mal eine Bürste! Ich halte ja Fitneß, sagte der Kunstexperte, als die Zuordnung des Baumstamms vorläufig geklärt war, muß ich bemerken, für nicht so wichtig. Gar nicht, das denke ich auch, nuschelte Pappi gedanklich woanders, sprang gleich auf, jetzt müsse er aber los nach Kiel, die neuen Überlegungen zum Gurlitt werde er während der Fahrt in sein Diktaphon sprechen. Ob wir Feltgens zu ihrem Hotel begleiten könnten. Natürlich, Pappi. Jill und ich saßen den Rest des Abends stumm am Küchentisch, neidisch auf diese Leute, denen es gelungen ist, ihr Interesse am Leben so zielstrebig auf gewisse Fachfragen zu konzentrieren. Neidisch auf Bube mit Gartenbau plus Dosenfutter, auf unseren Vater und seine Forschungen. Der saß einfach da und blies seine schadhafte Querflöte, entlockte ihr die unmöglichsten Töne, versunken in sich und sein Instrument, als sei er mutterseelenallein auf dieser Erdkugel und gar nicht unzufrieden damit. Gegen zwei seufzte Jill tief.
Die Umbauten ihres Ladens gingen zügig voran, schon Ende September konnte die Buchhandlung aufmachen. Matthias hatte die Innenausstattung übernommen, sich für Englischrot entschieden, ein üppiges Rot, das alle Gäste in Leselust erglühen ließ. Nach der Eröffnung zog die Familie mit
fünfzehn besten Freunden weiter, in ein benachbartes bretonisches Restaurant. Matthias entschuldigte sich artig bei Mami, er müsse leider schon nach Hause. Gleich waren der Restaurantkritiker und der Drehbuchschreiber zur Stelle, hakten Jill unter. Mich nahm Mami am Arm. Sie hat doch wirklich wundervolle Freunde, flüsterte sie mir zu, ich mag die beiden sehr. Natürlich, dachte ich, ihr könnt Freunde haben, ihr zwei. Ein paar Meter hinter uns marschierte Pappi. Frau Magunnas standhaftes, nicht einmal schlechtgelauntes Warten auf die Rückkehr ihres Mannes brachte mich auf eine Idee: Ein Artikel über Frauen, die Häftlinge lieben, dürfte die Zeitungsleser interessieren. Frauen, die eingesperrte Männer lieben, wollten vermutlich mit diesen Männern nicht Zusammensein. Sie wünschten wohl, daß ihre Männer immer Helden bleiben für sie, wollten niemals erleben, daß der Liebste etwas tut, bloß weil ein Chef es von ihm verlangt. Sie wollten wohl ewig in Vorfreude leben, solche Frauen, vermutete ich, in der sichersten aller Freuden. Daher müßten ihre Männer immer eingesperrt bleiben oder jedenfalls ziemlich lange. Die drei Häftlingsfrauen, von denen ich hörte, lebten alle in Hessen: Bad Hersfeld, Schwarzenborn, Darmstadt. Das vereinfachte die Sache. Josch nahm ich mit. Am letzten Nachmittag dieser Reise rammte er sich auf der Wiese neben dem Maritim-Hotel in Darmstadt einen Stock in den Rachen. Aufheulend flüchtete er an meine Seite. Das paßte jetzt ganz schlecht, in wenigen Minuten erwartete ich die Frau, die einen inhaftierten Bankräuber liebte. Sie stand schon in der Empfangshalle, mit dem Erkennungszeichen, einer feuerroten Handtasche. Ich nahm sie mit nach oben, nervös wie sie war. Josch setzte sich aufrecht unter die Kofferablage. Er sei ein forschender Geist, ihr Geliebter, erzählte sie, ein Wirbelwind, sie sei aber überzeugt, er werde sich wunderbar zurechtfinden in ihrem Leben, wenn er erst wieder freikomme.
In acht Jahren. Er habe das ja nur aus Jux gemacht, diese Banküberfälle. Er sei nun einmal der Mann, von dem sie immer geträumt habe: Einer, mit dem man sich im Schlamm wälzen und hinterher Walzer tanzen kann. Josch saß immer noch aufrecht wie eine Statue unter der Kofferablage, so tat ihm der Rachen weh. Wir verschleudern in unserem Leben zuviel Zeit mit Nichtigkeiten wie Partys oder Geschäftsessen, vertraute die Räuberbraut mir an, auf der Suche nach irgend etwas. Ich beobachtete Josch, der im Moment nichts hören wollte von der Liebe, von überwundenen Nichtigkeiten, von verschleuderter Zeit, von irgendwas. Das sieht nicht gut aus, hörte ich die Frau hinter mir flüstern, vielleicht muß der zum Tierarzt, ich geh jetzt mal lieber. Was das Schlimmste sei in einer Liebesgeschichte mit einem inhaftierten Mann, fragte ich sie noch schnell. Daß er nicht da ist! Nie! Natürlich! Das hatten die beiden anderen Frauen ja auch schon gesagt. Die Wirklichkeit hält sich nicht an das, was Journalisten von ihr berichten wollen. Besser demütig sein. Josch litt nicht nur wegen des Schmerzes im Rachen, der hatte auch Heimweh. Nach Hause wollte er. Kaputter Rachen, Maritim-Hotel in Darmstadt, Autorauschen auf der Wiese, das war zuviel. Idiotische Reise. Völlig falsche These. Was hatte er mit diesem Unsinn zu schaffen? Für den Fall, daß diese Reise schiefgeht, hatte ich von zu Hause eine Flasche Rotwein mitgenommen. Die war jetzt fällig. Die Minibar mit dem Korkenzieher ließ sich selbstverständlich nicht öffnen. Unten bat ich den Barkeeper, mir für ein paar Minuten einen Korkenzieher zu leihen. Als ich den Gesichtsausdruck des strammen Mannes sah, erkannte ich meinen Fehler. Hatte ich wirklich geglaubt, man würde mir das abnehmen? Daß ich diesen Korkenzieher lediglich ein paar Minuten borgen wollte? Mir Verirrten, die ich glaubte, Frauen wollten mit Männern nicht Zusammensein? Obwohl Frauen
sehr wohl mit Männern Zusammensein wollen. Siehe meine Mutter. Die will nämlich mit Männern Zusammensein, nur mit meinem Vater nicht! Siehe auch meine Schwester. Die will mit ihrem Stadtplaner Zusammensein, die will den haben, und das wird die schaffen. Das geht nicht so einfach, sagte der Barkeeper, wie erwartet, kommen zu viele weg dabei. Ich blieb einfach stehen, ohne Beistand. Sie könnten ja, schlug der Mann vor, den Oberkörper auf seinen behaarten Arm gestützt, mit Ihrer Flasche wiederkommen, dann machen wir sie hier unten gleich auf. Is’n Wort, murmelte ich einen von Pappis Fertigsätzen, lief dann los. Mit einer ausladenden Bewegung zog der Barkeeper den Korken heraus. So wenden Ritter nach siegreicher Schlacht ihr Pferd, verlassen den Ort der abgeschlagenen Gliedmaßen und reiten nach Hause zu ihren Frauen, die auf sie warten.
Drei Lampen leuchteten in verschiedenen Tönen und wärmten das Wohnzimmer. Jill rechnete am großen Tisch, ich setzte mich an den kleineren: Jill, wie ist eigentlich Mami, wie empfindest du sie, sag mal! Du, ich habe morgen zwei Termine wegen der Kredite, also frag mich jetzt bitte nicht so was. Hast du Zigaretten? Ich muß nämlich jetzt mit der Rede auf Mami anfangen! Kannst du dir nicht mal angewöhnen, selber welche zu kaufen, Mensch! Ich ersetze sie gleich morgen früh. Wäre neu. Aber bitte, rauch sie weg! Ich zündete mir eine an und notierte: »Meine Mutter ist ein Glückskind. Manchmal kommt es mir so vor, als lebe sie im Glauben, irgendwo gebe es jemanden oder etwas, der oder das ein großes Geschenk für sie bereithält. Diese Erwartung gibt ihr Kraft. Freunde kommen zu Besuch. Meine Mutter stärkt sie. Sie hegt ein Beet in ihrem Herzen, auf dem sie Liebe anbaut. Täglich gießt sie es, zupft das Unkraut heraus. Wenn eine Liebe reif ist, pflückt sie
diese.« Jill guckte mir über die Schulter: Gärtnerin aus Liebe? Hoffentlich geht das gut. Nach dem dritten Glas Wein überfiel mich eine Wut, die vermutlich mit dem Elsässer zu tun hatte, den Jill freundlicherweise der Geburtstagsrede geopfert hatte. Jill versteht nichts von Wein, sie hortet ihn bloß. Von der Liebe, liebe Mami, kann man nur reden, indem man von etwas ganz anderem spricht. Begreifst du das denn nicht, du Leserin psychologischer Sachbücher, du Königin neuer Therapiemethoden? Befehlen kann man es schon gar nicht, daß von der Liebe gesprochen werden soll. Und überhaupt: Liest man so eine Rede ab, oder spricht man sie frei? Und wenn man frei spricht, was ist, wenn einem das, was man sagen will, plötzlich entfällt? So wie meiner Freundin Alexandra damals, als sie mit zwölf ihren ersten Auftritt hatte als Klavierschülerin. Alexi konnte das Stück in- und auswendig. Jedenfalls hat sie das später immer wieder beschworen, als wir den Vorfall besprachen: Ich kann dieses Stück im Schlaf, im Schlaf konnte ich das spielen! Sie hatte sich an den Flügel gesetzt, wollte dem Publikum bloß noch einen ganz kleinen Blick schenken, die eine Hand schon in der Schwebe über den Tasten. Aber als sie die Leute da so sitzen sah, mitten unter ihnen ihre Eltern, all diese Leute jetzt schweigend und in gespannter Erwartung, geschah ihr etwas, das sie nicht verhindern konnte: Sie mußte kichern. Erst ganz leise, dann entwickelte sie ein prächtiges, beinahe rasendes Gelächter, bis sich ihr Gesicht tiefrot färbte. Sie stand auf, verließ das Podium, lief zu ihrer Mutter, schlang ihre Arme um deren Schultern und legte ihren Kopf zwischen Schlüsselbein und Wange. Ich kann dir nicht erklären, wie das kam, sagte sie mir später kopfschüttelnd, als wir eine Cola tranken in meinem Kinderzimmer, ich mußte dermaßen lachen plötzlich. Komisch, was?
Alexi kam oft zu uns übers Wochenende. Sonntagabends schloß sie sich im Gästeklo ein, weil sie nicht zurück nach Hamburg wollte zu ihren Eltern, die es so schwer hatten miteinander. Wir rüttelten an der Tür: Alex, dein Zug fährt in wenigen Minuten! Komm bitte raus! Sie antwortete nicht, kam auch nicht heraus. Meistens öffnete sie die Tür erst, wenn es gerade noch möglich war, zum Bahnhof zu rasen, um den letzten Zug zu erreichen. Bei diesem Fest würde es mir ähnlich gehen. Bloß nicht frei sprechen, unbedingt was Geschriebenes vor sich liegen haben. Ich hatte mich auch in der Universität selten zu Wort gemeldet. Weil ich, sobald ich anfing laut zu sprechen, mir nicht mehr sicher war, wer da sprach. Es war noch kein Stottern, aber ich verlor, wenn ich in einer Gruppe laut sprach, immer das Ziel des Satzes aus den Augen. Irgendwo muß hier noch ein Verb hin, wußte ich. Aber ich hatte keine Ahnung, welches. Nachts rief Jan an. Er habe etwas Geld verdient bei einem Karpatentrail und wolle jetzt Hafer kaufen. Ob ich mitkomme, möglichst ohne Josch. Laß ihn bei mir, schlug Jill vor, ich bin heilfroh, daß er Darmstadt überlebt hat. Jan holte mich mit dem Bambino am Rzeszówer Bahnhof ab. Wir brachen gleich auf nach Masuren, dort war Hafer billiger. Alle zwanzig Kilometer blieb der Fiat liegen. Wenn der Motor zu stottern begann, stieg Jan fluchend aus, öffnete die Motorhaube des Klump – so nannte er den Bambino –, verknüpfte ein Kabel. Er habe wenig Zeit. Das Gästehaus müsse fertig werden, bevor es kalt werden würde. Während der Fahrt sprach er hastig: Wir sind ein gutes Paar, du und ich, ähnlich, nur zeitverschoben. Du hast Kraft, ich habe keine mehr. Du hast das Leben noch vor dir. Ich beneide dich darum, manchmal. Erstens hast du noch sehr viel Kraft, Jan, zweitens redest du von Dingen, die nicht zu ändern sind. Laß uns über Dinge reden, die wir ändern können mit unserer gemeinsamen Kraft. Er bog in einen
Kiefernwald ein, jagte den Fiat über den Sand. Jäh stoppte er: Gehen wir mal etwas! Wir liefen durch den Wald, der kühl und feucht war, bis Jan eine geeignete Stelle gefunden hatte. Setz dich! befahl er. Ich hockte mich auf seine Jacke. Was hast du? fragte er, du bist anders als sonst. Du auch, du bist gehetzt. Ich habe wenig Zeit, Kleine, jetzt am Ende des Jahres. Mir fehlt das Geld, unsere Pferde zu ernähren. Ich werde dir Geld schicken, Jan. Hör auf. Reden wir lieber von deinem Haus, von unseren Mongoleiplänen. Komm doch etwas näher. Es ist nicht einfach in einem Land, das pleite ist. Du verstehst nichts von Polen, bei euch ist alles anders. Ameisen krabbelten mir den Rücken hinauf. Warum hatten wir kein Bett wie andere Leute? Warum flüsterte er sogar im Wald? Warum diese Eile? Warum zog er in Zalesie immer die Vorhänge zu, wenn er mich besuchte, obwohl er doch getrennt lebte von seiner Frau? Warum dürften wir auf keinen Fall von der Nachbarin Jolante gesehen werden? Laß mich Luft holen, bat ich. Jan stand auf, zeigte auf einen schwarzweiß-blauen Vogel über uns: Wie nennt ihr den? Ich glaube, es ist ein Eichelhäher. – Ein schöner Vogel, bei uns wie bei euch. Im eiskalten Gästezimmer des Gestüts beschlossen wir, bald aufzubrechen in die Mongolei, einen Trail auf Kamelen und Pferden vorzubereiten. Schließ das Zimmer ab, bat er. Im Morgengrauen luden wir Hafersäcke in den Fiat, die Arbeiter sollten uns nicht sehen. Das Gestüt war inzwischen nahe am Konkurs, dürre Pferde suchten auf der zertretenen Koppel nach Grashalmen. Der Direktor verkaufte den staatlichen Hafer privat weiter, an uns, damit er sich Möbel für seine Wohnung leisten konnte. Fahr du zuerst, schlug Jan vor. Er rieb mir das Gesicht wach mit trockenen, warmen Händen: Müde und alt bin ich. Das weißt du. Deshalb liebst du mich. Ist es nicht so? Gut, ich fahre, laß uns in einer Stunde tauschen.
Die Hafersäcke drückten den hinteren Teil des Fiats nach unten. Ich mußte meine Augen zwingen, nicht zuzufallen. Jan wollte uns wachhalten, erzählte von der Mongolei. Noch in diesem Jahr würde ich es kennenlernen, das schönste Land auf Erden: Sie trinken dort Tee mit Yakbutter, Liebling, du wirst es sicher furchtbar finden. Er arbeitet schon an einer kleinen Sammlung, wie eine Westdeutsche im weit entfernten Osten scheitert, dachte ich. Die Mongolei, immer wieder die Mongolei! Das ist für ihn das Ziel unserer Liebe. Ich will aber nicht dorthin. Was soll ich da? Mir reicht ein polnisches Waldhaus, das neue Dachziegel braucht. Warum fängt er immer etwas Neues an? Warum baut er nicht einfach die Zimmer für die Touristen fertig? Warum langweilt ihn alles, was er zum zweitenmal macht? Er weiß es eben auch nicht, wie es geht, das Leben. Nicht besser als ich. Ich kann aufhören damit, ein alter Mann sein zu wollen, alte Männer wissen es auch nicht! Noch zehn Kilometer bis Bartoszyce. Dort wollten wir tauschen. Vor uns lag die endlose Allee: Mir genügen diese alten Bäume. Wofür noch die Mongolei? Auf der Gegenseite sah ich ein Auto, das ungeduldig versuchte, einen Lastwagen zu überholen. Das wird er doch jetzt nicht tun! hoffte ich verschlafen. Ich fühle mich zu alt für die Mongolei, hörte ich Jan, im Grunde habe ich keine Kraft mehr für diese Unternehmung. Trotzdem möchte ich dorthin. Verstehst du, Liebling? Paß auf! Nach rechts! Das blaue Auto raste auf uns zu. Ich riß das Steuer herum. Es gibt ein Lachen, das als Weinen gemeint ist, eine plötzliche Entladung. Die Liebe war vorbei. An diesem Baum zerschellt, vor wenigen Minuten. Oder war es Stunden, sogar Monate her? Vor zwanzig Jahren hatte ich so lachen müssen, so grell, als ich begriff, daß die Liebe meiner Eltern zu Ende war. Eines Mittags, Ostern, in Norwegen. Die Skiläufer ließen
sich von einem blauen Schleppfahrzeug, das die Norweger »Beltebil« nannten, den Berg hinaufziehen. An zwei Seilen mit Schlaufen hielten sie sich fest. Stürzte jemand, weil seine Skier aus ihrer Parallelführung geraten waren, fielen auch alle, die hinter ihm am Seil hingen. Aus dem Schiebedach schauten Beobachter heraus, die dem Fahrer meldeten, wenn jemand gefallen war. Einmal verursachte meine Mutter diesen Dominostein-Effekt, mein Vater war unter den Fallenden. Als er wieder stand, rief ihm ein Schwede, wild mit dem Finger fuchtelnd, zu: Hon var skyldig – das war ihre Schuld! Zum Mittagessen kam der Schwede mit einem gelben Pullover, in den spitze schwarzweiße Romben eingestrickt waren. Die Romben trieben mir Tränen in die Augen. Sie waren fühllos gegenüber der Tatsache, daß man nicht jemandem die Schuld am Fallen eines anderen zuweisen kann. Aus dem Weinen wurde ein verzweifeltes Lachen. Als wir damals zu Hause unsere Koffer auspackten, spürte ich eine Eisenfaust am Hals. In welchen Schrank gehörten die Wintersachen? Ich hatte es vergessen. Unordnung und frühes Leid, brummte Pappi beim Einsammeln unserer Kinderskistiefel. Was hast du? fragte Mami mich sanft. Jetzt geht es wieder los, euer Streiten, japste ich. Aber wir haben uns doch gut verstanden gerade. Ja, aber nur weil wir weit weg waren! Im Krankenhaus erzählte Jan, ich hätte gelacht, als er am Straßenrand saß, seinen gebrochenen rechten Arm stützend, sei dann losgelaufen, nach zwanzig Metern umgedreht. Er habe mich festgehalten, neben sich gesetzt, dabei versucht, seinen Schuh auszuziehen, um den schmerzenden Fuß zu befreien. Immer wieder hätte ich einen Zimmerschlüssel aus der Tasche geholt und gefordert, ihn zurückzubringen. Immer wieder beteuert, daß ich den Schlüssel unseres Zimmers nicht mit Absicht, sondern versehentlich eingesteckt hätte. Immer wieder dieses Wort gesagt: versehentlich. Ein Wort, das er
vorher nicht gekannt habe. Ich hätte wieder angefangen zu lachen, den Schlüssel wieder eingesteckt, ihn nach wenigen Sekunden wieder herausgeholt, mir das Blut aus dem Gesicht gewischt. Er habe mir ein Taschentuch gegeben, mich gebeten, es gegen meine Lippe zu drücken. Damit das Blut gerinnen könne, aber mehr noch, damit ich aufhörte zu lachen. Dieses Lachen habe ihm am meisten Angst gemacht. Das Röntgenbild zeigte vier Brüche in seinem Oberarmknochen, zwei in seinem linken Fuß. Die Ärzte hängten den eingegipsten Arm über seinen Kopf in eine Schlinge. Er solle sich auf acht Wochen einstellen. Ich hatte Glück. Bloß ein Schleudertrauma, mit dem ich in meinem Haus in Zalesie zurechtkommen konnte. Es erstaunte mich, daß ich für Jan keine Liebe mehr fühlte, sondern Mitleid. Der Osten war mir unheimlich geworden. Ich ertrug das ständige Unglück dort nicht mehr, die überfahrenen Hunde, die Fohlen, die sich strangulierten, die betrunkenen Menschen, die scheußlichen neuen Backsteinhäuser in den Dörfern, die ganze Hoffnungslosigkeit dieser gläubigen Gegend. Für Jan war das Unglück von Gott gesandt, es gehörte zum Leben. Er beklagte es, aber es gab für ihn keinen Weg, es zu verhindern: Weil das Unglück Gottes Wille war. Was hatte ich mit seinem Gott zu schaffen? Wir Menschen im Westen geben Gott nicht so viele Möglichkeiten, sich auszutoben, murmelte ich an seinem Krankenhausbett. Hiob, sagte er lächelnd, verstehst du, Liebling? Er bekreuzigte sich mit der gesunden Hand: Später wird Gott seinen Frieden mit mir machen. Besser, du zeigst ihm, wie er das anstellen soll, flüsterte ich, besser, du machst es ihm nicht zu schwer! Besser, du baust Zäune, hältst die Hunde von der Straße fern, führst ihn nicht dauernd in Versuchung, dir ein weiteres Unglück aufzubrummen. Wenn du westlicher und pragmatischer wirst, das würde Gott sicher gefallen. Jedenfalls dem, an den ich glaube!
Unser Gespräch wurde von Ärzten unterbrochen. Man rollte Jan in seinem Bett fort. Innerhalb der nächsten Tage müßten die Bruchstellen zusammenwachsen, versprachen die Mediziner. Jan lächelte. Er höre nachts die Knochen knirschen. Sie schoben ihn weg, er winkte mir mit dem gesunden Arm. Den Rest des Tages hockte ich in meinem Klappbett in Zalesie, starrte nach draußen auf die Wiesen. Schließlich brach ich auf nach Berlin. Der Orthopäde, der sich mein Genick ansah, erklärte triumphierend, das werde auf gar keinen Fall funktionieren, was die polnischen Kollegen da mit dem Arm meines Freundes ausprobierten. Als wenn man versuchte, gekochte Spaghetti aneinanderzukleben, sei das. Operieren müsse man den Arm, etwas anderes komme nicht in Frage in so einem Fall. Jan wehrte ab. Er vertraue seinen Ärzten: Ein dummer, sturer Pole bin ich, Liebling, das weißt du. Manchmal, wenn Josch und ich nachts unsere Runde liefen, kehrten wir in der »Traube« ein. Dort durfte sich der Hund für ein Fünfmarkstück an den Wirt frei bewegen und die Gäste mit seiner Wirf-mir-was-Bitte belästigen. Zwischendurch schleppte er alles an, was er fand, Korken, Bierdeckel, Lippenstifte. Das letztemal brachte er ein zusammengefaltetes Papier, es war ein Brief. Ein Andreas hatte ihn geschrieben, an eine Maria. Er handelt von einer Winternacht, die Andreas bei Maria verbracht hat. Er versucht ihr zu erklären, warum er nicht mit ihr geschlafen habe: »Wenn ein Mann eine Frau zum erstenmal trifft, steht er allen Liebhabern gegenüber, die sie jemals hatte.« An diesem Abend habe er sich für eine solche Katharsis zu… (das folgende Wort konnte ich nicht entziffern) gefühlt. Er würde sie gern wiedersehen, bei Gelegenheit, bilde sich aber nicht ein, sie mit Argumenten an sich binden zu können. »Du bist ein fliehender Geist, Maria. In Liebe,
Andreas.« Die Schrift war von einer regelmäßigen Unordnung, also schön. Argumente sind die größte Enttäuschung. Daß sie die Welt nicht retten, damit könnte man leben, aber daß man mit ihrer Hilfe jemanden nicht dazu bringen kann, zu lieben oder nicht mehr zu lieben, ist eine Sauerei. Gäbe es für Jan und mich eine Möglichkeit, uns anzusehen, ohne dabei den Unterschied zu messen zwischen jetzt und früher? Aufbrechen könnte ich wohl, Fahren ist immer gut, aber Ankommen? Vorsichtig öffnete ich die Tür zu Jills Schlafzimmer. Ich wollte sie nicht wecken, bloß ein bißchen auf ihrem Teppich sitzen, ihr beim Schlafen zuschauen. Sie hatte ihre Daunendecke weit hoch gezogen, nur ein Stück blonder Haarschopf ragte heraus. Ein leises Geräusch, eher Schnorcheln als Schnarchen, schwebte im Raum. Im Schneidersitz setzte ich mich ans Fußende ihres Betts. Das Wohnzimmerlicht beleuchtete schwach ihren Nachttisch. Ein Aschenbecher von der Größe einer Hotelkonfitüre stand darauf, ihr Telefon, zwei kleine Bären saßen eng beieinander, an die Lampe waren drei gerahmte Fotos gelehnt, Bube und ich in Polen, lachend, Mami als etwa Zwanzigjährige, sehnsüchtig und verliebt in unseren Vater, Pappi als küstennaher Segler, mit verwegen vom Wind zerzaustem Haar. Starporträts ihrer engsten Angehörigen. Sie macht es sich schön, dachte ich, sie filtert das Gute heraus, das es auch gibt, verschafft sich vor dem Einschlafen einen Blick darauf. Sie will Ruhe, sie kriegt sie. Und, was gibt’s? Weiß nicht, Jill, ein Scheiß ist alles. Zigaretten liegen links neben dem Bett. Du möchtest fahren, aber du weißt nicht, ob es gut ist, oder? Könnte sein. Ich denke, du solltest es tun. Du liebst ihn, du vermißt ihn. Was ich vermisse, ist die Liebe zu ihm. Weiß ich, du hast Angst, du machst dir Vorwürfe deshalb, aber ich glaube, er versteht es.
Du willst jetzt meinen Rat, und ich sage dir, fahre. Was redest du so schlau, du schläfst doch noch halb? Sie setzte sich auf, knipste das Licht an. Nein, tu ich nicht. Ich will dir was erzählen von mir. Ich habe überhaupt nicht geschlafen gerade. Ich habe über Matthias nachgedacht. Manchmal kann er zu mir kommen und oft nicht. Darüber habe ich nachgedacht. Vor einer Weile ärgerte es mich, wenn er morgens um acht zu mir kam, nachdem er die Kinder in die Schule gebracht hatte, auf dem Weg ins Büro. Ich wollte nicht, daß der Stundenplan seiner Kinder unsere Treffen regelt. Ich wollte kein Antischulkind sein. Aber jetzt ist es anders. Ich liebe ihn, und ich glaube, das heißt, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Ich schlaf jetzt weiter, okay? Am Zigarettenautomaten traf ich Frau Magunna. Entschuldigen Sie bitte meine Botschaften, flüsterte sie, es ging mir nicht besonders gut in den letzten Wochen. Ich würde Sie gern zu einem Wein einladen, aber Sie haben sicher wieder keine Zeit. Doch. Ihre Wohnung war sparsam eingerichtet, keine Fotos, auch keine von den beiden Jungen. Überall lagen Bücher herum, stapelweise Papier. Sie räumte einen Sessel frei. Mit einem Bordeaux kam sie aus der Küche zurück, setzte sich auf ihr Sofa, neben einen Bücherturm: Ich bin ein Nachtmensch, mein Mann haßte das. Er steht ja früh auf. Als die Jungs klein waren, habe ich das auch geschafft. Jetzt muß ich mich zu nichts zwingen, oder? Man bleibt sowieso ein Nachtmensch, selbst wenn man sich zwingt, murmelte ich, um etwas zu sagen. Sie lächelte: Ja, ja, ich höre Sie manchmal im Zimmer herumlaufen, ich schlafe ja genau unter Ihnen. Wollten nicht Ihr Mann und Ihre Söhne kommen? Habe ich Ihnen das erzählt? Nein, sie kommen nicht. Die Jungs dürfen ja nicht. Gerichtsbeschluß. Ich darf sie nicht mehr sehen. Mein Mann hat das durchgesetzt. Weil ich sozusagen trinke.
Sie strich ihr Haar zurecht, klang jetzt beinahe stolz: Stellen Sie sich das mal vor. Ich darf meine Jungs, meine Kinder, nicht sehen. Ich bin aber doch eine gute Mutter. Alkohol verschafft mir Klarheit, vorübergehend. Über einiges muß ich mir noch klarwerden, wissen Sie? Früher habe ich gemalt. Mit den Kindern ging es nicht mehr. Jetzt kann ich es nicht mehr. Keine Motive. Aber ich zeichne wieder. Wollen Sie mal sehen? Sie öffnete eine Schublade, kam mit dunklen, sorgfältig zugestrichelten Bögen zurück: Schrecklich, was? Sie lachte, wischte dann mit dem Handgelenk den Stapel zur Seite. Einen Schluck noch, Nachbarin? In einem Seitenblick erhaschte ich meine Uhr, Viertel nach drei. Sie goß mir ein: Rauchen Sie noch eine Zigarette! Deshalb sind Sie ja doch vier Treppen hinuntergelaufen. Sie gefallen Ihnen nicht, diese Zeichnungen, oder? Ich wollte den Stapel aufheben und ein Blatt in meine Richtung ziehen. Sie preßte beide Hände darauf: Bitte nicht! Vorsichtig stand ich auf, drückte die Zigarette aus. – Ich bin nicht soweit, etwas vorzuzeigen, verstehen Sie, Liebe? Im Flur war es dunkel. Als ich den Türgriff in der Hand fühlte, drehte ich mich um. Immer noch lagen ihre Hände auf dem Papier.
Am nächsten Morgen brach ich auf, mit Josch, im Schlafwagen, nach Rzeszów. Vielleicht gelänge sie mir unterwegs, die Rede auf meine Mutter. Leicht wie mit dem Pinsel auf Packpapier. Am Bahnhof stünde der Bambino. Die Schlüssel für mein Haus behielt ich fest in der Hand während der Nacht. Sie paßten noch, meine Schlüssel, das Licht funktionierte, die Klappbetten standen am gewohnten Platz. Josch hüpfte erleichtert von einem auf das andere, seufzte, rollte sich zusammen. Ich konnte noch lang nicht schlafen, wegen der Unruhe, meiner guten Bekannten seit dem Unfall. Kein
Wunder, hatte Jill einmal gesagt, es ist leichter, verlassen zu werden als zu entdecken, daß man nicht mehr liebt: Der Verlassene spricht mit seinem Schmerz. Ich weiß das. Jan kam abends nach Zalesie, den eingegipsten Arm in einer Schlinge. Ich wich seinem Blick aus. Als er es bemerkte, sagte er: Komm, Kleine, laß das. Wir setzten uns an den Tisch unter der Linde. Er erzählte mir von zwei Mädchen aus Ostberlin, die unbedingt mit ihm in die Mongolei wollten. Ganz verrückt seien die beiden auf diese Reise. Vielleicht weil sie aus dem Osten sind, überlegte er: Wir Ostmenschen interessieren uns mehr für unseren Osten als für den Westen. Leider brauchen wir den Westen. Sie hätten ihm schon Bücher über die Mongolei geschickt. Gute Mädchen beide. Hart genug, aber mit Herz: Ruf sie mal an, sie werden dir gefallen. Sie haben bei dir gewohnt, hier in deinem Haus, wenn du erlaubst. Warum lächelst du? fragte ich. Du bist so stoisch geworden, Liebling, das finde ich lustig, früher warst du anders. Was wird mit deinem Arm, Jan? Er müsse genagelt werden, in Kattowitz, seine Rzeszówer Ärzte trauten sich das nicht, der Bruch sei zu kompliziert. Drei Tage später schloß ich die Fensterläden mit dem Riegel, drehte den Schlüssel in der Holztür zweimal. Wie verabredet. Drüben, bei den Nachbarn, setzte sich etwas in Bewegung. Ein straff gebundenes Kopftuch, ein roter Pullover und ein grauer Rock schoben sich an den jungen Weidensträuchern vorbei energisch in meine Richtung. Drei springende Hunde voran. Fahren Sie schon? Ich muß. Oh, schade, klagte Jolante, schlug die Hände an ihre runden Backen, ich habe noch Milch oben für Sie. Vergnügt fuchtelte sie mit den Händen: Tadeusz verlegt alle Schlüssel, er verwechselt Vasen und Töpfe, entsetzlich. Und dazu noch meine Schmerzen! Sie zupfte ihre drei Unterhemden aus dem Rock, wies mit ihrem zerschlissenen Zeigefinger auf die Stellen, wo die
verschiedenen Schmerzen saßen. Dann breitete sie die Arme aus, drückte mich an ihre dicke Brust: Kommen Sie bald wieder, Pani. Josch hüpfte in den Bambino. Der rote Pullover winkte immer noch, als ich zum letzten Mal zurücksah. Den Bambino parkte ich vor dem Rzeszówer Bahnhof an der verabredeten Stelle. Es gab kein sonnenbeschienenes Fleckchen dort, das ich noch nicht kannte. Unzählige Male hatte ich auf der kleinen Bank gesessen, von der die Farbe inzwischen ganz abgesplittert war: glücklich, wütend, mit einer geschwollenen Lippe, verzweifelt. Er kam aus der anderen Richtung. In seinem hellblauen Anorak. Kein Engländer oder Franzose trägt dieses Blau, wahrscheinlich geht es irgendwo zwischen Rzeszów und der Mongolei verloren. Seine Hand hinter dem Rücken versteckte die Rose. Mein Zug stand schon da, geduldig, aber man weiß es nie genau, ob polnische Züge es eilig haben oder ob sie noch bleiben wollen. Komm bald zurück, du brauchst den Osten, Liebling. Hinter uns ging der Schaffner vorbei. Jan drehte sich um, sie besprachen etwas, der Mann nickte. Ich stieg ein, Josch kletterte vor mir die Stufen hoch. Das Abteil war leer. Jan nahm seine Mütze ab. Mit der gesunden Hand strich er sich über den kahlen Kopf: Viel Glück, Kleine. Bei uns können sie etwas für deinen Arm tun, Jan, sagte ich beklommen. Komm nach Berlin. Ich habe einen guten Arzt dort, einen Orthopäden. Und laß bitte die beiden Hengste legen, es passiert sonst ein Unglück. Unglücke kommen, wenn sie Lust dazu haben, Liebling. Der Zug bewegte sich schon. Du weinst ja, Kleine, schön, ich dachte, das würde ich nie mehr sehen. Kaffee oder Tee? fragte der Schaffner in akzentfreiem Deutsch. Jan hatte wieder für alles gesorgt. Ich legte die Rose in meine Tasche. Gleich könnte ich beginnen, die Rede auf meine Mutter zu schreiben. Der Schaffner öffnete noch einmal die Tür: Darf ich Sie etwas fragen, Pani? Sie können ein
bißchen Polnisch, warum fahren Sie nach Polen? Weil ich das Land liebe. Was genau lieben Sie? Die Steinpilze, die Erdbeeren, die noch nach Erdbeeren schmecken. Daß es keine Zäune gibt. Der Mann hatte ein klares Gesicht, nicht vom Wodka zerstört. Sein Profil, die gewellten blonden Haare erinnerten mich an einen polnischen Schauspieler: Kennen Sie den Schauspieler… Olbrowski, unterbrach er mich lächelnd, nach Deutschland gegangen, vor sieben Jahren. Ich weiß, daß ich ihm ähnlich sehe. Er hat hier viel Theater gespielt. Er bemerkte meinen fragenden Blick: Ich war Theaterkritiker einer Zeitung, die nicht mehr gedruckt wird. Polen ist kaputt, Pani, keine Elite mehr, nur noch Säufer. Wer soll denn hier Kritiken lesen? Er zuckte mit den Schultern, winkte mir zu, schloß die Tür. Im Morgengrauen zog ich den frierenden Josch zur S-Bahn, Richtung Wilmersdorf. Gegenüber von einem jungen Paar mit Rucksäcken war ein Platz frei. Die Reise der beiden, von einer Jugendherberge zur nächsten in Schleswig-Holstein, so hörte ich, näherte sich ihrem Ende. Josch spielte wieder das Spiel: Ich hab’s bei ihr nicht gut. Diesmal wählte er den jungen Mann, legte sich zu seinen Füßen, die Schnauze zart auf den linken Schuh gedrückt. Ich ruckte vorsichtig an der Leine: Nun komm. Josch verkroch sich angstvoll hinter den Beinen des neuen Freunds. Das Mädchen schaute mich skeptisch an. Tierquälerei? Ich ließ das Zerren. Josch schlang seine Vorderbeine sanft um die Füße des Erwählten: Endlich habe ich sie gefunden, die Füße, die mein Zuhause sind! Der Junge lächelte mich an, obwohl der Hund ihn jetzt nicht interessierte, beugte sich etwas vor, legte seine Hand auf das Knie des Mädchens, wollte wohl einen Vorschlag machen. Hör mal, sagte seine Reisegefährtin scharf, du weißt doch, ich mag es nicht, wenn du mich am Knie anfaßt und dabei so tust, als sei das ganz zufällig. Das sind Annäherungsversuche! Der Junge
schwieg. Weißt du, wo ich leben möchte? fragte das Mädchen überraschend vergnügt: in Hannover, dort ist es schön. Kurz vor unserer Station sprang Josch auf, als sei nichts gewesen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Jill: Bin schon zum Helfen voraus gefahren. Komm bitte pünktlich. Geburtstag! Die Obotritin ist mit Nervenzusammenbruch in der Klinik. Genaueres in Kiel. Als wir eintrafen, Josch und ich, saßen die etwa dreißig Festgäste schon an der kerzenbeflackerten Tafel. Philip und Milena fehlten. Sie hatten in einem Brief mitgeteilt, erzählte Mami mir später, daß sie weiteren Kontakt zu Luise und ihr nicht wünschten. Sie seien aus der Familie emigriert. Mami überschaute von oben die Tafel, an ihre rechte Seite hatte sie ihre engste Freundin gesetzt, etwas weiter links ihren Freund Lucius, den Vater meiner Freundin Alexandra, schräg gegenüber Friedrich plaziert. Und gleich links neben meiner Mutter saß doch wirklich mein Vater. Jedenfalls dachte ich das auf den ersten Blick. Jill zwinkerte mir zu. Auch sie hatte es im ersten Moment geglaubt, der Mann, ein neuer Freund unserer Mutter, Komponist zeitgenössischer Opern, sah Pappi ein bißchen ähnlich. Pappi saß ein paar Stühle weiter, neben Luise. Am anderen Ende des Tischs war mein Platz, gegenüber der zweitbesten Freundin meiner Mutter, einer Kindertherapeutin. Als erster, gleich nach der Parmaschinken-Melone, sprach Friedrich. Er hatte sich für heute abend von seiner Lesereise beurlauben lassen. Sein neues Buch, eine kiloschwere ThomasMann-Biographie, lag schon auf Mamis Nachttisch. Über Güte und Schönheit sprach er, die sich in meiner Mutter auf eine verblüffende Weise vereinten, sich sogar in ihrem Wesen als höchst verträglich erwiesen, Agape und Eros, diese doch meist zankenden Schwestern der Liebe. Deshalb werde ihre Freundschaft, auch die erotische – er warf meiner Mutter einen freundlichen Blick zu in diesem Moment –, bis zum Ende ihrer
Tage andauern. Das war ja eine Heiligsprechung! jubelte Lucius in den Applaus hinein. Nach den Spaghetti mit Lachs erhob er sich, redete vom dem, was nach der Liebe kommt, der Nachbarschaft der Liebe, die, wenn man sich bemühe, sehr stabil sein könne, viel hartnäckiger als jene aufgeregte Liebe, die einen glauben mache, man werde nicht weiterleben können ohne sie. Dabei sei diese nervöse Liebe oft schneller vergessen, als man es für möglich halte. Zwischen ihm und der Jubilarin aber gebe es dieses Seltsame, das ihn nicht vorbeifahren lasse an ihrem Haus, dieses Immer-dorthaltmachen-Müssen. Bist du aufgeregt? fragte die Therapeutin. Nein, log ich. Luise war schon aufgestanden, mit beiden Händen hielt sie sich an der Tischkante fest, stand kerzengerade da, erzählte, wie ihre Tochter ihre Hand ergriffen habe, als die beiden Männer in den feldgrauen Uniformen den Brief brachten. Das Kind habe ja nicht verstanden, was in diesem Brief stand, mit seinen fünf Jahren. Die Bedeutung der Worte Euer Vater ist gefallen gar nicht begriffen. Dann soll er doch wieder aufstehen, habe die Kleine gleich gerufen. Sie habe die Mutter jedoch von diesem Moment an nicht mehr aus den Augen gelassen, sei immer in ihrer Nähe geblieben. Vielleicht komme ich um eine Rede herum, hoffte ich. Aber Pappi hatte schon diesen Gesichtsausdruck, den ich von den Ponyreitturnieren noch kannte. Diesen erfolgfordernden Gleich-bist-du-dranBlick. Weiterer Aufschub schien unmöglich: Mit dem Dessertlöffel klingelte ich gegen mein Glas, um es in dieser Runde auszusprechen, was die Liebe unserer Mutter für uns Töchter bedeutet. Ich sah Mami mit dem Kinderwagen neben Wippe und Schaukel im Kieler Stadtwald, sah meine kleine Schwester auf Sammy die Treppe hinaufreiten, Pappi in Polen die Truppe anführen, Mamis feierlichen Ernst, als sie Tadeusz Wein einschenkte, sah, wie sie Jill bei der Eröffnung der
Buchhandlung ein kleines Couvert ins orangerote Jackett steckte, mit einem umgebauten Schmuckstück darin. Und die Bilder legten sich übereinander. Wie wenn ein Orchester denselben Ton spielt. Derselbe Ton, von verschiedenen Instrumenten erzeugt. Einigkeit im Bruchteil einer Sekunde. Als die Aufregung schwand, wurde mir bewußt, daß ich es war, die da gesprochen hatte. Und ich mußte lachen. Nicht so verzweifelt wie meine Freundin Alex damals. Dieser Abend würde ohne Katastrophe enden. Ich ging um den Tisch herum zu meiner Mutter, küßte sie. Ein gelungenes Fest. Pappi war zufrieden: Gute Reden insgesamt, alle Aspekte bedacht. Auch meine Rede bewegend, am Vortrag müsse ich noch ein wenig arbeiten, das Stottern sei nicht nötig. Aber witzig das mit der Schadenfreude über das Rentierfell. Wenn sich Mami bereit erklärte, ihn später zu pflegen, schloß er, würde er ihr den Unterhalt weiterzahlen bis zum Ende seiner Tage. Seine Kanzlei werde dies wohl kaum ermöglichen, aber das Wäschegeschäft, wenn erst der Umbau geschafft sei, sicherlich. Mir fiel einer seiner Lieblingssätze ein: Die Hoffnung ist der Tod, Pappi. Er lächelte: Is’n Wort. Schließlich nahm er seinen Mantel, streifte sich das Gummiband wieder über die Haare, das er Mami zuliebe während des Fests abgenommen hatte, verabschiedete sich artig von Luise und bedankte sich mit weiß gebänzeltem Efeu bei seiner Geburtstagsfrau. Einverstanden mit der Welt spazierte er zurück in seine Stadtvilla, ohne die gestutzten Taxushecken seiner Nachbarn eines Blickes zu würdigen. Gleich würde er hinter seiner Ligusterhecke verschwinden, den hochaufgeschossenen Zweigen meiner Kindheit. Liebe oder Geld, summte ein zartes meschuggenes Stimmchen in meinem schweren Kopf, sind die einzigen Währungen, die zählen auf dieser besten aller Welten. Entweder du gibst das eine oder das andere. Morgen sollte ich
lieber mal wieder was tun. Mami kam aus der Küche: Hör mal, du redest ganz wirr vor dich hin, du hast ein wahnsinniges Schlafdefizit, übrigens auch zuviel getrunken, das habe ich genau gesehen, schlaf mal lieber hier heute nacht. Wenn du jetzt mit Josch die letzte Runde gehst, murmelte ich. Eigentlich wollte ich sie in den Arm nehmen, ihr sagen, daß das Fest schön war, aber ich brachte aus irgendeinem Grund nur dieses schroffe Gebrumm zustande. Ich komme mit, Mami, rief Jill aus der Küche, ich muß bloß noch gerade Matthias anrufen. Mami setzte sich zu mir. Hast du eine Ahnung, was die sich jeden Abend mit ihrem Stadtplaner zu erzählen hat? fragte ich sie. Nein, antwortete sie lächelnd, aber störe sie mal nicht. Während die beiden mit Josch fort waren, schlürfte ich die restlichen Rotweinpfützen und dachte an Jan. Vielleicht lag es hinter uns, das Schreckliche. Beim letzten Glas meldete sich das meschuggene Stimmchen zurück: Geh deiner Wege und laß deine Schwester in Ruhe, befahl es. Aber ohne sie werde ich vereinsamen! Wirst du nicht! Sie möchte kein Hutzelweib werden, das vor dir Pralinen versteckt. Sie will mit ihrem Liebsten ausprobieren, ob es gelingt, eine Weile glücklich zu sein. Es wird nicht gelingen! Sicher ist das nicht, das Stimmchen klang zornig, sie wird dich vermissen, das steht fest. Und ich? Werden wir sehen. Diese Bemerkung ist keine Kunst, wollte ich protestieren und dem Stimmchen noch etwas vordozieren, aber im selben Moment hörte ich sie. Joschs Pfoten klickerten auf dem Parkett. Jill steckte den Kopf durch die Tür: Der Zuständige sucht dich. In Ordnung. Ein Satz, den ich einmal irgendwo gelesen hatte, leuchtete in meinem weinschwappenden Kopf: Wie es ist, ist es gut.