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Kleists «Geschichte meiner Seele»
Meiner Mutter
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roman bösch
Kleists «Geschichte meiner Seele»
Meiner Mutter
Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten © Verlag Josef Knecht in der Verlag Karl Alber GmbH, Freiburg 2007 www.knecht-verlag.de Herstellung: fgb · freiburger graphische betriebe 2007 www.fgb.de Gesamtgestaltung und Konzeption: Weiß-Freiburg GmbH – Graphik & Buchgestaltung Vorsatz: Bernadette Trost Nachsatz: Bernadette Trost ISBN: 978-3-7820-3011-3
Vorwort des Herausgebers I. Es soll, wie mir Else von Moltke (1885–1964) glaubhaft versicherte, im schicksalsschwangeren Jahre 1871 geschehen sein, dem Jahr der deutschen Reichsgründung, als ihr Vater, Helmuth Moltke der Jüngere (1848–1916), im norddeutschen Raum bei einem Nachfahren Johann Jakob Otto August Rühle von Liliensterns (1780– 1847), eines guten Freundes des Dichters Heinrich von Kleist, auf dessen Dachboden eine alte, verrottete Kiste auffand, welche Papiere des Schriftstellers enthielt. Dieser innige Jugendfreund Helmuths überließ ihm das literaturgeschichtliche Kleinod nach Absprache mit seinem Vater, da beide, Vater und Sohn, nach Durchsicht der Papiere keinen persönlichen Wert darin finden konnten. Der Inhalt des Behältnisses, wie Helmuth Moltke, ein hochgebildeter junger Mann, sehr rasch erkannte, ist als nichts weniger denn als sensationell zu bezeichnen. Den Namen dieses Jugendfreundes mochte mir Else nicht nennen, er sei ihr entfallen. Ich halte es durchaus für möglich, daß sie mir den Namen bewußt nicht nennen wollte, was mit der Verunglimpfung ihres Vaters nach der berühmten Katastrophe an der Marne vom September 1914 in Verbindung stehen dürfte. Nachdem er bei Kaiser und Volk in Ungnade geraten war, fielen manche falschen Freunde sowie heimliche und offene Feinde gnaden- und rücksichtslos über ihn her. Ich vermute, daß dieser ehemalige Freund dazugehörte. Jedenfalls reagierte Else immer reichlich barsch, sobald ich mehr über die Anfänge dieser Geschichte in Erfahrung bringen wollte. Ich ließ es auf sich beruhen, denn mit Else, die eine Generation älter war als ich, verband mich eine lange und tiefe Freundschaft. Helmuth von Moltke d. J. war überaus beflissen und ging in seinem Beruf als Militär voll auf, so daß er keine Zeit fand, sich um die Papiere ernstlich zu kümmern – schließlich kam die Reichsgrün-
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dung, der Aufbau des Reiches unter Bismarck und zuletzt der Erste Weltkrieg dazwischen. Kurz, der Schatz brütete ungenutzt vor sich hin. In einem Testament vermachte er ihn seiner Lieblingstochter Else: Sie möge nach Gutdünken damit verfahren. (Er wußte wohl, wie verantwortungsbewußt sie war – das hatte sie von ihm geerbt –, deswegen übergab er ihr die Blätter in gutem Gewissen, sie in die richtigen Hände gegeben zu haben.) Nach intensiver Beschäftigung mit den Papieren wurde ihr erst bewußt, von welch weitreichendem geschichtlichem Wert die in der Truhe vorgefundenen schriftlichen Aufzeichnungen sind. Es verstehe sich daher von selbst, wie sie sich mir gegenüber verbindlich äußerte, daß sie diese für die Wissenschaft wichtigen Dokumente zu einem späteren Zeitpunkt mit Stolz und Freude der breiten Öffentlichkeit übergeben werde. Doch da sich der Termin aus den verschiedensten Gründen immer wieder hinauszögerte, setzte sie mich ihrerseits 1962 testamentarisch als Erben der Kleist-Dokumente ein, doch sie knüpfte daran zwei Bedingungen: Erstens, daß ich bei Veröffentlichung der Papiere in einem gemessenen Vorwort einige Sätze zum Andenken ihres Vaters und der ganzen Familie anführe; denn ohne die Moltkes – welche die Dokumente nicht nur über die Kriege hinweg retteten, sondern sie auch sorgsam verwahrten – wäre an die Hebung dieses literaturhistorischen Schatzes nicht zu denken gewesen. Die zweite Bedingung mutet dagegen ein wenig eigentümlich an: Else verfügte, daß die Dokumente erst dann veröffentlicht werden dürften, wenn sich Deutschland wiedervereinigt hätte! (Sie erlebte noch den Mauerbau 1961 mit und war darüber todunglücklich.) Nun, ich gestehe, zunächst war ich darüber nicht gerade sonderlich erbaut: Schätzte ich doch die Lage so ein, daß die Mauer nicht vor den nächsten hundert oder zweihundert Jahren fallen würde. Mir war etwas höchst Wertvolles übergeben, das ich nicht verwenden durfte. Doch ich irrte mich glücklicherweise – und Else, die der festen Überzeugung war, daß ich die Vereinigung Deutschlands noch erleben würde, hatte recht. Als der Tag des Mauerfalls im November 1989 kam, machte ich mich, inzwischen auch schon lange emeritiert, sofort daran, die längst vorbereiteten Dokumente zu veröffentlichen.
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II. Am 20. November 1811 übernachteten Henriette Vogel und Heinrich von Kleist im «Neuen Krug» der Familie Stimming, der, auf der Straße nach Potsdam gelegen, sich ganz in der Nähe des Großen und Kleinen Wannsees befand. Es ist von fast schon zynischem Interesse, hier ausdrücklich zu vermerken, daß wir über keinen einzelnen Tag im Leben des Dichters so genau unterrichtet sind über diesen letzten. Dies ist der deutschen Akkuratesse zu verdanken, mit welcher die polizeilichen Protokolle erstellt und die – kaum zwei Tage später – in der bekannten Beamtengründlichkeit verfertigt wurden. Alles wurde von Kleist in kühler Wohlkalkuliertheit geplant und ausgeführt; desgleichen fehlt es aber keinesfalls an den Elementen des Irrationalen, Weltenthobenen, Andersartigen, welche sich in eigentümlicher Manier in das Bewußtsein des gewollten Unterganges mischen und diesem somit eine durchweg fremdartig-schaurige Note verleihen. Kurz: die ganze absurde Situation der hintergründigen Tat hat – bis heute – die Menschen, die sich damit befassen, wo nicht entsetzt, so doch in ein mit höchstem Befremden gemischtes Erstaunen versetzt. In der sandigen Fichtenlandschaft am Kleinen Wannsee, rund eine Meile von Potsdam entfernt, befindet sich die Klein-Machnower Heide. Von einem kleinen Hang dort, nahe der Berliner Chaussee, kann man die idyllische Seenlandschaft bewundern. Genau dort setzten sich – an einem nebligen 21. November, gegen vier Uhr nachmittags – die festlich Bekleideten in eine kleine Erdvertiefung, offenbar von einem ausgerodeten Baumstrunk herrührend, einander gegenüber. Kleist, in seinem 35. Lebensjahre stehend, tötete die Rendantin Henriette Vogel, welche an Gebärmutterkrebs litt, mit einem gezielten Schuß mitten durchs Herz; darauf setzte er sich eine zweite, kleinere Waffe an den Mund und durchschoß sich den Rachen – ein Selbstmord und eine Tötung auf Verlangen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn es im Arztbericht heißt, daß beim Eröffnen des Schädels Kleists die Kopfsäge zerbrochen und die Hirnsubstanz «viel fester als gewöhnlich» gewesen
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sei. So mag seine Dickschädeligkeit endlich auch wissenschaftlich erwiesen sein, den Ärzten sei Dank. Abschließend faßt der Bericht des Kreisphysikus Dr. Sternemann und des Chirurgus forensis Greif vom 11. Dezember 1811 betreffend Kleist zusammen: «Nach diesen Anzeigen finden wir uns veranlaßt, gestützt auf Physyologischen Principia zu folgern, daß Denatus dem Temperamente nach ein Sanguino cholericus in Summo gradu gewesen, und gewiß harte hypochondrische Anfälle oft habe dulden müssen, wie einige Herrn Dienst-Cameraden mir den Physicus selbst, solches versichert haben. Wenn sich nun zu diesem excentrischen Gemüthszustand eine gemeinschaftliche Religionsschwärmerey gesellte, so läßt sich hieraus auf einen kranken Gemüthszustand des Denati von Kleist mit Recht schließen.» Was sagt man dazu? – Das Leben schreibt mitunter gerne seine hauseigenen Komödien und Tragödien! Dieser doppelte Freitod rief große Wellen im gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit hervor, hauptsächlich in Preußen, aber auch außerhalb davon. König Friedrich Wilhelm III. fürchtete sich vor dessen Auswirkungen als eines Anschlages auf die Religiosität und Sittlichkeit im Volke (!), und er ließ unmittelbar danach die Pressezensur erneut verschärfen. Wie es in solchen und ähnlichen Fällen gang und gäbe ist, füllte die Klatsch- und Tratschsucht den vorgefundenen leeren Raum. Manche nahmen diese Sensation begierig als ein Leuchtfeuer des Gegenwärtigen auf, andere betonten die Eigenwilligkeit des frühvollendeten Genies oder das Tragische seines Lebens und Wirkens. Doch nicht nur der Charakter des Dichters blieb vielen rätselhaft, auch die völlig unbefriedigende, unvollständige sowie unklare Quellen- und Überlieferungslage sorgte im Laufe der Zeit dafür, daß den Spekulationen Tür und Tor geöffnet wurde! Kleist selbst hat zu der dürftigen Quellenlage entscheidend beigetragen, denn vor seiner Selbsttötung vernichtete er an mehreren Abenden all seine Manuskripte, unvollendeten Arbeiten, Korrespondenzen, Tagebücher: Alles, was ihm zwischen die Finger kam, übergab er dem Feuer. Dadurch, daß nach so langer Zeit – entgegen allem Hoffen und Glauben – die in diesem Werk beigebrachten und
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von mir nach bestem Wissen zusammengestellten Auszüge und Fragmente seines geplanten autobiographischen Romans gleichwohl aufgefunden wurden, werden neueste, noch nicht bekannte Fakten aufgedeckt, und es werden charakteristische Merkmale von einer Seite beleuchtet, welche bislang völlig im Dunkeln lag. Mit den mir von Else von Moltke übergebenen Aufzeichnungen der als verschollen gegoltenen Geschichte meiner Seele wird die uns bisher bekannte Biographie Kleists zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ergänzt und abgerundet.
III. Der wertvolle Fund wird mittlerweile von den entsprechenden Institutionen, dem Bildarchiv und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sowie zum Teil im Kleist-Archiv in Frankfurt/Oder, verwahrt und mit den neuesten technischen Verfahren aufbereitet (sind die Papiere doch während all der Zeit so ziemlich in Mitleidenschaft geraten). – Ich gebe in dieser Ausgabe eine leicht überarbeitete Fassung der Handschriften wieder: Kleists Syntax, Interpunktion und Wortwahl habe ich in ihren Eigenheiten belassen. Dem Anhang habe ich ein ausführliches Glossar beigefügt, dem heutige Leser die Bedeutung von Wörtern entnehmen mögen, die heute nicht mehr oder nur noch selten gebraucht werden. Allein was die Orthographie betrifft, schlug ich einen Mittelweg ein, um den Lesefluß nicht unnötig zu behindern oder gar zu unterbrechen. – Diese Vorgehensweise mag mir nachgesehen werden: Dem Puristen als auch dem exakt-wissenschaftlichen Geiste werden die entsprechend aufbereiteten Original-Dokumente bei den jeweiligen Institutionen zur Verfügung stehen, so daß niemandem ein Nachteil widerfährt. Es war mit einem erheblichen Aufwand verbunden, die Dokumente zunächst überhaupt einmal chronologisch zusammenzustellen, zumal Kleist vielerlei Änderungen vornahm und diese Autobiographie in der Weise loser Blätter, zum Teil auch in Briefform, Heften
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und vielfach undatiert, quasi organisch, entwickelte: Offenbar blieb sie – wie vieles bei ihm – ein, wenngleich fortgediehenes, Fragment, entstanden ungefähr im Zeitraum der letzten zwölf Jahre seines verwickelten Lebens! Ich habe mir erlaubt, die verschiedenen Fragmente, Aufsätze, Briefe in neun Kapiteln einzurichten. Die Überschriften stammen also von mir und haben einzig zum Zweck, das kleine Werk bis zu einem gewissen Grade zu gliedern: I. Kapitel – Kindheit und frühe Jugend / II. Kapitel – Militärzeit / III. Kapitel – Studienzeit / IV. Kapitel – Würzburger Reise und Kantkrise / V. Kapitel – Lebensrettende Reisen und dichterische Anfänge / VI. Kapitel – Berlin – Königsberg und französische Gefangenschaft / VII. Kapitel – Große Zeit in Dresden / VIII. Kapitel – Letzte Lebensjahre – Österreich und Berlin / IX. Kapitel – Das Ende am Kleinen Wannsee. Wann genau Kleist diese Texte, welche, anders als die Briefe, undatiert sind, zu Papier gebracht hat, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit ausmitteln (vielleicht werden uns die naturwissenschaftlichen und graphologischen Untersuchungen künftig näheren Aufschluß geben können). Zudem weisen die Schriften mehrfache Ausstreichungen und Verbesserungen auf, was zur Arbeitsweise Kleists gehörte. Es dürfte davon auszugehen sein, daß – vermutlich bis zu seinem alles vernichtenden Besuch im Oktober 1811 bei seiner Familie in Frankfurt/Oder – der definitive Schlußpunkt zeitlich zunächst nicht festgesetzt war, obgleich der Dichter ab einem bestimmten Datum zumindest den festen Willen faßte, sich irgendwann das Leben zu nehmen. Als aber der Termin unverrückbar feststand, hat er rückwirkend offensichtlich einige weitere, zusätzliche Änderungen bzw. Ergänzungen und Überarbeitungen vorgenommen. Nur – warum diese Überarbeitungen und Aufzeichnungen in größeren oder kleineren Fragmenten vor seinem festgesetzten Suizid, zumal Kleist ja alle möglichen verfügbaren Unterlagen kurz vor seinem Ableben vernichtet hat? Vielleicht war es ein spontaner, sogar übereilter Entschluß in Verbindung mit einem durchaus berechnenden Charakterzug (wofür auch eine oder zwei Äußerungen innerhalb der hier vorgelegten Blätter sprechen). Beispielswei-
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se wäre zu fragen, ob Kleist gezielt nur ausgewählte Dokumente verbrannt hat oder einfach alles, was ihm gerade unter die Hände geriet und sich in unmittelbarer Reichweite befand. Und wem ist es überhaupt zu verdanken, daß das Material in derart konzentrierter Form gerettet wurde? Kann es sein, daß es im Laufe der Zeit zusammengetragen wurde; oder fand es sich bereits von Anfang an so in der Kiste vor? Nun, jedenfalls eines vermag nicht zu erstaunen (vor allem, wenn Sie, geneigter Leser, diese Geschichte meiner Seele in sich aufgenommen haben) – nämlich die mehr oder weniger scheinbare (!) Widersprüchlichkeit an sich. Kleists Vorgehensweise wird niemanden überraschen, der in seine Seele, soweit es jedem möglich ist, geblickt hat. Das ganze Verhalten ist in sich stimmig und entspricht der bekannten Eigensinnigkeit Kleists. Denn von solchen Unwägbarkeiten lebt doch die Geschichte der Menschheit, weil sie zu denken geben, weil sie anregen: und das war immer eine der Zielsetzungen Kleists. Er war in der Tat ein Anreger und ein Zu-denken-Gebender! Nichts langweiliger, als wenn alles platt, durchsichtig und klar, kurz: eindimensional auf der Hand liegt. Der Leser der anschaulich vorliegenden handschriftlichen Zeugnisse sieht direkt, was geändert und ausgestrichen worden ist. Einzig der Charakterwechsel in der graphologischen Schriftführung hebt Änderungen sowie Textstellen nach dem definitiven Entschluß, sich zu einem festgesetzten Zeitpunkt das Leben zu nehmen, im Verhältnis zum übrigen Schriftbild (mit seinen entsprechenden Überarbeitungen) ein wenig ab, was allerdings nur der Fachmann mit einiger Sicherheit auseinanderhalten dürfte. – Sie jedoch, die Sie zu Ihrem Genusse die bereinigten Seiten in Buchform vorliegen haben, müssen sich nicht über diese chronologische Abfolge der Niederschrift den Kopf zerbrechen. Diese Sachfrage bleibt ohnehin einzig für die Forschung von einigem Interesse. Für diese kann es – da sie ja nunmehr die freigegebenen Dokumente vorliegen hat – künftig aufschlußreich sein, die genauen zeitlichen Abläufe (vermittels aufwendiger naturwissenschaftlicher Analysen und Verfahren) aufzuschlüsseln, falls dies überhaupt möglich ist. Günstigenfalls können damit sowieso bloß einige historische Bezüge hergestellt werden, die für uns nur mäßig interessant sind, da
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sie rein äußerliche Dinge betreffen, nicht aber an die Seelen- und Geistesverfassung des Autors rühren. Ferner gilt es zu beachten: Ein Teil der Fragmente wurde offenbar bereits gegen Ende 1800 Rühle in mehreren Briefen übersandt. Sie scheinen entweder verlorengegangen zu sein – zumal Kleist sich in einem Brief vom 3. Juni 1801 diesbezüglich nebenbei an seine Braut Wilhelmine wendet und sie bittet, ihr Bruder Carl möge sich doch an Rühle wenden und nachfragen, ob er denn gar keine Briefe erhalten habe –, oder diese Teile sind von Kleist zu einem späteren Zeitpunkt wiederhergestellt worden. Ob die ursprünglichen Briefstücke oder späterhin ergänzte sich in der Kiste befinden, wissen wir nicht. Es ist überdies nicht auszuschließen, daß gewisse Tilgungen von zweiter Hand geschehen sind, womöglich durch Marie von Kleist. Interessanterweise wurden unter den Papieren noch zwei Dokumente gefunden, die nicht von Heinrich von Kleist selbst stammen, nämlich die Briefe seiner Halbschwester Ulrike. Der erste enthält eine Antwort auf das Schreiben Kleists vom 23. Februar 1801 in Kapitel IV. – Der zweite, Ende Kapitel IX, enthält eine Entschuldigung auf die gegen Kleist gerichteten Schmähreden nach seinem letzten, vernichtenden Besuch bei der Familie in Frankfurt an der Oder. Dieser Brief erreichte Kleist entweder nicht mehr rechtzeitig, oder aber er wurde von ihm nicht gelesen: Denn das Schreiben mußte erbrochen werden – es trug noch das unverletzte Siegel! Ob Kleist allerdings, wenn er diesen Brief gelesen hätte, von seinen Selbstmordabsichten Abstand hätte nehmen können oder wollen, bleibt zu bezweifeln: Zu tief waren seine Verletzungen, zu wund seine Seele.
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IV. Doch bevor ich die Papiere in dieser Ausgabe der Öffentlichkeit in die Hand gebe, will und darf ich mein Wort einlösen, das ich seinerzeit Else von Moltke gab. Ich tue es in Liebe zu diesem und in Anerkennung dieses großen Geschlechtes sowie in tiefer Zuneigung zu meiner immerwährenden Freundin Else! Sie war es im übrigen, die mein Interesse an Kleist erst anfachte – und darüber hinaus habe ich ihr noch weit mehr zu verdanken. Doch das gehört nicht hierhin … Else von Moltke kommt als drittes Kind und zweite Tochter 1885 in Kreisau (Schlesien) zur Welt. Zwei Jahre später wird das vierte und letzte Kind von Eliza und Helmuth Moltke d. J. geboren: Es ist ein weiterer Sohn. Das Geschlecht der Moltkes entstammt dem mecklenburgischen Uradel. Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke (1800–1891) – auch genannt der Ältere – war als «großer Schweiger» glorreich in die Geschichte eingegangen: Die Schlacht von Königgrätz im Jahre 1866 machte den Namen Moltkes in ganz Europa bekannt. Der dort errungene überwältigende Sieg war allein sein Verdienst: Er ließ seine Armee mit modernen Zündnadelgewehren ausstatten, während die Österreicher mit den deutlich weniger effi zienten Hinterladern kämpfen mußten. Ebenso Außerordentliches in Sachen Taktik und Strategie leistete er bereits im dänisch/deutsch-österreichischen Krieg von 1864 sowie im deutsch/französischen während des schicksalsträchtigen Jahres 1870/71. Nebenher war er ein höchst bedeutender Militärschriftsteller, von dem auch bekannt ist, daß er Mozart schätzte, ungewöhnlich belesen war und ein ausgesprochenes Zeichentalent besaß. Sein Leitsatz ist bezeichnend und machte sein ganzes Wesen aus: «Mehr sein als scheinen.» In seinem Alterswerk kam er zu der Einsicht, daß jeder Krieg, auch der siegreiche, stets ein großes Unglück sei. Erst mit 88 Jahren (!) trat Moltke in den Ruhestand. Dem Kinderlosen war der Sohn seines Bruders Adolf,
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Helmuth d. J., innigst ans Herz gewachsen und seit 1882 als Adjutant zugeteilt worden. Helmuth von Moltke der Jüngere wurde im Revolutionsjahr 1848 geboren. Nachdem er zunächst mit dem Gedanken gespielt hatte, Kaufmann oder gar Seemann zu werden, verschlug es den mittellosen Adligen schließlich doch ins Militär. Mit gut 22 Jahren focht er an der Seite seines Onkels, welcher den Feldzug gegen Frankreich anführte, und erlebte dabei gleichsam seine körperlichseelische Feuertaufe, die ihn nicht unerheblich prägte. 1876 trat er in die preußische Garde ein, eine Eliteeinheit, womit er sich nun in unmittelbarer Tuchfühlung zum Kaiserhof befand. – Seine Braut Eliza, die er Ende der 1870er Jahre kennenlernte und acht Jahre später heiratete, fühlte sich aufgrund von eigenen Schicksalsschlägen (als junges Mädchen ging sie infolge einer Scharlachepidemie haarscharf am Tode vorbei und kam mit einer lebenslänglichen Schwerhörigkeit knapp davon) in späteren Jahren sehr zum Spiritismus hingezogen, welcher in jener Epoche eine Hochblüte erlebte. Natürlich konnte dem Ehemann und Militär an diesen Dingen nichts Sonderliches gelegen sein. – Als Generaloberst und seit 1906 Haupt des Generalstabs der Armee trat er 1914, nach dem Mißerfolg an der Marne, zurück. Else legte Wert auf die Feststellung, daß es ihr Vater gewesen sei, der ihr in einem Traumgesicht (!) eingegeben habe, die KleistDokumente erst nach der Wiedervereinigung zu veröffentlichen. Auf meine Frage, wann diese Eingebung geschehen sei, wollte sie mir nicht antworten. Was davon zu halten ist, mag jedem selber überlassen bleiben – ihre Intuition jedenfalls war zutreffend, und über die Verpackung streite ich mich schon gar nicht erst! Der Vater von Else war von stattlicher Statur: hochgewachsen, breitschultrig, massiv wirkend, mit äußerst gewinnenden, ja liebenswürdigen Umgangsformen sowie von einem ungemein weitgespannten, tiefen Geist beseelt; dabei von Charakter geradlinig, ernst, zuverlässig und treu, ausgestattet mit großem Realitäts- und Verantwortungssinn! In der Freizeit liebte er es, zu zeichnen und zu malen, und er dichtete sehr gerne. Oft wurde im trauten Familienkreise fröhlich musiziert – allerdings hat der Krieg von all dieser
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Beflissenheit nichts übriggelassen. – Später hat er sich das uneingeschränkte Vertrauen Kaiser Wilhelms II. gewonnen, der überzeugt war (und es als gutes Omen betrachtete!), daß es Deutschland zum Vorteil gereichen werde, erneut einen Moltke im Generalstab zu haben. Doch der Neffe des heroischen älteren Moltke fühlte sich kaum zum Feldherrn geboren und hegte Bedenken wegen seiner Berufung. Jedoch war es ihm stets bitterer Ernst mit der übernommenen großen Bürde seines Amtes – das liegt in der Familie. Bei Generalstabsreisen war ihm bezeichnenderweise Goethes Faust ein ständiger Begleiter, der ihm geistig, selbst in Kampfhandlungen, nie von der Seite wich. Eliza von Moltke, geboren 1859, war eine kluge und geistreiche Frau. Allerdings hatte sie sich einem gewissen Mystizismus verschrieben, der wohl auch auf Else abfärbte. Offen fürs Spirituelle und Okkulte, teilte sie das damals hoch im Kurs stehende Interesse adliger Kreise an Spiritismus und Medien; aber es war endlich ihre nüchterne Urteilskraft, welche einen Erkenntniszuwachs vermittels des Zugangs zur höheren Welt erstrebte, und nicht etwa ein schwärmerischer Zug, welcher sich bei vielen Zeitgenossen fand. – Die Ehegatten waren ein Leben lang aufs innigste miteinander verbunden, doch grundverschieden in ihrem Wesen, kurz – eine wunderbare Ergänzung in jeder Hinsicht. Helmuth von Moltke wurde getragen von der durchgeistigten Menschen- und Weltauffassung der Goethezeit, eine klassische innere Haltung war ihm eigen: unbestechliches Gewissen und tiefes Gerechtigkeitsempfinden! Obzwar er den esoterischen Neigungen seiner Frau skeptisch, ja ablehnend gegenüberstand, tolerierte er sie. Er wies ohnehin jegliche Autoritätsgläubigkeit (besonders diejenige der katholischen Kirche) streng von sich und legte ausgezeichneten Wert auf ein eigenständiges, sauberes Denken. Und über festgegründete eigene Meinungen, wenngleich sie ihm mitunter nicht in den Kram paßten, verfügte seine Eliza, deren starke, belastbare Persönlichkeit er immer sehr schätzte. Unmittelbar nach dem «Wunder an der Marne» – einem ungeheuren Debakel für die deutsche Armeeführung im ersten Drittel des Septembers 1914 (dabei ging der Bewegungskrieg in einen Stellungs-
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krieg über) – wurde Moltke durch einen Scherbengerichtsspruch seines Postens enthoben und zurückgestuft. Anfang November 1914 erfolgte die offizielle Absetzung: Moltke zog sich auf sein Jagdschloß im Taunus zurück und wurde, zur Untätigkeit verdammt, krank. Sein Sohn meinte mir gegenüber einmal, daß er regelrecht an seinem Vater habe mitverfolgen können, wie jemand gebrochenen Herzens gestorben sei. – Der glanzvolle Name der Moltkes war beschmutzt: Helmuth von Moltke wurde verfemt, verleumdet und von allen fallengelassen, was diesen gemütvollen Mann im Innersten traf. Es wurde viel Unwahres kolportiert, beispielsweise daß er für den Rückzugsbefehl verantwortlich gewesen sei. Doch diese Vorwürfe konnten ausgeräumt werden: Oberstleutnant Hentsch gab den Befehl zum Rückzug an die Armeen aus – ohne jegliche Ermächtigung durch Moltke (was die chaotischen Zustände im Generalstab nur allzu deutlich werden läßt). Bereits zu Beginn des Krieges wurden mehrere Fehler gemacht, die hier nicht näher betrachtet werden sollen, wobei die mit Abstand schwerwiegendsten Fehlleistungen vielleicht sogar vom Kaiser selbst begangen wurden. Aber man hatte den Sündenbock rasch gefunden – Moltke. Dieser war nicht zuletzt wegen seiner hohen Geistigkeit sowie seiner charakterlichen Eigenständigkeit bei vielen einfacher gestrickten Militärs ohnehin unbeliebt. Man wartete nur darauf, ihn bei Gelegenheit «abzuschießen». Nach der Absetzung krampfte sich sein verunglimpftes Herz in einer Starre zusammen. Ab 1914 pflegte er vermehrt den Umgang mit dem berühmten Anthroposophen Rudolf Steiner, der ihm in dieser schwierigen Phase seines Lebens ein echter Seelentröster wurde. Gleichwohl wurde Moltke nicht müde, immer wieder zu betonen (und es auch zu leben!), daß Pulverdampf und Kartätschenfeuer sein Lebenselixier, er also Soldat mit Leib und Seele sei! Und dennoch empfand er es nicht als Widerspruch, sich auch für die tiefen Wahrheiten des Lebens zu interessieren. Gegenüber gewissen Ansichten in Steiners Lehren blieb er zeitlebens kritisch eingestellt, aber vieles konnte er aus eigener, innerer Anschauung und Erfahrung befürworten. Gerade diese (öffentlich bekannte) Annäherung an ein für Soldaten fremdartiges Gedankengut brachte ihm vielerlei Mißgunst ein und wurde dazu benutzt, um ihn erst recht zu diskreditieren, wo es nur ging. Doch Moltke blieb immer
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fest und ruhig. Allerdings trug er in sich ein leicht verwundbares Gemüt – und einige fragten sich, ob diese vergeistigte Konstitution in Ernstfalle nicht einbrechen würde. Sie tat es nicht, doch der Todesstoß erfolgte längst von anderer, von kaiserlicher Seite. Das Wilhelminische Zeitalter empfand er – der klassisch und edelmütig Ausgerichtete – ohnehin längst als innerlich ausgehöhlt, unecht und geistig ohne Gehalt.
Moltke und seine Zeitgenossen hatten das Pech, durch das unerbittliche Schicksal in einen Krieg hineingeworfen zu werden, den niemand ernstlich wollte und der durch eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände – im Endeffekt basierend auf persönlicher Unzulänglichkeit der in politischen Sachfragen inkompetenten kaiserlichen und königlichen Häupter, welche die Verantwortung trugen – zum Ausbruch kam. Moltkes besondere Fähigkeit, sein Glück und Unglück, war es, daß er die weltgeschichtlichen Notwendigkeiten im Innern seines Wesens, in seinem Herzen nachzuvollziehen befähigt war. Hätte man diesem Mann der Verantwortung und des Gewissens anstelle dem unfähigen Erich von Falkenhayn die volle Handlungsvollmacht in der entscheidenden Kriegsphase überlassen, wäre möglicherweise die Geschichte anders verlaufen. Doch es ist müßig, darüber nachzudenken … Zuletzt soll in der Ahnenreihe derer von Moltke nicht unerwähnt bleiben: Helmuth James Graf von Moltke (1907–1945), der Großneffe von Helmuth von Moltke d. J. Als Gegner des nationalsozialistischen Regimes stand er im Zentrum des sogenannten Kreisauer Kreises: Das schlesische Landgut in Kreisau war seinerzeit vom «großen Schweiger», also dem älteren Moltke, erworben worden. Auf seinen Besitzungen hielt er geheime Treffen antinationalsozialistischer und religiös geprägter Widerständler ab. Sie beschäftigten sich mit Problemen und Fragen einer zukünftigen, neuen Staats- und Gesellschaftsordnung. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler wurden zahlreiche führende Regimegegner, unter ihnen Helmuth James von Moltke selbst, verhaftet und hingerichtet.
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V. Nach der Durchsicht und dem intensiven Studium der KleistFragmente eröffnete sich mir eine neue Sicht auf das Leben des Menschen Heinrich von Kleist. In ihm, in einem vergleichsweise kleinen System also, manifestiert sich die grundsätzliche Problematik des suchenden, strebenden und denkenden Individuums überhaupt – nämlich das Ringen um das Verhältnis von Endlichkeit und Ewigkeit, oder auch: von Relativem und Absolutem, von Teil und Ganzem! Versucht man des Lebensbildes dieses seltsamen Menschen habhaft zu werden, indem man es an den Eckpunkten faßt, so entschlüpft es einem wieder wie ein Fisch. Das einzig Klare dabei scheint mir das Undefinierbare, das volle Leben zu sein – mit all seinen Stärken und Schwächen. Bei Kleist ist es zudem ins Maßlose überzeichnet! Was das allenfalls zu bedeuten hat, mag jeder, der sich dafür interessiert, selbst herausfinden; denn, so habe ich gelernt: es gibt nicht die Wahrheit, sondern unendlich viele Wahrheiten (an die mich Else von Moltke sanft heranführte), die sich – einzig ins individuelle, raum-zeitbedingte Verhältnis gesetzt – entweder verifizieren, falsifizieren oder modifizieren lassen. Was meint: das Rätsel bleibt, ohne aber grundsätzlich unlösbar zu sein! So auch verstehe ich Kleists oftmals zitierten Ausspruch, er sei «der inkarnierte Widerspruch und gleichzeitig dessen Lösung». Das heißt doch nichts anderes, zumindest auf unserer Ebene des Daseins, als «runde Ecken fabrizieren» zu wollen, wie er ja selbst erklärt. Und was bedeutet uns dieses? Aristoteles bemerkt sehr feinsinnig, daß es vielerlei Wunder gebe, doch der Wunder größtes sei der Mensch. Nun, diese Einschätzung teile ich nicht ganz – denn wer wollte schon behaupten, als Mensch die tiefsten Tiefen individuellen Seins zu erfassen, ja wahrhaft zu verstehen? So ist der Mensch nicht mehr als ein kleines Etwas, eingespannt zwischen Alles und Nichts. Aber immerhin: in seinen Beweggründen und Eigenheiten, seiner «irrationalen Rationalität», wenn man so sagen darf, ist
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er Ausgang und Wurzelgrund einer weit tieferen und schöneren, ursächlichen Realität, die es zu entdecken gilt – in der Natur und in sich selbst! Insofern kann der Mensch groß sein und Großes leisten: indem er seine Bestimmung erkennt und lebt. Was nunmehr durch die Geschichte meiner Seele entdeckt wird, schließt zwar einige klaffende Lücken in dem, was wir über den Menschen und Dichter Kleist wissen, läßt aber andere entstehen – Lücken eben, die noch unmittelbarer an den Seinsgrund rühren als vordem. Dabei ist jeder freundschaftlich aufgerufen, in sich eigene Gedanken entwickeln und gedeihen zu lassen.
Berlin, Ende Dezember 1989 Der Herausgeber
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I. Kindheit und frühe Jugend Berlin, 12. Dezember 1800 Mein lieber, vortrefflicher Rühle! Wie versprochen, verfertige ich Dir eine Schrift zur Geschichte meiner Seele. Vom Schicksale fort und fort in stets neue Bahnen verworfen: gebremst, entformt, eingeschmolzen durch meine physischen Unzulänglichkeiten – bei all meinen Grillen und nimmer enden wollenden Rupturen meiner Psyche, bleibt doch fürderhin fraglich, ob es meinem Vorhaben gelingen möge, vermittelst dieser Aufschlüsselungen meines Innern der Welt (und besonders denjenigen Menschen, die ich liebe; dazu gehörst auch Du) einige meiner geheimnisvollen Chiffren zu entdecken! So einiges liegt mir am Herzen: denn das Menschengeschlecht, wie ich immerzu aufs neue schmerzlich feststellen muß – und was mich noch weit tödlicher durch Freundes Wort trifft –, vermag kaum meine je eigenen Selbstentäußerungen in ein rechtes Verhältnis zu setzen und zeiht mich oft genug einen schröcklichen Misanthropen im günstigsten, einen Narren gar im ungünstigsten Falle. Diese Aufzeichnungen seien das Antidot zu ebensolcher Meinung, indem sie freimütig Einblicke in die Werkstatt meines glühenden Wesens gewähren mögen; denn es muß belebend, berichtigend, ja erziehend wirken, etwa einem Bildhauer, kurz: einem tätigen Schöpfermenschen bei seiner Arbeit auf die Finger zu schauen: erst dadurch ahnt man um Sinn und Zweck der Arbeit – aus der organisch beobachteten Entwicklung heraus! (Wie gern hätte ich dem Genie Michelangelo bei seiner unmittelbaren Tätigkeit zuschauen können.) Bei Auftragsarbeiten mag das Resultat, sofern genügend Einbildungskraft vorhanden, bekannt sein; – doch meine Skulptur ist von solcherlei Fremdheit gesättiget, daß, wofern das Ziel und Streben nicht gekannt, während des Schaffens, kenntnislos gelassen über alles: Abgezwecktheit, Werkzeuge, Ta-
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lente, Fähigkeiten, Artung des zu formenden Materials etc., nur ein Schluß gezogen werden kann: Der Mann ist von Sinnen! Allein das ist der Grund, der Gebrechlichkeit der Welt, dem Verquer des Denkens einiger Mitgenossen ein wenig vorzuarbeiten; obzwar – nützen wird‘s kaum viel. Aber es ist mir wohler, mich in etwelcher Weise vor der Natur des Universums, der Gottheit, auch nach außen gerechtfertigt zu wissen; selbst meine Freunde dürften alsdann milder gegen mich gestimmt sein. – Seit meiner Geburt leide ich bis auf die gottverdammten Knochen runter – dieses ewige Leiden rostet sie an und schlägt sie vollends entzwei – und sage: schaff dir selbsten die Arznei Wasser zur Labung. So sei‘s drum! Dein Heinrich
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Es ist wohl unmöglich zu ergründen, welch eigensinniger Geburtsstern als Baumeister sich meiner bemächtigte und meinen Seelenzustand (vielleicht auch aufgrund einer ausgezeichnet-ungewöhnlichen, inwendig angelegten, kathedralen Architektonik), ich möchte nicht sagen: entartete, sondern – metamorphisierte und in ein geheimnisvolles Schicksal einwob; kurz, mich zu einem der widersprüchlichsten Menschen werden ließ, den die Welt je gesehen: ständig bedroht, an den wahnwitzigen Klippen aller möglichen Unwägbarkeiten des Seins zu zerschellen, und genötigt, der Mitwelt einen Wust unerbittlicher Fragezeichen zu hinterlassen. Jedenfalls – der eingemengte Charakterzug des unerforschlichen Schicksals sowie der frühe Wegfall beider Elternteile ließen den Nachen meiner Kindheit rasch freudlos in einem düstern, leeren Meer – ledig des samtweich tragenden Flors, der da heißt: Vertrauen, Geborgensein in der Welt – führerlos dahindümpeln. Wie also, wird die Welt mich ungläubig fragen, kann ich Aufschluß über solcherlei geben, was mir doch selbst völlig fremd, ein «Bildnis zu Sais» sei, wie es der große Schiller in seinem Gedichte
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uns plastisch vor Augen führte? Dies zeichnet nachgerade das Wesen meines Selbst aus: ich, Kleist, der verwegene Versucher runder Eckigkeit! – der unumwunden-ursprüngliche Widerspruch, das inkarnierte Wagnis der Schöpfung selbst, ergreife das Äußerste, indem ich in einer großen Geste meines Willens die beiden Enden alles Denkens (das Plus und Minus der Algebra) in der Spitze des Seins zu fassen mich anschicke, um sie in sich lösend zu vereinigen. Das – so hört man – sei nicht des Menschen! Fürwahr: doch irgendein Daimon, mein Geburtsstern?, nicht gut, nicht böse, pflanzte das Vermächtnis eines weltfernen Samens, aus einer dem Menschengeschlechte fremden Gegend des Universums, im Vorbeiflug durch die Erde in mich ein. Auf Gedeih und Verderb bin ich, wie jedwedes Lebewesen, gezwungen zu sein – was ich bin … Gewisse Widersinnigkeiten hingegen mögen auf bestimmte Erbfaktoren zurückführbar sein: Mein Vater, Major Joachim Friedrich von Kleist, den ich ausnehmend liebte und verehrte, verstarb 1788 (im Alter von sechzig Jahren) am Schlagfluß; ich war noch nicht einmal elf Jahre alt, als mir durch höhere Gewalten die Geborgenheit väterlicher Liebe und inniglicher Vertrautheit jäh abhanden kam. Seinen eigenwilligen Charakter stellte er nicht bloß in Auflehnung gegen etwelch tyrannische Konventionen während der Herrschaft Friedrichs des Großen unter Beweis; – ganz ungefüg finde ich in meinem Busen die mannigfaltigsten Pinselstriche aufgetragen, wie sie mir vermittelt wurden: ich war noch zu jung, als daß sie sich hintrocknend in einem dauernden Gemälde hätten verewigen können. Es bleibet die Skizze. Das zärtliche Gemüt der Kindheit ist ja von solch großartiger Plastizität (die bei mir bis in die Zeit des Erwachsenendaseins hinein lebendig blieb und künstlerische Formungskraft annahm: mit allen diesbezüglichen Vor- und Nachteilen), daß die nicht zu unterschätzende Gefahr besteht, sich in der gestaltwandlerischen Phantasie, diesem Labyrinth unendlicher Gestade, rettungslos zu verirren. Ich versuche, den kärglich-güldnen Rahmen des elterlich Vermachten mit lebensfroher Bildungskraft zu fassen – was mir von Vater und Mutter als Festgesetztes gilt und überblieb: die knorrig-feste, preußische Geradlinigkeit meines Vaters ward mir
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ins innerste Mark verpflanzt; auch eine gewisse Sturheit und ein – ich möchte meinen – weidlich Geschwader tigrisch-elementarer Pfeile, samt Köcher und dazugehörigen Bogen: gleichhin etwas Gefährliches, Unberechenbares, das sich von Anbeginn unter der Schale meines samtenen Gemütes regte! Dies verwirrte meine Sinne, zumal von der Mutter mir das Musische zugeeignet ward: das Sanftmütge meiner Seele, der Gutteil meines Humors, das lunare Gespinst einer milden Titania – die fliegende Phantasie! Beileibe, ein reichlich teuflisches Gemisch: rechnendes Kalkül, schneidende Härte, kalter Biedersinn, sittlicher Ernst und ein tiefwurzelndes Rechtsempfinden, vererbt durch den Vater, verbanden sich mit der mildesten, holdseligsten Sanftmut, der lucidesten und ätherischsten Empfindung des Gemüts sowie einer deftigen humoristischen Ader, mir eingeboren durch das Angebinde der Mutter – in dem Gefäße ihres Sohnes Heinrich. (Juliane Ulrike von Kleist, geborene von Pannwitz, war im übrigen meines Vaters zweites Weib und rund 18 Jahre jünger als dieser; aus der ersten Ehe entsprossen zwei Kinder, wobei meine Stiefschwester Ulrike, etwa drei Jahre älter als ich, einen wichtigen Part in meinem Leben spielt – das amphibischste aller Weiber, die mir bekannt, mag wohl in den Seelengründen etwas von mir haben; aus der zweiten Verbindung – also mit meiner Mutter – gingen fünf Kinder hervor: ich war das dritte und zugleich der älteste von zwei Söhnen – nun ja, das schwarze Schaf in der Offiziersfamilie derer von Kleist, wie sich herausstellen sollte.) Diese (höchst preußische) Abkunft konstituiert lediglich einen Teil meines charakterlichen Gefüges, der andere erklärt sich aus dem Umstand der Zeit, in die ich geboren wurde: einer Zeit übervoll mit Kriegen, Umstürzen und anderweitigen Unbilden, die mithin dazu beitrugen, mich in meinen Bestrebungen von außen her mürbezuwalken, was ich im Gegenzuge, mit geschmeidig-geschwungener Eleganz eines Hammers, mir selbst zum Übel, von innen her bewerkstelligte. – Ist es doch immer ein Ganzes, welches den Menschen in seinem gesamten Wohl und Wehe ausbildet: ich empfand es fortan als ein in der Tiefe nicht zu Fassendes, was mich von Kindesbeinen an ängstigte; sei es, weil ich – infolge einer Früh-
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reife – besonders darauf sensibilisiert war; sei es, weil ich tiefer sah und empfand als andere, weswegen ich den Menschen stets ein Fremdling blieb. Denn: ich hätte aus dem Herzen sprechen mögen – direkt, unmittelbar; den Gedanken wollte ich legen in das Gefäß der Vollkommenheit, auf daß er gänzlich verstanden werde! Aber welch ein grobschlächtig-unausgereifter Anspruch an mich und die Welt, dem ich dadurch die Spitze des reinen Wollens im Fluge brach; der Mensch ist ein gar schwächlich Dingelchen, eingespannt zwischen die harten und scharfen Ränder des Nichts; einem Abgründigen entlangirrend, von welchem die meisten nichts wissen und ahnen: Gaukler und Toren des Glücks! Sonach verzweifelte ich aus wohlbestimmten Gründen am Richtmesser meiner eigenen Sinne, die bloß einen hilfreichen Kompaß darstellen, der uns aber oftmals genug, wofern er nicht auf den Mittelpunkt der wesentlichen Dinge gerichtet ist, narrt. Doch dieser Kompaß ist wichtig; kein Steuermann fährt ohne ihn zur See – und er erleichtert, die jachen Grate zu umschiffen, die sich jedem in seinem Leben entgegenstellen, ihn zu zernichten drohen; er erleichtert ferner, so der Sternenhimmel sich verdunkelte, stets den rechten Weg zu wandeln. – Der Nachen: unser Körper, das zusammengesetzte Werkzeug dieser Welt; der Urozean: das gesamte Universum! Überall pures Sein, und wo es nicht erkannt wird – purer Abgrund, ein einziges treibsandiges Blachfeld! Ich verirrte mich im Labyrinth meines Selbst, weil mich die eigene Kraft gleichsam inwendig aufrieb und der resultierende Lochfraß meine Seele verschlang … – Dies Leiden meiner Seele sei alleine dem verkörperten Arg und Grimm anempfohlen, weil es so bitterhart ist, daß sich daran Diamanten brechen. Im Endeffekt geht diesen Lebensweg jeder – bloß sind die Portionen in beneidenswert kleine Beutelchen verpackt, gerade noch zum Verzehre tauglich. Meine Portionen hingegen wären wert der Giganten: manchmal auch für mich recht unappetitlich, wahrlich schlecht … – Schaden wollte ich nimmer und niemandem, doch bei allem guten Willen fiel mir meine auf alles und jedes einhämmernde Rücksichtslosigkeit selten auf. Fatales Ungeschick! Bereits im Laufe meines siebenten Lebensjahres begann sich, aus mir unerfindlichem Grunde, ein bleierner Vorhang über meinem
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Haupt zu senken: eine kolossale Schwere hauchte meinen frühe geprüften Geist an – dermaßen eisig, daß ich des Lebens schon in solch jungen Jahren überdrüssig ward! Eine düstere, mächtige Melancholie bemächtigte sich meiner. Womöglich stöberte sich im genealogischen Verfolg des Stammbaums meiner Mutter die eine oder andere Krankheit des Gemütes auf?! Es ist mir ohnehin ein betrübliches Gefühl, wie ich meine Mutter auf der einen Seite aufs höchste verehrte und liebte, zeitweilig aber eine Art von Abscheu gegen sie empfand – und zwar ohne es zu wollen, ohne jedweden faßbaren Grund. Es war ein Mißmut, der kam und ging: gleich wie die Wolken über den Himmel zögen, sich auftürmten und sich im Zenite ihrer Kraft übers Land ergössen, nach festgefügtem Rhythmus und stringenter Regel. Ich wehrte diesen häßlichen Gefühlen – doch sie sollten sich späterhin in weit anderer Form, unentwegt neu und gleichfalls unberechenbar, manifestieren: meist zu meinem Nachteile. Endlich beschloß der Tod meines Vaters (und erst recht, wie ich allerdings erst viel später feststellen sollte, derjenige meiner Mutter fünf Jahre darnach – zumal das Reine in mir war: die gute Seele meiner Mutter) die wenigen, dürftig-kargen Lichtblicke meines Lebens. Irgendwann verlor ich gänzlich meinen Halt, und ich sah mich alleine, fernab und vollständig von der Welt verlassen, zwischen Scylla und Charybdis hin und her geworfen. Deswegen suchte ich wie verzweifelt nach dem Pflock, der mich stützte und trüge in all den Fährnissen und Unsicherheiten! Ich fand ihn zunächst im Verstande, im menschlichen Geist. Er sollte mir immerwährender, untrüglicher Ratgeber und unverrückbarer Wegweiser sein. Doch mein Ungestüm, mein lodernder Feuergeist ward mir ärgster Widerpart … Mein Schicksal schuf mich jenseits von Gut und Böse: doch was bedeutet das schon, wenn man auf einem Planeten, auf einer Stufe sich verkörpert, von wo man sich alleine durch die Pole fortzuschleichen vermag, anstelle zu fliegen – auf den Schwingen der Phantasie zu fliegen! Es zielt darauf : entweder schießt man mit donnerndem Getöse übers Ziel hinweg, oder man bewegt sich der harmonischen Mitte zu. Letzteres dürfte wohl mit sich gemächlich ausbildender Reife eines runden Schicksalsweges zu tun haben und … – dem charakterlichen Gepräge! Gleichviel, was soll‘s mit
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den Unwägbarkeiten? Es gilt allein, was man aus dem Leben zu gestalten weiß; ob die Karten nun gut, ob schlecht gemischt sind – kein Richter frägt darnach; das menschliche Richtbeil fällt selbst dem Schuldlosen. Einzig dem höchsten schöpferischen Prinzip ist es erlaubt, sämtliche (uns bewußten wie gänzlich unbewußten: es verhält sich nach dem Gleichnisse des Eisbergs) Taten unter dem Verhältniswerte des einzig gerechtfertigten Ereignishorizonts, nämlich dem des Ewigen, abschließend zu beurteilen und ab- bzw. auszurichten: nach dem Gesetze der Natur! So sei‘s getrommelt und gepfiffen: des Menschen Urteil ist wie ein klammer Furz im Winde; aber dennoch muß er, seinem Wesen treu und schicklich, urteilen – auch das ist Natur! Ins Lot gerechnet sind wir vielleicht (mehr oder weniger), selbst in der geringstmöglichen Bestrickung von Schicksalsgewalten, bloß ein halbes bis ein Gran frei: der Rest sind des Lebens schmiedeeiserne Vorgaben! – Was also ist der Mensch? Eine vorübergehende, eine zu überwindende Zustandsform. Dies habe ich endlich, durch allerlei Qualen hindurch, klar erkannt …
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In meinem Tagebuch fand ich ein Jugend-Gedicht, welches ich aus der versteinten Mürbe meiner Seele herausbrach, als meine Mutter 1793 an einem rheumatischen Fieber hinstarb. Bevor mein dumpfes Gemüt, bei wenig vergönnter Zeit, wieder lichter wurde, stürzte die Welt zunächst abermals über mir ein:
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Der Aar Auf Schwingen stolz und hehr Fleugt er kristallnem Norden zu! Die Blicke, steif und schwer, Durchziehn die Lüfte, greifen Liebe –: Der mächt‘ge Aar – wann find‘t er Ruh‘? Aus tiefster Flamme nach dem Throne Odins hin; Die harte Kühle brechend durch gewalt‘ge Hiebe, Und nimmerdar ein Flor von Ende … Was – o Götter – sein Gewinn? Teurster Aar, so flieh – so wende! Hoch im Nord‘, entwandt der Erden Schoß; Mein Freund, der Sprößling, fand zurück Dahin, wogleich vor Zeiten er entflog. Der Preis, den er gewann – unendlich groß! O heil‘ger Aar: durchtränkt von Lieb‘ und Glück.
Ach – mehr und mehr dämmerte mir auf: gäbe es doch eine Sprache, ein Universelles, einen Gleichklang der Seelen, welche das Innerste nach Außen kehrte, das Ich und Du verschmölze zu Eins! – oder zumindest eine mittelbare Sprache, wie sie dem Genie Leibniz und dem großen Bacon von Verulam vorschwebte … –
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Von Geburt an ward ich körperlich als auch seelisch-mental mit einem gerüttelt Maß an Zähigkeit bedacht. Das war, ehrlich gesagt, durchaus notwendig und von Belang, wenn man meine extreme, ins äußerste überspannte Natur bedenkt. Wanderndes Druckbehältnis auf zwei Beinen, das ich bin: gleich einem Hochseiltänzer, immer hart schwankend zwischen den kalten Rändern des vollen
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und leeren Nichts, und dies zugleich ohne Auffangnetz! – Meiner allzu intensiv betriebenen Studien und meines teutonischen Feuergeistes wegen zerrüttete sich im Laufe der Zeit mein armes, überstrapaziertes Nervenkostüm zusehends; nach meiner Kriegsund Studientätigkeit kränkelte ich vielfach (hauptsächlich stumm) vor mich hin. Ich bin mir dessen bewußt, daß all die durchlebten Krankheiten und Unpäßlichkeiten nahezu ausnahmslos Ausdruck meines kranken, leidenden Gemütes waren: sie begleiteten mich recht eigentlich das ganze Leben hindurch – wie ein Hund seinem Herrn unverbrüchliche Treue bezeigt. Diese schreckenswürdige Krake meiner Unnatur zog mich ständig in die Tiefen eines mir dunklen, unzugänglichen Ozeans; und unter ebenso steter Gegengewalt als wie ungeheuren Kraftaufwendungen gelang es mir fortwährend, wieder emporzutauchen, um eine Handvoll Luft für einen weiteren, atemzehrenden Tauchgang einzuschnappen. Was wunders! ein kleines Leben, eingespannt in die abgelegensten Pole meiner Seele: da ächzt und krächzt die Flottille wacker vor sich hin: ein Glück alleine, daß die Bauart dermaßen stabil. Unter all den erwähnten Umständen kann es ebensowenig erstaunen, daß bereits sehr früh in meinem Erleben ein weitreichender Erkenntniszweifel heraufblühte, welcher zusehends den Wurzelboden einer noch nicht stabilierten Pflanze giftig anfraß. Dieser Kampf in meinem Busen, der Lapithen und Centauren – das Weihgeschenk meines eisernen Schicksals! – entfesselte zwar kreative Kräfte: doch dies hehre Feuer der Olympischen verschlang sich in einer schwalchenden Überhitze selbst, und viel zu schnell. O, ihr Schicksalsmächte, die ihr uns zwingt, die ihr uns ohne Aufschluß über uns selbst laßt, die ihr das Dunkel des Universums bloß in seinen abgelegensten Teilen auf kurze Zeit vermittelst der mindern Lohe unseres Verstandes zu erhellen erlaubt: was wollt ihr von uns, die wir blind und schwach sind im Angesichte von Kraft und Ausdehnung der Ewigkeiten? Da ich zu Kompromissen mich nie befähigt sah, kam es, daß ich nach meiner Studienzeit ausschließlich und rigoros der Kunst nachlebte. Und künstlerische Anlagen zeigten sich bei mir schon beizeiten; so wurde ich etwa als Knabe von musikalischen Halluzi-
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nationen heimgesucht, woran ich mich mit Wonnen gern erinnre. Oftmals ging ich, außerhalb meines Geburtsstädtchens Frankfurt, an der Oder entlang spazieren (was mich übrigens mit höchster Freude erfüllte, besonders zur Zeit der Messe, die dreimal jährlich in dieser Stadt abgehalten ward: ich warf mich geradezu mit voller Lebenslust als Knabe in das Getümmel von Weben und Streben dieser größten preußischen Warenmesse, wo mir Geschichten aus aller Herrn Ländern zu Ohren kamen und meine Phantasie wohlig anzukitzeln vermochten). – In den sonnigen Wäldern und Fluren überkam mich nicht selten, ganz unvermutet und in einem Plotz, eine sanfte, florumwobne Inspiration, die sich meinem Gemüte, gleichzeitig das Innere überwältigend und das Äußere becircend, bräutlich-anschmiegend nahte und es männlich umfing, um mich in eine andere Welt hinwegzuheben: elfengleich beginnt mir sodann die Bewegung des Wassers zu singen, alle Tonarten anschlagend: von säuselnd-milden über kräftig-brausende bis hin zu machtvollwonnewuchtigen, ein Naturkonzert vollendend, wobei keines der notwendigen Instrumente fehlt. Dazu fegt der Wind durch die Blätter, wodurch sie zu reinstem Leben erwachen: als ob in den Erscheinungen der Allnatur ein innerliches Lied geborgen wäre, das just anfängt, den tiefen schauerlichen Schlaf abschüttelnd, alsbald es durch irgendeinen verborgen-willentlichen Zustand befähigt wird, aus seinem sonderbaren Fortträumen der Anderswelt in unsere hinüberzugleiten – aufzuleben für den, dessen innere Harmonien auf den Saiten seines Herzens durch den einen mystischen Gegenstand von den Urkräften umgriffen werden: Zauberworte einer zauberischen Macht heben darauf in einem Male an zu spielen, zu jubilieren, zu singen! Gleichhin hebt alles Organische und Anorganische, von göttlichem Lebensodem Durchdrungene an, seine je eigne Weise zu intonieren: alle Steine, Gräser, ja das Getier des Waldes – solcherart etwan der Eichelhäher, das drollige Eichkätzlein, der gemütliche Bilch; auch gar der Krammetsvogel, Pirol, Specht und mein Liebling: der hintergründige Meister Grimbart! Und es kulminiert das Werk in einem gigantischen, gerundeten Konzert, welches selbst unsere größten und genialsten Komponisten nicht imstande wären zu erschaffen – dergestalt wohl muß das Paradies erbauet sein! In einem umgreifend-absoluten Universum,
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deucht es mir, seien vielerlei individuelle Universen einbegriffen, welche sich gegenseitig fremd sind … und doch ganz eigen-eins. – Diese Erlebnisse fachten später meinen Ehrgeiz an, Flöte, Klarinette und Klavier mit Inbrunst zu spielen; Musik blieb seit diesen Kindheitstagen an mein – wenn auch unglückliches – Steckenpferd. Bereits in meinem Elternhaus wurde ich eingehend mit aufklärerischem Gedankengut, ich möchte sagen: überhäuft. O, wie sehr sind wir doch die Kinder unserer Zeit – wie sehr denken wir, unabhängig von solchen Einflüssen zu sein, bis wir eines Tages Rückschau halten und erst dannzumal die großen Züge, den roten Faden unseres dunklen Schicksals erkennen: und wenn wir Glück haben, das vertrackte Konstrukt des netzartigen Gewebes einigermaßen zu durchschauen vermögen. – Bis zum Tode meines Vaters wurde ich, zusammen mit meinem ebenfalls zur Melancholie hinneigenden Vetter Karl von Pannwitz, vom seinerzeitigen Theologiestudenten Christian Ernst Martini unterrichtet. Martini wollte gerecht sein: hat dabei den eher lethargischen Karl gepäppelt, während ich gebremst ward; zunächst nahm ich ihm das bitter übel – denn wie ein junger unbezähmter Zelter preschte ich voran: ungestüm, kraftstrotzend, und Karl blieb hintendrein. Erst um einiges später konnte ich Martinis weise Umsicht richtig einschätzen, und er wurde mir zu einem achtenswerten Menschen von einigem Vertrauen, der versuchte, Karln zu stacheln, wohingegen er mich härter an die Zügel nehmen mußte. Genutzt hat‘s zwar nichts – einzig der Wille bleibt lobenswert; wie‘s so oft im Leben sein mag! – Karl, der arme gute Kerl, hat sich 1795 in einem Polenfeldzug, in der Umnachtung einer tragischen Schwermut, erschossen: nicht alleine dies war mir ein Grund anzunehmen, daß auf seiten meiner Mutter wohl doch eine gewisse Neigung hin zum schweren Blute bestünde, die mich mitunter, und leider nicht selten, auf dem Pfade meines Lebens gifthauchig versuchte. Darauf antwortete ich ebenso häufig mit überzogner antäischer Euphorie: allein, der tadelige Ruf, größenwahnsinnig zu sein, folgte auf dem Fuße, wie der Fuchs der Fährte des Hasen. Mag was Wahres dran sein – aber zumeist suchte ich einfach, nicht in diesem düsteren, unendlich-weiten Ozean unterzugehen … Der Mensch neigt schnell einmal dazu, Stäbe über
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irgendwelche Lebewesen oder Dinge zu brechen, die er nicht zu begreifen vermag: er muß es wohl, er will es zum Mindesten – aber deswegen ist noch lange nicht die Wahrheit gesprochen, bloß eine beschränkte Meinung kundgetan. Zu Anfang 1788 wurde ich, zusammen mit den beiden Vettern Karl von Pannwitz und Ernst von Schönfeldt, in die Privatpension des reformierten Predigers Heinrich Catel übergeben: ich zog also nach Berlin um. Zusätzlich – oder besser: hauptsächlich – wurden wir, den Vorgaben der Zeit gemäß, in französischer Sprache und Kultur unterrichtet. Ein Grund, weswegen ich gewisse Mängel im Deutschen nie gänzlich auszumerzen verstand; meine störrige Eigensinnigkeit wirkte dem auch nicht gerade entgegen, wenn man so sagen darf … – Die Ausbildung bei Catel dauerte lediglich ein halbes Jährchen: im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, es wäre länger gewesen; aber ich war noch Kind, und wie wahr: hintendrein ist man immer gescheiter. Zwar ward in meiner ganzen Erziehung größte Bedachtsamkeit auf die Vermittelung hoher moralischer Werte der Aufklärung gelegt; genau diese Werte allerdings erfuhren mit meinen schlimmen Erlebnissen als allzu junger Soldat eine Bewährungsprobe, aus der sie nur beschmutzt wieder hervorgerettet werden konnten. Nicht zuletzt deswegen flüchtete ich mich während der siebenjährigen Militärzeit, in der ich sogar zwei Menschen eigenhändig tötete, töten mußte! in eine eigens zusammengezimmerte Welt! Der zarten Kinderseele ward es zu viel: auf einen Schlag erwachsen sein zu müssen, und dann noch auf eine Weise, welche gerade jedweder Moral Hohn spricht … Nach dem Tode meines Vaters (ich weiß es noch genau: es war der 18. Juni 1788) wurde ich erneut nach Frankfurt zurückgeholt, weil die Ausbildung bei Catel nicht mehr zu finanzieren war. Der gute, kluge Martini ging wiederum bei uns aus und ein: und diesmal konnte ich einen innigeren Zuspruch finden, eine mir gemäßere Ausbildung, da ja Karl in Berlin verblieb und ich somit meinem Wissensdurst offen frönen konnte, den Martini mit viel Gleichmut als wie Begeisterungsfähigkeit bis zu einem gewissen Grade zu stillen wußte; er gab sein Bestes, konnte aber die Scharte schließ-
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lich nicht mehr auswetzen: das ganze hinfällige Bildungswesen krankte insofern, als lediglich Kinder Gutbetuchter entsprechende Lehren genossen. – Zudem ergab sich, daß ich unglücklicherweise frühzeitig genötigt wurde, meine Ausbildung zu beenden und, überhaupt viel zu frühe mit nur vierzehneinhalb Jahren, am 1. Juni 1792 als Gefreiter-Korporal in das unter des Kronprinzen Befehl stehende Regiment Garde Nr. 15b, 3. Bataillon zu Potsdam, eintreten mußte, was einzig mit der Finanznot meiner Mutter zusammenhing: nach Vaters traurigem Hinscheiden wurden Muttern die Pensionsgesuche an Friedrich Wilhelm II. abschlägig beschieden, mündliche Zusagen nicht eingehalten; inwiefern die ungünstigen Erfahrungen des Hofes mit meinem Vater in die Sache reinspielen mochten, sei dahingestellt. Der Unbilden nicht genug, wurde Vaters Testament gar vom Frankfurter Stadtgericht angefochten. – Ich bin überzeugt, daß diese Erschwernisse dazu beitrugen, meine liebe Mutter gleichfalls vorzeitig ins Grab zu stoßen: einen inneren, heimlichen Groll gegen das Behörden-, Beamten- und Hofchargentum, ja gegen die Monarchie selbst habe ich nie ganz überwinden können! Nachmalig ward mir diese Einstellung, gewaltsam in den innersten Schacht meiner Seelentätigkeiten verbannt, gar zu einem erheblichen Hemmschuh. Ich erbte ein kleineres Vermögen von rund 7500 Talern, welches aber bis zu meiner Volljährigkeit, die erst mit Vollendung des 24. Altersjahres eintritt (ab diesem Zeitpunkt wird man in Preußenland für mündig erklärt – sic!), von einem Justizkommissar namens Friedrich Dames, in dessen Hand nicht alleine die Vermögensentscheidungen, sondern auch alle wichtigen Lebensentscheidungen lagen, verwaltet wurde. Bis zum Militäreintritt, so kann ich immerhin konstatieren, ist meine Kindheit zwar freudlos und schwierig genug verlaufen; doch ich hatte wenigstens aufgrund der großen Freiräume, die mir gelassen wurden, einiges an Abwechslungsreichtum (und zwar innerem wie äußerem) durchleben können. Stets war ich mit einer gesunden Portion an Neugier bepackt und konnte in frühen Jahren einigermaßen meinen abenteuerlichen Bedürfnissen gerecht werden: solange, bis ich ins Militär abberufen wurde. – Wie wäre wohl
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mein Lebensweg verlaufen, wenn Vater noch zehn Jahre länger gelebt hätte? Zumal: Durch diesen wichtigen Lebenseinschnitt geriet nicht nur meine schulische Ausbildung auf eins ins Stocken; nein – die nachfolgenden sieben Jahre entpuppten sich regelrecht als ein Stück verlorner Zeit, was noch verschmerzbar gewesen wäre; vielmehr erzeugten in meiner Seele Eruptionen gewaltige Rupturen: kraftgewirkte Risse in der Fassade meines Denkens entspalteten mich meines Selbst, so daß ich manchmal kaum wußte, ob nunmehr zwei Kleiste vor mir stünden: es war mir, als ob die fünf Unterweltsflüsse sich, ungeteilt alles umwälzend, in einem gewaltigen Urstrome zusammenfänden, unter Vorherrschaft des Phlegeton, des Feuerflusses – Dantes Inferno öffnete unheilvoll seinen giepernden Rachen! – Diese Unterbrechung in meiner geistigen Fortentwickelung erklärt, so meine ich, meinen gefräßigen Nachholbedarf an Bildung, einen Übereifer, mir auf autodidaktischem Wege Wissen zuzueignen, mit welchem ich mein ganzes Seelen- und Körperkostüm unter zusätzlichen Dauerdruck zwang – ja, zwang! Ich muß es zu meiner Schande gestehen. Doch ich war noch jung und heiß und durstig. Aus dieser meiner Kinder- und Jugendzeit kann ich frank und frei bekunden, daß mich in keinerlei Weise irgendein unsolider Lebenswandel oder irgendwelche Fehltritte sonst heimsuchten; ich entwickelte mich auf geistig-seelischem Gebiete eher zu rasch. In physischen Belangen dagegen war ich ein Spätzünder; meine erste große Liebe, die Linckersdorf, begegnete mir erst in der Militärzeit. Zu Hause war ja das weibliche Element ohnehin übervertreten: mit meiner Mutter und fünf Schwestern – nein: zunächst mußte mein Feuereifer gesättigt werden, mein Wissensdurst, der Drang meiner Seele nach Weite und Tiefe. Geschlechtliche Anwandlungen waren mir noch fremd: das sollte sich aber merklich ändern … – Eine verbriefte Tatsache allerdings hat sich aus meiner Natur beizeiten und unumwunden in eindeutiger Weise herausgebrochen; meine Halbschwester Minette nannte es «das Quertreibertum meines lieben Brüderchens». Ich habe meine Weiblein damit des öfteren zur Weißglut getrieben. Erst vor kurzem hielt sie mir ein Albumblatt ihres Stammbuchs unter die Nase, mit der Bemerkung, daß dieses doch sehr den Inbegriff meines eigenen Charakters widerspiegelte.
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Ich schrieb ihr, noch keine dreizehn Jahre, quer über den Bogen – sie gab mir zu verstehen, ihr wäre es lieber gewesen, ich hätte mehr Platz freigegeben – den sperrigen Spruch: «Ich will hinein und muß hinein, und sollt‘s auch in der Quere sein.» – Was soll ich sagen? Der Spruch wurde mir im weiteren Verfolg gleichzeitig zum Programm und Orakel …
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II. Militärzeit Ich erinnere mich noch, als sei‘s gestern erst gewesen: als ich am 1. Juni 1792 einrückte, stand der grüne Grummen in vollster Pracht; die Natur – so herrlich, als ich Dir nur schildern kann, mein guter Rühle! Nichts Böses ahnend, zog ich voll Begeistrung in Potsdams Kaserne rüstig ein. Ein Reisiger, auf den der Vater stolz gewesen wär‘. Im kärglichen Felleisen genossener Ausbildung trug ich den ganzen Wust frühaufklärerischer Ideen und Gedankenguts auf mir; die Empfindungen der guten Seele meiner Mutter in mir – und, wie sich entpuppen sollte, den unbändigen Kern wilder Härte aus Vaters Mitgift nebst mir: entfacht und ins reine Leben gebracht in den ersten Kampfhandlungen wider den Franzmann. O, wie sehr beneidete ich späterhin die Nationen, die des hehren Friedens pflogen. Der Krieg ist ein garstig, häßlich Ding: er verroht die Menschen, und in mir speziell rührte er an Regionen, die besser unbetastet geblieben wären – der dunkle Kaliban erstand und drängte ins Bewußtsein! Nun – es war wohl Schicksalsmacht, so hör‘ ich‘s raunen … Gleich einer gleißenden Lichtgestalt blitzte der Schemen herrisch-harschen Militärhandwerks – in archaischer Gestalt des Gottes Mars – auf mich ein: spornstreichs beschlagnahmte er das Kindliche meiner Seele: es zernichtend, umwälzend, verstörend. Der Anhauch der Wirrsal, welche in der Anlage meiner Geburt bereits stumm eingepflanzet, wurde dergestalt vollends zum Sturme entfacht; die schwächlich vor sich hinglimmende Glose ward, genähret durch diesen fatalen Sauerstoff, zur alles verschlingenden Waberlohe angefacht; – die Seelenkräfte entwickelten sich ungehemmt nach zwei getrennten Richtungen fort, führten ab dem Zeitpunkt meiner ersten Schreckenstat ein Doppelleben: schlechthinnig ineinander zu gleichen Teilen vermengt – Schmutz und Glanz, Himmel und Hölle! Und beide ganz bewußt (und gleichsam: gespenstisch schlafend, in sich scheinbar sonder Bewußtsein ruhend – !), ganz von innen heraus durchdrungen, sich gegenseitig durchdringend! – Das Merk- und Denkwürdigste umwittert stetig mein Leben: die
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schönsten Stunden mischen sich, unvermengt! immerzu mit den dunkelsten; die trübste Zeit übertüncht die heiligsten Freuden: solcherart beschaffen, bemerkte bislang kaum jemand, wie nah am Abgrunde ich mich bewege; dort nämlich flieg‘ ich engelsgleich im freien Äther! Ich lächele, indem ich mich nach dem Tode sehne; und nah dem Tode fühle ich mich samt und sonders ungleich freier als niemals sonst … – Dies ist mein Wesen, mir selbst so fremd, als ich es der Tiefe nach erfühle: so unermeßlich von der Welt verschieden. Was nunmehr Ursache ist, was Wirkung, vermag ich nicht mehr zu ergründen; ich denke mir, daß beide wohl zusammenfallen und sich beide gegenseitig bedingungslos! bedingen … Aber bevor ich ins Feld einbefohlen wurde, standen zunächst monatelange militärische Exerzitien an: so stumpfsinnig und öde, daß kaum einer es glauben mag. – Im Winter 1793 starb mein Augentrost, meine Mutter, am Gliederfluß, der fliegenden Hitze – weiß der Teufel, was diese abgefeimten Urinpropheten alles zu auspizieren wissen! Der bürokratische Staatsapparat hat sie getötet, indem er das gute Weib ganz in die existentielle Sorge hineinstieß; ein erster bläßlicher Anflug von Verbitterung an mir, bereits in jungen Jahren, läßt sich kaum leugnen. – Daheim nun nahm mein Tantchen, Helene von Massow, die ältere Schwester meiner Mutter, das Szepter an die Hand. Kurz darauf wurden die Truppen, zwecks Ausfechtung des ersten Koalitionskrieges zwischen Preußen-Österreich und Frankreich, in die Quartiere nach Frankfurt am Main verlegt. Im Rheinfeldzug nahmen wir aktiv am Geschehen gegen die französischen Revolutionsheere teil; vorerst erschien es mir als ein lustig Ausklopfen eines ziemlich abgeschmackten Raubgesindels, eines wilden Haufens rohgeschnittener Barbaren – der nicht zu vergleichen ist mit demjenigen Heere, das Napoleon noch formen würde. – Die ersten Gefechte erlebte ich bei Bombardement und Kanonade der Stadt Mainz; – hui, das pfiff, kartätschte und krachte, daß es eine schiere Freude war! Darnach wurden wir in Kampfhandlungen in Hochspeyer verwickelt; schließlich kämpfte ich in den Schlachten zu Pirmasens, Kaiserslautern und Trippstadt.
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Ich mag mich kaum mehr entsinnen: ’s war wohl in Pirmasens oder Kaiserslautern? als ich das erste Mal einen Menschen töten mußte; – ja, ich mußte es tun, ansonsten ich derjenige gewesen wäre, der die Walstatt mit seinen edlen Knochen gebleicht hätte. In der Hitze des Gefechtes traf ich den Unglücklichen mitten durchs Gekröse; er brüllte wie ein Leu: gleich, ob er am Spieße stäke. Weidwund knickte er ein, und ich gab ihm den Rest! Eins, ich sage Dir, lieber Rühle: – eins! machte mich gleichzeitig staunen und schreckte mich im innersten Mark ebenso sehr! Nein, es war nicht der Tod (obgleich mich der arme Mensch unendlich dauerte: im Augenblikke des Gnadenstoßes wäre ich bereit gewesen, mit ihm die Rollen zu tauschen) – viel schlimmer: ich fühlte einen innerlichen Genuß, zu töten! Schreckt Dich dies nicht auch? Ich blickte mir selbst ins Antlitz: und sah … – die schauerliche Meduse; ich wußte nicht, wie mir geschah! Auf der einen Seite sah ich, in Gedanken, des Opfers liebs Weib zu Hause, seine Kinder, wie sie ihre Arme nach ihm ausstreckten: und der Mann ward mir wert, so unendlich viel wert! – auf der andern Seite stach ich mit Wonnen, je lauter er schrie, desto fester. – Was soll mir dies? Was bedeutet das? Gebiert der Krieg Monstren? Schafft er diese? – oder weckt er stumm, was bereits vorhanden? Ich brauchte lange, um mir darüber klar zu werden, um damit umgehen zu können. Vorerst bemühte ich mich (übrigens höchst erfolgreich), das gräßliche Kriegsgeschehen zu verdrängen: ich flüchtete mich ins Reich der Ideale, in den naiven Glauben von der unverrückbaren Unbeeinflußbarkeit meines Seelenfriedens. (Das beschriebene Erlebnis war – abgesehen vom tumben Drill – der Hauptgrund, weswegen ich nach sieben Jahren, entgegen dem Willen meiner Familie, aus dem Militär schied; ich tat sicherlich gut daran, zumal ich der unheilvollen Harpyie Fährlichkeiten nicht zusätzliche Nahrung bieten wollte.) Ein Gutes immerhin vollbrachte das Ereignis: ich suchte fortan nach den Harmonien des Lebens, eine tiefgreifende Sehnsucht schuf sich in meinem Busen Raum; ich fand mit gut fünfzehneinhalb Jahren zur Literatur, las Wieland (den großen Wieland, welchen ich künftig persönlich kennenlernen sollte), Goethe, Schiller und was mir an Köstlichem und Kostbarem in die Hände geriet. Ich wollte mich zu einem vollkommen edlen Menschen heranbil-
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den, einer Perle seines Geschlechtes. Zudem bin ich selbst heute noch der Meinung, daß alles Große und Schöne an Tugenden, was wir hienieden auf Erden lernen, an einem andern Orte, in einer andern Zeit wieder verwendet werden kann. Dieses Gute, Hehre, Edle: das bleibet – und das wird uns der Gottheit Stufe um Stufe näher bringen! Ende 1794 / Anfang 1795 ging das unmoralische Hauen und Stechen wacker in einem fort; das Blut floß in Strömen, und in der Freizeit genoß ich der schönen Künste zum Ausgleich. – Im April 1795 wurde endlich zu Basel ein Separatfriede unterzeichnet; für uns Preußen zumindest war der Krieg beendet und die Truppen zogen sich in ihre Garnisonen zurück; Mitte Juli traf ich mit dem Regiment Garde wiederum in Potsdam ein. (Ich bin nicht stolz, zu erwähnen, daß ich nach Potsdam als Fähnrich zurückkehrte; Anfang 1797 wurde ich schließlich in den untersten Offiziersrang, zum Leutnant, erhoben; übrigens ist mein Bruder viel schneller aufgestiegen als ich und hat fürderhin Preußen in militärischen Diensten, wie es sich für einen Kleist eben mal gehört, alle nur erdenkliche Ehre erwiesen – ich hingegen begann die schief angelegte Bahn nunmehr mit Selbstbewußtsein herzurichten.) Es bleibt anzufügen, daß unser tüchtiges, aber langsam veraltendes fridericianisches Kriegswesen erstmalig bei der Kanonade zu Valmy im September 1792 mit dem neufranzösischen zusammendonnerte. (Goethe – dem Geschehen beiwohnend, das beiden Seiten lediglich geringe Verluste bescherte – sah richtig, als er ausrief, daß von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgeht.) Der Kampf gegen diese Rotten der Massenheere ward, wie erwähnt, alsdann noch gut zweieinhalb Jahre fortgeschlagen; und militärisch zwar unbesiegt, schieden wir Preußen, aus rein politischen Gründen (sprich: aus purem Eigennutz) aus dem Kriege vorerst wieder aus. Gut elf Jahre später wurden die Waffen erneut gekreuzt: die chaotische Wildheit und Zügellosigkeit, die rohe Kraft dieser Kriegerhaufen allerdings formte Napoleon unter seiner Ägide in der Zwischenzeit zu den ersten und besten Soldaten heran – wir blieben dagegen schmerzlich zurück und verharrten stocksteif in diesem unrühmlichen Hintertreffen! Es war in der Folge
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kaum erstaunlich, daß unser Preußen beim ersten napoleonischen Rammstoß unter gewaltigem Getöse in die Kniee sank. – Grundlegende Reformen in Staat, Politik und Militär sind vonnöten: späterhin werde ich diese reformistischen Ideen mit meinem patriotischen Idealismus, meinen Schriften und handfesten Aktivitäten unterstützen, wenngleich innerhalb eines bescheidnen Wirkungsfeldes und mit ebensolchen (unter den Schicksalsschlägen aufgezehrten) Kräften! Wir Kinder unserer Zeit! – ich, Mensch, qualvoll eingespannt zwischen vielerlei verschiedenen antipodischen Weltund Wirkgefügen: Altes und Neues rangen bereits lange vor 1806 in Preußen miteinander (und wahrhaftig: auch dieses bekam ich angelegentlich mehr als bloß unangenehm zu spüren), – ja lagen, in sich verbissen, in ermattendem Todeskampfe, der sich mir im kleinen, je länger ich lebe, desto unabwendbarer zur ewigen Ruh in mein Herz niederbettet. – Armeespitze, Aristokratie und Hof erkannten die Zeichen der Zeit nicht, fürchteten sich ebenso vor einer Revolution in ihrem Lande … – und reagierten mit harten Repressionen, Zensur und grausamer Gewalt: in diesen unerbittlich alles zermalmenden Mühlstein geriet ich endlich gleichermaßen, wie viele meiner Zeitgenossen – allein, es traf mich weit tiefer, heftiger, schlimmer als diese. Unsere hochnäsige Staatsführung, insonderheit der zaudernde König, beharrt nach wie vor auf ihren völlig verkrusteten Standpunkten, deren Ungemach vor den glühenden Augen jedes denkenden wie erkennenden Menschen sich zumindest ins Unerträgliche, wenn nicht gar Tödliche auswachsen muß. O tempora, o mores! – gleich Cicero rauf ich mir das kahle Haupt, und mit dem einzig verbliebenen Haupthaar bind‘ ich mir rückenwärts einen Scheitel. Eins ist noch bemerklich: In aufreibenden Armeediensten habe ich mir das Stottern zugezogen, was mir rückblickend jetzo auffällt. Ich behaupte nicht, daß der Grund dazu im oben geschilderten «Medusen-Erlebnis» liegt, sondern vielmehr darin, daß ich mitansehen mußte, wie das schöne weibliche Geschlecht unter unbeschreiblicher Brutalität vergewaltigt wurde: sowohl seelisch als auch körperlich. Unter anderem wurde ich gezwungen hinzuschauen, wie ein Haufen Franzosen – aber es hätte gerne auch
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umgekehrt sein können, wie mich meine spätern Erlebnisse belehrten: ich will ehrlich sein – eine Frau bestialisch vergewaltigte, aufs äußerste kujonierte: und das Gnadengeschenk! bestand schließlich darin, daß man einen Sarraß bis fast zum Knauf dort einführte, wo man gemeiniglich mit anderen Mitteln, adäquateren Werkzeugen und sehr viel freundlicher die weibliche Pforte zu liebkosen geneigt ist, auf daß sie sich dem Würdigen öffne. – Ich konnte nichts tun, schloß die Augen, während mich drei starke, erwachsene Männer laut grölend festhielten: das Winseln und Schreien des armen Weibes trafen mich in den tiefsten Niederungen meines Herzens und zerrissen es in Tausende blutiger Stücke; ein wildes Rasen erfaßte mich bei gleichzeitiger völliger Hülflosigkeit. Nach dem Procedere verpaßten mir die Barbaren einen Tritt und warfen mich auf den geschändeten Frauenkörper. Ich hörte sie wimmern und ächzen: – sie bat mich inständig, ihr den Tod zu geben. Das tat ich, obgleich schweren Herzens, aber gerne – aus zwei Gründen. Erstens erlöste ich sie im Guten aus der unermeßlichen Qual ins andere Leben; zweitens spürte ich ja beim Töten diese eigentümliche Wonne. Immerhin wurde ich nunmehr gewahr, daß ich bloß ein Halbmonster sei, eine ungewöhnliche Chimäre – gefügt aus Licht und Schatten: denn Hülfloses zu schänden, zu quälen ist meine Sache nicht, selbst wenn ich mir dieses sonderbare Gefühl des Labsals am Tode nicht zu erklären vermag. – Ich verspürte unbändigen Haß gegenüber diesen räudigen Hunden, und gleichermaßen ein unendlich tiefes, liebevolles Mitleiden zugunsten dieses armen Wesens, dieser Frau: ich preßte ihr – nachdem sie den letzten befreienden Seufzer tat, als ich ihr den Stahl mit einiger Wucht mitten durchs Herze trieb – einen festen, innigen Kuß auf ihre wunderbar geformte Stirn und schloß ihre Augen; solcherart befahl ich ihren Geist und ihre Seele in die Hände höherer Mächte. Dieser jähe Anprall auf die an sich gut befestigten Bastionen meiner Seele wirkte sich dergestalt aus, daß ich stets dann, wenn ich mich gegenüber irgendwelchen Situationen oder Menschen (aus welchen Gründen immer) hülflos fühle oder schwach, zu stammern beginne. Auch glaube ich, daß – allerdings: unter anderem – sich daraus ein bestimmtes Minderwertigkeitsempfinden meinen Mitmenschen gegenüber entwickelte, welches sich mal stärker, mal schwächer zu jeweils bestimm-
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ten Phasen meines Lebens mitunter Bahn zu brechen anheischig macht; worauf ich es mit Wille und Disziplin zurückdränge, was mir aber eine zuweilen reichlich strenge oder gar verkrampfte Note im gesellschaftlichen Umgang verleiht.
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Nach dem erwähnten Separatfrieden hatte ich den stinklangweiligen Kasernendienst in der Sommerresidenz des Königs zu verrichten! Er war mir ein Leidenskelch; des schalen Schwertspiels war ich sattsam überdrüssig: kam ich mir doch vor wie die gegängelte, abgerichtete Bracke, die im Fenn der Hindin und dem Schelchen hinzulauern hat! Um mich von den alltäglichen Bedenklichkeiten trübster militärischer Blutritzereien, welche in Qualität sowie Quantität für jede nur erdenkliche Phantasie genügend unerschöpfliche Arsenale bereithält, abzulenken; kurz – um mich von diesem schäbigen Stahlbad zu reinigen, scharte ich liebe Freunde um mich (so etwa den vortrefflichen Rühle von Lilienstern, den etwas schwermütigen Hartmann von Schlotheim und Carl von Gleißenberg; später stieß noch der gute Ernst von Pfuel, mit dem mich eine besondere Freundschaft verbindet, dazu). – Wir verbesserten und mehrten in der Freizeit unsere Bildung, indem wir uns mit Philosophie und Mathematik beschäftigten; nahmen Privatunterricht beim Konrektor Bauer, welcher mit uns einige weitere Garnisonsoffiziere zu unterrichten pflegte; lernten Latein und Altgriechisch; führten Ausflüge in den Harz als wandernde Musikanten aus: ich spielte dabei die Klarinette und Flöte, Rühle blies die Mundharmonika, Schlotheim übernahm die Drehleier; für den Gesangspart war der Gleißenberg zuständig, dies wegen seines äußerst melodiösen Organs. – Punktum: ich errichtete mir eine Gegenwelt zu all den krassen Unbilligkeiten meiner tristen, alltäglichen Gegenwart. Mit meinem Leutnantssold von 10 Talern monatlich – das Geld reichte knapp für das tägliche Mittagessen, man stelle sich vor! – konnte ich allerdings keine großen Sprünge veranstalten und war auf ein kleines Zubrot angewiesen. Zum Glück ward es mir ver-
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gönnt, in ein paar Privathäusern Einlaß zu finden, unter anderem bei Marie von Kleist, geborene Gualtieri. Doch fast überall moderte es; die alte Ständegesellschaft begann zu verfallen: Hohlheit, Leere, Sittenlosigkeit umfaßten mit kalter Hand die Charaktere so mancher «Aristokraten». Ich fühlte, wie mir eine großmächtige Oberflächlichkeit entgegenschlug – laue Herzen, die nur zum Scheine pochten. Welch ein Unbehagen nagte mir bereits so frühe aus dem Tuche der Hoffnung auf Geborgenheit und Glück zahlreiche Löcher heraus! Bigotterie, gottloses Getue, schnöde Einfältigkeit – ach! was für eine Welt. Einzig Marie von Kleist, die gute Marie, teilte meine tiefe Sehnsucht nach dem Echten, nach der wärmenden und bergenden Empfindung. Immerhin darf ich dankbar vermerken, daß ich im Umgang mit diesen Potsdamer Kreisen einiges an schöpferischen Gedankenanstößen erworben habe; überhaupt ist es eine nützliche Fähigkeit von mir, aus allem irgendwelche Funken herauszuschlagen, und seien sie noch so dürftig: bei einigem Glücke aber vermögen sie ein Feuer anzufachen! Durch günstige Vermittelung bekam ich Zugang zu Büchern und Zeitschriften, also zu Bildung ersten Ranges, die ich mir mit meinem geringen Solde nie hätte leisten können: es hat schließlich alles irgendwo sein Gutes. Auf der andern Seite hinwiederum verkroch ich mich vermehrt in mein Selbst – enttäuscht von so vielem in einem bis dahin kurzen und zu kurz geratenen Leben. – Alles in allem: Die größten Freuden und Enttäuschungen in einem Stücke harrten meiner noch. In allen erdenklichen Sparten fast frühreif, war ich, was Liebschaften anlangt, ein hemdsärmlig Spätverlesener – und was für einer! Meine erste große Liebe, die mir den roten Hahn aufs Dach setzte, war die Luise Linckersdorf, welche ich in einem der Häuser kennenlernte; ich verliebte mich schwärmerisch in diesen trauten und flotten Backfisch! Mit knapp 20 Jahren in diesen Angelegenheiten bis zum Entsetzen unbedarft und eigenwillig wie nur etwas, stürmte ich auf dieses zarte Wesen ein. (Luise meinte einmal, ich gebärdete mich in meinem radikalen Temperament und Benimm wie ein heißtatziger Bärenhäuter; ja wie ein grobschlächtiger Metzger, dem das Huhn, drum und dran, zu entfleuchen drohte: – gleichviel! sie nahm es mir nicht übel und bewies damit Humor.) Überzeugt von mir und meiner schneidigen
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Männlichkeit, erkannte ich mich hinwider entwaffnet und in aller Blöße, mein Ansinnen derart schnöde, wie ich wertete, rückgewiesen zu sehen. Einmal mehr aufs empfindlichste getroffen, schnappte ich ein – und zog mich noch mehr in mich zurück, was künftigen zärtlichen Begegnungen leider nicht gerade zuträglich war! All die tiefgreifenden Enttäuschungen, Todesfälle, all die Verletzungen und Schändungen meiner Inbilder hoher Moral und hoher Ideale durch Kriege, Oberflächlichkeiten und verschmähte Liebe (später dann durch Intrigen, Gemeinheiten und Listen) bewirkten einen schmerzlichen Riß in einer Welt, in welcher Sein und Schein keine Einheit mehr bildeten, ja dergestalt auseinanderzuklaffen begannen, daß ich mich endlich in der Hoffnung betrogen sah, über die Erscheinungen selbst zur Erkenntnis vom Wahren und Echten zu gelangen! – Eine große, heimliche Angst und Unsicherheit überkam mich, was schließlich in Mißtrauen, Mißmut, Irrsal und verquere Ironie mündete: ein undurchdringbares Spinnweb, festund starrgesponnen im Kitt menschlicher Unzulänglichkeiten, Schwächen und Torheiten. Was ich bei der Wilhelmine – meiner nachfolgenden zweiten Liebe – nicht mehr vermochte, wo mein Berserkertum dem Weibsgemüte arg zusetzte, gelang mir noch bei Luisen: dem Engel meiner Sehnsüchte! Anfänglich konnte ich somit noch frei über mich walten, während ich im Fortgange meines steilen, widerständigen Pfades mit jedwedem schwierigen Schritte zusehends verhärtete, verbitterte und meinen eigentümlichen Ideen nachhing. So schrieb ich meinem Luischen zum Abschied ein Gedicht, welches mir sinnreicherweise in einer Abschrift aus ihrer Hand überkommen ist. Holdselige Erinnerung!
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Meleagers Weise Wie Atalanta jagdein streifte durch des Waldes Flor Und traf mit kenem Pfeil des Hirsches Weiche, Dem eingezaubert Meleager, die nun leidlich sohr: So traf die Sennkraft Deiner Augen Schwinge meine Schön‘, Wo sonst des blanken Stahles Spitz‘ sich nimmer beugt. Wie die Windsbraut, die der Harf‘ die holden Tön‘ Entlockt – ein Gleichnis: in des Gadens Weit‘ Die Kraft des Klanges eingeht in ein Nichts und Alles, Wo ewig Licht ist und ein Sein in trauter Zweisamkeit! O Amor, der du mich ritztest an der Ferse des Achill: Weis deine Pfeile nicht so schicksalsträchtig fort An Orte, da ein himmlisch Meer und einsam still Sich zehrt ein bebend Herze nach der Wonnebraut. – Ich weine eine Zähre in mein Innen; denn klar erkenn‘ ich, Daß all mein Minnen sich nicht erwidern läßt in dieser Haut, In der ich stecke. Wem soll nun zürnen dieser Tantalos, Wem dieser Ixion: eingebunden in das Kreuz der Erde? Entsag der Braut, und folge deines Lebenspfades Schoß; Und Braut sei dir die Welt und du ihr Bräutigam. So sprach‘s der Sphären Wind mir in des Geistes Sinn: Leb‘ Freundschaft dir, der Welt und – der Luisiam!
Mich ergriff die wahre Liebe (jenseits des Geschlechtlichen) noch nicht: ich denke, es war allein ein süßer Trieb, ein Traumbild, ein ausufernder Wille, – mein Aar, der nach der Liebe griff: keine Wollust, aber eine unstillbare Sehnsucht; und ich ging‘s auf dem falschen Fuße an …
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Mein Impetus bestand immerfort in dem äußerst hartnäckigen, ja verbohrten Bemühen, eine absolute Wahrheit, Erkenntnis, Vollkommenheit zu erfahren; dies Bestreben, ausgeführt: erbarmungslos gegen mich selbst, unablässig mit schärfstem Nachdruck verfolgt, katapultierte mich jeweils in die extremsten Höhen und Tiefen menschlicher Empfindungen. Das Denkvermögen, die Denkkraft des Menschen reichen nirgends hin; wie schnell gelangen sie an ihre naturgegebenen Grenzen! Gerade deswegen, weil mir mein innerer, unbestimmter, quälender Daimon fortzu einen mir eingeborenen Drang nach dem Darüber-Hinaus, dem Unerreichbaren (im Guten wie im Bösen) einflüsterte, richtete sich das Verlangen im Gegenzuge – umso inbrünstiger, je eindringlicher die Einflüsterungen waren und sind! – nach jener unstillbaren, namenlosen Sehnsucht, nach Ruhe im Schoße der Natur, nach Geborgenheit und stummer Ergänzung! Jeder Mensch hat seine Aufgabe; meine scheint zu sein, ohne Umschweife den direkten Weg von der Hölle in den Himmel zu erkunden. Eine Aufgabe zwar, die meiner würdig; aber was für eine Aufgabe! (Denn alles kostet seinen Preis: und ich war immer bereit, aufs äußerste zu gehn, ihn zu bezahlen, selbst wenn‘s mich mithin arg ankömmt; die Gefahren solcher Konstellation sind leicht auszumitteln.) Kein Wunder, muß ich den Mitmenschen befremden. Zumal: Was ich im Übermaße besitze, ist reine, schiere, energetisch-rauhe Kraft – die allerdings gebündelt und zu einem harmonischen Ganzen geformt werden will! Weist mir die Titanen, auf daß ich sie zermalme … Aus den unterschiedlichsten, teilweise bereits angedeuteten Gründen war es mir nicht möglich, meinem Namen Ehre zu erzeigen, indem ich im Militär verblieb. Es entsprach nicht der Aufgabe, die mir mit meiner Geburt übertragen wurde. Ein innerer Druck sprengte mich aus der genealogisch vorgefertigten Bahn: in den Augen meiner Familie galt ich je länger, je mehr als «kleistlos». – Ein Außenseitertum wie meines ist nun einmal zwangsläufig mit den fremdesten Elementen verstrickt: denn ginge man alleine unter den Vorzeichen «durchschnittlicher» Überlegungen und Kriterien sowie mit entsprechendem Vermögen auf den vorgetrampelten Pfaden einher, wäre etwas Neues, schöpfertätig Anderes doch gar nicht zu verwirklichen: das verschämte Abseits des
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Pfades hingegen erweckt zumindest Verwunderung, zum andern Teile Neid, manchmal sogar Haß bei Menschen von ungutem Charakter; einigen hinwiederum entlockt es ein herzlich-herzensgutes Schmunzeln (wie bei meiner ersten Liebe, der Luise), und der intelligente Geselle von sauberem Charakter prüft einfach, was am Knochen dran ist – denn Scharlatane gibt es gerade auf diesen abgelegenen Strecken genug, weil es sich um eine Art von «unbearbeitetem» Felde handelt, eine «rechtlose» Zone: deswegen ist der kritische Verstand, das Selberdenken! sehr gefragt, und gleichfalls kann man es keinem übelnehmen, wenn er zunächst sehr skeptisch zum Vorgezeigten, Angebotenen, ja zu mir als Menschen stehet und frägt: «Geht denn das alles mit rechten Dingen zu?» und «Ist der Kerl überhaupt noch bei Sinnen?» Fürwahr; wozu sollten wir sonst unser Hirn erhalten haben, wenn wir nicht prüften und untersuchten!? Kurzum: Mit einer gewöhnlichen Ausstattung wäre mein Leben nicht zu meistern gewesen; da brauchte es einfach einen menschlichen «Autoklaven», welcher gegen (sowohl äußere wie innere) Drücke, Hitze und eisige Winde standzuhalten vermag: komme, was da wolle. Sollte dies nicht zwangsläufig bestimmte Eigentümlichkeiten hervorrufen, wofern diese nicht bereits im schicksalsträchtigen Mosaik des Wesens eingelegt wären …?! – Man kann mir viel Schlimmes und ebensoviel Gutes unterstellen; nur eines bin ich gewiß immer gewesen und werde es immerzu sein: echt! Ich machte mich auf, das Glück der Welt nunmehr in meinem Innern auszuspähen, da es mit Sicherheit in der Außenwelt nicht zu erlangen wäre. Ich eignete mir das aufklärerische Gedankengut an und erhoffte mir dadurch zu jener Zeit noch, allein aufgrund des menschlichen Verstandes, menschlicher Vernunft, der geläuterten Kraft reiner Denkungsart den Rätseln des Daseins unnachgiebig auf den Pelz zu rücken: – diese Unternehmung betrieb ich, meinem Wesen gemäß, derart hartsinnig, extrem und einseitig, daß das Pendel abermals und abermals unter Gewalt zurückschlug. Meine hohen Ideale, dieses Lebensprogramm war in der Potsdamer Kaserne nie und nimmer zu verwirklichen, die mit Mauern, Wällen und Stützstreben zusätzlich gegen Desertionen gerüstet
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war. (Man bedenke: Die Soldaten waren zu einer Dienstzeit von lächerlichen zwanzig Jahren verpflichtet!) Die Strafen für Verfehlungen waren erwartungsgemäß drakonisch. Als Offizier war ich für die täglichen Exerzitien, den täglichen Drill zuständig; entsprechend dem strengen Reglement hatte ich zudem Prügelstrafen zu verhängen, Arreste auszusprechen. Ich war gedungen, dort zu strafen, wo ich liebend gerne aus Erkenntnis vergeben hätte (denn oftmals trieben Not und Verzweiflung die Soldaten dazu, etwa Essen oder Wasser zu stehlen – oder aus dieser Zwangesanstalt zu entfliehn, weil zu Hause eine Familie zu versorgen gewesen wäre etc.); hingegen durfte ich dort nicht zulangen, wo die Moral und gesunder Menschenverstand es eindeutig erforderten: damit wurden Denunziantentum, Hinterhältigkeit und Falschheit mit frischer Nahrung hochgepäppelt. Menschliches, humanistische Bildung, Feinsinniges, die Schönheit des Lebens, die ganze menschliche Würde blieben auf der Strecke: hübsch-säuberlich mit Schwung präzise eingestampft. – Nein, ich kam mit mir überein: ich muß das Militär verlassen. Obzwar – ich unternahm einen letzten verzweifelten Versuch; Friedrich Wilhelm III. bestieg im November 1797 den Thron, womit das ganze Land, vorab die Spitze der Reformer, neuen Mut auf Änderungen in den vielfältigen Organen des Staatskörpers schöpften; da ich mit ihm persönlich bekannt – so focht ich unter seinem Befehl zu Mainz im Regiment Garde –, verfaßte ich ein Sendschreiben mit Vorschlägen zur Besserstellung der Menschenwürde und zur wirkungsvolleren Mehrung geistigseelischer Werte; aufgrund aber seiner bis zur Verbissenheit starren, reaktionären Verhaltensweise gegenüber allen Neuerungen hielt ich es zurück und resignierte wie die Reformer. Bis zum reinigenden Ansturm Napoleons 1806 versank das Land zusehends in Lethargie und Stagnation … Was an früherer Ausbildung deutlich zu kurz gekommen war, versuchte ich – mehr schlecht als recht – in der freien Zeit, quasi zwischen Drill und thrill, wie der Engländer sagen würde, nachzuholen. Ich war in der Tat weder Fisch noch Vogel – weder Soldat noch Student; und ich empfand diese sieben Jahre geistiger Saumseligkeit, für mein Heil und Fortkommen als Mensch, als unwieder-
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bringlich verloren: nach dem Austritt warf ich mich sogleich, wie bei mir allgemein üblich, mit aller Kraft auf mein nächstes Ziel. Mein ganzes Leben lang arbeitete und quälte ich mich durch irgendwelche Kettenhemden von Zwängen, seien es fremde oder eigene. Nachdem ich an meinem mir neu eingerichteten Ziele genügend Blut geleckt hatte, betrieb ich alsofort, geharnischt wider alle Fronde, das Ausscheiden aus dem ungeliebten Militär; jedweder hat sein Recht auf persönliches Glück! In mir lebte der unverwüstliche Wille, gleich einem Columbus die entlegensten, unwirtlichsten, noch nicht entdeckten Flecke der Landkarte auszuforschen – alsgleich warf ich das Senkblei dieses meines Willens in den Born abgründiger Lebensweisheit; allen Eigenwuchs wollte ich durch mich selbst befördert sehen. Was reizet mich der Pfad, den jeder geht? Ich bin aus anderm Stoffe: entwachsen Regionen, deren weltfremden Bezirks selbst die Gottheit bloß im Zwielicht schaut: an mir ist es, ins Licht zu heben, was dem Menschen ein Elementfremdes in der Kunst erscheinet. Gleich einem, frisch bewässert, sich regenden Saatgut, sprengte die Kraft der Keimlinge jetzo die harsch-beklemmende Rüstung des Kriegsgottes Mars auf … – Niemand, wirklich niemand, war mit meinem Ansinnen zu begeistern gewesen; den Dienst zu quittieren ward allseits als «blanke Dummheit», so etwan verlautbarte General Rüchel, ein enger Vertrauter des Königs und mein Regimentschef, oder mit anderen, ebensowenig erbaulichen Titulaturen abgetan. (Clausewitz, den ich späterhin persönlich kennen- und als Reformer einerseits, als Menschen und Militär andererseits über die Maßen schätzenlernen sollte, bezeichnete Rücheln, der mich im Innersten anwiderte, in einem Tischgespräch treffend als «eine aus lauter Preußentum gezogene, konzentrierte Säure»: ein perfekt laufendes Zahnrad in einer Maschinerie ohne Sinn und Geist; allerdings denke ich schon, daß ein solcher Menschenschlag seine Nützlichkeit hat; was aber nichts daran ändert, daß ich mit diesem sterilen Holzkopf nichts näher zu tun haben möchte – von weitem bin ich gerade noch geneigt, ihm freundlich zuzuwinken.) – Man spähte aus, wovon ich mich eigentlich ernähren wollte; mit allem Nachdruck ward mir nahegelegt, zumindest Jurisprudenz oder die Cammeral-Wissen-
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schaften zu studieren. Ich meinerseits ließ dagegen ein gewisses Wohlwollen vernehmen – aber, ehrlich gesagt, wußte ich selbst nicht, wo es langgehen sollte. Ich war mir einzig sicher: dergestalt ginge es nicht mehr weiter; ich müsse das Militär verlassen; ich wolle das Glück finden, selbst wenn ich es mir an den Haaren Attilas herbeischleppen würde. – Was daraus alles folgte, konnte ich nicht ahnen … Ich galt als zu alt für das Studium, zudem hatte ich ja – mittlerweile bereits im 22. Lebensjahr fortschreitend – das Abitur noch gar nicht abgelegt; und schließlich lag meine Ausbildung in Bausch und Bogen, wie Preußen selbst, in einem überholten Zustande darnieder. Einzig das unerbittliche Schicksal geißelte mich auf meinem dunklen Lebenswege hinan. Nolens volens schritt ich irgendwie vorwärts einher, immerfort die sichern Gestade suchend, die ich wieder und wieder gefunden zu haben vermutete, wobei ich stets aufs neue enttäuscht wurde: ähnlich dem unselig herumirrenden Juden Ahasver, welcher, der Sage nach, Jesus auf dem Wege nach Golgatha jach abgewiesen haben soll, worauf er verflucht ward, so lange ruhelos umherzuwandern, bis der Heiland wiederkehrte. Ich aber ließ mich nicht kirre machen und folgte meinem innern Leitstern! Im April 1799 erreichte mich das königliche Entlassungsschreiben, mit der Bedingung, daß ich fürderhin in keiner andern Armee Kriegsdienste leisten dürfe. Dennoch bewies ich Pragmatismus, indem ich mir vorbehielt, allenfalls dem Könige und dem Vaterlande, nach Beendigung meiner Studien, im Zivilstande zu dienen. – Dem wurde entsprochen.
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III. Studienzeit Ich wollte ja bloß gänzlich dem allesverschlingenden, dunklen Dämmerlicht entgehen, all diesen zufälligen Unwägbarkeiten des Lebens, woran die Kreatur dumpf hänget wie die Marionette an ihren Fäden: ich wollte gestalten, wollte leben, der Sonne nahe sein! Wie viele bleiben unmündig ihr Lebtag lang, sich nicht trauend, nicht prüfend und denkend; – eine Art von Hundekot am Absatz der Schöpfung. Sie fühlen sich gezogen, geschubst, gestoßen von irgendwelchen «unergründlichen Ratschlüssen»: ein Spielball der Natur. Sind wir denn nicht frei denkende, tätige Wesen? Weswegen sollte uns sonst Prometheus das Licht hinabgebracht haben, wenn wir uns dessen nicht bedienten? Eine Schande ist‘s. Der urwüchsige, gesunde Menschengeist muß sich wie Helios über die eigenen wie fremden Schwächen kraftvoll erheben können – und ausrufen: Ich bin der Bildner meiner selbst! Ich bin Pygmalion, ein Schöpfergott im Kleinen! – Wie alles versucht werden muß, was nach Leben drängt: in einem solchen Vorwurf endlich greife ich nach dem Heil des Ganzen. Den mannigfaltigen Harschheiten der unerbittlichen Realität widersetze ich mich mit der eingetrotzten Unbändigkeit meines Willens, der sich selbsttätig Ziele formet. – Kurz und gut: ich erarbeitete mir in aller Strenge einen bis ins kleinste ausgeklügelten Lebensplan, den es machtvoll umzusetzen galt; trotzdem blieb er noch halbwegs, von mir zunächst unerkannt, in der ausgedörrten Konvention stecken. Wahrlich: Ich ging mir selbst auf den Leim – ich war noch jung … Bezüglich meines detailliert entworfenen Lebensplanes wandelte ich zunächst in den (an sich gesunden) aufklärerisch-rationalistischen Stapfen von Gotthold Ephraim Lessing sowie der beiden Philosophen Moses Mendelssohn und Christian Wolff. Wolff war mir ohnehin sympathisch, wurde er doch seinerzeit vom Soldatenkönig, Friedrich Wilhelm I., dem nachmaligen Vater Friedrichs des Großen, aus Preußen rausgeworfen. Er hatte ja sowieso nur sein stehendes Heer, seine Langen Kerls und die Tabagien im Kopfe –
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was braucht‘s da Einsicht, Philosophie und Geist? Diesen tölpelhaften Unverstand bekam bekanntlich auch sein Sohn und Nachfolger ganz übel zu spüren: besonders barbarisch, als er Fritzens Jugendfreund Katte vor dessen Augen für eine Nichtigkeit enthaupten ließ. – Friedrich der Große, eben auch groß gerade wegen seines Geistes, berief in seiner Regierungszeit Wolff wieder nach Preußen – je nun, so gehet‘s in der Welt! Immerhin bot mir der Plan in der ersten Zeit ein gewisses Leitmotiv: gerade recht, um meiner inneren Unnatur sowie der äußeren Unordnung eine sichere Spur vorzugeben. Ohne diese ernsthaft erwogene Einrichtung wäre wohl alles vollständig aus dem Ruder gelaufen und etwelche Katastrophen weitaus früher eingetreten. Ich konnte solcherart meine Anlagen überschaubarer als auch gesicherter entwickeln. Meine erste Liebesenttäuschung verdrängte ich tapfer, obgleich die Säfte in meinem jugendlichen Körper heiß zirkulierten; ja, man muß es geradezu einen Säfte-Höchststand nennen, von dem ich mich nachhaltig bedränget sah. Vom Scheitel bis zur Sohle gänzlich Preuße, zwing ich da – ganz Kleist, entledige ich mich dort: ich entledigte mich des Militärs, zwang die aufwallende Natur … – und warf mich mit Haut und Haar in die Welt des reinen Geistes! Selbstredend klar: das konnte nur schiefgehen. – Ja, ich gebe es zu: ich wollte eine Frau! Doch den Linckersdorfschen Nakkenschlag verdaute ich äußerst schlecht. Ich entschied, vorerst die Schwären auszubrennen, um mich darnach erneut an ein weibliches Wesen anzupirschen. Zudem brauchte ich Geld, denn ich wollte eine Familie gründen. (Auch das war ein Grund, weswegen ich aus dem Militär schied – entweder machte man Karriere oder blieb auf mittlerer bis unterer Stufe stecken: dort hatte man keinerlei Möglichkeiten, einen redlichen Hausstand zu gründen, zumal der magere Sold kaum für einen selbst reichte; schließlich mußte eine eheliche Verbindung zusätzlich durch den König sanktioniert werden: in meinen Augen – ehrenrührig! Ich hätte also höchstens bei Bedarf eins der vielen Freudenhäuser in Potsdam besuchen können, und Vermögendere hielten sich Konkubinen: – alles nichts für mich; betreffs dieser Punkte trieb mich hauptsächlich eine tiefe,
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innere Sehnsucht nach einer dauerhaften Bindung aus dem Militär – ich wollte immer das Alles oder Nichts! Abgesehen davon drohte einem ständig ein massiver Würdeverlust, Abstumpfung sowie geistig-seelische Verödung und Verelendung.) Ich kompensierte daher meine Liebessehnsucht und innere Triebhaftigkeit – von den früheren Verletzungen gar nicht zu sprechen! –, die ich allesamt in ein unetikettiertes Behältnis schmiß, verschnürte und an tiefster Stelle in den Schacht meines Gemütes hinabwarf, mit einer regelrecht stachelwütigen Wißbegier: ich wollte, auf Teufel-komm-raus, meinen Geist, meine Persönlichkeit, mein Glück heranbilden! Die Sprengkraft meiner Seelentätigkeit, welche nicht alleine in diesem unbarmherzigen Vorgehen lag, aber es noch potenzierte, entfesselte in der Folge meine höchsten Geisteskräfte und führte mich um so kraftvoller – aber leider auch rücksichtsloser – zu meinem Ziele hin. Wie auch immer: Meine engbrüstige Weiterbildung, die ich in meiner Freizeit zu Potsdam verfolgte (und glücklicherweise besitze ich einen wachen Verstand sowie eine sehr gute, zudem pfeilschnelle Auffassungsgabe), trug wenigstens insofern Früchte, als daß ich, ebenso im April 1799, sobald ich in Frankfurt/Oder auf meinem Zelter dahinpreschend ankam, die Reifeprüfung an der hiesigen brandenburgischen Landesuniversität Viadrina bestand. – Eben diesen steifleinichten Quadratköpfen entfleucht, glaubte ich mich am Anfang der Ziele meiner Wünsche: ein Sonnenaufgang über meinen Scheiteln! Ein Gefühl der Erhabenheit übermannte mich: an der juristischen Fakultät immatrikuliert, studierte ich Physik bei Wünsch, Mathematik bei Huth, besuchte Vorlesungen und Collegia, unter anderem über Philosophie und Kulturgeschichte, bei Hüllmann, und zu guter Letzt Naturrecht bei Madihn. Gute, gediegene drei Semester lang verfolgte ich meine Studien mit der Inbrunst höchster Selbstvergessenheit; bereits damals übernahm ich mich mental als auch physisch, indem ich teilweise zwei, drei Tage durcharbeitete: ununterbrochen preußische Gewalt an mir übend, die ich doch bei Rücheln dermaßen verabscheute – ohne Schlaf, wenig essend. Aufgrund meiner im Verhältnis! mangelnden Ausbildung, letztlich wegen der allseitigen Vorwürfe, ich sei darob als
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Nichtsnutz zu achten: in meinem Alter noch studieren! (man trug es deliciöser auf den abgeschmackten Lippen) – kurz: aufgrund einerseits eines beträchtlichen Ehrgeizes und wegen eines langsam, aber stetig heranwachsenden, tiefsitzenden Gefühls echter Minderwertigkeit andererseits – denn was ist, wenn die andern recht hätten? ich wußte ja nicht einmal genau, was meine Bestimmung hier auf Erden sei –, bohrte sich mir ein Stachel tief, tiefer und abermals tiefer ins Fleisch. Ich mußte, mußte, mußte … – nur was? Zum äußeren Druck gesellte sich der innere. Indem ich mich gänzlich auf Untersuchungen der Verstandes- und Vernunftgründe warf, hoffte ich, aus dieser Frucht, gleich einer Zitrone, die Quintessenz meines Daseins, ja des Sinnes des Daseins der Menschheit als ganzer erpressen zu können: was rauskam, war ein schales Säftlein, ein falber Absud ohne Geschmack! Kein Wunder doch: wenn man sich so lange in aller Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit allein mit rein abstrakten Dingen beschäftigt, wie ich es tat (den verdrängten Enttäuschungen früherer Jugend mit Gewalt entfliehend), ist zwar dem Geiste sein Scherflein Nahrung zugewiesen: aber es darben Seele und Körper vor sich hin. Bei dem ewiglichen Definieren, Schlußfolgern, Beweisen bleibt das Herz auf der Strecke; es trocknet wie eine Dörrpflaume dahin – und damit nicht genug; es rumort der Wundtau durch alle Geäste des Körpers: rot und heiß und lebenshungrig. Ich selbst verabreichte mir – welch einen wunderprächtig rabiaten, und deshalb voraussichtlich erfolgreichen! Feldscher hätte ich abgegeben!? – weithin überdosierte Zwingherrnschaft wider solches Aufbegehren von Herz und Körpersäften. Da ich aber natürlich empfand und ich trotz aller Selbstzerfleischung – die mir immerfort einem höheren Ziele diente – kein Mensch bin, welcher grausame Lust an der eignen qualvollen Unterwerfung, eine wahrhafte Wonne am eigenst zugefügten Leid verspürt, riß ich einmal mehr das Ruder herum. Welch ein Ferge in tosender See: des störrigen Flutenrosses Ruder blindwütend mit gestrenger, harter Hand bedienend – mal scharf Backbord, mal noch schärfer Steuerbord; darob bleichte Scylla, und die Charybdis verschluckte sich am eignen Strudeln! Was auch immer ich anfasse, vollstrecke ich mit straffer, unbeugsamer Willenskraft – nur, wenn ich mich irrte …? Was wäre dann – wenn ich tatsächlich fehlgehen sollte?
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Im Hause des Generals Hartmann von Zenge pflog ich ein wenig des geselligen Verkehrs; es ward mir die einzige wesentliche Ablenkung während meiner nervraubenden Studien. Doch, wie ich bereits in den Potsdamer Kreisen bemerkte, befällt mich, oftmals wie angerührt, beim fröhlich-ausgelassenen Zusammensein eine eigenartige Beklommenheit, eine Unsicherheit und Ängstlichkeit gar, so daß ich gerne alle Menschen meiden möchte: alles ist mir dann zuwider, und ich beginne zu stammern und zu stakern. Dies gibt mich natürlich einer unbilligen Lächerlichkeit preis, dergestalt, daß ich mich eher noch mehr in mich zurückzuziehen geneigt sah. – Ich denke, dies hat mit den bezeichneten Mißempfindungen meiner Seele zu tun; wohl auch damit, daß ein tragendes Fundament – wie es jedwedem zarten Sprößling zukömmt – infolge des viel zu zeitigen Hinschieds meiner geliebten Eltern, sich nie recht hat aushärten können: viel zu frühe war ich auf mich selbst gestellt; die schlimmen Erlebnisse während des Krieges taten ein übriges; abrundend kömmt ein nicht ganz einfaches Schicksals- und Charakterkonstrukt in Anrechnung, dessen ich mir durchaus bewußt bin. (Ich lernte viel während meiner Studien vom Ursache-Wirkungs-Gesetz; doch in vielen wesentlichen Bereichen des Lebens, beispielsweise was Herzensangelegenheiten oder anderes anlangt, sind ganz andere Wirkkräfte tätig, wie ich schmerzlich erfahren mußte; darüber lernt man nichts – man ist ihnen fast blind ausgesetzt und gezwungen, a posteriori das Spinnweb zu durchschauen. Meine Studien begann ich in der Absicht, diesem Schicksale zu entgehen, indem ich etwa die Anschauungen Laplaces selbst propagierte: verfügte man über sämtliches detailliertes Wissen sowie alle Operatoren, müßte das Schicksal aus eigner Kraft vorauszuberechnen und zu bestimmen sein – nun, alles Theorie!, wie ich bald, weit vernichtender als bislang, am eignen Leibe erfahren sollte …) Ich sehnte mich immerfort nach einer Art Liebe, nach Sicherheit und Geborgenheit, die ich nicht zu beschreiben vermag und die auch nicht von dieser Welt ist. Sonach kämpfte ich mit Hochdruck gegen diesen schwankend-brühligen Boden an, versuchte ihn auszuhärten, tat es durch Feststampfen; brachte Mörtel, Kalke und Schotter bei, auf daß echte, festgefügte römische Straßen entstünden. Ohnehin stellte ich sehr rasch fest, daß ich kein Mensch des Abstrakten sei: ich
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muß festen Boden unter den Füßen spüren; ich muß meine eigenen, konkret mit Händen tastbaren Gedanken bilden können (ich nenn es eine «Plastifizierung», eine Umgestaltung des Unsichtbaren ins Sichtbare). Das Denken muß sich manifestieren, eine Philosophie konkret sein, Mathematik sich in Münze auszahlen; punktum – ich ahnte flugs, daß der reine Lehrbetrieb mir ebenso sehr abhold war wie das Militär; – und das Praktische an den Cammeral-Wissenschaften und der Ökonomie überhaupt war mir schlicht zu trocken. Ebengleich Jurisprudenz (allerdings haben mir später die diesbezüglich mühselig erworbenen Kenntnisse bei meinen Arbeiten am Zerbrochnen Krug sowie am Kohlhaas einige wertvolle Dienste geleistet). – Von meiner wahren Bestimmung war ich unterdes entfernter denn je, was selbstverständlich nicht dazu geeignet war, meine Unsicherheiten und Ängste auch nur zu besänftigen, geschweige denn zu besiegen. «Was ein dunkler, seltsamer und eigentümlicher Mensch!», wird man ausrufen, – und ich stimme in den Chorus ein! In meinem Leben dreht sich jedwedes Ereignis ununterbrochen um die existentielle Achse der beiden Pole: Sein und Nichtsein – ein Drittes ist ausgeschlossen, weil unwesentlich, marginal. – Mein modifizierter Plan sah nun vor, mir zuvörderst die exakten Naturwissenschaften anzueignen, um mich sodann auf ausgedehnte Reisen zu begeben, um das Gelernte auch praktisch in die Tat umzusetzen. Schritt für Schritt wollte ich der Vervollkommnung charakterlicher Größe, geistiger Reife, konkret-schöpferischer Tätigkeit vermittelst ausgeformter Verstandeskräfte und lebensnaher, pragmatischer Erfahrung beikommen; wollte mich zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft heranbilden, auf daß meine Familie, ich, die Umwelt stolz auf das aus ureigenster Kraft Vollbrachte sein könne. Ich wollte Großes leisten und war auch bereit, als Zutat mein Bestes zu geben! Dieser erweiterte Lebensplan war wiederum streng durchdacht und gänzlich nach rationalen Gesichtspunkten ins feinste ausgearbeitet. Allerdings beinhalteten meine Berechnungen zwei wichtige Faktoren gerade nicht: meine Bestimmung, die mir immer noch fremd war, sowie die Unwägbarkeiten des Lebens als solchen. – Mein Ideal war zu diesem Zeitpunkt schlichtweg zu lebensfremd, als daß es über den Zustand des Sämlings hinaus hätte himmelan gedeihen
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können. Welch ein schöner, erhabener und erhebender Gedanke – abgetrennt von der befruchtenden Erde … Wie wichtig (und wie verderblich unter Umständen) dem Heranwachsenden Vorbilder sein mögen, erkannte ich späterhin, als ich Rückschau auf mein Leben hielt: es war Professor Christian Ernst Wünsch, der Physiker und rationalistische Philosoph, mein Lieblingslehrer, welcher einen unauslöschlichen Einfluß auf mein Gemüt hinterließ. Er lehrte, daß allein die wissenschaftliche Beschäftigung, wie er sich auszudrücken pflegte, dem nach göttlichem Inbilde geschaffenen Geist des Menschen zum Heil gereichen könne, indem er in der ewig unveränderlichen und schönen Harmonie der Natur, welche die Gottheit nach ihren Gesetzen leite, deren gütiges Wesen als eine durch allmächtiges Wollen hervorgebrachte und zusammengeordnete Schöpfung bemesse, wobei er angehalten sei, diese immerfort tiefer und nachhaltig erkennend zu durchforsten, zu bewundern und innerlich anzubeten. – Das beeindruckte einen Suchenden wie mich; Physik wurde ab sofort zu meinem liebsten Fache. Ich erkannte aber bald, wie erwähnt, aufs unerfreulichste, wie sehr Theorie und Praxis auseinanderklaffen; mögen Wünschs Worte Bestand haben; mögen Leibniz und Spinoza Kopf und Zahl derselben wahren Münze sein (o! wie verehrte ich die beiden): es bleibt dennoch die Frage nach dem unverbrüchlichen Verhältniswerte des Ewigen zum Endlichen, denn genau darin liegt die gähnende Kluft. Sollte alles nur im Kopfe bleiben, im Abstrakten? Wie sollte es seinen Wert beibehalten? Und wie stellen sich etwa Seele, Geist und Tat zueinander in reelle Proportion? – Der nagende, selbstquälerische Zweifel begann mich, unaufhaltsam hinschleichend, zu vergiften; so bangte ich darnach, daß irgendein weibliches Wesen sowohl imstande als auch willens sein möge, mir das ersehnte Gegengift einzuflößen. – Und siehe!, da kam mir Wilhelmine von Zenge gerade recht. (Es war zu jener Zeit die einzig «verfügbare» Braut in meiner Reichweite – armes Mädchen: ich erkannte meinen Egoismus nicht; ich flüchtete mich in meine Ideenwelt und vermeinte, so und nicht anders handeln zu können, ja zu müssen; – o du labseliger, holder Wahn, in den ich mich, in meiner Verzweiflung, nicht zum letzten Male verstieg.) ^ ]
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Ich liebte Wilhelminen wirklich und wahrhaftig – solange wenigstens sie meinen Bedingungen nachfolgte; wo nicht, entzog ich ihr das Herz. Nach der Linckersdorf, diesem wonnigen Backfisch, die vollständig meinen Idealen entsprach (weil sie aber nie weder an der Realität gemessen noch gebrochen wurden, standen diese Ideale unerschütterlich stumm und eingemeißelt wie die antiken Statuen Griechenlands und Ägyptens vor mir, unbefleckt-heiter: und daran maß ich auch künftighin alle Frauen – in meinem dichterischen Werk endlich zerfiel das marmorne Bildnis in zwei zusammengehörende Teile; es brach an der Realität, ohne wirklich zu brechen; doch wie sage ich immer – ich bin der inkarnierte Widerspruch der Schöpfung: wer solcherlei auch nur in Ansätzen nicht zu denken vermag, hat von mir nichts begriffen!); also nach der Linckersdorf und meinem diesbezüglichen Unglück, keine realen, bloß abstrakte Erfahrungen gemacht zu haben, wurde das sich ohnehin im Torkeln befindliche Schiff meines Lebens in ganz entfernte Regionen abgetrieben: die Liebe wurde auf ein Podest erhoben, welches dem Menschengeiste höchstens ein Leitstern sein darf, nicht aber ein Reales, Erzielbares; insonderheit wurde es damit ein vollständig Unerreichbares, wornach die immer stärker wie vehementer auflodernde Sehnsucht um so nachhaltiger, ja hartnäckiger strebte. – Ich bin (zu meinem und anderer Glück, mitunter aber auch Unglück!) ein Wesen, das immerwährend zu versuchen gezwungen ist, selbst das Unmögliche zu wagen, zu riskieren; man kann mir allerhand Denkbares vorwerfen, nur nicht, daß ich eine sich bietende Chance nicht auf ihre Verwirklichungstendenzen hin geprüft und gezwungen hätte. Trotz der mißglückt gerittenen «Attacke» auf die Linckersdorf – die, ob meiner Unbedarftheit wie meines «Bärenhäutertums», welches sie sich als unziemlich verbat, eigentlich vorhersehbar! hat scheitern müssen und die mir mein Gewissen aufzwang, damit ich mich später einmal nicht anklage, daß ich es nicht wenigstens versucht hätte (schließlich bin ich ein Mensch der Tat – nun, die Lektion ist geschluckt, der Rückzug einigermaßen gelungen; denn auf Verdacht war der Vorstoß ein kalkulierter und kurz geführter – es sollte mir nicht gleich ergehen, wie dem Deutschen Kreuzritterorden, welcher, in Unkenntnis des Geländes einerseits, andererseits infolge maßloser Überheblichkeit, durch
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Alexander Newskji im Winter 1242 auf den Peipus-See zurückgedrängt, mit den schweren Rüstungen das Eis zum Bersten und sich selbst zum Untergang gebracht hat) – dieser mißglückten Attacke zum Trotz hat sich in meiner Einstellung und meinen Gefühlen zu meinen Idealen nicht nur nichts geändert, sondern sie hat sie eher wappnend befestiget; als Mensch des Geistes bin ich sogar froh, hierin vertiefte Klarheit erhalten zu haben, wie die Dinge eben auf gar keinen Fall ins Werk zu setzen seien! Vielleicht gründet ja der Kardinalfehler alleinig in meiner unbändig-bohrenden Hartnäkkigkeit: hätte ich wohl die Ideale abändern, oder wenigstens modifizieren sollen? Statt dessen blieben sie, gleich ehernen Monumenten, immerzu bestehen; ich änderte lediglich die Methoden, um sich ihnen anzunähern und sich ihrer ständig zu versichern. – Die mit großer Gewalt aufreißende Kluft suchte ich mit meinen Dichtungen zu kitten: der heroische Flickschuster seiner Ideale! Mein Freund Pfuel bezeichnete mich einmal als spirituellen Materialisten – der Kerl hat‘s begriffen … Viele Menschen sind feige, wenn es im Leben hart auf hart kömmt; aber oft sind es gerade diese, welche über mir, mit dem Ausdruck höchster Erhabenheit, den Stab brechen. Meine Stärke ist es, den Stier bei den Hörnern zu packen – und ich weiß natürlich, daß ich mich daran verletzen kann. Mein beachtlichster Fehler vielleicht, und auch eine beträchtliche Stärke hinwiederum, mag dieser ungeheure Nachdruck sein, mit dem ich alles angehe und bewege; man kann ihn womöglich mit einem Augenzwinkern abtun, indem man darauf schwörte, ich sei der Hammer der Gottheit, ein Mittel ihrer Potenz! Die größte Gefahr aber sehe ich darin, in meinem Wesen, meinen Gedanken und deren Wirkungen mißverstanden zu werden; leider vermag ich dem keine Abhülfe zu schaffen, obgleich ich es in jüngeren Jahren sooft versucht habe: ich erklärte mich ohn‘ Unterlaß – was mich ermüdete und verdroß, als ich der erschröcklichen Oberflächlichkeiten und des Unverstands meiner lieben Mitmenschen gewahr wurde. Schließlich blieben lediglich Resignation und Rückzug übrig, Einsamkeit und die Flucht ins Ideale – und endlich eröffnete sich mir in der Kunst ein neues, unbeackertes, weites Feld! – Aus all den Qualen kristallisierte sich mir
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ein später Einblick in die wahre Abfolge des Entwicklungsganges der Menschheit in der Schöpfung: Jeder muß irgendwann – zumindest ab einer gewissen, jedem eigenst zugeordneten Weggabelung – seinen urwüchsig-einsamen Weg begehen; jeder muß sich selbst in seiner Göttlichkeit erschaffen! Daraus läßt sich meine Kunst erklären … – Ich führe mit meiner Dichtung jedwedem plastisch vor Augen: Alles wirklich Wertvolle, Große auf diesem Planeten, unter Menschen, ist ein Janushaupt! Mögen wir in andern Weltenregionen, Galaxien, auf fremden Sternen in eine höhere Stufe gelangen, wo die Widersprüche sich in höchster schöpferischer Genialität und Vollkommenheit gänzlich aufheben! Hier auf Erden jedenfalls herrscht das Gesetz der Polarität sowie, daraus folgend, des (scheinbaren) Widerspruchs vor: wir haben uns ihm zu beugen – ob wir wollen oder nicht. Ich nahm in meinem Innern unter großer Unruhe wahr, wie ich – bereits beginnend in frühester Kindheit – fortschreitend vereinsamte; mein Herz schrumpfte, und je mehr es sich zusammenzog, desto durstiger wurde es nach Erlösung. Nicht zuletzt deswegen war ich überglücklich, als mir die Zenge, gerade noch rechtzeitig, in die Quere trat; mein Herz schlürfte diesen unverhofft vom Schicksale dargereichten Labetrunk mit heißem, innerem Verlangen! Seit meiner Rückkehr aus Potsdam wohnte ich ja wieder zu Hause im Nonnenwinkel, zusammen mit meinen Geschwistern und der Tante Massow, dem lieben Tantchen; – obgleich darin ein mehr oder weniger heiterer Betrieb eines wunderlich-beflissenen Hauswesens herrschte, wurde ich ernster, schwermütiger und konzentrierte mich vorzüglich auf den labilen Innenpunkt meines Seins, in der Hoffnung, ihn austarieren zu können. Also, stracks herausgesprochen: den Meinen entfremdete ich mich immer stärker! – Die Zenges waren unsere Nachbarn; wirkliche Zerstreuung fand ich nur in ihrem Hause – deren Garten war von unserem Anwesen lediglich durch einen niedrigen Zaun getrennt: die ganze Familie ward mir sehr traut; so der Vater, ein echter, liebenswürdiger Preuße, seines Zeichens Regimentskommandeur und Generalmajor, August Wilhelm von Zenge, samt seinen zwei Töchtern
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und dem einzigen Sohn. Mein Bruder Leopold und ich besuchten sie ziemlich oft. Leopold war ein echter Charmeur, witzig, und kam gut bei den Mädchen an. Mein Trübsinn belastete sie eher; erst als Leopold nach Potsdam versetzt wurde, sah ich mich frei von Konkurrenz und taute ein wenig auf. Ich nutzte die Gelegenheit, die beiden Mädchen für Wissenschaft und Intellektuelles zu interessieren – und ich begann, sie (geradezu mit missionarischem Eifer) auszubilden, vorzüglich die Wilhelmine! Mein Hang zur Belehrung hat zwiefache Wurzeln: sicherlich findet sich die eine im Zeitgeist begründet, in der Aufklärung, welche im übrigen meines Erachtens in ihren Anfängen schmählich steckengeblieben ist; aber vor allem gründet er in meinem Zwiespalt von Unsicherheit und – nicht unredlicher, ja nicht einmal erkannter – Rechthaberei. Ich war bestrebt, solchergestalt jemanden an mich binden, der meinem Ideal entsprach, meine Gedanken weitgehend teilte und damit, als wesensfremdes Element, quasi den Pfad, den ich beging, nicht bloß sanktionierte, sondern geradezu heiligte! Ich denke, dies war der tiefere Grund des mitunter ziemlich aufdringlichen Bildungskursus, den ich Wilhelminen angedeihen ließ – nochmals, ich liebte sie wirklich; allerdings muß ich im nachhinein zugeben, daß es eine hauptsächlich egozentrische Liebe war. (Daß ich nie aus bösem Willen handelte, bestätigt die Tatsache, daß Wilhelmine – gleich der Linckersdorf – mir diese meine Exaltationen selbst späterhin nie übelnahm: zu meiner Erleichterung heiratete sie kurz nach Beendigung unseres Verlöbnisses Wilhelm Traugott Krug, Professor für Philosophie in Königsberg, Nachfolger Kants auf dessen Lehrstuhl, und wurde glücklich; nachdem einiges an Zeit ins Land ging, traf ich das innige Paar zu Königsberg zufällig wieder: es entwickelte sich, nach anfänglichen Peinlichkeiten meinerseits, ein durchaus umgängliches und schönes, platonisches Verhältnis zu beiden.) Jedenfalls ließ ich es mir nicht nehmen, im weiteren Gefolge zwölf junge Damen, nebst den beiden Zenge-Schwestern, in Experimentalphysik zu unterrichten – ging mir nicht zuletzt die Idee, gleichsam wie ein Stern in großer Finsternis, auf, daß der Gebildete der Lehrer der unreifen Menschen sein solle, um Gutes zu wirken, den Fortschritt zu befördern?! – darin fand ich ein bestimmtes Vergnügen und die einzig mir gemäße Art des geselligen Zusammen-
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seins, welche mir wirklich Freude bereitete; wahrscheinlich eine weitere Marotte von mir: fühlte ich mich doch einfach im Rocke eines Missionars sauwohl! Ich vermute, die Motivationen, wieso die jungen Damen dies Angebot überhaupt annahmen, dürften von sehr unterschiedlicher Art gewesen sein. Als Lehrer war ich ein wenig pedantisch, zugegebenermaßen. Ich unterrichtete sie auch in deutscher Grammatik sowie Orthographie; und vor allem machte ich mich bei Wilhelminen anheischig, speziell für sie ausgearbeitete Denk- und Sprachübungen einzuflechten, welche sie mir schriftlich zu verfertigen hatte. Ja, ich hatte es auf das gute Mädchen abgesehen – ich wollte ihr Seelenbildner sein, dachte, sie müsse aus dem seichten Pfuhl von Oberflächlichkeit und Unwissenheit gerettet werden; gegen Ende des Jahres 1799 fand sie schließlich einen weißen Umschlag vor, in welchem (nebst dem zuletzt korrigierten Aufsatz!) jetzo ein Bewerbungsschreiben um ihre Hand beigelegt war. – Genug, es waren in der Hauptsache zwei Gründe, weswegen sie, nach etwelchem Nachdruck von meiner Seite, der Werbung nachgab: erstens litt sie ein wenig an ihrem Aussehen (meine Hand drauf: ich fand sie sehr niedlich und reichlich anziehend!), nährte sich also selbst mit eigens aufbereitetem, völlig unbegründetem Mißmut; zum zweiten war es meine unerbittliche Hartnäckigkeit – ich bestürmte, bedrängte, becircte, vollführte geistige Purzelbäume, schwor, versprach, weinte sogar ein paar Krokodilstränen: aber immer meinte ich es ehrlich, was ich nicht genügend zu betonen weiß! Nun ja, die Bastionen der liebenswürdigen Minette wurden geschliffen, die Jungfer gab sich mir mit offenen Armen preis, obgleich sie nur mäßig von meiner Werbung entzückt war. Minette mochte und schätzte mich wahrlich, aber liebte mich nie; ich meinerseits konnte ihr dies niemals verübeln, kannte ich mich doch wenigstens von dieser Seite her in- und auswendig – und diese ist ja nachweislich, und gelinde gesprochen, schwierig genug hergestaltet. – Sie machte allerdings eine Heirat vom Segen ihres Vaters abhängig, und ich war gezwungen, offiziell um ihre Hand anzuhalten, was mir gar nicht in den Kram paßte – denn es war vorherzusehen: Eine Heirat käme in der Folge erst in Betracht, sobald ich ein Amt nähme oder sonst einen sicheren Posten bekleiden würde, um Wilhelminen in den sicheren Port der Ehe einlaufen zu lassen.
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Darin aber lag gerade die Crux; ich schwankte immer noch: hin und hergeworfen zwischen inneren Neigungen sowie den äußeren, bitterharten Bedingtheiten … Indes traktierte ich Minetten weiterhin mit den ausgeklügeltsten Denkübungen (andere Frauen erhalten von ihren Liebhabern wollüstig-dampfende Liebesbriefe; ich hingegen zielte auf die Bildung meines geliebten Wesens ab; ich wollte mir – gleich Pygmalion – eine Braut nach meinem Sinne schaffen; das einzige, was da wollüstig dampfte, war der spitze Intellekt der aufgezwungenen Geistesprüfungen; beispielsweise sollte sie mir schriftlich und detailliert Antworten auf folgende Fragen ausfertigen, etwa: «Was ist wünschenswerter: auf kurze Zeit, oder nie glücklich gewesen zu sein?», oder so: «Welcher von zwei Eheleuten verliert am meisten bei dem Tode des andern?», oder aber: «Was ist besser: gut sein oder gut handeln», oder: «Darf die Frau niemandem gefallen als dem Manne?»). – Rückblickend kann ich mir darüber ein Schmunzeln nicht verkneifen, doch dannzumal war es mir todernst. Bei ungeschmälertem Verdienst um die gegenseitigen Bemühungen tauschten wir natürlich auch einige leidenschaftliche Küsse aus, wenn wir ab und an im Gärtchen zusammensaßen; und nicht zuletzt der unterdrückte innere Geschlechtstrieb zwang mich dazu, sie möglichst rasch heiraten zu wollen. Trotz aller meiner Eigentümlichkeiten stand mir ein Familienleben, eine dauerhafte Bindung wahrhaft zu Sinnen. – Allerdings zwänge die mißliche Finanzlage zeitweilige Trennungen auf; zwar wurde mir ein kleineres Vermögen aus der Erbmasse der Eltern zugesprochen; dieses konnte allerdings ein standesgemäßes Leben keinesfalls gewährleisten – das war abzusehen und ein schwerwiegendes Problem! Wollte ich die Ehe, war ich gezwungen, ein Amt zu bekleiden: ich geriet einmal mehr in die Zwickmühle zwischen Neigung und Pflicht. Und da ich niemals im Leben pflichtvergessen war, aber meine inneren Neigungen mindestens ebensolchen Druck ausrichteten, ward mein armes Gewissen auf eine nimmer endende Berg- und Talfahrt gesetzt. Tragende als wie lebenstüchtige Kompromisse war ich erst geneigt und befähigt mit zunehmender Erkenntnis und gereifterem Alter einzugehen, indem ich mich selbst überwand – denn wer in jungen Jahren solcherlei beschriebene, im Busen wütende, inne-
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re sowie äußere, Stahlgewitter miterlebt, ja überlebt, ohne deren Geschöpf zu werden, ist kein Lebewesen dieser, sondern einer weit höheren Welt! – Am Anfang und am Ende steht als überragendes, unveräußerliches Gut: die Überwindung seiner selbst! Meinem ganzen Wesen widerstrebte sowohl eine juristische oder – noch schlimmer – diplomatische Karriere, welche mir ebenso angetragen wurde; in einem Lehramte sah ich mich schon eher. Man versuchte sogar, mir das Finanzfach schmackhaft hinzubacken. – Ich sah mich genötigt, eine gute Miene zum halb-bösen Spiele aufzusetzen: war ich doch noch unmündig und somit finanziell völlig von der Familie abhängig. Ganz zaghaft aber erblühten in mir, aus dem Untergrunde meines Selbst, die jungfräulich-zarten Pflänzlein, die mich zur Kunst hinführten, zu welcher ich erste stärkere Bande während meiner Würzburger Reise knüpfte. Diesbezüglich erste Schritte unternahm ich ja bereits mit meinen ausgedehnten Briefwechseln, worin ich meine gestalterische Phantasie heranbildete; zudem finden sich schlichte Trittsiegel in einem Tagebuch, welches ich seit meiner Militärzeit führe, abgezeichnet – ja, sogar ein «Ideenmagazin» hatte ich begonnen an die Hand zu nehmen, in welchem ich Kerngedanken, Aphorismen und Sentenzen ansammelte. – Im Sommer 1800 endlich, nach meinem inoffiziellen Verlöbnis mit meiner Wilhelmine, zog ich von Frankfurt nach Berlin, um dort dem Wunsche der Zenges, irgendein Amt zu nehmen, fast gleich welches, nachzukommen. Es traf sich, daß es mir durch Freunde ermöglicht wurde, als Volontär eine gelockerte Verbindung zum Minister Struensee, dem Chef des Zolldepartementes sowie des Commerzial- und Fabrikenwesens, aufzunehmen; ich erhielt von ihm die vorerst unverbindliche Genehmigung, mich, zwecks einer Besoldung, bei der Königlichen Kriegs- und Domänenkammer nach einer geeigneten Anstellung umzusehen. Meine Überlegung zu diesen Schritten war dergestalt: vermöge der in meinem Abschied aus dem Militär ausbedungenen Bereitschaftserklärung des Königs, nach Abschluß meiner Studien in seine Dienste treten zu dürfen – genauer: in den Zivildienst –, packte ich die sich mir bietende Gelegenheit, um herauszufinden, ob ich wenigstens für eine praktische Verwaltungsarbeit soweit tauge, ob mich eine sol-
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che Tätigkeit überhaupt erfüllen könne. Ich umschiffte solcherart, nach drei Semestern Studiums in Frankfurt, geschickt die Klippen eines anstehenden sowie notwendigen Spezialstudiums, welches mich für mindestens drei weitere Jahre in Beschlag genommen hätte, was meine Ehe mit Wilhelmine entsprechend hinausgezögert haben würde. (Geduld in Nebensächlichkeiten war leider nie meine Stärke!) Dieser weiteren Zwickmühle suchte ich mit meiner Berliner «Rettungsaktion» zu entrinnen: reine Taktik übrigens, welche ich noch einige Male in meinem Leben anwandte, um in vertrackter Lebenslage eine Lösung, die für alle gut sein sollte, zu finden. Natürlich waren es wohlüberlegte Selbstrettungsversuche, welche sich unter anderem darauf ausrichteten, Zeit herauszuschlagen; diese waren aber stets mit einigen Risiken verbunden, was mir aber nichts ausmachte, weil mein Charakter grundsätzlich zu kalkulierten Risiken hinneigt – mitunter allerdings auch zu übereilten Entscheidungen, die ich im nachhinein fast alle bereute.
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Koblenz, 2. August 1800
Lieber, guter Brockes! Es ist abgetan: mitsammen werden wir die Reise unternehmen, wie Du vorgeschlagen. Ich spüre seit Tagen meinem Innersten ruhelos nach und erkenne die Wichtigkeit dieser unserer Unternehmung. Ich habe Wilhelminen weitestnotwendig orientiert. Sie soll mir aber blind vertrauen, zumal gänzliches Anvertrauen durch mich – gerade gegen die Weiberwirtschaft meiner ach so standesbewußten! Familie – bislang vom Schicksale jäh bestraft wurde; sie muß stillesein und alles in mich setzen, selbst das Leben! Hat sie den Mut? Was soll mir ansonsten ein Weib, welches nicht der vollsten, tiefsten Hingabe fähig ist? Sag an!
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Gerade werfe ich einen Blick in mein Ideenmagazin: und finde einige Sätze vor, die mir auf unserer Reise die verheißungsvollen Vorboten sein sollen (ich freue mich – dennoch ist mir seltsam und unergründlich bange zumute; weißt Du, wie das angehen mag?): Harten Widerstand erlebt der Mensch / Auf Erden! Nur der harte Brünne trägt, / Gewinnt. Schweres harrt der zarten Seel‘. / Es ragt das Kliff dem Mühenden entgegen: / Wer nicht kräftig seiner Kraft gebeut, / Splißt den Schädel sich am kant‘gen Schoß. / – Wie kann der Enge man entfliehn, ohne / Ungerecht zu werden? Wie wird das Weib / Stark im Manne; wie ertüchtigt sich / der Mann im Weibe? Wie brech‘ ich das / Widertum? Ah, gib Aufschluß dem / Müden Helden: hilf uns gegen Zorn / Und kalten Zweifel. Senk‘ Asenblut / Uns in die matten Adern – weis‘ uns, / Wie wir Makel gegen bare Kraft / Eintauschen! Heil Dir, Erden-Göttin, heil! O! daß ich mit barer Kraft gestählt würde – helfe die Gottheit, unser Ziel zu finden und es gelassen anzugehn! Gebe Sie uns Einsicht in die Urgründe des eignen Schicksals, auf daß wir nicht blindlings und bis zum Ende unwissend unserem Grabe zuwanken, sondern daß es verstattet sein möge, vermittelst der Erkenntnis gestärkt, in den sattsam grünen Eppich urtümlichsten Lebens unsere eigenschöpferischen, goldnen Fäden einzuweben: zum Ruhme und zur Ehre des Ganzen! Sollte ich versagen (wovor mir sehr fürchtet), hoffe ich, wofern ich nirgendwo auf dieser weiten, schönen Erde meinen Stammplatz finde, daß ich auf einem andern Sterne einen um so bessern finden werde!
Gehab Dich wohl; wir werden uns in Kürze wiedersehn! Dein treuer Freund Kleist
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IV. Würzburger Reise und Kantkrise Bei einem Kuraufenthalt zu Rügen im Juni und Juli 1800 – Ulrike, meine Lieblingsschwester, begleitete mich; ich litt an etwelchen Unpäßlichkeiten der Verdauung sowie an entzündlichen Störungen des Magen-Darm-Traktes: kurz darnach brach ich das Studium nach drei Semestern ab und sprach betreffs eines Amtes bei Minister Struensee vor – lernte ich in Sagard den gut zehn Jahre älteren Ludwig von Brockes kennen, der mir in dieser wichtigen Lebensphase ein trefflicher, treuer und unverzichtbarer Freund wurde. Er wuchs mir zu einer echten Stütze heran, zu einem wahren Gehülfen bei einem, ich möchte meinen: richtungsweisenden, Vorhaben, das uns auf eine gemeinsame Reise führte, welche in der Tat mein Leben von Grund auf ändern sollte – allerdings nicht in der Weise, wie es zunächst von mir geplant war: wie es eben selten irgendwo, egal in welchem Bereiche, nach einem von Menschenhirn vorgefertigten Plane zugehen mag. Das sollte ich noch zur Genüge am eignen Leibe mitbekommen. Brockes leistete mir schlicht und demütig, ohne Zaudern und Wanken, einen wichtigen Freundschaftsdienst; Ende August trafen wir zu Pasewalk in Vorpommern aufeinander – die Passage sollte uns vorab nach Wien führen: allerdings gelangten wir aus hauptsächlich monetären Gründen nicht so weit. (Ich litt eigentlich während meines ganzen Daseins hindurch einen dauernden Mangel an Geld; zum Ende hin kam es vor, daß ich mir häufig kaum das tägliche Essen leisten konnte.) Beizufügen bleibt aber auch, daß die vorherrschenden, oft wechselnden Kriegsverhältnisse sich nicht gerade in die vorgeplante Reiseroute einpaßten und zum Aufenthalte in Wien sowieso nicht einluden, weswegen wir immer wieder bemüßigt waren, kurzerhand umzudisponieren: so kam es, daß wir von Dresden aus schließlich nach Würzburg übergingen. Selbst dort standen bereits französische Truppen vor den Toren, als wir Anfang September frohgemut eintrafen. – Während dieser Zeit schrieb ich Wilhelminen fast täglich und pikierte sie mit meinen Vorschlägen, Fragen
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und Meinungen zu unserem künftig gemeinsam auszugestaltenden Hausstand einer währschaften Familie. Ich sah mit innerlicher Gewißheit, daß es mir – Glücksfälle nicht eingerechnet – kaum vergönnt sein würde, wenigstens innerhalb kürzerer Zeit über ein größeres Vermögen verfügen zu können: deswegen versuchte ich, mein Minchen in meinen Briefen, vermittelst eines schauerlich fabrizierten Gemäldes, davon zu überzeugen, wie nichtig, unnatürlich, ja herzlos der gesammelte Glanz und Plunder der sogenannt großen Welt sei; teils war ich wirklich davon überzeuget, teils log ich mir selbst was in die Tasche. Ich sehnte mich nie nach dem Midasschen Reichtum; allerdings hätte ich ein der Leistung angemessenes Auskommen immer zu schätzen gewußt – einfach ein Leben ohne Not, worin man seine Ideen unabhängig entwickeln und gleichzeitig eine Familie in Würde hätte ernähren können. Je nun – ich machte aus der Not eine Tugend und versuchte, Minette auf meine Seite zu ziehen: ich hätte wissen müssen (und in meinen tiefsten Gründen wußte ich es wohl!), daß meinen Mühen wie Plackereien keinerlei Chancen beschieden sein sollten. Mit meiner penetranten Hartnäkkigkeit versuchte ich nach wie vor, sie in meinem Sinne zu beeinflussen, und fabulierte ihr vom schönen, einfachen Leben zu zweien! Immerhin: es hätte ja gelingen mögen. – Den äußeren Werten setzte ich die inneren entgegen; klüger geworden, würde ich heute erklären, daß diese inneren Werte das wahre Fundament darstellen sollen, welche das Richtmaß bilden – doch ledig der äußeren, ist eine gesunde Entwickelung leider nur bedingt möglich. Denn was nützt eine gesunde, fruchtbare Erde, in der ein kostbares Saatgut schlummert, der es aber an Wasser mangelt? – Aber zu dieser Zeit war ich noch derart einseitig, und ich verdrängte die lebensnotwendigen Tatsachen materieller Natur, daß es mich rückschauend bedünkt: Wilhelmine habe sich unter meinem recht schwierigen Charakter sehr gut und tapfer gehalten – sie ward mir alles in allem ein kleiner Engel. Und ich? Ich war schlicht unreif oder einfach nicht geschaffen für eine Ehe in den traditionellen Bahnen. – Ich, der ich seit jeher mit sämtlichen nur möglichen und unmöglichen Traditionen stets gebrochen habe: überall quoll mir das puritanisch erzogne Gemüt aus dem Zwangskorsett heraus; es war dies eine selbsttätig wirkende Kraft, die auch ohne mein Zutun fortwirkte.
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Diese Würzburger Zeit war für mich lebenswichtig, ja lebensrettend! Ich begann, meine wahre, eindeutige Bestimmung zu erkennen: ich fühlte, wie sich in mir die Musen der Künste zu regen anschickten, sich geradewegs selbst ins Dasein küßten; erst sanft und leise, dann in einem Staccato sich zusehends aufschaukelnd: fester und stärker – endend in wuchtig dahindonnernder Kontinuität. Meine Briefe wurden, gegenüber früher, quantitativ mehr sowie qualitativ natürlicher und herzhafter; die kernig-saftstrotzenden Beschreibungen fanden Analogien von kreatürlicher zu gedanklicher Welt; ich entledigte mich langsam, aber sicher des störenden Gerüsts aufklärerisch-abstrakter Vermittelungen und Fragestellungen, der starren und staksigen Vernünfteleien; ich begann vermehrt, künstlerisch-bildhaft zu gestalten: was früher rationalistische Bildungstümelei war, wandelte sich in ein knackigfrisches Duftbad von Lilien, Rosenblüten und Löwenzahn. – Das Ruder riß meinen sturmbewährten Nachen wiederum auf die gegenüberliegende Seite: es war nunmehr die Lektüre Rousseaus, die sanftmütig ihre Wirkung entfaltete. Des reinen kalten Verstandes überdrüssig, warf ich mich in die Fluten des Seelenlebens, das ich bis anhin rigoros unterdrückt hatte. Überhaupt ist es ja eine unbestreitbare Tatsache: – aufgrund der seltsamen Konstitution meines Charakters und eines nagenden Gefühls des Unverstandenseins fehlten mir seit Anbeginn immer die Gesprächspartner; so ist es verständlich, daß ich in all meinen Briefen nicht eigentlich mit einem wirklichen Gegenüber sprach, sondern mit mir selbst. In mir brannte unaufhörlich das Verlangen, verstanden zu werden: nimmer wurde es erfüllt, da es nicht erfüllt werden konnte – wie ich erst heute einsehe. Wie, in drei Teufels Namen, konnte derart überhaupt eine Selbstschätzung erhalten und gepflegt werden? In jungen Jahren fand ich mir eine Übergangslösung im Briefeschreiben, die mithalf, melancholische Anwürfe erfolgreich zu umschiffen. (Späterhin wechselten sich diese stimmungszernichtenden Phasen jeweils mit überschwenglichen ab: mit Phasen überbordender Aktivität und schwungvollungebremsten Tatendrangs, die mich um nichts weniger in delikate Situationen hineinmanövrierten.) Meine Andersartigkeit trennte mich hülflos von den anderen ab; – niemand ahnte je einst, was in
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mir, in meinem Herzen vorging: ich ward angehalten zu lernen, wie ich mein Innerstes zu verbergen hatte; ja, ich wurde dazu gezwungen, denn keinem konnte ich trauen: zu oft wurde ich enttäuscht, und zu oft enttäuschte ich mich selbst, indem ich mich anfänglich als zu offen und gönnerisch gegen jedweden erwies: dies zudem am falschen Orte und ständig zur falschen Zeit (hoffte ich doch unablässig, daß irgendwann mein wahres Inneres offenbar, die Wahrheit für die anderen ungeschminkt hervortreten und anerkannt werden würde; statt dessen wurde das zutage Geförderte – infolge von Mißwillen, Mißgunst, Mißverständnis, zuweilen sogar aus reiner Böswilligkeit – fast immer wider mich verwandt! – All den Menschen ging‘s nie darum, mich verstehen zu wollen, was mich, sobald ich‘s erkannte, vollends resignieren ließ). So etwa breitete ich mein Innerstes und Tiefstes leutselig-unbedarft jeweilen vor dem Familienrate aus; aber niemand verstand selbst nur das Geringste, als ob jede Parteiung eine fremde Sprache spräche; niemand versuchte überhaupt, mir ernsthaft näherzutreten, denn mein Wesen ward dem einfach gestrickten Durchschnittsgeiste sichtlich zu anstrengend; allein nur einen einzigen wesentlichen Gedanken aus dem ungefügen Granitblock zu brechen, verbat man sich unter den absonderlichsten Ausreden. – Kurz, wenn jemand nicht nach ihrer Artung fühlte und dachte, existierte es schlicht nicht; der einzige Mensch, der mir ein wenig nahestand, war, wie ich fälschlich annahm, meine Halbschwester Ulrike. Sonach fand ich mich bereits in meinen Kindheitsjahren als Fremder in einer fremden Welt vor, welche Empfindung durch die militärischen Erlebnisse nicht nur befördert, sondern endlich unverrückbar befestigt wurde. Ob all dem ist kaum erstaunlich, daß ich schon sehr frühe in einem natürlichen Prozeß erlernte, mein Innerstes zu tarnen beziehungsweise gar nicht erst nach außen zu verlautbaren und, wo ich es für unabdinglich befinde, gewieft zu taktieren: – was mir unrichtig als Falschheit ausgelegt wird, dabei aber lediglich eine Überlebensstrategie darstellt! Viele können die daraus resultierende Geheimniskrämerei nicht nachvollziehen – es müssen Glückliche sein, denn sie fühlen sich verstanden. (Aber sind sie‘s auch wirklich? Wohl besser, daß sie lieber nicht nachgrübeln.) Bis ans Ende meines Lebens suchte ich nach dem Urvertrauen, nach dem Verstandensein,
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nach Geborgenheit und Glück: all das verzeichnete ich mir in ein idealisiertes Bildnis der Welt; vielleicht hätte ich mich mit Geringerem zufriedengeben sollen? Vielleicht … – Ich erlebte genugsam die blitzblank polierte Oberfläche des Scheins; mehr und mehr begann ich, den Urgründen, dem wahrhaftigen Sein nachzuspüren: ich begann, in der Tiefe unsichtbarer Klüfte und Dissonanzen der mir als rein-harmonisch erklärten Welt nachzuforschen. Ich nahm mir vor, die dem hellsten Tage entgegengestellte dunkelste Nacht zu ertauchen; – mußte den brustzerreißenden Hiatus zwischen Sein und Schein erkunden, um eventuell das Werkzeug zu erlangen, um diesen mit einer verbindenden Substanz auszukitten. War alles bloß eine Illusion, ein großer Traum? – Was überhaupt ist die Wahrheit? Ist der Traum die Wahrheit? Solcherlei quälte mich fast zu Tode! – Demnach war das Briefeschreiben während meiner Jugendjahre eine Art von vergeblichem Selbstheilungsversuch; erst allmählich erblickte ich in den entlegensten Winkeln meiner Seele meine wahre Berufung: mit der Würzburger Reise schließlich brach die Erdkrume nach einigem Leiden endlich auf, und es entsprangen die Musen mir, wie dem Haupte des Zeus die Athene vollständig gerüstet zum Kampfe entstieg! Obgleich ich mich der Familie entfremdete, fühlte ich mich ihr jedoch bis zuletzt verpflichtet; nicht alleine deswegen, weil in mir ein nie verlöschendes, allgemeines Verantwortungsgefühl, gleich einer vertrauten Fee, in einer versteckten Grube meines Herzens wohnte – des ungeachtet: ich liebte meine Geschwister, auch wenn sie nie etwas von dem, was ich darstellte und sprach, wirklich verstanden. Ich strebte fort und fort nach Harmonie; allerdings erwies ich mich unfähig, im Gefolge meines Schicksals, diese zu verwirklichen – dennoch, die Sehnsucht darnach verblieb in mir! – und damit ebenso, unbleichbar, Verantwortungsgefühl und Geschwisterliebe: das Gefühl hielt mich stets am Leben; die Liebe hingegen versetzte mir den endgültigen Gnadenstoß … Ulrike ward mir auf weiten Strecken die liebste Briefpartnerin; wir unternahmen einige wunderprächtige Reisen miteinander, wobei sie mich da und dort schon ziemlich erzürnte; je weiter weg sie
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mir war, desto inniger liebte ich sie – zu nahe aufgesessen, kamen wir uns des öftern in die Haare. In Ulrike dachte ich mir eine Mitwisserin und nahe Vertraute, ein alter ego – aber vor allem war sie, so muß und darf ich mit Freude ausrufen!, auf weiten Strecken eine Förderin und edle Mäzenin meines Schaffens; jedenfalls meistens dann, wenn es aus existentiellen Gründen unverzichtbar war, mir unter die Arme zu greifen (zumal sie aus erster Ehe stammend, in den Genuß eines weit größeren Erbes gekommen war, womit es ihr möglich ward, mich nicht eben selten und wirklich großzügig zu unterstützen, was ich ihr hoch anrechne; natürlich nahm ich mir ernsthaft vor, die Beträge wieder zurückzuzahlen, was mir aber leider nur zum Teil gelang: diese Tatsache belastete mich bis ans Ende in erheblichem Maße – es war für mich eine Frage der Ehre, des Stolzes). Ulrike war ein echter Wildfang, im äußersten Grade unternehmungslustig – und zu meinem Unwillen begleitete sie mich oftmals in Männerkleidern, was niemandem, außer einmal bezeichnenderweise einem Blinden, auffiel. Wie immerzu höchst seltsam, in meinem Wesensgrund wunderlich in Rätsel verklärt: ich liebte sie gleichermaßen, wie ich sie in gewissen Stunden verabscheute, ja haßte (wohl auch deswegen, weil wir uns in bestimmten Ungründen so nahe waren, so ferne wie die sich widersprechenden Urkräfte zweier Magnete): – der Widerspruch meiner Seele, über dessen Ursache ich niemandem Aufschluß zu geben vermag als mir selbst! Wäre mein Riekchen bloß ein Mann, wie gerne hätte ich die Reisen mit ihm unternommen; oder wäre sie mir wenigstens nicht anverwandt – ich hätte sie geheiratet, zumal sie weitestgehend in vergleichbarer Unkonventionalität hergeschnitzt war. Ein wahrhaft amphibisches Wesen, mein gutes Schwesterlein: behend zu Land als auch zu Wasser …
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Erstmals wieder seit sehr langer Zeit ward es mir in Würzburg möglich, einer gewissen Beschaulichkeit zu leben; die inneren und äußeren Druckzustände zeigten sich geneigt, in dieser katholischen Bischofsstadt abzuflachen, und dies trotz der Bedrohung durch französische Truppen. Eine Stadt, erfüllt von sklavischem Gewürm und katholisch-heuchlerischen Spießbürgern. – In einem seltenen Hochgefühl dachte ich mich angelegentlich (leider wich das gute Gefühl allzu rasch den nackten Tatsachen) zu einem tragfähigen Kompromiß ermächtigt, in welchem Kunststreben, Vernunft und Heranbildung zu einem tüchtigen Staatsbürger sich harmonisch vereinigten. Wilhelmine und meine Familie sollten stolz auf mich sein können – wie sehr wünschte ich mir dies! Der eigentliche Zweck unserer kostspieligen Reise führte mehrere, gänzlich unterschiedene Stränge in einem Punkte zusammen. Ich dachte und handelte stets nach der Devise: nach außen wahre eine notwendige Geschmeidigkeit, währenddessen im Innern der Leitstern, unverbrüchlich wie fix (einige meiner Freunde meinen: stur und, im ungünstigen Sinne, unbeweglich), seine ew’ge Bahn umkreist. – Zunächst waren meine Intentionen rein medizinischer Natur; als mir meine Braut in einem Briefe ihre, auch näheren physischen, Wünsche niederschrieb, ward ich urplötzlich vom Schlage gerührt: es stand mir zu Sinnen, was ich vorlängst verdrängt – denn im Unterdrücken von Regungen war ich immer gut; ich litt an einem rein körperlichen Problem, wobei ich mir aber nicht sicher war, welchergestalt beschaffen es sei. Ich öffnete mich seinerzeit Brokkes, der mich durch seine Erklärungen ein wenig einschüchterte. Wir sind beide keine Mediziner: ich sprach ihm von meinem Leiden (in Würzburg stellte sich heraus, daß meine Bedenken überflüssig waren – es handelte sich lediglich um eine Phimose, eine Vorhautverengung, die allerdings ungemein schmerzte, manchmal Eiter absonderte und blutete; abgesehen davon wurde mir das Wasserlassen vielfach erheblich erschwert oder verunmöglicht etc.), und der gute Ludwig rieb mir dermaßen unerquickliche Verdachtsmomente möglicher Krankheiten unter die Nase, daß mir schon ein wenig mulmig zumute ward: Herpes, Franzosenkrankheit, harter und / oder weicher Schanker, – und weiß der gute Freund Hein, was sonst noch! Bisher war ich noch nie mit einem weiblichen Wesen intim: ich setz-
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te mir aber in meiner Unbedarftheit auseinander, daß man sich diese Krankheiten sonstwie einfangen könnte; keine Ahnung, was weiß der Mensch schon?! Jedenfalls wollte ich Wilhelmine zur Mutter machen: und dazu mußten vorab die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden; nicht zuletzt deswegen fiel mir nach dem Arztbesuch ein Stein vom Herzen: der Arzt wetzte die blitzenden Messer – ich biß auf den Lederriemen – das Blut sprützte, der Eiter floß – die Wunde wurde desinfiziert, und kurze Zeit später war alles in Ordnung. – Ich muß gestehen, daß mir am Vorabend des Eingriffs die Welt unterzugehen schien: zeichnete ich mir doch die allerschlimmsten apokalyptischen Szenarien aus, in die hinein ich mich verlor; meine überaus blühende und hinschweifende Phantasie spielte mir des öftern ihre Streiche im praktischen Leben – für meine künftige Berufung als Dramatiker allerdings war sie glücklicherweise überwiegend von Vorteil. – Wie nur sollte ich das ganze Blutgeschäft einer Frau offenbaren? – dem schwachen Geschlechte. Im übrigen sprach ich zwischen den Zeilen klar genug – für den, der zu lesen versteht! Dies physische Leiden war eben auch ein Grund meiner seelischen Hemmnisse; jetzt fühlte ich mich wenigstens diesbezüglich wieder sicher. Das Hauptanliegen der Reise betraf diesen wichtigen Umstand. Nach der Operation empfand ich mich seltsam leicht und frei, fürs erste … – (In der Tat: Mit der Würzburger Reise gebar ich mich aus mir selbst heraus zum zweiten Male – was für eine Geburt das war! Ich verwarf den unausgegorenen Lebensplan und versuchte von nun an, in die tiefsten Tiefen meiner Seele zu blicken, denn ich ahnte: einzig sie könnte mir alle Fragen beantworten! Zumal – die Seele bildet die Brücke zwischen dem Ewigen und dem Endlichen; sie ist die gute Fee, welche einem die Geheimnisse der Welt erschließt. Und trotzdem: ich war noch nicht reif! es erfaßte mich die Liebe noch nicht. Bloß die in Weisheit gelebte Liebe, wie ich heutzutage erkenne, macht den Passepartout aus, welcher alle Tore des Lebens zu eröffnen vermag, sofern die Zeit dafür gegeben ist. – Meine Stunde der Bewährung lag noch vor mir …) Nebenher verfolgte ich weitere Ziele: – so etwa machte ich mich kundig betreffs der Möglichkeiten einer Habilitation an irgendeiner
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beliebigen Universität als öffentlich beamteter Lehrer, was mir damals sehr zupaß gekommen wäre. Auf die an sich gute Idee brachte mich Struensee, welcher mit Johann Christian Kunth Rücksprache hielt, dem Direktor der Technischen Deputation in Berlin. Nach meiner Rückkunft sprach ich Kunth nochmals darauf an; allerdings zerschlugen sich die Pläne: wie immer in der Hauptsache deswegen, weil das Schicksal es abermals anders mit mir meinte … In aller Eile und übermächtiger Vorfreude reisten wir nach vollbrachter Tat wieder zurück; ich verabschiedete mich von meinem treuen Freund Ludwig, der sich rührend um mich gekümmert hatte, der immer sanft und rücksichtsvoll zu mir war; und ich betrat Berlin Anfang November 1800 mit frischer Zuversicht, was mein künftiges Schicksal anlangte. Tatsächlich: wie Antäus berührte ich die Erde, und erneuerte unbändige Kraft floß mir zu; viel zu lange nährte ich allein den Geist um seinetwillen – nunmehr wollte und mußte ich einiges ändern: ich war bereit, einen wichtigen Lebensabschnitt neuerlich zu beschreiten und mit gestärktem Tatendrang in Angriff zu nehmen!
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Ich war froh, vergnügt, ja ausgelassen wie seit langem nicht mehr. Allerdings wich ich dem Gange nach Frankfurt möglichst aus, hätte ich doch meiner Familie Red‘ und Antwort zu stehen gehabt, welche für all mein Wirken einzig ein Naserümpfen übrig hatte; und über Sinn und Zweck der Würzburger Reise wollte und konnte ich nicht sprechen. Jetzo sah ich mit berechtigter Hoffnung, wie ich dachte, einem fügsamen Glück in Zweisamkeit entgegen – ah, mein herzliebstes Minchen! Darüber hinaus eröffnete sich mir der Weg meiner Berufung – ja wahrlich, Engelsgestalten schienen mir aufzuscheinen, welche mir die gröbsten Stolpersteine von Geisterhand aus dem Wege räumten. Vorsichtig jedenfalls tastete ich mit Sammetpfoten ab, wie es genau weitergehen sollte: so bat ich den Minister Struensee um Erlaubnis, den Sitzungen der Technischen
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Deputation in aller Stille beiwohnen zu dürfen, was mir gestattet wurde (ein Novum: denn ein solches Verfahren wurde noch niemals angewandt, keinem je gewährt; ich verfolgte damit das Ziel, herauszufinden, ob das Fabriken- und Commerzwesen etwas wäre, worin ich dem Staate und mir zu gleichen Teilen dienen, ohne meine Ideale zu verraten, und zudem das zarte Pflänzlein der Kunst nebenbei großziehen könne). – Es kam mir bitter: nach gut zwei Wochen sprach mein Herz das unerhörte Verdikt: ich kann kein Amt nehmen, nie und nimmer! Trockener als das trockenste Kommißbrot –: wieviel des Speichels bedurfte es, um daran nicht Todes zu sterben; ein derartiges Amt wäre meine sichere Verderbnis, zumindest der Untergang meiner künstlerischen Bestrebungen. Gar nicht zu erwähnen: ich wollte nicht einfach ein stumpfes Rädchen, ein blindes Werkzeug in einem unüberblickbaren Getriebe sein, ein kriecherischer Befehlsempfänger und … – im Endeffekt ein gemarterter Sklave eines über mich gestellten menschlichen Willens. Nein! Lieber tausende Tode sterben als abhängig von irgendwelcher höheren Willkür: ob sie nun König, Staat oder Zufall hieße. Es frondierten Vernunft, Stolz sowie mein kürzlich erwachtes Musenvolk. Allein – wie bringe ich es meiner Minette bei? Ich fuhr wiederum das volle Geschütz an Rhetorik auf, das ich mir im Laufe der Zeit angeeignet hatte; als eines ganz sonderlichen Kniffes bediente ich mich – unter Verletzung des Amtsgeheimnisses – der Bekanntgabe, daß ich de facto zu Spionagezwecken im Auftrage der Technischen Deputation, als Teil meiner Ausbildung, auf einer langjährigen Auslandsreise hätte eingesetzt werden sollen; man habe mich in der Kunst zu betrügen, zu heucheln und zu lügen bereits ausgiebig unterrichtet: damit prüfte ich sowohl Ulrikes sowie Wilhelmines Zuverlässigkeit, als auch verwob ich darin in geschickter Weise den Appell ans gesunde Gewissen, an die moralisch-sittlichen Gefühle beider Weiber – denn, so wand ich mich: wie könnte Minette einen Mann lieben wollen, der ein – wenngleich staatlich sanktionierter – Betrüger und Lügner sein sollte? Ulriken konnte dies aus Standesgründen ebensowenig zupaß sein – und mir nicht, weil die amtlich verordnete Bürste in allen Belangen gegen meinen Strich striegelte; den Rest, so führte ich im weiteren Verfolg aus, hätte mir endlich der Besuch bei der Königsfamilie zu Potsdam versetzt:
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– allerenden herrsche Oberflächlichkeit und unerbittliches Vorurteil gegen jedweden, der sich nicht blind der Willkür füge, selbst gegen den, welcher sich im geringsten überhaupt anschicke, aus dem vorgezeichneten Kreise auszuscheren; wer sich nicht beugen lasse, der werde gebrochen – wer sich nicht brechen lasse, zuletzt ausgestoßen! Einzig der Speichellecker habe eine zeitlich befristete Überlebenschance … – und was der Argumente mehr waren. Es ist wahr: Diese ganze tadelnswerte Cliquenwirtschaft ließ mich den gegenwärtigen Zerfall und Unwert der Aristokratie fühlen; kein Wunder, daß die französische Revolution mit dem ganzen giftigen Absud aufräumen mußte; und ebengleich keine Überraschung: die Herrschaften außerhalb Frankreichs fürchteten sich vor dem Umsturz – eingedenk der eigenen fatalen Unzulänglichkeit und Abgeschmacktheit! – Dieses gesammelte Heuchler- und Knickertum, dieses gespreizte Getue sowie die unerträgliche Oberflächlichkeit setzte mich derart in Harnisch, daß ich um ein Haar irgend so einem blasierten Laffen dieser sogenannten «Hofgesellschaft» den Fehdehandschuh hingeworfen hätte – die Gründe möchte ich nicht darlegen; zum Glück konnte ich‘s mir gerade noch einmal verkneifen und einen Skandal vermeiden. – Ob all diesen ungeschminkten Tatsachen sah ich mich in meinem Entschluß bestätigt, den eigenen, ganz einsamen Weg weiterzuwandeln. Die alten, längst überwunden geglaubten Schwären brachen erneut auf; die Freude darüber, endlich meine Bestimmung gefunden zu haben, währte nur kurz: wie unflätig wurde sie mir doch vergällt! Flugs folgte auf eine überbordend-fröhliche Gefühlsaufwallung nunmehr eine zutiefst niederdrückende, gallig-abgekochte. Die durchlebten und vermeintlich abgehakten inneren Auseinandersetzungen holten mich wieder ein – ich fühlte mich heimatloser und verkannter denn je. Ich, der Verformungsresistente, ließ mich alleine durch die Schicksalsschläge zurechtbiegen – leider, muß ich zugeben, fehlte es mir lange Zeit an wirklicher Einsicht, wodurch ich mich sicherlich gefügiger ins Unabwendbare eingefunden hätte. Eingedenk meines wild an den Tag gelegten, unbeugsamen Trotzes aber folgte Hammerschlag auf Hammerschlag, und zwischendurch erhellte sich der erhitzte Stahl unter dem gewaltigen Wummer-
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hämmern der verschiedenen Gottheiten; jede einzelne wollte mir das ihr eigne Brandzeichen aufdrücken, so jedenfalls empfand ich es: – man schmiß mich kurzerhand ins Stahlbad des nackten Lebens und tauchte mich gröblich unter. – Diese Mächte vermeinen wohl, ich sei ein kleiner Rohling, ein zählebiger Robustikus: krepiert der Kerl nicht, so wächst er uns heran zur Zierde! Ansonsten: auf ein neues! Als ich irgendwann vom Präsidenten der Technischen Deputation einen gewaltigen Folianten vor die Nase gesetzt erhielt mit dem eindeutigen Auftrage, dem Ausschuß darüber Bericht zu erstatten, was daraus sich für deren Zwecke verwenden ließe, ward mir der Fingerzeig von oben gegeben – zumal mir klar zu Augen stand, daß eine seriöse Bewältigung dieses Wälzers zumindest ein Jahr (oder mehr) an Studienzeit in Anspruch nähme. Die Darre der Angelegenheit machte mich ersticken; ich japste innerlich nach Luft – schafft Luft mir, ihr Geister! Ich wankte einmal mehr zwischen Pflicht und Neigung: was hätte ich tun sollen? Schließlich wollte ich keinesfalls die Leute enttäuschen, die es gut mit mir meinten. So oft ward ich verdammt, Menschen unwillentlich zu verletzen, dergestalt, daß mein sensibles Gemüt vermutlich in den meisten Fällen mehr darunter litt als diejenigen Menschen selbst. Die Zwänge und Realitäten des sinnentblößten, grausamen Erwerbslebens drückten mich immer stärker nieder – soll dies allein Ziel und Zweck eines nach Glück strebenden, aufgeklärten und selbstdenkenden Menschen sein? Schnöden Cäsaren gleich richte Pluto den Daumen, welcher die Beute den rasenden Löwen zum Fraße überantworte: zur Erde hin entweder, sofern seinem Diktate nicht Beifall gezollt werde in Denken und Tat, oder gen Himmel (für einen kurzen Augenblick … – bis zur nächsten Entscheidung): wer sich beuge. Ist dies also Sinn und Zweck unseres Daseins, dies lächerliche Geschäft? – ohne mich! Wie die reine, aber schwächliche Quelle sich um jeden Stein schlingt und sich aus einem Rinnsal zum kräftig-geraden Strome heranbildet, so suchte ich meinen Lebenspfad: zu Anfang sich quälerisch windend und aalend, späterhin den ureigensten Weg unter der gewaltigen Kraft eines freien Stromes dahinbahnend. – Ich klärte meine Wilhelmine über meine
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erwachten Musen auf – darüber, daß sich seltene und wunderliche Fähigkeiten in mir regten, die fürderhin unseren Unterhalt sichern könnten; ich schlug ihr vor, bis diese zur Selbständigkeit herangewachsen wären, durch Unterricht hinzuzuverdienen, was für ein angemessenes Zusammenleben noch fehlte: wir könnten etwa in die französische Schweiz ziehen, um dort Deutsch sowie die neueste Philosophie zu lehren etc. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir auch vorstellen können, nach Frankreich auszuwandern: vor allem nach den schmählichen Erlebnissen bei Hofe; in Frankreich, so malte ich mir aus, wäre man alleine von seinen Fähigkeiten abhängig und alle übrige Konventionalität, von der ich seit jeher übelst malträtiert wurde, blendete sich selbst aus; sogar Adlige könnten dort frei und unbescholten dem bürgerlichen Erwerbnis nachgehen. Nun ja, ein schöner Traum … – Ich setzte seit meinem Austritt aus dem Militär auf den Adel der Gesinnung und meine individuellen, ungewöhnlichen Fähigkeiten; ich unterschlug bei der Unterzeichnung von Dokumenten neuerdings meinen Adelstitel «von»; dies einerseits aus all den schlechten Erfahrungen heraus, andererseits stellten sich mir die politischen Ansichten Rousseaus vermehrt als brauchbarer Gegenpol vor. Die lang anhaltende Trennung von meiner Minette trug ebenfalls nicht gerade dazu bei, meine unbefriedigten geschlechtlichen Triebe zu stillen: ich verspürte einen stetig steigenden Druck auch diesbezüglich – noch immer war ich mit keiner Frau zusammengewesen, und wollüstige Bilder strichen mir unablässig im Kopfe herum; abgesehen davon, daß ich für entsprechende Dienste nichts bezahlen wollte, kam es, wegen der Misere meiner Finanzen, nicht in Frage, einer Gassenvenus die Aufwartung zu machen – und dennoch sind diese natürlichen Bedürfnisse vorhanden und plagen mich unentwegt. – Die abwechselnd hastigen Auftritte krankhaft überzogenen, heiteren Frohsinns sowie abgründiger Schwermut übertünchten seit geraumer Zeit ein zusehends stechender werdendes, höchst reizbares Element. (Mein Verlangen zerrte meinen Busen zwischen den abersinnigsten Polen entzwei: ich wogte beruflich zwischen der Verwirklichung meines voraussichtlich brotlosen, musisch-künstlerischen Genius und dem lebensnotwendig-pflichtheischenden, trostlosen Broterwerb; privat zwischen sinnlicher
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Schwüle wie hoheitsvoller Reinheit und Moral.) – Mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften wirkte ich daraufhin, daß Minette endlich, nun endlich meine Frau werden möge; ich beschwor und becircte sie erneut, eindringlich: sie solle die schnöden Konventionen über Bord werfen! Was ich ihr damit an Unverschämtem abverlangte, konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht nachvollziehen: zu sehr war ich auf mein Ich und meine Ziele konzentriert. Ich begann verstärkt, die adligen Kreise gänzlich zu meiden, und suchte Kontakt zu den eleganten, bürgerlichen Berliner Salons; durch Vermittelung wurde ich in diese feinsinnigen, meist jüdischen Salons eingeführt. Ich ging sowohl in den Häusern des Seidenwarenhändlers Clausius als auch im Palais des Baumwollfabrikanten Cohen ein und aus. Aber wie geschwinde ward ich einmal mehr enttäuscht und mußte mein Bild vom biderben Bürgertum revidieren: selbst hier schwangen Oberflächlichkeit, knallharter Eigennutz, geistige Plattheit, Geldgeilheit sowie aufgesetzte Salbaderei ein unbarmherziges Szepter; es wurde eine Fassade zur Schau getragen, die sich nur im Maskenwerk von der Adelsclique unterschied. – War ich zu anspruchsvoll, oder waren das die ersten untrüglichen Anzeichen des Verfalles einer Gesellschaft? Oder gar: ist es das Wesen des Menschen? – Mag man sie durch Raum und Zeit umverteilen, die Probleme blieben immer dieselben! An Ulriken schrieb ich – in einem übermäßigen inneren Aufruhr, nach dieser weiteren Enttäuschung, badend – Richtung Frankfurt (die Worte sind mir noch gewärtig, zumal ich eine Abschrift verfertigte, die ich, abgeändert, auch Wilhelminen zukommen ließ):
Berlin, 23. Februar 1801
Liebste Ulrike, mein Herzens-Riekchen! Ich muß mir eine bedrückende Erfahrung von der Seele hüsteln – höre hin, und antworte mir beizeiten, was Du davon hältst:
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Im Jahre 1784 tat Immanuel Kant sein großes, bedeutsames Wort, das selbst fürderhin seine Überzeitlichkeit wahren wird – solange eben die Erde bestehet: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes lieget, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» – Besiehet man sich das mitunter seltsame Weben und Streben dieser Welt bei Lichte, frägt man sich unwillkürlich, wo zum Henker die Ideale der Aufklärung geblieben seien? War sie bloß ein Lippenbekenntnis? – Viele Leute verwechseln heutzutage Aufklärung damit, der Autoritäten Aussprüche nachzuplappern wie Papageien. Viele vermeinen eigene Gedanken zu spinnen, wo sie lediglich Aufgewärmtes nachverdauen und wiederkäuen; gleichzeitig lachen sie dumpf über das finstere Mittelalter, nicht bedenkend, daß der Großteil der Menschen ehedem gar nicht die Möglichkeiten hatte, wie sie sich uns bieten. Wechselten wir aber die Menschen in Raum und Zeit aus – so änderte sich … nichts: ebenso bliebe das Unvermögen der breiten Masse bestehen (inklusive der Einbildung unserer Heutigen, wir wären irgendwie weiter als die Altvordern). Dies ist schade – zumal zu keinem Zeitpunkt der Geschichte dem Menschengeschlecht, wenigstens in den fortschrittlichen Gesellschaften dieser Welt, solch weitreichende Gelegenheiten geboten wurden, sich ein eigenes persönliches Weltbild zu schaffen, Kultur zu bilden. Doch viele nutzen nicht, was möglich wäre! Wieso, wird man sich fragen. Der Mißstände sind viele! Kriege, Ausbeutung und Sklaventum auf höchstem Niveau: geschickt getarnt vom angeblich führungsberechtigten, den Massen an Moral und Bildung vorangehenden Adelsstand sowie vom sogenannt fortschrittlichen, neuen Bürgertume: beide in Wahrheit degeneriert und verkommen – und was der Dinge mehr sein mögen. Diese verqueren Webstoffe – diese billigen Schottenmüsterchen auf hübsch anzusehenden Röcklein – will ich mich hier nicht anschicken zu untersuchen. Ich ziele auf ein anderes: nämlich auf die unleidliche Faulheit vieler Zeitgenossen!
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Kant war ein Idealist: Aufklärung beginnt immer beim Individuum; und falls die Geschichte günstig verläuft, überträgt sie sich auf eine ganze Kultur, die im weiteren Verfolg zu einer Hochkultur erblüht! Solcherlei wird dereinst wieder sein – allerdings, erleben werden wir dies kaum mehr. Was bleibt? – In seinem Wirkungskreise das zu tun, was man als wahrhaft erkannt hat und möglich ist! Seien wir eingedenk: Es ist die Freiheit, schöpferisch zu denken, welche im Kern Geist und Gemüt erhebt – welche den Menschen erst ausmacht! (Wie viele Leute verhalten sich hierin eher wie Tiere!) Es existiert die wahre Freiheit nur im Geiste, zumal der Erbteil unseres Fleisches gebunden ist an das Kreuz dieser Welt. Und so viele vermeinen zu denken – dabei reproduzieren sie alleine irgendwelche (Leer-)Meinungen. – Prometheus, so eröffnet uns die griechische Sagenwelt, erhellte der Menschen Geist mit dem Lichte des Verstandes. Aus Schmähsucht sandte Zeus die schöne Pandora auf die Erde, ausgestattet mit ihrer berühmten Unglücks-Büchse – ein Inbild für das Gesetz, daß alles seinen Preis hat! Prometheus ließ er an einen Felsen schmieden. Alleine dem Herakles gelang es – im Rahmen seiner zwölf Aufgaben, die ihm gestellt wurden –, den Prometheus vom Fels loszueisen, und er übergab Zeus den dafür abgeforderten Chiron als Pfand. – Wer den großen Preis seines Lebens erringen will: bei Gott, muß er nicht selbst geradezu herakleische Kräfte entwickeln?! So ist es. Man kann und wird alles erreichen, was als Lebensplan in einen gesetzt ward – doch alles kostet seinen Preis. Wer in seinem Fache Geniales erreichen will – er wird es erreichen, doch es kostet seinen Preis. Wer ein glückliches Leben, ein gutes Weib, günstige berufliche Umstände erzielen will – er wird es erreichen, doch es kostet seinen Preis. Je höher das Ziel, desto höher der Preis! Nur wenige wollen ihn zahlen. Aber wer durch Lug und Trug, Faulheit und Dummheit, Gemeinheit und Boshaftigkeit den Heiligen Gral greifen möchte – der wird darob verbrennen müssen. Drei Dinge sind notwendig, mein liebes Riekchen, um sich alle Wünsche zu erfüllen, die man ehrlich im Herzen trägt: Erstens – man muß erkennen, wer man ist, zu welchem Zwecke man ins Leben gerufen wurde; zweitens – man sollte herausfinden, wer die anderen sind, um ihnen (und damit sich selbst) gerecht werden zu
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können; drittens – das Erkannte muß schließlich fähig umgesetzt werden, damit es keine Theorie bleibe! Geliebtes Schwesterchen, ich sage Dir auf den Kopf zu (und Du bist darüber längst im klaren): Katzbuckeleien und Antichambrieren liegen meinem Charakter nicht; für diesen Mangel und den eigenmächtigen Willen, meine Bestimmung zu erfüllen, mein Glück zu finden – ja, dafür zahle ich den vollen Preis, zwar nicht unbedingt gerne, aber aus Klugheit! – Baruch Spinoza, mein verehrter Spinoza, beschließt seine «Ethik» mit einem weiteren wahren Wort, wenn er sagt: «Indes ist alles Erhabene ebenso schwer wie selten.» Wir müssen lernen, das Große und Erhabene zu leben … Ich wünsche mir, Dich bald wieder zu sehen. Lebe wohl. Dein treuer Bruder Heinrich
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Frankfurt an der Oder, 10. März 1801
Mein hochverehrter, lieber Heinrich! Das Feuer Deines Geistes, das Dich nähret, läutert Dich. Hab‘ acht, daß Du es ständig pflegest, denn eine gesunde Feuersbrunst ist weit besser, als eine verdeckte Glut – die frißt an! Deine Äußerungen im letzten Brief haben meine Seele angeheimelt, das weißt Du, denn ich liebe so vieles an Dir. Aber ebenso weißt Du, daß mich in dieser Welt nichts so sehr erschüttert, als gute Menschen darin zu sehen, in eine gar schröckliche Zeit hineingeworfen, welche unterzugehen drohen oder auch Hoffnungen aufgeben müssen, die auf ehernen Tugenden aufgebauet sind. Dagegen aber das Böse der Schöpfungen, von dem man wußte, daß es existieret, es wirket, es unmittelbar da ist, in der Nähe zu
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wissen, und es tausende Male fürchterlicher vorzufinden, als je der schwächliche Geist der Menschen es ahnen konnte. Ach, mein Gott, was ist denn aus Preußen geworden? Wohin ist es gekommen mit unserem Vaterlande? Verlassen von allen guten Geistern, verfolget vom Übermut, geschwächt durch Unglück – so wird es kommen, daß es untergehe. Eine göttliche Vorsehung waltet am Horizonte, um einen Silberstreifen anzuleuchten: es scheinen neue Weltzustände unverkennbar heraufzudämmern. Eine andere Weltenordnung soll uns werden, da die alte der ganz zerrütteten Dinge sich überlebt hat und in sich selbst zusammenstürzen wird. Ach, Heinrich! Wir sind doch längst eingeschlummert über den Lorbeerzweigen unseres guten alten Fritz, welcher, Herr eines Jahrhunderts, ein neues Preußen schuf. Wir sind in der Zeiten Lauf nicht mitgeschritten, sind stehngeblieben, weswegen uns nun alle Völkerschaften überflügeln werden. Gewiß, gewiß – alles wird dereinst besser werden. Das verbürget wohl mein Glaube und das vollkommenste aller Wesenheiten. Doch ist es nicht so? – es kann nur gut werden in dieser Welt vermittelst der Guten? Ich glaube fest an Gott, als auch an die Kantische sittliche Weltordnung, wie Du sie mir beschrieben hast. Und diese siehet in der Herrschaft der Gewalt nicht ein Mittel vor. Ich bin aber guter Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit für uns alle eine weit bessere nachfolgen wird. Doch das Ziel scheinet mir in weiter Ferne. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr erreichen: das gelobte Land, wir werden darüber wegsterben. Doch Trost finde ich und Kraft, Mut und Heiterkeit in dieser Hoffnung, die tief in meiner Seele lieget … Du scheinest mir jedoch diesbezüglich anders gefertiget in Deinem Busen; Du und Deine ewige Zweifelsucht, mit Deiner überschwenglichen Hitze! Wenn‘s doch nur ruhiger, gemäßigter in Deinem eigentümlichen Herzen würde, dann wäre Dir sicherlich wohler zumute, lieber Heinrich. Denn in dieser Welt ist alles ein Übergang, und wir müssen dafür Sorge tragen, jeden einzelnen Tag, daß es vorwärts gehet, daß wir reifer, besser, gescheiter werden – nicht wahr?
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Kürzlich schnappte ich einige Worte Goethes auf, die auf die heutige Zeit zutreffen – und in eigenartiger Weise auf Dich. Auch sie wollen mir ein Trost sein, indem sie meine Seele bestärken. Er spricht irgendwo: Gar oft im Laufe des Lebens, mitten in der größten Sicherheit des Wandelns bemerken wir auf einmal, daß wir in einem Irrtum befangen sind, daß wir uns für Personen, für Gegenstände einnehmen ließen, ein Verhältnis zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge sogleich verschwindet; und doch können wir uns nicht losreißen, eine Macht hält uns fest, die uns unbegreiflich scheinet. Manchmal jedoch kommen wir zum völligen Bewußtsein und begreifen, daß ein Irrtum so gut als ein Wahres zur Tätigkeit bewegen und antreiben kann. Weil nun die Tat überall entscheidend ist, so kann aus einem tätigen Irrtum etwas Treffliches entstehen, weil die Wirkung jedes Getanen ins Unendliche reichet. So ist das Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht ohne glückliche Folge. O Heinrich! Wie viele Male hast Du Dich schon geirret? Aber Dein Herz ist rein und edel. Deine Bestrebungen sind es auch. Aber Du bist und bleibst ein schwieriger Mensch – den ich trotz allem so sehr, so gänzlich liebe! Ach, lieber Heinrich! Du wähntest Dich einst ärmlich, da Deine Träume sich nicht zu erfüllten trachteten. Aber ist nicht derjenige wirklich arm und leer in seinem Innern, der nie die Kraft und den Mut fand zu träumen? Dazu kömmt, daß Du der tätigste Mensch bist, den ich kenne, auch wenn vieles oftmals schief gehet und sich nicht nach Deinen Wünschen richtet – aber trösten Dich die Worte Goethes, den Du sehr verehrst, wie ich weiß, denn nicht? Aus Irrtum und Mißerfolg können gute, ja große Dinge entstehen! Ich weiß, Du bist einsam, doch mit Deinen Träumen und Taten wahrscheinlich weit reicher als alle, die ich kenne. Zudem – ist es nicht so, daß Zweisamkeit sehr oft ein Unglück bedeutet? Auch Einsamkeit mag zwar kein Glück sein, aber es kann wenigstens eine Zufriedenheit bedeuten. So, mein lieber Bruder, empfinde ich es.
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Das höchste Wesen möge Dich segnen und auf all Deinen Wegen schirmen, teurer, lieber Heinrich! Wir werden uns ja bald wieder sehen, und ich drücke Dir einen Kuß auf die Wangen.
Deine Dir zutiefst ergebene Schwester Ulrike
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Den schlechten Erfahrungen barer Selbstsucht eines verbildeten und wirkungsschwachen Bürgertums entgegengesetzt waren diejenigen, welche mir Ludwig von Brockes angedeihen ließ: er unterstützte mich, wo er konnte, mit Geld, aber auch weit persönlicher – mit Rat und Tat (es war der einzige Mensch, dem ich mich weitestgehend anvertrauen konnte); beispielsweise tauchte er eines Tages spontan in Berlin auf, und wir führten lange, gute Gespräche: er vermittelte mir einige wichtige Ideen, die ich in dieser oder jener Weise aufzugreifen suchte; dieser Brockes ist mir zum Inbegriff eines im höchsten Maße uneigennützigen, ja selbstlosen Menschen geworden – dergleichen beschaffen hätte ich mir auch ein holdes Weib gewünscht! Wilhelmine hatte einiges, was in diese Richtung wies, doch sie konnte sich nicht der konventionellen Vorgaben ihres Standes entschlagen und sich mir vollständig hingeben, wie ich es mir wünschte. Immerzu blieben Vorbehalte, die mich insgeheim ärgerten. Dazu gesellte sich der unglückliche Umstand, daß sich meine finanzielle Situation keineswegs entspannte – im Gegenteil, sie verschärfte sich weiter, womit an eine Ehe immer weniger zu denken war! Immerhin hatten die Beziehungen zu den Salons ein Gutes: sie ermöglichten mir, Verbindungen aufzunehmen, die mir später noch hülfreich sein sollten. Zudem kam ich auf den Geschmack, das Verhalten der Menschen eingehend zu studieren, indem ich akribisch mitverfolgte, wie das jeweilig Gesagte sich zur gelebten Tat verhielt; kurzum – inwiefern Schein und Sein auseinanderdrifteten.
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Und das war zum Teil sowohl faszinierend anzusehen als auch geradezu ernüchternd; wie selten doch deckt sich das Innere mit dem Äußeren! Ein Budenzauber der Großsprecherei, der Geziertheit und des abgefeimten Getues: ein wirkliches und reines Theater der Eitelkeiten wie Plattheiten. Kaum einer gibt sich, wie er wirklich ist; der Masken sind viele, und vielerlei Schauspiel wird aufgetragen. Selbst die gelehrte Welt, in die mich der zu dieser Zeit in Berlin weilende frühere Mathematikprofessor Huth eingeführt hatte, konnte mich mittlerweile nicht mehr befriedigen: diese Menschen sind zwar allesamt höchst gescheit, führen aber Scheuklappen in ihrem Geiste und blicken einzig auf immer denselben einsamen Gegenstand, den sie bis zum äußersten sezieren … und dann abermals sezieren, und abermals: ad infinitum! Zu welchem Zwecke? – über mehr wissen sie kaum zu sprechen, als diesen einen ärmlichen Gegenstand; wie abgrundtief öde mich dies alles ankömmt. – Zunehmend stieg in mir eine Bitternis auf; ich suchte nach dem Hehren, Edlen – … und ich traf allerorten auf eitlen Tand, irgendwelchen sterilen Schnickschnack. Gegenüber denjenigen, welche das Spiel der Verstellung perfekt beherrschten, mußte man den Scheidekünstler in sich anrühren, auf daß er die edlen Metalle von den unedlen trennte; wer dieser Kunst nicht fähig, war rettungslos verloren – wie sonst sollte er Wahres von Unwahrem, Wirklichkeit von Scheinwirklichkeit unterscheiden? Dergestalt also bildete sich mit der Zeit bei mir eine vertiefte Meisterschaft aus, andersartige Zugänge ins Seelenleben der Wesen aufzustöbern, zumal die offenkundigen Eingangspforten ja zensiert, manipuliert wurden. Mich aber interessierte alleinig das Echte, wie immer es auch beschaffen sein möge: diese Kunst einer abgründigen Seelenschau jedenfalls konnte ich in meinen Werken verfeinert anwenden und zur Geltung bringen. – Mein Leben und meine Dichtung stehen, wie ich mir erst gegen Schluß meines Daseins bewußt werde, im Dienste des unergründlichen Versuchs, hier auf Erden in den Besitz eines reinen, edlen, ewigen Seins zu gelangen: eine unerfüllbare Sehnsucht nach ewigen Werten führte mich unaufhaltsam hinan auf diesem steilen Pfade, der aufgrund seiner endlichen, linearen Beschaffenheit notgedrungen vor dem schaurigen Abgrund enden würde: – die mir naturgegeben eingewobene Fremdheit gegenüber
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dem Rest der Welt vertiefte sich unüberbrückbar, je weiter ich diese abgelegne Straße ging; die innere Heimat- und Wurzellosigkeit konnte am Ende nurmehr die Aufschrift «Hoffnungslosigkeit» tragen … Eine kalte, unbewußte Angst wechselte sich mit der heißen Glut zur Tat ab – doch wie oft waren meine Taten ungezielt, überhastet und ungenau ausgeführt! Ich bekrittle zwar das Beobachtete, aber wie war es in mir bestellt? Ich litt beständig: am Verkannt- und Unverstandensein, stets buhlend um liebende Anerkennung; mich quälten innere Anfechtungen (immerfort, wenn sich zwischen meiner Innenwelt und der äußeren Umgebung die größtmögliche Dissonanz sich aufzubauen anschickte, wuchsen die Spannungen in Windeseile überproportional an, was im weiteren Verfolg mein seit der Militärzeit mehr oder weniger starkes Stammern auslöste; dadurch wiederum verstärkten sich notwendig meine Unsicherheiten, und ich verhielt mich mitunter ziemlich linkisch), Unvermögenheit, Schwäche; ich hätte geliebt sein wollen: – und so zwang mir das große Welttheater seine Maske auf; nie, oder höchst selten, ließ ich den Gedankenstrahl eines menschlichen Wesens freiwillig sich in mich senken; ich schützte, wo ich konnte, Fröhlichkeit vor, Unverwundbarkeit, Abgebrühtheit, auch dann, wenn meinem Gemüte zum Weinen war. Ich zog eine Feuerwand zwischen meinem Ich und der Umwelt hoch: und lebte einzig aus meinem Innern heraus; insofern existierte die Umwelt nur insoweit, als ich sie in mir vorfand. – O! wie frei ist der Geist, welcher jenseits von Glück und Unglück nüchtern die Notwendigkeit lebt! Der seit Geburt bereits in mir festsitzende Stachel des Zweiflertums wuchs sich je länger, desto schmerzlicher zu einem selbstquälerischen Ungetüm aus, das mich zu vergiften drohte; das Schicksal drehte die Schraube zunehmend fester, und die Liebe zu den Wissenschaften, meine einstige Freude! verblich ins tödliche Nichts, da ich erkannte, daß alleiniges Wissen nicht das Höchste sein konnte. Um wieviel mehr ist doch die wissende Tat zu veranschlagen …?!
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Bei näherer Überlegung fällt auf: Es muß sich zuweilen um den Ausdruck einer inneren Zwanghaftigkeit gehandelt haben, meiner Einsamkeit zu entfliehen und die Seelenwehmut – diesen quälenden Weltschmerz – auszugleichen, wenn ich Wilhelminen unablässig mit belehrenden Briefen piesackte: sie sollte mich lieben, anerkennen, hochhalten, in mein Wesen eindringen und es begreifen etc. Aber indem ich dies erkenne, stelle ich gleichzeitig fest, daß man es ungelenker gar nicht ins Werk hätte setzen können, als ich es in meiner penetranten Nachdrücklichkeit tat. Ich hoffte stets, in meinem Minettchen das geliebte Geschöpf zu (er)finden, welches mich zu einer Einheit ergänze: sie sollte meine Muse werden – und ich tat im Übereifer den größten Fehler, den man einer solchen angedeihen lassen kann: ich vergaß, die Blume zu wässern! Zu lange war ich ihr nur in Gedanken durch meine Briefe anwesend: ich unterließ es aus verständlichen Gründen, ihre als auch meine Familie unnötig in Frankfurt aufzusuchen, um nörgelnden Fragen und Vorwürfen geflissentlich auszuweichen; leider aber besuchte auch sie mich im Gegenzuge – trotz Einladungen – in Berlin nicht. Während sich meine Planetenbahnen immer exzentrischer und eigensinniger um die launische Sonne meines Ichs legten, zog sie ihre Kreise desto fester, ja ängstlicher um Familie und Tradition, womit wir uns langsam, aber sicher voneinander entfernten: das spürten wohl beide, wenngleich es niemand zugab. – Unterdessen versuchte ich aufs ernsthafteste, mich auf den Beruf des Schriftstellers vorzubereiten, wobei mir die seit der Militärzeit fortgeführten Tagebücher und das Ideenmagazin Hülfestellung leisten sollten; ich verbrachte Stunde um Stunde, meine Fertigkeiten zu mehren, in diesem Fache voranzukommen. Meine innere, charakterliche Architektonik ist von Geburt an derart verwickelt angelegt, daß ich schon alleine damit genügend zu tun hätte, sie in Plänen übersichtlich festzuhalten; aber dessen nicht genug – das Leben selbst unternahm es als Baumeister, das Gebäude stetig zu erweitern, umzubauen, zu renovieren; es senkte neue Gelasse in die bereits vorhandenen: fürwahr – das Komplizierte wurde noch verkompliziert, an irgendwelche umsichtigen Pläne war längst nicht mehr zu denken. Meine Rettung konnte bei dem ununterbrochenen Wandel der Erscheinungen bloß noch in
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der Tat liegen, nicht mehr im Aufnehmen, Bemessen, Aufarbeiten von Daten und Fakten. Es mußte eine grundlegende Erneuerung her, ein neues Ziel, eine lebensrettende Strategie – es konnte so unmöglich weitergehen! Unergründliche, beängstigende Zukunftsprophezeiungen flüsterte mir meine Seele nach; eine unheimliche, absolute Dunkelheit bemächtigte sich meiner mit kalter Hand: seit langem ward der unheilschwangere Boden bereitet, worunter sich das schiere Ungemach erregte, welches urplötzlich alle Krusten aufsprengte. Es war aber bloß der Tropfen, welcher das Faß zum Überlaufen brachte, das heißt, der Abschluß einer weit zurückreichenden Ursache, die untergründig ihre Wirkung tat, und jetzo, wie ein Atoll herauswachsend, die Oberfläche der See durchbrach, bewußt wurde! Immer war es mein Bestreben, die Gesetze der Welt zu erkennen, und zwar aus ihrem inneren Wirken heraus, aus ihrer Einheit heraus. Zu all den niederwerfenden Erfahrungen, die sich bisher in meinem Leben ansammelten, kam dazu, daß mir aufging, daß selbst die Wissenschaften, anstatt auf ein universales Ziel der Erkenntnis hinzuführen, mich gerade mit ihrem pingeligen Spezialistentum davon wegzerrten. Mein Wesen strebte nach dem Überschaubaren, Ordenbaren, nicht nach Chaos und dem unüberblickbaren Einzelding, welches ad infinitum seziert und seziert werde, bis daß man, wie das Sprüchwort vorsagt, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sähe. Da ich aber innere, sinnbezogene Klarheit anvisierte, konnten mich die gegenwärtigen wissenschaftlichen Maßgaben nurmehr in die entgegengesetzte Richtung fortziehen, was einen ringenden, suchenden Menschen noch zusätzlich verwirren und in Unsicherheit zu setzten vermag. – Die innere und äußere Welt glichen sich verdächtig den chaotischen Zuständen an, wie sie sich gerade in der Politik und Gesellschaft vorfanden; die Masken sind lediglich ein äußerer Halt, der das ganze fragile Gefüge irgendwie zusammenkleistert: und darunter regt sich eitel Gewürm! Die ganze zarte Gebrechlichkeit alles Lebens erschütterte mich zutiefst und wurde mir mit einem Male bewußt; mich schauderte darob bis ins Mark, zumal ich nirgendwo einen festen Punkt ausmessen konnte, der mir hätte Halt geben, auf dem ich hätte aufbauen können. Zusammenfassend mußte ich erkennen: meine Intentionen, meine Pläne, meine Aus-
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bildung, meine Fähigkeiten waren nichts wert – alles versank in einem umgreifend-verschlingenden Sumpf von Nichts. Eine dumpfe Ruhe der Ratlosigkeit breitete sich über meiner Seele dahin; gleich einem samtenen Futteral des Todes schlug es die Innenwände meines bisher so kunstvoll errichteten Gebäudes aus. Der Rest wäre Schweigen, wenn ich nicht zu leben gezwungen wäre … Das Studium Kants vollbrachte endlich an diesem weitwankenden wie mühselig unter preußischer Gewaltsamkeit zusammengehaltenen Wunderwerk meines Gedankengebäudes den endgültigen Gnadenstoß; nichts vermochte mehr zu helfen. Sic transit gloria mundi – sonach versinket die Herrlichkeit der Welt! – Wie die fünf unsterblichen Ströme des Jenseits aus einem großen Ganzen geboren werden, um wiederum darein zu münden, so fanden sich meine sämtlichen Qualen in einer meine Grundfesten einreißenden, überwältigenden Krisis zusammen, deren verderbliche Kraft mir die Lebensflamme zu ersticken drohte: alle aufrichtige, in mühseligem Kampfe errungene Erkenntnis – dahin; alle großartig entworfenen und verfochtenen Ziele – verflogen; alle heißblühende Lebens- und Liebessehnsucht – von keinem Menschen je zu begreifen, je zu erwidern; alles Hoffen auf Erfüllung des Undenkbaren, nicht zu Bestimmenden – ein namenloser, gähnender, tiefschwarzer Abgrund … Diese meine fünf Ströme des Lebens versanken ins Nichts! – Der Vorhang fällt! Fällt der Vorhang, wirklich? … Schluß!
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Irgendwas oder -wer hielt mich dennoch auf Zeit am Leben! Wie Münchhausen zog ich mich selbst (nicht das erste Mal) am Haupte wieder in die Höhe, in der man atmen konnte … und die Lungen füllten sich mit Pesthauch. – Vermittelst der Kantschen Schriften wurde ich gewahr, daß ich nie die Möglichkeit hätte, die Gesetze der Welt in ihrer wahren Tiefe zu ergründen, wie sie wirklich wären; ich könnte zwar die äußeren Erscheinungen vermessen, in ein Verhältnis setzen, untersuchen, aber ich wäre außerstande, das
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Wirkliche daran, das absolute Sein zu durchdringen; nie könnte ich erkennen, was die Dinge ihrem Wesen nach wirklich sind! Was also ist Wahrheit, was bloß Schein? Zudem war ich immer der unerschütterlichen Überzeugung, daß das, was wir hier an Wissen und Fähigkeiten auf Erden erwürben, in einem späteren Leben schöpferisch gebraucht werden könne; daß wir dergestalt im Weltengefüge der Erscheinungen auf gesichertem Wege fortschritten, indem wir Weisheit sammelten und uns zusehends vervollkommneten: sonach verfertigte ich mir akribisch mein eigenes Weltbild, meine ureigenste Religion! Und jetzo sei alles nichts wert!? Denn wozu noch sich bilden, lernen, voranschreiten, Gutes tun? Wie sehr ward ich in meinen heiligsten Gefühlen, ja ins Tiefste verletzt! Meine höchsten und einzigen Ziele gerieten ins dürre Laub – und ich stand nackt da, wie bei meiner Geburt; allein, diese Nacktheit war eine ungesunde, vor sich hinkränkelnde. – Selbstbefreiung, Selbstdenken, Selbstigkeit: alles Worthülsen, am Drahtseile geführte Puppen? Ich versuchte mich in Tabagien, Schauspielhäusern und bei Opernbesuchen ein wenig abzulenken: ich mußte auf neue Ideen kommen und meine geistige Verzweifelung überwinden; eine innere Nervosität und Unruhe steigerte sich heran – die Umwelt erlebte mich als verstört Zerstreuten. Schon wieder: ich mußte neu beginnen! Aber wie? und wo ansetzen? Ich entschied, auf Biegen und Brechen, jetzt noch trotziger auf meinen inneren Leitstern weiterhin zu hören; aber ich wurde verschlossener, verquerer, skeptischer, zweiflerischer. Ich versank zunehmend in mein Innerstes: Subjektivität und Seelenheil rückten vermehrt in den Fokus meiner Betrachtungen, bis zuletzt meiner Aufmerksamkeit einzig diese vorgezogenen Qualitäten übrigblieben. Dies war der Fluchtpunkt des anderen Extrems, welcher späterhin abermals eine Krise – eine sinnverwandte, auf den Kopf gestellte – auslöste. Immerhin; es galt mir das Wort: aut Caesar aut nihil, alles oder nichts! Entweder würde ich in die Freiheit oder in die Vernichtung katapultiert – beides war mir recht, denn beides beinhaltet sowohl das Ende als auch einen Neuanfang! Die einzige Gefahr lag darin, daß ich unter solcherlei absoluter Zeichensetzung gegen mich wie gegen die Umwelt noch um ein Spürlein rücksichtsloser zu Felde zog, als ohnehin schon: obgleich ich vor allem
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die Mitwelt hätte schonen wollen – ich wollte zu keiner Zeit auch nur irgendeinen, selbst nicht den geringsten anständigen Menschen verletzen. Ich gab mir unsägliche Mühe: diese schien aber nicht auszureichen. Mein Feuergeist, vermengt mit dem Unband meiner Seele, heizten sich in einem äußerst vitalen, selbstnährenden «circulus vitiosus», einem Teufelskreis, an. – Heia, was für ein Feuerchen, von dem die Welt bald einige nachgelassene Steinkohlen besitzen wird … Die aufgestauten Energien entluden sich in einer ungeheueren schriftstellerischen Arbeitswut sowie in einer Besessenheit des Umherreisens – eigentlich einer regelrecht gegengewichtigen Sinnsuche im Äußeren. Je mehr ich geistig aus meinem Innern heraus anwuchs, desto schwerer vereinsamte ich; das bisher still erduldete und schwer zu ertragende, unablässige und nervtötende Aneinandervorbeireden, das tiefsaugende gegenseitige Mißverstehen des Menschengeschlechts suchte ich in meinen Werken zu überbrücken, indem ich dem Unausdrückbaren, Unbeschreiblichen eine Gestalt zu geben ersann – ich fabrizierte bisher nie dagewesene dichterische Werkzeuge, um die runde Ecke zu bemeistern … Was sich allerdings nunmehr mit der Überwindung meiner Krisis in eskalierende Bewegung setzte, nenne ich einen Automatismus, dem der einzelne Mensch nur bedingt erfolgreich begegnen kann. (Es ist der unerbittliche, schicksalsmächtige Mahl- und Wirbelstrom innerer wie äußerer, sowohl zeit- als auch raumbedingter, gemeinschaftlicher und persönlicher Ereignisse, auf welche man bloß mehr oder weniger starken Einfluß, je nach Stellung in der Welt, auszuüben vermag.) – Die Setzung des Schlußpunkts aber durch meine eigene Hand lasse ich mir ums Verrecken nicht nehmen!
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Ich beantragte Reisepässe beim Auswärtigen Amte und schob vor, mich in Paris in den Naturwissenschaften weiterbilden zu wollen;
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ich mußte weg aus Preußen, einfach andere Luft schnuppern. Es war eine rein lebensretterische Maßnahme, nichts weiter. In meinem Tagebuch hielt ich folgendes Gedicht fest:
Gedanken Gedanken tummeln sich Wohlan zu neuen Welten! Tag um Tag darnieder sinket; Doch aber bleibet da die Frage: Wes Geistes soll man gelten? So vergeht‘s! Nicht aber schwind‘t das Zagen. So entsteht‘s! Was, frag‘ ich euch, darf man noch wagen? Bleibt demnach Hoffnung leis‘ beisammen, Dann siehet selbst der Blindgeschlagne, Daß dort ein Sternlein verschmitzt funkelt, Wo dereinst Hoffnung Liebe hieß: Wo immerfort Walhallas Tore Erwarten jenen wackern Helden, Den – Odin gleich – das Glück verließ!
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V. Lebensrettende Reisen und dichterische Anfänge Verspottet vom Schicksal, hätte ich auf dieser hoch ambivalenten, instabilen Stufe meines Lebens diese Reise gerne wieder abgeblasen; denn aus meinem überzeugten Wollen wurde unvermutet ein schnödes Müssen. Ich bin ein reichlich komischer Kauz: ich kann mich einfach nicht einpassen, nicht einmal ins Schicksal! Wie dem auch sei: es verdusterte sich mein Gemüt unter solchwelchen Auspizien erneut, ich ahnte Schlimmes. Ich hoffte nur noch auf die Trias: mir ein Weib, ein Haus und die Freiheit; alles andre ließ ich in Gedanken fahren! – In dieser eigentümlichen Stimmung entfloh ich der niederdrückenden und selbstquälerischen Sterbensbangigkeit, indem ich zusammen mit Ulriken sowie einem Bedienten die Droschke bestieg. Es verhielt sich dergestalt: Die unergründlichen, unerforschlichen Tiefen meiner Seele, diese nimmer endenden, ewiglich stürmischen Bewegungen des rätselfrommen Herzens bereiten mir fortwährende Schmerzenspein, der ich mich irgendwie und endgültig zu entwinden suche, unwissend wie: – ich ließ Wilhelminen wiederum alleine in Frankfurt zurück (weil ich aus innern wie äußern Zwängen mußte!) und erbat zwar ihre Erlaubnis, mich ziehen zu lassen, was aber eine reine Pro-forma-Angelegenheit war; ich wäre ohnehin aufgebrochen. Unglücklicherweise versprach ich Ulriken an fernerer Stelle, daß ich sie auf die nächste anstehende Auslandreise mitnähme: sie, die so gerne in der Welt wie ein Irrlicht umherflackert. Wiederum: Ich mußte nunmehr – entgegen meinem Willen – das Versprechen einlösen; und ich versuchte sie noch durch einschüchternde Schilderungen von zu erwartenden Hemmnissen – seien es meine vorherrschende Geldknappheit oder sonstige Unbilden – der Reise abspenstig zu machen. Alles vergebens – sie wollte mit und freute sich wie ein kleines Kind, was mich noch mehr verdroß. Hätte ich mich doch bloß alleine, ganz alleine aus dem Staube machen können. Es setzte erstmals einer derjenigen merkwürdigen Mechanismen ein, die
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mein Schicksal künftighin geisterhaft zu lenken bestimmt waren: alleine zu verreisen, hätte mich in jedweder Hinsicht unabhängig belassen; ich wäre imstande gewesen, die Entscheidungen jederzeit revidieren, modifizieren zu können, was nun unmöglich geworden war! Meine Studenten-Matrikel hätte als Beleg ausgereicht, um für einen Studienaufenthalt im Ausland Preußen zu verlassen; für eine Reise mit Equipage, begleitendem Diener und Schwester hingegen war ich genötigt, einmal mehr Pässe im Auswärtigen anfertigen zu lassen: selbstverständlich unter detaillierter Angabe von Gründen etc. Ich mußte den einzig naheliegenden und plausiblen Grund angeben – eben: eine Studientätigkeit in Paris zwecks Vervollkommnung meiner Kenntnisse. Diese Tatsache wiederum sickerte durch und entzückte halb Berlin (verdammt noch eins!): meine lieben Professoren, mit denen ich ja zum Teile durch persönlichen Verkehr in ihrem Hauskreise näher bekannt war, sowie alle Verwandten und Bekannten; dies schürte die größten Erwartungen, vor allem unter meinen Kritikastern. Kurz und gut – ich wollte mich allem entschlagen und flüchten, statt dessen setzten etwelche Zufälligkeiten und frühere Versprechen mich erneut unter Zugzwang; ich sah mich einmal mehr zwischen die üblichen Pole, Pflicht und Neigung, eingespannt. Eine verhängnisvolle Macht schien über mir zu walten, zumal diese verzwickt-unbarmherzigen Ereignisketten von unglücklichen Zufällen, Missverständnissen, Notlügen, Ausflüchten sich öfter, als es die Wahrscheinlichkeit errechnen ließe, ab diesem Zeitpunkte in den verschiedensten Variationen wiederholten. – Das Vorteilhafte daran, falls überhaupt vorhanden, war der dem Ganzen innewohnende burleske Charakter: gleichzeitig tief, ernst und mystisch, aber ebenso schicksalsmäßig-schalkhaft; tragisch alleweil, und dennoch vielleicht – von einer weit höheren Warte aus betrachtet – gar nicht dermaßen schlimm, wie es scheint –: oder etwa doch? Vielleicht nehme ich alles viel zu schwer, zu ernst? Das exactement! ist eine der quälenden Fragen: was ist wirklich, was die Wahrheit? – Ach, möchte einem das Leben bei der Geburt einen ausgetüftelten Portolan an die Hand geben, nach dem man sich richten könnte: einen unverwüstlichen, detaillierten Plan des von der Schöpfung vorgezeichneten Lebenswegs. Bloß ein ausgemachtes Glück, daß ich wenigstens sehr schnell lerne und mein Auffassungsvermögen von
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erklecklicher Potenz ist: eine Begabung, die mich bisher nie im Stich ließ, die mir in den waghalsigsten Wendemänovern zugute kömmt, ohne daß ich ein Jota von meinem einmal festgelegten Kurse abzuweichen genötigt bin. – Aber eben: stimmt der Kurs?
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Ich versprach meinem tapfern Minchen hoch und heilig, daß ich, sobald ich wüßte, was ich tun sollte, was meine Bestimmung wäre, wiederkehren würde. Dies Versprechen kann ich in meiner Unmacht leicht halten, zumal: in einem solchen Falle wäre ich entweder Tod oder Überwinder meiner selbst; leider hatte Wilhelmine nie eine wirkliche Ahnung, wovon ich sprach. O! wie sehne ich mich derart abgrundtief nach Ruhe und Frieden! – In einem wichtigen Brief schrieb ich ihr wie folgt: aufrüttelnd, eindringlich, in der bangen Hoffnung, daß sie mich endlich, endlich im Innersten erkennen, verstehen möge:
Dresden, 12. Mai 1801
Liebste Wilhelmine, mein holder Augentrost! Ich möchte Dir in diesem Schreiben ein Bild meiner sehnsüchtiginneren Verfassung zeichnen; ich wünschte mir so sehr, Du – ja, gerade Du! –, mein Herzblatt, verstündest mich; siehe – ein Bild der Mythologie, gemalt von Tizian oder El Greco; lebe darin mit, erspüre den Tiefgang des Gedankens, der mich, der Welle gleich, in den ewigen Himmel hebt oder, zur Charybdis gezogen, zu zernichten droht. – Medusa, Stheno und Euryale: die drei Gorgonen, wovon bloß eine sterblich ist, nämlich die Medusa! Perseus, Sohn des Zeus, ward ausgeschickt, deren Kopf einzuholen – die Gefahr: nicht gering,
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denn jedweder, der ihnen direkt ins Antlitz siehet, verwandelt sich zu Stein. – Die Schlafenden aufsuchend – alle drei von gräßlichster Gestalt –, mit abgewandtem Angesicht, den Blick gegen seinen ehernen Schild gerichtet, in welchem sich die feurigen Augen der atemraubenden Gorgo widerspiegelten, schnitt er der Sterblichen – geführet in Sinn und Hand von Athene, der Göttin der Weisheit – das Haupt herunter. Nach vollbrachter Tat entsprangen dem Körper der Gorgone Pegasus, das geflügelte Roß, als auch ein gewaltiger Riese. Perseus, der Held, stopfte das Schreckenshaupt in einen Knappsack, wobei er sich rückwärtsschreitend entfernte. Indes erhoben sich die Schwestern, frevel-trotzend, von ihrer schauerlichen Lagerstatt und verfolgten den Helden auf goldnem Fittich; doch das grausliche Gespann konnte ihn – wegen seines in einem weiteren Abenteuer errungenen Hehl-Helms, der ihn sicher dem Auge barg – nicht entdecken. – Unter Beihülfe des mutig erworbnen Preises errettete er Andromeda, welche einem Seeungeheuer zum Fraße vorgeworfen werden sollte (dies infolge eines Fehls ihrer Mutter, die sich anmaßend brüstete, von auserlesener Schönheit vor den Nereiden, den Meeresnymphen, zu sein, worauf Poseidon eine Landplage bewirkte: ein Orakelspruch verhieß Erlösung, wofern die schöne Andromeda, gefesselt an Felses Spitze, geopfert würde), indem er vor dem Ungetüm das Medusenhaupt entblößte, wodurch jenes sogleich zu Stein erstarrte. – Sein bedungener Gewinst: Andromeda als Braut. Endlich schenkte er das Haupt Athenen, welche ihn ja göttlich bei seinem Siege schirmte: diese setzte das Gorgonenhaupt zur Mitte ihres Kampfschildes! Soweit die Sage, meine göttliche Wilhelmine. – Stheno und Euryale stehen für die Unsterblichkeit von Geist und Seele; die Medusa präsentiert den sterblichen Teil, den vergänglichen Körper, unterstehend den Gesetzen von Handlung und Wandlung! Es ist verständlich, daß dem Endlichen in seiner Unreife das Ewige als gräßlich, ja schreckenerregend erscheinen muß – zumal nur das Ewige die Unsterblichkeit unmittelbar wahrzunehmen vermag. Mittelbar hingegen kann selbst das Sterbliche Ewiges erkennen (mit der Innenseite des Perseus-Schildes, das ist die innere Stimme als Abglanz des eignen göttlichen Wesens: Perseus sind wir alle –
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bestückt mit allen beschriebenen Fähigkeiten)! Wer dem Ewigen – unfähig, ungefragt, unverhohlen – ins Antlitz schauet, erstarrt zu Stein, so heißt es. Gleich wie in Schillers Gedicht «Das Bildnis zu Sais», wo der Schlußvers anlautet: «Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld: / Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.» – Der aber geführt wird durch die edle Athene, durch Weisheit, einem Verbund von Liebe und Intelligenz und Geduld, vermag den Preis zu gewinnen, zum Nutzen aller. Natürlich sind Stheno und Euryale nicht Schauergestalten: sie sind das einzig Wirkliche!, jenseits von Handlung und Wandlung, jenseits des Beschränkt-Endlichen. Allein, um sie direkt zu schauen … muß man – sie selbst sein! Wie dies zu tun? Darauf geben alle Genialen ihre jeweilig eigene, wahre Antwort. Wo werden die Gesetze gelehrt? Wie man die Gorgo richtig schaut, ohne an ihr zugrunde zu gehen! Wo wird verlautbart, wie die Gesetze beschaffen sind, nach denen der Kosmos (griechisch: die Ordnung) waltet? Der Fährlichkeiten sind viele, will man die Gorgo spähen – jedoch: um die Gesetzmäßigkeiten gewußt, ein Kinderspiel und spannend gleichhin. Unbedarft herangegangen, schirmt einen meist das Glück – allein auf Zeit, was kaum befriedigt. Frevelhaft, ungelehrig sie versucht, verdirbt man schließlich an sich selbst: denn das Rätsel und dessen Lösung! ruhet ebenso in einem selbst. Wer hieße sich so gering, hieße sich einen Knecht vor dem Spiegel seines Wesens, daß er nicht um die Tiefen des Lebens wissen wollte? Wer wollte nicht, forschend um Erkenntnis, hinter den Schleier blicken – rein und klar, würdig? Wie dies zu tun? Jeder bekömmt irgendwann vom Schicksal seinen ureignen Schild gereicht, wofern er ihn verlegt hat, und jeder bekömmt den ihm zugehörigen Plan an die Hand gefertigt – seinen persönlichen Ariadnefaden, der ihn sicher durch das Labyrinth des Lebens führt! – Athene trägt die Medusa im Schild, wie vernommen. – Wer es wagt, der Wahrheit edel und gradwegs ins sternenlichte Auge zu schauen, wird auf der Stelle entweder geheilt oder vernichtet. Wenige nur wagen das Äußerste: die meisten vergraben sich lieber hinter Lügen, Halbwahrheiten, Faulheit und Ängsten. Ich sage mir: lieber tot als ein lebendiger Halbtoter! Und beim Zeus, wie viele Halbtote und Schlafende laufen herum, denen wir tagtäglich
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begegnen! Ich habe der Medusa unter Athenens Ägide ins nachtumwölkte Mark geschaut – und ich sah: … Wem soll ich berichten? Wer will es mir gleichtun? Wer wählt den sanfteren, angenehmeren und ebenso legitimen Weg? Ob so oder anders: früher oder später muß jeder, ob er will oder nicht, sich mit der Gorgo, mit der Ewigkeit auseinandersetzen! Man tue es jetzo, oder warte auf – den Jüngsten Tag und verplempere hienach die kostbare Lebenszeit! Dazu, meine herzliebste Braut, noch ein Gedicht aus meiner Feder: nur für Dich allein geschrieben! Höre mit den Ohren Deiner Seele, und vertraue Deinen innern Einflüsterungen!
An Ophelien Des Reigens Zeit – ohn‘ Ende noch, ohn‘ Anfang – atmet Tiefsten Hauch im Land der ewig-trauten Nornen: Die rauhen, silbernen Weiden raunen Schicksal, dem weltverzweigten Wurzelwerk entstammend – Und schwere Zährn zur Linken entquellen Prinzen Hamlet, dem Ophelia jäh entflohn! Das Herz zerbrach vor Zeiten, weil es dem Heil zuwider, Das gefordert vor Walhall und den Walkürn. Das frische Los ward in den Gründen harsch und hart, Doch froh in der Erfüllung. So ist der feiste Bruch (Trotz des Bruches: – nie gebrochen) Im hohlsten Leid das hehrste Glück, da der göttlich Entzweite Ring des Niblung‘ sich wiederfand zu Eins! Das Wort will sagen: In Einsamkeit liegt Schicksalstiefe Läutrung, in Zweisamkeit Zufriedenheit Und Glück – in beidem: namenlose Götter-Ewigkeit!
Wilhelmine: verstehst Du dies? Ich muß entweder verderben – oder diesen meinen Königsweg zu den Sternen, gleich einem Pilgrim des
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Geistes, unerbittlich bis ganz zum Ende gehen, komme was wolle; verstehst Du mich? Willst Du mich begleiten? Reiche mir Deine Engelshand, welche ich inniglich küsse: teile mit mir das Leben und begleite mich in den Himmel!! Willst Du das? Antworte mir bald; ich, zwischenzeitlich, folge der Stimme meines Schicksals …
Dein Dich über alles liebender Heinrich
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Eine der wichtigsten Stationen auf meinen Irrfahrten wurde in vielerlei Hinsicht das schöne Dresden. Hier packte mich in der niedergedrücktesten Stimmung die Welt der Künste: dieser Glast an Schönheit, Erhabenheit und Größe durchglomm mein Herz; es senkten sich wenigstens ein paar heitere Lichtstrahlen in die Dunkelheit hinab und erhoben mein kränklich Gefühl, tränkten es in Balsam. Ich weilte tagelang im Antikencabinet, die weltweisen griechischen Ideale bewundernd; besuchte die Bildergalerie, wobei ich die genialen Maler zu beneiden anfing: sie, die kraftvoll mit den Händen ihres Geistes in ihr Innerstes greifen konnten, um ein hehres Bild hervorzuklauben, welches sie in Meisterschaft auf Leinwand zu verzeichnen imstande waren – Bilder, die das Heiligste anrühren, die einen Eindruck von Wille und Form, Gestalt und Absicht in des Betrachters Busen zurücklegen, dergestalt, daß er beinahe genötigt wird, diesem ewigen Ziele nach seiner Artung nachzufolgen, zumal er nunmehr und mit einem Male seines eigenen Leitsternes ansichtig wird: eine wahrhafte Metamorphose vermögen diese schöpferischen Meister der Menschheit keimhaft anzuregen bei demjenigen, welcher dazu reif, bereit ist! … – ich faßte wieder Mut zum Leben! Ich nahm mir vor, mit Haut und Haaren den Künsten zu leben; sie sind das einzige Mittel, welches den Menschen verwandeln kann. Und ich stellte mir vor, wie der wahre, echte Künstler frei von Zweifeln sein müßte: denn er
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schöpfet in und aus sich selbst heraus die reine Quelle. Etwelche Reflexionen flössen verwandelt sowie die Umwelt verwandelnd in sein Werk, so daß kein Überrest mehr bliebe, der irgendwas in Frage stellte – der Zweifel würde sich, auflösend, in die Wahrheit selbst ergossen haben! Welch ein Gedanke! derart entflöhe man der selbstzerstörerischen Quälerei. Schließlich ist es nicht möglich, den eingefleischten, tödlichen Stachel zu entfernen: dies bedeutete den sofortigen Tod! Aber es existiert eine reale Methode, mit diesem Makel umzugehen, indem man ihn nicht alleine als einem zugehörig betrachtet, sondern ihn schöpfertätig transponiert – und zwar im künstlerischen Werk. Es keimte der Mut der Verzweiflung in mir auf, und mir ward ein wenig heiterer zumute. Bezeichnenderweise empfand ich eine innig-unaussprechliche Ergriffenheit, ja Erschütterung, als ich in der katholischen Dresdner Hofkirche Orgelmusik und Chor in mich aufnahm. Welche Akkorde: ich verloh’ im Feuer dieser wunderbar-wähligen, sphärischen Musik! Für einen Moment wünschte ich mir, in dieser unbefleckten Erhabenheit aufzugehen. Könnte ich nur glauben; mein Verstand aber zwingt mich zu zweifeln! Ich begann die einfachen Geistes-Lämmer zu beneiden, die noch nie in ihrem Leben einen eigenen Gedanken gewälzt haben, sondern immer bloß glaubten und selig waren; sie kannten die Qual des Denkens, des Erkennens und Zweifelns nicht: wie glücklich also mußten sie sein?! – Lethe, reiche mir den einen letzenden Schluck aus deinen Wogen, nur diesen einen spärlichen, welcher mir verheißt: erfüllte Sehnsucht – Liebe – Tod! Ich schätze wohl: diese seit der Renaissance einseitig verfolgte Aufklärung, dieser kalte Individualismus und Egoismus haben gleichhin eine entgegengesetzte Reaktion ausgelöst; der Körper der Menschheit hat seine Abwehrkräfte ausgebildet, und das Pendel schlägt in die andre Richtung – das hingeschundne Menschengeschlecht sehnet sich nach Wärme sowie darnach, ein bildendes Sinngefüge im Fortgange der Welt erkennen zu können: die Aufklärung also hat versagt, zumal sie nicht einmal mich zu retten vermag – ungestalte Steine wirft sie einem fahrlässig vor anstelle von Brot, und statt Wasser oder gar Wein kredenzt sie Jauche! Wir sind allesamt weitaus mehr die Kinder unserer Zeit, als wir es uns
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vorzustellen wagen; einzig einem großen einzelnen, überzeitlichen Geist mag es zuweilen gelingen, sich mit der Kraft des Titanen über den vorherrschenden Sog der Geschichte zu erheben: – er zahlt den entsprechenden Preis! Ich spürte aber sogleich in mir, daß ich dies mickrige Sträßlein blinden Glaubens nicht gehen würde: es ist den Schwachen und den Schafen vorbestimmt; doch der andere Weg führt mich ebenfalls ins Verderben. Ich mußte mir also ein neues Ziel zurechtlegen: den ureigensten Pilgerpfad des Glücks und der Erfüllung tapfer zu beschreiten! Und die reine Kunst sollte mir dabei demantner Leitstern sein! Um zu überleben, mußte ich allerdings vorerst einmal gewisse Widersprüche in mir aushalten, zum Teil auch verdrängen. War dies ein Zufall? Es trieben Amors Pfeile in Dresden mit mir ein merkwürdig neckisch‘ Spiel. Durch Vermittelung eines Bekannten wurden wir bei der Gerichtsratswitwe von Schlieben, welche zwei wirklich niedliche Töchter vorzuweisen hatte, Caroline und Henriette, eingeführt. Nebst meinen die ganze Seele hellerleuchtenden Kunsterlebnissen waren es diese beiden Elfen, welche mich, länger als geplant, in dieser prunkvollen Stadt hielten; am liebsten wäre ich gar nicht mehr fortgegangen, wofern nicht die Geschicke und Ulrike darauf gedrängt hätten. Als Immertreu fühlte ich mich natürlich gegenüber Wilhelminen verpflichtet: allerdings – meine Art zu lieben ist nicht von dieser Welt! Ich lag zwar noch nie mit einer Frau zusammen, war niemals intim; seelisch-geistig aber verliebe ich mich nahezu ununterbrochen, sehr heftig und flammend, und diese beiden Mädchen haben es mir angetan – und wie! Diejenigen Wesen, in die ich mich verliebe, verwandeln sich auf gänzlich geheimnisvolle Weise in das Ideal meiner Sehnsucht – ohne jedoch ihre jeweilige Identität zu verlieren. Das ist mir selbst ein höchst liebreizendes Wunder, das mich aufs sinnreichste immer wieder fasziniert! Ich beschwor vor dem Weltenkreis: dasjenige hehre weibliche Wesen, welches sich als erstes dazu entschiede, meine Wonnebraut zu werden (ingleichen sie das Für und Wider meiner Eigenarten akzeptierte) und vor dem Altare des Lebens das große «Ja» aushauchte, dem würde ich auf ewig treu sein! Wilhelmine war noch nicht bereit, also hielt ich selbstverständlich weiter Ausschau …
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Die Schliebens waren bettelarm; die beiden herzliebsten Mädchen mußten mit schlechtbezahlten Handarbeiten zum mageren Unterhalt beitragen. Caroline war mit dem Maler Heinrich Lohse verlobt, den ich noch kennenlernen sollte; und – sie war ebenso sehr an bildender Kunst und Kultur interessiert wie ich: mit ihr zog ich zuweilen durch die Kunstsammlungen der Stadt. Ich beneidete den Lohse um solch ein hehres Weib; doch auch Henriette war liebreizend und von knackiger Frische: an Caroline liebte ich mehr den mir anverwandten Geist, an Henriette dagegen die ozeanklare Seele: kurzweg – ich hätte gleich beide fürs Leben gerne zur Braut genommen; je nun: eine Geldfrage, wie sehr vieles im Leben! Ich glaube, daß Henriette sich in mich verliebt hat – wenn ich bloß gekonnt hätte: wie sehr sehnte ich mich darnach, diese Liebe zu erwidern; doch ich mußte zuallererst zu mir selbst finden; ich durfte diesen komplizierten Schicksalsknäuel nicht noch enger schürzen und zusätzliche Fäden darein flechten; derzeit war ich unbeholfen genug. Ich versprach Henrietten, daß, wenn ich diesen dunkeln Schacht durchquert und sich mir alles gelöst hätte, ich sie zur Frau nähme (ich wußte innerlich längst, daß es mit Wilhelmine wohl nichts Rechtes werden würde, hielt mir aber alle Optionen offen, falls sie es sich gleichwohl überlegen sollte). Ulrike irrlichtelierte in der Gegend herum, immer auf der Suche nach Abenteuern; schließlich ermahnte und drängte sie mich, die Reise fortzusetzen, denn ich hätte ja auch einige Verpflichtungen zu erfüllen. Meine Stiefschwester besitzt das wohlfeile Talent, einen unreifen Pickel – noch dazu im kreuzfalschesten Moment – derart zu drücken und pressen, daß er zwar aufplatzt, aber sich damit weiter entzündet: sie reizte mich, indem sie diesem wunderbaren Traum ein Ende setzte; dennoch muß ich ihr zugute halten, daß sie um meine wankelmütigen Seelenlagen nicht wußte; sie hätte es auch nie verstanden. – Diese zauberischen Augenblicke in Dresden erfüllten mein Herz dermaßen mit kernigem Inhalt, daß mir diese Stadt eine heimliche Geliebte und Heimat wurde; eigentlich darf ich sagen, daß ich aus Dresden meine schönsten Erinnerungen und Erlebnisse mitnahm: ich sollte nochmals dorthin zurückkehren, was den gleichzeitigen Höhepunkt und endgültigen Niedergang im Gefolge hatte. Vorerst aber verließ ich zusammen mit Ulrike die Stadt Richtung
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Leipzig; Henriette weinte mir bittere Zähren, die ich ihr liebevoll von den Wangen wischte: ich drückte ihr einen heiß-herzlichen Kuß auf die edle Stirn und bekräftigte ihr im Flüstertone nochmals meinen Schwur; ich liebte sie wirklich aus tiefstem Herzen – doch mein herrisch-unergründliches Schicksal schenkte mir fürs Leben keine Braut, nur für den Tod sann es sich eine aus: unerforschlich – diese Todesbraut trägt denselben Vornamen: Henriette, Henriette! Welch wunderliche Geheimnisse uns umgeben …
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Paris, 25. Oktober (1801?) Liebste Henriette, meine Wonne-Göttin (...) Aus den Eingeweiden der Erden meldet sich der Donnergluten und Götterfunken Prachtgewirk höchstselbst: Heil Dir, hell-prangende Venus – heil Dir, der herrlichsten aller Frauen eine; holdeste aller Göttinnen – Heil Dir! Deine Mandoline (...) sei Dir jetzo die Laute meiner Seele, auf der ich, als kurze Introductio, mit profundem Fingerspiel – nun ja: hier auf der Laute, wohlgemerkt – eine Arie beginne zu entlocken aus einer früheren Epoche meines Lebens; harre denn, Du zauberisches Feen-Wesen, dem Ende zu! Und höre zunächst ein
Mädchenrätsel Träumt er zur Erde, wen, Sagt mir, wen meint er? Schwillt ihm die Träne, was, Götter, was weint er? Bebt er, ihr Schwestern, was, Redet, erschrickt ihn? Jauchzt er, o Himmel, was Ist‘s, was beglückt ihn?
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So träume ich zur Erde und meine – die Unsterblichkeit! So schwoll mir die Träne und ich weinte – die Endlichkeit! So bebte ich und erschrak – vor mir selbst! So jauchz‘ ich und es beglückt mich – die Verzückung, als ich Dich sah, meine wonne-launige Tigerin! Also, Du erotisch-exzentrisches Tigerchen. Ich bin ein Mensch, der seinen Worten ebengleich in Taten Nachdruck verleiht: wenn ich was für Dich tun kann, äußere Deine kräftezehrenden Wünsche: und ich werde versuchen, sie zu erfüllen! (...) Ich biete alles – bloß keinen Durchschnitts-Bettel; Du suchst das Exzentrische – ich biete das Darüber-Hinaus, das Andere (denk‘ Dir das Ungewöhnlichste: ich übertreff‘ es). Vergiß, liebliche Tiger-Lady, die ein- und ausgemachten schlaffen Säcke, welche es nicht ertragen, wenn sie mal ein bißchen ruppig von TigerinnenHand gestreichelt werden – ich überbiete sie alle. – Hast Du Angst vor einem Wesen, welches stärker ist als alles, was Du bisher angetroffen hast, was Du kennst, mit dem Du je Klinge und Wege kreuztest – und das gleichzeitig von tiefster Hingabefähigkeit und Zärtlichkeit beseelt ist, vom Wunsche nach dem Heil? (Ein Widerspruch leuchtet hier allein dem Hirntauben.) Dann laß die klammen Finger von mir – Deine Krallen brächen am härtesten Granit. Fürchtest Du Dich vor dem Hammer Gottes – dem malleus Dei? Dann laß die schwachen Krallen von mir – Dein welkes Wesen zerbirst. In solch einem Spannungsfelde kann nur eine geniale Intelligenz ihren Fürspruch finden, ansonsten dies göttliche Gebäude in sich selbst zusammenstürzte. Hast Du Angst vor einem höchst zärtlich-sinnlich-gefühlvoll dominanten Manne, der allenthalben bestrebt ist, Dir Deine innigst-ureigensten, erotischen und seelisch-geistigen (Tigerinnen-)Wünsche zu erfüllen? – Ich denke kaum – oder sollte ich mich etwa in meiner Menschenkenntnis täuschen: sollte diese Venus ohne Biß und gar lendenlahm sein? Du, prangend-hehre Venus, wärst mir mal Morgenstern, mal Abendstern – und gleichhin: immer im Zenite stehend! Du sinnlichweiblich-herrlich-heilige Göttin! – Fauche mir Deine wildesten Wünsche zu Ohren, und kratze mir ein Sondermal!
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Mein Kiefer ist der des Tigers – mein Auge des Aars (...) und mein Geist der eines heilbringenden Gottes! Ich bin der Mann mit der eisernen Halbarte – Rembrandt hätte mich verewigen sollen (...) Ich bin von cäsarisch-durchschlagskräftgem Willen und entsprechender Milde. Du kennst mich: Bin weder strubbelig noch süß – meine Huld lieget im Kelche der Dir dargereichten Sanftmut einer faszinierenden Persönlichkeit. Nippe daran, meine göttliche Kleopatra: denn Dir allein wird der güldne Seim gereichet werden, so Du möchtest: – in Deinen Händen erst wird, wechselweise, der Demant zu Wachs, das Weiche zum Harten (solltest Du dies unter Süße verstehen – wohl denn: dies ist‘s, was dem Gemächt entfließe; nun ja, faß‘ es, wie Du‘s möchtest … – nicht das Gemächt, das Bild vorerst). Ich bin das Wesen, welches selbst Walpurgas Prophezeiung an Macbeth aufs Horn nimmt – ich versetze Dir, vice versa, wenn man so will, Dunsinan nach dem Birnam-Walde: ich, my Lady, merket auf! bin das Wesen, das runde Ecken nicht nur ausdenkt, sondern auch verwirklicht! Ich werde Dein Pegasus sein, Dich in den Himmel heben, der trüben Erde entführn: – ich werde Dir Welten erschließen, von denen Du noch nie gehöret, die Du noch nie empfunden (...) Willst Du meine Walküre sein? meine Titania und ich Dein Oberon – ich werde zum Danke den Puckschen Schleier Deinem Antlitz entreißen: für einen Tag – für eine Woche – für ein Jahr – für ewig (...) Du entscheidest! Wo nicht, was ficht‘s mich an? Sodann erwart‘ ich den Entsatz aus anderen Gefilden. Nun, Tiger-Lady – haste Mut oder kalte Füße? Wetzzähne oder allein leidenschaftliches Pathos, ohne die Kraft zur Verwirklichung Deiner Träume? Beust Du mir lauen Kaffee oder heißblütiges Temperament? Spring ins Wasser – riskier‘ es, weise zu sein (...) – Und wenn Du wolltest, verzauberte ich Deinen bebend-verzückend-feuerrot vor meinen Augen unter dem brennenden Hauch des wildbrünstigen Tigers anschwellenden, Wonnelust begehrend-begierigen Venusberg mit meiner Glückes-Gaben Füllhorn honiggelben Seims, Du schnucklig-gefährlich-heiße Tigerin: mein Wille sei gesetzt, Deinen Wünschen gerecht zu werden – in jedweder nur denkbaren Hinsicht; keine Angst – ich springe Dich nur an, wenn ich das Leuchten Deinen beiden Lichtern freudig entstrahlen sehe,
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die mir die Zusage gäben; ich bisse bloß auf Verlangen – aber was für himmlisch-zärtliche Wunden schlüge ich Dir! Willst Du auf soviel poeto-erotische Begabungen verzichten: in Tat und Wort? – nun denn, Deine Sache (...) Wie gesagt, Du gefällst mir ausgeschamt gut, so daß ich gerne bereit wäre, notfalls auch weiterhin eine reine Freundschaft ohne penetrierende Intimitäten, welch eine Selbstprüfung! – einmal mehr, zu pflegen. (...) Zum Ende hin nochmals Deine Mandoline (...) – was meine Trompeten von Jericho sind. Wirfst Du mir nun den Schlüssel zu, oder habe ich ‘ne kalte Dusche zu gewärtigen?! – Si ridesti la Leonessa di Castiglia – Erwache, Löwin von Kastilien! Faßt Euch ein Herz, und vereint Euch, verglühend-durchglüht, mit dem ungeschlachtdampfenden Geschlechte Aragons. Ich erwarte Dein zärtliches Knurren, Euer Liebden, Leonessa – der Knochen mit reichlich Fleisch dran stehet, aufrecht, bereit.
Achilleus grüßt seine Penthesilea
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Ein nicht abgesandter Pariser Brief an Henriette (verfaßt einige wenige Monate, nachdem ich sie in Dresden kennenlernte: es hätte mich zwar nicht gereut, ihr das Schreiben zuzustellen, sie wäre aber – gelinde gesagt – wohl ziemlich irritiert gewesen; ich hätte damit die sich anbahnende gute Freundschaft fahrlässig aufs Spiel gesetzet) war Auslöser zu einer Idee, welche ich einiges später erneut aufgriff; – diese wollüstig-heißblütigen Zeilen ließen mir in der Seele einen gar wunderbaren Einfall zu einem skandalösen Stücke aufleuchten. Es ist mir in der Tat ein Seltsames, gänzlich Undurchsichtiges, wie sich meine Seelenkräfte der Stoffe bedienen; wie sie etwa dieselben zu meinen Werken aussuchen – wie sie sich fremde Verknüpfungen zu Gegenständen verschaffen: abwegige als auch völlig andersgeartete?! Wie es denn überhaupt sein
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kann, daß in das erhabene Mosaik, voller Schönheit und Edelmut, sich von Geisterhand immer von neuem ungestalte Steine einpassen, die, einzeln betrachtet, einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – zusammengefügt in die Ganzheit des Bildes aber ein reichlich unentdeckbares, unsagbares Gefühl der geheimnisvollen Tiefe einer alles sprengenden Dimension zu vermitteln vermögen: ein zugleich abscheuliches und lieblich-anziehendes, ein magischabsonderliches, fesselndes. Des Rätsels Lösung scheint einem stets auf der Zunge zu liegen – doch sobald man sie aussprechen möchte, stellt man fest, daß ebendiese herausgeschnitten ist: weswegen das ungetrübte Gefühl, beide zu besitzen (Lösung und Zunge), durch Feststellung des unglückseligen Umstandes in kalten Schauder gewandelt wird; im Zustande des Schweigens aber und des Verlustes nicht bewußt – scheint das Rätsel offen und klar vor den Sinnen verkörpert, dergestalt, daß man die Erkenntnis darüber bloß noch auszudrücken bräuchte! Es ist wohl das Geheimnis der eigentümlichen Ausbildung meines Seelenkörpers, welchen sich die Natur vornahm in ziemlich anderer Formung auszuprägen, als dies gängig der Fall sein mag: der Welt und mir als offen-dunkles Rätsel hingestaltet! Dem ist auf den Grund zu gehen! Sollte sich mein Daimon sperren, werd‘ ich ihn dazu zwingen, mir die Antworten auf meine Fragen zu gewähren – … aber was, wenn es gar keine Fragen gibt, die sich beantworten ließen; oder keine Antworten, die auf meine Fragen paßten? Die Sache verhält sich ausnehmend vertrackt – dergestalt, als ob sich der mercurialische Drache, die Schlange Ourobos der Alchimisten, in den Schwanz bisse. Wie lautet der mystische Spruch schon wieder an? Moment –: «Es lebet in der Welt ein wunderbarer Drache, der heißt Hermaphrodit: aus diesem fleißig mache den allerschönsten Kalk, doch brauche nicht Gewalt, damit auch seine Kraft der edle Kalk behalt. Nun merke das zum Grund: schau, wo der Adler ruht, bemächtige dich sein‘, nimm ihm sein rotes Blut.» – Ich muß diesen Schatz heben, des Adlers habhaft werden, bevor er mich zernichtet … Die Grundzüge der im Briefe entwickelten Phantasien sollten sich mit einigem Geschick durchaus in eine provokante Erzählung umarbeiten lassen, die ich einige Jahre später verwirklichte: als mir
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nichts mehr anderes übrigblieb, als mich auf diese Stufe des Erzählerischen herabzulassen – schließlich ward ich genötigt, mein täglich Brot irgendwie zu verdienen. Denn von Natur aus fühlte ich mich seit jeher einzig fürs dramatische Fach berufen; Erzählertum, Epik überhaupt, lag mir zunächst gänzlich ferne. Aber das Leben fragt nie nach irgendwelchen Gründen: es stößt einen einfach ungefragt ins eisige Wasser, und jeder hat dann selbst zuzuschauen, wie er fortkommen mag … Ich entsann mich einer Anekdote, die ich bei Montaigne aufgegriffen hatte, welche er in einem Essay über die Trunksucht verwendete – daraus ließe sich was wirklich Treffliches dichten. Ich würde die Geschichte in die Gegenwart verlegen, den Schauplatz abändern und die ganze Problematik reichlich zuspitzen, einiges an Schärfe hinzugeben, indem ich das Milieu ins Umfeld des Adligen versetze anstelle des Bürgerlichen. Ich war mir völlig bewußt, daß ich die (durch und durch unechte als auch heuchlerische) moralische Befindlichkeit unserer so hochgeachteten gesellschaftlichen Kreise damit ins Mark träfe! Diesen abgeschmackten Heuchlern wollte ich einen Spiegel ihrer Entartung vor Augen halten … – Nun, es sollte sich mein Stück um den Angelpunkt tiefster Erniedrigung, höchster Würde und Verantwortung drehen; als Ausgang der Erzählung diente mir eine Vergewaltigung während einer tiefen Unmacht! Da wird die gezierte Damenwelt Kopf stehen. Meine adlige Heldin, eine echte Dame, voraussichtlich eine Marquise! von vorzüglichem Leumund, soll in einer Zeitungsannonce bekanntgeben, sie befinde sich in unerklärlichen gesegneten Leibesumständen, und sie ersuche den Schuldigen, sich bei ihr zu melden, um ihn vor den Traualtar zu führen. – Gute Idee! Welch ein Aufruhr dürfte nur schon der Gedanke, von der Ausführung ganz zu schweigen, in den noblen Kreisen verursachen. Meine Heldin allerdings will ich als eine Figur von aufrechter Entschlossenheit zeichnen: – von erstklassiger sittlicher Lauterkeit als wie innerer Festigkeit und Stärke! Der russische Offizier, ihr eingangs vermeintlicher Beschützer und Retter vor einer Massenvergewaltigung, der seinerseits die sich bietende delikate Situation solchermaßen ausgenutzt hat, soll meiner Marquise am Schluß, im Augenblicke der Enthüllung seines schändlichen Schaustücks, wie der leibhaftige Teufel erscheinen, der, so
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er ihr nicht in der ersten Begegnung wie ein Engel vorgekommen wäre, auch nicht hätte dieses grauenvolle Fratzengesicht annehmen können. Sie wird ihm deshalb eine Prüfung auferlegen müssen – und ihre vorerst tiefe Abscheu nach der schaurigen Entdeckung der Tat gerade durch diesen Menschen (jeden sonst hätte sie erwartet!) wird sich, nach der ersten Vergötterung unmittelbar nach ihrer Errettung, abermals in Liebe und Zuneigung umwandeln. Die ganze Palette steilster Gefälle und unwirtlichster Abgründe will ich in wunderbar kräftigen Farben malen: das sinnfällig die Menschenherzen durchrüttelnde Auf und Ab, das Heiß und Kalt durchlittener Gefühle, die exzessiven Stahlbäder menschlichen Lebens und Strebens, Dämonisches und Göttliches vereinend! – Das Jubilieren im Himmel, das Brennen der Hölle! Das Ende soll aber versöhnlich sein und über alle Heuchelei, über alle Widrigkeiten, Vorurteile, ja über die ganze gebrechliche Einrichtung der Welt siegen! Der Anfang liegt mir schon im Busen eingebettet – daraus soll mir unter meinen Händen ein Kunstwerk erwachsen. – So dürft ich‘s beginnen: «Eben als die russischen Truppen, unter einem heftigen Haubitzenspiel, von außen eindrangen, fing der linke Flügel des Kommandantenhauses Feuer und nötigte die Frauen, ihn zu verlassen. Die Obristin, indem sie der Tochter, die mit den Kindern die Treppe hinabfloh, nacheilte, rief, daß man zusammenbleiben, und sich in die unteren Gewölbe flüchten möchte; doch eine Granate, die, eben in diesem Augenblicke, in dem Hause zerplatzte, vollendete die gänzliche Verwirrung in demselben. Die Marquise kam, mit ihren beiden Kindern, auf den Vorplatz des Schlosses, wo die Schüsse schon, im heftigsten Kampf, durch die Nacht blitzten, und sie, besinnungslos, wohin sie sich wenden solle, wieder in das brennende Gebäude zurückjagten. Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die Hintertür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über die Schultern hing, und sie, unter abscheulichen Gebärden, mit sich fortführte. Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich unter einander selbst bekämpfenden, Rotte bald hier, bald dorthin gezerrt, ihre
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zitternden, durch die Pforte zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wie sie eben, unter den schändlichsten Mißhandelungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßet hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.» Tod, Eros und Unsterblichkeit: welche drei ungefüg-monströsen Triebfedern des Menschseins! Sie will ich vereinen – die Widersprüche will ich vereinen in meinen dichterischen Schöpfungen. Das Unmögliche wagen: rütteln an den Pforten des Paradieses, wankend machen die Säulen der Hölle – dem Teufel solcherart einheizen, daß ihm die Hölle unterm Hintern gefröre; dem verqueren Christengott kräftig am Barte zupfen, bis er sich vor dem wahren ewigen Prinzip verneige! Das Namenlose … – ich will es fassen!
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Mitte Mai 1801 setzten wir die Reise – nach vielem Gemäkel und Genörgel Ulrikens – endlich fort: über Leipzig, wo wir unter anderem den Professoren Hindenburg, dem Mathematiker, und Platner, dem weithin berühmten Anthropologen, unsere Aufwartung machten. (Ulrike und ich besuchten zusammen bei Platner eine Physiologie-Vorlesung; weil Frauen nicht zugelassen waren, ver-
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kleidete sich mein liebes Riekchen: trug ein artiges Männerkostüm und entsprechende Utensilien; sie liebte es, an meiner Seite als Mann aufzutreten: niemand bemerkte davon je etwas, ausgenommen einmal ein Blinder, der sie als Fräulein ansprach – es war mir zwar im großen ganzen einerlei, doch das gute Mädchen übertrieb mitunter in ihrem Übermut die Possen, was mir zuweilen den Magen gallig verstimmte.) – Mir war nach tiefgründiger Konversation, um meine frischbelebten Kunstinteressen in ein gefestigtes Gefüge zu setzen, denn ich kam zum Schluß, daß sich Kunst und Wissenschaft gar nicht auszuschließen bräuchten. Ich bemühte mich von nun an redlich, sämtliche Fragen in gewisser Weise vor einem die Ganzheit des Lebens umfassenden Hintergrunde zu beleuchten, um derlei die tieferen Zusammenhänge aufzudecken. – Einzig der enge, menschliche Geist unterteilt und zieht willkürlich eine Trennmauer dort hoch, wo die Natur nie irgendeine vorgesehen hat; es ist allein der unbedarfte Menschengeist, der mit Systemen, Kategorien, Einteilungen arbeitet und mit ihnen oft fahrlässig hantiert, um sich eine scheinbare Sicherheit über die Dinge, eine (unechte) Geborgenheit zu verschaffen, im reinen Glauben, solcherart die unendliche Vielfältigkeit der Natur einigermaßen in den Griff zu bekommen; die Natur selbst wirkt ganz anders – und genau diesem Geheimnis war ich gewillt nachzuspüren. Deswegen war es mir wenigstens für die zurückliegenden heilsamen Dresdener Erlebnisse ein gewisser Ersatz, bei diesen gelehrten Herren vorbeizuschauen. Ich versuchte, sie in Gespräche zu verwickeln, welche in mir Lichtfunken erzeugen sollten, die mir auf meiner dunklen Stiege hinanleuchten könnten; einige anregende Ideen nahm ich von diesen Besuchen durchaus mit. – In Halle erwiesen wir dem Mathematiker Klügel – nomen est omen! – unsere Ehrerbietung; in Göttingen waren wir bei den Anatomen Heinrich Wrisberg und Johann Blumenbach zu Besuch: überall wurden wir zuvorkommend und überaus freundlich aufgenommen: wenn bloß alle Gelehrten von solch einer Herzensgüte wären! Ach ja, beinahe vergaß ich: in Halberstadt suchten wir noch den greisen und genialen Dichter Johann Wilhelm Gleim auf, welcher ein enger Freund meines Großonkels Ewald Christian von Kleist gewesen war. Dieses Zusammentreffen gestaltete sich als ein herz-
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erweichendes und inniges, obgleich er mich zunächst für einen Neffen Ewalds hielt: er gab mir aufschlußreiche Einblicke in sein dichterisches Schaffen, die ich mit großer Begier in mich aufnahm; überhaupt berührte er auf eine sehr merkwürdige Art mein Herz, so daß ich diese Reise tatsächlich als vom Schicksal geführt zu verstehen begann … Fernab vom Preußenlande harrte ich meiner Bestimmung und bangte darauf, den Sinn in meiner Irrsal zu finden: und damit den Ausweg aus dieser einsaugenden, alles verzehrenden schwarzen Tiefe. Von Anfang Juli bis Ende November 1801 verbrachte ich mit Ulriken in Paris. – Im Quartier Latin mieteten wir uns ein; doch kaum einquartiert, schlich sich mir wiederum die bekannte Bitterkeit und der abscheuliche Ekel in mein Herz ein – die termitenhaftnervöse, wuslige Aktivität dieser Großstadt war in meinen Augen krankhaft verkommen: und das sollen die Herren der Welt sein? die Crème de la crème des Geistes? Vernunftaffen sind es! Hier konnte man die gesammelten Lächerlichkeiten des ganzen abartigen und verkünstelten Menschentheaters, einfach ins Große überspitzt, erfahren: wie das Stück Räucherfleisch an des Metzgers Haken zappelt das Individuum an den Drähten blinden Zufalls – betäubt und eingelullt in die Ausdünstungen seiner körpereignen, chemischen Wirkstoffe, einzig der Wollust und Vergnügungssucht nachlebend, egoistisch und dumpf: ein gar abgehangener Jahrmarkt der Eitelkeiten. Artig und geschniegelt sind sie, diese Gecken, oberflächlich bis zum Geht-nicht-mehr. Dieser Pulk geistloser Leute erregte in mir die höchste Abscheu; der gute Gleim flehte mich an: ich solle ja nicht als Franzose meinem Vaterlande wiederkehren! Je nun, darüber braucht er keine Sorgen zu hegen – nein, edelmütiger Gleim, mir ist die ganze französische Lebensart dermaßen widerwärtig, daß ich viel lieber als Weib wiedergeboren werden würde denn als Franzos. – Ulrike hingegen schien sich prächtig zu amüsieren. Einzig die Kunstsammlung des Louvre konnte mich ein wenig mit dieser Stadt versöhnen: wären da nicht diese exorbitanten Menschenmassen, die den hingebungsvollen Genuß wieder schmälerten. Ah! diese Ideale – wie herrlich der Apoll von Belvedere, wie göttlich die Mediceische Venus; doch wie pflegen die Verantwortlichen die
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Kunstgegenstände?! – Es ist eine Schande! – der hehre Louvre: die überdimensionierte Rumpel- und Besenkammer der Menschheit: nur die Edelsten, wahrhaft Suchende sollten Zutritt erhalten, nicht die flegelhafte Plebs, deren Unnatur ihrer Physiognomie anzusehen und die diese heiligen Hallen allein aufgrund irgendwelcher zweideutiger, unsauberer Motivation aufzusuchen bereit ist! Als kleinen Lichtblick und angenehm erinnere ich die Bekanntschaft mit Wilhelm von Humboldt sowie dem preußischen Gesandten Lucchesini: sie machten mich mit einigen, zum Teil berühmten französischen Gelehrten bekannt und führten mich in gediegene wissenschaftliche Kreise ein, so daß ich mich überwand, etwelche ihrer Vorlesungen zu belegen. Unter den Namen waren so illustre wie der des Astronomen Joseph de Lalande oder des Paläontologen George Cuvier, ebenso der Chemiker Antoine Fourcroy war darunter; Mathematik hörte ich beim großen Laplace, und Physik bei dem über alle Grenzen hinaus bekannten Alessandro Volta. So sehr ich diese Persönlichkeiten bewunderte, so sehr beschlich mich eine bedrückende Abscheu vor der reinen Wissenschaft, die mir zum Selbstzweck verkommen schien – ausgenommen dort, wo sie sich über ihre selbsterrichteten Grenzen hinauswagt; dort, wo sie sich zu gemeinschaftlichen Handreichungen aufrafft und nicht zum Dogma erstarrt – doch das ist selten genug! – Ursprünglich hatte ich geplant, ein ganzes Jahr in Paris zu verbringen; sehr bald jedoch revidierte ich diese Absicht, zumal gerade diese Vorlesungen mein inneres Ungleichgewicht aus unerfindlichen Gründen noch zu verstärken schienen; in meinem Wesen ist alles von solch wunderlichverwobner, vielschichtiger Seltsamkeit gefertigt, daß eine Aussage (selbst eine geringmächtige) von mir immer mindestens unter dem Aspekte zweier Seiten einer Münze aufzufassen ist – meist gesellen sich etwelche andere dazu: freilich, wenn der Taschenspieler seine Kniffe vor geneigtem Publikum vollführt, mehren sich die Varianten. – Welch reichlich seltsam-seltenes Daimonion mag wohl die Geschicke meines kauzigen Lebens federführend lenken? Vor einigen Tagen, noch in Dresden, sprach Henriette mir zu unserem Abschied ein orakelhaftes Wort, als sie meinte: «Mein liebster Heinrich! Du bist in Wirklichkeit der Kobold Deiner selbst; sollte es Dir gelingen, was ich Dir gönnte, das Rätsel Deines Le-
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bens zu lösen, dann bist Du des Menschseins ledig! Alles, was Du wahrhaft erstrebst, darfst Du nimmer erreichen: denn dann höbe sich alles zu Nichts auf, und die Welt ginge Dir singend unter!» Mag sie weiland die göttliche Seherin zu Delphi gewesen sein: ich sporne meinen Trotz und wag‘ das Äußerste, zumal es der dunkle Antrieb meines Urgrundes ist: unter höchsten Gefahren der Sonne entgegenzufliegen! Ebenso wie Martin Luther kann ich nicht anders; möge mich dieselbe Gottheit gleichermaßen schirmen wie den großen Reformator – wohl am meisten vor mir selbst! Wie ersehnte ich mir in verflossenen Zeiten, die französische Revolution, der sich verbreitende französische Geist würde der Garant für des Menschen Selbstvervollkommnung sein! Freiheit, Edelmut, das Gute im Menschen, Brüderlichkeit: ein heilsames Fortkommen des Menschengeschlechts unter solch hehren Panieren wünschte ich mir; das Programm ward verbreitet, doch das Versprochene verraten. – Was ist der Mensch? Nichts weiter als ein egoistisches Tier auf höchstem Niveau; ein haariger Fellsack, in den einige gute, witzige Ideen und viel schlechter Charakter eingezwängt sind. – Daß der feudale Ständestaat mit der Revolution abgeschafft wurde, war sicherlich richtig: aber was folgte, ist nicht eben besser: bloß eine Variation des ewig Gleichen; das Alte stirbt, ein neuer Typus von Mensch entsteht: kein fähigerer oder klügerer, einfach und schlicht – ein anderer. Ein paar nebensächliche Ungerechtigkeiten werden an einer Stelle ausgemerzt, um sie an anderer – verbrämt – neu einzurichten; umgekehrt wird Gutes einfach mit frischem Etikett versehen und als Errungenschaft ausgerufen; wer vorher Sieger, ist heute Verlierer. In globo mag vielleicht schon eine Besserung vorgegangen sein; doch mit dem hehren Ideal hat dies alles nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun! Meine von Kindesbeinen an gehegte Sehnsucht verlief sich im Sande – es war wohl ein Fehler, nach Paris zu gehen, um mir selbst diese weitere Enttäuschung anzutun. O Greuel, Greuel! Dazu kam, daß das enge Zusammenleben mit Ulrike, die sich begeistert in Paris umtat, mir derart auf den Geist ging, daß wir uns mehrere Male ernsthaft in die Haare gerieten, was zeitlebens den liebenden Herzen auf beiden Seiten einen üblen Beigeschmack aufpfropfte. Ich schalt sie im Zor-
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ne Männin, Xanthippe, sie mich einen zelotischen Griesgram und Frauenfeind – mich überkam’s, erhitzte mich, und ich ohrfeigte sie. O je!, wie mich’s gereute, dabei liebe ich sie doch; ich liebe sie! Sie schrie Anathem über mich und entstob in einer Wolke: gleich einer Dea ex machina. Darauf sah ich sie einige Tage nicht mehr. Später reichte ich ihr die Hand, drückte einen herzhaften Kuß auf ihre Stirn und bat sie um Verzeihung. Ja, Paris bekam mir nicht gut. Die atmosphärische Spannung zu Ulrike löste sich dann erst endgültig, als wir aus diesem Moloch abreisten. Wahrlich ein Graus: Ich passe mich in keinerlei konventionelles Verhältnis zur Welt – zumal mir jegliches als Enge und Beschneidung aufscheinet! – Allmählich ergab es sich, daß ich kaum mehr unter Menschen ging, mich in mein Zimmer verkroch und über meine Zukunft sinnierte, ein neues Ideal austüftelte, dessen Grundfesten die Künste bilden sollten; ich brauche Ideen, Ziele, auf die ich mich konzentrieren kann! So begann ich, erste Konzeptionen zu meiner Tragödie der «Schroffensteiner» auszuarbeiten; mit niemandem sprach ich davon, weder mit Ulrike noch mit Wilhelmine – es war mein Geheimnis; denn was soll ich mit Menschen über Dinge sprechen, die sie ohnehin nicht zu begreifen imstande sind: sei es aus Unvermögen oder Unverstand. Die schwerverdaulichen Pariser Einsichten haben mich wenigstens in meiner Kunstauffassung bestärkt und meinen inneren Drang bestätigt, diesem meinem frischerwählten Ideale weiterhin zu folgen – es ist eigenartig, wie ich immer erst unter den schwierigsten innerlichen Befindlichkeiten meist zu glasklaren Entscheidungen gelange, die ich in der Folge mit äußerster Konsequenz umsetze! – Ach, wie kann ich es den Menschen bloß nahebringen: wie sehne ich mich unaussprechlich, so unaussprechlich nach Ruhe und Frieden! Wie sehne ich mich nach dem Busen eines weiblichen Wesens, in den ich mein Haupt einsenken kann, entschlafen, und aus dem ich geheilt neuerlich erstünde! Mein Herz weint mir bittre Tropfen zur Erde … – Wie wunderlich, daß ich den verschiedenst auf mich einwirkenden Drücken standgehalten habe – indes: mein Nervenkostüm lag allenthalben in Fetzen; jeder konnte es sehen, der wollte. Es
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ist meine Stärke zugleich und Schwäche: nämlich das unerbittliche Bestreben, mit offenen Augen, schutzlos, in die im Zenite stehende Sonne zu blicken – ich weiß, daß der Preis für die Erreichung meiner Zielvorstellungen in bar zu zahlen ist: ob heute, ob morgen. Da nützt es wenig, wenn man die Konsequenzen rausschöbe; wegzuspringen ist ebenso meine Sache nicht, und obendrein völlig zwecklos – die Gewalten, welche den Obolus einfodern, fänden einen ohnehin überall und jederzeit; also – was soll‘s? Ich stehe im nackten Hier und Jetzt – selbst da ich mich ins Mark fürchte, selbst wenn mir gänzlich, bis auf die Knochen bange zumute ist; selbst wenn ich am liebsten im Erdboden auf ewig versänke! – Dadurch, daß ich vorwärts gehe, stahlhart und ohne Gnade mein Ich zwingend, bilde ich mir wenigstens die unabdingbaren Willenskräfte heran, gleich dem Atlas, die Welt zu tragen; ich forme zudem meinen Geist und vermehre meine andren Fähigkeiten – vielleicht sind dies Qualitäten, welche dennoch irgendwann und irgendwo (in einem späteren Leben?) trefflich einem zur notwendigen Verfügung stehen werden? Weitestgehend füllte ich sonach die Zeit mit Aktivitäten, was mir auch dann Sinn machte, wofern in der Tat alles mit dem menschlich beschränkten Daseinsende in Nichts unterginge. – Wohlan: Ich setzte dem inneren, persönlichen als wie dem äußeren, politisch-gesellschaftlichen Zerfall meine ganze Kraft der Verzweiflung entgegen; wenn‘s nicht biegt, dann bricht‘s! So oder anders wäre ein auftretender Gewinn in den Annalen der Nicht-Zeit eingebrannt – irgendwem zum Nutzen oder auch nicht: wen schert‘s? Paris lehrte mich, daß ich mich nicht in mein Inneres zurückziehen sollte, um darin zu verrotten; im Gegenteil: gereift im Innern, soll ich das Beste, die Früchte, in die Umwelt, der Menschheit zum Verzehr auswerfen: – ich darf nicht allein in mir fortdauern, sondern muß zur Wohlfahrt aller wirken: und zwar in der Weise und an der Stelle, da mich das allwissende Schicksal hinverfüget! Es darf das Gute, Hehre nicht Selbstzweck bleiben, in sich versunken, ohne Verbindung zur Mitwelt; dergestalt bliebe es wirkungslos, ohne Sinn, Zweck und Verstand; nackte, in sich eingebogne Selbstreflexion ist der Tod, und wahrscheinlich ist das sogenannte «Nichts» nichts anderes, als eine ununterbrochene Selbstrefle-
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xion des Vollkommenen: man schüfe somit Fülle und Inhalt ins Dasein, wenn man diese Ununterbrochenheit aufbrechen würde: solcherart sinnierte ich über die Dinge der Welt, über Kunst, mein Leben – und Paris ward mir darin der Kristallisationskeim. Es wird mir rückblickend immer eigentümlicher, festzuschreiben, wie sehr doch die größten Nöte mir den Horizont der Ewigkeiten über meinen Scheiteln öffneten; je tieflotender ich in mich eintauche, je mehr es dem Tode entgegengehet, desto deutlicher scheint mir das Leben strahlend auf, desto klarer erkenne ich Sinn und Zweck von allem! – Wir Menschen leiden daran, daß wir die tiefen Verwicklungen des Schicksals nicht zu entwirren vermögen, diese tausendfältigen Spinnfäden der Natur; je mehr ich aber litt, umso feinfühliger wurde ich und begann, mit gesteigerter Aufmerksamkeit die filigransten Fühlfäden zu betrachten, welche schließlich bei der zartesten Berührung meine Seele in Schwingung versetzten – das Spinnweb selbst intonierte das satte Leben! Es spielten Lauten auf und Luren: ja, mit der Zeit ortete ich blindlings diejenige Richtung, in die ich gehen mußte, ohne mich weiter trotzig zur Wehr zu setzen – weil sich das Leuchtfeuer als mein gesichertes Schicksal auswies! Die Geister, die mich weiland plierig und todesfinster umstanden, beginnen sonach gegen Ende, mir zum Frommen, ein heiteres, heilsames Lächeln aufzusetzen, das mir die letzten Stufen in ein anderes Land ausleuchtet. – Es ist nicht Gut noch Böse, was uns dräuet; nein – ein natürlicher Zauber durchwebt die Welt, und in unserer Unvermögenheit vermeinen wir, es sei entweder ein Grauen, ein unergründlicher Ratschluß oder das sogenannt Gute, was sich hinter den Schemen birgt. Nichts davon! Es sind allein die Verknüpfungen aus den Umständen, die nach einem ewigen, unbekannten Ziele hin ausgerichtet sind, was alles dermaßen schwierig gestaltet: der Mensch ahnt im günstigsten Falle nur dunkel, wo er der Klarheit und des Wissens bedürfte. Bloß eine unsterbliche Geistigkeit – ein schöpferisches Prinzip, ohne einzugrenzende Qualitäten, außer jener der undefinierbaren Ewigkeit selbst, so bin ich mit Spinoza überzeugt: ein schlicht unbegriffner, an der Spitze der Welt stehender Geist, gänzlich jenseits von Gut und Böse, ist in der Lage, das unendliche Geflecht zu erwissen, welches sie ja selbst (unerschaffen!) erschuf; beschränkte Geister, wie der Mensch,
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schürfen höchstens hoffnungslos in der Urtiefe wie nach einer unauffindbaren Goldader oder sehen in absoluter Dusternis vielleicht einmal einen Blitz einschlagen, der auf einen kurzen Moment hin die Umgebung erhellt, was sie wenigstens instandsetzt, ein dumpfes Abbild der Welt in ihrem Busen zu «erleben» (ja, nur das Erleben einer Wahrheit macht deren persönlichen Wert aus!) – um sodann wieder in stockdunkler Finsternis umherzuwandeln. Wohl dem und gelobt sei der, welchem der Blitz einschlug! Er ist geboren, um als Einäugiger König unter den Blinden zu sein. Im Oktober 1801 erklärte man mich endlich nach preußischen Gesetzen für mündig; ich konnte jetzo über das kleine bißchen Vermögen, das mir noch verblieben war, nach eignem Gutdünken verfügen und war nicht mehr vom Vormunde abhängig. – Ich beschloß, mich auf eine reale, in den Naturerscheinungen wurzelnde Wirklichkeit und Existenz auszurichten (von den rein abstrakten Dingen hatte ich ein für allemal die Nase gestrichen voll): wieder ein, diesmal weiserer? Plan, der, meinem Wesen gemäß, in seinem Kernbereich viel zu starr geschnürt ward: ich vertraute nurmehr alleine auf meine Tüchtigkeit sowie meinen guten Willen; dabei blendete ich die zeitbedingten Realitäten und die unglücklichen Umstände, die Umbrüche, in denen sich Europa befand, vollumfänglich aus. Dies scheint mir eine fügliche Schwäche zu sein: nämlich die landläufigen Realitäten bloß dazu wahrzunehmen, um – in Blindheit einherschreitend – durch sie hindurch zu dem zu gelangen, was für mich wirklich ist. Eine wahrlich gefährliche Eigenschaft! – alle mich bedingenden äußeren Wirklichkeiten lösen sich somit auf und werden mir zu vernebelndem Schall und Rauch. Mein festgesetztes Ziel war es stets – möglichst in einem unabgelenkten Fortschreiten –, hinein in die Helle der einzig realen Wirklichkeit des Absoluten zu treten; mir wird gegen Ende allerdings immer klarer, daß dies keinem Menschen gelingen kann – oder höchstens in Ansätzen; dies dürfte mit der Beschränktheit unseres Bewußtseins im Zusammenhang stehen. Immerhin darf ich mit Stolz davon künden, daß ich in einem großartigen Entwurf, sowohl in meinem Leben als auch in meiner Dichtung, versucht habe, noch auf Erden hinter den Vorhang zu blicken, das Schillersche «Bildnis zu Sais» zu entdecken, in den Besitz reinen Seins zu
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gelangen. – Das macht die Tragik und gleichermaßen das Glück meines Daseins aus! Nun endlich, da mir das Entscheidungsrecht über mein Erbe voll und ganz zustand, getraute ich mich, einen entscheidenden Holmgang mit Wilhelminen auszufechten; ich focht jetzo um den Endsieg (oder muß ich eher das Wort als Endsiech aussprechen? – gleichviel, wie immer: bei mir ist alles mindestens nach zwei Seiten hin offen; und es ist einzig meine an sich lautere Motivation, die mich bisher vor dem verderblichen Absturz bewahrte). Ich schlug ihr allen Ernstes vor, sich gemeinsam mit mir in der Schweiz niederzulassen, um ein mittelgroßes Bauerngut, welches ich mit meinem wenigen noch zur Verfügung stehenden Gelde aufzukaufen gedachte, zu bewirtschaften. Ich wollte frei und unabhängig, ja ich wollte dem Busen der Natur ganz nahe sein; man kann sich die Reaktion meiner lieben Braut, ohne viel der Phantasie zu gebrauchen, gut vorstellen: sie sei weder zur Bäuerin geboren, noch seien ihre körperlichen Kräfte für eine solch schwere Arbeit genügend ausgebildet. Sie unterbreitete mir den Gegenvorschlag, ich solle lieber nach Hause eilen, auf daß wir zusammen in aller Ruhe und Gründlichkeit mein Ansinnen durchsprächen und konkrete Entschlüsse für unser künftiges Zusammenleben erörterten. Sehr nett, aber bestimmt schlug sie in Bausch und Bogen meine Überlegungen aus. (Von nun an verhärtete ich mich zusehends gegen Wilhelminen; in meinem Innern spielte ich alle Varianten durch – und setzte ihr dann kurzerhand ein mehr oder minder verbrämtes Ultimatum; ich hatte eigentlich längst mit ihr abgeschlossen; sie besaß schlichterdings zu wenig Mut, zu wenig Biß; Henriette wäre mir wahrscheinlich gefolgt, wenn ich sie dazu aufgefordert hätte.) – Man dürfte sich zu Recht gefragt haben, welch ein Teufel mich geritten habe, daß ich aus der edlen Generalstochter ein derbes Bauernweib hätte modeln wollen: eben – ich lebte in meiner Wirklichkeit! Auf solcherlei Delikatesse konnte und wollte ich keine Rücksichten nehmen; zugegeben: später mußte ich selbst meine diesbezüglichen Wünsche als Schnapsideen deklarieren, zumal sich alles wiederum nur in meinem Kopfe, meiner blühenden Phantasie abspielte; ich ignorierte die Wirklichkeit ringsum und
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verkannte, daß ich ja keinerlei praktische Erfahrungen darin hatte, ein Bauerngut überhaupt zu pflegen. Ich ward einmal mehr quasi die kesse Beute meiner ungebändigten Sehnsüchte nach dem Heilsein! – Wie auch immer: ich muß mir leider vorwerfen lassen – und ich kann dagegen kaum tragfähige Argumente ins Feld führen –, mich nicht eben selten ungeliebten Verpflichtungen entzogen oder es mindestens ebenso oft dergestalt gedeichselt zu haben, daß sie mich flohen (die Behandlung Wilhelmines mag dafür als beredtes Zeugnis herhalten), was dasselbe ist, nur weit geschickter ausgeführt. Gleichzeitig hegte ich tatsächlich die weitaus realistischere Absicht, ganz konkret ins schriftstellerische Fach überzuwechseln; immerhin hatte ich ja in diesem Bereiche derweil in meinen Briefen einige Talente offenbart, wie ich sie sicher erspürte und auf denen sich aufbauen ließe, wenngleich ich noch nicht öffentlich in Erscheinung getreten war: auch hierin empfand ich die Nachteile, die meinem Werdegang schmählich anhingen (dafür waren mir alle Stärken, aber leider eben auch Schwächen! eines reinen Autodidakten zu eigen); die meisten Schriftsteller, die es zu was gebracht haben, sind in meinem Alter – ich war mit meinen 24 Jahren ja vor kurzem erst mündig geworden – bereits öffentlich hervorgetreten: so verspürte ich die erbärmliche Bürde der Mangelhaftigkeit erneut in ganzer Härte. Dennoch, oder erst recht: in dieser Sparte wäre es mir gleichwohl möglich – meine innere Stimme sprach‘s mir machtvoll zu Ohren –, einen breitstreuenden Wirkungskreis zu erarbeiten, um Einfluß auf meine Mitwelt nehmen zu können, was mir sehr am Herzen lag – Gutes tun, Ruhm und Ehre erlangen: anerkannt, verstanden und geliebt sein!
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Ende November 1801 machten wir – Ulrike und ich – uns endlich von dannen; ein wenig später stieß der Verlobte Caroline von Schliebens, der Maler Friedrich Lohse dazu, mit dem mich eine sonderbare Haßliebe zu verbinden begann: unter seiner kundi-
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gen Anleitung versuchte ich mich im Malen und Zeichnen; Lohse selbst besaß, meinem Augenmaße nach, durchweg ausgezeichnete künstlerische Fähigkeiten, zumindest war er ein sehr guter Maler – umso mehr kränkte es mich, als er in Ansehung meines Pinselstrichs sich des Lachens nicht erwehren wollte! In diesem Fache besitze ich fürwahr nicht die geringsten Talente, geschweige denn künstlerische Begabung; er hätte mir das durchaus freundlicher beibringen können – mir, der ich ohnehin kaum etwas hatte, auf das ich stolz sein konnte. Nicht zuletzt dieses verletzten Ehrgefühls wegen konnte ich es mir nicht verkneifen, später einige Giftpfeile auf ihn abzuschießen. – Jedenfalls gingen wir drei über Metz (wo sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem guten Lohse entspann; ich stellte nüchtern fest, daß ich offensichtlich nicht der einzige Mensch von schwierigem Charakter sei: zudem bin ich nach wie vor der festen Auffassung, daß, wer austeile, auch entsprechend einstecken können müsse) bis Frankfurt am Main, wo ich mich von Ulrike trennte: ich wollte sie nicht alleine und unbeschirmt ziehen lassen, und wir sprachen ab, daß ich sie bis zu diesem festgesetzten Ziele begleiten würde – dann sollt‘s gut sein. Ich hingegen wählte einmal mehr in meinem Leben das Risiko (wobei ich dennoch zu meinen Gunsten beifügen muß, daß ich fortzu darauf achtete, wann irgend möglich bloß kalkulierte Risiken einzugehen; leider ward mir dies nicht immer verstattet, so daß ich mithin gezwungen war, mich blind in eine Sache zu stürzen – oder gar nicht): anstelle Ulriken nach Hause zu geleiten, zog ich es vor, im Dezember zusammen mit Lohse die Reise, größtenteils zu Fuß, über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe und Straßburg nach Basel fortzusetzen, wo ich auf Heinrich Zschokke – seines Zeichens Regierungsstatthalter der 1797 unter Protektorat der Franzosen gegründeten Helvetik – zu treffen gedachte; dieser war aber aufgrund weitreichender politischer Wirren nach Bern verzogen, so daß ich ihm dorthin nachreiste. Mit Lohse kam es in Basel erneut zu einem heftigen Streit; wir waren gegeneinander äußerst unappetitlich, beides Mimosen! Bei mir spielte zusätzlich – nebst den Kränkungen, die er mir zufügte – ein gewisses Moment des Neides hinein, war ich doch, gleich ihm, in
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die geistreiche Caroline verliebt; ich konnte es nicht begreifen, daß sie ohne weiteres bereit war, diesem mittellosen Menschen nach Italien zu folgen, wie sie es miteinander planten und schließlich genau so verwirklichten, während mein Weib sich sträubte, meinen Wünschen zu entsprechen – dies ist die Anhänglichkeit, die ich mir wünschte: glücklicher Lohse. – Ich blieb unnachgiebig in meinem Zorn; Lohse machte sich wutschnaubend aus dem Staube; ich schrieb ihm einen mehrdeutigen Brief hinterher: abgefeimt liebevoll, bittersüß-giftelnd – versöhnlich und gleichzeitig infam: indem ich ihn streichelte, kratzte ich ihn weidwund; auf die absichtlich gerissene, eiternde Wunde strich ich hinwiederum den reinsten Balsam. Ja, ich war unausgeglichen, häßlich, unglücklich – kurzum, in einem Zustand, in welchem man mich am besten wohl meidet; ja, ich liebte Lohse, und ich haßte ihn: in ihm sah ich Caroline und Friedrich; ich sah in ihm das fremde Glück und das persönliche Unglück, die Doppelfratze eines mir unbegreiflichen Schicksals. Meine Gefühlswelt ist von sagenhafter, ziemlich eigenmächtiger Sonderbarkeit, und Friedrich wühlte teils absichtlich, teils ungewollt mein Innerstes auf: indem er mich zu besänftigen hoffte, trieb er den spitzen Pfahl tiefer in meine Eingeweide – wurde er unlustig, minderte dies meinen Pein! Ich will nicht so sein, ich hasse mich dafür! Ich erklärte ihm nachträglich diese unselige Sachlage, und darüber vertrugen wir uns endlich wieder (der feine, liebe Lohse verzieh mir vollständig, und ich wurde ihm wieder gut: er trägt das weit mildere Herz im Busen als ich); er zog weiter nach Italien, und wir pflogen auch späterhin noch eine kameradschaftliche Verbindung. Nie wieder ward ich gegen anständige Menschen derart unleidlich, ja bösartig: seit diesem Erlebnis habe ich diesen unguten Charakterzug, sobald er sich wieder an die Oberfläche hervorzudrängen wagte, zumeist mit Erfolg niederzudrücken vermocht. – Ich hielt es ferner derart, daß ich diesem unheilvollen Drachen dann Freigang einräumte, wenn man mir unanständig begegnete; Unanständiges zu verletzen, scheint mir in Ordnung, hingegen – den anständigen Menschen mit Schwächen will und darf ich nicht solchermaßen behandeln, lieber richtete ich alsdann die Klinge gegen mich selbst: das schwor ich mir! – In meinem Werke gelang es mir schließlich, diese schreckenerregenden Kräfte
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in Verse zu verzaubern; dies würde ich als das Geniale bezeichnen: die eignen Schwächen nicht bloß zu erkennen und anzunehmen (was alleine bereits schwerwiegend genug ist!), sondern sie sogar noch in etwas gänzlich Gutes umzumünzen! Natürlich bedurfte der Umgang mit diesen unheimlichen, zuweilen dunklen Mächten seiner Zeit, um sie nach meinem Willen um- und auszuprägen: denn es handelt sich dabei um Prozesse, die als erstes bis in die kleinste Klunse durchgeschaut werden wollen, um sie in der Folge zu bändigen und in geordnete Bahnen zu leiten. – In dieser extremen Kraßheit machten sich mir die unangenehmen Auswirkungen meiner Charakterschwäche erstmals bei Lohse bewußt bemerkbar: sofort suchte ich nach Lösungen aus der Zwickmühle, die sich einfanden. Aber es blieb, wie mein ganzes Leben, ein steter und unentwegter Kampf – ja, ich mußte lernen, diesen mir von den Schicksalsmächten anheimgegebenen, ungeheuren schwarzen Drachen zu reiten!
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Kurz vor Jahresende traf ich bei Zschokke in Bern ein; im Gegensatz zu mir war er bereits mit literarischen Erzeugnissen hervorgetreten; er unterstützte mich bei der Suche nach einem geeigneten Bauerngut hier in der Schweiz; ebenso stand er mir mit Rat und Tat zur Seite. Heinrich Zschokke wird einer der ganz wenigen Menschen sein, derer ich am Ende meines Lebens ohne Bitternis im Guten gedenke werde – nebst Marie von Kleist, Sophie von Haza (samt Mann) sowie Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein: sie alle waren mir im Besonderen gewogen, und wo ich konnte, versuchte ich, es ihnen zu vergüten! – Durch Zschokke also lernte ich die Verhältnisse der Umgegend eindringlicher kennen, las entsprechende Bücher und machte mich vor Ort jeweils betreffend der Kaufangebote kundig. Leider hatte sich mein ererbter Vermögensanteil infolge der teuren Reisen nach Würzburg und Paris empfindlich verringert, so daß ich mich wiederum von pekuniären Schwierigkeiten gedrängt sah, wofern ich meinen Ansiedelungsplan in die
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Tat umsetzen wollte. (Im übrigen gab es auch Geldes wegen einige Auseinandersetzungen mit meiner Sippschaft: ich hielt ihnen vor, mich während meiner Abwesenheit hintangestellt, zumindest aber mit dem Erbgut schlecht gewirtschaftet beziehungsweise es nachteilig verwaltet zu haben; die Gereiztheiten spielten gegenseitig, da ich mich nimmer dem Joche der Tradition zu beugen gewillt war; die Kluft wurde tiefer und unausstehlicher; einzig den zärtlichen Umgang mit Ulrike bemühte ich mich ernstlich aufrechtzuerhalten: er ging mir über das rein Abgezweckte hinaus, zumal ich sie von Herzen liebte.) Alles mußte nun erst recht mit besonderer Sorgfalt sowie Fingerspitzengefühl bewogen werden – einen wesentlichen Fehler konnte ich mir in meiner schwierigen Lage, körperlich und seelisch angeschlagen, nicht mehr erlauben. Überhaupt: seit ich in der Schweiz angekommen war, fühlte ich mich ausnehmend krank, litt an Kopfschmerzen und Beklemmungsgefühlen, Verstopfung, Magengrimmen und ständigen sonstigen Unpäßlichkeiten. «Ich komme, ich weiß nicht, von wo? Ich bin, ich weiß nicht, was? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin? Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.» – Dieser uralte Spruch, welcher im Querbalken über dem Hauseingang vieler alter Bauernhäuser mir immer wieder entgegenprangte, traf mich oft und oft ins Mark; er zupfte in mir die unaussprechliche Saite meines Wesens an, und ich fühlte mich gleichsam zu Hause und davon desgleichen unendlich fern: wie seltsam ward mir zumute! – Die politische Lage war in höchstem Maße beunruhigend: der Schweizer Bürgerkrieg zwischen dem Ancien Régime, unterstützet von den Österreichern, auf der einen Seite sowie den revolutionären Kräften, protektoriert durch die Franzosen, auf der andern schien kein Ende nehmen zu wollen. Frankreich werde sich wohl in Bälde die Schweiz einverleiben, prophezeite Zschokke; die kompetente Meinung Heinrichs, profunder Kenner der hiesigen Verhältnisse, ward mir in meiner Angelegenheit ausschlaggebend – ich wartete die Entwickelungen soweit ab: die Franzosen machten tatsächlich Miene, den Aufruhr durch Krieg niederzuwerfen. Währenddessen lernte ich in Zschokkes Haus weitere wichtige Persönlichkeiten kennen: einmal Heinrich Gessner, Sohn von
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Salomon Gessner, dem berühmten Landschaftsmaler und Schäferdichter. Und für mich künftig von besonderer Prominenz: Ludwig Wieland, Sohn von Christoph Martin Wieland, dem weitum bekannten Aufklärungsdichter und Freund Goethes, dessen Bekanntschaft ich noch zutiefst schätzenlernen würde; zum ersten Male in meinem Leben befand ich mich in einem geselligen Kreise von etwa gleichaltrigen Menschen, die ähnliche Neigungen hatten und an Literatur sowie Kunst interessiert waren. (Eine bemerkenswerte Randfigur blieb mir noch in Erinnerung haften: ich traf dort ebenfalls auf den um eine Generation älteren Johann Pestalozzi, einen Pädagogen und Schriftsteller, welcher eine Schule in Burgdorf leitete und versuchte, Kindererziehung mit der Landwirtschaftsarbeit fruchtbar zu verbinden: eine sehr liebenswürdige Erscheinung – er lebte in der Tat das Bibelwort: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.») – Ich taute ein wenig auf und wurde zusehends frohsinniger. Wir debattierten über die gegenwärtige politische Lage, hielten Lesungen, untersuchten den Fortgang der literarischen Entwickelung, sprachen über bildende Kunst, erörterten die Voraussetzungen, unter welchen die Kunst im allgemeinen überhaupt erst zur Blüte gelangen könne – und vor allem: gegenseitig lasen wir uns aus eigenen Produktionen vor! Ich gab meine in Paris begonnene und in der Schweiz beendete Fassung der Familie Ghonorez – welche ich im Frühling 1803 auf Anraten Christoph Martin Wielands unter dem endgültigen Titel «Die Familie Schroffenstein» in der Schweiz bei Gessner drucken ließ – unter freundlichem, ja ehrlich-enthusiasmiertem Applaus zum besten. In diesem meinem Stück mischte ich geschickt Tragisches mit Komischem, wobei ich dessen anfangs kaum gewahr ward: ich legte, meiner damaligen Stimmung folgend, das Gewicht auf die tragische Komponente; offenkundig überspannte ich den Bogen in der Verwendung überdimensionierter Elemente derart, daß einige Szenen notwendig einem äußeren Betrachter, unbeabsichtigt, ins Komische hinüberglitten; es machte mir aber bewußt, wie nahe beieinander Tragik und Komik in Wirklichkeit liegen; im übrigen konnte ich damals die Tragödie kaum zum Ende bringen, da alle in ein herzliches Gelächter ausfielen, in das ich mit Überzeugung einstimmte. Fürwahr! wer das Tragische des Stückes nie in seiner
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Seele genossen hat und erleben mußte, kann es nicht nachvollziehen (was für all meine künftigen Werke gilt) – und der darf getrost lachen; ich bin ohnehin der Meinung, daß das ganze versammelte, hienieden auf Erden eingepferchte, traurige Menschengeschlecht einem – von höherer Gewalt zur eigenen Belustigung gehaltenen – beschirmten Narrenhause gleichkömmt! Ob man dagegen über all die tollhäuslerischen Narreteien der Welt lachen oder weinen soll, bleibt Geschmackssache und jedem einzelnen überlassen; wahrscheinlich ist weder das eine noch das andere berechtigt. Wer sich allerdings – aus genügender Distanz, verstehet sich! – tüchtigst amüsieren und unterhalten möchte, der beschäftige sich mit der Weltgeschichte … Allerlei Anregungen erhielt ich in diesem «Dichterkreis», und ich bin heute noch dankbar, ein solch günstiges Umfeld als Anfangsbedingung für meine dichterischen Ambitionen erhalten zu haben – ich wurde regelrecht in meinem Ansinnen beflügelt und durch die Freunde bestärkt; mein Selbstbewußtsein erholte sich langsam, aber stetig! – Heinrich Zschokke nahm sich vor, die Stücke Molières ins Deutsche zu übertragen; wir verabredeten, daß er den «Amphitryon» aussparte, dem ich mich beizeiten speziell widmen wollte (die Geschichte hat es mir angetan: aus der angestrebten Bearbeitung wurde dann ein durchweg eigenes Werk). In dieser befruchtenden Atmosphäre begab es sich eines Tages, daß wir uns – wie Virgils Hirten unter dem nächtlich funkelnd-bestirnten Firmamente versammelt – zu einem gewitzigt-poetischen Wettkampf entschlossen, ausgehend von einem Kupferstich eines französischen Meisters: «Le Juge, ou la cruche cassée»; aus welchem Hirn der Gedanke zu diesem wertvollen Wettstreit austrat, ist nicht mehr auszumitteln – ein verwegener, schöpferischer Ansporn lag in der Luft, und jedweder ward von einem heiß-belebenden Hauch auf seine Weise berührt. Wieland übernahm die Aufgabe, daraus eine Satire zu verfassen; Heinrich wollte dem erlauchten Kreis eine Erzählung beibringen; meine Wenigkeit übernahm den Part, darüber ein Lustspiel zu verfertigen. – Um einiges später ward mein «Zerbrochener Krug» tatsächlich in Weimar unter Goethes Ägide aufgeführt: aus dem Lustspiel wurde eine reale Tragikomödie, durchstrickt von etwelchen Mißverständnissen wie unglücklichen Umständen … –
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Die schöne, idyllische Landschaft der Schweiz, die glückliche Verbindung zu Zschokke und seinem Kreis sowie eine gewisse innere Entspannung stachelten mich zur künstlerischen Betätigung aufs ungewöhnlichste an: ja ich kam zum unerschütterlichen Entschluß, mein Glück im schriftstellerischen Fache zu erproben. Wurde ich nicht von meinen Freunden bestätigt, ja bewundert? Fühlte ich nicht diese innere Kraft der Phantasie und der Möglichkeit, durchgestaltete Figuren auf der Bühne erstehen zu lassen? Ja hielt mich Ludwig Wieland nicht für ein ausgemachtes Genie, was mir sehr schmeichelte? – Fühlte ich mich darob nicht von der Muse geküßt? All das und mehr! Ich wagte das Äußerste in diese Richtung, welche mir einen Ausweg bot – einen Ausweg aus der Sackgasse, in die ich mich selbst gebracht. – Seit Februar 1802 gastierte ich in dieser sich allmählich hebenden Stimmung in einer einfachen Herberge um Thun; und im April schließlich mietete ich mir ein kleines, gefälliges Häuschen auf der Oberen Insel, nahe dem Ausfluß der Aare in den Thunersee, an (parallel dazu zog mein lieber Freund Heinrich nach Aarau, um sich der bedrohlich verschlechternden politischen Situation in Bern zu entziehen, womit sich zwangsläufig unser Literatenkreis auflöste, was ich über die Maßen bedauerte): dies paradiesische Kleinod nennt sich Delosea-Inselchen – welch ein die Seele letzender Name, die pure Labsal! Welch eine göttliche Gegend! – vor meinem inneren Auge sah ich den gesamten keltischen Sagenkreis versammelt: König Artus und Ginevra; den der grünen Lohe entsproßnen Lohengrin, Parzival und Lanzelot! Die einzige und wirkliche Insel der Seligen – Avalon! – entstieg dem Nebelgeschwader. Für einen kurzen, heilsamen Augenblick lebte ich glücklich; ich arbeitete unter anderem an meinem Schicksalsstück: dem «Guiskard»; auf diesem Fleckchen Erde allein fand ich eine Ruhe und Gelassenheit, die ich kaum mehr in meinem weiteren Leben genießen sollte. – Mich überkam auf der Insel zeitenweise eine ungeheuer aufflammende, kreative Schaffenskraft: ich kramte so viele überwältigende Ideen aus meinem ehernen Busen hervor, die ich später in meine Erzählungen und Bühnenstücke einwob, daß ich darüber eine Verheißung ahnte – die wichtigsten kompositorischen Eingebungen und Entwürfe keimten mir in der Schweiz auf; spätere Erfahrungen allerdings traten, in der modernden Gestalt bleierner Geister, weithin modifizierend hinzu.
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Die abschlägigen, enttäuschenden Briefe Wilhelmines erdrückten sehr bald die schwächlichen Pflänzlinge meiner wohligen Stimmung; ich liebte sie, trotz allem, noch immer (wie zählebig die Harze meiner Gefühlswelt doch überall kleben bleiben!); aber ich wollte endlich den Schlußstrich ziehen, und genau dies beschwerte meine Seele erheblich, die gleichzeitig hart wie Diamant ist und in den richtigen Händen ebenso formbar wie Wachs: ich müßte lernen, mit dieser Tatsache pfleglich umzugehen, nicht am falschen Orte unnötig hart und stur zu sein und nicht an der Stelle zu weich, wo man Steine zu klopfen hat! – Gerade diese Eigenschaften, diese meine unglaublich verwickelten Seelenfäden – einerseits stahlgesponnen, andererseits filigraner denn Spinnweb – sind gleich den feinsinnigsten Fühlern, die nach andern Welten Ausschau halten: dadurch sehe ich mich befähigt, getränkt durch den Schwamm meiner Phantasie, in andersartige Dimensionen vorzustoßen, die kein Mensch je gesehen.
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Hoffnungstrunken sah ich mich bereits in den Stapfen großer Dichter und Denker einhergehen; zudem spürte ich, wie sich die schöpferischen Kräfte unter meiner menschlichen Hülle wild regten. In dieser Zeit auf der Delosea-Insel schrieb ich auch einige Gedichte nieder; ich hielt mich allerdings nie für einen Lyriker oder gar Epiker: mein ganzes Wesen war darauf angelegt, meine Fähigkeiten im dramatischen Fache zu bestellen – meine Gedichte und Erzählungen hielt ich immer für zweitrangig. Eines der wenigen Gedichte aus dieser Anfangszeit fand ich eingerückt in ein besonderes Blatt; es ist das schöne Zeichen der aufgehenden Sonne über meines Schicksals Bergen, die denjenigen der Thuner Gegend ähnlich schienen – eines der wenigen und zugleich heilen Mahnmale, die mir das Leben seinsfromm leuchten ließen …
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Das Odins-Lied Odin! – Dunklen Odem atmest Du; Fähig-fruchtbar fügst Du zu Ganz, Was spaltig und splittrig sich birgt. Heil Dir, Odin, dem hehren Gott! Dem Tann des Herzens gibst Du die Tiefe, Dem schneidigen Körper schaftige Schärfe, Dem Geiste Gut und Glück im Heil: Heil Dir, Odin, dem hehren Gott! Entklaubest Du heimlich dem kargen Boden Saftige Samen, die singen im ewigen See – Und pflanzest diese zu Paar ins Menschengeschlecht. Mehrfache Menschen zeugest Du einzeln: Mal um Mal. Heil Dir, Odin, dem hehren Gott! Kein Kind entgeht Deiner wahren Kunst, Die vielfach sich findet in der Ferne des Alls. Ewig nieder glättest Du nackte Not; Ewiges Grün entsprießt Deiner Güte dem Einzeln‘. Heil Dir, Odin, dem hehren Gott! Zu Ganz fügst göttlich Du das Getrennte; Zwickendem Zweifel stiehlst Du den zackichten Stachel – Mit gleißendem Licht durchglühst Du den liebenden Menschen, Der, durch zuckenden Zweifel benagt, sich so erneuert: Wahre Wiedergeburt ins Heil wirkst wundersam Du! Heil Dir, Odin, dem hehren Gott! Erhaben und heftig erweckst Du des Menschen Geist: Streitbar und neu, niemandem gleich, niemandem nah. Groß und gut muß er werden aus dem Ganzen heraus – Erst in Ewigkeiten hat er erreicht, was ihm geziemt: Nämlich wiederzukehren ins Namenlose, was alles erschuf. Heil Dir, Odin, dem hehren Gott!
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Das Blatt enthielt nebenher eine Abschrift an den guten Brockes. Sie sollte mir eine Erinnerungshülfe an den großen Entwurf dieses glücklichen Ausschnittes meines Lebens sein, zumal ich – durch des Aiolos Winde wildaufgepeitscht – gleich einem nach allen Himmelsrichtungen aufgewühlten und selbstvergessenen Ozean ward und ich bloß im Augenblicke existierte: in dieser schöpfertätigen Zeit entwickelte ich die vielfältigsten Gedanken zu lose verknüpften Ansätzen, zwecks Erneuerung und Weiterführung bestimmter Elemente etwa in der literarischen sowie bildenden Kunst. Ernsthafte Entwürfe in der Dramatik habe ich dazu lediglich in meinem «Robert Guiskard» umgesetzt; ein Mehreres verwehrte mir das Schicksal, und selbst am Guiskard würde ich scheitern müssen … Thun, 7. April 1802 Mein überaus trefflicher, lieber Ludwig! Wisse, es ergehet mir vorzüglich, hier in der paradiesischen Schweiz, selbst wenn die Franzosen mit ihrem Allerwelts-Konsuln, Bonaparte, ihr Unwesen treiben: wie die biblische Schlange bieten sie der wollüstigen Eve ihren Erisapfel an, den sie mit kunstfertiger Hand ergreifet; wofern sie ihn den Tellensöhnen weiterreichen wird, sollt‘s wohl auch mit dem Paradeis aus sein … Wisse auch, mein Freund: ich habe mich endgültig zum Dichterberuf entschieden! – Die echte, große Kunst entwächst nur aus zwei Quellen rein: erstens aus der ruhigen der Harmonie, wie etwa bei unsern Titanen Goethe oder Bach, oder aber aus der höchsten Gespanntheit, wie etwa bei diesem neuartig anderen, höchst spektakulären Stern am Musikerhimmel, der uns eben wunderlich aufgehet: Beethoven, oder mir – wenngleich in mir noch in einer Rohform die dichterische Kraft hauset, die es weidlich zu bearbeiten und zu klopfen gilt: ich gedenke, dieser Aufgabe künftighin gerecht werden zu können! Der erstbenannte Quellgrund ist natürlich dem zweiten vorzuziehn – doch das bestimmet der Einzelne mitnichten. Dies allein ist der Wille des ewigen Schöpfergeistes, der über allem waltet. Meine Bestimmung ist es, wie mir nach schmerzlichsten Erfahrun-
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gen aufging, dem Großen, Wahren nachzuleben! Meine grobe Artung liegt einzig darin gegründet, daß der gerade herausgebrochne Marmelstein noch geschliffen werden muß, der jetzt derart ungeschlacht im Bruche hingeworfen liegt; dieser Spannungstriangel auch zwischen Wollen – Sollen – Können macht mein ganzes Schicksal aus sowie das Ungelenke meines Verhaltens gegenüber den Menschen, die ich ofthin, ohne es zu wollen, verletze. – O Göttin der Schlachten und der Kunst: mäßige mein Ungestüm, gib Ruhe mir, der Dich liebet; verbräme den Saum meiner ins Ewige ausgreifenden Seele mit dem Glanze der Vergebung! Die literarische Ausdrucksform hat zum Beding, vor dem inneren geistigen Auge Lebendiges, Unmittelbares, wiewohl vollauf Ganzes zu erschaffen, als ob es einem in diesem Moment entgegenträte: dies hat durch die aufwallenden Seelenkräfte zu geschehen, welche den Stoff, vermittelst der Kraft des Geistes, in eine durch die Idee vorgefertigte Form gießen. Das innere Bild muß solcherart unmittelbar berührt, aufgesogen und in den Verlauf des Geschehens eingespeist werden; keinen Augenblick lang darf es zur Ruhe kommen; hinderliche Reflexion während des Vorganges soll unterdrückt werden und dem späteren Zustande, außerhalb des Geschehens, vorbehalten sein. Es bleibet ein großer Wille, bildende Kunst, Literatur und Musik in einem umgreifenden, erhabenen Kunstwerke zusammenzuführen; zukünftige Generationen werden uns, gewiß, diesen Genius schaffen! – Wirkliches und Mögliches müssen in einer übergreifenden Bestandsaufnahme ein Reales, unmittelbar das Gemüt berührendes Moment hergeben, was die Seele beflügelt, in ihrem Hoffen und Streben bestärkt und sie über sich selbst hinauswachsen läßt – auf daß die Kunst die Menschheit verwandele! Mein Freund, ich hege Gedanken, ich hege den Willen, zumindest ein Fundament dieses Neuen, Andern zu errichten, wie Horaz meint: ein Monument, dauernder als Erz! Die Welt soll bald einen ersten, ehernen literarischen Meilenstein in diesem Sinn empfahn: in mir waltet die Idee des Großen! Lebe denn wohl, und schreibe mir recht bald und viel. Dein treuer Freund Heinrich
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Auf dieser einsamen Insel bei Thun sorgte sich eine Fischerfamilie rührend um mein Wohlergehen; sie gab mir eine ihrer beiden Töchter ins Haus, damit sie mir den Haushalt führe: sie war in meinem Alter, rief sich «Mädeli», was sich meinem Ohre gleichermaßen neckisch wie unschuldig einträufte – ein zuckersüßes Mädchen von wohlgeformter Gestalt: ich warf mich in meine Arbeit, denn ich fürchtete beim Anblick dieser schweizerischen Madonna die in mir aufblühende Lust (wahrscheinlich wurzelt diese Furcht in meiner erschütternden Erfahrung während der Militärzeit, als ich diese Vergewaltigung mitansehen mußte – diesbezüglich wurde etwas in meiner Seele zerrüttet, was mir mein Lebtag lang anhaftete), weil mich deren Übermacht, die mögliche Übermannung meines Verstandes ängstete. Nur die reine, wahre Liebe kann mich erlösen: alleinige Erfüllung fleischlicher Begierden, so spähte ich aus, könnte mich in blind-gähnenden Strudeln einem dunklen Punkte entgegen entreißen (die Erfahrung mit Lohse warnte mich doppelt!): dies galt es zu vermeiden! Das Eins-Sein, VerstandenSein, wahrhaft seinem Wesen nach Geliebt-Sein: dies war meine Sehnsucht; und dies dürfte nicht einer simplen Aufwallung, einer Dummheit des geilen Fleisches, welche alles mühselig Erarbeitete auf eins zerstören könnte, sinnlos hingeopfert werden. Der politische Himmel verfinsterte sich immer bedrohlicher; als ein französischer General nach einem Bauernaufstand in Thun einrückte, spürte ich in meinem Herzen eine wehe Bitternis gegen mein Schicksal aufsteigen: nun, da ich mich einigermaßen froh und glücklich befand, wendete mir der üble Wetterhahn sein Antlitz ab. Ich gab folglich nach einigem Abwarten den Plan auf, ein Bauerngut zu erstehen. In absehbarer Zeit, so kam ich zur Überzeugung, wäre für mich in diesem schönen Lande kein Glück zu pachten. Ich brach zunächst im Geiste, später konkret die Zelte ab und setzte meinen Irrlauf fort: diesmal waren es die äußeren Ereignisse, welche den Auslöser darstellten. Nach meinem euphorisch-rastlosen Höhenflug, der insgesamt reichlich zwei Monate andauerte, in denen ich kaum schlief, da ich bis zum Rande meines Fassungsvermögens angefüllt war mit überreichen Arbeiten, in welchen ich in einem Glücksgefühl aufging
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und darüber Raum und Zeit vergaß (gerade dieses an sich balsamische Erlebnis ließ mich in allen meinen fernerhin wieder auftretenden Stimmungstiefstständen, diesen melancholischen Aufschreien meines geplagten Herzens, mein Heil in der Arbeit suchen – ich flüchtete mich wie ein Süchtiger in diese hinein), kam wie aus dem Nichts herangezogen eine Furcht, die gesteckten Ziele zu verfehlen: Versagensängste umlagerten klamm die Burg meines bangen Herzens. – Ein Hauptgrund dafür war wohl die gnadenlose Überforderung, der ich mich ununterbrochen in meiner Überspanntheit unterwarf; doch setzte ich ebenso, was mir kaum auffiel, zu hohe Erwartungen in meine Mitmenschen, ja – in einem gewissen Sinne sogar in das Schicksal selbst! Rasch erkannte ich zudem einen weiteren erklecklichen Mangel, welcher sich leider auch auf das literarische Schaffen übertrug: ich arbeitete langsam und verbissen an einer mir gestellten Aufgabe herum, selbstquälerisch-perfektionistisch, mit äußerster Eigenwilligkeit der Phantasie sowie mit einer fast peinigenden Verbohrtheit des Gedächtnisses – jahrelang hielt mich ein einmal erfundenes Bild, ein Gedanke fest im Griffe; ich feilte jeweils und werkelte derart ausgiebig daran rum, bis mir endlich die Kraft auszugehen drohte. Dies ist die gründende Ausgangslage, weswegen ich an einem Werk über Jahre hin immer wieder Änderungen und Verbesserungen vornahm und ich mich stets von neuem unter Gewalt zwingen mußte, einen Abschluß zu finden. Meist schloß ich ein Stück erst dann ab, wenn meine Seelenkräfte vollständig erschöpft waren; eine dämonisch-finstre Besessenheit vom ergriffenen Gegenstand beraubte mich des gelockerten Umgangs mit der Materie: alles nahm ich zu ernst; alles senkte sich in quälender Nachhaltigkeit in die unermeßlichsten Tiefen meines Selbst mit der Schwere von Blei, umfaßte mich mit Krakenfängen und zerrte und riß am Gerüste meiner welken Nerven, so daß von keiner geistigen, geschweige denn einer seelischen Unbefangenheit, derer ein weniger rigoros-hartnäckig talentiertes Genie sich erfreuen mag, jemals die Rede sein konnte! Plötzlich schlägt, wetterwendisch, alles um! Welche Qualen, und wieder eine neue Krise: mein Minchen in Frankfurt lavierte bis zum Überdruß; – die Thuner Franzmänner-Invasion stimmte mehr als mißmutig; – das überhübsche Mädeli, dem ich kaum mehr
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standhielt, ohne meine moralischen Ansichten aufs Spiel zu setzen, prüfte mich bis an die Grenzen meiner Verstandeskräfte; – meine selbstverschuldete Überforderung laugte mich aus; – die Trennung von meinen Berner Freunden ließ mir den mangelnden Austausch mit Gleichgesinnten, deren Gesellschaft mir in meinem von überwiegender Einsamkeit geprägten Leben erstmals ein tiefes Gefühl der Geborgenheit vermittelte, sauer werden: – ich überspannte die Sehne des eigenen Bogens mit meiner freislichen Kraft, und alle eingesammelten Felle schienen davonzuschwimmen. – Am 20. Mai 1802 löste ich endgültig das Verlöbnis – und damit symbolisch alle Bande nach Frankfurt, ausgenommen diejenigen zu Ulrike –, indem ich Wilhelminen mitteilte, sie möge mir nicht mehr schreiben, zumal ich keinen andern Wunsch mehr hege, als zu sterben. Einen letzten Brief von ihr ließ ich, nicht ohne eine kalkulierte Kälte, ungeöffnet zurückgehen – es war Schluß, endgültig. Und welcher ungemeinen Bürde war ich benommen! – wie ich knapp drei Jahre darnach in Königsberg mit eigenen Augen einsehen konnte, hat Wilhelmine ihr Glück gefunden, so daß sich meine Seele, die hart und weich zugleich, in dieser Angelegenheit selbst Absolution erteilen konnte – ja, ich war in einzelnen Bereichen hart gegen sie; doch ich spürte zuweilen auch von ihrer Seite eine ebenso wohlbestimmt weibliche als gutmütige Listigkeit wider meine Person, was allerdings meine Härten keineswegs entschuldigt, aber insofern mindert, als sie betreffs meiner Geradheit nie ins Schwarze trafen! Mein Minchen verhielt sich wie der Hase, der vor des Tigers weit aufgesperrtem Rachen einige lustige Haken schlägt; lustig deshalb, weil sie nie fürchten mußte, ich wolle sie verspeisen: kurzweg – wir haben zu keinem Zeitpunkte zusammengepaßt: mir unterlief der Fehler, zwingen zu wollen, was keinen Sinn in sich trägt (ein ärgerlicher Kunstgriff übrigens, der mir in entscheidenden Situationen meines Lebens einige Male unterlief); und Wilhelmine hatte nicht die notwendige Kraft, sich meiner zu erwehren: schwaches Weib, das sie ist. Ich denke, der gute Krug geht mit Wilhelminen pfleglicher um, als ich es je tat, was nichts als rechtens ist: schließlich ist‘s ein Philosoph. – Möglich auch, daß ich dieser Vestalin nicht wert war …
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Ende Juni 1802 verließ ich angeschlagen und krank mein Idyll, das Delosea-Inselchen. – Es ist das Übel meines Wesens, einfach nicht aufgeben zu können, mir verbissen und störrig die messerscharfen Krallen selbst ins Fleisch zu schlagen: was wunders! – in Phasen der Erschöpfung traten in zunehmend kürzer werdenden Intervallen gesundheitliche Störungen auf: Schweißausbrüche, Schüttelfieber, Muskelkrämpfe, drückende Kopf- und Zahnschmerzen, Herzbeklemmungen, Halluzinationen, Verstopfungen, Magengrimmen, Unwohlsein, Müdigkeit bei gleichzeitiger Überdrehtheit, zudem Schlaflosigkeit. – War alles eitel Träumerei? Was auch immer Traum sein mag, was Realität: der Mensch hat sein Schicksal auf dem wildumtosten, abgründigen Felsen einsam und standhaft zu ertragen. – Ach, Ruhe! Ruhe vor all den Leidenschaften und Strebungen meines Willens; Ruhe vor diesem vergiftenden Ehrgeiz, vor dieser stachelnden unseligen Ehrsucht: diesen Freudentilgern! Wäre es mir doch vergönnt, alleine den Willen der Natur zu erfüllen, ihren Willen zu schauen, nicht meinem zu erliegen. Die kurze Labezeit der Ruhe und Muße jedenfalls war vorüber; die Wogen des Ozeans trugen mich neuerlich frisch aufgeworfenen Gestaden zu – mit der kalten Hand der Gewalt. – In Bern wurde ich dermaßen siech, daß ich beim Arzt Carl Wyttenbach, einem Freund Zschokkes, über einige Wochen hinweg ausgiebigst behandelt werden mußte: er konstatierte nüchtern, daß mir körperlich nichts fehlte, empfahl mir kurzerhand Ruhe und viel Schlaf, verschrieb Baldrian nebst irgendwelchen Kräutern und – was mich sehr erstaunte – … eine gute Beziehung! Lakonisch anempfahl er mir sonach eine Heirat; nun ja – ein Rezept dafür hat er mir nicht ausgestellt, der wackre Kerl. Er meinte, ich sei viel zu stark, um zu sterben, und zu schwach, meinen überzogenen Ansprüchen zu genügen: die am wenigsten kräftig ausgebildete Stelle einer ungewöhnlichen Statik beginne in der Folge unter Rissen zu reagieren: – dies sei der Aufschrei des geplagten Körpers, der um Gnade bitte! Mag sein, aber was soll ich tun? Pflege und Aufenthalt strapazierten meinen Geldbeutel aufs Leder; ich war gezwungen, meinem Vetter Wilhelm von Pannwitz, der meine dürftigen Finanzen verwaltete und bei welchem sich Ulrike oft aufhielt, verschiedentlich zu schreiben und, wie nebenher, ihn um einige Louisdors anzuge-
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hen. Zugleich wollte ich damit natürlich Ulriken veranlassen, mir nachhaltiger unter die Arme zu greifen – spornstreichs kam sie aus Preußen hergeritten, meine kleine Walküre, wohl nicht zuletzt getragen vom Willen, eine versprochene gemeinsame Tour durch die Schweiz in Angriff zu nehmen: vermutlich wollte sie dabei gleichzeitig einer ausgegebenen Ordre der Familie nachkommen, mich zur Rückkehr zu bewegen, um mich – unter vereinter Anstrengung – auf den rechten Pfad der Tugend hinzuführen! – In Bern selbst ging‘s derweil rund zu und her: vor den Toren standen die konservativen Truppen, geneigt zum Sturmangriff. Halbwegs genesen, bereitete ich mich, zusammen mit einigen Freunden, auf die Verteidigung der Stadt vor: es war eine ausgemachte Sache, daß ich sie nicht im Stiche ließe. Auf den Straßen herrschte reine Willkür vor; die Regierung war gestürzt, das Chaos komplett: Zschokke, klug wie er war, fand es angeraten, vorerst Ferien im Schwarzwald zu verbringen; Gessner versiegelte seine Buchdruckerei und mied die Stadt; Wieland war durch seine politischen Aktivitäten unmittelbar gefährdet, während ich einfach – suspekt war. Kurz und gut: Ulriken gelang es, mit wohlfeil auseinandergesetzten Vernunftgründen mich zu überzeugen, daß in dieser Situation es weder meine Ehre verlange noch es gescheit wäre, länger in der Stadt zu verweilen; ich möchte doch den mittellosen Wieland, den noch verbleibenden Freund, mit aus der Stadt führen: dieser sei ohnehin vom hiesigen Polizeidirektor zur sofortigen Ausweisung bestimmt; und wir sollten einfach das Weite suchen, bevor die Herren Haudrauf und Schlagetot von beiden Seiten auf uns im Ungestüm einbrächen. So kam es, daß wir im Oktober 1802, mehr denn weniger überstürzt, die Schweiz verließen.
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Eigentlich hatte ich vor, nach Wien zu reisen; doch Ulrikes Ankunft und Wielands Beisein – in ihm sah ich einen Wink des Schicksals, dem ich vernünftigerweise nicht widerstrebte: Ludwig Wieland lud mich auf das Gut seines weltberühmten Vaters in Oßmannstedt
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bei Weimar ein; selbstverständlich witterte ich hierin eine unvergleichliche Gelegenheit für mein Fortkommen als Schriftsteller – hielten mich von meinem Unterfangen ab. Nahe Weimar! Vielleicht wäre sogar ein Besuch bei Goethe und Schiller von meiner Seite angebracht gewesen: – doch ich war einerseits zu stolz, ohne handfeste Erzeugnisse mich bei solchen Himmelsgestirnen einzufinden, wollte ich davor nicht wenigstens vorweisbare, untadelige Leistungen erbringen; andererseits nagte hinwiederum dieser unbarmherzige Zweifel in mir: bin ich würdig? bin ich fähig? anerkennten, verstünden sie mich? erschiene ich ihnen nicht bloß als eine exotisch-exaltierte Sternschnuppe? – und was wäre endlich, falls ich plötzlich aus dem Nichts zu stottern anfinge? Nein, ich mußte mir als erstes eine währschaft gepflasterte Straße zu ihnen bahnen, und dazu könnte mir – wenn ich Glück hätte – C. M. Wieland eine Brücke bieten; denn er war mit Goethe befreundet. – Und sollte ich es nicht einmal bei Wieland erreichen, ein Ansehen zu erringen, was trüge mich dann soweit, bei Goethen vorzusprechen? Der große, greise Wieland – den ich bereits als Fähnrich verehrt und gelesen habe – stand im siebzigsten Altersjahre, hätte also gut und gerne mein Vater sein können; Ludwig bereitete ihn in mehreren Briefen auf den Besuch vor. Während Ulrike nach der Mark Brandenburg weiterfuhr, wies mir der alte Wieland Anfang des Jahres 1803 – nachdem ich zunächst einige Zeit in einer Privatunterkunft in Weimar logiert hatte – ein eigenes Gästezimmer in seinem Hause zu. Ich liebte diesen Mann; – o ja! in ihm vereinten sich die Weisheit und Milde des Alters mit der überragenden Kraft des Genies; ebenso war die ganze Umgebung demnach beschaffen, daß ich mich mit Lust und Wonne wieder in meine Arbeit stürzen konnte. Besondere Hand legte ich an meinen «Guiskard»; diesen wollte ich dem Alten vorstellen – dazu mußte ich aber mit Bedacht vorgehen; er sollte mich auffordern, nicht wollte ich ihn mit meinem Feuergeiste lodernd überbrennen, wie es häufig geschah: was gleichfalls meist in einem Inferno endete. Alsofort – gemach, gemach! hielt ich es für überaus rätlich, mich, fast scheu, zurückzuhalten. – Ich blieb fast drei Monate im Kreise der Wielandschen Familie zu Gast. Es dauerte eine Weile, bis das gegenseitige Mißtrauen abgebaut war: ich weiß mittlerweile allzugut um meine ir-
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ritierende Wirkung, die allseits innerhalb der Bandbreite von «sonderbar» bis «völlig von der Kante gezogen» bewertet wird! In der Kindheit kämpfte ich vehement dagegen an; unlängst habe ich es aber aufgegeben und schütte, in einer unverhohlenen inneren Freude, mitunter sogar noch zusätzliches Öl ins Feuer – es sei denn, es gälte ein wichtiges Ziel zu erreichen: in einem solchen Falle müßte ich sehr berechnend vorgehen, um die Menschen nicht unnötig zu erschrecken! – Ich bin mir‘s so unendlich müd’, mich ständig rechtfertigen und erklären zu müssen: es begreift ohnehin nicht Mann, nicht Maus: was bringt‘s demnach? Jedenfalls ward mir klar, daß mich der Alte als einen geheimnisvollen Exoten einstufte, ja geradezu einzustufen gedungen war; dieses seines Herzens Inbild nährte ich tüchtig, indem ich meine übliche Eigensinnigkeit zusätzlich unterstrich – nie jedoch meine Liebenswürdigkeit vernachlässigend, was meiner ganzen Wesensentäußerung eine unerforschliche, eigentümlich-edle Anmut verlieh, die sich sogar in meinem Innersten widerspiegelte und dem wahrnehmenden Ich selbst ein Rätsel war. Wahrscheinlich ist es just der Charakter dieser unergründlichen Mischung von Herbheit und Süße, welchen die jüngste Tochter Wielands, namens Luise, eben erst vierzehnjährig, als «zauberisches Wesen» beschrieb. In der Tat, sie verliebte sich in mich, was leider ein großes Unglück für alle war. Aber bekanntlich kann man die Liebe nicht zwingen, sie erhebet sich einfach – je nach Temperament – pfeilgeschwind oder urgemütlich aus den Tiefen der Seele – oder bleibet aus, so sehr man sich um sie bemüht. Sie ist das Mysterium des Lebens und gleicherart verschieden konstituiert wie die liebenden Individuen selbst. Eine weitere Schwester, Caroline Wieland, war ebenso von mir eingenommen, verhielt sich aber immer zurückhaltend: was sie fürderhin genau für eine Rolle übernahm, weiß ich nicht. – Zu meinem Pech bin ich ja gerade im weiten Felde der Liebe mit barer Unbedarftheit geschlagen (manchmal denke ich sogar: gezeichnet! zur Genüge suchte ich das Merkmal Kains vergeblich auf meinem ummantelten Gemüte, um mich, wie wäre das schön!, des Mantels, samt Mal, zu entledigen); dummerweise habe ich mit meinem Verhalten Luisens Leidenschaft vermehrt, wenigstens nicht zurückgewiesen, was ich unbedingt hätte tun müssen.
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Diese Situation verwirrte sich zusehends in einem enggezurrten Knäuel: – ihre ältere Schwester Amalie war ihrerseits eifersüchtig oder sonstwie zickicht und ließ mich ihre Abneigung deutlich spüren; Ludwig dagegen lehnte sich zu einem späteren Zeitpunkt offen gegen mich auf: wahrscheinlich unterfüttert von teil- und unwahren (intriganten?) Äußerungen Amaliens sowie der von unerfüllter Liebe langsam in Wut sich wandelnde Handlungsweise Luisens – Ludwig wollte, daß ich ein klares Für oder Wider ausspräche! – Schließlich der alte Wieland, der bis zu meiner Abreise nichts von der ganzen Tragödie im Hintergrunde mitbekam. Dafür wird er darnach aufgeklärt worden sein, steht zu vermuten – und dabei dürfte nichts für mich gesprochen haben; es wäre gescheiter gewesen, alles sauber aufs Tapet zu bringen: vielleicht hätte man noch etwas zu retten vermocht. (Der alte Wieland blieb mir zwar geneigt, aber er hielt zeitlebens distinguierten Abstand, woraus ich schließen mußte, daß er diese Geschichte in irgendeiner Weise als Gastrechtsmißbrauch auslegte, was ich ihm zwar nicht verüble, was aber dennoch nicht stimmt. – Das ist eine meiner Schwächen: dort hätte ich sprechen müssen, während ich zu vielen anderen Gegebenheiten unbedingt hätte schweigen sollen! Im nachhinein Aufklärung zu leisten, ließe einen in einem noch schieferen Lichte dastehen: sie würde entweder als Lüge oder als eine Form der Ausrede ausgelegt.) – Daß ich nicht klare Signale an Luisen aussandte, hat zwei wesentliche Gründe: vorerst hielt ich es nicht für geschickt und fürchtete, daß, wenn ich nicht mitspielte, ich auf die eine oder andere Weise aus dem Hause getrieben würde, bevor ich mein Ziel hätte erreichen können – es waren also rein rationale Überlegungen, wobei ich zugebe, daß ich nicht die ganzen anderen Verhältnisse, welche reinspielten, berücksichtigte: teilweise aus Egoismus, teilweise da ich sie unmöglich kennen konnte; zum andern ist es die töricht-irrationale Seite, die eine nicht unerhebliche Rolle spielte: ich war gleichfalls von Luisen fasziniert; zwar liebte ich sie nicht, aber ich war verliebt in ihre kindliche Seele, und sie sprach mich als Frau an: sie zeigte Charme und Kurve! Was soll ich sagen? Wir küßten uns auf die Stirn, tauschten harmlose Zärtlichkeiten aus – sie wollte mehr; ich erschrak und zog mich zurück (eingedenk der vorauszusehenden Katastrophe: ich hätte sie
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wohl heiraten müssen, oder mein Ruf und die möglicherweise sich anbahnende Geneigtheit des Wieland-Goetheschen Kreises wären ein für allemal flöten – und nachgerade heiraten konnte ich ja bloß eine Frau nach meinem Ideal: Luise dagegen war noch unausgegoren, zudem von der inneren Beschaffenheit völlig verschieden von Caroline und Henriette Schlieben oder von Wilhelmine); ich entschuldigte mich bei ihr, womit sich alles erst recht verkantete. Ich ließ mich also, wie idiotisch!, für einen kurzen, unachtsamen Moment von einer kleinen Triebhaftigkeit übertölpeln – und mit eins haben wir das hübscheste Chaos fabriziert; nun, ich darf mich selbst an der Nase nehmen. Böse Absicht war es keinesfalls, nur Schwäche – und diese nie endende innere Sehnsucht nach der reinen weiblichen Seele, die mich erlösen sollte … Diese leidige Geschichte war somit höchst geeignet, den weiteren Verfolg – gelinde gesagt – mit Schwierigkeiten zu bepflastern, was meine Befangenheit verstärkte; es galt nunmehr, gegenüber dem Alten gesonderte Vorsicht walten zu lassen, wollte ich an mein Ziel gelangen. Unter den Geschwistern war ich gezwungen zu lavieren – wie ich es haßte! Könnte man doch einfach, ehrlich und gerade auf die Menschen zugehen; eine unsägliche Mühsal bürdete sich meiner Seele doppelt und dreifach auf. – Während des Aufenthaltes arbeitete ich weiter an meinem «Guiskard», dem Besten, was ich je zu geben hatte: er stürzte mich von der höchsten Spitze der Euphorie in das tiefste, von schwärzester Galle geschwängerte Tal – und wieder hinauf; nackte Verzweifelung und fortreißende Begeisterung wogten auf und ab! Halsstarrig, unermüdlich, wie üblich besessen kämpfte ich mit der Form, gab der Idee Gestalt und nährte sie mit schöpferischer Kraft, erschuf unter meinen Händen ein erhaben-feierliches Werk. Daneben plagten mich diese unneidlichen Liebesplänkeleien. Nicht genug! der Alte begann, mich wie einen Sohn zu lieben, was ich spürte: ich liebte ihn wieder – allerdings verwob sich jetzo auch ein Faden des schlechten Gewissens in das Tuch der gemeinsamen Verbundenheit. Sollte ich wohl den Alten aufklären, mit der Gefahr, das Vorausgespürte zu riskieren? Oder sollte ich schweigend über das ungesicherte Drahtseil gehen, wobei das Resultat eines möglichen Absturzes unvorhersehbar wäre? Ich entschloß mich, wie geschildert, für letztere Variante.
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An einem wohligen Nachmittag vor dem Kamin war endlich die Zeit reif; nach eindringlichem Zureden kam ich dem Wunsche des greisen Wieland nach und deklamierte aus dem Gedächtnis meinen «Robert Guiskard». – Mein Beharrungsvermögen hat sich also doch gelohnt: der Tag gedieh zu dem stolzesten und schönsten Abschnitt meines gesamten Lebens!! Wielands Augen weiteten sich zu mächtigen Kugeln – er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Ohrknöchelchen hämmerte seine Worte unvergeßlich in die erhabene Tafel meines Gedächtnisses, ein unwiederbringliches Kleinod meinem Selbstbewußtsein: er hielt mich für dazu geboren, die große Lücke unserer dermaligen Literatur aufzufüllen, welche nach seiner Meinung selbst von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden sei; weiter führte er aus, daß, wofern sich die Geister von Aischylos, Sophokles und Shakespeare vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, sie das sein würde, was die eben vernommenen Bruchstücke und Verse meines Guiskard verhießen, falls das vollständige Werk diesen entspräche!! Ich stürzte in Überwältigung vor ihm nieder und übersäte seine Hände, abwechselnd mal die eine, mal die andre – mit Küssen. Ich war also würdig! Ich hatte ein gemeißeltes Ziel! Ein Stein fiel mir von der Brust! Und diese Meinung entfloh nicht etwa dem Munde von irgendwem, sondern es war die Meinung eines genialen Menschen, Schriftstellers und Übersetzers, den selbst Goethe hochhielt: eines profunden Kenners seines Faches! – Die Liebe und das Verständnis, die mir der alte Herr entgegengebracht hatte, werden mir immerfort unvergessen bleiben; ich fühlte mich wohl in seinem Hause, in seiner Nähe, käme mir da nur nicht diese unselige Angelegenheit mit den Geschwistern in die Quere. – Klatsch, Gerüchte, Pikantes überbordeten – und ich ward endlich gezwungen, das Haus zu verlassen, zumal mich Luise, kindlich-traut, darum anhielt: sie litt, was wiederum meine Seele betrübte. Ich entsprach ihrem Wunsche, und ich bat nochmals um Verzeihung, wohl wissend, daß kein Wort, keine Geste ihre Wunde lindern konnte. Gerade in dieser Stunde tiefster Vertrautheit, tiefsten Verstandenseins: in dieser Stunde, in der mich der alte Wieland liebevoll in die Arme schloß – gerade jetzt mußte ich gehen! Welch ein Verderben – was spielt das Schicksal so grausam mit mir? Mir war zum Weinen übel, die Schwermut griff
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mich erneut an. – Ich mietete mich in einem Gasthaus zu Weimar ein, um kurz darauf nach Leipzig abzuziehen.
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Wiederum quälten mich Zukunftsängste und Geldsorgen; nicht genug, der «Guiskard» wand sich wie ein Aal unter meinen plastifizierenden Händen; er ließ sich bis zu einem bestimmten Punkt hin durchgestalten, widersetzte sich aber dann hartnäckig der weiteren Durchdringung. Währenddessen erschien im März in der Zeitschrift «Der Freimütige» eine lobende Rezension der Schroffensteiner durch Ferdinand Huber; Wieland hat mir ein Empfehlungsschreiben an den Verleger Göschen in Leipzig mitgegeben, den ich stracks aufsuchte und welcher für Deutschland «Die Familie Schroffenstein» sofort in Druck nahm (das Werk war bisher lediglich in der Schweiz bekannt und bei Gessner in Bern erschienen). Eigentlich hätte mich die Rezension glücklich machen sollen – so hieß es unter anderem: «Das Treffliche Goethen und Schillers hat wirklich dieses Genie genährt …», und sie sprach von der «genialischen Kühnheit» der letzten Szene zwischen Ottokar und Agnes, die mich besonders beschäftigt hatte. Ferner nicht minder erbaulich: «Dieses Stück ist eine Wiege des Genies, über der ich mit Zuversicht der schönen Literatur unseres Vaterlandes einen sehr bedeutenden Zuwachs weissage. Der Verfasser mag vielleicht zu den außerordentlichen Geistern gehören, deren Entwickelung bis zu der Reife selten ohne einige Bizzarerien und Unarten abläuft.» – Anstatt mich darüber zu freuen, ließ ich mich vom Verriß mehr beeindrucken; vielleicht, weil dessen abwertende Deutung sich mit den vernichtenden Empfindungen meiner damaligen Niedergedrücktheit deckte. Der Rezensent war Friedrich Weißer, einer meiner schärfsten Kritiker, der an meinen weiteren Werken niemals auch nur ein gutes Haar ließ. Den Namen habe ich mir gemerkt und im Kunstjournal «Phöbus», welches ich zusammen mit meinen Freunden 1808 herausgab, seiner speziell gedacht: denn die Angriffe Weißers waren zum Teil penetrant und unlauter – ich empfand
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es jedenfalls so; aber vielleicht war ich einfach diesbezüglich viel zu sensibel, vor allem in trüben Zeiten, da mich der Teufel ritt; ich machte von meinem Vorsatze Gebrauch, der seit dem Erlebnis mit Lohse in meinem Herzen eingemeißelt war, möglichst gegen keinen anständigen Menschen mehr ungerecht zu sein, dafür aber gegen diejenigen Leute, welche einem unseriös wie frevelhaft begegneten, den angestauten Dampf mit umso gesteigerterer Wucht abzulassen! – Es verhält sich ohnehin sehr einseitig: während mich die einen über den Klee loben, versuchen mich die andern ins nackte Grab zu tadeln: alles stets mit Schwung, Leidenschaft – und ohne absehbares Ende. Die einen bedauerten, daß mein Genie keine Filzpantoffeln trage: weil ein solches eben leichter einzuordnen wäre; die andern hingegen schimpften mich eher eine lebendig gewordene Filzpantoffel, der es gänzlich an Genie und Talent mangelte: gerade gut genug, damit die Füße nicht dreckig würden; ich möchte doch lieber bei den Leisten bleiben etc. Im «Phöbus» rückte ich eine bündige Schmährede auf die ewigen Nörgeleien und niederträchtigen Verrisse Friedrich Weißers (-Stamm: Nachname mütterlicherseits) ein; ich konnte es nicht lassen, selbst wenn es gescheiter gewesen wäre, es nicht zu tun; ich schrieb – … und der unverdaute Kloß löste sich im Magensafte: «O welker Stamm des Baumes! was dienst du mehr nun / in des Lebensabends Dämmrung als Zierde bloß und Urinal / zur Kennung durch der jungen Hunde Nierenschweiß? / Und wo man dereinst Blüten brach (doch was für Blüten / blühten wohl? – du falscher Fuffziger), labt jetzo sich / der Hunde Naß: der Pestwurz riechet freundlicher. / Welch hehrer Geist durchwirkt die Taten dieses Menschen! / O Menschheit, welch ein Glück, solch edle Geister unter / uns zu wissen: nichts klafft mehr als dieser Gräben Riß.»
Trotz der an sich günstigen Rezensionen und Auspizien zierte sich mein «Robert Guiskard» in einem fort; endlich schlug ich, ausgelaugt und hülferingend, die Hände verzweifelt über meinem Kopf zusammen – ich brauchte Zeit und Muße! Von der Furie getrieben,
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ja gegeißelt, traf ich im April, völlig außer Atem, in meinem geliebten Dresden ein.
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In Leipzig verblieb ich nur auf kurz, erledigte die Belange mit Göschen – für die ich Wieland ewig zu Dank verpflichtet bin, und nahm bei Heinrich August Kerndörffer einigen Deklamationsunterricht an der hiesigen Universität: denn ich war der Überzeugung, daß, kunstfertig vorgeführt, meine Dramen weit trefflichere Wirkung zeitigen würden, wie ich bei der Lesung meines «Guiskard» vor Wieland gespürt hatte; gleichfalls wollte ich tiefer in die Materie von Rhetorik und Bühnendarstellung eindringen: wenige Wochen darnach entlieh ich behufs dessen in der Dresdner Bücherei die «Wolken» des Aristophanes sowie Sophokles‘ Elektra, Ödipus, Philoktetes und schließlich die Antigone; ebenauch studierte ich meinen Liebling und das große Vorbild: Shakespeare! nach den bewundernswerten, kongenialen Übersetzungen von Schlegel, die bereits verfügbar war. Aber ein zweites bewog mich: ich erkannte Rede und Gesang vermittelst eines unsichtbaren, mystischen Bandes gekoppelt: Rede ist Gesang ohne unmittelbar vernehmbare Musik, und diesen Geheimnissen versuchte ich auf den Grund zu gehen; insofern sind all meine Werke ihrer Artung nach heimliche Singstücke der Seele! – Im April 1803 zog ich nach meinem geliebten Dresden: zur Erbauung meines hart malträtierten Gemütes besuchte ich wiederum die Galerien mit ihren wundervollen Kunstwerken – sie entführten mich in die Welt meiner Ideale, in das Arkadien der Dichter und Denker: Entfleuch, Seele, diesem staubigen Erdenrund … – !! Zufällig machte ich in einer dieser Galerien die Bekanntschaft mit dem Weimarer Johann Daniel Falk, welcher sich hier zu kunstgeschichtlichen Studien aufhielt; er hatte sich als Autor bereits einen Namen verschafft. Wir trafen noch einige Male zusammen und unterhielten uns auf ausgedehnten Spaziergängen über das literarische Geistesleben; für mich war dieser Kontakt nicht zuletzt des-
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wegen äußerst befruchtend, weil ich einige wunderbare Anregungen zu meinem «Krug» und dem «Amphitryon» erhielt. – Meine Arbeitsweise ist ohnehin von absonderlichster Voraussetzung geprägt; ich verarbeite alle mir von außen zugehenden wesentlichen Betrachtungen, sämtliche Nachrichten und Signale überhaupt: ob diese nun über persönliche Fühlungnahmen zu Menschen, Tieren, ja der gesamten Natur gewonnen werden oder nur ungebundene und flatterhafte Eindrücke sind, ist einerlei: der ganze Weltkreis spricht unentwegt zu mir! Jedwede Ideenkonstellation, gleich welcher der fünf Sinne dazu das Gefäß sein mag, ist imstande, in mir eine unsichtbare Abfolge von Gedankenverknüpfungen, ja von sich überschneidenden lebendigen Szenen auszulösen; selbst völlige Nebensächlichkeiten können ein vollständiges Bühnenstück in meinem Kopfe entstehen lassen! In meinem Geiste fließt dergestalt mein Inneres mit dem Äußeren in ein grenzauflösendes, unauftrennbares Ganzes zusammen, so daß ich mitunter kaum mehr weiß, was nun innen sei, was außen. Diese Gestaltungskraft meiner Phantasie ist einesteils von höchstem Werte und Vorteil, um überhaupt schöpferisch tätig sein zu können und das Vorgestellte ins Werk zu setzen (deswegen bin ich nie allein, selbst dann nicht, wenn ich einsam sein sollte; der Unterschied ist dieser: stets bin ich mit der Gesamtheit der Schöpfung lebendig verbunden, jedoch in der Einsamkeit von keinem vereinzelten Lebewesen verstanden!) – aber von der Kehrseite her betrachtet, lieget die Schwierigkeit darin, die Überfülle an Ideen, Gefühlen, konkreten Tatbeständen zu bemeistern, in eine klare Form zu gießen; und es ist nicht ganz einfach, darob nicht die Übersicht oder gar den Verstand zu verlieren! – Deswegen also kam mir die Auseinandersetzung mit Falk gerade gelegen: sie nährte und labte meine Seele in trüber Zeit. Weil ich mich mit meinem «Guiskard» in der Krise befand, arbeitete ich nebenher am «Zerbrochnen Krug» und an andern Werken, um mir Zerstreuung zu schaffen: ich hoffte, daß mir aus dem Urgrunde meines Ichs irgendwie die rettende Idee erstehen könne und mich von meinem unbedingten wie selbstzerstörerischen Ausschließlichkeits-Makel reinigen würde. – Mittlerweile war, wie ich nunmehr feststellen mußte, mein gesamtes Vermögen aufgezehrt,
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der letzte Notgroschen abgetragen. Den Schlieben-Schwestern, welchen ich während meines Dresdner Aufenthaltes ab und an meine respektvolle Aufwartung machte, steckte ich zudem den einen oder andern Batzen zu: der erbärmliche Anblick der beiden tat meinem Herzen wehe! Ich liebte beide unabdingbar in den Grund ihrer Seelen, aber befand mich selbst in einer schlimmen Notlage, so daß ich das Henrietten gegebene Heiratsversprechen derzeit unmöglich einhalten konnte – wie sollte ich uns beide durchbringen? Ich kam alleine kaum über die Runden. Zunächst mußte ich mich finden, meine Bestimmung leben; den Schwestern griff ich unter die Arme, wo ich konnte. Wir saßen noch oft in gemeinsamer Runde und trösteten uns an dem, was das Leben an natürlicher Schönheit den Abgehärmten überdies zu geben vermochte; – immerhin waren die Gespräche von seltener Anmut und wahrlich einer Labsal, die zumindest kurzzeitig die Not vergessen ließ; nicht selten musizierten wir auch zusammen. Das änderte nichts daran, daß meine Lage nunmehr ernstlich finanziell und materiell bedrohlich wurde: es existierten Tage, an denen ich mir keine zwei Mahlzeiten am Tage leisten konnte! Diese unerträgliche Situation veranlaßte mich, darüber nachzudenken, ob ich nicht nach Frankfurt zu meiner Familie zurückkehren sollte, was allerdings mein Stolz verneinte. In diesem Sommer zu Dresden begegnete ich meinem lieben Freund Ernst von Pfuel – er trug seine Entlassungspapiere aus dem Militär bei sich und schickte sich an, eine längere Auslandsreise in Angriff zu nehmen, als er auf mich traf: er war des unablässigen Drills müde und wollte etwas von der Welt sehen; wir vereinbarten, einen Teil der Reise gemeinsam zu unternehmen, da mich ohnehin meine Daimonen zur gierenden Rastlosigkeit antrieben: ja, wie sich zeigen sollte, beschleunigten sich meines Schicksals Schrittpassagen in vehementer Rasanz, und eine ausgefeilte Abfolge tänzerischer Einlagen des Geistes ließ mich zum Irrwisch Preußens werden, wie ich es empfand. – Der gute Pfuel war stets an meinen Beweggründen und an meiner Wohlfahrt interessiert; sein Bruder war reich – er steckte ihm eine angemessene Geldbörse zu –, und Ernst bestand darauf, mich auf diese Reise einzuladen; nebenbei, so meinte er, sollte ich doch
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unter seiner Anteilnahme den «Guiskard» beenden, der mich an den Rand des Wahnsinns mitriß. Ernst war mir wie ein Bruder; zudem war er meinem Wesen gänzlich entgegengesetzt: ruhig, kaum zu erschüttern, bedächtig, ein wenig phlegmatisch. Wenn mein Feuergeist wieder einmal eine kräftige Lohe zum Himmel entsandte, warf er einfach Erde von der Masse des Brocken auf diese Feuerwalze – und alles ward unter der Ruhe einer gnädigen Sanftmut bis zur nächsten Aufwallung begraben! Er besaß in der Tat die beneidenswerte Fertigkeit, beruhigend auf meinen Gemütszustand einzuwirken, während ich mich durchaus hin und wieder bemüßigt fand, ihn anzustacheln: eine wahrhaft günstige Ergänzung zu beidseitigem Nutzen; – wie wünschte ich mir ein Weib von solcherlei Eigenschaften! – Ich hatte ihm in der Militärzeit einige Male in schwierigen Situationen meine Hülfe antragen können – so fühlte er sich jetzt offenbar verpflichtet, das Konto auszugleichen: er spürte, daß es mir nicht gut ging, und er nahm sich brüderlich-liebevoll meiner an – gerade zur rechten Zeit! – Ulrike, die zusammen mit Tante Massow kürzlich hier in Dresden eintraf (wohl, wie sie vorgab, um einige Bekanntschaften zu pflegen, welche wir auf unserer Reise geknüpft hatten; ebenso war ihr sicherlich zu Ohren gekommen, daß ich mich gerade in Dresden befand, und sie nutzte die Gelegenheit, diesmal zusammen mit einiger Schützenhilfe, wieder eine der zahlreichen und zähen Heimholungs-Aktionen einzuleiten; allerdings hat mich die belebende Anwesenheit Pfuels neuerliche Pläne schmieden lassen, die ich ihr begeistert vortrug), steckte mir ein wenig Geld für meine angedachte Unternehmung zu: generös war sie stets, mein liebes Ulrikchen. Das Tantchen hingegen pflanzte in mich ein gar abgeschmacktes Gefühl: ich spürte zwar eine gewisse Zuneigung, aber keine Liebe mehr – man faßte mich noch, notgedrungen, in den Ring der Kleists, doch als schwarzen Obsidian: irgendwo auf der Innenfläche, wo es beide Seiten schmerzt, getragen zu werden; ich empfand einen kalt-glimmenden Pfahl mir durchs Seelenhemd gestoßen. – Vor unserer Abreise ward mir ein Brief des alten Wieland zugetragen (dies als Beweis, daß er mir nach wie vor gewogen war!): er beinhaltete eine fiebrige, mitreißende Ermunterung, die meinen Ehrgeiz wieder anheizte; so schrieb er unter anderem:
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«Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen ihren Guiskard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Atlas auf sie drückte.» – Wenn‘s bloß allein der Kaukasus und Atlas wären! Auf mich drücket das Schicksal der ganzen Erden! – Ah, Wieland, mein guter Engel und Daimon: du stacheltest meinen Willen zu kühnen Taten; wie sehr glühen mir deine Worte die Geistesfrische an: diesen Brief trug ich meinen Lebtag an meiner Brust, ihn wiegend wie ein Waisenkind und gleich einem unversetzbaren Kleinod – kostbarer als alles Gold auf dieser Welt! Pfuel und ich begaben uns nochmals in die Schweiz, wo mittlerweile die Republikaner wieder das Szepter an sich gerissen hatten: wir glaubten – nicht allein aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen –, daß dort der Boden von günstigerer Beschaffenheit wäre, um mein Talent zum Blühen zu bringen, womit endlich die reale Aussicht auf eigenen Verdienst in greifbare Nähe rückte. Bislang war mein einziger Lohn das kleine Gehalt gewesen, welches mir Gessner als Vorschuß für meine Schroffensteiner direkt in die Hand übergeben hatte. – Pfuel befand sich in bester Stimmung, welche sich auch auf mich übertrug – in mich senkten sich wieder einige wenige Sonnenstrahlen, und ich ward zu großen Leistungen gewappnet. Ich wollte endlich, wie ich Ulriken schrieb, den Kranz meiner Unsterblichkeit zusammenpflücken; wollte, daß meine gesamte Familie stolz auf mich, auf den Namen Kleist sein dürfte – ich wollte mich vor den Augen meiner Lieben rehabilitieren! Ah, mein Herz befeuerte sich bis obenhin wieder mit der Kraft der Zuversicht und des Mutes: nicht zuletzt dank meinem Freund Pfuel, der meine dunklen Gespenster verscheuchte oder wenigstens aufheiterte! Unsere Reisen legten wir, um Geld zu sparen, überwiegend zu Fuß zurück. – In der Schweiz angekommen, begaben wir uns nach Thun und mieteten uns für kurz auf dem Delosea-Inselchen ein, wo ich in meiner Arbeit weiterfuhr. Pfuel war mir, wie erklärt, ein Bruder – und mehr! Ich deutete bereits meinen seltsamen Hang zum Idealen an, meine eigentümliche Verfahrensweise, wie meine Seelenkräfte äußere Eindrücke nutzen, um ein Bild zu verfertigen. – Ich befand mich in einer höchst instabilen Verfassung – das süße Mädeli half
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uns wieder im Hause, und meine Haut war immer noch von Henriettes und Carolines Duft benetzt; ich fühlte sie gleichsam von Dresden herriechen. – Mein unstetes Leben stand sonach ganz und gar am diesseitigen Abgrunde, wie ich auf der gegenüberliegenden Seite bereits die Sonne am Horizonte meines nackten Daseins aufgehen sah: was meint, daß meine dahinbröckelnde Gemütsverfassung in unsäglich-zerrüttetem Zustande dalag und mein Geist alles von oben, teilnahmslos, betrachtete. Dadurch, daß mir Ernst soviel der würdevollen Aufmerksamkeit zukommen ließ, verwandelte er sich in eines meiner Ideale: er erfüllte, gerade in dieser zum Bersten kritischen Phase, meinen Wunsch wie meine Sehnsucht nach absolutem Verstandensein, nach dem Eins-Sein; er erfüllte mich mit Ruhe, beließ mich in einer stummen, arbeitsamen Versunkenheit: für einen kurzen Moment verkörperte er mir das Symbol einer Frau, ja er verwandelte sich magisch in alles Geliebte: die Frau, das Kind, die Familie (obzwar ich später erkannte, daß dies eine weitere Illusion darstellte – aber für diesen ausgewählten Augenblick, eingebettet in die heilsame Landschaft der Schweiz, war sie lebenserhaltend). – Einem Außenstehenden ist solcherlei kaum begreiflich zu machen: mein gemartertes, zu Tode gequältes Ich schien tatsächlich einer vollständigen Zernichtung, einer totalen Verwirrung des Gefühls nahe; ja fast einem Wahnsinn!, den ich aber sogleich wieder in den Griff bekam: bis anhin ward ich zu stark, um zu sterben, wie Wyttenbach bündig gemeint hatte; es waren die göttliche Landschaft, Pfuel und vor allem diese unstillbare innere Sehnsucht nach dem Unaussprechlichen, welche für diese eine zeitlose Sekunde im Ozean der Ewigkeiten in eine ahnende Fühlung, in ein Wissen von etwas unerreichbar Paradiesischem zusammenflossen, was mich vor dem endgültigen Zusammenbruch rettete: Krankhaftes und Gesundes hoben sich in der Waagschale der Gerechtigkeit auf – und ich fühlte meinen Geist, jenseits von Raum und Zeit bestehend, im Niemandslande sein … – Darauf erwachte ich abrupt: das Leben ward mir auf wunderbare Weise gerettet, doch das Leiden dauerte fort! Ich kann die damals in grauenhafter Verwickelung vorwaltenden Seelenzustände höchstens solcherart erklären: gleich den Gestal-
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ten in Ovids Metamorphosen verwandeln sich die Wesen unter den Augen der Götter in andere – ähnlich, wie es in den Traumgesichten geschieht! Allein, bei mir ereignet sich derlei nicht bloß in Träumen, sondern selbst in der wachbewußten Phantasie: jedoch stets unter der Vorherrschaft des formenden, klaren und gesunden Geistes, ansonsten man es Irrsinn nennte. Bei Pfuel schien dieses Formgebend-Plastifizierende, in der Zerrüttung meines Gemüts, für eine Schrecksekunde ausgeblendet: das dürfte Pfuel unangenehm berührt haben; doch glücklicherweise hat er darauf sehr souverän reagiert, als ich ihn als meine Frau bezeichnete, bei der ich mich hätte niederlegen können – es war die kranke Seele, die aus mir sprach und aus eitel unerfüllter Sehnsucht Botticellis schaumgeborene Venus leibhaftig erscheinen sah, derart konkret, wie hier vor mir der Tisch steht, auf dem ich diese Zeilen zu Papiere bringe! Ja, ich stand am harten Rande verzweifelten Wahnsinns: eine Gnade, daß mein Geist die Krisis in den Griff bekam; Pfuel ist ja sehr erdverbunden: er hat diese Ausdünstung geschwinde und gut verdaut und als das genommen, was sie im eigentlichen ist: einen kurzfristigen Anflug einer seelischen Verstörung! Er kannte überdies vieles aus meiner persönlichen Geschichte, samt meinen durchlittenen Qualen; zudem wußte er, daß ich bis anhin mit keiner Frau zusammengelegen: man mußte also bloß eins und eins zusammenzählen – abgesehen davon habe ich ihm, als ich mich wieder gefangen hatte, dazu die Deutung gleich selbst an die Hand gegeben, wodurch das Mißtrauen ausgeräumt werden konnte, und ihm sein Ehrenwort abgefodert, diesbezüglich Stillschweigen zu bewahren; dies Bekenntnis sei hiemit in der alleinigen, stillen Hoffnung diesem schweigenden weißen Bogen beigebracht, demjenigen ungenannt leidenden Einzelnen, welcher es vielleicht dereinst lesen wird – wofern ich mich nicht dazu entscheiden werde, alles zu verbrennen, was mir unter die Finger kömmt –, eine Idee und Hülfestellung in seine Seele zu legen: sonach wäre es kein Zufall, wenn er dies läse und begriffe; wie es in der Folge kein Zufall wäre, würde er den Pfad zur Erlösung aus dem labyrinthischen Ungemach finden – vielleicht vermittelst einer der hier aufgeschnappten Anregungen, die meines Wesens Urgrund entquellen. Das Leben ist tief – und keine gute Tat ist vergebens!
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Wem dies alles hinreichend fremd erscheinen mag, zitiere ich zum bessern Verständnis die Eingangsverse Ovids zu seinen staunenswerten «Metamorphosen»: ich selbst bin mir und der Welt ohnehin ein unermüdlicher Geist der Verwandlung, ein wechselgestaltiger Proteus – «Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt, Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeit gelangen!» Dergestalt künde und singe auch ich in Leben und Werk die ewigen Übergänge von Handlung und Wandlung: zwischen je zwei scheinbaren Abgründen – der Unsterblichkeit und Endlichkeit – auf dem schmalen Pfade meines Seins einherschreitend! – Sehr kurz weilte ich im Arkadien der Dichter und glücklichen Menschen; allzu eilfertig ward ich aber wiederum ins reale Leben, beziehungsweise in dasjenige Leben, welches die meisten Menschen als Realität bezeichnen, zurückentführet. – Ich kann nicht leben und kann nicht sterben: ich wandle nicht einfach zwischen zwei Welten – ich wandle im Nirgendwo, das gleichzeitig allerorten sich befindet. Was ist wahr? Wo bin ich? Wer bin ich? Solange ich dies nicht weiß, werde ich wie Proteus sein: nicht zu haschen, und muß mich ununterbrochen verwandeln, bis ich alle Formen durchlebt. Ich leide am Namenlosen, und das läßt es unmöglich erscheinen, ein Gegengift zu finden; selbst der göttliche Chiron sieht sich am Ende seiner Weisheit: das Namenlose zu heilen, gäbe es kein faßliches Mittel, wie mir die Seele kündet. Es bleibt mir nichts anderes, als mich in die Arbeit zu stürzen. Sollte der Verstand nicht zuvor seinen Geist aufgeben, werde ich entweder ans Ziel gelangen oder aber in den ewig wogenden Fluten untergehen. Bevor ich aber den Verstand verlieren sollte, gebe ich mir selbst den Tod … – das gelobe ich!
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Das einzige, was ihm in Beständigkeit treu bleibe, sei seine Unbeständigkeit – dies scheint mir die Gottheit verfügt zu haben, die mich Absonderlichen schuf. – Nicht lange hielt es mich in Thun mehr. Pfuel und ich trafen (ein Zufall?) auf die Werdecks, ein befreundetes Ehepaar aus der Potsdamer Zeit, im Gasthof zu Bern, den ich oft frequentierte; es befand sich auf der Reise nach Italien und Frankreich. Spontan schlossen wir uns ihnen an, querten zu viert den Gotthard und statteten in Como dem Maler Lohse einen Besuch ab. Die an sich wunderschöne Reise war mir nichts mehr als eine oberflächliche Zerstreuung, ein samtener Balm auf die Wunden, und die ganze Reisegesellschaft gebärdete sich heiter und gelöst: nur mir war das Herz vom Grame zernagt: – ich fühlte meine wachsende Unvermögenheit, dem großen Entwurf, den ich mit meinem «Guiskard» unternahm, gerecht werden zu können. Je beharrlicher, verbissener ich daran arbeitete, desto hartnäckiger widerstand mir der Stoff, dergestalt, daß mir selbst der Gedanke in der Auseinandersetzung einfror; es ward mehr als eine Qual: ich fühlte mich zu Tode erschöpft und vollends abgestumpft, so daß ich Pfuel den halb ernsthaften, halb launigen Vorschlag unterbreitete, wir sollten doch zusammen in den Tod gehen … In den Anfängen war meine krankhafte Leidenschaft, sterben zu wollen, nichts mehr als eine alberne Grille, eine reine Exaltation, die allerdings, je älter ich wurde, eine echte, unzimperliche Form des gereiften Willens annahm. Zum genannten Zeitpunkt war es (noch) ein jäher Hilfeschrei, und der tapfere Ernst reagierte darauf einzig richtig, indem er die Anfälle mit viel gutmütigem Witz abtat, was mich im Gegenzuge zum Lachen brachte – nun, guten Humor verstand und schätzte ich alleweil. – Erst deutlich später wurde mir der Tod zum Symbol und einsilbigen Bilde der Vereinigung mit meiner «schaumgeborenen Venus» auf einer weit höheren Ebene, in welchem Schoß ich all meine Leiden ausgestanden dachte; da ich ohnehin sonder Liebe lebte, was ja bereits hier und jetzt der Tod ist: was könnte mir der wahre Tod noch anhaben? Dort, im fernen unbekannten Lande, erhoffte ich all die Liebe und Sehnsüchte erfüllt zu sehen, nach denen ich bis zum heutigen Tage vergeblich strebte, mich abmühte; mein ganzes dorniges Leben hindurch war ich einsam – einsam: deswegen suchte ich unablässig eine zweite
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Person, die mich begleiten sollte in dieses andre Land: einerlei ob Mann, ob Frau – das sind Masken: erst die göttliche Verwandlung läßt uns das wahrhaftige Wesen erkennen und lieben – ich ersehnte eine höhere, eine mystische Verschmelzung der Seelen in eins, was jenseits der polaren Kategorien statthaben dürfte. – Was also ist Illusion, was Wahrheit? In Mailand verabschiedeten wir uns von Lohse; ein wenig später trennten sich dann unsere Wege: während Pfuel und ich die Rückreise über Thun, Bern und das Waadtland nach Genf angingen, tat sich das Ehepaar Werdeck weiter in Italien um. – Von der Schweiz aus sandte ich einen Bittbrief an Ulriken, in dem ich sie nochmals um finanzielle Unterstützung angehen mußte; gleichzeitig gab ich ihr mein Scheitern am Guiskard bekannt: ich war völlig verzweifelt, verstockt und ausgezehrt an Leib und Seele; mein Kampf mit der idealen Gestalt war aussichtslos geworden – mein Selbstvertrauen am Boden unabänderlich zerschmettert; mein Augentrost, der Stern am Firmament, verloschen: ich hatte vor der Welt: – versagt!, vor mir: – versagt!, vor dem gesamten Schöpfungskreis: – versagt! Mitte Oktober 1803 betraten wir Paris, wo uns die Lebenslinien wieder mit den Werdecks zusammenführten. Ich war kraftlos und zu allem bereit: so nahm ich etwa den Gedanken, den ich nach der Abreise vom alten Wieland in Erwägung zog, wieder auf – nämlich irgendeinen bürgerlichen Beruf, abseits aller innerer Bestimmung und Sehnsucht, zu ergreifen: dumpf dahinleben, Ruhe finden, alles vergessen – nur einen Tropfen aus Lethes Flusse meßt mir zu, ihr gütigen Götter! Weshalb laßt ihr mich fortwährend leiden, stumpfsinnig in mich selbst hineingeworfen? – Ich «unaussprechlicher Mensch», wie mich Luise Wieland und Caroline von Schlieben nannten: ich bin mir selbsten unaussprechlich – laßt mich schlafen, schlafen … Ich hatte in alle meine Motive, in Ursache und Wirkung vollständig die Einsicht und den Überblick verloren; ich fühlte mich wie ein Blatt im Sturme: nirgends beheimatet, ungeliebt, unverstanden, einsam! Daß mich das Blitzelement auf der Stelle zerkeilen wollte! Ich war krank und müde – zum ewigen Tode müde … In
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dieser erschröcklichen Mißstimmung hatte ich mich zudem noch mit dem guten Ernst in Paris zerstritten; es ist wohl sehr schwierig, mit einem Menschen wie mir auszukommen; vor lauter Verdruß warf ich mein großes Werk, an dem ich mir sämtliche Zähne ausgebissen hatte, in den Kamin: ich wollte nichts mehr mit alldem zu tun haben. Mein grimmes Schicksal ließ mich vor meiner Zukunft erbleichen: wohin sollte ich mich wenden? was unternehmen? worin lag mein Heil begründet? – In zunehmend kürzeren Wechseln überreichten sich tiefste Verzweifelung und holdseliger Größenwahn – wie mir mitunter von etwelcher (neidischer?) Seite vorgeworfen wird: ich denke, der Ausdruck «übersteigertes Selbstbild» träfe den Sachverhalt weit eher – die Stafetten. Neuerlich piesackte ich Pfuel mit meinen Todesphantasien; selbst einem solchermaßen ruhigen und gesetzten Menschen, wie es Ernst ist, mußte mal der Kragen platzen, was ich erst später nachvollziehen konnte, nicht aber in der unmittelbaren Situation, in der ich mich weithin außer Rand und Band bewegte. Seine Witze waren nicht mehr zum Lachen – ich hielt ihm einen Spiegel vor, worüber seine unerschütterliche Ruhe versagte und er in Aufruhr geriet: ein Wort gab das andre, wie es oftmals ist! Ich sah mich zutiefst getroffen, schäumte und enteilte dem Zimmer unter tosendem Gewitter; ich vermute, die hölzerne Tür riß in ihren Scharnieren: dergestalt warf ich sie mit unbotmäßiger Wucht in ihre Angeln. Ich kehrte nicht wieder. In mir reifte während meinem Pilgern durch Frankreich der Gedanke, mich in den Dienst Napoleons zu stellen, um den ruhmvollen Tod der Schlachten zu sterben: ehrengesalbt, erhaben! Ich aß während der Zeit nicht viel, war in mich versunken, nahm die Umwelt lediglich durch einen dumpfen, schweren Schleier wahr. Napoleon hob ein Heer aus, welches nach England überschiffen sollte, was mir gerade recht kam. Ich begab mich von St. Omer nach der Küste von Boulogne – wie in Trance oder unter Drogen stehend, setzte ich meinen entkernten Körper in Bewegung, kaum Schmerz empfindend, die Seele völlig taub: es war ein Albtraum ohne Ende! Vor dem inneren Auge sah ich mich nur noch irgendwo auf einem Schlachtfelde stilvoll fallen: einige Feinde mit in den Tod reißend, wenigstens nicht alleine. – Wie die Wochen, Tage und Stunden vergingen, was ich tat oder sprach, davon kann ich keine Kunde mehr
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geben: dies alles ist für immer wie in einen dichten Nebel gehüllt – krude und ohne Konturen, ein einziger Brei von irgendwelchen blind ausgeführten Handlungen, eingegeben von einer noch einigermaßen funktionierenden, übergeordneten Institution: nämlich meinem Geiste, der irgendwie über dem ganzen Geschehen, teilnahmslos beobachtend, zu schweben schien. – Der Wunsch nach dem Tode nahm erstmals ernsthafte und wohldefinierte Züge an; dennoch war mein Geist noch nicht bereit, die notwendigen letzten Konsequenzen daraus zu ziehen; dem Leidensdruck konnte das lecke Gefäß – trotz allem – noch knapp standhalten, selbst wenn die ersten deutlichen Risse im Granit für alle sichtbar wurden. – Urplötzlich überfielen mich zermalmende Kopfschmerzen, derart heftige, daß ich in purer Raserei den Kopf mehrmals gegen eine Mauer schlug, die ich blutbeschmiert hinterließ: ja solche Kopfschmerzen, daß mir selbst ein Gedanke wehe tat! Ich legte mich außerhalb irgendeiner Stadt unter einem Baume nieder, wo ich wohl mehr als einen Tag verschlief. Das ganze Martyrium dauerte bis kurz vor Boulogne-sur-Mer, wo mir langsam das Haupt wieder etwas klarer wurde. Wie von einem bösen (oder guten? – ich weiß es nicht) Schicksal befohlen, traf ich nahe Boulogne auf einen französischen Bekannten, einen Regimentsarzt; er frug mich nach meinem Reisepaß; ich trug natürlich keinen bei mir, worauf er ausrief: ob ich noch bei Sinnen wäre; erst kürzlich habe man einen deutschen Adligen, welcher für einen russischen Spion gehalten worden sei, schnurstracks füsiliert. Ja, ich suchte den Tod – aber keinen solchen, derart unehrenhaften, schimpflichen, obskuren. Unter seinem Schutze folgte ich ihm wiederum nach Paris zurück. Die Eingebung, nach England anzuheuern, wollte ich vorerst aber nicht fahrenlassen, weswegen ich kurzerhand in einem Billet bei den entsprechenden Amtsstellen um einen französischen Paß nachsuchte. – Lucchesini, der preußische Gesandte in Frankreich, war bereits von Pfuel und den Werdecks, die mich, angsterfüllt umgetrieben, überall suchten, instruiert: entgegen meinem Wunsche besorgte er einen Paß zwecks Rückreise nach Potsdam; augenscheinlich hatten ihn meine Freunde mit Erfolg davon überzeugt, daß ich nicht ganz bei Trost
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sei. Als ich den Reisepaß in Händen hielt, sank ich zusammen: ich erachtete dies als einen Wink des Schicksals: es ward mir der Heldentod verwehrt! Der rauhe Pfad meines Lebens sollte noch nicht unterbrochen werden: es würde weitergehen – aber wie? Einerseits neugierig und gespannt, andererseits seelisch und körperlich geschwächt, kam ich diesem Wunsche nach – zwar bloß halb und halb genesen von meinen unheimlichen Kopfschmerzen wie sonstigen Übelständen, aber immerhin wurde mir mein Verstand allmählich wieder verfügbar. Eines jedoch war gewiß: Ich hatte allerwärts vor meiner Reise die größten Erwartungen geschürt und diese tüchtig genährt: sowohl bei der Familie als auch bei sämtlichen Verwandten und Bekannten – und käme jetzo als Verlierer und totaler Versager in das Heimatland zurück. Als eine angenehme Mission kann man dies beileibe nicht bezeichnen. – In Mainz schließlich wurde mir schwarz vor Augen; ich konnte nicht mehr und brach körperlich zusammen …
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Unterstützung und Hülfe fand ich bei einem guten Bekannten des alten Wieland: Dr. Freiherr Georg von Wedekind, Arzt in Mainz. Wir schlossen schnell Freundschaft, und er bat mich, in seinem Hause zu logieren, wodurch er sich nebenbei in den günstigen Umstand versetzt sehe, eine eindeutige Diagnose meiner Leiden zu erstellen: die Aufkunft meiner Gebresten war physisch einfach nicht festzunageln, geschweige denn zu durchschauen, obgleich deren wirktätige Hartnäckigkeiten durchaus für jeden vernehmlich zutage traten. Er folgerte – sicherlich zu Recht, wie mir scheint –, daß die Ursachen hauptsächlich seelischer Natur wären: gründend in den übermäßigen Verspannungen meiner eigentümlich konstruierten Wesenheit. Er meinte zudem, ich müsse das Grundübel beseitigen, wodurch mit einem Schlage alle Unpäßlichkeiten behoben wären: wie im Märchen vom tapferen Schneiderlein – sieben auf einen Streich!, und dazu müsse ich in die unergründlichen Schächte meiner Seele hinabsteigen, um den schwärenden Eiterherd aus-
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zuspähen, und ihn gezielt ausräumen, desinfizieren: ähnlich wie bei einer drastischen Wurzelbehandelung, welche, unverarztet, ansonsten die Knochenstruktur tödlich angriffe. Täte ich dies nicht, oder verfehlte ich den Herd, so zerfresse der Brand nicht alleine den Körper, sondern auch die Seele. Kurz und gut: die Arznei, die ich herschaffen müsse, liege in mir selbst! Je nun: eigentlich wußte ich dies schon lange – Dr. Wedekind bestätigte mich bloß in meiner Erkenntnis. – Fünf Monate verblieb ich bei Wedekind, welche mir in jeglicher Beziehung sehr erholsam waren; mein gänzliches bisheriges Aufbegehren war gegen das widerliche Schicksal gerichtet: nochmals erwog ich den seit langem gehegten Gedanken, mich ins bürgerlich-handwerkliche Fach zu begeben: in Koblenz, so nahm ich mir vor, wollte ich mich bei einem Tischler verdingen; allein, der ernstliche Gedanke daran erfaßte meine Körperfasern, ja sämtliche Spannadern derart vehement, daß ich zu zittern anfing und Fieberschübe in Wellen über mich hereinzogen. – Wedekind gab zweifellos sein Bestes: aber mir ist einfach nicht zu helfen – sollte ich mich nicht selbst erretten können, dann vermag es niemand: außer vielleicht die schneeweiße Fee meiner namenlosen Sehnsucht; doch dies ist nichts mehr als ein eitel Schemen, ein Schattenriß meiner selbst – kein Mensch, kein Wesen dieser Welt! Einzig dies ist gewiß: ich muß tätig sein – das tumbe Herumhokken und Nichtstun triebe mich in den Wahnsinn; dazu der gähnende, materielle Abgrund – wenn mir nicht ständig von irgendwoher, meist von Ulriken oder mir zufällig über den Weg laufenden Gönnern, Geld zuflösse, wäre ich bereits Hungers gestorben; die nackte Not plättete mich zu Staube – gleichviel, dies alles ist weit mehr als bloß demütigend; ich komme mir vor wie ein gediegener Bettler: ein Stück Abschaum, ein Schmarotzer. – Ich muß tragfähige Kompromisse finden!, aber sämtliche Haare sträuben sich mir, ich widerborste mir selbst: nunmehr allerdings bin ich schlicht dazu gezwungen – völlig mittellos, ohne irgendwelche Meriten, als völliger Versager dastehend, aller Möglichkeiten, ein würdiges Auskommen zu finden, beraubt! Ich war bereit, das Caudinische Joch zu nehmen; bereit, mich den verhaßten Konventionen zu beugen … – daß es soweit kommen mußte! Was habe ich nur falsch getan?
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Ein wichtiges Resultat aus jenen Tagen ist etwa derart zu umschreiben: einmal mehr entging ich dem unheimlich klaffenden Abgrunde; ich entfernte mich von diesem um einige wenige Fuß, was schon reichlich ist! Ich konnte und wollte mich mit den inneren und äußeren Zuständen nicht abfinden, obgleich ich es hätte tun müssen! Nein – aber es gelang mir nach und nach, mehr Gelassenheit zu gewinnen, ein wenig ruhiger zu werden; hierin ward mir mein Freund Pfuel das gleißende Vorbild: ich lernte, mit den Unwägbarkeiten, Unberechenbarkeiten sowie den Unbilden des täglichen Lebens besser, ja gescheiter umzugehen! Meine Ideale bröckelten zwar in ihrer äußeren Einrichtung, keinesfalls aber im Kern selbst: sie konnte ich mir bewahren sowie heil erhalten – die resultierende Asymmetrie suchte ich durch meine Werke wieder auszugleichen, was auf Zeit gelang: aber diese Zeit war knapp bemessen … Während des Aufenthaltes beim ehemaligen Jakobiner Wedekind kam ich unter anderem durch dessen huldreiche Vermittelung in den Genuß, mich zeitweilig innerhalb der revolutionär orientierten Pariser Geheimversammlungen zu bewegen, welche – zusamt meinen früheren Erlebnissen in den adligen Potsdamer sowie den bürgerlichen Berliner Kreisen – langsam, aber sicher mein Interesse an der Politik mehrten. Es handelte sich überwiegend um Leute aus dem gemäßigten bis extremen linken Spektrum: veritable Gegner jedenfalls von Napoleon! Es liegt nahe – diese Treffen waren nicht unbedingt ungefährlich. (Wie ich zu Napoleon stand? ich bezeichnete mich bereits in jungen Jahren als einen inkarnierten Widerspruch des unbegriffnen, höchsten Geistes: einfach, ich liebte ihn, gleichviel ich ihn haßte. Was ich nicht leiden kann, ist das Laue, Unbestimmte, Ausweichende – entweder so oder anders!, das gehet in Ordnung; auch mich selbst kann man gerne hassen oder lieben: suspekt ist mir einzig, keine eigne, festsitzende Meinung zu haben; solche Menschen sind entweder schimpfliche Heuchler, leidige Opportunisten, Angsthasen oder sonstwelch geistige Impotenzler.) – Es eröffnete sich mir die vorderhand vage Möglichkeit, in französischen Verwaltungsdiensten, unter dem Reformbeamten Charles Masson, dem Generalsekretär des Präfekten des Départements Rhin-et-Moselle zu Koblenz, der mit Wedekind in Verbin-
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dung stand, einen Steigbügel für mein materielles Fortkommen zugeschanzt zu erhalten; gleichermaßen rasch verloren sich die Voraussetzungen aber im Sand: schuld daran waren einmal mehr die politischen Verhältnisse, welche nach dem Willen und Expansionsstreben Napoleons ausgerichtet waren, das heißt: Bonaparte war daran, ausgediente Einrichtungen hinwegzufegen, an deren Stelle neue zu installieren und nebenher seine inneren – tatsächlichen wie vermuteten – Feinde, soweit als nötig, auszuschalten! Oder anders: Alles befand sich in einem existentiellen, weitreichenden Umbruch: ob politisch, gesellschaftlich, kulturell. Und kurz darauf, im Mai 1804, salbte sich der Allerwelts-Konsul selbst zum Kaiser: ich war derweil auf dem Rückzuge nach meiner Heimat. – Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Franzosen sich die linksrheinischen Gebiete und die Schweiz voll und ganz einverleiben würden. Selbstredend war ich zu einem Bruch aller Traditionen bereit: im Notfall mit meiner Familie, mit Verwandten und Bekannten, sogar mit Preußen; nie und nimmer aber wollte ich den Teufel mit dem Beelzebub vertauschen: ich wollte frei sein – hätten mir die Franzosen diese Freiheit geboten, wäre ich in deren Dienste getreten! Doch unter diesen Umständen ist Blut dicker, wie man sagt, als Wasser. Ich kehrte dahin zurück, wo man mich, unter den größten Vorbehalten, wieder aufnahm und wie einen Aussätzigen unter strengster Beobachtung hielt. – Meine Familie diktierte nunmehr die Bedingungen, und die waren hart: doppelt hart für einen mittlerweile verarmten Idealisten und Schriftsteller, einen gescheiterten Freidenker und der Freiheit Verbundenen! Ich, das schwarze Schaf der Kleists, fand mich mit gebeugtem Haupte, völlig zerknirscht, im Familiensitz zu Frankfurt wieder ein; dennoch – sie konnten mich nicht einfach wie eine heiße Kartoffel fallen lassen – selbst wenn sie es gerne getan hätten, was ich spürte. Insofern hat die Tradition wieder etwas Gutes. Aber man zwang mich, meine Schriftstellerei aufzugeben und ein Gnadengesuch an den König zu stellen; im übrigen hätte ich mich unverzüglich um eine Anstellung im Staatsdienste Preußens anheischig zu machen: man gestand mir ein mageres Überbrückungsgeld zu, setzte fünfundzwanzig
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Reichstaler im Monat auf drei Jahre aus (lächerlich!): Widerrede ausgeschlossen, ansonsten sollte ich mich gefälligst ins Land des Pfeffers und der Nelken aufmachen. Dies war der Stand der Dinge. – Allerdings haben die guten Leute nie bedacht: diejenige Schlange, die sterben wird, hat bekanntlich den festesten, gefährlichsten Biß. Und an einer grundsätzlichen Festigkeit des Bisses an sich, bereits in gesundem Zustande, hat es mir nie gemangelt! Also, habet acht! Es ist überhaupt in höchstem Grade wunderlich, wie sich stets von neuem, in allen erdenklichen Zwangslagen, mein gebeuteltes Gemüt darauf versteht, sich auf des Adlers Fittichen in außergewöhnliche Höhen aufzuschwingen, um gerade dann das Erstaunlichste hervorzubringen; je schlimmer die Lage, desto höher der Flug: dies scheint ein mir eingeschriebenes Gesetz zu sein – doch was ist, wenn alle Grenzen irgendwann gesprengt sein werden? Schließlich ziehet selbst der stärkste Aar seine Bahnen notwendig innerhalb des festgefügten Erdkreises; keiner durchbricht das Firmament, keiner den ihm natürlich vorgegebenen Rahmen! Was, so frage ich, wird nachmalig meiner harren? Was wird sein, wenn ich die Grenzen übertreten haben werde? Bevor ich mich aber bei meiner Familie in Frankfurt einfand, ging ich über Potsdam, um Ernst von Pfuel einen Besuch abzustatten: dieser staunte nicht schlecht und war wie vom Schlage gerührt; er vermeinte, nicht als einziger, ich sei entweder verschollen oder tot. Ernst umarmte mich warm und vergab mir meine unappetitlich servierten Pariser Desserts: die frühere Freundschaft ward erneuert, was mich sehr glücklich machte, hatte ich doch nimmer im Sinne, meinen lieben Freund zu verletzen. Er wußte: in meinem Leben kommen mittlere Stimmungslagen kaum oder höchstens spärlich vor; eine Aura des Normalen ist mir gänzlich fremd; mein Leben ist getaucht in ein Anderes, Äußerstes, Ungewöhnliches (und genau dieses markiert sich in meinen Werken ganz vortrefflich). Das Dazwischen sind lediglich Verlaufsformen, Schattenrisse, welche abwechslungsweise auf ein Hoch oder Tief hinreichen – insofern bin ich sicherlich nicht als «gewöhnlich» zu bezeigen, was mir und meinen Freunden durchaus bewußt ist; aber pathologisch abnorm bin ich ebensowenig, wenngleich die Grenzen mitunter ineinanderfließend sein mögen. All diese Ausreißer
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meines Schicksals sind nichts mehr, nichts weniger als Marksteine, welche mir die Grenzen abstecken! – Als ich wieder in Preußen ankam, deucht‘ es mir, als wäre ich um Jahre zurückgeworfen in meinen Bemühungen wie in der Erreichung meiner Ziele, meines Wollens: ich sei wenigstens ein bißchen sanftmütiger geworden, wie jedenfalls Ulrike heiter ausposaunte: schön, daß sie dies dachte – verkennend, daß sich meine Botmäßigkeit aus reinem Kalkül ableitete: was bliebe mir sonst übrig? Die Menschen sind oft so leicht zu durchschauen, so leicht zu berechnen. Eines schälte sich mir auf diesen Wanderschaften ganz deutlich und bleibend heraus: Je tiefgreifender ich mir während der vorhergegangenen Abenteuer meines Künstlertums bewußt wurde, desto schwieriger gestaltete sich meine Lage – gerade auch vor mir selbst; denn wie sehr ich mich bisher um eine normale Existenz bemühte, wie sehr ich mir aufzwang, ein Amt zu nehmen, desto abscheulicher wurden mir diese abgefeimten Bemühungen mit steigendem Bewußtsein: bloß um anderen zu gehorchen – dem Staat, meiner Familie, irgendwelchen Traditionen, Konventionen etc. – diese nutzlosen Aufwendungen wider mein Wesen, wider meine Bestimmung? Sollte dies das sinnerfüllte Leben sein, nach dem man sich sehnt? Meiner innersten Sehnsucht bin ich weder durch aufklärerische Vernünftelei und Wissenschaften noch durch Anstrengungen anderer Qualität bislang nahegekommen; das heißt keinesfalls, daß etwa die Vernunft verworfen werden soll – im Gegenteil! Es heißt lediglich, daß die zur Verfügung stehenden Mittel unablässig modifiziert werden müssen: die Nagelprobe haben diese quasi ununterbrochen frisch zu schmiedenden Instrumente im Endeffekt vor nichts anderem als vor der letzten Instanz selbst, nämlich dem Sein – dem reinen und absoluten Sein – zu bestehen! Dahinzielend muß ich mir zwangsläufig selbst Amboß und Hammer sein, muß mich schmieden und vom Schicksal schmieden lassen; und dieser Vorgang ist oftmals ein Prozeß des Leidens und Schmerzes – wenngleich zu bemerken ist: ich bin bestimmt kein sich selbst seelisch oder sonstwie (aus lauter Freude an der Qual!) Mißhandelnder, und erst recht kein Christ oder Papist. Ich mag zwar durchaus selbst-
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zerfleischend veranlagt sein: doch dies ist was gänzlich anderes, zumal es mit Lust und Freude nichts zu tun hat, sondern nur mit dem Ziel! – Aus all meinem Erleben, all meiner Erfahrung folgt, daß Jenseits und Diesseits in Wahrheit eine in sich verwobene Einheit darstellen, welche wir mit unsern verengten Sinnen nicht zu durchdringen, geschweige denn zu erkennen vermögen; es folgt, daß beide dergestalt ineinander verschmolzen sind wie Kopf und Zahl derselben Münze, und die meisten der Zeitgenossen bewegen sich lediglich auf einer Seite, welche sie Diesseits heißen; ich dagegen quere deren Rand! Weiter – daß wir uns somit ständig im Paradiese befinden: darin müssen notwendig Raum und Zeit, Diesseits und Jenseits, Vergangenheit und Zukunft, Ewiges und Endliches aufgehoben sein – am besten bezeichnet man es vielleicht als das «Namenlose»! Offenbar liegt die wahre Erkenntnis dieser scheinbaren Diskrepanz von individuell erlebter Realität zur Ganzheit im Schoße der Entwickelung eines herangereiften seelischen Bewußtseins: es handelt sich letztlich um eine Frage der richtigen Wahrnehmung in Geist und Seele. Diese wiederum kann abstrakt nachvollzogen werden – wie es beispielsweise die Philosophen, so vor allem Kant, vorleben – oder aber dadurch, daß man das Leben ganz durchdringet, erfährt, durchknetet: handfest und mit Leidenschaft! Das Gescheiteste dürfte eine alsgleich tragfähige wie lebenstüchtige Verbindung der beiden Zugehensweisen sein! Sie ist mir, wohl aufgrund meiner zyklopischen Einseitigkeit, nicht gelungen … Ich entschied mich – vielleicht weil die Zeit, meine Zeit, noch nicht reif war – für das qual- und saftvolle, fleischliche Durchleben der Dinge; für ruhige Reflexionen war ich zu gehetzt von meinen Furien, die mich mit äußerster Gewalt vor sich hertrieben und auf kürzestmöglicher Wegstrecke einem seit Anbeginn bereiteten Ziele zuführten: mit dem feurigen Stachel kalter Begierde! – Wer weiß denn schon mit Sicherheit zu künden, was einem das Schicksal will?
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VI. Berlin – Königsberg und französische Gefangenschaft Um mein Versprechen einzulösen – vor allem gegen Ulriken, der ich soviel an Dank schulde: besonders betreffs ihrer stets großzügigen finanziellen Unterstützung –, ging ich nach Berlin, wo ich versuchte, ein Amt im Zivildienst zu nehmen. Dazu hatte ich mich vorab nach Charlottenburg ins königliche Palais zu verfügen: ich sprach bei des Königs Flügeladjutanten, Karl Leopold von Köckeritz, vor. Lieber hätte ich eine Flasche Rizinus geschluckt, aber ich mußte durch, ob gehauen oder gestochen … – Der untersetzte, feiste, aber ansonsten gutartige Köckeritz berief sich auf den Bericht Lucchesinis, der von meinem angeschlagenen Zustande sprach – und davon, wie ich in Napoleons Armee anzuheuern gewillt gewesen war, was eindeutig wider den Revers stand, welchen ich beim Austritt aus dem preußischen Militärverband gezeichnet hatte. Verständlich, daß sich der gesamte Hof entsprechend verstimmt zeigte; gemindert wurde dies etwas durch die Tatsache meiner Krankheit, die jedem gewärtig wurde, der mit mir sprach – so auch dem kugelfischigen Flügeladjutanten; ich versicherte allerdings, daß ich, soweit nötig, genesen sei, und einer zivildienstlichen Tätigkeit nichts im Wege stehe. General Köckeritz grunzte unwillig: ich solle keine allzu großen Hoffnungen auf des Königs erbetene Gunst mehr verschwenden; was könne einem Manne, der in fremden Diensten zu dingen gewillt gewesen sei, daran liegen, in die holden Arme des Vaterlandes zurückzustürzen? Er beäugte mich kritisch aus allen Winkeln und frug ungläubig nach, ob ich denn wirklich wiederhergestellt wäre? Als er sich zudem über meine schriftstellerischen Anstrengungen – mehr unwillkürlich denn böswillig treffend – lächerlich gemacht hatte, schossen mir die unter heroischen Mühen zurückgehaltenen Zähren in die abgehärmten Wangen; ich bekundete nachdrücklich, daß ich für diese Taten nicht politisch motiviert war und es unmenschlich wäre, mich für diese Handlungen verantwortlich zu stempeln, da ich in derart unerträglicher
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Not mich befand – Hunger und Durst leidend –, wobei ich schlicht, kaum wirklich bei Sinnen! ums nackte Überleben kämpfte – und auch daß ich keinesfalls durch irgendwelche unbillige oder gar verwerfliche Handlungsweisen Schande über mein geliebtes Vaterland hätte bringen wollen: – und was dergleichen mehr ist. – Augenscheinlich hatte meine seelische Aufwallung den guten Mann getroffen, also hat er doch ein Herz!, und die Finsternisse seiner Mienen lichteten sich ein wenig; das Antlitz wurde im Laufe unserer Unterhandlung heiterer: er gestand des Königs vorgefaßte Meinung wider mich, und ich sollte im übrigen bei der zu verfassenden Bittschrift an ihn darum nachsuchen, daß ich im Falle eines Falles mein Glück im Ausland finden dürfte. – Alsdann überkam‘s mich patriotischer Weis‘: nein! und nochmals nein! dem Vaterlande will ich dienen, sonst niemandem. Mit einigem Glück überzeugte diese durchaus ehrliche, spontane Aufwallung meiner Gemütskräfte den Köckeritz, es schien sein Herz berühret; er versprach mir, soweit es an ihm gelegen, sich für mich vor dem Könige zu verwenden. Schließlich galt‘s um nichts weniger als einen möglichen Hochverratsprozeß abzuwenden; nun, man mag mich vielerlei schelten und zeihen – doch ein Verräter bin ich mitnichten! – Am Ende der Unterredung entschuldigte sich Köckeritz sogar bei mir in einer warmen Stimmungslage – jetzo war ich überzeugt, daß ich ihn im Innersten erreicht hatte: sollte er unwissentlich Beleidigungen ausgesprochen haben, so bitte er mich um Nachsicht und Verzeihung, verrichte er doch eine unliebsame Arbeit, durch welche er es ohnehin keinem Menschen recht machen könne etc. Ich hinwiederum bezeugte meine Hochachtung, und ein wenig verstört ging ich ab. – Wie ich diese Liebedienerei hasse! Ich liebe Preußen, ich liebe die Menschen – und ich hasse sie: wieso diese immerwährenden Maskeraden, diese Verstellungen, dies Gekünstelte? Wieso können wir nicht einfach und gerade auf das Ziel zugehen: aufrichtig, ehrlich, würdig!? Statt dessen kujonieren sich die Menschen wie die Ratten untereinander: plagen, beißen, voltigieren – ein reiner Ausbund von Arg und Falsch; worin bloß soll sich im Verhalten der Mensch vom Tiere unterscheiden, wenn das Bewußtsein um Würde, Anstand, Reinheit, Aufrichtigkeit – und was der Tugenden mehr sein mögen – so schmählich auf der Strecke bleibet? Ehrlichkeit wird
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als Dummheit ausgelegt, Geradheit für Rücksichtslosigkeit genommen, Einfachheit mit mangelnder Bildung gleichgesetzt – nur der das gefragte Rollenspiel am besten beherrscht, kömmt voran und macht Karriere; schnöder Zeitgeist, du kannst mich mal: in den Staub mit allen Feinden des Schönen und Wahren! Ich werde in meinen Schicksalsstapfen fortschreiten; dazu bin ich allerdings genötigt, einige tragfähige Kompromisse auszuloten – aber ich werde meinem Innersten treu bleiben: komme, was wolle! Es muß sein – so ist‘s denn abgetan mit meinem Gewissen! Ich schrieb dem König in vorzüglich gesetzten Worten, meine Lage erklärend, und bot ihm und dem preußischen Staate meine Dienste an. Ich lerne glücklicherweise schnell: ausgediente Partikel meines allzuweit hinreichenden Idealismus wurden flugs durch die Versatzstücke eines reinen Pragmatismus ersetzt: eine Mischung jedenfalls, die mich auf meinem Pfade ein gutes Stück voranführen wird. – Ob der groben Masse meiner Übertretungen war es angesagt, zuzeiten den zähneklappernd Verdrossenen zu mimen; gleichzeitig hielt ich die Augen offen, damit mir nicht entgehe, falls sich ein irgendwie gearteter Ausweg weisen würde. – Ich drohte in eine lebensfeindliche Abhängigkeit zu geraten: so galt es zunächst, Zeit zu gewinnen. Von mir wird also verlangt, ja – ich werde de facto genötigt, eine Rolle zu spielen: je nun! – die Bühne ist gerichtet; solange ich muß, spiele ich das Theater mit; mögen es die Götter richten, daß es nicht dauert. Die restlichen kargen Bröckchen an Vertrauen, die ich gegen die Welt hegte, wurden vollends durch die kühlen Winde des Lebens verweht! Ich gebe es unumwunden zu: man hätte sich das Leben weit einfacher gestalten können, wie es die meisten Menschen eben tun, ohne daß es ihnen an irgend etwas zu mangeln scheint; diese nahtlosen Allerwelts-Wege zu beschreiten wäre mir aber ein Verrat an der Wahrheit gewesen – und an meinem Wesensurgrund: selbst wenn mir dieser in weiten Teilen noch fremd sein mag. Allein, durch die bislang erfahrenen Widerstände werden mir die Dinge allmählich verständlicher … – Trotz alledem schmerzt es mich ins Mark, mich unablässig verstellen zu müssen, sogar gegen die engsten Freunde; von diesen kann ich nicht annehmen, daß sie mir etwa schlecht gesinnt wären – aber ich muß
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mit dummen Zufällen, unglücklichen Äußerungen, Mißverständnissen und sonstigen Verwirrungen rechnen, ja weitaus komplizierter: ich muß diese Unwägbarkeiten, gleich einem Mathematiker, mit in die gesamtheitlichen Wirkungsweisen einbeziehen und eine Vorausrechnung anstellen, in der Hoffnung, daß dergestalt, vielleicht vermittelst einer möglichst rechtzeitigen Manipulation, welche die Fehlerquellen auszugleichen hat, in der Folge das angestrebte Resultat erzielt wird! Mit anderen Worten: eine ungemein vertrackte und mühselige Angelegenheit, wofern man etwas Gutes erringen will; wenn der Stein hingegen unabwendbar! der schlechten Richtung zu rollt, ist sowieso alles verloren – in einem solchen Falle wäre höchstens die Taktik angezeigt, den Feind mit ins Grab zu reißen, was einfach zu tun wäre, indem man beliebige Wahrheiten mit Unwahrheiten als wie Teilwahrheiten geschickt und willkürlich vermischt, wodurch alles mitsammen in ein derartiges Chaos verfällt, daß niemand mehr irgendwem zu trauen vermag. Mir aber geht es um das Richtige, Wahre, Gute! – und aufgrund meiner eigenen wie auch der Kompliziertheit der Welt muß ich mich verstellen, Masken anziehen, unverhofft wie Zieten aus dem Busche preschen, Strategemata anwenden, berechnend in jeder Situation so geschmeidig als biegsam reagieren, wagemutige Halsen einleiten und was dergleichen Finten mehr sein mögen – dabei bleibt jederzeit die Gefahr erhalten, daß, sollte irgendeine Aussage oder Tat mit sich im Widerspruche stehen, ich der bösartigen Lügnerei, Unlauterkeit, Betrügerei etc. geziehen würde. Aber ich muß meinem Leitstern folgen: wenn mich die Menschen auch nicht verstehen mögen, so siehet mich wenigstens eine höhere Geistigkeit im rechten Lichte: das schöpferische Prinzip, das Namenlose! Einen Vorteil hat das Ganze: es macht mich tüchtiger – und es bietet eine vorzügliche Stoffülle für meine schriftstellerischen Erzeugnisse. – Gerade in dieser letzten Zeit äußerster Demütigungen, die ich listenreich zu parieren hatte, erhielt ich wunderbare Anleitungen, wie sich mein «Zerbrochener Krug» oder der «Amphitryon» in Gehalt und Tiefe verfeinern lassen.
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Während die elendigliche Antichambriererei kaum ein Ende nehmen wollte, fand ich erneut Zugang ins Hause Cohen wie ehedem, was mir eine dankbare Gelegenheit zur Zerstreuung bot; die jüdischen Salons sind meist liebreizend, gediegen und von auserlesener Bildungsbeflissenheit und somit den andern vorzuziehen; ich war in dieser meiner gedrückten Lage recht froh, wiederum in einer Gesellschaft von ähnlich Gesinnten zu verkehren: hier treffe ich auf einen kleinen Zirkel von Menschen verschiedenster Charaktere, aus den unterschiedlichsten Schichten: Gebildete aus Adel und Bürgertum finden sich zu oftmals interessanten Gesprächen zusammen. Vor allem die Weltliteratur bildet eines der Kernthemen des Kreises, besonders jene Spaniens und Frankreichs. Der Name dieser Gesellschaft: der «Nordsternbund». Ich lernte unter anderem Adelbert von Chamisso und Varnhagen von Ense kennen, aber auch Julius Hitzig, einen späteren Verleger, mit dem ich kurz zusammenarbeiten werde. In der Tat erhielt ich einige wichtige Anstöße und Anregungen bei diesen Treffen; ich fand ein Mindestmaß an belebender Liebenswürdigkeit, Aufgeschlossenheit sowie einen lockeren, kaum spießigen Umgang – was meint, daß mir die aufgesetzte Schauspielerei wenigstens nicht prompt ins Gesicht fiel und ich mir eine Illusion erhalten konnte, von der ich wußte, daß sie als Ideal zwar existiert, aber in dieser Welt kaum unmittelbar zu verwirklichen wäre. – Infolge all der unglücklichen und zersetzenden Erfahrungen schied ich die Welt des Innen und des Außen immer deutlicher voneinander ab und fing an, die persönlichen Ideale von der allgemeingültigen Realität nahezu vollständig zu separieren – ausgenommen vielleicht gewisse lebensnotwendige Aspekte, welche direkt auf das Alltägliche zielen –, was denn einige Kritiker in meinen Werken, oder überhaupt! bemängeln – was verständlich ist: die Wirkung davon muß zwangsläufig eine irritierende sein, unter Umständen gar eine verwirrende. – Gegenüber dem Zirkel hielt ich meine Ambitionen und die bereits ergangene Veröffentlichung der Schroffensteiner geheim, teils aus Scham, teils aus pragmatischen Gründen: es plagte mich nicht zuletzt, daß ich gedungen war, meinen Verkehr mit dem Nordsternbund möglichst zu verheimlichen, den mir meine Familie – die ach so liebe! – sehr übelgenommen hätte, hatte ich doch demütig Besserung
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versprochen. Die Familie legte mir außerdem unter erheblichem Nachdruck sowie unausgesprochenen Drohungen nahe, nebenher meine cameralistischen Studien zu vervollkommnen, und Ulrike schien sich – einerseits vielleicht aus Enttäuschung, andererseits unter der zunehmenden Pression der Familie – mir zu entfremden: ich spürte, wie wir uns allmählich voneinander entfernten. – Unglücklicherweise trieb es den Baumwollfabrikanten Cohen, den ich herzlich liebte, in den Bankerott: öffentlich gemacht gegen Ende Mai 1804; er entzog sich den Häschern, indem er nach Holland floh; damit zerschlug sich der Kreis, den ich sehr liebgewonnen hatte, um sich nachmalig in einem anderen Gefäß und in veränderter Form zu reorganisieren … Viele meiner Verwandten und Bekannten verzeichneten meine ihnen zu Gehör gekommenen Aktivitäten unter der Rubrik «Jugendverirrungen»; sie nahmen mir diese kaum übel, aber beäugten mich dennoch scheel aus dem Winkel eines nicht unbeträchtlichen Sicherheitsabstandes. – Meine wichtigste und liebste Gönnerin allerdings, Marie von Kleist, blieb mir bis zuletzt treu: es war zwischen uns eine tiefwurzelnde Seelenverwandtschaft vorhanden, die sich im Laufe der Zeit noch auswuchs. Maries ausgezeichnete Kontakte zum Hofe hatten mir in entscheidenden Momenten stets von neuem aus mißlichen Situationen geholfen. – Wiederum eröffneten sich mir unterdes neue Betätigungsfelder: Major Peter von Gualtieri, der Bruder meiner angeheirateten Cousine – eben meiner warmen Freundin, Marie von Kleist –, sollte im Sommer 1804 als Gesandter nach Madrid abgehen. Wenn ich ihn als Attaché begleitete, böte sich die Gelegenheit, unter Umständen in den diplomatischen Dienst überzutreten: dergestalt waren die Überlegungen und Besprechungen, die sich während einiger Zeit fortsetzten und über die wir uns zugleich näher kennen- und schätzengelernt hatten; Gualtieri war, ob der statthabenden Misere der zeitgeschichtlichen Abläufe in unserem maroden Staate, zu einem verbitterten Sarkasten geworden – von Natur wegen allerdings war er mit gutmütiger, ja hochsinniger Geistigkeit gesegnet, welche in seinen lebensmüden Entäußerungen aufging und ihnen einen seltsam absonderlichen Beigeschmack verliehen, den ich nachvoll-
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ziehen konnte. Es verzögerte sich diese Mission: ob zu meinem Glück oder Pech, vermag nur das Schicksal zu entscheiden! – und mittlerweile hatte der König meinem Ersuchen entsprochen: ich erhielt eine sehr bescheidene Anstellung im Berliner Ministerium. Dazu also waren verschiedene Besprechungen und Audienzen bei leitenden Staatsmännern unabdingbar, die mich nicht wenig enervierten; jeder der Gänge ward einer nach Canossa – ich hoffte bloß, daß sie im Endeffekt wenigstens im Persönlichen gleichermaßen erfolgreich wären wie dieser berühmte, geschichtliche. Die Berufung ins Amt zog sich infolge allerlei Bürokratenkrams hin – derweil nahm ich Tuchfühlung mit einigen Reformern, zumeist liberalen Adligen: diese Kontakte wurden ebenfalls durch Marie vermittelt, das heißt über ihren Schwager, den Oberst Christian von Massenbach, welchen ich noch in meiner Potsdamer Zeit kennengelernt hatte; eine Persönlichkeit von Profil, die mich außerordentlich beeindruckte. – Endlich dann, gegen Ende 1804, kann ich im Generaldirektorium die versprochene Arbeit übernehmen; mein Vorgesetzter ist Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein, der sich zu einem echten Freund entwickeln wird: ein Mann von höchster Integrität, Geisteswitz, Klugheit und Güte, ein echter Reformer und eine Persönlichkeit, die ich von Herzen liebgewann und für die ich durchs Feuer ginge. Ich legte mich ins Zeug, arbeitete wie ein Roß: zum Teil drei Tage ohne Schlaf! Ich wollte es allen beweisen: ich bin tüchtig und leistungsfähig, trotz meiner unermüdlich wiederkehrenden Krankheitsschübe! – nur glücklich bin ich nicht, und darnach strebe ich ja; ist das so falsch? Jedenfalls gewann mich Altenstein ebenso lieb, weil ich mich wirklich und wahrhaftig für die Sache und für ihn einsetzte: es lag kein Falsch darin, sondern der geläuterte Wunsch, selbst die unangenehmsten Dinge recht zu tun und für eine Idee dasein zu dürfen (auch wenn ich stets unter einem Ideal, einer Idee ein Kind von mir vorsah, das ich großziehen wollte; sonach versuchte ich nunmehr angestrengt, sie auf diese Sache außerhalb meiner zu transponieren, was mir nie vollständig gelang: ein wenig später suchte ich sie politischliterarisch im Kampf gegen Napoleon festzunageln, was vielmehr der Absicht gleichkam, aus der Not eine Tugend zusammenzuzimmern etc.)! – Altenstein gelang es ohne großen Aufwand, mich
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für seine Reformprojekte und -gedanken zu gewinnen: unter anderem sollten etwa Bayreuth und Ansbach, zwei Exklaven Preußens, eine mustergültige Verfassung erhalten: alte Zöpfe sollten abgeschnitten werden, an deren Stelle fortschrittliche Satzungen die Wohlfahrt der Menschen begünstigen – es war das erklärte Ziel, Preußen zu reformieren und die öffentliche Meinung vermittelst hervorragender Leistungen redlich für sich zu gewinnen! – Pressefreiheit, Religions- und Gedankenfreiheit, eine entschlackte Verwaltung, wirtschaftliche Verbesserungen und eine sittlichere, möglichst neuzeitlich geordnete Rechtsprechung waren angestrebt: ich fing Feuer und hätte mir sehr lebhaft vorstellen können, in eine politisch verantwortungsvolle Tätigkeit hineinzuwachsen. Alles Wirktätige interessiert mich: gerne hätte ich mich bei der konkreten Umsetzung dieser Ideale mit Schwung in die Arbeit gestürzt; ich fühlte mich verantwortlich, gerade als ein dem Hause Hohenzollern nahestehendes Geschlecht derer von Kleist, zum Wohle des Staatsgefüges im Rahmen der Reformen mitzuarbeiten – mittun, mitmachen, mitarbeiten am Leben: das wollte ich: entweder auf meine Art, oder dann unter dem Fittig einer reformerischen sowie fähigen neuen Staatsführung; zur Mürbe hin walkte mich dagegen das alte, korrumpierte System, in welchem Leistung nichts zählte, sondern Geburt: und wieviel adelige Schmarotzer saßen an höchster Stelle! – und das nicht etwa zum Besten des Staates, sondern lediglich zu ihrem Besten. Ausgemachte Karrieristen, Heuchler, Speichellecker und Schmeichler: die schröcklichen miasmatischen Ausdünstungen verpesteten mithin ganz Europa – erst die französische Revolution brachte den erfrischenden Durchzug: gesunde Winde durchfegten allenthalben die Länder! Allerdings versucht jetzo Napoleon, die maroden Systeme für ein Butterbrot aufzukaufen, um sie französischer Hegemonie zu unterwerfen. – Diesen Reformkräften und -gedanken fühlte ich mich – je länger, je mehr – zugehörig; es bildete sich mir eine geistig-seelische Heimat heran, in der ich mich wohlzufühlen begann. – Doch wie soll ich es ausdrücken? Das Schicksal meinte es anders und trieb einmal mehr einen fetten Strich durch die silbernstreifichte Sehnsuchtsrechnung, die ich enthusiasmiert aufgetan hatte; und daran trugen die geschichtlich-politischen Verhältnisse Schuld, die alles immer
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wieder aufs neue über den Haufen warfen: es war ein verwickelter Klüngel von Ursachen: die entsetzlich aufflammenden Napoleonischen Kriege; die starre Verworfen- und Verschrobenheit der herrschenden, degenerierten Adelsclique, welche keinesfalls auch nur einen Brosamen aus der klebrigen Hand zu geben geneigt war; das damit einhergehende Klima der Mißgunst, Intrige, Perversion und des Mißtrauens aller gegen alle; und nicht zuletzt – die totale Uneinigkeit wie Unfähigkeit der Gegenkräfte, Reformer und Andersdenkenden, welche, statt sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, sich noch untereinander aufsplitteten, ja sich bekämpften und zuweilen mit dem Gegner kollaborierten etc.
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Im Frühjahr 1805 schließlich erging der Befehl, mich zwecks einer einjährigen Ausbildung zum Diätar, also zu einem Verwaltungsbeamten auf Zeit nach Königsberg zu begeben und mich bei Hans Jakob von Auerswald, dem Präsidenten der ostpreußisch-litauischen Kriegs- und Domänenkammer, zu melden; Mitte Mai kam ich dort an und nahm sofort meine finanzwissenschaftlichen wie juristischen Studien auf, obgleich mich bereits im Vorfeld ein stummer Widerwille gegen das Amt anschlich. – Aufgrund der engen Vertrautheit der Provinzialregierung mit den Organen der hiesigen Universität wurden mir einige wichtige Bekanntschaften zu mehreren Professoren vermittelt; die meisten sahen sich einem durchaus liberalen Kurs verpflichtet, und somit kam ich im Rahmen der theoretisch-praktischen Ausbildung wiederum, nun auch von dieser Seite her, mit dem frischen Gedankengut der Erneuerungsbestrebungen in Kontakt. Als Volontär an der Domänenkammer hatte ich mich unter anderem als Referent – nach Maßgabe des Vorsitzenden – zu üben, hatte staubtrockene Akten zu verfertigen, die irgendwelche unerquickliche Verfahren betrafen, und mußte mich mit vielerlei administrativem Kleinkram herumschlagen. Ich hatte auch in Steuerangelegenheiten vorzutragen und mich hauptsächlich den Dömanenangelegenheiten zu widmen: das einzige ei-
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nigermaßen interessante Thema, welches mich zu fesseln wußte, war die Zerschlagung des Zunftwesens zwecks Wiederherstellung des gewerblichen Freihandels. – Ich ahnte, daß ich von meinem Wesen her alles andere als ein knustiger Verwaltungsbeamter wäre; sonach versuchte ich, aus der Misere möglichst das Beste herauszuschlagen: beispielsweise richtete ich – quasi von Berufs wegen, der sich mir in Königsberg mit Gewalt aufdrängte – mein ganzes Augenmerk auf die gesellschaftlichen Zustände und vor allem auf die Prozesse, welche ich hauptsächlich im «Krug», aber ebenso in meinen Erzählungen (etwa dem «Michael Kohlhaas», auf dessen Geschichte mich Pfuel brachte) zu verarbeiten wußte – punktum: ich schälte den Kern der Dinge heraus, welche ich sodann in irgendeiner Weise schöpferisch in meine Werke verflechten konnte, die Schlaube selbst schmiß ich fort; es war mir einfach unmöglich, nicht gestalterisch tätig zu sein; mein einzig lebensrettender Anker, welcher mich vor dem Versinken in der Wüstenei des Aktenstaubes abhielt, war die gleichzeitige Beschäftigung mit meinen Projekten! Das ging einige Zeit gut, bis die reale Kluft im Verhältnis zur gefühlten derart groß war, daß ich einmal mehr hineinzustürzen drohte. – Weiterhin ist als vorteilhaft zu vermerken, daß ich durch diese auf Insekten abgestimmte Arbeit zu einer Geduld hingetrimmt ward, der ich bisher geflissentlich ausgewichen bin: hatte ich doch einen gewaltig heterogenen und undifferenzierten Stoffberg sowohl zu gliedern und zu ordnen als auch zu verarbeiten, damit ich überhaupt die Möglichkeit erhielt, einen hinreichenden Überblick zu erhalten. In der Tat: ich fühlte mich in diesem Lebensabschnitt zu Königsberg ausgesprochen einsam in meinem elfenbeinernen Turm, das heißt: weit mehr noch als sonst! – weit weg von meiner Heimat, ohne ebenbürtige Gesprächspartner, in einem geistigen Klima höchster Trockenheit: es staubte gleichsam der Gedanke selbst. Die Leute hielten einen Sicherheitsabstand zu mir (meine bisherige Lebensgeschichte war ihnen wohl bekannt?); ich wurde zwar in einige Häuser geladen, doch ich sah mich gezwungen, mehr denn je! mich zu verstellen, mich zurückzuhalten, wollte ich nicht die Großmütigkeit des mir freundlich und geziemend Entgegengebrachten verscherzen: tatsächlich kam ich mir vor wie die Draht-
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puppe in den Händen der Staatsmacht. Der einzige Hauskreis, der mir dort ein wenig behagte, war jener des Geheimen Finanzrats August Staegemann, welcher mir ein Freund wurde und später an den Berliner Abendblättern mitarbeitete. – Ansonsten war alles, vor allem geistig, reichlich steifleinicht gestrickt, so daß ich mich unwillkürlich – was einem langsam vor sich hinschleichenden Prozeß gleichkam – verkrampfte: mein kümmerlicher Rest an Selbstbewußtsein ward von einer nüchtern-kalten Staatsverwaltung höchstselbst von der Cinvatbrücke geworfen, jener Trennungs- und Totenbrücke der alten persisch-parsischen Religion, von der die Bösen unrettbar in die Hölle stürzen. Ich wurde als eigentlicher Sonderling und Exot wahrgenommen: man wußte kaum anders mit mir umzugehen als unter freundlich-distanzierter Konventionalität. Mich schmerzte dies unermeßlich, und ich spürte, daß ich im äußeren Verhalten zusehends härter, im Innersten dagegen fortwährend sensibler wurde – auch dies ein langandauernder Prozeß, dessen ich mir erstmals in Königsberg bewußt ward und auf den ich mit kaltem Schaudern hinabsah. Ich empfand eine zunehmende Isolation: diese sonderbare Welt ward mir fremd und fremder, entfernte sich von mir, während ich mich dagegen in meine eigne, andere – im einem überproportional-gegenläufigen Verhältnisse dazu – hineinflüchtete, darin aufging. Im übrigen bemächtigte sich, unter diesen emotional schwierigen Umständen, das Stottern meiner wieder, was immer geschieht – und im Zusammenhang steht mit meinen anderweitigen Erkrankungen –, sobald das Innere meines Wesens in eine allzu arge Diskrepanz zu den äußeren Gegebenheiten gedrängt wird: weit mehr als üblich fühlte ich diese saugend-verschlingende Tiefe, diese innere Vereinsamung, das seelentötende Verkannt- und Mißverstandensein, was hinwiederum mein Mißtrauen gegen die Menschen im ärgsten stachelte; ich wurde darob, zuzüglich einiger Gran, eigenbrötlerischer, und mein Gebaren nimmt sich – wie mir selbst heute noch die wenigen Freunde zu Recht vorwerfen mögen – seit jener Epoche beileibe noch geheimniskrämerischer aus als ohnehin schon. Nach wie vor war ich gewillt, Zeit zu gewinnen: ich hatte die feste Absicht, mir meines weiteren Lebensweges sowie meiner maßge-
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schneiderten beruflichen Zukunft völlig klar zu werden, und deshalb mußte ich bis dahin alles möglichst in der Schwebe halten; behufs dessen schrieb ich an Altenstein, daß die Durchdringung des ganzen schwierigen Geschäftes, welches mir aufgetragen war, eine äußerst zeitraubende Geschichte sei, was auch stimmte: ich bräuchte viel mehr Zeit zur Einarbeitung als lediglich das mir zugestandene knappe Jahr. Irgendwie bangte ich auf einen Deus ex machina hin: vielleicht käme er auf dem Wagen hereingeschwebt, den die Rosse der Politik zögen, was mir nicht gänzlich unwahrscheinlich schien – zumal derweil Napoleon den Höhepunkt seiner Machtfülle erklomm: die französische Republik ging in lodernde Flammen auf, während das Kaisertum befestigt wurde; er eroberte halb Spanien und Deutschland, ganz Italien – und die preußischen Patrioten wagten, den offenen Wunsch auszusprechen, seinem nächsten Schritt, der Einverleibung Österreichs, zuvorzukommen. Es lag also allerhand in der Luft, und ich erbat klammheimlich von meinen Schicksalshütern einen irgendwie gearteten, sanktionierten Befreiungsschlag. – Es dauerte nicht lange, und ich wurde neuerlich von rheumatischen Anflügen sowie Wechselfiebern geschüttelt; auch Verstopfungen und grausliches Magengrimmen plagten mich, nebst beklemmenden Angstzuständen; dazu gesellten sich Schlaflosigkeit wie hitzige Nervosität: und das bereits nach reichlich zwei Monaten, in denen ich zu Königsberg weilte; für geschlagene zwei Wochen ward ich ans Bett gebunden – und während dieser Zeit arbeitete ich an meinen Stücken, meiner Gewissensbisse ungeachtet, was allerdings die Krankheitssymptome eher noch verstärkte! Dieser körperliche Ingrimm begleitete mich unablässig, in stets wechselnd aufscheinenden Fratzen, während des gesamten Aufenthaltes hier in Königsberg. Auf einem Ball kam es dann zu einem ebenso eigentümlichen wie peinlichen Erlebnis: ich traf auf Wilhelmine, mein Minchen! Sie war mittlerweile mit Wilhelm Traugott Krug, dem Professor für Logik und Metaphysik, Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhle der hiesigen Universität, verheiratet – ich überwand meinen Stolz und das Überraschungsmoment, indem ich ein wenig stockig auf sie zuging, das heißt – zunächst auf ihre Schwester, die ich ein wenig ausspionierte und bat, mir die Vermittlerin zu spielen: ich
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wußte, daß sie mich schon früher gerne mochte; sie willigte ein und nahm mir meine Scham, indem sie mir versicherte, es liege in Wilhelminen kein Arg wider mich – im Gegenteile. Wahrscheinlich nahm sie mir bloß deshalb nichts übel, weil sie mich nie wirklich geliebt hat, wie ich vermute, was ich ihr aber keinesfalls ankreide; ich hatte sie ja seinerzeit regelrecht mit meinem unnachahmlich plattwalzenden Charme kujoniert. Seltsamerweise ward ich selbst von Krug überaus freundlich, gar herzlich im gemeinsamen Hause empfangen: die gegenseitigen Verlegenheiten legten sich rasch, und wir pflogen fast täglich des Umgangs; es mag dies wesentlich damit zusammenhängen, daß ich ruhiger, noch ernster und in bestimmten Dingen sanfter geworden bin, wenigstens derart gewirkt haben muß. – Wilhelmine war glücklich: das freute mich wirklich aufrichtig! Es entspann sich zwischen ihr, ihrer Schwester und mir ein geradezu geschwisterlich-trautes Verhältnis; ich taute in dem tristen Könisberger Exil aus meiner geeisigten Totenruhe ein wenig auf – dank diesen beiden Frauen! Und Krug warf mir keinerlei eifersüchtigen Blicke zu, zumindest ließ er mich nichts Derartiges spüren: er wisse alles über mich, wie mir Wilhelmine versicherte. – Dergestalt erwuchs ein für alle befruchtendes, sinnenreiches Beisammensein, das mir meine zuweilen düsteren Gedanken ablenkte, wo nicht sogar verscheuchte: ich las der Gesellschaft aus einigen meiner Werke vor; wir unterhielten uns über die neuesten Entwicklungen der Philosophie, musizierten und führten angeregte Dispute über Politik, die schönen Künste und das große Allerlei! Aufgrund welcher Umstände, weiß ich nicht auszumachen: jedenfalls – sei es aus geschwisterlicher Liebe, einem gewissen inneren Zwang oder dem Wunsch heraus, mich während meiner Krankheit gesundzupflegen, einerlei: mein tapferes Ulrikchen kam im Winter nach Königsberg und blieb bis im Frühjahr 1806 mit mir im selben Zimmer wohnen; das ging nicht ohne etwelche Reibereien ab. Ich liebe sie sehr! aber um Himmels Willen: auf Distanz, auf Distanz! Zu nahe aufgesessen, pikieren wir uns gegenseitig allzusehr; mein Feuergeist und Temperament bringen sie zur Weißglut, und ihre Nörgeleien und verqueren Ansichten – nicht nur jene, wie ich nach ihrem Bilde zu sein hätte: ebenmäßig gefaßt in das vorgegebene,
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schmale Rähmchen der Kleist-Dynastie, das mir seit jeher zu eng war – rauben mir den letzten Nerv. – Unglücklicherweise neige ich, von solcherlei Heimsuchungen derart unter Druck gesetzt und unentwegt mit meinen miserablen körperlichen als seelischen Befindlichkeiten kämpfend, zu etwelchen, mehr oder weniger bewußten, Ungerechtigkeiten – von meinen wild-ungestümen Eruptionen ganz abgesehen: diese ärgern mich dann jeweils rückblickend doch sehr beträchtlich! Welch tadelnswerte Unbeherrschtheit! Allerdings muß ich zu meiner geringfügigen Entlastung anbringen, daß ich in solchen Fällen wirklich Rot und Schwarz auf einmal erblikke und darüber der schwer geprüfte Glimmfaden am Ende gänzlich durchbrennt. – Ich gebe mir wirklich die allergrößte Mühe, gerecht zu sein: das ist mir in die Wiege gelegt und schon immer sehr wichtig gewesen – als kleiner Mensch, denke ich, verbleibet einem lediglich, sich ernsthaften Anstrengungen zu unterziehen, es ausdauernd zu versuchen: denn unter dem Menschengeschlechte wirkliche Gerechtigkeit zu finden, darf man getrost vergessen; die erhält man vielleicht auf einem andern Sterne – nicht hier unter seinesgleichen! – Fast ein wenig ulkig: diese Auseinandersetzungen haben meine Kränklichkeit nicht befördert, was zu denken geben dürfte. Die Mißlaunigkeit Ulrikens verstärkte sich erheblich, als sie merkte, obwohl ich es zu verhehlen anschickte, daß ich mich ausgiebig meinen literarischen Arbeiten widmete – sie herrschte mich oftmals an, ich gab in gleicher Münze zurück. Zudem schmiedete ich manches handfeste Eisen für die Zeit, wenn ich denn endlich frei sein sollte! – was ich ebenfalls versuchte vor Ulrike geheimzuhalten. – Sobald ich mich unglücklich fühle, habe ich gelernt, muß ich mich mit der Zukunft befassen, um nicht in eine Lethargie zu verfallen: und ich steckte einmal mehr in einer tiefen, einer sehr tiefen Krise …
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Plötzlich befindet sich Preußen mit Napoleon im Kriege, und was eben auch für mich ein Befreiungsschlag hätte sein können, ver-
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ebbte infolge des zögerlichen, ja geradezu ängstlichen Vorgehens Friedrich Wilhelms III. Welch passiver, schwacher König; eine Memme, der das Überleben des Vaterlandes offensichtlich gleichgültig war – ich schämte mich und war geknickt. Aber es kam noch weit schlimmer: meine Zukunftsaussichten wurden mit einem Male zerstört; denn Anfang Dezember 1805, nach der Schlacht bei Austerlitz – aus der sich Preußen in egoistischer Manier, gerade in der entscheidenden Phase, feige heraushielt und damit im eigentlichen Napoleon zum Siege mitverhalf –, wurde ein gleichermaßen billiger wie abscheulicher Schacher zwischen dem Franzosenkaiser und der preußischen Krone vollzogen: alle fränkischen Besitztümer in preußischen Händen, darunter Ansbach, wohin ich nach Altensteins Wunsch beizeiten hätte abgehen sollen, um seine Reformprojekte auszuführen, wurden faktisch gegen das Kurfürstentum Hannover eingetauscht: wiederum tilgte ein fetter Strich in meiner Schicksalsrechnung die sehnsuchtsvoll erstrebte Erfüllung meiner Wünsche! Des Königs Feigheit und Schwäche wußte mit tödlicher Präzision des Franzosenkaisers blutige Stachelwut zu entfesseln – wer vor dem Tiger einknickt, muß sich nicht wundern, aufgefressen zu werden. – In dieser schicksalsträchtigen Zeit arbeitete ich unter einem heißlechzenden Furor an meiner «Penthesilea»: die Auseinandersetzung mit diesem Kunstwerk brachte mich einmal mehr an den Rand des Zusammenbruchs, des Wahnsinns – doch am Ende stand ein dunkler Diamant: funkelnd – in der Trübe der Nacht; in ihm einten sich, aufs innigste durchwirkt, aller heiligster Glanz und aller Schmutz meiner Seele. Das reine Alles und Nichts meines Wesens! – Ein Gutes hatte dieser elfenbeinerne Turm in Königsberg: die vollständige Abschottung ermöglichte es, mich mehr oder minder absolut in die künstlerische Werkstatt meines Selbst zu flüchten – was mir ausnehmend gut tat! (Selbstverständlich war ich gewillt, dies nach außen möglichst geheimzuhalten, zumal es mir höchst ungünstig hätte ausgelegt werden können: man hätte mich durchaus der Pflichtverletzung zeihen mögen; vermutlich war dies genau dasjenige Argument, weswegen im Frühjahr 1806 meine Schwester wieder von hinnen zog: sie dürfte wohl enttäuscht gewesen sein; schließlich konnte ich ihr, während ich das Bett hütete, nicht ständig meine ausgiebige Beschäftigung mit
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meinen literarischen Arbeiten verheimlichen; sie ist ja nicht auf den Kopf gefallen.) Ein stetiger, unangenehmer Begleiter in meinem Leben bleibt mein seelisches Schwanken: Was ist richtig getan? Soll ich der Pflicht nachfolgen oder der Neigung? Wie nur sieht ein möglicher Kompromiß aus? Womit diene ich wirklich dem Weltengeist, dem Lebensganzen: in ausübender Tätigkeit als Beamter, Schriftsteller – oder soll ich etwa mein Glück in der Politik suchen? Wozu bin ich berufen: ich meine – wirklich berufen? Soll ich mit Haut und Haaren dem schnöden Staatsdienste anheimgegeben sein? Was ist überhaupt der Wille dieses Weltgeists – in bezug auf mich und die Erde als Ganzes? – Immer, wenn ich dachte, endlich eine Antwort, eine Lösung gefunden zu haben, entzog sich mir just der Boden unter den bleiernen Füßen, so daß ich bald kaum mehr wußte, wie mir geschah; doch ich rappelte mich jeweilen, unnachgiebig und zähe wie ich bin, wieder auf und erfand darauf ein Schlupfloch aus der Bredouille – meist, indem ich mich noch tiefer in das Innerste meines Wesens zurückzog! Kurz: die ganze unerhörte Schwere der einen Waagschale, die mich zu Boden drückte, ließ die andre zum Himmel ansteigen; und es war diese mangelnde Ausgewogenheit, welche mich in ein zunehmend heftiger werdendes Wechselfieber stürzte: ich begann mitunter zu phantasieren; die Apokalypse erschien meinen Traumgesichten; der künftige Jüngste Tag erstieg mir aus dunklen Grüften – ich war völlig unzurechnungsfähig: gebrandmarkt durch die ununterbrochene, maßlose Überforderung meiner selbst. So wollte ich mich – auch wenn ich tagsüber in schweißtreibendem Amte stand – unbedingt abends noch meinen Werken hingeben, was meine Nervenkräfte nachgängig vollends zerrüttete – ob dieser Tatsachen darf man sich wohl viel eher verwundern, wie ungeheuer stark meine Gesundheit beschaffen sein mußte. Jemand anderer wäre wahrscheinlich längst unter dieser geistig-seelischen als auch physischen Last zusammengebrochen; doch in mir herrscht ein eigenartiges Gesetz: je höher sich die wogende See vor mir türmt (und sei es in den Himmel!), umso vehementeren Widerstand setze ich den unerhörten Unbilden und Mächten entgegen; bislang konnte mich kein Brecher werfen: schließlich versteh‘ ich die Segel meines Flutenrosses zu reffen so-
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wie dessen Ladung zu trimmen – gewiefter Seemann des Lebens, als der ich mich im Laufe meines Daseins bewies: stetig hinzulernend, mich fortzu frischen Muts auf die entsetzlichsten, halsbrecherischsten Wellengänge einstellend. Ich wußte: bräche ich dereinst, dann allein aufgrund der Tatsache, daß diese im Innern nie verlohende Brandstätte, gefaßt im diffusen Symbole meiner unersättlich-unbeschreiblichen Sehnsucht nach dem Heil, sich selbst aufzehrte. – Ich sprech‘ nunmehr ein Geheimnis aus, und zwar mit Wotans Worten, der den Isenstein mit Loges Loh‘ umflammt und einbegreift Brünnhild in ihrem Schlafe: «Wer die Spitze fürchtet meines Speeres, durchschreite dieses Feuer nimmer.» Ich für meinen Teil durchschritt schon so mancherlei Feuersbrünste, daß, gäb‘ es eine Hölle, sie mir zur Erholung diente – die letzten reinigenden Feuer stehn nunmehr bevor: ich selbsten bin mir höchster Gott, weitab strengster Scharfrichter und unerbittlichster Zwingherr – langsam wachse ich hinaus in den Kosmos, erhebe mich zum Gotte unter Göttern: tu‘ dies alleine vermittelst meiner ungeheuren Kraft wie durch den Willen meines Wesens: in einer, hundert, tausend Inkarnationen ist‘s abgetan! Das letzte Feuer durchquer‘ ich in Bälde – ein jeder muß es einstmals tun; und ich … – bin mittendrin im alleszermalmenden Brausen und Tosen! Man spricht von mir und denkt sich einen Menschen; das bin ich wohl, die Schwächen merkt man gleichermaßen, und bin es dennoch nicht. – Ich spür‘: ich bin ein Mittelwesen!, das, langsam sich verpuppend in den Spinnfäden des göttlichen Kokons, nicht mehr ganz Mensch und noch kein Gott ist. – Wüßte der Menschheit Welten, was dort für Brände, Unbilden, Kräfte herrschen! sie würden zerkeilt, allein durch den Begriff des Geistes. Und gleichwohl ist‘s ein natürlicher Vorgang und ebenso ein individueller: denn die Drücke, Kräfte, die mitunter Berge in die Kniee zwingen, sind das Wesen meines rohen Diamanten. Und ich stehe und beginne erst, wo andre längst zerbröselt in ihrer eignen Schlacke bebend liegen. Niemanden kann ich tadeln, daß er die Dinge nicht verstehet: sie liegen in der Natur der Wesenheiten selbst begriffen – und durch diese Feuer muß ein jeglicher beizeiten ganz alleine gehen – einzig der Starke vermag‘s! Der Trost: Man stirbt sehr schnell oder wird – verwandelt!
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Im Juni 1806 schrieb ich an Altenstein davon, daß ein inwendiger Gram mich zermürbe und auffresse, daß ich unwiederbringlich vor dem ewig-schauerlichen Abgrund stehe und daran sei, mich ins bare Nichts zu werfen; im Spätsommer sah ich meine körperlichen und seelischen Kräfte derart angegriffen, daß ich mich – für eine Zeit von sechs Monaten von Hardenberg vom Amte beurlaubt – ins Seebad nach Pillau begab, wo ich zu einer rund fünfwöchigen Kur verweilte; doch meine Verfassung besserte sich keineswegs: ich verfiel einer tiefen Schwermut, einer wurzelnagenden Weltuntergangsstimmung. Ich fachte in mir den Mut an, indem ich mir vorgaukelte, künftig mit dem Verdienst meiner Stücke wenigstens – mehr schlecht als recht zwar – den täglichen Bedarf sichern zu können; zudem zählte ich auf den mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit seit Anfang 1806 durch Königin Luise ausgelobten Ehrensold: ein kleines Scherflein, ein Tropfen auf den heißen Stein – doch trug er ein bißchen mit zum Überleben bei; endlich war‘s ein Balsam auf die Wunden der schwer angeschlagnen Seele! – Innerlich hatte ich mich mittlerweile längst vom Staatsdienste verabschiedet; ich entschied, allein und ausnahmslos der Kunst zu leben – falls überhaupt, ist nur sie imstande, mich vor dem völligen Verderben zu erretten! Die Frage war bloß die: wie komme ich von meinen Königsberger Verpflichtungen los, ohne allzuviel Porzellan zu zerschlagen? – Abermals riskiere ich den Sprung ins kalte, unbekannte Wasser eines unendlich sich vor mir ausdehnenden, dunklen Ozeans: ich nehme meine Berufung als Schriftsteller vor dem Schicksal als gesetzt – dieser Berufung will ich mich mit Leib und Seele opfernd hingeben, komme was wolle: mein Entschluß ist nunmehr, nach vielerlei mich zu Tode peinigenden Querelen, so fest, als Ida und Ossa in der Landschaft stehend sich behaupten! Königsberg mit seiner Einsamkeit, Abgeschottetheit ward für mein Schaffen ein Quell außerordentlicher, ja nachhaltiger Inspiration (wer könnte dies verstehen?): ich beendete dort meine wichtigsten Werke, konzipierte alte neu und setzte den Plan für weitere fest. Ich gab meinen Gedanken sichere Konturen, welche ich späterhin zu verwirklichen mich gedrängt sah; insofern war die Königsberger Epoche trotz aller Qualen! erfüllend – nicht zuletzt deswegen, weil ich so manche praktische Erfahrungen in die
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Werke zu übernehmen geneigt war. – Nein; ich konnte noch nie die einfachen Wege beschreiten, selbst wenn ich es gewollt hätte – meine Daimonen zwingen mich immerfort auf den vorgeschriebenen Pfad zurück: den Pfad meiner Wahrheit, meines Wesens; immerfort zwingen sie mich, den Dingen auf den Grund zu gehen – zu bohren, zu stochern, zu grübeln! Allein, ich frage mich ernstlich: ob dies immer unter solcherlei Qualen, Verzichtserklärungen sowie seelischen Schmerzen geschehen müsse – ob es nicht einen mir geneigteren Weg gäbe? Was will dieses unbegriffne, geistige Geschöpf mir? – Ich bin müde; ich suche wärmende Geborgenheit und Ruhe. Geborgenheit und Ruhe! Wer schafft sie mir sonst, wenn ich sie mir nicht selbst zu schaffen imstande bin? Doch mein ganzes inwendiges Wesen ist dergestalt konzipiert, daß die Unrast einen steten Überhang erhält, sobald ich mich vor dem ersehnten Ziele glaube; zudem neigt mein Geist zum unablässigen Zweifeln und Hinterfragen. – Ach, stürbe doch der Geist ab: gleich einer verdorrenden Pflanze, die keinerlei Wasser mehr empfängt; aber dieser gebärdet sich umso störrischer, je mehr er unter Druck gerät. Es scheint wohl, daß allein Gevatter Tod in der Macht steht, die ganze unbändige Hitze meines Selbst zur Ruhe zu betten. Der Tod allein – Erfüller aller Sehnsucht, Mäßiger des sanguinischen Temperaments, Lebensretter des im Leben zu Tode Gepeinigten! Er wispert mir zu Ohren von den Welten des Jenseitigen, Anderen; er kühlet meine Unbedacht; indem ich ihn jederzeit freiwillig ergreifen könnte, rettet er mich wieder ins Leben hinein; ach! Erlösung mir und Gnade, der ich nur ein kleiner Mensch bin! Endlich, im Oktober 1806, wurde zu Jena und Auerstedt Preußen unter den Hammerschlägen Napoleons ins Erdreich gestampft; der ganze schöne Überbau einer nach außen hinglänzenden Periode – in Wahrheit die Dekadenz per se – brach in sich zusammen: sang und klanglos, ohne Ächzen, ohne nichts – so, als ob sie gar nie existiert hätte, derart morsch war bereits ihr Gebälk! Kurz darauf wurde Berlin besetzt: die dort verbliebenen Ministerialen hatten den Treueid auf den Franzosenkaiser zu leisten; die Reformer und der Hof entzogen sich der Demütigung: der gute, brave Freiherr vom und zum Stein brachte es unter einiger Schlagfertigkeit gar zustande, die
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Staatskasse aus Berlin abzuziehen, um sie vor des Franzosen Zugriff in Sicherheit zu bringen. König und Hof begaben sich nach Königsberg, wo er sich mit seinen Getreuen in den östlichen Provinzen versammelte – mit dem Ziel, einen erneuten Widerstand aufzubauen. – In dieser Zeit voller Ungewißheiten, voll purer Not und Verzweifelung blieben mir die lebensnotwendigen Gelder des Ehrensoldes verwehrt; Nachrichten wurden nicht empfangen; Nachfragen nicht beantwortet; Manuskripte zum Druck nach Berlin versandt, deren Empfang aber nicht bestätigt: – das nackte Chaos griff blindwütend um sich! Doch es ward mir ein kleines Wunder (und es geschah da und dort erneut): Während alles um mich herum im Chaos zu versinken schien, dem Untergange geweiht – genas ich! Während andere jammerten, wurde mein Widerstandsgeist angefeuert; während alle andern zur Ader gelassen wurden, füllte sich mein Leib mit Leben: es ist dies der bare Widersinn der wunderlich-exzentrischen Beschaffenheit meiner Seele! In Königsberg ward es höchst ungemütlich; die Stadt füllte sich tagtäglich mit Flüchtlingsschwärmen von abgehärmten Soldaten zerschlagner Armee-Einheiten, so daß meines Bleibens nicht länger währen konnte. Nahrung und Wasser wurden langsam knapp, es begann sich eine Hungersnot festzusetzen: wer Königsberg irgendwie verlassen konnte, tat es. Deswegen nahm ich mir vor, nach Dresden abzugehen – Dresden, die Stadt meines Herzens, in der ich die bisher schönsten Erfahrungen in meinem Leben gesammelt hatte. Es war aber auch dasjenige Dresden, in welchem der Kurfürst von Sachsen von Napoleon dafür mit der Königskrone gewürdigt worden ist, daß er in den Rheinbund eintrat – worauf sich ein in die Welt ausstrahlendes, prunkvoll-kulturelles und geistestätiges Leben entfaltete. Man mag es mir als einen meiner Widersprüche ankreiden, daß ich mich nach Dresden umsah: die Leute kennen mich nicht – dies war ein rein pragmatischer Schachzug, zumal ich mir in dieser Stadt weit größere Chancen als Schriftsteller errechnete als irgendwo sonst. Nein, meine wahren Widersprüche sind weit tiefgreifender und anderer Artung … Indessen sich die geschichtlichen Ereignisse überschlugen, ward ich vom ärgerlichen Zwange befreit, mir einen formellen Grund zwecks Rücktritt aus dem Beamtendienst einfallen zu lassen: diesbezüg-
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lich wirkten sich für einmal die verheerenden Ereignisse zu meinen Gunsten aus, was selten genug vorkam. – Zu Anfang des Jahres 1807 traf ich in Königsberg auf Pfuel, und mit zwei weitern preußischen Offizieren, Carl Franz von Gauvain sowie Christoph Albert von Ehrenberg, begaben wir uns zu Fuß den langen Weg westwärts durch franzosenbesetzte Gebiete. In Berlin mit beiden letzteren angelangt, gab es einige Konfusion: die französischen Wachtposten bereiteten uns massive Schwierigkeiten, verhörten uns, zweifelten an den beigebrachten Entlassungspapieren; zudem mißtraute man uns, da wir aus dem Hauptquartier in Königsberg herkamen – und das ausgerechnet mitten im Kriege. Man mutmaßte augenscheinlich, wir seien Spione, obgleich wir uns auf Gewährsmänner beriefen – nun, zugegeben, damit hätte man rechnen müssen; eine allzu geschickte Wahl war es nicht, über Berlin zu ziehen: wir hatten den Ernst der Lage nicht richtig eingeschätzt (und ich persönlich hatte ohnehin nichts zu verlieren! ich forderte das Schicksal zusätzlich – stante pede – dort heraus, wo ich nur konnte; – im übrigen war es ja nicht das erste Mal, daß ich solch einem Verdacht ausgesetzt war: bereits in Würzburg als auch in Boulogne waren ähnliche Verdachtsmomente aufgekommen, die ich aus taktischen Gründen teils bewußt einfach stehen ließ, so vor einigen Verwandten und Bekannten, teils dementierte, vor allem vor Köckeritz)! – Nach etwa drei oder vier Tagen penetranten Verhörs erklärte man rundweg alle drei Demissionsschreiben für gefälscht, worauf wir offiziell verhaftet und auf eisig-winterlichen Gewaltmärschen nach Wustermark verbracht wurden: dort hielt man uns wiederum etliche Tage in unbeschreiblich heruntergekommenen, feuchten, dunkeln und muffigen Verliesen gefangen. Besonders nachteilig auf unsere Gefangenschaft wirkte sich der Umstand aus, daß die Bürokratie nicht ausdrücklich den Status unserer Festnahme markierte: wir wurden weder offiziell der Spionage angezeigt, noch wurden wir als Kriegsgefangene akzeptiert, woraus resultierte, daß wir weder der einen noch der anderen Kategorie angehörten und somit nicht in den Genuß einer der beiden gerieten: hingleich aber in den Nachteil beider – es stand alles in der Schwebe, und man verfuhr sonach mit reiner Willkür. – Es drohte uns nichts weniger als die Todesstrafe! ^ ]
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Um einiges später wurden wir über Marburg, Mainz und Besançon ins Fort de Joux zu Pontarlier verbracht, welches wir Anfang März 1807 erreichten: den reichlich tausend Kilometer langen Marsch hatten wir größtenteils zu Fuß und mit hungrigen Mägen zurückgelegt; immer noch lag Schnee, und das Wetter war der unerfreulichen Situation voll und ganz angemessen. Es stürmte und schneite; das Fort war in einen steilen Abhang des französischen Juragebirges eingelassen: kahl und hart auf schroffem Felsen thronend, und die mächtigen Schneewächten sowie die schneidenden Winde drohten uns das eine wie andere Mal von den engen, eisbelegten Trampelpfaden in den schaurigen Abgrund zu stürzen. – Endlich in der Veste angekommen, nahm man uns unsere gesamte Habe ab – allein, ich war der einzige, dem es nichts abzunehmen gab. Ich übernahm das Amt des Dolmetschers, denn meine beiden Kameraden sprachen nicht einmal ein als leidlich zu bezeichnendes Französisch. – Neuerlich bewies ich, daß mein Gemüt in besonderen Zwangslagen zu Außerordentlichem befähigt ist: obwohl wir alle in Einzelhaft in verschiedenen finsteren Gewölben untergebracht wurden; obwohl die schärfsten Sicherheitsmaßnahmen obwalteten: so gestand man uns selten Messer und Gabel zu, meist kamen beim Essen lediglich unsere Hände zum Einsatz – stets unter den musternden Augen der Ordonnanzen agierend; obwohl wir keine Gesprächspartner hatten und wir Mangel an Essen und Wasser litten – all dem zum Trotz ging es mir körperlich als auch seelisch weitaus besser als meinen beiden Kameraden, deren physische Blässe täglich, ja stündlich zunahm – dergestalt, daß sie zuletzt einem Künstler als Vorbild für ein Gemälde zweier hippokratischer Gesichter hätten dienen können. Ich bat die Wachen, sie möchten einen Arzt bestellen: man schickte draufhin prompt nach einem solchen – was bewirkte, daß die Haftbedingungen in ihrer Strenge ein wenig gelockert wurden. Wir erhielten endlich warme Decken und festere Kleidung. Natürlich versuchten wir alles, um uns aus der mißlichen Lage zu befreien; ich schrieb Ulriken, sie solle sich für uns bei den entsprechenden Stellen verwenden und alle notwendigen Schritte in die Wege leiten. Ebenso verfaßte ich eine Protestschrift an General Clarke, den französischen Höchstkommandierenden in Berlin,
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der für seinen Gerechtigkeitssinn bekannt war. – Wir konnten den Festungskommandanten durch unser Betragen gewinnen – es schien kein schlechter Kerl zu sein: jedenfalls erwirkte er bei seinen Vorgesetzten für uns einige Vergünstigungen. Unter anderem wurden wir in weit angenehmere Zellen verlegt, konnten tagsüber vermehrt Kontakte untereinander pflegen und erhielten sogar Freigang auf den Festungswällen. – Unterdes war auch die Witterung freundlicher geworden; der Frühling brachte die ersten Knospen zum Sprießen. In der neuen Unterbringung feilte ich zudem an meinen literarischen Projekten weiter – für mich war‘s nahezu einerlei, ob ich in Königsberg, Berlin, hier oder sonstwo arbeitete: der einzige Unterschied bezog sich allein auf die physische Arretierung beziehungsweise auf den Gedanken, in einem kalten, kargen Verlies eingesperrt zu sein. – Doch war ich dies nicht allerorten? Äußerlich mehr oder weniger eingesperrt, in materieller Abhängigkeit, unfrei? Dies mag endlich auch der Grund gewesen sein, weswegen mich die schlimmen Zustände weit weniger in Beschlag nahmen als meine beiden Kameraden, denen es mittlerweile wieder deutlich besser ging. In der Zelle Gauvains saß einige wenige Jahre zuvor Toussaint L‘Ouverture ein, der ehemalige Präsident von St. Domingo und Anführer aufständischer Schwarzer auf Haiti – man ließ ihn zuvorkommenderweise auch gleich darin verrotten; meine reichbegabte Phantasie ergab sich, im Schoße dieser grabesstill-atmosphärischen Gelasse wiegend, in Fieberträume, woraus sich später meine Novelle «Die Verlobung in St. Domingo» herausbildete. Viele meiner Stücke offenbarten sich mir in Träumen, auch Wachträumen – und gleich einem Töpfer brauchte ich dann bloß noch den gesättigten Letten aufzunehmen und zu befeuchten, um daraus eine sinnstrotzende Skulptur formend zu plastifizieren! – Mitte April 1807 wurden wir, nach langem Hin und Her, endlich in ein angemessenes Kriegsgefangenenlager in Châlons-sur-Marne verlegt: dies auf das Betreiben von Clarke – dennoch: Sold ward uns, wie in solchen Fällen üblich, keiner zugestanden; fürs Essen mußten wir ebenfalls besorgt sein; dafür aber hielt man uns auf Ehrenwort gefangen, was immerhin die Möglichkeit eröffnete, uns frank und
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frei in der Stadt zu bewegen! – Bald hieß es von Ulrikens Seite, Clarke wäre mit dem Kriegsminister in Paris betreffs unserer Entlassung übereingekommen; das Entlassungsschreiben allerdings ließ auf sich warten, so daß ich den Verdacht hegte, man wollte Ulrike hinhalten; mittlerweile aber denke ich, daß es wiederum die gleichermaßen üble wie behäbige Bürokratie gewesen ist, die dem diabolischen Treiben kein Ende zu setzen imstande war; wer im einzelnen überhaupt haftbar zu machen wäre, steht in den Sternen: in solchen Zeiten des Chaos und der Willkür nämlich frägt kein Mensch nach Gründen, denn das Weltengericht kennt nur seine urtümlichen Zwecke – und diesen entgehet kein Individuum: glücklich einzig der, welcher nicht unter die Räder gerät oder wenigstens unversehrt wieder darunter hervorkrabbelt! Ich suchte überall um Vertrauen nach – und erfuhr bloß Ablehnung und Enttäuschung; ich suchte nach meinem Ideal – sowohl in der Kunst als auch in der realen Personifikation eines weiblichen Wesens: auch hier gingen meine Pfeile ins Leere; ich wollte mit meinen Werken und Taten Gutes tun, etwas dem Leben Zuträgliches leisten: keine Anerkennung kam mir zurück; ja – es schien sogar, als ob sich all meine Bemühungen dergestalt verhielten, wie das Sprüchwort so schön meint: «comme travailler pour le roi de Prusse» – reiner Undank schlug mir entgegen. Wer also kann es mir verübeln, daß ich mich tiefer in mich selbst zurückzog und langsam zu einem (leidlichen) Misanthropen entwickelte? – Zudem quälten mich Versagensängste: bin ich es überhaupt wert zu leben? Ist Leben ohne die Liebe eines weiblichen Wesens nicht der Tod? Und umgekehrt: Ist nach dem Tode eine Liebe durch ein jenseitiges Wesen nicht gerade ein inniges, warmes Leben? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht – der Schöpfergeist möge mir Erkenntnis schenken: denn ich weiß nichts! – Eigentümlich: den Tod in dieser unappetitlichen Zeit oftmals vor Augen, spielte sich in mir ein metamorphotischer Vorgang ab: ich gewann an Gelassenheit, an Widerstandsfähigkeit und Pragmatismus; mein Feuergeist und mein Gefühl kühlten, ja läuterten sich unter den Hammerschlägen des Schicksals; als Gegenleistung zahlte ich mit meiner versiegenden Offenherzigkeit und Gutmütigkeit: mein Hang zur Vertrauenssucht und mein liebeheischendes, sehnsuchtsvolles Streben nach
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dem Wahren blieben zwar in den Schlacken weiterhin geborgen – aber ich wurde zunehmend sarkastisch, mißtrauisch in Anbetracht des Ungefüges sowie der Gebrechlichkeit der Welt; der Mensch wurde mir zum schwächsten Glied in der Kette der endlos hinreichenden Natur: gerade wegen seiner Fähigkeiten, und gerade wegen seiner charakterlichen Unzulänglichkeiten vor dem Ewigen und Großen! – Eine schmerzlich wundschürfende Einsamkeit legte sich wie schwarzer Taft über mein brütendes Herz und machte mich fürchten … O ja! Vertrauen, Vertrauen – wie sehr sehnte ich mich darnach. Vertrauen! Das Eins-Sein mit einer weiblichen Seele, welche einen von innen heraus, fühlend! ganz verstehe. Ich wußte bereits jetzo, wie meine Novelle zur «Verlobung» enden würde: dies war mir in der aufwühlenden, arbeitsamen Zeit im dusteren Verliese klargeworden. Das trübsinnige Schreckgespenst der Tragik des ganzen menschlichen Geschicks stand mir plötzlich mit aller Gewalt vor Augen; – die «Verlobung» muß unglücklich abschließen, weil das Vertrauen in die Liebe, das wahrhafte Sein nicht genügend stark ausgeprägt sein wird. Der Held, Gustav, läßt sich vom Scheinbaren, von einer ausgedachten Chimäre blenden – worauf er in einem Anfall des Irrwitzes eine ebensolche Tat an der Geliebten begehen wird: den Mord an einem unschuldigen Wesen! Herr Strömli, nach einer langen, nur durch das Röcheln Tonis unterbrochenen Pause, in welcher man vergebens auf eine Antwort von ihr gehofft hatte, nahm das Wort und sprach: weil, nach der Ankunft Hoangos, dich, Unglücklichen, zu retten, kein anderes Mittel war; weil sie den Kampf, den du unfehlbar eingegangen wärest, vermeiden, weil sie Zeit gewinnen wollte, bis wir, die wir schon vermöge ihrer Veranstaltung herbeieilten, deine Befreiung mit den Waffen in der Hand erzwingen konnten. Gustav legte die Hände vor sein Gesicht. Oh! rief er, ohne aufzusehen, und meinte, die Erde versänke unter seinen Füßen: ist das, was ihr mir sagt, wahr? Er legte seine Arme um ihren Leib und sah ihr mit jammervoll zerrissenem Herzen ins Gesicht. «Ach», rief Toni, und dies waren ihre letzten Worte: «du hättest mir nicht mißtrauen sol-
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len!» Und damit hauchte sie ihre schöne Seele aus. Gustav raufte sich die Haare. Gewiß! sagte er, da ihn die Vettern von der Leiche wegrissen: ich hätte dir nicht mißtrauen sollen; denn du warst mir durch einen Eidschwur verlobt, obschon wir keine Worte darüber gewechselt hatten! Herr Strömli drückte jammernd den Latz, der des Mädchens Brust umschloß, nieder. Er ermunterte den Diener, der mit einigen unvollkommenen Rettungswerkzeugen neben ihm stand, die Kugel, die, wie er meinte, in dem Brustknochen stecken müsse, auszuziehen; aber alle Bemühung, wie gesagt, war vergebens, sie war von dem Blei ganz durchbohret, und ihre Seele schon zu besseren Sternen entflohn. – Inzwischen war Gustav ans Fenster getreten; und während Herr Strömli und seine Söhne unter stillen Tränen beratschlagten, was mit der Leiche anzufangen sei, und ob man nicht die Mutter herbeirufen solle: jagte Gustav sich die Kugel, womit das andere Pistol geladen war, durchs Hirn. Diese neue Schreckenstat raubte den Verwandten völlig alle Besinnung. Die Hülfe wandte sich jetzt auf ihn; aber des Ärmsten Schädel war ganz zerschmettert, und hing, da er sich das Pistol in den Mund gesetzt hatte, zum Teil an den Wänden umher.
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Es kam soweit, daß endlich nicht einzelne Menschen, sondern der weitere Verlauf der Geschichte das Verdikt sprach: Es kam der 7. Juli 1807, an dem der Friede zu Tilsit beschlossen wurde – Vernichtung für Preußen, Ende der Gefangenschaft für mich. Es ward die Zerschlagung meines Vaterlandes verfügt, indem man es um mehr als die Hälfte reduzierte; die Großmachtstellung schien ein für allemal dahin. – Eine Woche später erging der Entlassungsbefehl: ich hatte darauf zu schwören, einer bestimmten Straße entlang der Heimat entgegenzugehen und mich schließlich in Berlin bei Clarke zu melden; das Empörungswürdige daran war, daß ich die Reise selbst zu finanzieren hatte: ausgerechnet ich, der ich derweil völlig mittellos war! Ich bat deswegen Ulriken, mir einen Wechsel zuzustellen (des weitern hatte ich mir während der Gefangenschaft Schulden
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bei meinen beiden Kameraden anschreiben lassen müssen); auch Rühlen hatte ich um Geld gebeten, der seit einer Weile in Dresden ansässig war: er hatte es unternommen, meinen «Amphitryon» bei der Arnoldschen Buchhandlung unterzubringen; doch die Zahlung war seit der Drucklegung über zehn Wochen ausstehend – dazu kömmt, daß ich aus Not gezwungen war, das Werk deutlich unter Wert zu verkaufen; in normalen Zeiten hätte es mir das Drei- bis Vierfache eingebracht. – Der Wasserkopf Bürokratie verweigerte aus den fadenscheinigsten Gründen eine mir an sich zustehende Reiseentschädigung; ich mußte meine Abreise um etwa zweieinhalb Wochen verschieben; endlich hatte man ein Einsehen und gestand mir gleichwohl eine geringfügige Entschädigung zu – gerade soviel, daß ich den Heimweg unter meine ausgelatschten Stiefel nehmen konnte; man wollte mich nun plötzlich offenkundig und möglichst schnell loswerden! Welch seltsame Welt! Ich dirigierte den Wechsel Ulrikens nach Berlin um: die gute, liebe Ulrike! – sie hat ungemein viel für mich getan, vor allem auch einen Großteil ihres Vermögens in mich investiert: ich war festen Willens, ihr möglichst alles wieder auf Heller und Pfennig zurückzuerstatten: dieser Beilbrief des Schicksals lastete zentnerschwer auf meinem Gewissen, und mein größter Wunsch war nur noch, finanziell soweit unabhängig sein zu können, daß ich mich wenigstens aus eigener Kraft, vermittelst meiner Kunst, durchzubringen befähigt wäre. An Heirat oder gar eine Familiengründung dachte ich längst nicht mehr – ich war mittlerweile viel zu eigenbrötlerisch geworden, als daß mich eine Frau noch hätte an ihrer Seite dulden können, geschweige denn, daß ich eine ganze Familie unter solch mißlicher Ausgangslage zu ernähren imstande gewesen wäre. Nach einer rund zweiwöchigen Reise, die ich, unter diesen denkbar schlechten Umständen, ziemlich freudig hinter mich brachte – sonach war ich doch froh, wieder unter freiem Himmel mein Dasein fristen zu können! –, erreichte ich Anfang August Berlin und, nach Zwischenstationen bei Verwandten und Freunden, Ende August mein geliebtes Dresden!
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VII. Große Zeit in Dresden Die Tore des Janustempels zwischen Frankreich und Preußen waren seit Tilsit wieder verschlossen: doch um welchen Preis! Gedemütigt und malträtiert lag mein Vaterland darnieder – Napoleon versuchte, nicht zuletzt vermittelst der ungeheuren Kontributionen, den zähen Willen unseres Volkes für immer zu brechen. Aber nicht unterzukriegen, hartnäckig!, regte sich unter der Decke aufgezwungnen Friedens der widerborstige und heldenmütige Charakter von deutschen Männern und Frauen, die sich nicht einfach geschlagen geben mögen; nachmalig findet sich mein Wille in einem ideellen, nationalen Gefäße wieder: nämlich dem der politischen Dichtung; vorerst jedoch hatte ich andere Pläne. Voll guten Mutes begab ich mich über Cottbus nach Dresden; nach der langen Inhaftnahme regte sich in meinem Busen so etwas wie ein neuer Frühling: ein regelrechter Stimmungsumschwung zeichnete sich ab – ich verspürte einen selten dagewesenen, alles übersteigenden Arbeitsdrang, eine Frische des Geistes, eine mir kaum bekannte Leichtigkeit der Seele! Mein «Amphitryon» war veröffentlicht, mein «Krug» in der Endfassung abgeschlossen, die «Penthesilea» weit fortgediehen; zudem waren einige Erzählungen auf gutem Wege: viele Eisen schmiedete ich in der Esse des neuerlich heißauflodernden Feuers meines Seins – ich war begierig, mich ins Leben, ins literarische Leben zu werfen: wie immer mit allem, was ich zu geben hatte! Vor meinem wachen geistigen Auge verwandelten sich die Lettern meiner Werke in einen mir aufgesetzten Dichter-Lorbeer – ich wußte um meine Fähigkeiten, und ich sah mich, entgegen allen miserablen Erfahrungen, im Musentempel auf den Schild gehoben: wieso dieses Gefühl, diese Intuition? Hatte mich die Liebe berührt? – doch von wannen soll sie dahergeflogen sein? Es war wohl allein das Gefühl der Freiheit, das meine Seele der dunklen Erde enthob, einfach ein Gefühl, ohne Grund und Ursache – ein in Anbetracht der vorherrschenden geschichtlichen Katastrophen seltsamer Optimismus, fürwahr. Mit dem Gefühl – erkenne! Nach Verstandesgründen frug ich nicht mehr: ich war
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des ergebnislosen Grübelns ein für allemal müde geworden, es hat mich zermürbt! Dresden war eine quirlige Hauptstadt, lebendig und offen, mit etwa 55.000 Einwohnern. Hier kreuzten sich zudem die Wege mit meinen lieben Freunden Rühle und Pfuel wieder. – Rühle war unterdes in Gouverneursdienste bei Prinz Bernhard zu SachsenWeimar getreten; wegen seinen weitläufigen Beziehungen war es ihm möglich, mir in einige Gesellschaften und Häuser Zutritt zu verschaffen und mich dort einzuführen. Pfuel, ebenso durch Rühle vermittelt, ward als Lehrer beauftragt, den Prinzen in Kriegswissenschaften zu unterrichten: nach meinen kräftezehrenden, aberwitzigen Irrfahrten wuchs in mir ein unbestimmtes Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit wieder heran, wie ich es in meiner frühen Jugend, als Mutter und Vater noch lebten, im Ansatz erfuhr – ein Gefühl, welches ich so lange, so dauerhaft ersehnt hatte und das wirklich zu erleben mir vom Schicksal nie vergönnt gewesen war! Viele neue Freundschaften ergaben sich oder konnte ich erneut in Pflege nehmen – und das zudem noch in der Stadt, an der mein Herz hing, der Stadt der Künste! Obzwar die Sachsen unmittelbar nach der Schlacht von Jena zu Napoleon übergetreten und unverbrüchlicher Part des Rheinbundes waren, scherte mich dies momentan reichlich wenig. Es ging schließlich um mein Fortgedeihen, mein Überleben! Ich wollte in das großen Webwerk des Lebens meinen eignen, goldverbrämten Faden einflechten: im weiteren Verfolg sollte sich einmal mehr herausstellen, daß ich – allem zum Trotz und entgegen anderslautenden Meinungen – äußerst lernfähig bin, wie ich bereits vielfach unter Beweis stellen konnte: sehr gewieft und aus unmittelbarem, innerem Antrieb nahm ich neue Taktiken und Verhaltensmuster in mich auf, lernte zu tarnen, ohne aber je meine sinnreichen Ziele aus den Augen zu verlieren. Ich lernte vor allem, noch weit biegsamer auf jeweilige Sachlagen einzugehen: diese selbstquälerisch unter Schweiß und Tränen errungene Kompromißbereitschaft war einer der Gründe, weshalb ich mich unter diesen politisch äußerst schwierigen Bedingungen überhaupt nach Dresden begab. Der hervorstechende Mann und künftige Freund, der für mein
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Leben von prominenter Wichtigkeit werden würde, war Adam Müller, ein stockkonservativer Philosoph romantischer Schule und Staatswissenschaftler. Wiederum war es Rühle, der hier die Kontakte knüpfte und übrigens Müller als Gouverneur für Staatswissenschaften ebenso in die Dienste des jungen Prinzen vermittelte. Adam Müller war es auch (und blieb es wohl als einziger, bis zuletzt! – vielleicht nebst dem alten Wieland, der mich zwar schätzte, doch nie handfest unterstütze), der sich in vollkommener Überzeugung von mir einnehmen ließ und sich als ein wahrhafter Bewunderer meines dichterischen Talents auszeichnete, der mich für einen der hervorragendsten lebenden Dichter deutscher Sprache hielt und mich allseits in vorbildlichster Manier publizistisch bekanntmachte – ich habe ihm sehr viel zu verdanken: vor allem aber seine Liebe zu meinem Talent, was mich in meiner Selbstschätzung erheblich, ja ungemein stärkte; er war es endlich, der mir das geraubte Haar Simsons zurückgab! Diese stark empfundene Last meiner Unzulänglichkeit begann in dem Augenblicke, als ich den Fuß auf den Boden Dresdens setzte, zu schwinden, was mich sicherlich ein wenig übermütig werden ließ. Müller war ein sehr gewitzter, eleganter und höchst eloquenter sowie schillernder Kopf von unverschämter Raffinesse. Seine Galanterie – die mir beispielsweise vollständig abgeht: man begegnet mir zwar stets mit Respekt, aber der gebührenden Distanz; das Leichte, Elegante ist und blieb mir immer fremd – erschloß ihm mancherlei Kontakte, die auch mir zugute kamen: – solcherart ging er bei den Abgesandten Österreichs, Rußlands und Frankreichs als gern gesehner Gast ein und aus. Ebenso ergingen Einladungen ins Körnersche Haus – der bekannte Freund Schillers und Kunstmäzen: Christian Gottfried Körner! –, worin ich etliche anregende Abende verbrachte! Ja endlich, nach solch langer Zeit des fruchtlosen Umherwanderns in öder Wüstenei, fühlte ich mich heimisch, fand ich niveauvolle Gleichgesinnte: Künstler, Gelehrte, Reformer – ein erlauchter Kreis nach meinem Gusto. Nunmehr schien die Zeit, meine Zeit! gekommen, um in die breite Öffentlichkeit zu treten. Schon immer war ich ein ungestümes Arbeitstier – jetzo allerdings erhöhte ich mein Pensum dergestalt, daß es im eigentlichen weit
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über meine Kräfte ging, und dennoch fühlte ich mich weder unwohl noch krank! Die mir geradewegs heraufblühende Dresdner Epoche war diejenige, welche sich als die fruchtbarste Schaffensperiode in meinem gesamten Leben erweisen würde. – Ein Fieber, ein glücksverheißendes Fieber faßte mich häuptlings und schleifte mich eilfertig durch sämtliche Hallen der Musen!
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Eines Tages initiierte Körner einen Gedanken, der mein Feuer heilig und hell auflodern ließ: ich solle doch – zusammen mit meinen Kollegen – eine Buch-, Karten- und Kunsthandlung gründen und mich in die Selbständigkeit begeben! In der Folge ging es mit inbrünstigem Unternehmergeist an die Sache; ein weiteres Ziel war es, dem darniederliegenden Kulturbetrieb wieder auf die Beine zu verhelfen – ich faßte darüber einen nahezu missionarischen Eifer: neue Ideen, Gedanken, ein erneuter Aufbruch in eine gerechtere Welt sollten mit ersten, stramm vollführten Stechschritten verwirklicht werden. – Rückblickend betrachtet, stelle ich ernüchtert fest, daß ich überhaupt der einzige des verschworenen Trüppchens war, der mit gepanzert-unbeugsamem Idealismus den ganzen großartigen Wurf ins Werk setzte: als es schließlich hart auf hart kam, sprangen alle andern vorzeitig ab – diese eisenfresserischen Realisten! Nun ja, der Unlauterkeit vermag ich sie nicht zu zeihen, aber enttäuscht war ich dennoch – zutiefst enttäuscht. Vorerst waren wir begierig um die Erlangung des ausgelobten Auftrags bemüht, den Code Napoléon zu verlegen, welcher unter den Rheinbündnern neuerdings eingeführt werden sollte; der französische Gesandte, Jean-François de Bourgoing, nährte unsere Hoffnungen und unsere Zuversicht aufs ergiebigste, weswegen ich es sogar unternahm – mein Schamgefühl unterdrückend –, an Ulriken zu schreiben, selbst auf die Gefahr hin, daß man mich der Kollaboration bezichtigte: diesen Bedenken versuchte ich natürlich im vornhinein entgegenzutreten, schließlich ging es um nichts weniger als um meine Zukunft! Vermutlich saßen die vorgefaß-
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ten Meinungen längst untilgbar in den Gedächtnissen all meiner Verwandten, so daß sämtliches Aalen und Winden nichts nutzte. – Unter anderem warb ich hingebungsvoll um Ulriken: ich lud sie im Überschwange nach Dresden, auf daß ich ihr meine alten und neu gewonnenen Freunde vorstellen könne, womit sie sich selbst ein Bild über meine heranblühende, leuchtende Zukunft zu zeichnen imstande sei. Ich sprach ihr zu, sie beispielsweise ins Hause Joseph von Buols, des österreichischen Gesandten hier in Sachsen, einführen zu wollen oder bei Körner und auch beim Landrat Peter von Haza (in dessen Schloß in Posen übrigens Adam Müller eine hübsche Zeitlang als Hofmeister gedient hatte, bis die Familie, der Erziehung ihrer Kinder wegen, nach Dresden umzog). – Ich schilderte ihr in allen Einzelheiten, wie etwa verschiedentlich in größeren öffentlichen Gesellschaften einige meiner Werke vorgelesen wurden, und zwar unter ausgiebigem und lang anhaltendem Beifall der Menge – ja daß Goethe gar plane, den «Krug» auf die Weimarsche Bühne zu bringen! Und schließlich ließ ich sie wissen, daß ich zu meinem 30. Geburtstag im Hause des österreichischen Gesandten, vor den Augen einer beachtlichen und nennenswerten Tafel, von einem herrlichen, göttlichen jungen Engel namens Julie Kunze mit dem Dichter-Lorbeer gekrönt worden wäre – der größte Triumph, der schönste und heiligste Tag meines Lebens! Kurzum – ich war der Meinung, daß über soviel wunderbarer Nachrichten die Schwester ein Einsehen hätte und mich weiterhin finanziell unterstützen würde: gerade jetzt, da alles dermaßen gut anging wie noch nie! – Gleichviel; es verfing bei ihr nicht, wie ich erhoffte. Nun, an die Spitze der geplanten Verlagsbuchhandlung sollte Rühle treten; Müller, Pfuel und ich wären Mitarbeiter und Aktionäre. Es ward geplant, daß Rühle siebenhundert, Pfuel – von seinem wohlhabenden Bruder unterstützet – neunhundert und ich fünfhundert Taler einschießen sollten: um dieses Geld also warb ich bei Ulrike; es ist ein wahrer Greuel, derart abhängig zu sein und betteln zu müssen: es ward mir nur möglich, weil ich stets das Ziel vor Augen hatte und mich auf nichts anderes konzentrierte, sonst hätte ich verzweifeln müssen … – Offenbar gewichtete sie, nüchterner als ich, das Risiko weit höher, und leider behielt sie recht! Genau dieser leidige Geldmangel verhinderte es, die Eröffnungsli-
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zenz zu erwerben; abgesehen davon hatten wir sämtliche Dresdner Buchhändler gegen uns, welche unsere Bemühungen hintertrieben: denn wer teilt einen Kuchen schon gerne. Der Antrag auf Erteilung des Buchhändlerprivilegs wurde gegen Ende Februar 1808 abschlägig beschieden – deshalb entschieden wir uns, einen Selbstverlag aufzubauen: wir hofften dabei auf anderweitige Unterstützung, welche zwar unmißverständlich zugesagt wurde, in der Folge aber nicht verwirklicht werden konnte. Allen Widrigkeiten zum Trotz gaben wir um den Beginn des Jahres 1808 die erste Nummer der Monatsschrift «Phöbus – Ein Journal für die Kunst» heraus: ein eigenwilliges Magazin, unter Müllers und meiner Federführung. Der Prolog umriß mit folgenden Versen unser begeistert anvisiertes Ziel, unser Kunstprogramm: «Wettre hinein, o du, mit deinen flammenden Rossen, Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum! Gib den Horen dich hin! Nicht um dich, neben, noch rückwärts, Vorwärts wende den Blick, wo das Geschwader sich regt! Donnr‘ einher, gleichviel, ob über die Länder der Menschen, Achtlos, welchem du steigst, welchem Geschlecht du versinkst, Hier jetzt lenke, jetzt dort, so wie die Faust sich dir stellet, Weil die Kraft dich, der Kraft spielende Übung, erfreut. Fehlen nicht wirst du, du triffst, es ist der Tanz um die Erde, Und auch vom Wartturm entdeckt unten ein Späher das Maß.» In der Voranzeige der Spenerschen Zeitung vom 9. Januar 1808 meldeten wir uns unter anderem wie folgt zu Worte und verlautbarten zugleich unseren programmatischen Anspruch: «Wir selbst wissen unsere Arbeiten an keinen ehrenvolleren Platz zu stellen, als neben andere ebenso eigentümliche und strenge; Ansichten und Werke können sehr wohl miteinander streiten, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Aber wie wir selbst bewaffnet sind, werden wir keinen anderen Unbewaffneten oder auch nur Leichtbewaffneten auf dem Kampfplatz, den wir hierdurch eröffnen, neben uns leiden.» Traditionen, Konventionen, Antiquiertes, sämtlichen Wust einer abgelebten Gesellschaft wollten wir hinter uns lassen und uns auf
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eine Zeitenwende, auf eine Erneuerung der Künste konzentrieren. Wir wollten Anstöße vermitteln, Impulsgeber sein, reformistisches Gedankengut verbreiten; nichts sollte uns bremsen oder irgendwie hindern. – Im Besonderen war mir wichtig, das Eigen-Denken des Menschen zu befördern; er sollte sich endlich seiner Mündigkeit als aufgeklärtes Individuum im Sinne Kants bewußt werden: nicht mehr – wie es im Mittelalter gepflegt wurde – irgendwelchen Autoritäten blindlings das Wort zu reden, sondern über persönliches Nachdenken zur eigenen, unumstößlichen Meinung zu gelangen, muß der Antrieb des neuen, freidenkenden Menschen sein – das Ziel eines Bewußtwerdungsprozesses auf allen Ebenen mit den Mitteln der Kunst! Das Individuum sollte sich demnach seiner selbst innewerden und dergestalt die Fähigkeiten zur Unabhängigkeit in jedweder Beziehung erhalten: es war das Programm eines neuen Menschenbildes in einem aufbrechenden neuen Zeitalter! Entgegen der flachbrüstigen Kurzatmigkeit des gegenwärtigen Zeitgeistes wollten wir ein erweitertes Forum bereiten: ein breitgefächertes, anspruchsvolles Miteinander erwirken. – Wir versprachen, uns keiner bestimmten Richtung zu verschreiben; einzig die Qualität sollte der alles verbindende Maßstab sein! Ein Schwachpunkt in unseren Überlegungen mochte darin liegen, daß wir zu elitär, wiewohl ohne falsche Bescheidenheit verfuhren – wobei ich diese Vorgehensweise nach wie vor für richtig halte; wir bemühten uns um Mitarbeit und Beiträge der berühmtesten Autoren in deutschen Landen: so Wieland, Goethe, Jean Paul, die Schlegels etc. Leider gingen, abgesehen von einigen bloß beiläufigen als auch unverbindlichen Zusagen, keine wesentlichen Manuskripte ein, obgleich wir einen sehr guten Preis auslobten. Das Hauptkontingent der ersten Ausgaben umfaßte lediglich Teile von einigen Schriften Müllers und mir: ich veröffentlichte erste organische Fragmente meiner «Penthesilea» sowie des «Käthchens von Heilbronn»; daneben rekonstruierte ich die zu Paris vernichteten Fragmente meines «Robert Guiskard»; als weitere Einsprengsel dienten Gedichte und Epigramme. Ein wesentlicher Schwachpunkt hingegen: wir gingen nachweislich zu viele Risiken ein! Zudem war der Markt mit Kunstjournalen übersättigt, so daß wir wei-
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terhin von verschiedenster Seite befeindet und bekämpft wurden: schließlich waren wir unzimperlich und übermütig-selbstbewußt zu Werke gegangen, was gleichsam doppelt befremdete und einige Neider auf den Plan rief. – Nun, leider bin ich noch nie der Mensch gewesen, der auch nur um ein winzigstes Gran nachgibt, wenn der Preis dafür sein sollte, sich selbst zu verleugnen: trotz aller dazugelernten Geschmeidigkeit und Pragmatik war es mir nie wirklich vergönnt, diesen quälenden Schatten von stählerner Hartsinnigkeit zu überspringen! Wahrscheinlich ist ebenso die unglückliche Episode mit Goethe allein meinem Ungestüm zu verdanken: nun, dies muß ich auf meine Kappe nehmen, zugegeben. Einige Zeit, nachdem Müller Goethen meinen «Zerbrochnen Krug» zur Kenntnis gebracht hatte und unsere Bitten um Beiträge ins Leere gingen, doppelte ich gegen Ende Januar 1808 nach, indem ich ihm meine im Herbst 1807 fertiggestellte «Penthesilea», zusammen mit einer Ausgabe des Phöbus, zustellen ließ. Ich wußte: seine Meinung war entscheidend – galt er doch als der wahrhafte und einzig noch lebende «Olympier»; ich bat ihn auf den Knieen meines Herzens (wankend zwischen meinem beißenden Minderwert sowie der, als Ausgleich hiezu, sich mitunter aufbäumenden Selbstherrlichkeit, die mich leider dazu verleitete, einige – vor allem in diesem Augenblicke unnötige – kritische Anmerkungen zu der zeitgenössischen Bühnentradition beizufügen: natürlich nahm ich die Weimarer Hofbühne aus, was gerade nochmals abgefeimt erscheinen mußte) um seine Meinung, welche selbstredend eine – wohl kaum nach meiner alleinigen Überzeugung – richtungsweisende sein würde! Das Verdikt war vernichtend: neutrale, nichtssagende Zurückhaltung; zwar nichts Abwertendes, Kritisches, allerdings auch nichts Förderliches, geschweige denn Lobendes, was von ihm in die Waagschale geworfen wurde – ein rein taktisches Manöver. Ich sahe mich über alle Maßen enttäuscht: war doch diese großmeisterlich vorgelebte Unberührtheit de facto ein unausgesprochen herbeigeführter Schiffbruch! Ich hatte mit meiner «Penthesilea» mutig alles riskiert, bislang unentdecktes Neuland betreten – und es schien vorerst, daß ich damit alles verloren hätte. – Gleichviel, einen Funken Hoffnung
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setzte ich in die geplante Aufführung des «Kruges» auf der Weimarer Bühne unter der Leitung Goethes, welche auf Anfang März festgesetzt wurde: allein, die Vorgaben verhießen nichts Gutes. – Die «Penthesilea» war neu, war anders: ungewöhnlich. Sie ward in verschiedenen Kreisen vorgelesen und – wie soll ich sagen: sie ward stets mit Respekt aufgenommen, von den wichtigen Leuten als gleichermaßen genial wie ungeheuerlich erkannt, doch sie schockierte … – eigentlich jeden! – All meine Stücke haben auf die eine oder andere Weise einen verwandten Effekt, wie es sich mir bemerklich aufdrang: man haßte mich darob, oder man liebte mich, wie etwa Müller, der mich immer und überall, bis zuletzt, verteidigte: etwas Vernünftiges dazwischen existierte schlicht und einfach nicht. Deswegen nahm ich Goethen sein Nicht-Urteil durchaus übel – obgleich ich meinen Arg weitestgehend überwand, um die Bühnenaufführung des «Wasserkruges», wie ihn Goethe vor einem meiner Freunde später despektierlich nannte, abzuwarten. Das «Käthchen von Heilbronn» war mein erster und zugleich letzter (Bühnen-)Kompromiß, um dem gegenwärtigen Zeitgeist in einigen Punkten Tribut zu zollen: aber weit wichtiger! Mein «Käthchen» ist die Rückseite der Medaille, deren Vorderseite die «Penthesilea» trägt: – wer des Antlitzes meiner Seele ansichtig sein möchte, verschmelze diese beiden ungewöhnlichen Frauengestalten in ein vollkommenes Ganzes! Das gute Käthchen ward aus dem inneren Drang des Ausgleichs geboren – ich ging mit ihr während meiner Arbeit an der Amazonenkönigin schwanger und warf sie alsgleich noch vor Beendigung der Griechensage in einer ersten Skizze …
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Ich verliebte mich in Julie Kunze, die beachtlich bemittelte Pflegetochter Körners: in diese junge, attraktive Fee! Ich spürte klar, wie die Zuneigung auch sie ergriff – allerdings bat sie sich aus, ob ihrer Minderjährigkeit und wohl ebenso aus einem ihr innewohnenden
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Schamgefühl, daß wir noch eine geeignete Gelegenheit abwarten sollten, um unsere Liebe ihrer Pflegefamilie, der sie aufs innigste mit großer Zärtlichkeit und pflichtheischender Liebe zugetan war, offenkundig werden zu lassen. Ich spornte sie deswegen an, sie möge mit mir während dieser Zeit wenigstens einen geheimen Briefwechsel unterhalten – denn leider ward ich infolge meiner vernichtenden Erfahrungen mittlerweile überaus mißtrauisch gegenüber allem und jedem; sie lehnte das Ansinnen rundweg ab, was mich sehr kränkte. Die darauf aufkeimenden Spannungen zwischen uns führten zum Bruch; inwiefern Dora Stock, die Schwägerin und Mitbewohnerin im Hause Körners, ihre intriganten Finger mit im Spiele hatte, vermag ich kaum mehr auszumitteln: ihr war jedenfalls unsere gegenseitige Zuneigung bekannt; sie mochte mich nicht, und ihr war daran gelegen, einen Keil zwischen uns zu treiben. Ihr verdanke ich wohl zumindest den spruchbekannten letzten Tropfen in ein bereits überfülltes Faß … Diese erneute, und übrigens vehemente, Ablehnung durch eine Frau traf mich tief – desgleichen fiel sie gerade in die sensible Zeitphase, in welcher meine «Penthesilea» allerenden eine kalt-zurückhaltende Abfuhr erhielt: die Summe all dessen traf mich mitten ins Mark! Des weiteren war meine – durchaus unfreiwillige – geschlechtliche Enthaltsamkeit nicht eben dazu angetan, die innerlich aufwallende Hitze zu dämpfen: Pfuel mahnte mich, ich möchte doch nun endlich, endlich! eine Gassen-Venus aufgreifen, um den Druck loszuwerden; er hielte meine ständige Gereiztheit bald nicht mehr aus (wir bewohnten benachbarte Stuben in demselben Hause der Prinaschen Vorstadt; und öfters suchte ich ihn zu Gesprächen und geselligem Austausch auf – wie eh und je wirkte seine Wesenheit in einer wohltuenden, beruhigenden Weise auf mein Gemüt ein). Aber weder hatte ich das Geld für solcherlei Eskapaden – und selbst wenn ich darüber verfügte, reute mich eine solche Ausgabe: meine Gelder steckte ich fortwährend in meine Projekte, und nicht … – noch war ich an einer derartigen Variante interessiert –: denn meine Erlösung liegt in den Händen eines Weibes, welches mich so lieben würde, wie ich eben bin; eines holden, lieblichen Wesens: in einem Worte – einer heilen weiblichen Natur, welche mir all dies gewährte, was ich meinen Lebtag lang vermißt habe: Anerkennung, Geborgenheit,
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wissende Liebe, Eins-Sein, verinnerlichte Ruhe, das Verstandenwerden aus den tieflotendsten Urgründen der Seele heraus – kurzum: das Mystisch-Unaussprechbare! Gibt es überhaupt ein solches Weib? Ich bin sicher: ja! Doch nicht im Diesseits; hier genügte mir, wenn ich wenigstens jemanden fände, der mir diese Illusion erfüllte – gleich, ob dies nun ein Mann oder eine Frau sei; denn ich habe schon lange aufgegeben, nach dem Glücke hinzuspähen. – Wie auch immer, ich bin und bleibe ein Mann der Tat: vermittelst eines überzeugten Gefühls sowie unwillkürlicher, ja unerklärlicher Zielklarheit setze ich alles um, was mir zu Gebote steht; selten zögre ich lange. Umgesetzet soll die Idee sein! Ich denke, daß dies – falls überhaupt – die einzige wahre Chance darbietet, wenigstens einige glückliche Momente im wild-wirbelnden Flusse des unerbittlich harten Lebens zu erhaschen. Tatenlosigkeit ist der Tod – zumindest meiner … Und genau das ist mir die größte Schwierigkeit: die Balance zu halten zwischen meinem aktiven Wollen und den sich mir bietenden Möglichkeiten, zwischen Trieb und Gegentrieb, endlich zwischen Wollen und Können im weitesten Sinne – das damit induzierte massive Spannungsgefälle wirkt unmittelbar auf meinen Körper ein, welcher mit seinen Unpäßlichkeiten antwortet und mir das an sich robuste Nervengerüste, ohne Halt langsam fortschreitend, zerstört: herzzernagende, zermürbende Seelenzustände reichen sich dergestalt abwechselnd die Stäbe mit den euphorischsten Überschwenglichkeiten; eben diese mein gesamtes Dasein unterminierenden Spannungszustände müssen abgeführt werden – doch wie? Ich vermochte es meist über die Arbeit zu bewerkstelligen; allerdings bemerkte ich eine damit einhergehende, fortschreitende Metamorphose – es tat sich was – doch was? Ich spürte es: ich bedürfte eines ergänzenden, weiblichen Parts – je länger, je mehr! Und gleichzeitig fühlte ich mich – ebenfalls im preußischen Stechschritt marschierend – weiter in die Einsamkeit, die totale Isolation abwandern. – Ich denke, Julie Kunze: ein waschechter Backfisch mit den entsprechenden Flausen im Kopf, war noch zu jung, um meinen Wünschen zu entsprechen, ja sie überhaupt zu verstehen; ich dagegen zu eigensinnig, ernst und mißtrauisch: wahrscheinlich einfach durch meinen bereits zurückgelegten Schicksalsweg zu verformt. Ich erkenne
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mittlerweile auch, daß ich in die Kunze einmal mehr etwas hinein interpretiert habe, was sie nie und nimmer hätte erfüllen können. Ich hatte wieder einmal sowohl mich als auch das Gegenüber maßlos überfordert. – Als schließlich nichts mehr half und ich mitbekam, daß all meine Bemühungen vergebens waren, verabschiedete ich mich von meinem Mädchen mit einem doppelbödig-einfachen, auf ihr kindliches Gemüt zugeschnittenen Gedicht, das ich ihr klammheimlich zusteckte. Ob sie begriff, was ich damit ausdrücken wollte? Ich bezweifle es. Jedenfalls: wie all meine Abschiede zu sein pflegen, war auch dieser unwiderruflich; später dann ward ich wiederum froh zu hören – vergleichbar zur Geschichte mit Wilhelminen oder Luisen –, daß sie ihr großes Glück gefunden und geheiratet hätte. Ich mochte es «meinen» Frauen allen gönnen – denn mit dem genügenden zeitlichen wie räumlichen Abstand verwandelten sich diese holden Seelen alle in mein «Käthchen von Heilbronn»; rückten sie mir hingegen zu nahe auf den Pelz, sah ich in ihnen insonderheit meine «Penthesilea» – welch eine Gottheit mag mir entschlüsseln, was dies bedeuten soll? Welch ein verrücktes Seelenkonstrukt wurde in mir angelegt? Welch ein seltsamer Gott kömmt überhaupt auf eine solch abwegige Idee?
Feen-Gesicht? (An Julie) ‘s gäb ein Engel – so heißt es. ‘s gäb Äthergestalten, Die den Himmel, die Erde durchwalten. ‘s gäb Teufel – so heißt es. ‘s gäb dunkle Alraunen, Die der Erde tief Innres durchgrauen. ‘s gäb ein Mädel – so heißt es. ‘s gäb eine funkelnde Fee, Die finstre Alraunen verwandelt in Schnee. Wie heißt sie, wie heißt diese Fee? Sei‘s nun ein Beelzebub oder Engel! Julie, Julie – so nennt sich der Bengel.
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Es ist traurig: mein Pech in der Liebe – oder auch: das Pech, von der Gottheit eine derart große Sehnsucht ins Herz eingepflanzt erhalten zu haben – ließ mich zusätzlich bitter werden, und zwar dermaßen bitter, daß ich mich selbst mit meinem liebsten Freund und Gönner anfeindete. – Sonach geschehen im Winter 1808 aus einer dummen Geschichte heraus: Sophie von Haza, eine fast gleichaltrige Freundin von uns beiden, liebte ich hauptsächlich ihres Geistes wegen; es handelte sich um eine sehr interessante Persönlichkeit von ausgeprägtem Witz sowie einer durchweg gutproportionierten Weiblichkeit und einer Ausstrahlung, die mir ausgesprochen behagte; ich verehrte sie solcherart, daß ich ihr unter anderem einige meiner Manuskriptabschriften überließ! Man hinterbrachte mir zwar, sie sei falsch und hetze gegen diesen und jenen im Verborgnen: allein, ich mochte es nicht glauben; jedenfalls ward sie gegen mich stets von großmütigster Zärtlichkeit, so daß ich keinesfalls etwas Unappetitliches zu berichten wüßte. Den Fertigkeiten Müllers, bislang Günstling der Hazas und vormals ja Hofmeister der Familie in Posen, ist der unablässig wachsende Erfolg zu verdanken, welcher Sophies Salon zum Mittelpunkt der Romantiker in Dresden umzugestalten wußte – was sie sicherlich aufmerksam beobachtete und ihr kaum entgehen konnte. Wie dem auch sei: sie verliebten sich ineinander, obgleich sie noch verheiratet und Mutter vierer Kinder war! – Ein Skandal, welcher den Klatsch und Tratsch zu nähren verstand. Ihr Gatte, Boguslaus Peter von Haza, sann auf Versöhnung: der arme Kerl! saß jetzt in traurigstem Zustande mit seinen vier Kindern vor dem Nichts. – So kam es, daß er mich um Mithülfe bat, die beschädigte Ehe möglichst wiederherzurichten. Natürlich geriet ich dann, ob all des unter solcherlei Verfahren heraufziehenden Wirrwarrs, in spannungsreiche Auseinandersetzungen mit Müllern: nicht ganz uneigennützig, gebe ich zu, schlug ich mich auf die Seite Herrn von Hazas. Es war nicht Müller, den ich etwa beneidete, sondern Sophie, die ich gleichermaßen liebte und haßte! – Einerseits verläßt man doch nicht vier Kinder, allein einer Liebschaft wegen; andererseits verstanden wir beide uns geistig mindestens so gut wie sie sich mit Adam. Ich vermutete wohl, daß das Geld, der größere Erfolg, die geschmeidige Galanterie Adams den Ausschlag zur Liebe gab: und ich stand einmal mehr mit lee-
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ren Händen da, obgleich ich alles gegeben hatte; ich verspürte einen herzlosen Undank – und deswegen einen stummen Haß bei gleichbleibender, tiefer Zuneigung! Der arme Müller mußte mir, in Anschlag der unglücklichen Verwickelungen fast notwendig, als Blitzableiter dienen; ich warf ihm eine Verwerflichkeit vor, und wir griffen uns wegen dieser Frau ein-, zweimal recht heftig in die Haare. Bald allerdings merkte ich, daß es den beiden mit ihrer Liebe mehr als nur ernst war: ich erkannte, daß es weit gescheiter wäre, mich unter solcherlei Aspekten für sie zu verwenden. – Glücklicherweise war das Zerwürfnis zwischen Müller und mir kein wesentliches und bloß von sehr kurzer Dauer: wir waren viel zu stark auf ein gemeinsames Ziel geeicht; beide konnten voneinander profitieren; endlich deckten sich selbst unsere verlegerischen Ambitionen; und beide waren wir nicht dumm – so reichten wir uns wieder die Hände!
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Dresden, 26. Dezember 1808
Lieber, hochmögender Adam! Vorab möchte ich bei Dir herzlich um Verzeihung nachsuchen – allerdings bin ich mir keines Fehls bewußt, zumal ich lediglich die Angelegenheiten Herrn von Hazas vertrat, wenngleich mit stärkerer Inbrunst, als wohl angemessen gewesen wäre: Du weißt, wovon ich spreche! Zur Erhellung des einen oder anderen – und nicht etwa zur Verteidigung, noch weniger zur Entschuldigung! – erlaube ich mir, zwei, drei Worte anzumerken: Meiner Meinung nach hast Du in dieser unserer Angelegenheit, vermöge Deiner inneren Seelenschau, sehr feinsinnig «meine verkappte Triebfeder mit einem Gelüst zur Dogmatik» herausgespürt – nur gilt es, die Sache ins rechte Licht zu
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rücken. Hätte ich mein Wesen, mein Ich nicht wenigstens einigermaßen erkennend durchdrungen, so wäre ich sicherlich ein sehr gefährlicher Mensch; aufgrund dessen, daß ich aber um meine Idee weiß, sind diese meine Schwächen handhabbar geworden, und ich führe sie demgemäß ins große Schlachtenfeld des Lebens (denn auf dieser Stufe der Verkörperungen ist für mich alles, wirklich alles, ein Kampf im weitesten Sinne, was ich aber nicht mit Schlechtigkeit belegt wissen will – es ist dies für mich ein reines Faktum). Was meint: indem ich meine Kräfte für eine gute, gesunde und edle Sache einsetze – denn die «Idee» hat mich gewählt und, sehr unbescheiden, ich weiß, ich sie –, wird das Leben insgesamt davon profitieren können. – Ja, Du hast recht, lieber Adam: es sind gezielte Spitzen in meinem Wirken, wie in meinen Werken, verbrämt, die sich auf zweierlei Weise erklären: erstens habe ich mannigfach Ungerechtigkeiten durch heuchlerische Menschen erlebt, welche immerfort Toleranz, Humanität, Sozietät und dergleichen edle Tugenden mehr predigten, hintenrum aber versuchten, einem den «Hahn abzudrehen»; und zweitens – der wohl tiefere, wahre Grund – bin ich, bildlich gesprochen, ein sproßbürtiger Mischling eines Säbelzahntigers wie eines Schafes. Wie Dir bekannt, bezeichne ich mich gerne als den inkarnierten Widerspruch der Schöpfung und dessen Lösung: dies ist weiter und tiefer zu denken, als es einem Menschen überhaupt möglich ist! – Der Ursache wegen kann ich die Spitzen nicht tilgen – ich verleugnete mich selbst … Man sollte eben den Tiger in mir nicht reizen – mich reizte mein Schicksal und seine Umgebung! Armes Schicksal – und mitunter: arme Umgebung. Ich kann Dir, lieber Adam, diesen Kritikpunkt nicht übelnehmen, denn er ist ehrlich; doch ich möchte betonen, daß ich gegenüber den anständigen Menschen nie überheblich oder unbescheiden sein will. Allein der Gegner bekömmt den Stahl zu schmecken. – Ich weiß, ich weiß: all dies gehörte nicht in eine Wirkungsgeschichte gearbeitet, wirst Du sagen – doch gehöre ich ins Leben? Hätte die Gottheit das Ungewöhnliche nicht gewünscht, hätte sie mich auch nicht geschaffen. Du siehst wohl, worauf es hinausläuft: würde ich die ungeheure, maßlose Energie dieses Spannungsgefälles zwischen meinem Minderwert, gründend in meinem Schicksal und was alles
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damit im Gefolge als böser Albtraum auftritt, und meinem «Größenwahn», den man mir mitunter vorwirft, nicht glücklich in ein Neues, erweitert Anderes geboren haben, wäre ich nichts anderes als ein bedauernswerter Mensch, der im übrigen kaum mehr lebte, denn er wäre eine lebensunfähige Mißgeburt (die Natur weiß sich schon selbst zu schützen)! Wer mein Leben kennt und sieht, was ich daraus gewirkt habe, wird verstummen müssen. Wer es nicht kennt, der wird einiges als «Überheblichkeit», «Unbescheidenheit» – diese Kennungen sind noch gnädig gefaßt, ich habe bereits viel Ungehalteneres zu Ohren bekommen – klassifizieren wollen oder gar müssen, und ich kann es wahrhaft niemandem übelnehmen, aber ich kann mich im Gegenzuge nicht ständig erklären: man soll mich gefälligst an meinen Taten messen! Glücklicherweise kennt mich die Gottheit ganz – in all meinen Stärken und Schwächen: kennt all meine Gedanken, all mein Fühlen und Sehnen, siehet, was ich tue und lasse! Und ich stehe rein da, völlig lauter; und insofern darf ich sagen, daß sich Deine Anschlußfrage zu meinen Gunsten beantworten läßt. Das tiefsinnige Cicero-Wort gilt mir seit jeher als Leitspruch meines Lebens – bloß: ich interpretiere es anders, auf meine eigene Weise. Hart in der Sache meint: den Gegner zermalmen, dem Unwürdigen keine Gnade gewähren; meint, alles zu unternehmen, um das Lebenswürdige zu schirmen, ihm neue Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten zu gewähren; das heißt, Mauern brechen, Schädel zertrümmern und wo notwendig, Blut in Strömen sprützen lassen; heißt ebenso, sich auf den Krieg vorzubereiten, um den Frieden zu wahren (so spricht der Säbelzahn, der Donnerkeil Gottes zur Rechten). Mild in der Art meint: der Kreatur, dem Lebenswürdigen, Anständigen, Hehren edelmütig begegnen; das Leben zu erhalten und zu schützen als auch großzügig und sanftmütig zu sein, wo kein Verbrechertum und keine kaltblütige Berechnung herrscht; es heißt, die Schöpfung zu lieben, für das Leben dazusein, am Rad des Lebens mitzuwirken, ins Flechtwerk seine unsterbliche Idee einzuweben, sich einzusetzen für das Edle und Würdige (so spricht der Widder, das Lamm Gottes zur Linken). – Der zur Mitte schöpft sich selbst aus sich heraus behufs dieser Spannkräfte als Edlen zum ersten –
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als Gott zum zweiten – als Gottheit zum dritten! Zugegeben: keine leichte Aufgabe, zumal als Mensch; ich denke und hoffe, daß ich der Sache – jedenfalls bis jetzt – gerecht geworden bin und weiterhin gerecht werde, meiner gewaltigen Schwächen zum Trotz! Immerhin: veredelt habe ich mich mit Bestimmtheit. Den Menschen kann ich nur zurufen: Man möge mich prüfen! Nun, mutmaßlich darf ich eben auch von der Gnade Deines in Latein verfaßten Leitsatzes (der dem Sinne nach etwa lautet: daß wir nie wissen werden, was wir alles nicht wissen) – ich erinnre mich nicht mehr, aus welchem Deiner Werke entstammend – mein Scherflein abzweigen?! Wenn nicht ein Wesen meiner Statur, das sich als real inkarnierten Widerspruch erkennt, welches dann sonst? – Woher will man denn «wissen», welcher Willensbildung diese scheinbare Überheblichkeit sowie Unbescheidenheit zum Grunde liegt, was sie bedeutet und welchen Sinn und Zweck sie verfolgt? Zumal sie ja alleine die Spitze des Tigerzahns vorstellt – und nicht etwa das Goldne Vlies des mitverwobnen Schafes. Für mich zwar ist der Ursprung klar, doch ich zwinge niemandem meinen Willen, meine Meinung auf; aber mit meinem Willen bezwinge ich alle unlautre Gegnerschaft, die da heißt: Schwachheit, Kleinmut, Dummheit, Zaghaftigkeit, Bosheit, Arglist und was dergleichen mehr sein mag – mit meinem Willen bezwinge ich zunächst meine eigenen Schwächen: sonach walte ich denn als Zwingherr meiner selbst; im übrigen ist meiner Meinung nach alles zu wissen, was für einen persönlich und individuell gewußt werden sollte und muß, um ein sinnvolles Leben zu führen! – Allerdings: In einem weitestgehend transzendenten Sinne gebe ich Dir, den ich Dich fürwahr als einen wertvoll-edlen Menschen erkenne, bedingt durchaus recht; wobei ich abrundend anmerken möchte, daß ich auf diese schwierige Frage der zu definierenden Bedingtheiten und diffizilen Schlußfolgerungen sowie der damit einhergehenden strengen Konsequenzen an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingehen kann. Nur soviel: Als «unbescheidenem» Menschen ist mir all dies eine gewaltige Herausforderung – und diese Eigenschaft unterscheidet mich von nahezu allen anderen Menschen, sogar, und dies soll etwas heißen!, von Dir, mein lieber Adam, der Du bereits schon – zum Glück
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von uns allen, zum Pech von einigen Nieten – über alle Ziele hinausschießest. Wo andere längst aufgegeben haben, beginne ich erst – ich bin das wahrhaft Andere, der Widerspruch, ja, selbst in sich selbst anders! Ferner, könnte ich mit diesen Tatsachen – die realen Konsequenzen daraus sind erheblich, wie man sich denken kann – nicht fähig umgehen, wie hätte es sein können, daß die Idee, daß Du und ich uns gefunden hätten? Einen Punkt will ich als Erwiderung auf Deinen obigen Ausspruch, und somit auf Deine diesbezügliche Kritik, dennoch streifen (dies ist der wesentliche Punkt, der mich von allen anderen Wesenheiten, die ich kenne, unterscheidet – es geht sogar soweit, daß ich mich, durchaus logisch wie mystisch begriffen, weil im Satz vom inkarnierten Widerspruch und dessen Lösung enthalten, sogar von Wesen, die ich nicht kenne, unterscheide – ich unterscheide mich schließlich selbst von mir selbst, womit der Begriff des «Anderen» ins Ewige zurückgegossen wird, woher er stammt – insofern darf ich mit Fug und Recht behaupten, und darin ruhet gleichsam eine tiefgreifende Gerechtigkeit, daß ich mir eigenst das interessanteste Untersuchungsobjekt – und gleichzeitig das größte Rätsel! – bin, weil mein Selbst in unveräußerlicher Reichhaltigkeit das gesamte Leben enthält und abbildet): Zum Zeitpunkt der Vergottung fällt der Teil mit dem Ganzen zusammen, ohne aber seine jeweilige Individualität zu verlieren! – und dies erkenne ich nicht bloß als eine Theorie; es ist die «andere Seite» von dem, was zum Beispiel Du mit Deiner Lebenserfahrung mitbringst, das heißt, dasselbe aus einem anderen Blickwinkel geschaut; diese äußerst belebenden, aber philosophisch schwierig-schwerwiegenden Gedanken behalte Dir als «Abschlußbouquet» Deiner Arbeit vor – ich hingegen verarbeite sie dichterisch-erdverbunden in meinen Werken: gerade dieses Namenlose stelle ich oftmals in meiner Poesie dadurch her, indem ich meine Gestalten im nämlichen Augenblicke in eine Unmacht fallen lasse – wie sonst ist das Ewige im Endlichen zu versinnbildlichen: außer, man fiele bewußt-unmächtig in seine Seele zurück? – Ich will damit sagen: wenn eine solche Erkenntnisfähigkeit einem Wesen auf unserer Inkarnationsstufe eingeboren ist (wollte ich mich an dieser Stelle verteidigen, fragte ich mit Dir: warum? – wir wissen es nicht!? – ich weiß es und weiß es nicht: es ist das Transzendente
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der «coincidentia oppositorum», wie Du sagen würdest: die Frage stellt sich auf höherer Ebene! gar nicht mehr – zumal ich es weiß, ohne zu wissen …), wirket dies zunächst notwendig einen tiefverwurzelten Zweifel – entweder wird man zwischen den Fronten aufgerieben oder ein alles überragender Wille, mit welchem ich, aufgrund dieser Tatsache, natürlicherweise ausgerüstet bin, formt aus den sich widerstrebenden Kräften eine ewig-neue, ewig-alte frische Schöpfung! Daß man dafür auch zu zahlen hat, leuchtet ein – daß das dabei Unverdaute entsprechend grauslich stinken mag, ebenso. Da mein Herz aber sich vollständig rein, ja geradezu jungfräulich unter göttlichem Schutzschild regt, entschuldige ich mich höchstens «pro forma» vor der Welt und vor Dir – endlich will ich ja keineswegs einem ehrlichen, anständigen Menschen absichtlich vor den Kopf stoßen! Du weißt genau: ich wage, was sonst keiner wagt – noch mehr: ich wage es aus einer Situation heraus, in welcher die allermeisten Menschen nicht einmal die Kraft gefunden hätten, fortzudauern, was allerdings keine Kritik sein soll – ich verstünde es. Wohlan: es stehet mein Wille! Sagte man mir, ich könne dies und das nicht, so wird es erst recht in Angriff genommen – wofür lebt man, wenn man nicht zupackt, nicht mal ein kalkuliertes Risiko eingeht? Ich will dem Leben etwas zurückgeben – wer wollte mich daran hindern? Fazit: Es ist mir klar, daß mein Wirken, samt meinem Werk!, stets polarisieren wird. Deine Liebe und Treue, diese Erkenntnis allein richtet mir die eiserne Brünne gegen allfällige Angriffe von außen, mit denen weiterhin zu rechnen ist – das Schwert sei mein Wille und meine Intelligenz: und wer mir unwirsch-töricht kömmt, dem ramme ich zehn Pfund reinsten Stahls durchs Gekröse: ich habe schon so viele Schlachten geschlagen, daß ich mich über Angriffe freute – ärgern hingegen würde mich ein Totschweigen und Ignorieren, wie es Goethe tat, wie Du ja weißt! – Meine Werke allerdings habe ich in der Hauptsache für diejenigen interessierten und suchenden Menschen verfaßt, welche, wie Du richtig bemerktest, wissen wollen, «was die Welt im Innersten zusammenhält» – und zwar aus einer Blickrichtung, welche Deine zu ergänzen weiß. Deins und meins zusammen geben unserer verlegerischen Tätig-
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keit, unserem gemeinsamen Gedanken vom Edlen und Schönen, greifbare Form und Kraft – auch wenn‘s halt weidlich scheppert und kleppert! – Laß uns deshalb niemals mehr vermittelst der Launenhaftigkeit einer Frau aufeinanderprallen! Ich bin ein Mensch, der für etwas dasein will und muß: ob‘s für eine Familie, ein Volk oder als Galaxienvorstand sei. Im Hier und Jetzt ist es die «Idee», wie sie in meinen Werken paraphrasiert sowie in meinen Taten verwirklicht wird! Bei aller Unterschiedlichkeit sind Du und ich in einigen Dingen sehr ähnlich – wo wir uns aber, trotz verschiedenartiger Vorzeichen, absolut finden, ist: im namenlosen Ziele! So ist denn jetzt die Zeit?! Nach gut tausendjährgem Schlafe entwecke ich den Grüften meiner Amazonenkönigin der Gottheit Höllenhunde, geheißen: Melampus – Hyrkaon und … – Tigris! Sie seien nun entkoppelt, gleichhin zum ewgen Ruhme des Achilleus. Und nochmals zur Bekräftigung: Lassen wir es niemals mehr zu, vermittelst der Launenhaftigkeit einer Frau oder sonst irgendeiner Lappalie, derart entkoppelt von allen guten Geistern, uns gegenseitig zu zerfleischen! Reichen wir uns für ewig die Hände. Mein lieber Freund, ich küsse Dich – und nochmals, von Herzen: Verzeihung! Lebe denn wohl. Dein inniger Freund Heinrich Von den im Laufe der Zeit massenweis‘ vom Schicksal auf mich abgeschoßnen Pfeilen wieder und wieder ins Herz getroffen, ist mein ganzes Wesen mittlerweile vollständig vernarbt, so daß kaum mehr ein gestähltes Messer je den Weg durch das zähe Gewebe zur Weiche meines Innersten fände; die Müllersche Episode veranlaßte mich dennoch zu weiter gesteigertem Mißtrauen und zu einer zunehmenden mürben Mürrigkeit. – Es ist mir hinlängst nicht mehr möglich, eine sich in mir ausbreitende Weltverachtung zu verleugnen … ^ ]
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Endlich, Anfang März des Jahres 1808, wurde mein «Zerbrochner Krug» auf der Weimarer Hofbühne uraufgeführt: ein Tag, dem ich lange entgegengefiebert hatte. Und – es ward ein handfester Theaterskandal: Nachfolgendes wurde mir von Freunden hinterbracht, zumal es mir nicht vergönnt war, persönlich dem Debakel beizuwohnen. – Goethe, obzwar in der besten Absicht, zergliederte das Stück, unberufen, in drei Akte, formte es um und zerstörte dergestalt Sinn, Absicht und Rhythmus, um es – wohl seine Meinung! – dem Weimarer Publikum genießbar herzurichten – der feinsinnig durchdachte Ablauf verlor an Spannkraft, die ganze Handlung verharrte gleichsam starr als ungelenk an Ort und Stelle. Statt die Neuartigkeiten beizubehalten und mit einigem Mut adäquat umzusetzen, hat er liebedienerisch versucht, die ganze andersartige Anordnung unter Zwang in die vorgefertigten Formen klassischer Theaterkunst zu gießen! Das Publikum wurde unruhig, man begann zu pfeifen, zu stampfen, sich laut zu räuspern etc. – ein gänzlich zermarterter Hofbeamter soll sogar vom anwesenden Weimarer Herzog, Karl August, für drei Tage in Haft gesetzt worden sein, weil er sich erdreistete, unter den Augen seiner ehrenwerten Gattin ein gellendes Pfeifkonzert zu veranstalten. Es war ein Reinfall mit stattlich ausstaffierten Pauken und Trompeten: kein einziger fand das Stück gut, was allerdings nicht verwunderlich sein kann … Welch eine Katastrophe – eine weitere mehr in diesem Rosenkranz ewiglichen Unglimpfs! Ich fand mich nun in jedweder Hinsicht bestätigt in meiner Verlassenheit, Ungeliebtheit, in meinem tragisch-verstrickten Alleinsein: wodurch ich, erstaunlich genug, die zusätzlich mir zufließende Kraft gewann, mich endlich und endgültig von den restlichen noch vorhandenen Konventionen zu befreien; es blieb der Aschehaufen einer kaltwütenden Glut in mir zurück: all meine Ziele, Hoffnungen und Bestrebungen sahen sich in einem Male mit Stumpf und Stiel auf immer zernichtet! In dieser äußerst gereizten Stimmung ätzender Bitternis trugen mir einige Entrüstete zu, Goethe habe in vollster Absicht das Stück zu Fall gebracht – worauf ich mich in einem übereilten Tobsuchtsanfall mit dem laut geäußerten Gedanken trug, ihm eine Duellforderung zu übersenden. Ich betone! – dieser Gedanke ward geboren aus einem mich hitzig überkommenden Impetus heraus: ich war ohnehin von
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verschiedenster Seite hart belagert und angeschlagen; doch! ich habe diese Forderung nie wahr gemacht; sobald mich die jache Hitze in einem ersten Anprall überflogen hatte, war ich wieder frei, auf meine inneren Vernunftgründe zu hören – zum Unglück sämtlicher Beteiligter aber sind diese meine Äußerungen sogleich in alle Himmelsrichtungen kolportiert worden, und sie kamen Goethen zu Ohren. – Goethe, ob dieses Gerüchts nunmehr selbst arg in seinem Stolz getroffen, pflog von dieser Stunde an eine herbe Abneigung gegen mich, welche durch keinerlei sonstwie geartete Taten mehr hätte aufgehoben werden können. Nicht zuletzt aus dieser Episode heraus verhärtete ich mich erst recht ins Unerträgliche: ich wurde zum gorgonischen Steine!, und ich erkannte, daß es von Übel sei, auf fremde Meinungen zu hören (manchmal auch als die einzige Quelle: hören zu müssen!); daß mein Feuergeist mir unverhofft immer wieder im Wege stünde, indem ich übereilt und ungeprüft Entscheidungen und Handlungen ausführte, anstelle mich in einer gewissen Gelassenheit zu üben; – daß im Gegenzuge die Heerscharen des Gegenübers oftmals nicht geneigt seien, die Hand zur Klärung zu bieten, was ich nahezu immer tue; – daß überhaupt alles im Leben in höchstem Grade unheilvoll ineinander verwoben sei, dergestalt, daß man als Mensch weder den Überblick über die Zusammenhänge noch selten die Möglichkeit zur Auflösung des Knotens finde, weil alles ab einem gewissen Punkte wie zwangesmäßig-automatisch voranläuft und nicht mehr angehalten werden kann: ein sonderbar fataler Mechanismus, den man beispielsweise ofthin als «Schicksal» bezeichnet. – Dieses Knäuel von teils selbstverschuldeten, teils von außen sowie den geschichtlichen Notwendigkeiten herbeigeführten Katastrophen schien in sich einzig den Zweck zu verfolgen, das gesamte Wesen auf mein innerstes Selbst mit aller Kraft immer und immer wieder zurückzuwerfen, so daß es entweder völlig in Stücke gehen möge oder sich derart etwas Neues herausentwickelte! – Tragisch war der verunglückte Weimarer «Krug» für mein Selbst dennoch, vor allem wenn man bedenkt, was hätte werden können! Goethe anerkannte mein Talent stets, was ich allenthalben bemerkte: doch anstelle mir die Hand zu bieten, unterstützte und förderte er allerlei mediokre Geister, die sich duckmäuserisch in den Schatten des Olympiers stellten
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und die nimmerdar in irgendeiner Weise ihm hätten das Wasser reichen können. – Jedenfalls ward mit Goethes Verdikt ein Wort gesprochen, welches mich zumindest aus diesen hehren Kreisen ausschloß und mich abermals in mein Ureigenstes hineinzwängte, errettungslos nunmehr: darauf konnte ich bloß mit gesteigertem Trotz reagieren, und so verfertigte ich einige ausnehmend treffliche Spitzen auf Goethen, in Form unter anderem von spöttischen Epigrammen, in unserer Zeitschrift «Phöbus», die ich gern hätte sein lassen können, wie Müller meinte; unter den unglücklichen Aspekten allerdings konnten sie mir auch nicht mehr schaden – und ich fühlte eine gewisse Genugtuung und Entspannung (dennoch wäre es klüger gewesen, den Kloß herunterzuschlucken: ich schluckte aber bereits zu viel in meinem Leben und war dazu einfach nicht mehr imstande! – das Herz schwamm sich von der blindanwogenden Vernunft hier frei; ich konnte schlicht nicht anders und mußte zurücksticheln: so sehr brannte alles in mir lichterloh zur schmählichen Verderbnis hin, und diese Brandstatt mußte gelöscht sein …); ein böser Ingrimm blieb, welcher sich, solange der Phöbus noch existierte, in epigrammatischen Haßtiraden ausleben wollte; als die teuflische Glut verglommen war, mußte ich erkennen, daß ich großes Unrecht mit ebensolchem vergolten hatte, was mich selbst beschämte, ja innerlich besudelte – und worunter ich in der Konsequenz eher noch mehr litt als der Verunglimpfte! Welch eine seltsame Neigung in mir hauset, sich eigentlich selbst zu quälen?! Stets allen Widrigkeiten zum Trotz: mit Goethe – wie ebenso mit Napoleon – verband mich zeitlebens eine Haßliebe, die ich nicht verleugnen kann – ebensowenig wie mein mitunter milde aufkeimendes stachelwütiges, ja qualsüchtiges Moment gegenüber vermeintlichen Feinden, als auch ein ewig selbstzerfleischendes gegen das eigene Innere …! Nicht zu Unrecht wurde mir, etwa von Henriette von Schlieben, vorgeworfen, ich sei der Figur meiner Erzählung, dem Michael Kohlhaas, dermaßen ähnlich, daß man erschrecken könne: die ebengleiche Idee von Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit in überzogner Geradlinigkeit gelebt; feinfühlig auf der einen Seite also, auf der andern dagegen, unter der Geißel des alltäglichen und natürlich vorkommenden Unrechts, schließlich zum Äußersten gestachelt, und gegebenenfalls jeglichen Eigennutz,
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jegliche Vernunft, ja selbst das eigne Leben in die eisigen Winde schießend: Hauptsache der Idee, dem vorgezeichneten Ideal werde Genüge getan! – Mein wunderliches Gebaren überhaupt müsse, wie verschiedentlich verlautbarte, Gewöhnlichsterbliche entsetzen: ich trüge die Maske Rumpelstilzchens auf mir, worunter die grausliche, schreckensvolle Medusa sich verberge … Nicht alleine wegen des Weimarer Theaterkraches, der nach allen Seiten in einem gewaltigen Donner nachhallte, verlor der Phöbus an Abonnenten; nein, wir hatten uns auch ökonomisch verschätzt und waren sicherlich zu ehrgeizig und provokant-kämpferisch – auflösend wirkte zudem der allseitige Konkurrenzneid. Und es kam schließlich soweit, daß eine Dresdner Verlagsbuchhandlung ab dem zweiten Halbjahr den Druck übernahm, unter der Auflage, keinerlei Honorarzahlungen vornehmen zu müssen. Adam Müller, das Schlitzohr, zog sich elegant aus dem Geschäft zurück, ohne jegliche Verlautbarung mir gegenüber, was mich erneut – unter gewaltigsten Aufzuckungen – explodieren ließ: wäre solch ein Verhalten anders auszulegen denn etwa als Verrat? Mein Herz ward so wund von den Verletzungen und Enttäuschungen, welche ich ständig in meinem Leben erdulden mußte, daß mir alsbald alles in Gleichgültigkeit versank. – Ich neige leider unter solcherlei Unbilden oftmals dazu, mit schärfsten Verletzungen des Gegenübers zu reagieren: diesmal war es Müller, welcher mich zum Duell auffordern wollte; meinen Freunden, Pfuel und Rühle, gelang es – zum Glücke aller Beteiligter, darf man vermerken –, das Duell zu verhindern sowie das Zerwürfnis mit mattem Kitt einigermaßen auszuspachteln. Erst später fanden Müller und ich wieder zusammen, und zwar aus denselben Gründen wie beim ersten Male! – Nun je, ich galt vor den trüben Augen einiger nicht als derjenige Mann, welcher aus verhängnisvollen Erfahrungen etwa vernünftige Konsequenzen zu ziehen trachtete: doch das stimmt nur halb und halb; wie nicht selten, liegen die Konstellationen weit verwickelter!, und seit meinen Kindheitsjahren bin ich es müde, meine inneren Willensregungen stets von neuem erklären und rechtfertigen zu müssen, zumal sie ohnehin – selbst bei völliger Entwickelung der Gegenstände – niemandem verständlich zu machen sind. Nicht zuletzt diese ewig
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nervtötenden Mißverständnisse beförderten den alle Mauern zersprengenden Kataklysmus, welcher sich – durch die äußere Nahrung an unerträglichem Verkannt- sowie bitterstem Unerkanntsein und die innere, teils freiwillig gewählte vollständige Isolation –, quasi eskalierend, selbst verstärkte.
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Dresden, 16. Mai 1808
Mein herrlich-kratzbürstiges Tiger-Mädchen, meine Henriette: die rosenblütnen Sterne auf Dein Haupt! Möge sich zum Gruße die durch der Wetterwolken Riß hervorbrechende Sonne in die Grüfte Deines Gemüts senken – zu Deinem Geburtstag alles Gute, Schöne! Und vor allen Dingen: Heil! und Gesundheit! … – und diese Zeilen Dir zur Versöhnung, denn ich leiste Abbitte und entrichte demütigst meine grundsätzliche Entschuldigung! Ich hoffe, Du verzeihest mir meinen reichlich einige Monate zurückliegenden kombinierten, symbolischen Nackenschlag mit Nierenhaken, als Reaktion auf das mir, unter einigem anderem, zu Unrecht unterstellte «arrogante Gehabe», welches ich Dir gegenüber an den Tag gelegt haben soll! Du entsinnest Dich? Damit hattest Du natürlich bloß insofern recht: ich wollte, ja mußte Dir eine Breitseite vor den Bug pulvern, sonst – so dachte ich – wärst Du der Meinung, mit mir könne man alles anstellen, wie mit einem Hampelmanne, der ich nun wirklich einmal nicht bin … Wir sind beide glücklicherweise kleine Robustikusse, deshalb nimm dies: Alles an Gutem, was in früheren Unterredungen zur Sprache kam und ich in meinen Briefen gesagt, geschrieben habe: es gilt weiterhin uneingeschränkt! Das einzige Problem zwischen uns ist ja lediglich das rein Geschlechtliche – beziehungsweise für mich: das nicht stattfindende, stattgefundene, nie statthaben werdende.
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Ich habe die Lektion endlich geschluckt: deshalb wollen wir‘s dergestalt halten – ich werde Dich diesbezüglich nicht mehr plagen und drücken (es soll, Liebes, darüber kein Wort mehr fallen!); doch eins sollst Du wissen: falls von Dir aus zu irgendeinem Zeitpunkte dennoch mal ein wackeres Interesse daran erwachsen sollte, so stieße ich Dich keinesfalls von der Bettkante! Zum Teufel noch eins: ich kann auch nichts dafür, daß Du solch ein sinnlich-appetitliches Raubkätzlein bist. Und betreffs Deines mir unterschobenen Fehls des «Samenkollers» hat es tatsächlich seine wahre Bewandtnis, wenn Du meinst, ich litte unter einem solchen – nur, liebs Tigerchen, drei wohldefinierte Spezies können einen solchen nicht in sich tragen: erstens – Frauen, weil sie in der Tat gar keine Männer sind; zweitens – irgendwelche Zwitterwesen, weil sie zumindest keine echten Männer sind; drittens – Impotente, bei denen hat sich‘s ausgekollert; bloß, ob sie deswegen glücklicher sind, vermag ich nicht auszumitteln. Nun ja, horch auf! ich gehöre zu keiner der drei Gruppen – und leide folglich, so sei‘s getrommelt und gepfiffen, unter benanntem Koller – ich weiß nicht, ob ich da von Glück oder Pech sprechen soll. Jedenfalls hast Du recht – Heinrich, der Kleist, ein Mann mit Samenkoller! Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Dich nach wie vor zum Abküssen finde … – Aber wenn Du willst, finden wir gemeinsam einen modus vivendi, worin dieses Thema nicht mehr stören soll. Mein Wort drauf! Also: Ich beue – geistige Entwickelung und was weiter Du wünschest; und ich suche im Gegenzuge: weibliche Geselligkeit, ein weiblich-liebliches Element der schönen, wohligen Gemeinsamkeit, der tiefen Begegnung (ausnahmsweise: ohne Intimitäten, ganz nach Deinem Willen). – Gib mir, was Du kannst, und ich werde Dich hinwiederum fördern, soweit es mir möglich sein wird. Ich frage Dich: Willst Du mit mir ein kleines Stück auf dem Wege in die Unendlichkeit gehen? Trotz allem, was vorgefallen ist? Auch ohne intim zu sein? – Ich gebe es zu, daß es mir schwerfällt; doch ob all den abscheulichen Verletzungen, die wir untereinander provozierten, ist mir der seelische Kontakt dennoch weit wichtiger als alles andere – und ich halte mein Wort, Dich nicht mehr zu belästigen. – Sei mir meine Muse! ich liebe Deine Nähe: so sehr,
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daß ich – selbst wenn‘s samenkollert – einfach mit Dir ab und an zusammensein möchte. Ich sehne mich nach Dir – ich gebe Dir nochmals mein Ehrenwort, daß ich Dich nicht mehr plagen und piesacken werde; allerdings heißt dies nicht, daß ich zum mickrigen Sämling zusammengeschrumpft wäre – ich fodere Dich nach wie vor: und leichtere Kratzspuren darfst Du Dir Deinerseits erhoffen (wie ich meinerseits auf Deine in Vorfreuden gefaßt bin) … Wir sind beide nicht die Einfachsten; immerhin war ich stets ehrlich zu Dir – und ich werde es fürderhin sein. Wenn Du mir verzeihen kannst, dann wollen wir es noch einmal versuchen … – «befruchten» wir uns aus der und durch die Seele! Weil ich nicht weiß, ob Du überhaupt noch Lust hast, Dich mit mir abzugeben, beende ich den Brief an dieser Stelle. Falls Du Dich austauschen möchtest, dann schreibe mir. Dieser dritte Anlauf wird der letzte sein – sofern Du‘s ein letztes Mal versuchen willst? … ich werd‘ es bestimmt nicht versauen! Wie auch immer: ich winde Dir den Sternenkranz um Dein Haupt und drücke Dir einen saftstrotzenden (hoffentlich nicht den letzten) Kuß auf Deine edle Stirn, mein liebes Kind! Glück und Segen Dir Dein Heinrich
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Dresden, 3. Juni 1808 Meine heile Braut! Tiefen Dank dafür, daß Du mir überhaupt zurückgeschrieben hast – dies ist mehr, als ich erhoffen durfte nach meinem BreitseitenGepulvere! Das liebe ich nachgerade so sehr, so ausgesprochen an Dir, Deinem ganzen Wesen: dieses zutiefst Weibliche, Liebliche sowie den unbändig guten Geschmack, den Du stets an den Tag legst, und dies, obgleich Du ja alles andere als reich bist: aber was Du aus den Kleinigkeiten des Lebens zu gestalten verstehst, ist einfach göttlich, unsäglich! – Dieses knuddlige Lauer-Kätzlein in Deiner Zeichnung, welches mich dermaßen listig aus den Augenwinkeln ins Visier nimmt: bist Du das? – Doch wer ist dieses nicht minder drollige Mäuschen – aber nicht etwa ich? Ach, was verfügst Du über künstlerische Fähigkeiten! Du solltest Malerin werden, die Großen studieren können!, denn Du verfügst über weit mehr als nur ein sehr breit angelegtes Talent. Bitte, sieh mir etwaige Holprigkeiten, Unbündigkeiten im Schreibfluß nach – ich liege gerade ziemlich kränklich darnieder, mit kräftig-blutendem Auswurf und Husten, zudem über die Maßen fiebrig! Das Schüttelfieber hat mein Traumgeschehen nächtens derart wirr werden lassen: alles Schöne und Kritische, was wir zusammen erlebt haben, mischte sich darinnen wie Kraut und Rüben, daß es mich, vor lauter Erregung bebend, nicht durchschlafen ließ; ich mußte Dir schreiben und hoffe, Dir nicht auf den Nerv zu gehen. – Werde den Brief heute noch absenden, was allerdings vielleicht nicht so gescheit ist, einerlei … packe mich warm ein. Es stimmt mich sehr traurig: Dir geht es nicht gut? Ach, mein Tigerchen: Du bist mir doch ein derart besonderes, herzlich-rauhliches Exemplar – und genau deswegen konnte ich Dich nie vergessen; ich will es nicht zulassen, daß es Dich schlecht ankömmt! Das Unangenehme wird vorübergehen – dasjenige, was wir im Leben gelernt haben, wird ewiglich bleiben! Ich stehe Dir als Briefgenosse zur Seite, wenn es Du möchtest. Aber Du mußt mir nicht schreiben, wenn Du nicht Lust dazu ver-
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spürest; es soll Dir gänzlich wohlig sein, wenn Du es mit mir zu tun hast … – kein Zwang, keine Verpflichtung wie ehedem! Sofern ich Dir helfen kann, tue ich es – ich kann Dir im Geistigen einiges beuen! – Ich denke zu wissen, wer und was Du bist – wir haben ja darüber bereits ausgiebig gesprochen! –, und es stimmt: bei Deiner Selbstfindung kann Dir eigentlich niemand richtig helfen, weil es eine zutiefst schicksalsverwurzelte Frage ist; eins allerdings ist sicher: unter Menschen gibt es kaum jemanden Geeigneteren als mich, um Dir ein wenig Trost zu spenden; denn abgesehen davon, daß wir beide uns ziemlich arg gekabbelt haben und darüber nicht verbittert sind, spüre ich in meinem Herzen eine derart tiefe Hinneigung zu Deinem interessant-weiblichen Wesen, daß mich nicht einmal diese Arg-Kabbeleien wirklich haben verstören können – Dich zum Glück ebensowenig; das nenn’ ich eben den RobustikusEffekt! Du, meine kleine Penthesilea – ich, Dein Achilleus! Du hast demnach recht, wenn Du schreibst, daß Du durch das «Tal des Todes» selbst hindurchmüßtest und Dir dabei niemand zur Seite stehen könne. Das stimmt in der Tat! Aber ein aufmunterndes Wort am Rande: Ich beobachte Dich nunmehr seit einigen Monaten heimlich aus der Ferne, und ich muß sagen, daß Du es gut machst und … daß Du gewinnen wirst! Wieso ich das sagen kann? Höre auf Dein Herz, mit dem Gefühl – erkenne! Dieses ist das Gesunde, das Starke, das Gute in Dir – ganz tief verborgen Dir selbst. Ich sehe doch, daß Du ringest: und ich kann mir leicht ausrechnen, daß Du in Deinem Leben – im Verhältnis zu früher – sicherlich großartige Fortschritte erzielt hast, mein Sternenmädchen! Und was ringt in Dir? Es ist der Egoismus (aber kein böser; nein, er ist der Keimling des noch unreifen Adler-Kükens, welches ich so inniglich in Dir verehre!) mit dem erwachenden, reinen Ich Deines Wesens; es ist die Sehnsucht nach Wachstum und geistigem Reichtum, welche Dich führt und welche Du zum Leitstern nehmen sollst! – Ich bin mindestens gleichermaßen egoistisch wie Du, also sei getrost: aber da ich auf dem Schicksalspfad bereits ein bißchen weiter vorangekommen bin, kann ich den Egoismus derart leben – obzwar nicht immer: auch ich mühe mich beständig –, daß er sogar wertvoll für andere ist: beispielsweise bin ich immer noch zäh an Dir
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dran, weil ich Dir wirklich helfen möchte! Du erinnerst mich an eine Zeit (wie viele verblichene Verkörperungen dazwischen liegen mögen, kann ich nicht ermessen), da ich so ähnlich war wie Du heute, bloß noch ein gerüttelt Maß, heißt: weitaus! krasser – dies zur Beruhigung, Sternenkind; also gemach. Das Schicksal zwingt Dich dazu, Dich mit Dir selbst auseinanderzusetzen; es hat Dich zudem solcherart geschaffen, daß Du, kleiner süßer Robustikus, die Dir selbst zugefügten Unpäßlichkeiten aushältst, ja aushalten mußt – zumal Du keine Wahl hast. – Allerdings, und das scheinst Du selbst zu wissen, wird es Deine unausweichliche Aufgabe sein: diejenige, welche in diesem Leben zu erfüllen ist – nämlich das Tal zu durchschreiten …! Wie also könnte ich Dich vergessen, Henriettchen, Du Himmelsgöttin, der ich Dich so sehr liebe, da wir uns beide doch so wesensähnlich sind: Du geheimnisvoll-schöne, unwissende Seele!? Niemand kann Dir also darin helfen, das ist wahr gesprochen; aber man kann sich den beschwerlichen Weg angenehmer gestalten. Zudem kann man sich gegenseitig einige Bürden abnehmen und … man kann lernen! Lerne, mein Kind! Dabei kann ich Dir behülflich sein wie kein zweiter – schließlich liebe ich Dich immer noch. Freude-Haben ist der zweite Punkt: Du mußt Deine Seele pflegen, mindestens so gut wie Deinen Körper, für den Du ja wunderbar schaust – ah! ich erinnere mich lebhaft an Deine sanfte, zarte, weiblich-duftende Haut: und was für Freuden spendet die herzliche Berührung dieser einem Manne wie mir! Samtene Pfirsiche dagegen sind grobschlächtig zu heißen! – laß uns gemeinsam wieder wonniglich die Sonnenuntergänge genießen, inbrünstigleidenschaftlich ein Mahl verspeisen … – Ich vermisse Dein Lachen und Deinen lieblich-durchdringenden, sächsischen Akzent! Wie sehr vermisse ich das Schöne mit Dir, das Seelische, dergestalt, daß ich sogar auf die Intimitäten, die ich fortwährend mit aufwallend-heißem Blute wonnelechzend ersehnt hatte, verzichten kann (was allerdings schwer genug ist – zugegeben, zugegeben). Du herrlichstes Seelenwesen – ich gelobe Dir, Dich nicht mehr zu enttäuschen! – ich laß’ Dir alle Freiheiten und bin froh, wenn wir zusammen sind und es miteinander schön haben … Ich lehre Dich, was Du möchtest – Herzensfee!
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Ich kann nunmehr nichts anderes tun, als hoffen, daß Du unsere beidseitige Verbindung, unsere Beziehung nicht gänzlich abbrechen und mir eine letzte Chance einräumen wirst. Ich akzeptiere alles, was Du entscheidest – selbst wenn Du mir vielleicht nicht glauben magst: ich habe noch keinen Menschen in meinem Leben je derart tief-inniglich geliebt wie Dich. Daß es mit uns doch ab und an recht deftig zu- und herging, liegt in unser beider Wesen gegründet; das war nie zu ändern und ist es auch künftig nicht. Die gemeinsame Stärke hinwiederum liegt dafür gerade in unserer Andersartigkeit – bei mir im Geiste, bei Dir in der Seele! Was ich Dir geistig überlegen bin, bist Du mir im Seelischen! Deshalb ist es besonders wichtig, daß es Dir gut geht, weil die Seele eben verletzlicher ist: o, Mädchen, Du bist ein Stern – und Du weißt es nicht!? Ich sehne mich so unaussprechlich nach dieser Seele, diesem Stern … – Der Geist alleine wäre sich zwar reich genug, aber nicht unter Menschen – es fehlt etwas: die Fülle! Ich freue mich bereits jetzo wie ein kleines Kind, wenn ich Dich in hoffentlich baldiger Zukunft wiedersehen darf. Ich bin außergewöhnlich stark – und dennoch neige ich allein vor Deiner edlen Seele mein gebenedeites Haupt, mein Mädchen! Ich möchte, ich will!, daß es Dir gut geht – ich werde Dir nach Deinem Willen dabei helfen, so gut ich irgend kann. – Und zwar ohne den Hintergedanken, auf eine Intimität zu hoffen: wären unsere Geister nicht in Fleischsäkke gehüllt, sondern reinstes und klarstes Licht, dann wünschte ich mir die unio mystica: die mystische Vereinigung von Geist und Seele unserer Wesen, jenseits von Raum und Zeit; dies ist nämlich der tiefere Grund, daß ich noch nie mit einer Frau zusammen war – bloß heißdampfend-fleischlüsternen Intimitäten zu frönen mit einer, die ich nicht lieben kann und die mich nicht wiederliebt, ist reine Zeitverschwendung; da hab‘ ich weit Gescheiteres zu tun. Laß unsere Seelen aneinander, ineinander wachsen: hierin übernimm Du die Führung! Im Gegenzuge werde ich Deinen Geist durch meinen erleuchten – dorten werde ich Dich leiten, wenn Du möchtest … – So frage ich Dich zum zweiten: Willst Du mit mir, Hand in Hand, ein kleines Stück auf dem Wege in die Unendlichkeit einherschreiten?
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Laß Dir ruhig Zeit mit der Antwort – ich springe Dir nicht davon. Du darfst jederzeit zu mir kommen, und nie mehr werde ich Dich von mir stoßen, selbst wenn Du Deine Kratzerchen wieder mal rauslassen solltest. Du riskierest nichts, denn ich habe mich damit abgefunden, daß, die geschlechtliche Frage betreffend, zwischen uns zwei Wildfängen nichts geschehen wird. Ich werde natürlich weiter nach einer Frau Ausschau halten, die Deine Qualitäten aufweist und mir zudem noch das rein Körperliche zu geben vermag: dennoch – selbst wenn unsere Wege sich wiederum auftrennen sollten –: ich sehe Dich als mein von der Gottheit anvertrautes Kind, welches ich aus innigster Seele heraus liebe! Ich streichle Dir über Dein edles Haupt, mein stachlig-lustiges, herzliebstes Mädchen … Was soll ich weiter sagen (lieber möchte ich konkret was tun)? Wenn Du willst, probieren wir es noch einmal zusammen auf einer anderen Basis – nehmen wir als Basis vielleicht das Buch, das ich Dir schenken durfte; nehmen wir das Schicksal, das uns beide leitet! Mein Ziel ist es, daß wir beide zusammen es lustig und schön haben, wenn wir beieinander sind, daß wir zusammen lachen und fröhlich sind. – Ich lehre Dich, Deinen Geist zu erkennen und zu führen – und Du lehrest mich: das Eintauchen in die unio mystica! das seelische Beisammensein in den Urtiefen der Ewigkeit! Beide werden wir gewinnen … Wenn Du mir – besser: uns! – noch eine Chance geben möchtest, sonach erkläre Dich mir bitte in einem Husch; und wenn Du Mitleiden mit einem verliebten Narren hast, melde Dich früher, denn der ist so unruhig vor Freude, daß er zerspringen möchte – ist etwa die Antwort günstig, möchtest Du aber, daß ich Dir ein paar Monate nichts schreibe, dann laß es mich ebenso wissen; alsgleich werde ich wenigstens ruhig sein – ruhig sein im Herzen und warten können, bis Du Dich wieder meldest. Wenn Du Lust hast, lade ich Dich gerne auf einen Spaziergang durch die Galerien ein – selbstverständlich (falls Du es zuläßt und dann überhaupt willst … ich kenne ja Deine grummligen Launen: ich mag alles an Dir, selbst das Kritische: das ist nie ‘s Problem gewesen! Dein eigenwilliger Egoismus stachelt mich geradezu an:
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er macht Dich farbig … und mich feurig) kannst Du mich auch zu Hause aufsuchen; ich hoffe allerdings, daß Dich meine Junggesellenbude nicht schrecken möge! Laß mich Dich überzeugen, daß ich Dir vom Schicksal gesandt wurde – ist ja fast logisch, oder kennst Du jemanden, der trotz Deiner Eigenheiten dermaßen zähe an der Liebe zu Dir festhielte? Weswegen dies so ist, habe ich Dir bereits auseinandergesetzt … – Wann darf ich Dir wieder Küsse auf Deine edle Stirne drücken? – Deine herrliche, wohlgewölbte! Du herrlichste aller Frauen, wie sehr möchte ich Dich in meine Arme nehmen und alle Unbill fernehalten, damit Du gedeihen mögest – vom Küken zum heiligen Aar! Habe Mut, und reiche mir die Hand, damit ich Deine ermatteten Segel wieder mit der Kraft Aiolos‘ anfüllen kann und Du das meine mit dem Liebreiz des Ewig-Weiblichen! Habe Mut – ich werde Dich nicht enttäuschen: es ist bestimmt kein Zufall, daß mich die Himmelsmächte, wiederum in einer weiteren schwierigen Phase Deines Lebens, zu Dir schickten: es waren diese Schicksalskräfte, welche mir eingaben, mich erneut bei Dir zu melden – ich sah Dich vor ein paar Monaten in einem dunkel-fernen Traumgesichte! Habe also Mut – Du kannst nur gewinnen: denn ich liebe Dein Wesen – selbst mit den Ecken und Kanten, die darinnen gar furchterregend und erschröcklich schön! wie ein Cerberus hausen. Sternenkind! – ich erdrücke die Tränen in meinem Innern und erhoffe … daß ich Dich wieder liebkosen und verwöhnen darf, Dich sehen darf. Ich hoffe und bange … Viriditas – die Grünkraft
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Dresden, 28. Juli 1808 Mein kratzbürstiges Tiger-Wonne-Sternenmädchen! Bin eben zurück! Nahm mit Entzücken Deinen Brief entgegen, auf den ich – obgleich unter einigem Drucke, da die Geschäfte mich sofort wieder zur Abreise nötigen – doch gerne ernsthaft eingehen will! – Wie bloß hätte ich wissen sollen, daß es derart schlecht um Deinen lieben Onkel bestellt ist? der Dir nach Deines leiblichen Vaters Tode in jüngsten Kindheitsjahren der allergütigste und vollste Ersatz ward: den Du unendlich, und ganz von Herzen, liebest; wie nur sollte ich wissen, daß Dich damit andere, weitaus größere Probleme plagten und plagen, als ich zuerst mutmaßte? – Du kennst mittlerweile meine Grillen, weitschweifigen Schwächen und sonstigen Schieflagen (ich denke, wir beide litten so ziemlich an denselben Gebresten): notfalls kömmt mitunter einfach, wie aus dem Nichts, mein preußisches Temperament und mein Kampfgeist dahergeflogen – wenig romantisch, ich weiß. Doch die andere Seite an mir kennst Du ja auch – zum Glück! Also, nimm es mir nicht übel, daß ich Deine schwierige Situation nicht alsgleich durchschaute; schließlich bin ich weder ein Prophet der Bibel noch einer des Urins. Bevor ich Dir ein paar ernste Gedanken zum schwerwiegenden Thema um Deinen Onkel schreibe – ich habe dazu, um den entsprechenden Umstand zu untermalen, ein, meiner Meinung nach, treffendes Gedicht ausgewählt: lies also den Brief zum Ende, bevor Du mich vielleicht verurteilst –, komme ich vorerst aber auf zwei, drei angenehmere Dinge zu sprechen! Du kannst mir im übrigen gar nicht zu nahe treten – was mich seinerzeit verletzt hat, war … Aber das ist alles hinlänglich bekannt, ausgewalzt und abgetan! Ich will die alte Brühe nicht nochmals aufwärmen. Ich habe Deine Eigenheiten immer geliebt – das weißt Du; ich ward seinerzeit schlichtweg in meinem männlichen Stolze verletzt – wie Du es eigentlich in den Hauptzügen richtig in Deinem drängenden als auch (auf)dringlichen «Heiratsantrag» analysiert und mir auseinandergesetzt hast; aber Du weißt, ich konnte nicht … – Kein Wort mehr darüber!
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Ich habe festgestellt, daß wir oftmals aneinander vorbeireden beziehungsweise sehr viele Mißverständnisse im Felde herumlungern, was recht eigentliche versteckte Treibsandlöcher sind. Ich möchte auch diese nicht im einzelnen «aufarbeiten» – ich bin mit Dir einig: «Lassen wir das Alte, das Vergangne los.» Diese Mißverständnisse zu exemplifizieren bedeutete, kleine, hübsche Mumien herzustellen, die richtig herrlich vor sich hinstäubten: auf diese neckischen Basteleien können wir beide getrost verzichten! – dergestalt altägyptisch-verbrämt bin ich nun auch wieder nicht, daß ich daran Freude fände. Also, gemach! Eine kleinere Unliebsamkeit – jetzt, da ich Deinen Brief Revue passieren lasse – allerdings will ich gleichwohl geklärt wissen, weil es für die Zukunft vielleicht wichtig sein könnte (!): – Du meinst, daß es mir nicht wirklich gelingen könne, bei einer erneuten Begegnung nicht mehr von Dir zu wollen! Du hast recht und unrecht zugleich: recht hast Du insofern, als daß ich, volldurchblutet-vollblütig, ein Mann bin – und Du gefällst mir, verdammt noch eins. Aber ich lenke Deine Aufmerksamkeit auf mein Billet zu Deinem letzten Geburtstag – Du erinnerst Dich doch hoffentlich? –, wo ich ausdrücklich erklärte: ich hätte die Lektion endgültig geschluckt; deshalb wollten wir‘s so halten, daß ich Dich diesbezüglich nicht mehr plagte oder drückte; es sollte darüber kein Wort mehr fallen! – des weiteren möchte Dir noch bekannt sein, daß, falls von Dir aus zu irgendeinem Zeitpunkte dennoch mal ein Interesse erwüchse, ich Dich keinesfalls von der Bettkante stieße etc. etc. – bereits vergessen, mein Tigerchen – welch kurze Langmut? – Und schließlich habe ich beigefügt: daß, falls Du willens wärst, wir gemeinsam einen modus vivendi fänden, worin dieses leidige Ansinnen nicht mehr störte; ich gab Dir ferner mein Ehrenwort drauf! – Sonach habe ich für mich das Problem gelöst: ich belästige Dich nicht mehr, obgleich ich als Mann gerne mehr hätte! Du siehest: Du hast eben recht und gleichzeitig unrecht … – Unrecht deshalb: Es wird mir darob gelingen, Dich nicht mehr zu piesacken – ich nehm‘ den wildbrünstigen Hengst an die Kandare; und recht deswegen: natürlich mag ich Dich, und weil ich ein Mann bin, und nicht lendenlahm, steckt mehr dahinter. – Aber ich habe die Lek-
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tion wirklich geschluckt, glaube mir endlich und prüfe mich bei Geneigtheit! In der langen Zeit, in der wir uns nicht sahen, habe ich bemerkt, wie sehr ich unsere sinnlichen Essen vermisse, unser Zusammensein – auch wenn‘s bloß platonisch-seelisch sein soll. Es war so wunderbar, so wunderbar, daß ich es gerne oft und oft wiederholen würde. Ich vermisse es unaussprechlich! … und sollte sich in Zukunft wieder einmal eine Beziehung ergeben, werde ich glücklich sein mit dem, was Du zu geben bereit bist. Von Deiner Seite her verstehe ich Dein Mißtrauen. Doch ich halte mein Wort – falls Du unsicher sein solltest, mußt Du bloß dieses einfodern. Denn: Ich bin an mich selbst gebunden – mit allen Vorund Nachteilen! Wenn Du es im Herzen ebenso verspürest, mußt Du mir irgend einmal eine Chance gewähren, Dir zu beweisen, daß ich dazugelernt habe! Mehr kann ich zum Thema nicht ausführen. Bloß noch dies: Falls ich dazugelernt habe, ist dies für uns beide ein Gewinst sondergleichen! Ich liebte und schätzte die schönen Treffen und Gespräche mit Dir: ein seelisch-sinnliches Feuerwerk, was ich sehr vermisse: es würde (und müßte) mir genügen! Dir biete ich, um es nochmals zu wiederholen: geistige Entwickelung und was weiter Du wünschest! – Du gibst mir, was Du kannst, und ich werde Dich wiederum fördern, soweit es mir möglich sein wird … – Du kannst also selbst entscheiden, ob Du mir irgendwann einmal diese Möglichkeit einräumen möchtest, Dir den Beweis zu erbringen, daß es mir mit den Beteuerungen ernst ist: immerhin – kennst Du in Deiner näheren Umgebung, von der unmittelbaren gar nicht erst zu sprechen, einen Menschen sonst von gleichwertigem Formate? Nunmehr zur Sache mit Deinem Onkel, die mir von Herzen leid tut! In erster Linie zunächst wegen Deines Onkels selbst. Leider durfte ich ihn nie kennenlernen; aber ich denke, wir hätten uns gut verstanden. Meiner Meinung nach ist‘s ein harter Knochen, mit Verlaub!, dem aber ein gänzlich guter Kern innewohnt; Du hast doch reichlich viel von ihm, wie mich deucht! – Was dazu
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nunmehr folgen wird, ist eine persönliche Meinung, die ebenso falsch oder richtig sein kann wie irgendeine sonst. Ich spreche aus meiner persönlichen Lebenserfahrung und vor allem – sub specie aeternitatis, das heißt, unter dem Aspekte der Ewigkeit! (Und aus dem Blickwinkel eines Mannes, vergiß dies bitte nicht, mein Sternenmädchen!) Falls Du denkst, ich sei vielleicht zu hart, so wehre ich mich gleich zu Beginn mit den göttlichen Worten unseres großen Schillers: Zeigt sich der Glückliche mir, ich vergesse die Götter des Himmels, Aber sie stehn vor mir, wenn ich den Leidenden seh. Ich hasse das Leiden! deshalb die scheinbar ungewohnten Gedanken. – Ich möchte Dir hierzu ein Gedicht von einer ganz lieben Freundin anheften, einer Freundin – ganz anders im Wesenskerne konstruiert als Du –, die auf mein Gemüt einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterließ. Es ist die Stiftsdame Karoline von Günderode: ebenfalls eine begnadete Dichterin. Ich machte seinerzeit, als ich – wohl ums Jahr 1804 – einige Monate bei Dr. Wedekind zu Mainz weilte, bei einem kurzen Erholungsausflug nach Wiesbaden deren Bekanntschaft; als wir uns wieder trennten, steckte sie mir heimlich ein eigenhändig beschriebenes Blatt zu, worauf mir das unten verzeichnete Gedicht entgegentrauerte. In ihren Augen nahm ich dies sehnsuchtsvolle Glimmen wahr, welches ich seit Anbeginn in meinem Herzen spüre –
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Die eine Klage Wer die tiefste aller Wunden Hat in Geist und Sinn empfunden, Bittrer Trennung Schmerz; Wer geliebt, was er verloren, Lassen muß, was er erkoren, Das geliebte Herz. Der versteht in Lust die Tränen Und der Liebe ewig Sehnen Eins in zwei zu sein, Eins im andern sich zu finden, Daß der Zweiheit Grenzen schwinden Und des Daseins Pein. Wer so ganz in Herz und Sinnen Konnt ein Wesen liebgewinnen, O! den tröstet‘s nicht, Daß für Freuden, die verloren, Neue werden neu geboren: Jene sind‘s doch nicht. Das geliebte, süße Leben, Dieses Nehmen und dies Geben, Wort und Sinn und Blick, Dieses Suchen und dies Finden, Dieses Denken und Empfinden Gibt kein Gott zurück. Ich war immer ehrlich zu Dir, und so wird es weiterhin sein! Wo mir was nicht paßte, habe ich Dir bereits manche Breitseiten versetzt: dies ist zwar nicht immer angenehm – aber bei mir weißt Du wenigstens jederzeit, woran Du bist: ich war noch nie ein Heuchler, selbst wenn ich ab und an gezwungen bin, Masken aufzusetzen! – Deswegen will ich Dir etwas sagen, und ich hoffe, ich verletze Dich nicht; aber ich nehme hier weniger Rücksicht auf Dich als
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auf Deinen Onkel. Es ist eine – gerade für einen Mann des Schlages Deines Onkels! – höchst unwürdige Sache, derart sterben zu müssen: langsam dahinwelkend; von Frauen, denen man noch vor Jahr und Tag männlich-stolz hatte entgegentreten, ihnen in Liebe hatte nachstellen können, die Notdurft erledigen lassen zu müssen; gewickelt zu werden wie ein kleines Kind etc. Ich spreche hierin als Mann, vielleicht versteht das eine Frau nicht gleichermaßen! Dein Onkel war ein echter Mann – im Kriege als auch daheim; und jetzo …? Könnte ich mit ihm sprechen, er verstünde mich! – Laß Dir weiter mitteilen: Ich hatte diesbezüglich bereits Gespräche mit meiner lieben Schwester Ulrike – weswegen ausgerechnet sie, in der Blüte ihres Lebens, solche Gedanken wälzt, wissen die Götter. Womöglich sind es die unguten Erfahrungen mit dem Tode unserer geliebten Eltern: sie hat sich jedenfalls mir anvertraut, und nicht etwa meinem Bruder Leopold: sie weiß, daß ich – sobald‘s wirklich hart auf hart kömmt – der realistischere und weitaus härtere Knochen bin; sie meinte, nie wolle sie einem solcherlei qualvollen Hinsterben erliegen – falls etwas Derartiges einträte, sollte ich ihr helfen, das grause Siechtum abzukürzen. Und ich würde es tun! (Ich tat es bereits einmal im Kriege, als ich eine arme Frau von ihren Qualen erlöste!) – Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel: das Thema wird gerne totgeschwiegen, ja läßt sich gemeinhin nicht so einfach abhandeln, und es wird unerhört viel zusammengeheuchelt, dergestalt, daß sich die Balken in den Himmel biegen und es einem natürlich denkenden Menschen schlecht dabei werden kann. – Ich sehe bloß ein leidendes Wesen, und ich weiß um die Schönheit und Unendlichkeit der Schöpfung! Aus diesen Gründen könnte ich es nicht mitansehen, wenn ein Mensch wie Dein Onkel errettungslos dahinsiechte – irgendeinen Schwerverbrecher hingegen könnte man solcherart gerne verrecken lassen, aber doch keinen anständigen Menschen; selbst einem Tiere würde man den «Gnadentod», einen Tod in Würde (!), geben wollen. Ich weiß, wie Dir zumute sein muß. Aber ich weiß auch, daß Du es mir nicht übelnehmen wirst: bitte, höre in Dein Herz! Im übrigen sage ich nicht, daß Du es falsch machst! Du fühlst hier wie die leibliche Tochter, die ihren Vater liebend umhegt, und Du bist eine Frau: Frauen denken anders richtig! Weil Du aus dem lie-
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benden Herzen heraus handelst, kannst Du es gar nicht falsch anpacken … – Ich weiß schon, daß wir hier über eine extrem schwierige Angelegenheit sprechen: und dabei zeigt sich vielleicht der hauptsächliche Unterschied zwischen uns beiden! Aber wir sind – trotz vielerlei erheblicher Ähnlichkeiten – verschiedene Wesen, und mein Leben ist sehr hart verlaufen – vielleicht bin ich zu streng!? Ich habe lange nachgedacht, ob ich dazu was schreiben soll: ich tat‘s, weil Du sicherlich genügend andere – häufig eben heuchlerische! – Meinungen erfahren haben dürftest. Und wenn ich jemanden nicht begreife, bist es nicht Du, sondern Deine Anverwandten: hat denn keiner von diesen den Mumm in den Knochen, Deinen Onkel liebend zu erlösen aus seinen Qualen? Das ist doch kein Leben! Ich hoffe aus diesen Gründen für Deinen Onkel, daß die Leidenszeit kurz sein möge, zumal das Leben für ihn – wie für jedwede Kreatur! – in einem natürlichen Fortgange seine Bahnen ziehen und er gleich einem Schmetterling im Jenseits «erblühen» wird, wovon die alten Kulturen richtig künden. Im neuesten Buch, das ich Dir kürzlich zukommen ließ, ist diesbezüglich einiges Interessante eingerückt! Das ist nicht irgendein oberflächlicher Trost … – Du bist ein starkes Tigerlein, deshalb wirst Du mich nicht mißverstehen, wie ich hoffe, wenigstens nicht in diesem Punkte. Wo doch, tut es mir leid; ich wollte Dich auf keinen Fall verletzen! Aber nochmals: Ich bin ein Mann – und ein echter Mann wünscht sich immer einen kurzen und schnellen Tod; auf keinen Fall möchte sich so ein richtiges Mannsbild von Frauen, mit denen er früher noch hätte Kinder zeugen können, wie ein kleines Kind behandeln lassen müssen (es sei denn, vielleicht ein Rückgratloser). Dies ist eine Frage der Ehre; und gerade hierin sind Männer eben anders als Frauen! Gehab Dich wohl, heute, für und für
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Dresden, 12. August 1808
Allerliebste Henriette! Mein wunderliebes, aus den tiefsten Tiefen Deiner Seele heraus nachtblau-zauberisches weibliches Wesen! Deine Nachricht hat mich sehr, sehr glücklich gemacht. Ich danke Dir dafür aus meinem tiefsten Innern, daß Du mir verziehen hast. Ich habe viele Fehler fabriziert – ich weiß. Aber wir beide haben, je auf individuelle Weise, vielerlei Ecken und Kanten – und Deine liebe ich, weil sie zu einem echten Tigerchen gehören: sie bringen ein wenig Pfeffer in die ganze, ansonsten ziemlich fade Angelegenheit, nicht wahr? Und Du weißt, wie mich Dein pfeffriges Temperament anfeuert, ja begeistert … Froh bin ich desgleichen für Deinen Onkel, der – sofern ich Deine Zeilen richtig interpretiere – offenbar, trotz der ganzen Misere, harmonisch und, wie Du schreibst, «gar nicht so traurig» seinen Lebenskreis vollendet: um einer Sache willen wenigstens ist er zu beneiden (wenn man dieser schlimmen wie erbärmlichen Situation überhaupt etwas Schönes abgewinnen kann): nämlich um diese liebe- sowie hingebungsvolle Pflegetochter, dieses wunderbar-edle weibliche Wesen, welches ihn auf seinen letzten Schritten, gleich einem Engel, begleitet! Weißt Du, Henriette, Du bist eine wirklich wundervolle, ja außergewöhnliche Frau – aus Deiner Seele heraus, die ich immerfort ins Mark geliebt habe und lieben werde: Du warst die erste und bisher einzige, die in mir etwas geweckt hat und Saiten einer tief-innerlichen Sehnsucht hat anklingen lassen, deren holde Töne mich in meinem Herzen – diesem «archaisch-wildesten» – milde und sanft, ja geradezu harmonisch stimmten, solange ich sie vernahm. Diese Deine göttlich-samtene Seele stellt einen edlen Abglanz des Ewigen selbst dar! – Diese Sehnsucht, ach! diese Sehnsucht … – Und dann die Sperrfeuer unserer gegenseitigen Mißverständnisse, meiner Unerfahrenheit und Berserkerei, unserer beider eckichten Charaktere … – Ich werde in Zukunft, wie versprochen, alles Geschlechtliche meiden, wie der Teufel – wie man so sagt – das Weih-
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wasser. – Es sollen unsere Seelen sich rein begegnen!, und wenn ich Glück habe, dann wirst Du uns beiden vielleicht fürderhin wieder einmal die Möglichkeit gewähren, daß wir zwei Feuergeister uns treffen können, um unsere seelisch-sinnlichen Essen und Gespräche erneut im alten Geiste aufleben zu lassen. Diese inniglichen Tuchfühlungen zu Dir waren – auf der Seelenebene! – das mithin Schönste in meinem nicht gerade leichten Leben, was ich je erfahren durfte; und Dein faszinierend-sächsischer Dialekt! diese mit zugespitzten Lippen hingegrummelten Worte kamen mir immer derart lustig vor, als wenn man einem Tigerlein, neckisch hinter den Öhrlein krauend, wohlige Laute hervorlockte. Und genau das dürfte es sein – Deine Schönheit aus der Seele heraus! –, was offensichtlich in dieser unglücklichen Lage Deinem Onkel das Ganze einigermaßen erträglich werden läßt – denn er weiß, daß sein Engelsmädchen bei ihm weilt, ihn nicht im Stiche läßt. Das wird ihm mit Gewißheit ein stilles, unsagbares Glück bedeuten! Mich beeindrucken in den Tiefen meines Herzens – dort, wo keine Worte hinreichen – Deine Kraft und Liebe zu Deinem Onkel! Es berührt mich außerordentlich, wie Du, als einzige Deiner vielen Anverwandten, Dich so sehr um Dein Onkelchen kümmerst – es sind dies die unbezahlbaren Anteile Deiner lebenspendenden Seele, die mich seinerzeit derart enteisigten, die meine ungeschlachten Härten mild und geschmeidig wie Butter werden ließen … Den Aphorismus, den Du eingangs Deines Schreibens zitiertest, kann ich voll und ganz unterschreiben: Du hast nunmehr einen schweren Weg vor Dir und wirst Deinen lieben Onkel, früher oder später, gehen lassen müssen. Der Schmerz wird groß sein, Dir das Herze schier zerreißen – ich weiß das aus vielerlei harten Erfahrungen. Ich bin stets mit meinen Schmerzen – ob körperlicher oder seelischer Artung –, die ich, mit meinen strengen Ansprüchen an mich selbst, allerdings auch niemals jemandem hätte aufbürden wollen, alleine gewesen – das Schöne will ich teilen, nicht das Häßliche, Schmerzensreiche!, was die strenge Last aber nie erträglicher hat werden lassen; ich spüre den Abgrund, der Dir begegnet! Aber hab‘ keine Angst – ich werde Dir im schlimmsten Falle das Netz
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sein, wofern Dir alles über den Kopf wüchse und Du es annehmen möchtest … (Ich wäre es liebend gerne! Nicht zuletzt wegen Deiner edlen Seele, die mir unendlich viel gegeben und bedeutet hat – und es noch immer tut.) Deshalb wisse: Solltest Du jemanden brauchen, werde ich immer! für Dich da sein, mein liebs, wildes Tigermädchen; das ist, so denke ich, wenigstens eine kleine Beruhigung. – Du kannst mir jederzeit schreiben oder auch liebend gerne, zu wirklich jedweder Zeit, zu mir kommen! Sollte es gar zu stürmisch werden, wäre ich eben auch bereit, zu Dir hinzueilen – Du könntest mich in einem Gasthof unterbringen lassen (ich übernähme natürlich die Kosten selbst); und hab‘ keine Angst, es wäre nicht deswegen, weil ich etwa Deine Wärmeflasche und Socken – wie diese beiden zu beneiden sind! – ersetzen wollte! Es wäre ein unverzeihliches Verbrechen, diese Situation für solche Zwecke auszunützen: es ginge bloß um Gespräche, ein warmes Zusammensein … und, wenn Dich die Schwere des Lebens übermannte: ich würde Dich in meine starken Arme nehmen, Dir über Dein samtenes Haupthaar streifen – wie dereinst unter der Linde, als Du weinend an meinem Busen niedersankest!! Wie abgrundtief schön war das für mich, Dich beschützen und trösten zu dürfen! Zum Sterben schön – zum Leben schön! – Weißt Du, Henriette – Du hast mir aus Deiner Seele heraus so viele sternenhafte Stunden geschenkt, daß, wenn ich daran denke, ich mir die Tränen verkneifen muß … Solltest Du mir irgendwann noch eine Chance geben (uns beiden, genauer gesagt!), dann wäre ich nicht dermaßen unbedarft und töricht, dieses Schöne nochmals, nur wegen eines blind-triebhaften Verlangens, aufs Spiel zu setzen. Du wirst den erwünschten Neuanfang meistern, bestimmt – und vielleicht, wenn Du es mir verstattest, kann ich Dir ein treuer, zuverlässiger Freund sein! Wo ich kann, würde ich Dich beschützen und fördern! – Ah, mein Zuckermädchen: ich möchte Dich in den Armen wiegen und Deine heilige Stirn küssen! Trage keine Sorge: die Küsse auf den Mund verbiete ich mir, weil sie falsch interpretiert werden könnten. Aber – wenn Du es mir erlaubst, werde ich nach wie vor Deine unglaublich wohlgeformte, schöne und edle
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Stirne beküssen; Küsse auf die Stirne und entsprechende Liebkosungen sind geistig-seelischer Natur: nimm an dieser Stelle symbolisch meine Umarmung und einen tiefen, tiefen Kuß entgegen, mein liebes Tiger-Kind, mein Adler-Küken! Ich wünsche Dir das ganze unverbrüchliche Glück der Welt … und Deinem Onkel ein würdiges und harmonisches Hinübergleiten in die andre Welt! – Mit Deiner engelgleichen Hilfe wird es ihm gelingen! Dir den Kuß zur Stirn, Deinem Onkel den männlichen Händedruck … Kopf hoch, mein zauberisch anverwandtes Henriette-Sternlein! Einer, der Dich von der Seele her liebt
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Dresden, 5. September 1808 Allertrefflichstes, hochmögendes Henriettchen! Wahrscheinlich hat sich mein Brief mit Deinem überschnitten. Ich habe Deine Nachricht erst heute erhalten: augenscheinlich haben sich etwelche Unliebsamkeiten ergeben; jedenfalls ist das Siegel erbrochen, dazu halb und halb wieder versiegelt worden: zwiefache Stempel sind aufgebracht? nun, ich bin dennoch froh und glücklich, den Brief überhaupt erhalten zu haben; was auch immer er erlitten haben mag – es ist wenigstens Deine Handschrift! – Ich bin einmal mehr ein bißchen fiebrig und muß morgen weg – aber ich wollte, ja mußte Dir unbedingt auf Deinen lieben Brief antworten; verzeihe also die ungelenken Holprigkeiten etc. Mein Schreiben gehet heute noch ab! Vielen, vielen Dank, daß Du mich derart Anteil haben läßt am Tode Deines Onkels! Vielen lieben Dank auch für das von Dir handgemalte Bildnis Deines Onkelchens; es trifft mich ins Tiefste, und
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Dein Vertrauen entwaffnet mich. Genau diesen Aspekt Deiner Persönlichkeit liebe ich über alles, dergestalt, daß mir gleichhin die Worte im Rachen stocken und stummen … – Du bist wirklich eine Künstlerin, wie Deine Schwester; fürwahr, ein echtes Künstlertum durchwaltet den Schoß Deiner Familie: es scheint darin ein goldner Hort zu ruhen! Das Bildnis werde ich immerdar aufbewahren! – Im übrigen war Dein Onkel offensichtlich eine sehr interessante Persönlichkeit – nun, das hast Du ja wohl von ihm teilweise übernommen! Ich bedaure es wirklich, ihn nie kennengelernt zu haben: nun je, daran war ich in der Hauptsache schuld, da ich‘s mit Dir verdorben habe. – Vielleicht kann ich es eines Tages wiedergutmachen? Liebe Henriette! Trotz allem bin ich sehr glücklich und froh um Deinen Onkel: daß es doch so rasch vonstatten ging – wer hätte dies gedacht oder erhofft? daß er nicht so lange hat leiden müssen: zum Glück, zum Glück! Und froh bin ich um Dich, daß Du ihn hast begleiten können bis zum Ende und er nicht in Deiner Abwesenheit hat gehen müssen! Trotz all des Traurigen denke ich, daß es solcherart schicksalsrichtig für alle Beteiligten gekommen ist – das freut mich für euch zwei! Nun, mein liebes Tiger-Kätzlein! Jetzo wirst Du Deinen Neuanfang wagen und Deinen Weg finden! – Ich, von meiner Warte, kann nur mit stetem Nachdruck wiederholen, was ich in meinen Schreiben bereits anmerkte: Wenn Du einen Freund, wenn Du Hilfe, Unterstützung, Gespräche, Wärme, Kraft – oder was auch immer – brauchst, bin ich für Dich da – jederzeit! Wenn Du uns beiden, früher oder später, die Möglichkeit zum Aufbau einer platonischen Freundschaft geben willst, bin ich dazu ebenso bereit … – Ich möchte enden an dieser Stelle, weil ich weiß, daß keine Worte trösten und Du Deine Zeit benötigest, um Dich neu zu sammeln: wie auch immer, ich bin für Dich da, so Du meiner Hülfe bedarfst. Bedingungslos! Leb‘ denn für heute wohl!
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Dresden, 25. November 1808 Liebs Henriette-Kätzlein Jetzo hat‘s mich gleichwohl noch erwischt – liege mit argem Gliederfieber und dem ganzen Ingrimm meines sich gegen mich wendenden Magens hülflos im Bette; allerdings geht‘s wieder aufwärts, so daß ich Dir noch vor Weihnachten ein paar Zeilen senden kann: weiß allerdings nicht genau, wann ich den Brief aufzugeben imstande sein werde. – Hab‘ auf dem Flohmarkt dies zierlich-kleine Medaillon eines lustigen Glitze-Glotze-Kätzchens gefunden: schaut es nicht herzig drein?! – Herzlichen Dank übrigens für Dein stillebendiges Bild! Du mußt, ob Deiner großen materiellen Armut, doch auf eine überaus eigene Weise sehr schön wohnen; wie lange bist Du mittlerweile von zu Hause weg? Jedenfalls: es gefällt mir, wie Du Dich eingerichtet hast! Ich weiß ja: Du hast einen exquisiten Geschmack! – Besonders die mystisch beleuchtete grüne Flasche im Vordergrunde gefällt mir ausnehmend gut, nicht zuletzt wegen ihrer eigentümlichen Form – Du weißt ja, daß ich das Ungewöhnliche mag, nicht wahr? Bloß – die Figur hinter der schmucken weißen Schale bleibet mir ein Rätsel: handelt es sich um einen Papisten in windschiefer Lage? oder etwa um eine zauberische Alraune? Es freut mich wirklich für Dich, daß Du es Dir so heimisch-traut eingerichtet hast; es hat etwas Zauberisches, Märchenhaftes – und welch eine Fee bewohnet das liebliche Schlößchen! – selbst wenn die Welt Dir weismachen will, es sei eine schäbige Mansarde, hör‘ nicht auf sie … Zu Deinen Zeilen: Auf der einen Seite freue ich mich für Dich wie ein kleines Kind, denn ich sehe ganz deutlich, daß Du mit der schwierigen Situation gut umgehen kannst: hab‘ ja gewußt, daß Du ein tapferes Tigerlein bist! Andererseits finde ich es sehr traurig zu hören, wie Deine ferneren Verwandten, samt Anhang!, mit Dir umzugehen pflegen. – Was sind denn das für Gauche? Bitte, entschuldige mich – ich ahne lediglich vage, wie Du zu Deinen
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Leuten stehst, und ich will auf keinen Fall Deine Gefühle verletzen … – Du kennst mich mittlerweile: ich war sicherlich auch, wie Du seinerzeit schriebst, in höchstem Grade «arrogant» – aber diese Episode hatte einen anderen Hintergrund: Mißverständnisse, unerfüllte Sehnsüchte etc. Aber hier handelt es sich um eine familiäre Angelegenheit unter eng Verwandten; ich würde nie meine eignen Leute noch zusätzlich kujonieren, wenn es zu solchen oder ähnlichen Vorfällen käme – im Gegenteil! Kömmt dazu: Du allein warst es, welche die ganze Zeit Deinem Onkel – gerade in seinen schwersten Stunden – tapfer zur Seite gestanden hat; Du hast Dich um ihn gekümmert und für ihn gesorgt; Du hast mit ihm viele, wie mir zudem ja bekannt, spitze Kliffe seines wahrhaft unrunden Lebens gemeinsam gemeistert; und mitunter, wenngleich selten, fuhrt ihr allein in milder See: zu zweien Segel in Eintracht – ob‘s regnete, ob‘s stürmte! – Jetzo aber, wo sie was holen zu können vermeinen, kömmt dieser Clan der Breitnasen und Flachschädel angetanzt und will Dir das Leben noch zusätzlich schwermachen?! Das ist sowohl traurig als auch empörend! Unter diesen Umständen sind Deine Schlemmer-Orgien begreiflich. Aber mach Dir keine Sorgen: die paar Pfündlein auf Deinen Hüften werden Dir nicht schaden – weder körperlich noch was Deine Schönheit anlangt. Du bist ja ohnehin eher zu dünn – nicht, daß ich das beklagen würde! Du hast mir immer gefallen: Du verfügst über eine erstklassige, sinnliche Ausstrahlung. Die Schönheit eines Menschen, und erst recht bei einer Frauenpersönlichkeit Deines Formates, entscheidet sich für mich immer übers Gesicht: sobald mich das Antlitz fasziniert, ist ein Wesen für mich schön. Und Du weißt, wie sehr ich immer von Dir fasziniert war: von Deiner unglaublich-wunderbaren Stirn und Deinem hübschen, feingeschnittenen «Adlernäslein» – darauf stehe ich besonders! Also nochmals, keine Sorge – Du bist sowieso ein Modell, das für eher spezielle Männer gefertigt wurde: die Durchschnittshirne ergriffen hier gleichermaßen die Flucht, als sie überhaupt zu kurz griffen (beachte die Anzüglichkeit des Wortspiels, und sieh‘s mir bitte nach – ‘s dienet der Erbauung!); einzig der Fels läßt sich vom samtenen Moos umgarnen! Auf die andern Knicker, diese Ritter-von-der-
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faden-Sorte, die an Dir herummäkeln, kannst Du getrost pfeifen – oder nicht? Jedenfalls wirst Du für mich immer schön bleiben, weil Du eben faszinierend bist! – Äußere Schönheit kann verwelken, Faszination kann höchstens noch wachsen; sie ist überzeitlich … – Mein Pfeffer-Mädel! Dein Onkel hatte recht mit dem, was er Dir bezüglich Freunden mitgeteilt hat! Ich kann Dir anempfehlen, diesen Rat zu befolgen. – Ich habe im übrigen nichts dagegen, wenn Du diese Vorsicht, vor allem zu Anfang, auch gegenüber mir walten läßest: ich mag zwar manchmal ein harter Kante-Knochen sein – doch unehrlich war ich nie zu Dir!, und mein Herz wird immerfort für Dich schlagen, selbst wenn meine Sehnsucht nicht erfüllt werden kann: so bist Du einfach «mein Mädchen», das ich fördere und für das ich da bin: damit kann ich leben, das ist mein «modus vivendi». Aus diesem Grunde empfinde ich keinerlei faden Beigeschmack, wenn Du zunächst ebenso gegenüber mir kritisch sein solltest – im Gegenteil: weil ich nichts zu verbergen habe und ich Dich nicht reinlegen will, bin ich sogar froh, wenn Du mich prüfst! Ich nehm‘s Dir jedenfalls nicht übel. – Ich trage Dir im Notfalle nicht nur meine Hülfe an, sondern für besondere Zwecke – das meint: vor allem bei Problemen existentieller Natur oder andern Angelegenheiten, in welchen Du mir vielleicht, wieso auch immer, nicht voll und ganz traust – würde ich es gar veranlassen, daß Du mit Müllern das Gespräch suchen kannst; dieser ist nun wirklich neutral – und wenn ich ihn darum bitte, wird er Dir sicherlich helfen! Gerade in geschäftlichen Belangen ist er sehr clever (ich könnte Dir Geschichten erzählen … darf sie aber einem solchen Bogen nicht anvertrauen; denn wer weiß, in was für Hände er vielleicht durch unglückliche Umstände gelangen könnte?). – Wie Dir bekannt, besitze ich in diesen wie in grundsätzlich allen Bereichen eine merkwürdige Eigengesetzlichkeit – ich bin wirklich noch nach vorsintflutlichem Bilde geschaffen: kämen mir diese konservativen sowie halb-absolutistischen, oder sonstwelche, Halbaffen blöde und fügten mir einen Schaden, eine Unedelmütigkeit, ein Unrecht zu, was meine Existenz maßgeblich gefährdete, stieße ich ihnen, gleich meinem Kohlhaasen, zehn Pfund eigenhändig geschmiedeten Stahls durchs Gekröse – voilà! Nun denn: «normal sei dies nicht», wie man mir stets von
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neuem unter die Nase reibt. Und die obgenannten Ritter-von-derfaden-Sorte erschauderten ob solch rabiaterr Herbheit. Der Galan Müller dagegen besitzt viel mehr ein Gespür für juristische Tricks und Kniffe, wo ich alsgleich einfach das Blut zum Himmel sprützen ließe! – Dann kömmen sie, diese Schlappschwänze, und jammern: «Hätten wir ihm nicht zugetraut» und: «Wenn wir dies gewußt hätten». Soll einer diese widersinnigen Durchschnittshirne begreifen … Alles in allem: Wenn ich Dich beschützen soll – dafür bin ich der Richtige, mein Mädchen! –, dann kömmst Du einfach zu mir – und ich schlag‘ die andern tot. Aber zum Glück bist Du ja selbst stark. Dennoch: Mein Wort gilt! Ich hegte bereits von Anfang an selbst väterliche Gefühle wider Dich – da Du mir nicht Geliebte sein möchtest, sei mir mein liebes Kind! Du weißt um meinen Wert – und ich weiß um Deinen verborgenen Schatz: ich helfe Dir ihn bergen! Ich freue mich auf unseren gemeinsamen Neuanfang! Ich beue Dir nochmals – und mit Nachdruck – mein Herz als zweite Heimat an. Lassen wir die platonische Freundschaft gemächlich wachsen. Laß Dich mir eine Freundin im Geiste und der Seele werden … und ich stelle Dir meine «archaische Kraft», meine ungemeinen Schätze zur Verfügung! – Übrigens: Ist Dir Dein Onkel im Traumgesichte noch nicht begegnet? Bevor Du jeweils einschläfst, rufe ihn innerlich an und betrachte vor allem sein Bildnis; denke ein Gebet. Denke Dir Fragen aus, die Du ihm stellen wirst, wenn er auftaucht – das kann man üben, wie alles im Leben! Im weiteren freut es mich, daß Du zwei Gespielinnen gefunden hast, mit denen Du die festlichen Tage in Gemeinsamkeit verbringen kannst. Ich finde es wichtig, daß Du diese schwierige Zeit nicht alleine verlebst: deswegen habe ich Dir ja auch mein Angebot unterbreitet, Du erinnerst Dich?! Sollte Dich dennoch die Traurigkeit übermannen, so schreibe mir ruhig. Zum Beschluß und zu Deinem neuen Lebensabschnitt noch dies: Mein liebs Kätzchen – lerne die Natur lesen! Einen schönen Ausspruch fand ich in einem Bändchen von Friedrich Maximilian Klinger, einem Freund Goethes:
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«Die meisten Menschen sterben, ohne nur ein Wort davon zu wissen, daß sie durch ein unbegreifliches Wunder gezeuget worden sind, durch ein ebenso großes Wunder gelebt haben und von nichts als den erstaunungsvollsten Wundern der Natur umgeben waren. Sie ahnen gar nicht, daß sie ihre Tage auf einem Schauplatz voller Zauberschlösser zugebracht haben, deren herrliche Erscheinungen und Wunder keine Einbildungskraft erreichet, kein Verstand durchdringet, kein Gedächtnis fasset und keine menschliche Zunge nennet. Wer die Natur durch ihre großen Historiker und die Beobachtung selbst nicht kennt, der gehet aus dem Grabe im Mutterleib in das Grab der Erde hinüber, ohne daß sich der Schleier vor seinen Sinnen verdünnt hat, und ich weiß nicht, wie er die Wunder jener Welt ansieht und erkennt, da er in dieser ein Fremdling geblieben ist und sozusagen ohne Maßstab ankömmt.»
Fürwahr: Die meisten Menschen sind Schlafende; und selbst im Jenseits dösen sie fort und fort, bis sie dermaleinst aus tiefem Schlafe erwachen … und dann entweder weiterleiden oder sich in der Vollkommenheit wiederfinden. Es kömmt darauf an, diesen Schleier des Nichtwissens um die Gesetze der Ewigkeit zu lüften. Wollen wir dies gemeinsam tun? Das Leben beut einem viel Interessantes. – Ich pack den Tiger beim Schopfe, und Du das Tigerlein! – bändigen wir zusammen diesen schwarzen Drachen, auf daß er uns nicht zernichte und wir uns auf ihm gezielt dem Himmel entgegen aufschwingen … – Deine archaische Kraft-Eiche!
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Dresden, 3. Februar 1809
Mein Herzens-Mädchen: Du süß-brummichtes, fischottriges Mümmel-Tigerchen! Vielen Dank für Deine Zeilen! Ich freue mich immer, wenn ich was von Dir höre! – Du machst es schon richtig; Du mußt zunächst Ruhe und Geborgenheit in die neubeschrittene Lebensbahn einbringen; wo ich kann, helfe ich Dir dabei – und zwar liebend gerne: denn darin habe ich reichlich mehr an Erfahrungen zu verzeichnen als Du – war (und ist zuweilen: wie auf einem Stolperpfade) doch mein «Höllengang» weitaus wilder und verwegener, womit ich mich gleichhin in Dich einzufühlen vermag … Deine gemalten Fischotter sind in der Tat «schnuckelig», wie Du schreibst – es sind dies ausnehmend interessante Tiere. Eine Anmerkung mit Augenzwinkern: Weißt Du, was ottrische Selbstquälerei ist? (Oder haben sie dies beim Sisyphos abgeschaut?) – nämlich … Deine vorgeführten Fischottern entsteigen dem Wasser, krabbeln hoch, hoch, hoch bis zur Spitze des Felsens, stürzen sich wagemutig ins Gewässer zurück, schwimmen erneut zum Anfang hin, entsteigen dem Wasser, krabbeln hoch, hoch, hoch bis zur Spitze, werfen sich wiederum todesverächtlich ins Meer … und das ohne Ende! Was für ein verspieltes Getier! – Zum Glück ist es ja nicht so! aber manchmal mag es uns in unserem Leben dergestalt erscheinen, als würden wir eine solcherlei beschaffene «Endlos-Schleife» absolvieren – hinten hoch und vorne runter, fortwährend denselben öden Lebenskreis beschreitend, ohne vorwärts zu kommen, scheinbar ohne irgendwelchen Sinn und Zweck … Wieso ich auf diese Idee verfalle? Ich vermute – aufgrund persönlicher Erfahrungen, wie gesagt –, daß bei Dir jetzt solch eine «Endlos-Schleife» aufgebrochen ist und Dein Leben in eine neue Richtung gelenkt werden wird! Ich – als Beobachter von außen – bin sehr gespannt, und ich sehe Dir aufmerksam zu; sobald Du aber ein Netz benötigen solltest – denn Du befindest Dich in schwindelerregenden Höhen, gleich einem Hochseiltänzer –, werde ich
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Dich aufzufangen wissen! Ich werde Dein Cherub sein, wenn Du es möchtest – deswegen brauchst Du Dich nicht vor der grausigen Höhe zu fürchten! Ich hatte seinerzeit – und habe sie bis heute nicht – keine Fangnetze zur Verfügung; und ich weiß, daß man sich fürchtet. – Zum Glück aber bin ich ein tapferer und mutiger Mensch, so daß ich es vermöge des Beistands meiner Walküren – andere mögen diese Naturkräfte «Engel» nennen, Cherubime, Seraphime: die sind mir allerdings zu langweilig – immer wieder geschafft habe, aus der Bredouille zu entrinnen; endlich besitze ich Anteile eines Winkelried-Charakters, dessen ich mir bei meinem Aufenthalt in der Schweiz bewußt wurde: laut einer Überlieferung sei ein wilder Kämpe, namens Arnold Winkelried, deswegen als Volksheld in die Geschichte eingegangen, weil er in der Schlacht zu Sempach von 1386 mit seinen Armen ein Bündel feindlicher Langspieße umfaßte, um derart, in freiem Falle, den Eidgenossen eine Gasse quer durch das österreichische Ritterheer zu bahnen, wodurch er selbstredend den Tod fand – den ruhmreichen Tod der Schlachten! – Du handelst deshalb richtig: Das Wichtigste ist die innere Ruhe!, das Wissen darum, wohin einen der Strom des Lebens führet; das Wissen, welches der Leitstern am Himmel ist, welcher einem das individuelle Glück weist! Diesen Stern mußt Du finden, dann hast Du die Ruhe, selbst wenn um Dich herum die Stürme weiterhin toben, die Scylla und Charybdis weiterhin nach Deinem Leibe trachten … – Die ausgearbeitete Liste ist gescheit: Ausschlafen, Musizieren, Lesen, Natur – bravo, mein HerzensMädchen, Du gehst Deiner Seele nach. So kann es nur gut kommen … – Das Wort «Stille» zeigt mir Deinen Hang zu seelischer Beglückung und Harmonie, und das ist richtig! Du wirst also Deine Ziele erreichen – dies ist lediglich eine Frage der Zeit. Aber eins muß ich aus schmerzlichem Erleben beifügen: Deinem Wesen kannst Du nicht entfleuchen! Was meint: Du wirst alles erreichen, was Du Dir wünschest, doch es dürfte wohl auf einem anderen Wege geschehen, als Du glaubst. – Ich erinnere mich an meine eigene Geschichte: Ich suchte und war in vergleichbaren Zuständen befindlich – obgleich wesentlich turbulenteren und lebensbedrohlicheren wie die, in denen Du Dich
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seit geraumer Zeit aufhältst! Aus der Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit, nach einem zuverlässigen Port in diesen ungeheuren Aufwallungen der Seele suchte ich nach dem Glück – und in den kleinsten Strohhalm dachte ich mir die Rettung hinein; und dann begann‘s wieder von vorne: mehrmals und immer wieder! Da wird man mürbe, das kann ich Dir flüstern … – Das Gewitzigte daran schließlich: eigentlich ist es heute noch genauso wie damals – bloß, das Bewußtsein hat sich geändert wie auch die Sphäre reinen Erlebens! – Ein kleines Beispiel: Man hat etwa als Kind gewisse Befürchtungen und Ängste etc. Erinnere Dich an Deine Wünsche, Gedanken und Befürchtungen im Kindesalter! Viele davon lösen sich im Erwachsenen-Dasein in Schall und Rauch auf! Die wenigen, die bleiben, so etwa vielleicht Beziehungsfragen oder Sinn- und Berufsfragen, gewinnen eine andere, weitaus höhere Qualität und Bedeutung, weil sie in einen Reifezustand, in eine erweiterte Dimension geraten sind: dergestalt mußt Du versuchen, Dir das vorzustellen! – Einerlei: Dein Wesen verfügt über gewisse Stärken, dazu gehört Deine wunder-wundervolle Seele! und Schwächen, die Du nicht verleugnen kannst. Doch die Qualitäten kannst Du pflegen und die Schwächen veredeln! Schließlich ist es eine Illusion, sich selbst davonlaufen zu wollen. Ich denke zwar nicht, daß Du das tust – aber viele, die ich kenne, tun genau dies. Und dann laufen sie hechelnd die ottrische «Endlos-Schleife» – und wundern sich, wieso es nicht vorwärts geht! Denen gebricht es an Mut! Man kann mir vielerlei und vieles vorwerfen: nur nicht, daß ich vor mir davonlaufen würde – ich messe mich stets mit sämtlichen Höllenmächten; und entweder bricht mein Genick oder jenes des Schicksals – ich höre es bereits knacken im Gebälk! Aber in welchem ist‘s: woher das Knacken …? Jedenfalls fürchte ich mich vor dem Tode nicht, bloß davor: daß etwan all mein Mühen vergebens gewesen sein sollte; daß es keine höhere Gerechtigkeit geben möge; daß die große, unsterbliche Dame «Wahrheit» gestorben wäre?! Hab also nur die gehörige Prise Mut, mein Herzens-Mädchen! – wie Du es so schön in Deinem Brief geschrieben hast! Und wo Du
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möchtest, helfe ich Dir! – Zunächst harre ich Deiner passiv im Hintergrunde: Du sollst Dich melden, mir Mitteilung erstatten können, ob schriftlich oder in persönlichen Treffen: Du bist jederzeit in meinem Herzen willkommen! Wie ich mich freue, Dich hoffentlich in diesem Jahr wiederzusehen, das kannst Du Dir gar nicht einbilden! Richte mir deshalb bitte mindestens etwa eine Woche im vorhinein aus, wenn Du kommen möchtest, damit ich mich gebührend vorbereiten kann … Irgendwann wirst Du Deine Ruhe gefunden haben, und erst dann wirst Du «leben»! Bisher warst Du auf der Suche … und ich kann Dir aus innerer Überzeugung mitteilen, daß Du bisher wenigstens keinen wesentlichen Fehler fabriziert hast – kleinere zwar schon, aber das ist natürlich und normal! – Behalte den Kurs bei, kleiner Fährmann; und in den Unbilden sei gewiß, sei ruhig! und stille – es gibt zumindest jemanden, der Dich unendlich tief liebt! Wie ich Deine Seele, Deine Artung liebe, mein Herzens-Mümmel-TigerMädchen, mein gurrichtes Seelen-Täubchen! Und erinnere nochmals: im Notfall findest Du in mir Deinen Cherub zur goldnen Himmelspforte, der Dich in hingebungsvoller Liebe und Treue auffängt und trägt! Irgend einmal mußt Du springen: sei wie dieses Otter-Getier, und verpasse ja den Zeitpunkt nicht, sonst gibt es einen Stau in der Fischotter-Kette – ansonsten wird man schlechterdings gezwungen, ob durchs Schicksal oder anderweitige Mächte. Du hast noch genügend Zeit, dies merke ich aus Deinen Zeilen heraus. – Fleuch noch dieses Jahr in meine starken Arme; spätestens aber dann, wenn Du das Dir unwürdig Auferlegte erledigt hast! – Ich nehme an, daß die Testamentsvollstreckung noch nicht stattgefunden hat; berichte mir doch, wie sich alles zugetragen haben wird: wie die andern sich verhalten haben, ob es wirklich so schlimm wurde, wie Du gedacht hast – ich hoffe nicht, etc. Du sprichst davon, daß Du Dir Zeit lassen müßtest – ja, Du hast recht, das ist ganz wichtig! Und nutze Deine Ungeduld, so hab‘ ich es wenigstens getan, indem Du sie einsetzest, etwas Sinnvolles zu unternehmen. Das mag von Mensch zu Mensch verschieden sein –
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ich habe in solcher Zeit sehr viel gelernt und ausgiebig an meinen Werken gearbeitet, also hauptsächlich aus dem Geistigen erschaffen; zudem besuchte ich ausgiebig die Opern, Konzerte, Galerien sowie Schauspielhäuser: das heißt, wofern ich es mir finanziell leisten konnte. In Deiner Situation könnte ich mir vorstellen, daß Dir Spaziergänge in der Natur viel hülfen – für den Geist könnte ich Dir eine Repetition meiner Werke anempfehlen, oder sonst was, das Dir Freude bereitet: es muß Freude dabei sein, sonst tu es lieber nicht – denn dann bekömmt die Ungeduld keine wirkliche Nahrung und verstärkt sich höchstens. Deinen Geburtstag lassen wir auf uns zukommen. Falls Dir gleichwohl noch was einfallen sollte: dann sag‘s mir, ich möchte Dir so gerne eine Freude bereiten … mein Mädel! Ich spiele mit dem wonnig-schönen Gedanken, Dich Mümmel-Tigerchen einfach in den Armen zu halten und Dir über Deinen Kopf zu streicheln: in andern Dingen bin ich sowieso eher scheu – man sollte es nicht glauben, der Tiger kann scheu sein – und wie! Wenn Du möchtest, würden wir göttliche Stunden zusammen verbringen – ich übernähme natürlich die anfallenden Kosten, Ehrensache! Was Dein Medaillon anlangt, das mir leider verlorenging: das ist wirklich allzu schade! Doch Du hast nicht recht, wenn Du meinst, es sei Vergangenheit. – Deine blühende Lieblichkeit aus der Seele heraus, Deine Seelenkraft, diese tiefe Faszination, die Du ausstrahlst auf mich: das wird alles niemals vergehen, weil dies überzeitliche Werte sind! Du wirst für mich noch mit 93 Jahren gleichermaßen interessant sein, wie Du es mit gut 23 Jahren warst – und wie Du mir entsprechend auf dem lieblichen Medaillon entgegenstrahltest! Selbst wenn sich im Alter ein paar Fältchen dazugesellten: Du bleibest auf ewig mein Herzens-Mädchen und mein MümmelTigerchen! Beweise? Nach all dem, was wir zusammen an Höhen und Tiefen durchgestanden haben, hast Du überhaupt nichts von Deinem Glanz für mich verloren – im Gegenteil: ich fühle mich Dir sogar noch tiefer verbunden! Deine Seele ist Goldes wert – ich hoffe, Du weißt das! Deine Seele, Deine Seele – ich Goldgräber hab‘ Gold gefunden … – Erledige sobald als möglich Deine testamentarischen Angelegen-
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heiten, und besuche mich alsbald bei Wohlgefallen, meine herzliebste Sonne! Dein Kraft-Bär Heinrich in zottichtem Pelz
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Dresden, 30. März 1809 Du wusliges, liebreizendes Mümmel-Mädel: Du knuddliges Wombat‘s-Frettchen mit der feinen Adlernase! Allerliebste Henriette! Wie ich es liebe, von Dir lustig-lustvolle Nachrichten zu erhalten! Die Zeichnung mit den Hunden ist schnuppicht – diese herzig-lieben Äugelein von diesem Wollknäuel …; ich kann Dir gar nicht schildern, wie mich Deine Seele mit großer Wärme, Zuversicht und Freude erfüllt! Ich fiebere unentwegt mit inniglich-wohlwollender Gespanntheit Deinen Briefen entgegen! Du bereitest mir die wundervollsten Freuden und herrlichsten Wonnen mit Deiner Art des Begegnens … – Ich will und möchte Dir zur Seite stehen in Deinen Stürmen; und wenn Du möchtest – Du entscheidest! –, so will und kann ich Dir helfen. – Du mußt mir bloß versprechen, keine Dummheiten zu machen – weil: gerade in solchen Krisenzeiten neigt man, verständlicherweise und gemeiniglich, ausgesprochen leicht dazu. Deshalb noch einmal: ich bin immerfort für Dich da, Tag und Nacht! Ich habe Dir viel Neues und Interessantes zu berichten (diesbezüglich mehreres allenfalls mündlich) – ich war rund elf Tage in wichtigen Geschäften abwesend, und als ich nach Hause kam, wurden mir Deine beiden Nachrichten ausgehändigt. Lieben Dank! – Liebste Henriette – es wird nun gut mit uns beiden, das spüre ich! Und Du wirst Deinen Weg, Dein Glück finden: wenn Du magst, reiche ich Dir die Hand dazu. Wie zwei Eisbären, diese sind Einzelgänger!, wird jeder von uns beiden seine ihm vom Schicksale zugewie-
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sene Sternenbahn ziehen – und gleichzeitig kömmt man zusammen und hat es gemeinsam schön; wenn Du möchtest, begleite ich Dich sonach durch dick und dünn: auch wenn‘s Schicksal mal arg grauslicht wütet! Du kennest mich ja nunmehr – ich springe selbst im Angesichte der schröcklichsten Unbilden nicht weg, nie!, noch lasse ich mein Wombat-Adler-Mädel im Stiche … Nun aber stracks zu Deinem Brief. – Ich finde es gut, daß Du Dir zu Deinem besonderen Geburtstage (das ist er, so wie Du eine besondere, faszinierende und wertvolle Frauenpersönlichkeit für mich verkörperst!) etwas Gutes tust! Laß Dich verwöhnen, entspanne Dich, vergiß die Stürme und erhole Dich! Ich wünsche Dir, daß sich dabei der eine oder andere Knopf löst – und wisse, ich bin für Dich da; halte das zumindest im Hinterkopfe – und es wäre schön, wenn Du den einen oder andren Gedanken während dieser Kur an meine Wenigkeit verlörest … – Ich vermeine, Dich mittlerweile gut zu kennen: man muß dem Mümmel-Tigerchen seine Freiräume und Eigenheiten nicht nur lassen – sondern ich möchte sie auch aktiv unterstützen, ja fördern: ich will Dein Lehrer sein! Schließlich finde ich es gut, daß Du tätig wirst … – Du wirst einsehen, daß Dir die Repetition meiner Werke reiner Balsam sein wird; und fürchte Dich nicht vor mir! Ich habe aus meinen Fehlern gelernt: ich werde Dich lehrend unterstützen, für mein Mädchen zur Stelle sein, ihm liebevoll zugeneigt sein etc. – Ah, Henriettchen: Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue, Dich bald wiederzusehen … – wie sehr! Ich finde Deinen Entscheid, Mitte Mai zur Kur zu gehen, wirklich gut; nicht zuletzt deswegen, damit Du von Deinen Dich drängenden Problemen – dieser «Endlos-Schleife» – einen gewissen Abstand gewinnst, den Kopf mit frischen Gedanken anfüllst und wieder Freude findest am Leben. – Hab keine Angst: Du wirst aus diesem Sog rausfinden … – Ich hoffe, Du erhältst meinen Brief noch rechtzeitig, bevor Du zur Kur fährst; eigentlich hätte ich Dich gerne zu Deinem Geburtstag persönlich getroffen – doch ich sehe ein und weiß, wie wichtig Deine seltsamen Rituale für Dich sind – und ich werde mich hüten, da hineinzufunken! Ich kann Dir bloß versichern, daß ich tief im Geiste bei Dir sein werde, um Dir immer und immer wieder einen innigen Kuß auf Deine so
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wundervolle und edle Stirne hinzuhauchen! Sobald Du eine samtene, wohlige Kühle auf Deiner Stirn verspürest: bedenke – das bin ich, der Geist des Winds! – Mein Wunsch an Dich: Genieße den Aufenthalt, und komm frisch gestärkt aus der Kur zurück, eingedenk dessen, daß ich Dir zugeneigt bin und im Geiste immerfort zugegen … Du wirst sehen: der Aufenthalt wird Deiner Seele gut tun; und ich freue mich bereits jetzt, das wohlige Brummsen in der Stimme meines kratzbürstigen Wombat-Kätzleins zu vernehmen! Rührend find‘ ich es, wie Du Dich um den «Batzi» – was für ein Name?, Du Knusper-Kätzlein – kümmerst. Das bewegt mich sehr, wie Du Dich um den Hund Deines Onkels bemühst – er empfindet sicherlich, von einem anderweitigen Platze aus, Freude an seiner Pflegetochter, dem lustig-verspielten Tiger-Mädchen! – Eins allerdings bedaure ich doch inniglich: ich hätte sehr gerne Deinen Onkel noch persönlich kennengelernt – Du hast viel von ihm; und ihr beide seid wirklich interessante Persönlichkeiten, auch wenn ich – was wunders! – ausschließlich und fiebrig in seine rassige Pflegetochter vernarrt bin: das Adler-Küken mit dem gepfefferten Temperament: o, verliere nie dieses gottverdammte Temperament, diese Inbrunst, dieses herrliche Wesen, das Du bist! Das könntest Du nur, wenn Du Dir selber untreu würdest – sei also immer Du selbst! Und scheue Dich nicht: ich liebe Dich ja gerade wegen all Deiner Ecken und Kanten, welche diese wunderbar-weibliche Seele an ihren Flanken tangieren. Du mußt bloß noch lernen, damit gestalterisch umzugehen – und dabei kann ich Dir einige tiefe Geheimnisse erschließen!, weil ich auf andere Weise ähnlich konstituiert – und doch Dir fremd bin: bei mir ist diese ganze seltsamseltene kompositorische Partitur einfach viel einsinniger und in weitaus größrer Strenge durchstrukturiert – und deswegen glaube und denke ich zu wissen, wie Dir manchmal zumute sein wird, was Du durchmachst, wie Du leidest etc. etc. – Kurzum: Du mußt lernen, wie bereits erwähnt, Deine Schwächen zu veredeln – weil: abschütteln kannst Du sie nicht: wie die Katze die an ihren Schwanz gebundenen Büchsen nicht abzustreifen vermag. – Auf der anderen Seite hast Du wahrhaft wunderbare Qualitäten – vor allem Deine Seele ist dergleichen wundervoll: sonder-
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lich tigrisch-weiblich, sanft und tief – mit einem kräftigen Schuß von einem schnurrlichten Mümmel-Wombat-Sahnehäubchen; ich war und bin – und werde es ewiglich sein! – so sehr, so tief fasziniert von Deiner Seelenkraft, daß ich Dich am liebsten fest in die Arme meines Geistes schließen wollte und Dir immerwährende Harmonie, Ruhe und Geborgenheit angedeihen lassen möchte, ein immerwährendes Eins-Sein in zweien – Dich nimmermehr loslassend! So sehr ist Deine tiefe Seele schön! Entdecke dieses weite Land – wollen wir es zusammen, Hand in Hand, erforschen?!? Du, mein Henriettchen, bist meine Sonne! – Du sprichst von gedanklichen Unstimmigkeiten?! Ich denke nicht, daß dies das Problem ist. Ich möchte ehrlich zu Dir sein – wie ich es immer war und sein werde! Deine Probleme wirst Du über den reinen Geist nicht zu lösen imstande sein: ich folgere dies, weil ich hierin noch eine kleine Unreife entdeckte. Nein, Du mußt sie über die Seele entflechten! Dies ist Deine Stärke – Deine Intelligenz bildest Du über die Seele: sie alleine wird Dich beschützen! Meine Stärke hingegen ist der Kopf – und deshalb kann ich Dir raten: wenn Du in Deiner Seele spürest, daß Dir jemand geistig überlegen ist und es nicht ehrlich mit Dir meint – dies gilt für alle Begegnungen im Leben, ob beruflich, privat, allgemein etc. –, dann weiche solchen Leuten aus! Denen bist Du unterlegen. Dies soll keine Beleidigung sein – solltest Du dies allerdings solcherart auffassen, bitte ich demütig um Verzeihung!, und dann darfst Du mir bei unserem nächsten Wiedersehen eine saftige Backpfeife verpassen. – Du verfügst über großartige andere Qualitäten, und wie gesagt: Du hast eine sehr gute natürliche Intelligenz, die sich aber über die Seele bildet und nicht aus dem Intellekt kömmt! Wohl ein Grund – wenn nicht der hauptsächliche –, weshalb ich mich immerfort derart von Dir in unglaublicher Weise angezogen gefühlt habe, denn bei mir verhält es sich geradezu umgekehrt … – Wir zwei sind quasi Kopf und Zahl derselben Münze – eine sinn- als wie wundervolle Ergänzung (diese Ergänzung, in einer gänzlich anderen Richtung, bilden Müller und ich in der Schicksalsgemeinschaft unserer Geschäftstätigkeiten etc.). – Lernen wir doch zusammen, Henriette: Du hilfst mir mit Deiner wunder-wunderbaren, weiblichen Seele, ich Dir
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mit meinem scharfen Geist! Du bist die Einzige, die es vermag, meine Härten weich wie Wachs werden zu lassen; Du gibst mir unnennbar viel … – Und was mir ebenso gefällt: Du hast Humor und Temperament! Du bist keine «normale» Frauenpersönlichkeit, sondern die mit dem gewissen Etwas, mit der Zwicke – nicht so ‘ne lendenlahme, langweilig-adlige oder steril-bürgerliche Pute, wie sie zuhauf vorkommen und nicht eben selten in den verschiedensten Salons herumgackern – sondern ein liebs Krallen-Tigerchen mit dem spezifischen Mümmel-Effekt! Sonach verhält es sich wohl: das Schicksal gibt uns immer wieder neue Möglichkeiten: es übernimmt nicht selten den Part der schützenden Hand. Genau dieses Schicksal legt uns einmal mehr eine weitere Möglichkeit in den Schoß, die üblen Schwären aufzubrechen, zu gesunden! – Durchdenke meine Vorschläge: ich bin für Deine Anregungen gänzlich offen! Jetzo endlich dreht sich die Spirale, nach anfänglicher Stagnation, Stufe um Stufe höher, womit gleichsam auch unser Leben diese – wie ich im letzten Brief bemerkte – höhere Qualität des Bewußtseins gewinnt, weil schließlich die gesamte Bewandtnis in einen Reifezustand, in eine erweiterte Dimension überführt worden sein wird … Es braucht vielleicht ein kleines bißchen Mut, zunächst mal einen zaghaften, ersten Schritt in ein unbekanntes Land zu tun! Diesen Mut hast Du bestimmt, mein kleines Tigerlein. Und sei eingedenk: Ich bin für Deine Gedankenanregungen, Wünsche und Pläne zusamt offen! Tatsächlich: es brechen goldne Zeiten an! Du hast recht! Dein Schutzgeist in Miniaturformat gez. Dein Heinrich
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Dresden, 17. April 1809 Liebes, liebes Tigerlein! Ich bin gar nicht erschrocken über Dein erstaunliches Schreiben. Damit habe ich rechnen müssen – und es stört mich auch nicht im geringsten: denn weder Du noch ich können endlich dem eignen Schatten entrinnen; nur verstehe ich, im Gegensatz zu Dir, diesen zu formen! Traurig stimmt mich allerdings ein bißchen, daß – wie Du schreibst – «das Wissen (...) zu erwerben doch letztendlich immer nur der Hauptangelpunkt in der Tiefe unserer Begegnungen» für Dich gewesen sei, und daß Du die «Einengung» (?), die ich Dir offenbar bereitete, was mir sehr leid tut!, «nicht mehr ertragen» könnest. – Ich habe gehofft, daß ich Dir mehr sei als lediglich ein verlängerter Arm meines Geistes, daß Du mein Wesen liebtest, wenngleich allein platonisch – statt dessen war Dein offensichtliches Hauptbegehren eben Bildung, Wissensmehrung – und mit mir hat dies alles bloß bedingt was zu tun gehabt?? Ich war also reines Mittel zum schnöden Zwecke? Nun ja, selbst wenn unsere Freundschaft lediglich platonisch sein durfte, ist dies natürlich für mich um so weniger befriedigend, einfach ein Stück «Irgendwas» gewesen zu sein etc. – Dennoch ist es in Ordnung, zumal ich an mich selbst einen strengeren Maßstab setze als an irgend jemanden sonst! Sei mithin getrost, ich werde Dich dafür nicht zur Rechenschaft ziehen. Ich begegnete Dir stets ehrlich, wie oftmals beteuert – deshalb der nachfolgende Entscheid, der wohl ebenso vorhersehbar war; was vielleicht nicht abzusehen gewesen ist: ich grolle Dir nicht, und ich nehme Dir nichts übel! Unsere Wege trennen sich nunmehr ganz in Frieden. Eine Marginalie: Du schreibst wörtlich: «Aber ich werde von Tag zu Tag ehrlicher mir selbst, Dir, meiner Umwelt und dem Leben gegenüber.» Da stellt sich notwendigerweise und zwangsläufig die Frage: Warst Du denn vorher nicht ehrlich? weniger ehrlich? Nun ja, – das spielt sowieso keine Rolle mehr. Einerlei – ich nehme es
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Dir nicht übel, weil für mich die Sache klar vor Augen liegt … – Ich hoffe deswegen sehr, und ich wünsche es mir inniglich für Dich!, daß Du Dir nichts vormachst. – Sonach ergeben sich zwei Möglichkeiten: Erstens – Du hättest recht, was ich eben hoffe und Dir mit Freuden gönnte: alsofort wird es Dir zusehends besser und besser ergehen, und Du wirst es in allen Situationen bemerken, etwa bezüglich geistigen und seelischen Wachstums wie auch materiell. Oder aber, zweitens: Du irrst Dich! In diesem Falle erinnere Dich an meine Ausführungen zur «Endlos-Schleife» …; kurzzeitig wird es einem gut zu gehen scheinen, aber früher oder später fällt man in den alten Trott, obgleich vielleicht in abgewandelter Form, zurück – und die Spirale dreht sich langsam abwärts. Keine Angst: Ich will und werde Dich nicht mehr einengen, Dich nicht mehr mit meinen Zeilen langweilen, die Dir nichts sind, weil ja Dein «Hauptangelpunkt» bei unseren Begegnungen woanders lag. Demnach ist es weiser, mir lieber ein weibliches Gegenüber zu suchen, dem ich mit meinem Wesen, meinen Zeilen mehr zu geben imstande bin als Dir; Du kannst meine Gaben nicht brauchen, und das ist in Ordnung: und ich bin froh, es zu wissen, um die logischen Konsequenzen daraus zu ziehen – denn ich will Dir Deine Zeit nicht stehlen, und meine solcherart freigewordene kann ich in der Folge auch vernünftiger einsetzen. Von meiner Seite her wird dies die letzte Fühlungnahme zu Dir gewesen sein; und ich bitte Dich im Gegenzuge, mich ebenfalls nie mehr zu belästigen. – Ich freue mich aber immer, wenn ich von Dir ein erbauliches Lebenszeichen erhalten sollte, ob heute, morgen … oder in 10, 20 Jahren! Du darfst zudem jederzeit bei mir auftauchen, wofern Du in Not sein solltest: hängen lasse ich Dich nicht! – Allerdings: Ich bin selbstredend nicht blöde. Solltest Du je einmal kommen wollen, wovon ich jedoch nicht ausgehe, wird dies seinen Preis kosten – und damit meine ich nichts Finanzielles, wie Du Dir denken kannst. Ich würde lediglich Deine so oft zitierte Regel zur Anwendung bringen: «Hier und Jetzt»! Und danach trennten sich beide in Frieden … – – Meine Gefühle zu Dir sind nach wie vor ungebrochen: und nochmals – ich nehme Dir nichts übel, und Du faszinierst mich wie
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eh und je! Du allerdings bestimmst Dein Schicksal alleine: solltest Du dereinst meiner Hülfe bedürfen, werde ich Dich nicht abweisen – doch auf der Gegenleistung werde ich bestehen! Du bist einfach das mit Abstand verrückteste (!) weibliche Wesen, auf das ich je gestoßen bin – und so tief ist meine Liebe und Zuneigung noch für Dich, daß ich, selbst nach so langer Zeit, wie ein Hunne die Pferde sporne in einer Richtung, der jeglicher andere schon längst abgeschworen hätte. Werde also – wie Du schreibst – ehrlich, und höre auf die wahre Stimme Deiner Seele! Dann wirst Du Deinen Weg mit Bestimmtheit beschreiten können … – Das wünsche ich Dir von ganzem Herzen: denn ich liebe Dich und werde Dich immer lieben! Als notwendig zu ziehende Konsequenz Deines – reichlich ungelenken – Briefes werden sich einmal mehr unsere Wege trennen. Ob für ewig, wer weiß dies? Sollte ich nichts mehr von Dir hören, entlasse ich Dich frohgemut in die Ewigkeit!
Blitzelement und Donnerkeil mögen Dich erleuchten!!! Kleist
Eine kleine Nachschrift: Ich hab‘ mich überdacht – ohne eine geziemende Belehrung möchte ich Dich gleichwohl nicht entlassen; eine Anekdote, die kürzlich unter meinen Händen entstand – behufs zwar eines andern Zweckes, doch sie paßt sich unsrer Sache gar schicklich ein –, möchte Deinen moralisch verqueren Kopf wieder in die rechte Richtung rücken. Kein Seitenhieb! Zwischen uns ist‘s aus; aber eine geflissentliche Abmahnung hast Du schon verdient, mein Tigerlein … –
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Friedrich Wilhelm, der Soldatenkönig, Vater des Kronprinzen Friedrich II., dieser nachmals mit dem Ehrentitel «der Große» versehen, kujonierte bekanntlich seinen Sohn, wo er nur eben konnte: bis aufs Blut, wie man sagt. Keinen Widerspruch duldend, züchtigte er den kleinen Murkel, kaum aus der Wiege entfleucht, mit härtester Hand von frühe bis spät: solcherart steckte er ihn bereits im zartesten Kindesalter in die militärische Uniform, ließ ihm das frei umfliegende Haupthaar gnadenlos abzwacken, seinen Hang zu Poesie, Kunst, Wissenschaften trieb er ihm – allenthalben mit mäßigem Erfolge, wie sich später herausstellen sollte – mit dem Rohrstock aus: dergestalt, daß Friedrich in aller Heimlichkeit seine Gaben zu pflegen genötigt sah und stets von der Angst getrieben, entdeckt zu werden, zumal ihm Tag und Nacht Aufpasser zur Seite gestellt wurden! Kurzum – sein Vater verfuhr mit ihm wie mit einem billigen Hauslakaien: Ungehorsam setzte Prügel, stocksteifer Widerspruch Karzer. Vergnügungen aller Art wurden ihm untersagt (wo er sich nicht beugte, genossen zusätzlich seine Gefährten die empörendsten Ungerechtigkeiten): einzig die wöchentlich stattfindenden Tabagien auf Schloß Wusterhausen – bei edlen Gemütern und dem Weibervolke aufs ärgste verpönte, derb-primitive Sing-, Rauch- und Saufgelage – befand der Vater, seltsam genug!, für geeignet, daß sie sein Sohn aufsuche; wo nicht, setzte es was. Was wunders also, daß der gedemütigte Kronprinz eines Tages, zusammen mit seinen Freunden Katte und Keith, einen Plan verfertigte, sich nach England abzusetzen, genähret von der prächtigsten Hoffnung, dorten mit offenen Armen empfangen zu werden. – Es begab sich derart, daß Friedrich mit seinem Kammerdiener und einem Oberst namens von Rochow in einer Steinfurther Scheune übernachtete, wie es Brauch unter der Herrschaft des ebenso knorrigen wie geizigen Soldatenkönigs war. Friedrich befahl seinem Vertrauten Keith, er möge ihn um vier Uhr in der Frühe wekken; der Unglücksrabe aber verwechselte das Bett und rüttelte den Kammerdiener wach; dieser verständigte Rochow, welcher hinwiederum die Alarmkompagnie befahl. Kurz und knapp – der Kronprinz wurde einkassiert. Leutnant Katte, des Kronprinzen Intimus, welcher gleichfalls nach England überzugehen gedachte, ließ ihm derweil eine schriftliche Mahnung zukommen und machte Gründe
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geltend, nicht etwa von Süddeutschland, sondern von Wesel aus zu entfleuchen; das Schicksal wollte es aber, daß der arme Kerl, von einer inneren Aufruhr erfaßt, das Billet falsch adressierte und der Postmeister, welchem nicht einsichtig, wohin der Brief denn nun abgehen sollte, diesen einem Rittmeister Kattes übergab; dieser, dem die Sache doch ziemlich ungeheuer vorkam, schickte das Schreiben spornstreichs an den König. – Solcherart also wurden sie, beide straffällig, in Gewahrsam geworfen! Friedrich ward von seinem zorneswütigen Vater fast zu Tode geschlagen, wenn nicht preußische Offiziere dazwischengetreten wären und sich für ihn verwandt hätten; – er wurde zu Küstrin in Festungshaft gesetzt. Katte, der ohne weiteres hätte fliehen können, zeigte sich als ein Ausbund an Treue, indem er hoffte, ein um so härteres Schicksal seinem königlichen Freunde ersparen zu können – vermittelst der demütigen Niederwerfung vor den Füßen des Königs; dieser aber, uneinsichtig und sackbrutal, trat ihn mit den Stiefeln gänzlich nieder, schlug ihn mit dem Stocke, bis er brach – wie es eben bei ihm Brauch war: auch er blieb sich treu. Ein Kriegsgericht wurde berufen, wobei es zum Beschlusse kam, daß es sich über den Kronprinzen kein Urteil erlauben könne; Katte wurde dafür von den Richtern, welche des Königs Ingrimm fürchteten und deswegen um einen Ausgleich zum ersten Spruche bedacht waren, zur lebenslänglichen Festungshaft verdonnert. Das paßte dem störrigen Könige mitnichten: er verfertigte eine Cabinets-Ordre, in der er die Todesstrafe befahl; weiter verfügte der Unbarmherzige, diese zu Küstrin ins Werk zu setzen: vor den Augen seines Sohnes sollte dem getreuen Freunde das Haupt abgeschlagen werden! Alles Flehen von verschiedenster Seite blieb ergebnislos; Gnadengesuche wurden brüsk abgelehnt oder unterdrückt; des Königs Herz blieb ungerührt und so kalt als Stein. Katte, gerade zweiundzwanzig Jahre alt, von stolzer Physiognomie und edelstem Charakter, wurde gewaltlos zur Richtstatt geführt, wobei er das Fenster der Festung zu passieren hatte, an das Friedrich herangetreten war und seinen Freund flehentlich und unter Tränen um Verzeihung bat, worauf dieser: er stürbe unter tausend himmlischen Freuden für seinen geliebten Prinzen! antwortete. Friedrich verfiel in eine Unmacht. Das Todesurteil ward bündig verlesen; der Delinquent muß-
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te sich aufs Hemd entkleiden, den Hals entblößen und eine weiße Mütze aufziehen; darauf durfte er sich in den Sand knieen, und bevor des Scharfrichters sichere Hand mit einem gewaltigen Hieb den Kopf vom Rumpfe trennte, verfügte er seinen Geist und seine Seele in die Hände einer höheren Macht. – Der Rest ist Geschichte: dem Preußenlande erwuchs daraus einer der größten Könige seines Landes, seiner Zeit, ja vielleicht der Welt überhaupt. Nicht verbürgt hingegen ist dies: Ein dem trocknen Blutgeschäfte beiwohnender Offizier soll noch zu berichten gewußt haben, er habe zur Rechten einen Cherub mit flammendem Schwerte aus der Höhe herabsteigen und Kattes Haupt beküssen sehen; dabei soll er Preußen eine günstige Zukunft geweissagt haben! Nur einem Lande, welches solcherlei Charaktere wie den edlen Katte, den großen Fritz hervorbringe, sei es möglich, über sich selbst hinauszuwachsen – und nur, wo die tiefste Finsternis vorherrsche, leuchte auch das größte Licht. Doch, gab er mahnend zu bedenken, daß, was mit Blut begänne … Und hier enden die Ausführungen des Offiziers, der überraschend am Schlagflusse verstarb, während er diese Mär einem Vertrauten in die Feder diktierte. – Der verständige Leser, hineingeworfen in das kriegerische Geschehen unserer Zeit, mag sich ohne weiteres ausmalen, was der Cherub mahnend hätte einwerfen wollen – Ihr Sachsen seid wie das Fähnlein im Winde: wo bleibet eure gottverdammte Treue zu den euch Überantworteten? – In unserer Beziehung war ich der Katte, und Du warst mir in der Wirkung der Soldatenkönig, samt seinem Henker! Bedenke dies grauenvolle Blutgeschäft des Herzens!, welches Du von kalter Hand an mir vollbrachtest, und hab‘ ja acht! Ich werde vor dem Cherub Deine Untat verteidgen; allein, nicht jeder liebt Dich dergestalt wie ich … Leb‘ denn wohl!
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VIII. Letzte Lebensjahre – Österreich und Berlin Die Verderbtheit der Zeit zernichtete den Erfolg all meiner Bemühungen; meine Stärke ist es wenigstens, zu jedwedem Anlaß den Stier mit blanken Händen bei den Hörnern zu packen, nie auszuweichen, nie aufzustecken – selbst nicht in schwierigster und ausweglosester Lage; und ich weiß selbstverständlich, daß ich mich an deren Spitzen zum Tode verletzen kann – doch mein Daimon stachelt mich stets aufs neue an, mich der Herausforderung zu stellen; einer meiner größten Fehler vielleicht, und ebengleich eine wesentliche Stärke hinwiederum, mag dieser ungeheure Nachdruck sein, mit dem ich überhaupt alles angehe, so daß man vielleicht humorvoll ausrufen darf: Ich bin der Hammer der Gottheit, ein Inbild Ihrer Potenz! Es fehlt lediglich noch an einer gewissermaßen klassisch-überzeitlichen Formgebung – nicht so sehr in meinen Werken, der Welt des reinen dichterischen Geistes – darin ist diese Intelligenz aufs feinste und absonderlichste gediehen und verwirklicht, wenngleich noch nicht gerundet –, sondern in der Umsetzung der ideellen Gestalten in die konkret-materielle Welt! Die in Dresden verlebte Zeit möchte ich als die bislang glücklichste in meinem Leben bezeichnen – gesellschaftlicher Erfolg und literarische Anerkennung gingen für einen kurzen, beschaulichen Augenblick Hand in Hand; zudem war die sächsische Hauptstadt der Sammelpunkt der patriotischen Intelligenzia! – In der zweiten Jahreshälfte 1808 intensivierten sich meine Aktivitäten bezüglich geheimer politischer Tätigkeit zwecks Vorbereitung einer antinapoleonischen Bewegung; man bediente sich meiner sehr gerne zur Übermittelung etwelcher verschlüsselter Nachrichten: und ich tat sogar ein mehreres für mein Vaterland: ich war nicht bloß ein Gesinnungsgenosse, sondern aktiver Teilnehmer an einem ernsthaften Versuch, den französischen Wolf vom Nacken Preußens zu schütteln; und je länger, je mehr fand ich Gefallen an der Politik; erste Keime dazu kristallisierten sich bereits in Königsberg heraus
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– vor allem in meinen persönlichen Unterredungen mit meinem Gönner und Freund, dem Reformer Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein. – Bei meinen Unternehmungen zu den Kriegsvorbereitungen gegen Frankreich riskierte ich ausnehmend viel, zumal ich, meinem wahren Wesen gemäß, dem Motto des «Alles-oderNichts» nachlebte: in solchen trübsinnigen Zeiten wohl sicherlich eher eine Stärke, ansonsten ebenso mit Bestimmtheit eine große, ungeschlachte Schwäche … – Ich übernahm, nebst verschiedensten Übermittelungen von Botschaften in militärischen sowie politischen Angelegenheiten, späterhin vermehrt Kundschafteraufträge; auf Spionage stand selbstredend der Tod durch Erschießung: und das dichte, sehr gut organisierte Spitzelnetz Napoleons ist berüchtigt. Die österreichische Gesandtschaft zu Dresden ward ein Drehpunkt meiner rührigen, geheimdienstlichen Umtriebe; dabei wurde mir ein Gönner von besonderer Bedeutung: Joseph Baron von Buol-Mühlingen, der Legationssekretär und kaiserliche Gesandtschaftsträger wie glühende Anhänger des liberalen österreichischen Außenministers Graf Stadion, gab mir den Ansporn, mich in Wien einzuquartieren; kurz darauf unterstützte er schließlich, als Armeekommissär für Sachsen, meine Bemühungen zur Gründung der Zeitschrift «Germania» von Prag aus. Im zweiten Drittel des Jahres 1808 verbreiteten sich wie ein Lauffeuer die ersten Nachrichten über die französischen Niederlagen in Spanien nach Deutschland und Österreich; die Guerilla machten dem korsischen Wolf dermaßen zu schaffen, daß selbst starke, siegverwöhnte französische Verbände mehrmals kapitulieren mußten. Die unmenschlichen Brutalitäten und grausamsten Massaker übertrafen sich auf beiden Seiten mit dem Resultat einer wild um sich greifenden Feuersbrunst; – angeblich von einem spanischen Maler waren verbotene Kopien von Grafiken im Umlauf: eine Serie lief unter dem Titel «Caprichos» und eine spätere unter «Desastres de la Guerra», welche den Schrecken, das nackte Entsetzen schonungslos vor Augen führten; welch ein genialer, hehrer Künstler! – so ganz nach meinem Geschmacke. – Die Welt war im Aufruhr; und erstmals regte sich der im Untergrunde stumpf vor sich hindümpelnde passive Widerstand: er gewann zusehends an
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innerer Kraft, an Feuer, Hoffnung und Form und schickte sich an, aktiv zu werden: es entflammte eine währschafte kriegerische Begeisterung! Spanien ward die brennende Fackel, welche stolz den geknechteten Völkern voranzog – heil dir, Spanien! Das von den Franzosen noch nicht besetzte Österreich begann sich nach diesen erfolgsverheißenden Ereignissen sofort in Harnisch zu werfen; im Frühjahr 1809 stand es entschlossen, den Krieg gegen den Korsen auszufechten; jetzo erhoben sich auch die Bauern im Tirol in einem gewaltigen Volksaufstand unter ihrem Anführer, Andreas Hofer, und vertrieben die französischen Invasoren. Endlich rumorte es sogar bei uns in Deutschland, endlich – vor allem gewannen unsere norddeutschen Patrioten an unbändiger Kraft: nicht zuletzt der Tatsache wegen, daß die österreichische Führung vorgab, sie verfolge die Befreiung Gesamt-Germaniens, was allerdings, wie sich nachträglich herausstellte, eine bewußt inszenierte Illusion darstellte! Die verschiedensten Hoffnungen gründeten also darin, daß die Österreicher, durch Anfangserfolge beflügelt, alle Deutschen – mit Ausnahme der Rheinbundstaaten, welche sich zunächst hündisch auf Napoleons Seite schlugen – mitzureißen imstande waren; es schien demnach ein einheitliches Gefäß gefunden, in welchem sich all die Ströme Bluts zu einem gemeinsamen Ziele, in einer verbindenden, kraftgewirkten Idee vereinigten, welche mit straffer Hand das Schwert des Krieges ergreifen wollte wider die Tyrannei – für die Freiheit der Völker! Ich entschied mich ob dieser sich überschlagenden Ereignisse, das Wort als Waffe für unsere gute Sache einzusetzen! Ich mußte – und wollte – arbeiten, arbeiten, arbeiten! Denn solange ich was tat, konnte mir die kühle Leere und Nichtigkeit des Lebens nichts anhaben; und, so sagte ich mir, es wäre besser, mich mit all meinen Fähigkeiten in die Waagschale eines erhabenen Zieles zu werfen, als nichtsnutzig einfach herumzuhocken, um Däumchen zu drehen. Dergestalt ward also mein Entscheid, mich politischdichterisch sowie, wo möglich, selbst in aktiver Geheimtätigkeit zu betätigen, nicht allein aus reinem Pragmatismus geboren, sondern letztlich und hauptsächlich aus einem Hang, mich in meinem übersteigerten Idealismus für eine Sache oder einen Menschen – hier eher gegen einen bestimmten, nämlich Napoleon Bonaparte – voll
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und ganz einzubringen. Endlich auch sah ich meine untrügliche Chance gekommen, mich dem Leben ganz real hinzugeben, am Leben mitzuarbeiten – bloß vielleicht auf eine andre Art und Weise, als ich mir früher gedacht hatte … Nachdem mein Phöbus sich die Schwingen an der Sonne versengt hatte, richtete ich mich auf das Tagesgeschehen: ich flüchtete mich in die Aktualitäten hinein. – Anfang Januar 1809 trug ich dem Wiener Hoftheater, vermittelst Heinrich von Collin, meine «Hermannsschlacht» an: ich hoffte und ich sehnte mich nach der vollständigen Befreiung Deutschlands, ja aller durch Frankreich geknechteten Völker. Selbstverständlich war meine Hermannsschlacht – wie mir unfähige, mediokre Kritikaster unter anderem abwertend unter die Nase strichen – ein Tendenzstück: ja, wohlabgezweckt und wohlbedacht, der gegenwärtigen schlimmen Lage angeglichen. In dieser Zeit verfaßte ich zudem vielerlei politische Lyrik; und so denke ich, wiederum rückblickend gesehen, daß ich, zusammen mit Moritz Arndt, der einzige Dichter vor 1810 gewesen sein dürfte, der mit radikalem und kompromißlosem Schwung des Morgensterns seine stramme Kraft in den Dienst der deutschnationalen Sache stellte: ingleichen als Publizist! – Wie ich bereits ausführte: eine meiner bedeutendsten Stärken (und gleichzeitig Schwächen!) ist der gewaltige Nachdruck, das Hineinsteigern in eine Sache, was mich nicht eben selten dem Vorwurfe des Fanatismus‘ und gelebten Hasses aussetzt. Dazu sage ich: – hätte ich weder die Fertigkeiten noch die bewußte Kontrolle über diese eruptiven, vulkanischen Kräfte, die in mir wirken, so müßte ich meinen Feinden bedingungslos zustimmen! Doch ich bin geradezu intelligent genug, um diesen dünnen, erhabenen Flor, welcher den Fanatismus von dieser fraglos ungeheuern inneren Kraft abtrennt, sowohl zu erkennen als auch ihn bestehen zu lassen – bloß ein Tor zerrisse ihn, auf daß die Grenzen ineinander zerflössen! – Natürlich verhält es sich solchergestalt, daß diese Grenzmarken kaum sichtbar aufliegen: doch die Welt ist augenscheinlich nicht einfach schwarzweiß: nein, sie schillert hingleich nach allen Seiten in den verschiedenartigsten Farben und Formen auf – wobei jegliche absolut einmalig, eigentümlich und nie wieder herzustellen ist! Ich bin der inkar-
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nierte Widerspruch, wie hinlänglich erklärt: und deswegen muß ich irritieren – nolens volens; es ist der Charakterzug meines Selbst, mit der ihm eingeborenen Aufgabe, mich selbst zu formen und zu gestalten! (Früher unterlag ich einem Denkfehler, welcher sich gemächlich, während ich die Erfahrungen ansammelte, von selbst regulierte: zu Anfang meiner Entwickelung setzte ich Abstraktes mit Realem gleich – ich nannte das daraus Hervorgeformte eine «Plastifikation», was zwar für die dichterische Arbeit hinreicht, aber an den Notwendigkeiten der reellen Bedürfnisse des Lebens scheitern muß; in diesem Abschnitt meines vorwiegend politisch tätigen Strebens beging ich wohl den gerade entgegengesetzten Fehler: ich überspitzte maßlos gewisse Realitäten ins Extrem, indem ich sie von ihrem Wurzelgrund vollständig ablöste. – Insofern ist die extreme Konstitution meines Geistes, meiner Seele dergestalt von großem Nachteile, als sich das Mittelmaß – der innere Ruhepunkt, wie die Sinesen meinen –, wofern nicht im Wesenskern angelegt, nur über die Erfahrung erzwingen läßt: alsdann, wenn das Pendel, vermittelst Reibung und Widerstand durch die Pole, an Schwungkraft verliert, sich der harmonische Mittelpunkt langsam einfindet, einpendelt; kurz – es fehlt derweil an geistiger Gelassenheit sowie an der Lang- und Gleichmut der Weisheit, die ich mir mühevoll als wie stückweis‘, unter vielerlei Schmerz und Pein, erkämpfen mußte und deren endgültige Erlangung mit diesem Leben kaum abgetan sein wird …) Ich plante, mit der kaiserlichen Gesandtschaft nach Wien zu reisen, sobald sie dahin abberufen werden sollte; allerdings gelang es mir erst gegen Ende April 1809, zusammen mit meinem Reisebegleiter Christoph Dahlmann, Dresden zu verlassen: infolge der mehrfachen Androhungen gegen sämtliche an der österreichischen Pressekampagne Mitbeteiligten jedweder Couleur schien es mir durchweg angezeigt, die sächsische Hauptstadt mit den Kaiserlichen ebengleich zu fliehen, obzwar ich sehr gerne – trotz eines erklecklichen Schuldenberges, den ich zurücklassen mußte: wobei ich Ulriken bat, ihn mit einem Teil meiner Erbschaftsansprüche aus der sehr kleinen Hinterlassenschaft meines Tantchens von Massow abzutragen – verblieben wäre; überdies war mir auch klar geworden, daß ich in dieser schwierigen Lage keinerlei Wirkung mehr
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erzielen und meinem Lande hier in keiner Form mehr dienlich sein konnte! In demselben Jahre dämmerte es mir ohnehin herauf – da die aus sämtlichen Fugen gerissene Welt, geschüttelt von kathartischen Kriegen, in sich selbst erstarrte, unbekümmert sonstwelcher Abläufe alltäglichen Lebens –, daß sich lediglich noch mit politischer Dichtung, falls überhaupt, Geld verdienen ließe; ja vielleicht, so versprach ich mir, wäre sogar Ruhm zu erlangen, indem ich mit meinen Fertigkeiten in eine Nische spränge, welche bisher in dieser Weise noch von keinem besetzt worden war. Vermittelst meines Einsatzes für mein innigst geliebtes Vaterland, mein Preußen, gedachte ich auch, etwas Nützliches zu vollbringen, mir einen Lorbeer ganz anderer Artung zusammenzupflücken, um mir dadurch die schmählich vermißte Geborgenheit, ein Wohlgefühl, einen sichern Port des Herzens herbeizugewinnen – dies in einer Welt, in der es jeglichem anständigen Menschen verwehrt bleiben muß, sein bescheidenes Auskommen und Glück zu finden; in einer Welt, in welcher lediglich die Schmarotzer, Kriegsgewinnler, Speichellecker und Allerwelts-Arschkriecher vorankommen, während alle andern auf der Strecke bleiben; in einer Welt endlich, geprägt von ständigen Totschlägereien und Auseinandersetzungen, wo alles Schöne und Gute unter dem grauenhaften Wust des Krieges nimmer zum Blühen befähigt ist. – Das Edle, das Gute, Kultur und sittliche Gemeinschaft können alleine unter dem Schirm und Schutz von Friede und kosmisch gefügter Ordnung zur vollsten Pracht herangedeihen … – In einer aus den Angeln gehobenen Weltenordnung ist fruchtbares Wachstum schlichtweg verunmöglicht: Roheit, Unmenschlichkeit, Sitten- und Gottlosigkeit feiern ihre hohe Zeit! Faustrecht herrscht; – und eine unsägliche Verstocktheit des Blutflusses der Welt läßt die Menschheit blind werden, läßt sie die Wahrheit aus den Augen verlieren, läßt sie die Schönheit und Schicklichkeit nicht mehr lieben, zumal die Seelen mit der täglichen Speise des Unflats und Unglimpfs, ja des reinsten Entsetzens genährt werden – Bloß der Anfang der österreichischen Kriegsinterventionen war von Erfolg gekrönt – darauf folgte Niederlage auf Niederlage; schlimme Gerüchte kursierten, hoffnungszernichtende Nachrichten wur-
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den umhergereicht, und die anfängliche Aufbruchstimmung wich einer niederdrückenden Schwarzseherei – auch im Persönlichen: ich verfiel, wie so oft, einer tiefen Melancholie. Meine euphorischen Phasen als auch diejenigen abgrund-trauriger Mißmutigkeit schraubten sich spiralförmig immerfort höher, oder entsprechend tiefer: einem noch mächtigeren Hochgefühl folgte die noch zermalmendere Tieflage. Es ging langsam, aber sicher an alle Grenzen des Erträglichen, und die Spanngewalten nahmen in solcher Weise zu, daß sich die Endpunkte von Hoch und Tief zu berühren drohten: ein Zustand jenseits alles Erklär- und Sagbaren, alles Verdaubaren überhaupt! – Nur meine ungeheure Energie, der phantastische Wille zur Formung des längst unformbar Gewordnen, befähigte mich, entgegen aller seelischen Brüchigkeit, am Leben festzuhalten: es ward mir schon längst unter den Füßen weggezogen … – Und trotz allem glaubte ich wirklich eine gute Zeitlang, meiner Bestimmung ganz nahe zu sein: so nah wie nie zuvor! Jeweils auf einen kurzen Augenblick erkannte ich mich aus meinem Gefängnisse befreit; doch wie elendiglich kurz waren diese Augenblicke – wirklich nur der eine Wimpernschlag einer erhaschten, unwillkürlichen Hochgefühlsstimmung! Am Leben erhielt mich zudem immer noch die Inbrunst, welche mich unentwegt anfeuerte: nämlich ja meine Bestimmung nicht zu verfehlen; und in diesen ablaufenden geschichtlichen Ereignissen sah ich meinen göttlichen Auftrag geborgen, den es zu verwirklichen galt: ich wollte dabeisein; es war eine heilige Pflicht meines Herzens – ich durfte nicht aufgeben, wenigstens noch nicht. Denn es war die Prüfung der Gottheit an mich – das einmalige Wagestück: undurchdringbar, unerkennbar eingewebt in den Teppich meines rührig-unsteten, höchst absonderlichen Lebens: mein Kampf mit dem Schicksal! Im allerletzten Moment gelang es Dahlmann und mir, uns über die gesperrten Grenzen bei Zinnwald nach Österreich zu retten; gemächlich wanderten wir alsdann nach Prag – doch unglücklicherweise ward Wien Mitte Mai von Napoleon geworfen und besetzt, wie uns durch eine zugesteckte Nachricht bekannt wurde, weswegen wir uns genötigt fanden, die Pläne abermals zu ändern. – Bereits einige Tage später erfuhren wir aber von dem sensationellen Erfolg der Österreicher unter Erzherzog Carl bei Aspern: ob-
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gleich dort Napoleon den Oberbefehl innehatte, wurde das Gefecht gewonnen!, was natürlich aufs neue die These der Unbesiegbarkeit des Korsen ins Wanken brachte, und womit – sowohl in meiner als auch in den Brüsten der Völker – einiges an frischer Kraft zum Widerstand geschöpft wurde. Zusammen mit Dahlmann besuchte ich als Agent die noch bluttriefende Aspernsche Walstatt: als Spione der Gegenseite verdächtigt, wurden wir vorübergehend festgenommen; ich übergab einige meiner Gedichte und Kampfschriften, die ich stets bei mir trug, den sich auf dem Felde versammelnden österreichischen Offizieren (worüber sich Dahlmann sehr mokierte; ihm schien mein unziemliches Gebaren nicht ganz geheuer), was – zu meinem Erstaunen – als Einmischung in die inneren Angelegenheiten gewertet wurde. Ich dachte mir hingegen, daß ich es mit einem Haufen von Hohlköpfen zu tun hätte: wie konnte man irgendwelche partikularen Interessen über das gemeinsame Wohlergehen ganzer Völkerschaften stellen, welche unter demselben schauderlichen Schicksal, diesem Caudinischen Joche, litten? Darob ereiferte ich mich um so mehr; mein Feuergeist rotierte – und das Übliche geschah: wir wurden arretiert und geknebelt den Oberkommandierenden vorgeführt; nach kurzem Verhör vor dem Feldmarschall-Leutnant Johann Freiherr von Hiller wurden wir allerdings spornstreichs wieder entlassen – er durchschaute wohl meine halsstarrige Gutmütigkeit, unter der ich lauthals eines meiner Gedichte zu Ehren Kaiser Franz’ I. rezitierte … – Nun, vielleicht bin ich doch zu sehr ein eigensinniger Idealist ohne geschmeidiges Wenn und Aber!, welche Tatsache ich nicht zum ersten Male in meinem Gedächtnis unumstößlich festzuschreiben hatte: wohl nur deswegen habe ich mich noch nie und von niemandem auch nur um Haaresbreite von einem meiner Vorhaben abbringen lassen! Warum auch? Ich meine es stets ehrlich – wenngleich einige meiner Freunde mir fortwährend nahelegen, ich möchte meine, wie sie es interpretieren, «nachdrückliche Penetranz» wenigstens ein bißchen an die Kandare nehmen; und es sei wirklich manchmal unglaublich schwierig, mit mir auszukommen, wenn mich wieder der Teufel reite – und was dergleichen gutgemeinte Äußerungen mehr sind. Nur gilt von meinem eigentümlichen Wesen: je intensiver das Gemäkel, desto unnachgiebiger der Ochs‘.
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Ich gab nie auf, darauf hinzuarbeiten, daß Preußen sich an die Seite Österreichs stelle, um gemeinsam siegreich gegen die Franzosen vorzugehen: ein Volksaufstand sollte es werden, ein lebenskräftiges Zeitalter müßte aus den Trümmern einer alten, verrotteten Welt erstehen! Mit dem Erfolg in Aspern schwang sich meine Seele wiederum, in den Prachtharnisch des Phöbus gekleidet, in euphorische Höhen; kurz nach der Entlassung durch Hiller fiel mir ein Siegesbericht in die Hände, welchen ich unverzüglich an Oberstleutnant von dem Knesebeck, den Verbindungsoffizier zum preußischen Hauptquartier, weiterleitete, in dessen Auftrag ich im übrigen das Schlachtfeld von Aspern in Augenschein nahm. – Desgleichen sponnen sich meine Fäden zur österreichischen Heeresleitung: ich versuchte, wo ich nur konnte, politische und militärische Entwickelungen vermittelst meiner dichterischen sowohl als auch handfest-praktischen Tätigkeiten zu unterstützen, womöglich gar zu beeinflussen. – Dahlmann und ich gingen nach Prag zurück im Willen, von dort solcherart auf die Dinge einzuwirken, daß aus dem österreichischen Krieg nun endlich ein gesamtdeutscher werde. Wie ersehnte ich diesen gemeinsamen, brüderlichen Befreiungskampf: dieses gemeinsame Losschlagen aller auf ein großes, erhabenes Ziel hin: Freiheit, Freiheit! Prag war ein Sammelbecken wichtiger exilierter Zivilisten, aber auch Soldaten: wir trafen wieder mit Baron von Buol zusammen, welcher nunmehr nach Prag berufen worden war, um von dieser Zentrale aus als Armeekommisär für Deutschland die Verwaltung der zu besetzenden deutschen Länder voranzutreiben und dafür Sorge zu tragen, die öffentliche Meinung zu gewinnen. Dazu wollte er mich als Berichterstatter einsetzen und ins Amt eines leitenden Redakteurs hieven: natürlich, das brauche ich wohl kaum ausdrücklich zu vermelden, ward ich von der Idee angefressen, ja absolut begeistert! Buol führte mich beim Stadthauptmann Franz von Kolowrat-Liebsteinsky ein, mit dem Hintergedanken, mir einen für meine Arbeit nützlichen Wirkungskreis aufzutun. Ich unterhandelte, gleich die Gelegenheit beim Schopfe packend und nicht lange zuwartend, betreffs der Vorstellungen für ein patriotisches Wochenblatt, welches ich auf den lieblich-kämpferischen Namen «Germania» getauft haben wollte. Das Ziel des Blattes war im we-
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sentlichen die Beeinflussung der öffentlichen Meinung mit dem Endergebnis: Freiheit für die Völker im allgemeinen, für Deutschland im speziellen! – Allein, der Kaiser verweigerte die entscheidende Zusage: all diese hohen, edlen Herrn und Adligen: kein Mumm in den Knochen; scheißen sich in die ehrenwerten Hosen; ständig welk vor sich hinwedelnde, opportune Fähnlein im Winde – zulasten des eignen Volkes; bloß immer auf den standesgemäßen Vorteil bedacht; wie das schmerzt, kömmt es mir doch so bekannt vor! Aber noch weit schlimmer! Anfangs Juli wurden die Österreicher – nicht nur infolge ihres Zauderns, sondern gleichfalls ihrer Unfähigkeit wegen; ja, ich rufe es aus und nenn‘ es beim Namen: wegen Feigheit! – bei Znaim und Wagram heftigst aufs Haupt geschlagen … – Die Habsburger Clique, sich um ihre Pfründe ängstigend, reichte Napoleon die blutbeschmutzten, schäbigen Hände: welch ein hündisches Geschmeiß – sie, die «Herren» der Welt, sind nichts anderes als die Aasgeier ihres Volkes! – Mitte Juli 1809 wurde der Waffenstillstand beschlossen: ich fühlte mich bis hin zum Lebensüberdruß ermüdet und erschöpft; die Sehnsucht nach dem Tode wurde mir zunehmend als Würze des geschmacklos gewordenen Lebens liebenswert: was hätte ich nunmehr zu tun? – Wohin wohl würde mich mein Schicksal hülflos fortreißen? Ja, jetzo kann ich es verlautbaren: Mitte Juli bis Ende Oktober des Jahres 1809 nahm ich österreichische Kriegsdienste! Weiland war ich äußerst darauf bedacht, dies zu verheimlichen, nicht zuletzt wegen der schlimmen und katastrophalen Erfahrungen in früheren Lebensabschnitten – eingedenk etwa der Sache in Boulogne, welche mich bereits gefährlich in die Nähe eines Hochverratsprozesses brachte. Ich gab unter anderem an, während der fraglichen Zeit, schwer erkrankt, im Kloster der Barmherzigen Brüder gesund gepflegt worden zu sein: und so ließ ich absichtlich einige diesbezügliche Gerüchte und Halbwahrheiten kursieren, derenthalben ich in meiner Heimat bereits abgeschrieben wurde; ich galt als verschollen, vielleicht gar verblichen; niemand wußte nichts Genaues. – Dahlmann und einigen wenigen Mitwissern nahm ich das Versprechen ab, auf Lebzeiten darüber zu schweigen; kurz vor meinem beschlossenen Freitode bin ich nunmehr bereit, hierüber Zeugnis
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abzulegen. Tatsache ist: es war der vergebliche Versuch daran geknüpft, meinen bereits früher gehegten Plan in die Tat umzusetzen: nämlich endgültig meinen verdienten, schönen Tod in der Schlacht zu finden: einen ehrenvollen, ruhmreichen Tod! Leider wurde ich lediglich mittelschwer in der Bauchgegend verletzt: ich genas relativ rasch. Nicht einmal das sollte mir also gelingen …
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Anfang Februar 1810 traf ich – nach etwelchen weiteren vergeblichen Bemühungen, mein Leben, nebst meinen zerrütteten finanziellen Verhältnissen, ins Lot zu rücken –, für alle völlig überraschend, hielten mich viele doch für zu Tode gekommen, wiederum in Berlin ein. – Zu einem gewissen Vorteile gereichte mir die Tatsache, daß ich nach wie vor Zutritt zu sämtlichen mir wichtigen Kreisen der Gesellschaft hatte; der Nachteil hingegen: meine nunmehr endgültige Mittellosigkeit sowie ein vollständig darniederliegendes Selbstgefühl, welches ich mühselig zu übertünchen wußte. – Es gelang mir, vermittelst einer Folge wohlkalkulierter Schritte und dank der liebreizenden Unterstützung durch Marie von Kleist, deren Verbindungen zum Hofe der Königin spielen zu lassen: Marie unterhält seit jeher gleichermaßen blühende als weitreichende Beziehungen zu den obersten aristokratischen Rängen sowie zum Umfelde der jungen und edlen, ebenso viele Lebensjahre als ich zählenden Königin Luise, welcher ich zutiefst zugeneigt bin: unserer weithin beliebten Landesmutter Preußens!, deren Mut, Schicklichkeit und Intelligenz, bei gleichzeitig gutmütigem Biedersinn, ich über die Maßen höher veranschlage, als etwan die reaktionären und von zauderhafter Unentschlossenheit geprägten Verhaltensweisen des Königs. – Am Geburtstage Ihro gnädigsten Durchlaucht, dem 10. März, ließ ich ihr, durch eine ihrer Damen, ein Gedicht aus meiner Feder zustecken, welches sie, vor den Augen des versammelten Hofstaates, beim Lesen zu Tränen gerührt haben soll. Natürlich erhoffte ich mir ein Amt an Preußens Hof – mittlerweile gedieh mein Vaterland zu einem regelrechten Zen-
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trum nationalen Widerstandes, und die Reformer entwickelten hier eine rege Tätigkeit. Ich versuchte, die alten, teils welken Kontakte erneut aufzunehmen, zu erfrischen und mein Leben in die mir bestimmte Richtung zu lenken: nämlich dem Wunsche nach, einem größeren Ganzen zu dienen – wie auch immer! Der unerträgliche, mittlerweile meine materiellen Grundlagen tödlich bedrohende finanzielle Druck, der mir das Leben ziemlich unwürdig ausgestaltete, entspannte sich keineswegs: oftmals konnte ich bloß einmal am Tage eine warme Mahlzeit mit einem kleinen Stück Brot einnehmen, falls überhaupt … – Der ganze bisherige strenge Fortgang meines Lebens trimmte mich mit vielerlei unsäglichen Härten auf die Tatsache hin, daß überall tragfähige Kompromisse zwischen Idealem und Realem gefunden werden müssen, um überleben zu können; dies ist der Grund, weshalb meinen wunderschönen, solitären Idealen bereits bei Geburt das Los eingepflanzt war, an den unerbittlichen Kliffen der Realität zu zerschellen: zumindest dort, wo sie keine Brücken bilden; gleichwohl konnte ich nie von meinen Sehnsüchten lassen! Eines Tages entschied ich – die Leiden und Qualen hatten längst die Qualität erreicht, da die Entscheidung wie von selbst, pflückungsfertig, heranreifte –, daß diese Ideale zu meinen Leitsternen werden sollten, an denen ich mich zu orientieren hätte: immer, wenn mir das Herz schwer würde, sollte ich zum Himmel hochblicken, um dort meines eingezeichneten Sehnsuchtbildnisses gewahr zu werden; ansonsten hätte ich mich lediglich dem täglichen Geschäfte zu widmen und den Blick, ihn stets zum Erdboden hinheftend, nach umstehenden Felsblöcken schweifen zu lassen, um sie aus dem Wege zu räumen. – Ich war – der jahrzehntelang andauernden, fruchtlosen äußeren wie inneren Reibereien überdrüssig – unendlich müde geworden und erkannte, daß ein irgendwie geartetes Vorwärtskommen nur dann noch zu bewerkstelligen sei, wenn man die entsprechenden Beziehungen und Verbindungen pflegte: zu Reichen, Regierenden, Machthabern aller Couleur. Ich gab mir zwar alle Mühe, doch mein Innerstes rebellierte gegen mich selbst – im Kompromisse-Schmieden noch reichlich unbedarft, ward mir auch dies ein langwieriger, schmerzensreicher Prozeß, den ich zu erdulden hatte. Halbfertige Kom-
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promisse in einer ganz und gar falschen Welt – wie mich das quält, wie mich das anödet! Darob verkrampfte sich mein derweil versteinerter Körper in konvulsivischen Zuckungen; allein der Gedanke, wider meine tiefsten Überzeugungen handeln zu sollen, bereitete mir oftmals die stärksten und abscheulichsten Kopfschmerzen, die man sich überhaupt vorstellen kann, als auch anderweitig heftigste physische Pein. Doch es mußte sein, und ich gab – wie immer und überall – mein Bestes! Zwingherr meiner, zwang ich die Zwänge … Mit Müllern, welcher ebenfalls in Berlin weilte und der, auf einen Einsatz im Staatsdienste hin, ein Wartegeld bezog, hatte ich mich ja längst wieder ausgesöhnt; ebenso befanden sich Achim von Arnim als auch Clemens Brentano in Berlin: zwei Dichter der jüngeren romantischen Schule, vor kurzem aus Heidelberg übersiedelt, mit welchen mich Adam bekannt machte: diese beiden, mit denen ich beinahe täglich zu Mittag aß, wofern ich es mir leisten konnte!, und in deren unmittelbaren Nähe ich wohnte, waren mir, nebst Müllern, die besten Freunde während dieses mehrheitlich qualvollen Lebensabschnitts, den ich noch in Berlin zubrachte. Dergestalt knüpften sich die Fäden, alle unter demselben Dache gezogen, langsam wieder zusammen, welche mir die geschichtlichen Unwägbarkeiten und das zufällige Geschehen des Zeitenlaufes mit scharfer Hand durchtrennt hatten. – Überhaupt profitierte ich erneut von Adam Müllers Beziehungsnetz: unter anderem führte er mich mit einigen, für mich wichtigen, Frauenpersönlichkeiten zusammen – etwa mit Rahel Levin, der hochgebildeten wiewohl liebenswürdigen Jüdin, welche mich durch ihre intellektuelle Klugheit und die reife Seele zutiefst berührte, oder der Rendantin Henriette Vogel, von der ich noch sprechen werde und die mich zunächst abstieß: alsbald aber sich vor meinen inneren Augen in einen Engel verwandelte: – eine Gunst, welche mir meine Sehnsucht und mein eigentümlicher Idealismus verstattete. – Die preußische Hauptstadt avancierte außerdem zum Auffangbecken aller möglichen Strömungen künstlerischer Intelligenz, und entsprechend wuchs der Bekanntenkreis an. – Nachmalig sollte mir die neu gewonnene Freundschaft zum Polizeipräsidenten Karl Justus Gruner von wesentlichen Diensten sein: indem er dafür Sorge trug, daß man mir für meine «Berliner
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Abendblätter» Polizeiberichte zur Veröffentlichung zuschanzte. Möglichst wöchentlich trafen sich diese künstlerischen und reformerischen Geister im Hause des mittlerweile ebenso nach Berlin gezogenen Geheimen Staatsrates Staegemann, mit dem mich ja seit Königsberg eine warme, freundschaftliche Zuneigung verband. Anfang Oktober 1810 begann ich mit der Herausgabe der «Berliner Abendblätter» mit dem Einverständnis des neuen Staatskanzlers Hardenberg, das natürlich unabdinglich war: denn sie stellten ein Novum dar, indem sie die erste täglich in einer Hauptstadt erscheinende Zeitung waren, bestehend aus vier Oktavseiten! Der Preis war wohlfeil, und ich wollte damit ein Volksblatt kreieren, welches möglichst alle Standesschichten anzusprechen wünschte, indem es gleichzeitig unterhalten, aber auch ernsthafte sowie ästhetischkünstlerisch gearbeitete Themen zur Sprache bringen sollte; zudem sollten jeweils tagesaktuelle Neuigkeiten möglichst frisch und unmittelbar zur Verfügung stehen: der Leser sollte sich seine eigene Meinung bilden können: ja, es war mein Ansinnen, daß das Individuum aus sich heraus seine eigenen Gedanken entwickeln möge, ohne darauf angewiesen zu sein, jeden ihm von außen angetragenen Mist nachzuplappern; kurz, ich wollte das eigenständige Denken befördern. – Julius Hitzig, den ich bereits im Cohenschen Hause vor reichlich viereinhalb Jahren kennengelernt hatte – es war die Zeit des «Nordsternbundes» –, zeichnete als Verleger. Das Blatt wurde in kürzester Zeit zu einem Großerfolg: es war nicht nur neu, sondern auch originell und abgesättigt mit den mir von Gruner zugereichten Polizeiberichten, welche dem Blättchen noch seine besondere Würze verliehen. – Ja, ich hatte von der Pleite mit meinem «Phöbus» gelernt: und ich lerne verdammt schnell!, agiere über die Maßen zupackend, wenn es denn sein muß und ich wirklich will. Überdies lag es selbstredend in meinem Bestreben, mit den in Anlehnung ans geistige Konzept der «Germania» durchkomponierten Abendblättern dem guten Zwecke weiterhin dienlich zu sein, welcher nach allen nur erdenklichen Richtungen die Sache der Nation zu fördern und zu unterstützen hätte: sonach sollten unter anderem wichtige Fragen der Zeit beleuchtet und zur Diskussion gestellt werden; in diesem Sinne gab Müller, welcher einige diesbe-
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züglich nicht unerhebliche Beiträge mitgestaltete, seiner Meinung Ausdruck, woraus sich dann eine Fehde entwickelte. – Adam Müller nahm Partei zugunsten ultrakonservativer Kräfte und erhob sich damit zum Sprecher sämtlicher Reformgegner. (Mir war es angelegen, ein friedliches Gegeneinander einer möglichst breiten Palette zeitkritisch-fruchtbarer Überlegungen ins Felde zu führen: dergestalt richtete ich mich an der früheren Idee des «Phöbus» aus.) – Die sogenannte Kraus-Fehde, welche sich darob entsponn, hatte wirtschaftspolitische Wurzeln: es handelte sich um ein Pro und Contra zur Einführung einiger grundsätzlicher Ideen des AdamSmithschen Systems, einer liberal-englischen Wirtschaftslehre, in die veralteten und schwerfälligen Eingeweide des administrativen Staatsapparats Preußens. Ich stand auf der Seite der Reformer und ließ diese hauptsächlich zu Worte kommen; es war ganz in meinem Sinne, und ich sah auch nichts Verwerfliches darin, den Disput sich lebhaft entwickeln zu lassen: eben auf daß sich die Menschen eine eigene, unabhängige Meinung bilden könnten und damit zum selbständigen Denken angeregt würden! Ich für meinen Teil vertrat immer einen klaren Standpunkt, welcher sich hochdifferenziert ausgestaltete: man konnte mich nicht so einfach in dieser oder jener Ecke ansiedeln; selbst in diesen politischen Fragen orientierte ich mich nach den persönlichen Leitsternen – und diese waren nicht selten von ganz eigensinnig-anderer Natur, was zur Folge hatte, daß einige Kritiker oder auch Befürworter meiner Gedankenwelt sich nicht wenig irritiert vorfanden beziehungsweise daß sie – wofern sie nicht in die Tiefe gingen, was meist der Fall war –, eine ungerechtfertigt vorgefaßte Meinung, meist wider mich, vertraten. – Die Tatsache aber bleibt gesetzt, daß ich stets offen gegenüber anderen Meinungen und Reformen war; aber Tatsache ist auch, daß mir vor allem die Erneuerung des Menschen im Geiste sowie die Verbesserung der realen gesellschaftlichen Zustände am Herzen lag – und wo ich Altes vertrat, dann lediglich aus dem Grunde, weil ich annahm, daß diese vorherrschenden Strukturen derzeit nicht einfach ersetzt werden könnten – vor allem nicht durch bessere! Denn, wie man sagt: Gut Ding will Weile haben! Nebenbei bemerkt, habe ich in den Abendblättern stets die Reformbewegung Hardenbergs verteidigt und unterstützt. – Unglücklicherweise be-
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wogen die Angriffe Müllers Hardenberg, die Zeitung einer verschärften Zensur zu unterwerfen, was mich zwang, das Konzept zu ändern. Davon einmal abgesehen: es traf mich schmerzlich, daß damit mein unermüdlicher Einsatz wiewohl sämtliche Bemühungen um eine neutrale Gedanken- und Meinungsbildung der Massen derart unterminiert wurden, indem bloß noch in eine Richtung vorgefertigte Äußerungen abgegeben werden durften: und das war diejenige des Staatskanzlers! – Nachträglich muß ich es als Fehler bezeichnen, die Plattform auch der konservativen Opposition geöffnet zu haben: wohl ein wenig naiv, zugegeben. Wie so oft setzte ich mich damit wieder zwischen Stühle und Bänke: meine mit Nachdruck vertretene Neutralität wurde im Endeffekt von beiden Seiten als Gegnerschaft interpretiert. Diese Unbedarftheit, möchte ich meinen, setzte wiederum einen unglückseligen Mechanismus in Gange, ähnlich dem, der in meinem «Kohlhaas» ausgeführt ist: ich versuchte zwar noch, das Steuer herumzureißen, indem ich Ende des Jahres 1810 Hardenberg die Hand bot, an seinen Reformen und der ins Werk gesetzten Eiertanz-Politik mitzuarbeiten (wenngleich gegen meine eigentliche Überzeugung – allein aus der Not heraus): doch es war zu spät, die Meinungen waren gesetzt; außerdem wühlte der gute Adam Müller im geheimen weitere niedliche Fallstell-Löcher aus und intrigierte gegen die Reformer, was – bei meiner öffentlich bekannten Beziehung zu Müller – mich erst recht in ein doppelt-schiefes Licht brachte. – Kurzum: Dies war wohl der Hauptgrund, weswegen die «Berliner Abendblätter» wenige Monate darauf eingehen sollten … Indes: Eine Unterhandlung mit Friedrich von Raumer, einem mächtigen Regierungsrat unter Hardenberg, hatte zum Ergebnis, daß mir eine beträchtliche finanzielle Unterstützung angeboten wurde, wofern ich die Zeitung gemäß den Wünschen des Staatsapparats redigieren sollte: allerdings lehnte ich zunächst das Anerbieten energisch ab, zumal die Gefahr bestand, vollständig von außen kontrolliert und dirigiert zu werden, was einem eigenbrötlerischen Menschen wie mir erst recht widerwärtig erscheinen muß! Hinwiederum wäre leicht einzusehen gewesen, daß diese meine Absage eine noch rigorosere Vorgehensweise der Mächtigen heraufbeschwören würde (ganz besonders nach einer eingerückten, an
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sich harmlosen Meldung betreffend einer französischen Niederlage in Portugal, welche angeblich die Herren Eiertänzer verrückte Pirouetten drehen ließ; jedenfalls war diese Meldung ein zusätzlicher, günstiger Vorwand): solcherart hatte ich unter anderem stets sämtliche Druckfahnen der Zensur vorzulegen, und zwar jedweden außen- als auch innenpolitischen Artikel, welcher – die Gründe spielten keine Rolle – irgendwie als mißliebig erschien. Als Höhepunkt der Unliebsamkeiten ward Polizeipräsident Gruner schließlich befohlen, daß politische Beiträge vollends zu streichen wären, womit etwa die Hälfte aller Artikel im Vorfeld bereits ausschieden. Ein Scherzbold in der Riege unserer Mitarbeiter hat das dergestalt zurechtgestutzte Blatt als «ein Regierungsorgan ohne Privilegien eines solchen» betitelt: – ein lebensunfähiger Zwitter zwischen dem Nirgendwo und dem Nichts! Was Wunder, daß darauf ziemlich rasch das Interesse des Publikums schwand – welches ohnehin in seiner Masse hauptsächlich auf Sensationen und Neuigkeiten aus war, welche jetzo vollständig ausfielen – und die Absatzzahlen einbrachen. Zu allem Ungemach gesellte sich, daß mit der Zensur auch die Arbeitspensen – und somit die Verlagskosten – erheblich stiegen: bei einem gleichzeitigen Einbruch der Auflage ein tödlicher Teufelskreis; Verleger Hitzig, in erster Linie auf Geld aus – das Ideelle war ihm weitgehend egal –, wurde die Freude am Blatt somit vergällt, und er zog sich gereizt zurück, worauf Friedrich Kuhn das zweite Quartal der Abendblätter übernahm. Endlich ward, nach einem Theaterskandal, unserem Blatt noch untersagt, Theaterkritiken abzudrucken: diese machten zwar den Braten nicht mehr fett, aber es war bezeichnend und tat dem Sprüchwort alle Ehre, das da lautet, daß ein Unglück selten alleine angetanzt komme. Als dann noch Gruner, der Polizeipräsident, in die Staatskanzlei versetzt wurde, entfielen letztlich auch die polizeilichen Nachrichten, was die Nägel auf den Sarg waren. – Die letzte Nummer der Abendblätter erschien Ende März 1811; die Blätter gingen also bankerott, und mein dritter ernsthafter Versuch binnen dreier Jahre, mich als Herausgeber anspruchsvoller literarischer und journalistischer Erzeugnisse zu etablieren, endete, zum letzten Male!, in einem Scherbenhaufen sondergleichen. – Meine Lebensgrundlagen waren total erschüttert, der Niedergang der Zei-
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tung stürzte mich in zusätzliche Schulden: ich fühlte in mir die düstern und dräuenden Wolken einer existentiellen Verlorenheit aufziehen; ich sah mich ein für allemal aus dem staubigen Rahmen des Leben gefallen – wie aus dem Rahmen eines wunderschön angedachten Bildes, welches aber, mangels Farben, nie hat vom Maler gezeichnet werden können –, und all mein unaussprechliches Sehnen, mein tiefes Dürsten nach ideeller Gemeinschaft und Einheit ward auf immer zerstört: endgültig und unwiderruflich zernichtet … – Jetzo ging‘s nur noch ums nackte Überleben! Um mich finanziell einigermaßen schadlos zu halten, versuchte ich bei Hardenberg und Raumer, das heißt bei den zuständigen Behörden und Amtspersonen, zu meinem Recht zu kommen, das mir – obzwar nur mündlich – eingeräumt wurde, von dessen Zusage aber niemand plötzlich mehr was wissen wollte!? Zudem war die ganze schikanöse, unselige Angelegenheit verwaltungstechnisch in ein derart filigran verflochtenes, völlig undurchschaubares Spinnweb eingelegt, daß sich die jeweiligen Kompetenzen überschnitten – und auf den zuständigen Posten saßen teilweise machtbesessene, neidische oder sonstwelch charakterlich minderbemittelte Personen, die zwar meine berechtigten Anklagen nicht bestritten, aber der Erfüllung des Zugesagten ebensowenig nachkamen: kurz, ich kam mir als an der Nase herumgeführt vor; und da ich nicht der Mann bin, der so rasch aufgibt, insistierte ich allerorten, was mir mit zunehmendem Nachdruck, der in meinem Wesen liegt und den ich auf die Sache verwand, den Ruf eines Querulanten einbrachte: sie nannten mich den zweiten Kohlhaasen! – Endlich gelangte ich an Gruner, welcher als einziger, wie ich denke, unter all den Beamten mir ein echtes und warmes Wohlwollen entgegengebracht hat – und er versprach mir, in meiner lebenswichtigen Sachfrage unmittelbar beim Staatskanzler Hardenberg vorstellig zu werden. – Wofern echte und günstige Ansätze überhaupt angelegt und geplant waren, so gingen sie im Räderwerk einer behäbigen Bürokratie und infolge wohl von einigen Mißverständnissen schnell wieder unter … – Eine kurze, unergiebige Audienz bei Hardenberg brachte desgleichen nichts – er riet mir, meine Fühlfäden auf die zuständigen Ministerien hinzulenken, womit ich wieder dort
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stand, wo ich angefangen hatte. Der Schwarze Peter ward einfach so lange kontinuierlich weitergeleitet, bis er, das unerquickliche Spiel beschließend, erneut in meinen Händen lag: niemand fühlte sich für die aufs Tapet gebrachten Belange zuständig, obgleich jeder seinen Senf dazugab, und der war leider fortwährend zu meinem Nachteil. – Ich versandte Briefe im Dutzend und hatte bei den verschiedensten Räten und angeblich zuständigen Köpfen irgendwelche ergebnislosen Audienzen: ich wurde sehr bald zornig und ziemlich mürbe … – Dahinter verbarg sich bestimmt kein böser Wille – nein, viel schlimmer!, es war schlichte Gleichgültigkeit, ja Oberflächlichkeit mir gegenüber! Als einzigen Erfolg, der mir schließlich kurz vor dem endgültigen Bankerott der Abendblätter, in diesen mühseligen Auseinandersetzungen vergönnt ward, durfte man die – wiederum bloß mündliche und unzulängliche – Regierungszusage werten, daß unsere Zeitung offizielle Mitteilungen zum Druck erhalten sollte – doch diese blieben aus: wiederum waren die Gründe verwickelt; einer aber war, daß sich die Spenersche und Vossische Zeitung zur Wehr setzten und ihrerseits die entsprechenden Instanzen anriefen, was zu fruchten schien. – Dieser unglückselige Zustand brachte mich in schlimmste Verlegenheit, zumal der neue Verleger Kuhn vorgab, durch falsche Zusicherungen getäuscht worden zu sein – dabei gab ich ihm bloß weiter, was mir von den jeweiligen Amtsstellen zugesagt worden war! – und somit den Vertrag von meiner Seite als gebrochen betrachtete: dies hatte erhebliche Schadenersatzforderungen wider mich im Gefolge! Ich schäumte vor Wut und inbrünstigem Zorn: so griff ich gegen den ungerechten Staat auf seine mir gegebenen Versprechungen zurück, was meine Nerven bis aufs äußerste verspannte. Ich mußte was tun, wenngleich mir klar war, daß ich gegen die Übermacht des Staatsapparates selbst antrat. Ich schrieb direkt an Staatskanzler Hardenberg:
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Berlin, 15. Februar 1811 Hochwohlgeborner Freiherr, Hochzuverehrender Herr Staatskanzler! Ich bitte untertänigst um Gehör! – Eine meiner tadelnswertesten Schwächen mag wohl sein, daß ich selbst den geringsten Widerspruch, unsinnig zu sagen, immer als eine Kampfansage betrachte und unwillkürlich in Schlachtordnung übergehe, was mich selbst ärgert. Dies gründet in dreierlei: in meiner, der Natur nach, messerscharfen dialektischen Denkweise und Tatverrichtung; ferner im Umstand auch, daß ich mein Lebtag für jede Halbflat, gemessen am Erfolg, noch so hart kämpfen mußte und weiterhin muß, mir also nie was geschenkt ward; und endlich, drittens, fügt das Merkmal unentwegter Enttäuschungen den Rest: immerfort von niemandem, selbst im Geringsten nicht!, in praktischen als wie ideellen Belangen verstanden – geschweige denn: geschätzt! – zu werden. Die Diskussion führten wir vor kurzem bereits bei einer der Audienzen, welche Sie mir freundlicherweise gewährten – Sie erinnern sich? etc. etc. – Dies alles trägt zu einer übermäßigen Gereiztheit meines Gemütes bei – sowie zur übersteigerten Bereitschaft, selbst den kleinsten Brosamen eines Erfolges unter Todesverachtung zu verteidigen! – was, zugegeben, mitunter einem Außenstehenden reichlich übertrieben vorkommen mag! Wie Sie aber sicherlich einsehen werden, ist diese unsere Angelegenheit in bestimmten Punkten durchaus als exemplarisch zu bezeichnen. – Allerdings eröffnet sie ebenso, in gewissem Sinne, einen vertieften Einblick in sowohl meine als auch die Eigenart der – bis ins Trübsinnige verworrenen – preußischen Administration. Ihre größte Schwäche scheint mir, mit Verlaub: Sie lauschen mir die Untertöne meiner Äußerungen betreffs des verwickelten Verfolgs der Dinge – wofür in der Tat niemand was kann! – nicht ihrem wahren Gehalte nach ab, womit eine falsche Meinung über mich und meine wirklichen Absichten notgedrungen wie spontan entstehen muß! Dieser mißliche Umstand mag sich durchaus nicht, bis kaum, fatal bei etwa neunzig Prozent der Menschen als wie alltäglichen Sachverhalten auswirken; denn Durchschnittsverstand
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erzwinget nahezu (geistige) Schwerhörigkeit, und in alltäglichen Geschäften spielen solcherlei Dinge zudem kaum eine Rolle: die Rechnung wird dort allenfalls im Laufe des Verfahrensganges über andere Parameter ausgeglichen. Aber eben – ich bin weder von durchschnittlichem Verstand, noch fallen meine Geschäfte in die Kategorie des Alltäglichen (ich entschuldige mich bloß annäherungsweise für diesen Brief: ich hätte mich weiterhin ärgern können, wie ich es bislang während der weitläufigen und zeitraubenden Korrespondenz mit allen möglichen Ministerien als auch bei den verschiedenen Gängen in die entsprechenden Ressorts getan habe – oder aber: ich schreibe Sie nochmals, in untertänigster Ergebenheit, direkt an); deswegen haben Sie sich, Ihrer Aussagen als auch Ihrer – womöglich ungerechten? – Entscheidung wegen, die paar gutmütigen Zeilen eingehandelt, welche aber mitnichten gegen Ihre Person gerichtet sind, sondern lediglich zum Zwecke haben, an Ihr Gewissen und Ihren Gerechtigkeitssinn zu appellieren! – Genauer: Ihre Aussagen zeigen mir, daß ein Mißverständnis – und zwar meiner Meinung nach: gründend in unserer beider Schwächen – vorliegt, welches ich unbedingt mit Ihnen bereinigen möchte; meine Seele, mein ganzes Wesen drängen mich dazu …! Die Crux, der selbst die höchsten Menschen-Geister verfallen müssen, ist, daß sie – wenngleich in verschiedenster Ausprägung – erstens immer sich selbst zu Schatten haben und zudem eigentlich nur denken können, eine bestimmte Sachlage sei so oder anders beschaffen – in einem gewissen Sinne: ein Entweder-Oder als vorgefaßte Meinung hegen; ich habe Ihnen, und gleichfalls Regierungsrat Raumer, diesen meinen Standpunkt, die Sachlage betreffend, bereits an anderen Stellen mehrmals ausführlich sowie sachlich skizziert, und ich bin ebenso todsicher, wie Sie von Ihrem, daß er stimmt! – Der Witz ist doch der: es ist nicht ein Entweder-Oder, das die Welt regieret – es ist ein Sowohl-als-Auch. Daß ich es allerdings verabsäumt habe, die mündlichen Zusagen von Raumer auch schriftlich verfertigen zu lassen, muß ich auf meine Kappe nehmen: doch für mich gilt seit eh und je – ein Mann, ein Wort! Mein Schicksal ist nicht gemeiniglicher Artung nach beschaffen: Auf der einen Seite wieget die Leuchtkraft der Erkenntnis aus den
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verschiedensten schwerwiegenden Erfahrungen heraus, wovon ich Ihnen bereits einige notwendige Stücke versetzte – auf der anderen Seite wiegen die quälenden Leiden (um wieviel mehr hat meine Seele bereits gelitten als der Körper!): und mein Geist dienet mir als Balancierstab, mit den beiden bezeichneten Polen zu dessen Enden, der mich die gähnenden Abgründe des Grats, stetig vorwärtsschreitend, überqueren läßt. Die einzige wesentliche Frage, denke ich, ist: Was ist Ursache, was Wirkung? Ich vermute, beides ist sich gegenseitig Ursache und Wirkung: doch de facto spielt dies im praktischen Beispiele nicht die geringste Rolle. – Was meint: Ich bin und werde nie mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen sein: dieses «Darüber-Hinaus» zahle ich allerdings entsprechend; mir genügte es – und es wäre mir wahrlich eine nazarenische Erlösung –, wenn mich die Menschen solcherart akzeptierten, wie ich eben bin, denn ich tue es umgekehrt gleichfalls – oder wenn sie mir wenigstens in der Ausübung meines Berufs nicht unnötigerweise Steine in den Weg legten, wo diese nicht hingehören: ich bin allein erpicht, meinen eigenen Weg, zum Nutzen aller, auch des preußischen Staates, meines Vaterlandes!, in Ruhe und Würde, ohne Gängelung souverän als wie redlich gehen zu können: daß ich dabei von irgend jemandem in «den höheren (ideellen) Etagen» meines Denkens oder Tuns verstanden werde, ist weder nötig noch möglich; doch daß ich bei meinen Bestrebungen Unterstützung finde, ist sowohl angezeigt als auch angemessen, zumal mein Ansinnen völlig lautren Geistes ist! Wo ich mir allerdings wünschte, daß man mich besser verstünde, sind die rein praktischen Betätigungsfelder: ich gebe mir jedenfalls Mühe, wie Sie hoffentlich spüren! Bei allen Enttäuschungen, all der Mühsal, allen körperlichen und seelischen Qualen, bei aller materieller Eingeengtheit, bei den Demütigungen und schließlich: bei aller Unbeweibtheit – dies ein Problem des Privaten – muß man sich fragen: Wie schafft der tollkühne Kerl das, trotz allem dermaßen gut zurechtzukommen? – Ich bin eben aus anderm Stoffe: und die daraus resultierende andersartige Interpretation sowie Erkenntnis der Umstände des Standpunktes, um den es, unter anderem, in unserer Auseinandersetzung geht, weiß ich auf meine Art zu leben: eigengesetzlich zwar – was mir naturgebunden den unablässigen Ärger einbringt
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–, aber unter steter Wahrung der äußeren Gesetze der Welt und Preußens! – Es hat mich im übrigen aufs empfindlichste getroffen, daß man mich (ich vermute: es war Ihr Mitarbeiter, Regierungsrat Raumer – das nachgerade ist bei der völligen administrativen Verwickelung nicht klar, was zum Unbill auf allen Seiten führte), zumindest einen wichtigen Punkt betreffend, wieder unter- oder zumindest falsch eingeschätzt hat – ob absichtlich oder nicht, lasse ich dahingestellt. Der Punkt oder die Punkte, um die es sich handelt, münden schließlich in einen für mich lebensnotwendigen Belang – nämlich des Überlebens der Berliner Abendblätter an sich: – und diese ungeheuer wichtige, ja existentielle Frage um Leben und Tod soll von einem tragischen wie unglücklichen Mißverständnis abhängen? oder womöglich von einer zusätzlich unglückseligen Verquickung administrativer und anderweitiger bürokratischer Vorgänge? – Hand aufs Herz: können Sie dies zulassen? Es wäre für alle günstiger, mich alleine einfach nach meinen Taten zu beurteilen, und nicht etwa nach vorgefaßt-unverrückbaren Meinungen oder gar Gerüchten – ich spreche die mir unterstellten Absprachen mit Müllern an, die zum Zwecke hätten, die Volksmoral zu untergraben etc. Prüfen Sie die wirklichen, nicht die scheinbaren Fakten, indem sie das mittlerweile zu einem völlig verworrenen Gespinst herangewachsene Knäuel dem wesentlichen Gehalt nach auseinanderdröseln, um das Wichtige vom Unwichtigen zu separieren! Sie werden alsgleich die Wahrheit erkennen und mir eine den allseitigen Interessen angemessene Lösung anbieten können, was nichts mehr als gerecht wäre! Ich biete Ihnen ja die Hand dazu, wie ich es seit Beginn der Affäre ununterbrochen getan habe. Ich bitte Sie nochmals inständig, Ihre Entschlüsse zu überdenken, beziehungsweise den mir durch Ihre Untergebenen zugesagten Versprechen, finanzieller und ideeller Natur, nachzukommen. Ew. Hochwohlgeboren ergebenster Heinrich von Kleist
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Der gewiefte Müller meinte zu mir, ich möchte doch, um Gottes Willen!, etwas diplomatischer vorgehen und mich nicht wie der berühmte Elefant im Porzellanladen gebärden: er selbst habe, durch geschicktes Taktieren, bei Hardenberg ein ansehnliches Wartegeld herausgeschlagen, was auch mir gelingen könnte, sollte ich meine Starrköpfigkeit bezwingen. – Aber ich hielt den herbeigeführten Untergang der Berliner Abendblätter für eine abgekartete Sache, hinter der ich als Drahtzieher und Intriganten Raumer vermutete; zudem hat mich der von Anfang an aussichtslose Kampf à la Don Quichotte müde und stumpf werden lassen: einerlei – ein Tropfen brachte das Faß zum Überlaufen, als mir infame Verdrehungen von Ursache und Wirkung unterschoben wurden, nachdem ich, weiterhin und zugegebenermaßen querköpfig sowie in Überreiztheit befindlich, unerbittlich insistierte! Alles in allem: ich ward dergestalt nunmehr offiziell zum handfesten Lügner gestempelt. Ich trug Raumer, zu spät!, auf, seine mündlichen Zusagen schriftlich festzuhalten, oder aber ich sei gezwungen, öffentliche Satisfaktion einzufodern. Aufgrund des Mangels an Beweismitteln war meine Aufforderung zur reinen Glaubens- und Gewissensfrage verkommen. – Im Hintergrunde wurde man jetzt plötzlich rührig, ohne daß man die Abläufe durchscheinen ließ; jedenfalls wurde den Entschädigungsansprüchen, nach langwierigem Hin und Her, ein gewisses Recht eingeräumt: – es ward aber einschränkend beigefügt, daß die Ansprüche nicht sofort reguliert werden könnten und man sich mit dem Gedanken beziehungsweise dem fortgediehenen Plane trage, mir die Redaktion des neu zu gründenden Kurmärkischen Amtsblattes zu übertragen! – Man pochte als Gegenleistung darauf, daß ich die unliebsame Sache beilege, und man einigte sich, daß die etlichen Meinungsverschiedenheiten keineswegs und von keiner Seite auf böswilligen Mißverständnissen beruhten! Von behördlicher Seite wurde meine Akte nun endgültig geschlossen; und in mir blieb der giftgewirkte Stachel von Abgeschmacktheit und der Hinterlist einer zutiefst gebrechlichen Welt umso stärker haften; diese unergiebigen Katzbalgereien mit solchen bocksteifen Leuteschindern verfinsterten meine qualvoll zurückgewonnene Helle gänzlich und raubten mir die letzten Kräfte – die allerletzten! – Die Zusage, das Kurmärkische Blatt betreffend, war wiederum
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bloß mündlich abgegeben; für mich galt seit jeher: ein Mann, ein Wort; ich jedenfalls hielt meines stets und unverbrüchlich! Als das Blatt angekündigt ward, überging man mich gleichermaßen platt als schroff – es zerbrach in mir das letzte Quentchen an Zutrauen in die menschliche Natur. (Mit Verleger Kuhn wurde ich mit Müh‘ und Not doch noch einig, indem ich ihm meine Erzählung «Die Verlobung in St. Domingo» zum kostenlosen Abdruck überließ – welch ein schmählicher Schacher!) Mein Freund Müller meinte zu diesem traurigen Debakel gewitzigt: «Mein Guter – Du bist halt der Heinrich von Kleist … und Dir ist einfach nicht zu helfen!» – Gleichviel: ich mußte durch all diese unermeßlichen Leiden hindurchgehen, um endlich zu erkennen, daß die schöpferische Kunst auf dem Markte tief im Kurse stehet – errettungslos tief. Ich war vollständig ausgebrannt, verzweifelt und desillusioniert: von todgeweihter Mattigkeit an Geist und Seele, erlahmt in meinem Tatendrang … Es ist wirklich wahr, daß keiner meiner Freunde, selbst nicht der gute Adam Müller, der mich im Guten wie im Schlechten am besten von allen kennt – geschweige denn einer meiner engeren oder oberflächlicheren Bekannten, und schon gar nicht meine Familie –, weiß, wer ich bin, was mein Wesen ausmacht. Dies hängt einerseits mit der Tatsache zusammen, daß ich nie mein Innerstes habe preisgeben können – und wo ich es in gutem Willen unternahm, vor allem am Startpunkte meiner Lebensbahn, produzierte ich haufenweise Mißverständnisse; mit der Zeit dann verspürte ich keine hinlängliche Lust mehr, es auch nur zu versuchen. Solcherart vom Leben geprägt und in meinem Wesen erschaffen, lernte ich – nach einem Ziele ausgerichtet – das zu sein, was ich wollte, und zum Teil das, was die Umwelt verlangte. Not, Sorgen, Unangenehmes wußte ich geschickt zu unterdrücken -: deshalb erschien ich vielen gerade dannzumal am heitersten, wenn es um mich am schlimmsten stand. Was hätte es für einen Nutzen gehabt, mich jemanden zu öffnen: da mich ja ohnehin niemand verstand? – Umso mehr suchte ich nach einer Erlösung in meinem Idealbild, in der holden Weiblichkeit, dem Goethischen «Ewig-Weiblichen», das mich hätte aus diesem Albtraum befreien mögen: nur wurde mir eindringlich klar,
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daß ein solches Ideal hier, in dieser materiell-irdischen Welt, keine Möglichkeit zur Erfüllung fände – desto intensiver sehnte ich mich nach dieser Erlösung im Tode: diese Sehnsucht ergriff je länger, je nachdrücklicher von mir Besitz – die Sehnsucht nach dem Tode; die Sehnsucht nach der ewigen Vereinigung im Jenseits, welche ich als absolut real erkenne; die Sehnsucht nach Erneuerung und dem Heil, dem Eins-Sein von Bewußt- sowie Unbewußtheit, von Endlichem und Ewigem selbst! – In den Figuren meiner Schauspiele und Erzählungen tritt diese Thematik in den vielfältigen Unmachten zutage: denn diese Erfüllung einer unio mystica ist jenseits alles Sag- und Nennbaren, alles Denkbaren überhaupt – es ist die reine Sehnsucht nach dem Heil und Glück!, nach der unbedingten genialen Schöpferkraft in der Welt des wahren Geistes … – Im Tode oder in der Unmacht erkenne ich diese unaussprechbare Vereinigung von Ewig-Männlichem mit dem Ewig-Weiblichen, und ich sehe darin die klare Botschaft eines vollen Lebens, die Einsamkeit eines in sich isolierten Ichs im Mysterium vereinigender Liebe aufzubrechen. (Dies ist der tiefere Grund, weshalb ich einige Male bereits versuchte, hauptsächlich eine Frau zu finden, die mich in den Tod begleiten würde; doch ich wäre auch schon zufrieden gewesen, wenn sich ein guter Freund mit mir auf diese Reise ins unbekannte Land aufgemacht hätte – ein, zwei Male frug ich Pfuel, ob er nicht, ebenfalls lebensüberdrüssig, mir in den Tod nachfolgen möchte. Es ging ja um das Gemeinsame, das Zusammensein einer artverwandten Seele! Deswegen spielte es mir keine große Rolle, ob diese nun männlich oder weiblich sei: – der Angelpunkt sollte sich alleine in der Gemeinsamkeit des Zieles vorfinden!)
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XI. Das Ende am Kleinen Wannsee Wahr ist, daß ich mir selbst immer ein Rätsel blieb, welches sich erst gegen Ende meines Lebens langsam zu lösen beginnt – gleichwohl: in meinem Innern war ich von Geburt an dermaßen reich und kraftvoll ausgerüstet, daß ich mir ebenfalls das weitaus interessanteste Untersuchungsobjekt bin; in mir reget sich die ganze Welt – mit all ihren Unzulänglichkeiten, mit all ihren unvergleichlichen Stärken und Schwächen, der Schönheit und der Häßlichkeit, so daß ich, hatte ich jemals eine Frage ans Leben, bloß in mich selbst tauchen mußte, um die Schätze zu bergen, um eine Form aus dem Ungeformten zu gestalten, die mir die Antworten darbot! – Die größte und hehrste Helligkeit erlangte ich, als ich nunmehr den festen Entschluß zum Tode gefaßt hatte, und ein unausweichlich letztes Mal vor dem Abgrunde stand, in den ich mich schließlich hineinwerfen werde! – Der Mensch ist erstlich und letztlich in seinen schwierigsten Aufgaben, auf der Endstrecke seines Lebensweges immer einsam, ganz und gar allein – zumindest aber ist er es in seinen wichtigsten Prüfungen: einsam muß er den steilen, oft abschüssigen Pfad in die Fülle des ewig Waltenden schreiten … Ich spüre jetzo, daß mein ganzer Leidensweg auf einen Punkt mit unabänderlicher Konsequenz wie sich steigernder Geschwindigkeit hinläuft – stets mußte ich aushalten: äußerliche Schmähungen, Ungerechtigkeiten, das Verkanntsein; innerliche Spannungen, Bitterkeiten sowie unbezähmbare Stachelwut! Und unentwegt mußte ich fürchten – weswegen sich mitunter eine unsägliche, unausstehliche Verkrampfung und Verspannung aufbaute, gegen die ich mich stets tapfer zur Wehr setzte –, daß mein Inneres explodieren würde und ich jederzeit eine unentschuldbare Unbesonnenheit anstellen könnte. Doch ich habe einen schwerwiegenden Entschluß gewälzt und ihn verfestigt, der mich nun endlich ruhig und gelassen werden läßt, der mich mit einer nie gekannten Entspanntheit, Zuversichtlichkeit und Ruhe nährt … – Bisher gelang es mir lediglich in meinen Werken, die aus der Tiefe einer erniedrigten Seele zutage
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tretenden Gegensätze zu zwingen, in eine schöpferische Form zu gießen, das Pochen eines der wildesten und ungezähmtesten aller Herzen hier auf Erden meiner Artung gemäß umzusetzen, indem ich als unkonventioneller Gestalter nach eignem Gesetz agierte! Stets habe ich das Chaotische und Unberechenbare meines Wesens unter höchster Gewalt in eine meist lebenstaugliche, ausdrucksstarke Gestalt überführt: nicht alleine in meinen literarischen Kunstwerken, sondern eben auch in allem, was ich je getan, gefühlt, gedacht habe. Aber irgendwann ist man derart erschöpft, müde und abgewetzt, daß die Seele trüb und taub wird: – dann ist die Zeit nahe, da alle Schöpferkraft versiegt und bloß noch ewige Nacht herrscht! Und mir tat sich in dieser ewigen Dusternis von Ferne her ein Licht kund, dem ich wackern und freudigen Schritts nähertrete … Bereits seit 1810 verkehre ich, eingeführt durch den lieben Müller, der mir, ohne es selbst zu wissen, damit einen Liebesdienst sondergleichen tat, im Hause des General-Rendanten Friedrich Louis Vogel, eines Mannes von ungemeiner Gutmütigkeit und Biedersinn; dazu kömmt, daß meine Unterkunft nicht weit entfernt vom Hause Vogel gelegen ist, was es mir ermöglicht, eine langdauernde Beziehung aufrechtzuerhalten. Seine Frau, Henriette Vogel, verabscheute ich zunächst, lernte sie aber mit der Zeit recht gerne zu haben; wie sie mir kürzlich mitteilte, pflegt sie längst keine intimen Zärtlichkeiten zu ihrem Gatten mehr. Offenbar hatte sie es auf mich abgesehen; allerdings regten sich in mir nie erotische Gefühle wider sie – und doch spürte ich eine harmonische, langsame Verwandelung statthaben: allmählich entpuppte sie sich als meine Idealgestalt; sie verwandelte sich vor dem Innern meiner Augen in das geliebte Sehnsuchtsbild, wie ich es schon seit geraumen Ewigkeiten in mir trug – nach und nach, mit Weile und Andacht. Wir musizierten, sangen und unterhielten uns viel, sehr viel, was nicht zuletzt dazu beitrug, daß ich sie lieben lernte, ihr Wesen lieben lernte, nicht ihr Äußeres! – Allerdings war die Annäherung an Henriette nicht nur langwierig, sondern auch schwierig, zumal sie oftmals eine intrigante Eifersüchtelei an den Tag legte; dennoch erkannte ich rasch den möglichen, aufkeimenden Wert, den sie für mich haben könnte:
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und dergestalt nahm ich es auf mich, die Beziehung inniger als auch ausgedehnter zu pflegen; ich wollte – in Stille ahnend um die Zukunft – einvernehmlich und auf meine Weise harmonisch mit ihr verkehren, so daß ich ihr schon bald einige Zeilen zukommen ließ, um darin indirekt mitzuteilen, in welcher Form ich geneigt wäre, unsere Verbindung konkret und unmittelbar zu gestalten: vieles sprach ich durch die Blume, was ja die Weibsbilder recht eigentlich zu verstehen wissen. Mit dem nachfolgenden Schreiben klärte ich ein für allemal Art, Sinn und Zweck unseres Zusammenseins und führte das gemeinsam bestiegene Luftschiff in die Bahn, die endlich beiden von Nutzen und genehm sein würde:
Berlin, 9. April 1810
Liebste Vogel – meine allerbeste Freundin, meine Göttin des Herzens! Keine Beschwichtigung: Ein handfester Vertrag nurmehr soll‘s sein, der zu Ende hin entweder Deine ratifizierende Bejahung, die kaum empfehlenswerte Verneinung oder die Modifikation – der ich allenfalls huldvoll und in größter Langmut mein Ohr neige, wofern bündig Sinn darin sich findet – zum Ziele hat! Ein Ernstes also – und ein Natürliches und Nützliches zugleich. Beim nächsten Treffen fodre ich Deinen Handschlag! – Folge nun dem Virgil, der – für Dich in gedrängt-leichtfaßlicher (sic!) Version – Deinen Geist durch Dantes Purgatorium führet. Was auch folgen wird, sei dessen eingedenk: Du bist mir ausnehmend sympathisch, und ich war Dir zu Anfang unserer Bekanntschaft gleichhin gewogen! In mir liegt gegen Dich kein Arg! Doch: den spiegelglatten Ozean versetztest Du – vermittelst gewaltiger Ohrenbläserei – in ein wogend Meer, welches ich gedungen bin zu zähmen, bevor die Windsbräute sich zu einem berserkrischen Wirbelsturme sammeln … – Zwei Möglichkeiten gäb‘s: entweder zu meiden den schwindsüchtgen Peststamm oder instandzusetzen das Gebäud‘. Das tu‘ ich nun – gib Du den Kitt dazu!
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Ich halt‘ in einem Bund mich – denn um an den Saft der Kakteen zu gelangen, muß man zwischen den Stacheln durch sich quälen. Kurzum: Dein Wesen lieb’ ich; es ist von beneidenswerter Artung (beneidenswert dem Sinne gleich: ich mag‘s so sehr, daß ich mich darin gesundbaden könnt‘, und ich wünscht’ es mir von selber Qualität)! Auch hier: Nichts als Gewogenheit und … – mehr: was ich derzeit nie entdecken würde, weil es heilig, hehr und ganz versiegelt in des Herzens Wunsch und Tiefe! – Genug von dem Gesülze; zum Artikel, um den nun kreist – wie der Aar um seine Beute – die gänzlich-gute Angelegenheit. Um allen Wust sogleich hinwegzuräumen, nehm‘ ich alles gern auf meine Kappe, damit wir nicht nach Schuld und Sühne suchen – hierin folg ich der weisen Vernunft im guten Sinne –, sondern rasch fortkommen zu herzlich-traulichem Kontakte, der sich ohnehin einstellte, liefest Du nicht gleich zu eben diesem Anfang hin in ein schwer Gewitter, welches meiner Stirnen Zeichenschrift umwölkte so dunkel-düster, daß meines Witzes, meines Willens, meines Wesens Blitzelement in Finsternis und Giftgewirk zu ersticken drohte: das Gewitter war zu dieser Zeit, von mir danach benannt, das «Venusische Debakel» – ein allzu schwerer Geist bedrückte mich, gleich einem Alb! – Dazu kam, ein wenig unglücklich, Dein diesbezüglich unbezähmter Charme eines Holzfällers: dem Leitspruch nach: klopfen wir ihm mal ordentlich gegen die Nuß – mal schaun, was wird …. Ich gebe Dir nunmehr ein Regelwerk an die Hand, mit dem Du in Beziehung zu mir gut fährst – ich deute Dir alsofort die Zeichenschrift, die Du, fast anmaßend!, bereits beim ersten Treffen entziffert glaubtest: ein bißchen Torheit war dies schon … – und allzu schnell gesprochen als gedacht! Auch die regelnde Verfügung liegt zu Deinen wohlgeformten Händen, wie Du sehen wirst. Kurz ausgeführt nun, daß Du mich verstehest (nicht als Vorwurf: denn hätte ich nicht verziehen, nennte ich das Nachfolgende nicht: bei mir lauert allein das Unausgesprochene im Hinterhalt als Fährlichkeit). Dies machte mich mürbe; es sind drei Punkte, wobei allein der zweite als ernsthaft zu benennen ist – und im Regelfalle wäre all
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dies kein Problem gewesen, befände ich mich nicht seit geraumer Zeit in einem ausgesprochnen Ungleichgewicht durch die unglückliche Affäre mit Henrietten; dazu kömmt eine gewisse Überempfindlichkeit in bestimmten Punkten, die ich ja im gewöhnlichen Falle beherrsche wie das Einmaleins nach Adam Riese, die sich dazurechnet und welche infolge dieses Erlebnisses sowie der gesamten, höchst angespannten Lebenssituation noch ins Maßlose gesteigert ward – ein Tiger also mit einem Eiterzahn, ein Aar mit gestutzten Flügeln! Auch dessen sei eingedenk. Erstens: Bei unserm letzten Zusammensein, Du erinnerst Dich?, zeihtest Du mich mit lauer Zunge der Großsprecherei, was mich in der Tat sehr ärgerte – obgleich Du einfach sprachst, was viele variantenreich erwägen: ich sei Großsprecher, Lakai, eine törichte Alraun‘, ein komischer Kauz, ein impotenter Hohlkopf, ein halber Aar, ein Viertel Aar, ein Lamm, Kalb, Schaf, ein krankes Herz, Windbeutel, Hundsfott oder … – was auch immer. Du sprachst, was viele andre denken – wenn man‘s nur dächte; Du aber nanntest‘s! Wenn nicht einen weitern Fehlschritt Du gewagt, hätt‘ ich‘s sogleich verziehen und einfach gedacht: halbe Köpfe denken halb – und erst noch spiegelgleich und mithin auf den Kopf verkehret; sie denken‘s und vermeinen, kantisch-scharf gedacht zu haben, denken ihren Geist also hoch wie weit – das ist der Mensch! Du klopftest mir schamlos gegen den Dez – und ich wehrte mich alleine deshalb nicht, weil in meinem unermeßlichen Schmerz dann ich die Falsche zerkeilt hätte; ich hätte somit Ungerechtigkeit zur Linken mit Ungerechtigkeit zur Rechten vergolten! Zweitens: Diesen Punkt aber habe ich Dir, in der Tat, äußerst übelgenommen; dieser Punkt ist es, der einen Stachel in mir setzte, der ausgezogen werden muß. – Du bist doch wahrhaft eine gerade Persönlichkeit, was ich sehr schätze: allein, hintenrum verdingtest Du Dich als Ohrenbläserin! Du meintest zu Freunden, Du müßtest mich sprechen betreffend Henrietten und meiner Wenigkeit; wir paßten nicht zusammen; ihre Nase, ihre Physiognomie gefiele Dir nicht; Du fändest sie nicht ganz sympathisch, attraktiv; Du begriffest nicht, daß ich Probleme mit Frauen hätte – und, und, und …
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Den ganzen Tand verkauftest Du Freunden über meinen Rücken hinweg – Du Hagen. Du hättest gerad und ehrlich auf mich zukommen sollen: zu dem Zeitpunkt meiner sensiblen Phase hätte ich mich zwar sicherlich geärgert, doch ich hätte es Dir nicht im geringsten übelgenommen. Statt dessen mir den Judas-Dolch versetzen in die Mitte meines Rückgrats … – Um ein Haar (wäre ich nicht von wacher Intelligenz beseelt, noch mehr: neigte ich nicht dazu, als Mensch – der völlig überfordert – so gerecht als möglich sein zu wollen) wärst Du mir zum Blitzableiter meines unbändigen Schmerzes geworden! Das Manöver war nicht ungefährlich – wobei die Gefährlichkeit mehr in meinem Wesen liegt und lag als etwa in dieser Deiner törichten Tat. – Wie ich Dir dies übelnahm! Und bedenke: ich wußte, oder vermeinte es zumindest!, daß Du von mir ja keine gute Meinung pflogest, bezichtigtest Du mich unter anderem ja der Großsprecherei und verkündetest doch, Du hättest mich ganz «durchschaut». Auch Henrietten pikiertest Du aus dem Hinterhalt – einen Menschen, den ich aus der Seele liebe wie keinen zweiten: allein ein Wonneweib kann mir die Seel‘ erweichen!! – den Müller, Pfuel und mithin Ulriken selbst lieb‘ ich aus dem Geist: es sind mir hinlängliche Karyatiden meines brüchigen Gemütes! Welche Anmaßung, welche Frechheit also! Ich regte mich dadurch ab, indem ich Dich vor meinem Innern einen blöden Gauchen nannte, ein ungesalznes Suppenhuhn: was Du natürlich nicht bist – ich denke, Du verzeihest mir im Gegenzuge dieses. Warum kamst Du nicht einfach gerade und ehrlich auf mich zu, versetztest Deine Denkungsart und nähmest den Gegenwert in meiner Münze heim, der Münze eines wahrhaften Revisors? Hintenrum – hintenrum – das hasse ich, und das darf nie wieder sein! Drittens: Ich habe bei unserer letzten Begegnung, Du erinnerst, bloß abgeklärt, ob Du wenigstens auch – wenn Du schon austeilest – was einstecken kannst. Aber Fehlanzeige. Vielleicht magst Du Dich an das Essen erinnern, ich war leicht beschwipst und es wurde über das Kriegshandwerk gesprochen: dort habe ich einen ganz, ganz feinen Nadelstich gesetzt – den Du nicht «goutiertest». Du warst im Ganzen ein wenig gereizt und hast mich getadelt, weil die Gabel noch unschicklich aufm Teller läge etc. – um nicht reagieren
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zu müssen, habe ich mit der Katze gespielt, die meinen Schoß belegte (ach Gott! was bin ich ein Unglücksrabe: es sind immer bloß die vierbeinigen Katzen, die «meinen Schoß belegen»). Die letzte Prüfung, die für Dich gesprochen hätte, hast Du verpatzt. Ich war mehr als sauer. All dies nun sei vergeben und vergessen: mein Ehrenwort darauf! Ich gebe jetzo Dir Maßgaben vor, die ich in einem vertraglichen Handschlag besiegelt haben will! Der Vertrag ist simpel – er gründet, wie unausgesprochen alle Beziehungen zu Menschen, die ich mag, auf der Basis von Geradheit, Treue, Ehrlichkeit: das Wort der Treue beinhaltet lediglich in einer Liebesbeziehung zu einer Wonnebraut dies, was man gemeinhin darunter verstehet: hier meint es – Treue zu den beiden Punkten Geradheit und Ehrlichkeit; der einzige Unterschied betrifft die Verhaltensweise: gegenüber Müllern ist sie anders ausgestaltet als gegenüber Ulriken und jetzo … gegenüber Dir. Die Artung des Wesens, das Dir vergönnt ist, mag ich sehr: damit habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten, pflege ich doch sehr schöne wie feinsinnige Verbindungen zu Menschen, die ebenso diese kraftvoll-ehrliche Geradheit an den Tag legen! Ich mag sie wirklich, diese Artung: sie wirket auf mich als heilbringende Provokation, als Kampfansage (wobei dies nicht falsch zu verstehen ist: für mich ist alles Kampf, Auseinandersetzung – das ganze Leben, womit Kampf hier im weitestmöglichen Sinne gedacht sei. Im engeren und üblichen Sinne gesprochen ist es Krieg, was ich hier selbstverständlich nicht meine), als belebendes Element. Aber ich muß auch zurückschlagen dürfen, ohne daß man mir dies übelnimmt – deshalb habe ich nachfolgende Lösung erarbeitet: Du darfst mir gegenüber so sein, wie Du bist. Keine Einschränkungen, keine Rückstellungen – Du kannst mit mir über alles reden; Du darfst mir den zehnpfündigen Stahl von vorne durchs Gekröse treiben; Du darfst mich fodern, soviel Du willst – ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß, wenn Du gerad und ehrlich bist, wenn Du somit diesen Vertrag akzeptierst, ich Dir nichts übelnehmen werde. Schlimmstenfalls kann es sein, daß mich vielleicht mal was ärgert – und umgekehrt! Aber dies ist nicht das geringste Hindernis im weiteren Verfolg.
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Im Gegenzuge werde ich nicht auf der Schnauze sitzen: – das Schicksal hat mich oft genug gezwungen, das Maul zu halten, aus verschiedensten Gründen: bezüglich Deiner hieße es, mit ungleich langen Spießen zu kämpfen. Deshalb kann es schon mal sein, daß es heftig und deftig wird – doch ich gebe Dir nochmals mein Ehrenwort, und dies ist alles wert!, daß es nie böse, nie übel wird; dies ist völlig ausgeschlossen. Und selbst wenn ich kurz vor der Gemarkung stünde – dann würde ich meine Mannen freiwillig als wie rechtzeitig zurückbeordern, zumal getroffen zwar schon werden soll, nicht aber getötet! Fodre mich also nur heraus und auch wenn Du gehörig mit den Zähnen fletschst, meine Liebste – ich pariere; die regelnde Verfügung hast Du nunmehr in der Hand – jetzo fehlt‘s bloß noch an Empirie. Es kann alsogleich sehr gepfeffert werden und derart windig, daß Dir Dein Haupthaar ab und an zu Berge stehen möge – doch der Pfeffer wird gesund, die Wind‘ erfrischend sein! Ich halte das ohne Schwierigkeiten aus, wofern eben Klarheit herrscht; sonst wird das Ganze zu einem verdrucksten Gemurkse … – Also: Ich werde Dir nichts übelnehmen; aber ich brauche per Handschlag von Dir das großmütige Versprechen, daß Du mir auch umgekehrt nichts übelnehmen wirst, wenn‘s mal deftig werden sollte – denn hinter dem Berge werde ich bestimmt nicht halten. Es gibt mithin ebenso die Möglichkeit, daß wir uns beide aus dem Wege gehen – dies wäre mein Wunsch jedoch nicht; zudem, denke ich, ist für alle ein offener Austausch interessanter und natürlichrichtig. Da ich kein Zimperlätzchen bin und Du nun die Erlaubnis hast, mit voller Weibeswucht aufzubegehren, wird es selbst für Dich eine aufschlußreiche Erfahrung sein, wie ein altgedienter Offizier das Schwert wohl führen mag. Nun, sei keine Memme und schlag‘ ein. Bei Bedarf kannst Du noch etwelche Modifikationen beibringen – und dies jederzeit. Eins jedenfalls ist gewiß: So, wie wir uns bisher begegnet sind, werde ich Dir nimmermehr begegnen. Virgil verläßt Dich nun, der Dich führte die schmalen Pfade des Läutrungsbergs hinan. – Mit Deinem Ansinnen wider mich befin-
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dest Du Dich längst im Paradies; ich für meinen Teil bin gezwungen zu warten, bis Dantes Beatrice – bei mir Brünnhild geheißen, das Paradies Walhall – erscheinet; im Geiste tat sie‘s längst, erahnest Du, wer‘s ist?? – bis dahin trag‘, wie Atlas, ich die Welt … und stehe! Lauter ist dies Schreiben – geläutert beider Teile Taten, die meinen wie die Deinen; es ist kein Arg noch Falsch in diesen Zeilen, bloß ein schweres Element, das aber weis‘ sich mischet mit den sich widerstrebenden Fundamenten meines Wesens; und das Ganze wird zusammengehalten und in eine Form gegossen durch – meinen strengen Willen! Allein: sei dessen eingedenk zum Dritten – Du glaubst, Du kenntest mich; in Wahrheit faßt Du nicht einmal ein Haar von mir; Du wägst, vermeinst, glaubst, fühlst – alles falsch, doch es sei Dir vergeben! Dies Eingebinde meiner Natur wälze ich allein vor meinem Innern: und zu meinem Glück weiß ich mich beobachtet, geprüft, erkannt in jedem Augenblick in meinen Gedanken, Gefühlen und in meiner Tat – beileibe: alle dreie sind lange nicht durchgängig rein, doch adelt mich mein Wollen und mein redlich Mühen – durch der Schöpfung Allnatur! Zum Beschluß ein Rätsel, mein allerliebstes Jettchen, das keines ist; sonach sprech‘ ich mit meinem Freund Virgil: Felix qui potuit rerum cognoscere causas Atque metus omnis et inexorabile fatum Subiecit pedibus strepitumque Acherontis avari. Selig, wem es gelang, die Gesetze der Welt zu erkennen, Wer, von Beängstigung frei, das unerbittliche Schicksal Und des gierigen Acheron Rauschen zu Füßen sich legte! Hörst Du dies Rauschen? ICH bin der gierige Acheron – die Seligkeit – und … das Gesetz der Welt! Liebste Grüßlein an mein Herzens-Jettchen
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Im Sommer 1811 hatten sich die wenigen wirklichen Freunde nach allen Himmelsrichtungen hin verstreut: von Arnim verheiratete sich mit Brentanos Schwester Bettina und zog sich zurück; mein treuer Weggefährte Müller ging nach Wien ab; Marie von Kleist, meine edle Busenfreundin, verzog ins Mecklenburgische: – die Einsamkeit wurde vollends absolut, und unerträglich war das Leiden und die Leere, welche, schwer wie Senkblei, sich in meines Herzens Tiefe unaufhaltsam absenkte! Ja sogar Ulrike hatte sich mittlerweile ganz und gar von mir entfremdet – wohl durch meine alleinige Schuld; ich habe sie kaum je über meine wahren Beweggründe aufgeklärt; ich teilte ihr lediglich mit, was ich als unabdingbar erachtete: seit geraumer Zeit hielt ich sie von meinen Plänen und inneren Zuständen gänzlich fern: schließlich dürfte die Aufwiegelung des Restes der Familie gegen mich unserer Beziehung den endgültigen Todesstoß versetzt haben. – Ich saß tagelang, von morgens frühe bis abends spät, in meinem kleinen, stickigen und dunklen Zimmer in der Mauerstraße 53: ich arbeitete an meinem zweibändigen Roman, von dem ich mir ein wenig sattsamere Einnahmen versprach als von meinen Erzählungen; oftmals arbeitete ich im Bette, um an der Feuerung zu sparen, die ich mir kaum mehr leisten konnte; mittlerweile konnte ich mir (was wenigstens früher ab und an noch möglich war) keine zwei nahrhaften Mahlzeiten am Tage gönnen: meist gab‘s bloß eine dünne Suppe mit Brot. Ach! – und dies soll ein Leben sein? Verbindungen zur Außenwelt pflog ich kaum mehr, und etwelche Nachrichten, es sei denn miserable, erreichten mich in meinem elfenbeinernen Turm nur ausnahmsweise! Ich ward von der Welt gänzlich abgeschnitten, fühlte mich wie ein lebendiger Toter: und die stummen, trocknen Klageschreie hallten wider in mir selbst. Einem rührigen Geiste wie mir kann der Halbschied dieses Daseins, das ich führe, nicht die Erfüllung bieten, nach der er sich sehnet: gestalterisch, schöpferisch, umtriebig möchte er sein – und glücklich in Ausübung der saftvollen Tat; statt dessen sieht er sich in das Korsett drückender Zwänge und Nöte gepreßt, gebunden: bis zur Erstickung schnürt es sich immer enger und lähmt die Lebenskräfte; Luft mir! – Luft … Die einzige noch einigermaßen erheiternde Abwechselung bot die intensivierte Brieffreundschaft mit Marie, welche mir immer
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inniger ans Herz wuchs; ebengleich die wöchentlichen Treffen mit Henriette Vogel konnten mich noch ein wenig trösten: im Gesang, in der Musik fand ich einen wie von Ferne mir ins Herzen einleuchtenden Trost – Trost in einer Welt, in der ich mich entwurzelt und unendlich einsam fühle – unendlich, unendlich einsam … ! Obzwar Marie und ich uns ein wenig in die Haare gerieten – sie behauptete unter anderem, daß sich einige bestimmte fixe Ideen, wie namentlich meine Todessehnsucht, ins Krankhafte steigerten –, tat dies unserer trauten Freundschaft keinerlei Abbruch; im Gegenteil – die Auseinandersetzung schmiedete uns nach einigen klärenden Worten noch mehr zusammen, und ich glaube, die sich dadurch aufdrängende Aussprache und Klärung hatte in der Folgezeit eine tiefe und reinigende Wirkung auf die seelische Verbundenheit, die wir seitdem untereinander pflogen. Gerne wäre ich mit meiner Marie in den Tod gegangen: ich trug ihr dies Ansinnen bereits zum dritten Male an, das sie ebenso viele Male ausschlug. Wohl dachte sie, es wäre eine reine Marotte, welche ich in meinem Busen wälzte, oder aber sie verdrängte die Ernsthaftigkeit meines sich immer eindringlicher ausprägenden Wunsches! Einerlei, sie dachte nicht daran, hierauf näher einzugehen. – In einem dazu indirekten Zusammenhange sonderte sie bei einem unserer letzten persönlichen Treffen vor ihrer Abreise nach Mecklenburg einige Unziemlichkeiten und Spitzen ab (das heißt: ich war, einmal mehr!, allzu überempfindlich, wie es leider immer häufiger vorkam – mein Herz krümmte sich qualvoll, unter allem erlebten Gram eines ganzen unerfüllten Lebens, in sich selbst zurück und ließ sicherlich einiges an Unrecht gewähren, welches ich früher unterdrückt hätte), worauf ich mit dem nachfolgenden Brief replizierte:
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Berlin, 18. Juni 1811 Allerliebste Marie, vortrefflichste aller Frauen! Mich hat kürzlich sehr gekränkt, daß Du meintest, meine Ausführungen, das deliciöse Thema betreffend, seien Dir «wie völlig verstört» vorgekommen; denken darf man‘s; sagen sollte man‘s nicht! – Diese Deine Bemerkung stellte unumstößlich fest, daß Du mich nicht begriffen hast!, und deswegen möchte ich mich vor Dir rechtfertigen: denn Du bist mir der alleinige Mensch, den ich für wert befinde und solcherart in die Tiefe liebe, daß es mir ein brennender Herzenswunsch ist, das Bedürfnis einer liebenden Seele, daß er mich – wenigstens in etwa, in einer reichlich groben Annäherung ans Wirkliche – verstehe. Ich gebe mir die ernsthafteste Mühe, Dir einige meiner tiefsten Gedanken nahezubringen … – sollte es mir lediglich um ein Gran gelingen, wäre ich bereits glücklich zu nennen! Ist es nicht so? liebe Marie: Der Mensch vermag bloß ein EntwederOder zu denken. Doch in Tat und Wahrheit ist es das Sowohl-alsAuch, welches die Welt beherrscht, wie ich es Dir gleich aufzeigen werde; denn es ist nach meiner Erkenntnis, welche ich durch meine Träume bestätigt finde, die weiter unten nachfolgen, wahrhaft solcherart gefügt, daß das Ich in seiner Vergottung auf alle Fälle die Gottheit in ihrer realen Ganzheit nicht nur verstehen kann, sondern sie selbst ist!! – Es ist dies ein gleichermaßen schwieriger als schwerwiegender Gedanke, zugegeben, aber eigentlich ganz logisch: es ist der Janus-Kopf derselben Münze. Nur eins gestehe ich Dir natürlich zu: Diese Anschauung und Erkenntnis ist vor allem in der menschlich-bezogenen, praktischen Tätigkeit die weitaus gefährlichere; wieviel leichter dagegen ist es, irgendeinem Glauben zu huldigen, der sich an einer unbewußten Geborgenheit labt – diesen Typus Mensch beneide ich! Der Hauptunterschied ist geschwinde aufgedeckt: denn wenn man die Sachverhalte nicht klar nach ihren Prioritäten aufzutrennen weiß, wenn man folglich nicht versteht, die Tiefen nach allen Seiten auszuloten, ist der Schritt in den Größenwahn der geringstmögliche nur
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denkbare! Während der eine sich als Teil der Gottheit denkt – also der Gläubige, der sich zurücklehnen kann – denkt sich der andere als Gott selbst: wohin dies führt, zeigt Dir das Beispiel Napoleons! Deswegen muß letzterer viel strenger alle Sachverhalte gegeneinander abwägen, um nicht einer Chimäre aufzusitzen; dieser leidet folglich aktiv, während der Gläubige passiv leidet. Wir beide, liebste Marie, um ein weiteres Beispiel zu bemühen, sind in höchstem Grade verschieden und doch – im Ziele geeint! Ich bin Dir der Janus-Kopf, wie ich jeglicher Wesenheit zu jeglichem Zeitpunkt in jeglicher Form immer der Janus-Kopf sein werde – selbst mir! Ich gebe sehr gerne zu, daß ich viel von Dir gelernt habe, meine liebste Freundin; und noch mehr – ich liebe die Anregung: und Du warst und bist mir fortwährend, unter Menschen, die höchste, beste und liebste Anregerin gewesen; eine weitere Anregung waren mir all die andern Frauen, mit welchen ich in meinem Leben zu tun hatte – und die höchste überhaupt: die Schöpfung, die Natur selbst! Mein Schicksal ist aus den benannten Gründen ein schweres, zumal ich den einsamsten aller Wege begehe! Während etwa Napoleon nach außen wütet, berserkre ich nach innen: und beides ist falsch. Nur liegt es nicht in meinem Wesen, anderen absichtlich zu schaden – lieber schadete ich mir selbst. In qualvollster Anstrengung versuchte ich immerfort, die Waagschale in ein Gleichgewicht zu bringen: die Harmonie – o! was beneide ich diese Gläubigen, die sich nicht mit Zweifeln abmühen müssen; die in Blindheit sichern Fußes vorwärts schreiten, ohne der Abgründe gewärtig zu sein, und sich deswegen nicht zu fürchten brauchen! – Ich, liebste Marie, bin und werde nie mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen sein: dieses «Darüber-Hinaus» zahle ich allenthalben entsprechend – mir würde es genügen, und es wäre wahrlich in dieser Verkörperung meine Erlösung!, wenn mich eine Frau so liebte, wie ich eben bin: in gewissem Sinne wäre es ein ebenso hohes Verstehen, wie Du mich als einziger Mensch ziemlich weit aus dem Geiste heraus begreifst: ich bin gar nicht erpicht darauf, daß ich von irgend jemandem in «den höheren Etagen» meines Denkens begriffen werde; dies würde mir zeigen, daß ich wieder einen Schritt weiter gehen muß – denkt einer wie ich, ist dies mir ein Greuel, zumal ich dann nicht mehr
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das «Darüber-Hinaus» wäre: diese Verfahrensweise ist allerdings ab einem gewissen Grade unfruchtbar, und man muß zwangsläufig seinen lebenswerten Kompromiß erkunden – am liebsten, ich verrückter Kerl, würde ich das Rad neu erfinden: allein, wie unnötig! – Ich bin ein Wesen, das für schwierigste Fälle geboren wurde – zudem bin ich mir selbst die höchste Herausforderung! Meiner Meinung nach verhält es sich einfach dergestalt: Ab einem gewissen Punkte der Entwickelung, die sicher irgendwo im Weltall liegen wird, stellen sich gewisse Fragen gar nicht mehr – beziehungsweise: sie werden in der fruchtbar-schöpferischen Tat des allgegenwärtigen Austausches an Erzeugnissen aufgegangen sein. Mit dem «Darüber-Hinaus» meine ich eben, daß diese Widerwärtigkeiten, mit denen wir uns hier abmühen, auf höherer Ebene aufgelöst sein werden – kurz: diese Fragen und alle Mühsal werden dereinst im eigentlichen nie existiert haben – sie werden nur dazu gedient haben, sich die geistigen Muskeln zu stärken … Kritisch höre ich Dich fragen: Was für einen praktischen Wert sonach diese Art der Erkenntnis habe? – Das könnte ich Dir in die Tiefe erklären, doch das dauerte zu lange; für mich ist sie von höchstem praktischen Werte – und da muß man mich einfach nach meinen Taten beurteilen, was genügen sollte; ein anderer Nutzen daraus: ich muß immer ich selbst sein! Es drängt und nötigt mich geradezu, immer einen Schritt weiter zu gehen als alle andern – es ist vielleicht eine ausgestaltete Form seltenen Pioniergeists! Ich muß immer das «Andere» sein – mein Wesen ist das «Darüber-Hinaus», und was ich jetzt sage, scheint ein logischer Widerspruch (aber es ist das Sowohl-als-Auch): Ich bin als Ich der Schöpfung selbst das «Andere» – dies entspräche dem Aspekte, daß die Schöpfung selbst die Zukunft nicht kennt … – Das «Andere» zu sein heißt in meinem Falle ebenso: Ich bin das Außerhalb des Janus-Kopfes, und darin liegt oftmals die Wurzel unserer Mißverständnisse begründet. In der Tat: Du siehest, wie komplex das Ganze ausgelegt ist! Im strengen Sinne kann ich eigentlich – was in der Natur der Sache liegt – gar nicht linear erklären, was das alles bedeuten mag: darum
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bitte ich immer aufs neue – prüfet mich: verdeckt oder offen, aber prüfet mich!, vor allem, wenn ihr mich irgendwo nicht versteht, wo es wichtig für euch ist. Ich könnte Dir mit vielen Worten reichlich genauer erklären, was ich meine, wenn ich vom «Anderen» spreche – doch das bräuchte zu viel Zeit und Worte (exakter: unendlich viele!): ich aber tue lieber; diese Richtigstellung war mir gleichwohl wichtig: ich liebe Dich so sehr, daß ich Dir wenigstens einen Erklärungsversuch anbieten mußte, meine göttliche Marie! – Zudem: selbst nach dem Studium von tausend Bänden würdest Du mich nur unwesentlich besser verstehen; entweder ahnst Du aus Deiner Seele heraus, was ich hier bloßlegte, und dann kannst Du mir näher nie sein; oder Du begreifst es nicht, und dann hülfen Dir nicht einmal die gesammelten philosophischen Erkenntnisse von 2000 Jahren. – Ich denke, es genüget also! Und endlich: man findet zu meinem Wesen ohnehin den unmittelbarsten und tiefsten Zugang über meine literarischen Werke, die gleichzeitig mein Testament bilden: besonders in der «Penthesilea», dem «Käthchen» sowie im «Guiskard»! Doch nun geradewegs zu zwei wichtigen Träumen der letzten Zeit, die ich Dir gerne noch schildern möchte und welche Dir vielleicht noch tiefere Aufschlüsse beuen! – Für das, was jetzt folget, muß ich Dir zur Kenntnis bringen – auch wenn‘s klar sein sollte –, daß sämtliche Abläufe als gleichzeitig aufzufassen sind: im eigentlichen kann ich Dir das Erlebnis nur gröblich umschreiben – es war überwältigend: Ich bin Ich als Heinrich; gleichzeitig bin ich aber auch die anderen Personen und Dinge – ich weiß, was sie denken und fühlen, wer sie sind; ebenso schwebe ich als Es «wie ein Geist über den Wassern» und bekomme als Es mit, daß ich als Heinrich erkenne, was die andern denken, wie ich zur selben Zeit als Heinrich erkenne, wie Es als Geist über den Wassern schwebt und mich erkennt, die Umgebung erkennt – und umgekehrt: Ich Es erkenne, wie es ich selbst ist, ohne ich zu sein: ich bin in der ganzen Umgebung, die Umgebung scheint in mir zu sein – trotzdem handeln alle Wesenheiten individuell. Als «Geist über den Wassern» erkenne ich
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als Es, wie die Tätigen sich individuell sind; sich untereinander als jeweils arteigenes Ich erkennen und sich gegenseitig sie sind, ohne sie zu sein (also ehrlich gesagt: das klingt schon ein wenig kraus – als Erlebnis kann ich es schlicht nicht beschreiben, es war eine Art von Namenlosem, eine Art Glück – es war schlicht faszinierend: ich kann es nur als absolute und höchste Faszination bezeichnen!). Gleichzeitig also erkenne ich, daß ich der «Geist über den Wassern» als Es bin und wie der Geist über den Wassern sich selbst beobachtet, zudem wie er sich beobachtet als absolutes Ich in aktiver wie passiver Tat – wie ich die Umgebung beobachte, wie sie sich, mich beobachtet – wie wir uns allesamt gleichzeitig gegenseitig beobachten und handeln! Es scheint eine Art von Spiegel-Effekt, wobei alle Parteien sie selbst selbst und sich gegenseitig sie selbst sind, ohne sie selbst zu sein! – Vor allem war aber eine Weise von unerklärlicher Harmonie vorherrschend: es gab keine Fragen, nur eine ungeheure Genialität von Beobachten und Handeln – ich erlebte mich noch nie dergleichen fasziniert … Kurz: Ich bin Es und Es ist ich – dreifach aktiv handelnd sowie passiv die Handlungen in Beobachtung erlebend als Es / Ich und Umgebung (derart ist es wohl am klarsten ausgedrückt: also ein dreifaches Zusammenfallen von Objekt und Subjekt), wobei keine Wesenheit der drei im Innern – dergestalt erlebte ich es; denn im Äußern war ja «der Geist über den Wassern» als absolutes Ich hierarchisch vorrangig – einen Vorzug hatte: es war eine Formung von Einheit, wobei ich dieses Erleben der Einheit nur sehr kurz hatte und dann oftmals von diesem zu jenem Spiegelpunkte sprang – manchmal als Heinrich dachte, als Geist, als irgend jemand in der Umgebung; und je mehr es dem Aufwachen zuging, stellte ich mir Fragen und beantwortete sie mir zum Teil auch gleich telepathisch vermittelst der Umgebung – offenbar wurde der endliche Teil allmählich wieder seiner bewußt etc. etc. Ich empfand eine Tiefe und war von einem Glücksgefühl beseelt, welches es mir ermöglichte, meinen «Homburg» zu schaffen: in dieses Werk goß ich soviel davon, als ich eben vermochte …! Ja, in meinem Homburg stellen sich meine inneren metamorphotischen Vorgänge in ihrer wahrhaften Gestalt dem Leser dar – ich verwandle mich; in mir geht etwas höchst Seltsames, ja Absonderliches vor!
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Ich spüre es, und ich gehe diesem wunderbaren Ereignis, trotz allen Mißmuts und aller Verzweifelung, mit innerer Freude und großer Zuversicht entgegen … Natürlich ist mir klar, daß dieser geschilderte Traum, rein von der Logik aus betrachtet, nicht meine Meinung vom Jenseitigen, von meinen Idealen bestätigen muß – und daß ich in diesem Traumgesichte die ganze Zeit über das individuelle Ich war und nicht die Gottheit im Gesamten, ist ja ebenso klar: doch ich sah in ihm die klarste Bestätigung von dem, was ich für mich schon lange vermittelst Durchdenken und Erleben meiner Leiden an Erkenntnissen erzielt habe. Zudem – wie früher erläutert, Du entsinnest Dich? –: auf der höchsten Ebene ist die Argumentation folglich einfach der Janus-Kopf: denn ob ich sage, individuelles Ich und Gottheit fielen zusammen und seien die Gottheit im Ganzen, ohne die Individualität zu verlieren – oder: das individuelle Ich würde die Gottheit als Wesen erfassen, ohne die Gottheit im Ganzen zu sein, ist eine rein «akademische» Frage ohne Gewicht: abgesehen davon ist es beides gleichzeitig: das Sowohl-als-Auch und das Entweder-Oder! (Wobei Du mehr der einen Seite zuneigest – ich der andern.) Ein gänzlich unheimliches Traumgesicht hatte ich noch – es zeigt meinen Mut und einen weiteren Aspekt meines Pioniergeists, aber wohl auch einige Schwächen und: daß die Zeit noch nicht reif ist! – Ich wohnte in irgendeinem Häuschen mit schönem Garten und freier Aussicht in den Sternenhimmel; ich wünschte mir – auf dem Gartenstuhl sitzend und in den Himmel blickend – die Vereinigung mit dem Ewigen; eigentümlich, es ist mir im Traume nicht aufgefallen, daß dies von der Logik her ja nicht angehen mag, dies ja erst im Zustande der Vergottung möglich ist etc.: ich wußte allerdings wohl, daß es gefährlich werden kann, aber außer davor, daß ich meine Aufgabe nicht erfüllen könnte, habe ich eigentlich vor nichts Angst: da begann sich urplötzlich der Sternenhimmel in einer ungeheuern Dynamik zu drehen, und zwar immer schneller und schneller: ich sah, wie sich alles auflöste! Alle Atome zerbarsten in alle nur denkbaren Richtungen – ein gewaltiger, alles umfassender Wirbel entstand und kam der Erde immer näher (Du
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mußt Dir es folgendermaßen vorstellen: die Dynamik des Wirbels und der Drehungen war nach allen nur möglichen Seiten gerichtet und gleichzeitig von überall ausgegangen sowie von unendlicher Geschwindigkeit und Kraft); alles begann sich nunmehr in meiner näheren Umgebung – wie eine Warnung: zunächst ganz langsam – aufzulösen. Ich überlegte, ob ich das Ganze aushalten solle, um zu erleben, was passiere – da überfiel mich eine unheimliche Todesangst; keine gewöhnliche – denn bei solcher Angst hieße es: Zähne zusammenbeißen und durch – nein, diese Angst war unbeschreiblich, schlicht unheimlich, unfaßbar: die Wirbeldrehungen wurden noch gewaltiger; alles schien in eine Art Nichts zu fallen: ins vollständig Unbegreifliche; der Boden unter der Erdenkugel wurde löchrig; ich konnte zusehends durch die Löcher der Erde in etwas Namenloses blicken … – Nun dachte ich: «halt ein» – und der Traum war vorbei … Mir ist einsichtig, daß das Endliche hierin dem Unendlichen begegnen wollte, was ja nicht statthaben kann; eine dergestalte Tollheit kömmt wahrscheinlich auch nur mir in den Sinn, nicht wahr? Dies ist lediglich eine derjenigen Gefahren, von denen ich Dir sprach, meine Liebe; deshalb wohl pflanzte mir auch ein göttlicher Daimon eine gänzlich andersgeartete Furcht ein: die Furcht davor nämlich, meine Aufgabe, meine Bestimmung nicht zu erfüllen, sie zu verfehlen! Im Jenseits meines Traums wurde ich einer weitaus ungestümeren Angst vor dem «Unheimlichen» gewahr, die mich von dem Äußersten abhielt. – Wenn man im übrigen bedenkt, daß ich in meinen Traumgesichten bereits mit den abscheulichsten Ausgeburten, ja erschröcklichsten Monstren und Teufeln gekämpft habe (und dort, nebenbei, keinerlei Ängste auszustehen hatte): und dies in zarten Kindheitsjahren!, so kannst Du Dir die ungeheuren Kräfte besser einbilden! – Ich erkannte nach dem Aufwachen, daß sich wohl bald mein Schicksal erfüllen würde: zumal sich die diesseitigen Ängste und Sorgen verflüchtigen – ich spüre mich meiner Erfüllung entgegengehen … Es ist ein wenig widersinnig: Ich kann wirklich die ungewöhnlichsten Dinge denken und verstehen – und dennoch muß ich darüber schweigen, weil alles in heillose Konfusion geriete, spräche ich die
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Dinge an; so bin ich in mich selbst gekapselt – und gleichzeitig habe ich mit dem Einfachsten die größten Schwierigkeiten zu bekunden. Jeder Tor war bereits mal mit ‘ner Frau zusammen – bloß ich nicht; jeder Tor kann sich bei genügender Tüchtigkeit durchbringen, vermittelst eigner Arbeit – bloß ich nicht: solcherart bin ich etwa von Ulriken und Dir sowie dem guten Willen einiger weiterer Freunde abhängig – bei allem Respekt, Du weißt nicht wirklich, was Demütigungen sind und in welcher Weise sie von einem Wesen wie mir empfunden werden müssen; aber wahrhaftig, dies scheint das andere Ende der Fahnenstange, der Preis zu sein, den ich einzulösen und zu zahlen habe. Nun, bei alledem müßte man wohl oder übel meine Tüchtigkeit anerkennen – nur erkennt sie niemand (außer zum Glück das Ewige selbst, was mir notgedrungen zu genügen hat): selbst Du lobst mich für völlig belanglose Dinge, und die für mich wichtigen «Lorbeeren» scheinest Du kaum zu erspähen, geschweige denn zu würdigen; dies ist nicht wichtig, aber manchmal ärgerlich oder beleidigend. – Hauptsache, Du lobst mich wenigstens über den Klee in anderen Belangen: Du weißt, was ich meine … Dies ist alles, wie erwähnt, kein wirkliches Hindernis zwischen uns, da wir im Ziel geeint sind; in diesem Brief mußte ich Dir einfach nochmals meinen Standpunkt nahebringen, weil mir durch Deine Äußerungen wieder klar wurde, daß, trotz unseres Berliner Gespräches, Du nicht verstanden hast, worum es mir im Praktischen und Wesentlichen geht (daß Du den Gedanken, die «Idee» nicht ausmitteln kannst, willst oder darfst, stört mich überhaupt nicht – im Gegenteil; als das «Andere» störte es mich direkt, wenn ein zweites Wesen in die gleiche Richtung ginge: ich gehe immer Wege, die noch niemand in irgendeiner Form je gegangen ist; dies ist das Interessante, Neue, Andere; das macht den wahren Wert meiner aus) –, nämlich alleine um meine literarische Arbeit, die eine Ergänzung zum Alltäglichen unserer Epoche darstellen soll, um auf ein erweitertes, neues Menschenbild hinzuwirken! Denn vermöge meiner ausgesondert-eigentümlichen Anlagen wage ich mich, allem zum Trotz, an Dinge heran, welche selbst die größten Dichter und Denker bis anhin aussparten oder an die sie gar nicht
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erst eine Idee verschwendeten: mein Blickwinkel ist – Du begreifst den Humor? – nicht von dieser Welt! Ach, liebste Marie, meine einzige und edelste Busenfreundin: ich hoffe um ein liebes Weib; das würde mich milder und harmonischer stimmen (ohne daß ich den Kampfstachel verlöre) – als Mensch habe ich eigentlich dasjenige im Persönlichen erreicht, was unter solch mißlichen Umständen überhaupt möglich war: ich habe für mich begriffen, «was die Welt im Innersten zusammenhält», obgleich ich mir innerlich dennoch fremd bin, rätselhaft und dunkel! – Kein Widerspruch, weil in der Lösung enthalten! Ich möchte bloß noch Taten tun, welche zwar in dieser grimmen Zeit und bei meiner Mittellosigkeit höchstens eingeschränkt möglich sind – und eine Frau an meiner Seite würde mir diejenige Abwechselung beuen, die ich bräuchte, um mir nicht immer selbst auf den Leim zu kreuchen. Wäre ein liebes Weib jetzo zur Stelle gewesen, hätte ich gedacht – ach, Blasius, keine Zeit, einen solchen Brief zu schreiben – knuspern wir lieber an uns selbst herum … Vielleicht erscheinen Dir diese Zeilen unnötig? – aber stets, ohne Unterlaß! Unglück sowie Undank erdulden ist reichlich zermürbend. Ich sah mich gezwungen, ein paar Widerworte zu Deinem Geäußerten zu verfassen: es wird in der Welt immerfort Mißverständnisse geben, schwerwiegende und leichtere; und ich werde, wie eigentlich immer, seltenst darauf reagieren: sei dessen einfach eingedenk, was hier zur Sprache kam – denk bei auftretenden weiteren Mißverständnissen, was Du möchtest, aber vermeide bitte Kränkungen, welche meiner arg gebeutelten Seele so wehe tun – auch wenn sie nicht so gemeint sein mögen und ich sie Dir nicht übelnehme, da ich Dich mit meinem ganzen Herze in die Tiefe liebe!! Wenn ich also diese eine liebevolle Frau in meinem Leben gehabt hätte, würde ich diesen Ausspruch von Dir gar nicht als Kränkung empfunden oder aus dieser eine Pusteblume gebastelt haben, um mich an eine andere «Blume» heranzumachen … – aber hätte ich diese Angelegenheit unter den jetzigen Umständen in mich hineinfressen sollen, wie ich es fortwährend tat? Ich besitze eine an sich
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gute Verdauung, aber irgendwann stinkt‘s mir, in meinen ideellen als auch rein praktischen Bestrebungen stets nur mißverstanden zu werden, was zwar wohl überwiegend an mir liegen mag, zugegebenermaßen – aber eben auch daran, daß Du sehr oft nur das hörst, was Du hören willst. – Dies ist aber, sei getrost!, ein Makel, der die ganze Welt betrifft – ein jeglicher höret nur das, was er will oder kann, wofern er überhaupt was höret! Daß alles jederzeit in die Binsen gehen kann – dessen bin ich mir gewiß: ich bin das Wesen, welches überall, wo es hingehet, die Gefahren mit sich führt, weil es das «Andere» in voller Bewußtheit lebt: ich muß bald einmal diese offenbar in dieser Verkörperung für mich schwierigste Frage lösen; Du weißt, welche … und ich spüre, daß sich in Kürze entweder alles zum Guten oder Schlechten entscheiden wird! Dein Dich über alles verehrender Heinrich
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Marie besaß noch immer einigen Einfluß im Königshaus und versuchte bei Hofe abermals zu meinen Gunsten zu intervenieren, derweil sich die politische Lage derart zuspitzte, daß sich mein Vaterland genötigt sah, mit Frankreich oder Rußland in ein Bündnis einzutreten, zumal das Abkommen zwischen Napoleon und dem Zaren Alexander auseinanderzubrechen drohte: in einem solchen Falle könnte Preußen unmöglich mehr neutral bleiben. Die Reformkräfte drängten mit Nachdruck auf einen Verteidigungskampf gegen Frankreich, und Neidhardt von Gneisenau – der kurz zuvor in den Staatsrat berufene bekannte Militärreformer – legte dem König eine gepfefferte Denkschrift vor. – Unter solcherlei günstigen Auspizien reichte ich ein Gesuch um Wiedereinstellung als Offizier in den Wehrdienst ein, wofür mir Marie als Mittlerin Pate stand und sich für mich verwandte; eine solch gewichtige Fürsprache verfehlte ihre Wirkung nicht! Wofern und sobald der Krieg einträte, sollte ich einberufen werden: also doch ein kleiner Hoff-
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nungsschimmer! Ich arbeitete an einigen politischen Aufsätzen zur Beförderung eines geplanten Volksaufstandes, welche ich persönlich Gneisenau sowie dem konservativen Politiker Friedrich von der Marwitz unterbreitete; doch schlug endlich selbst dieser letzte Rettungsversuch fehl: es sickerte durch, daß der große Zauderer, Friedrich Wilhelm III., seine Kriegsrüstungen eingestellt und einen Bündnisvertrag mit Napoleon in Planung hätte. Auf lange Zeit hin dürfte an eine Erhebung Preußens nicht mehr zu denken sein; es wurde grauenvoll, ja unheilschwanger stille in meinem Innern, und ich agierte lediglich noch wie in einem von fremden Mächten gelenkten Albtraum, als eine bloße Marionette an ihren Fäden! – Was soll nur aus der Welt werden? Alle meine Wünsche und Träume, meine guten Absichten und Unternehmungen versanken in einem namenlosen Nichts: was hatte ich denn erreicht? ich war am Ende meiner Lebensstraße angekommen, unabänderlich! Ich bin nunmehr dort angelangt, wo man vom Leben auf den Tod und vom Tode auf die Ewigkeit hinaussiehet; ich sehne mich so unendlich nach der verdienten Ruhe und Freiheit, welche mir seit Anbeginn fortzu verwehrt ward. – Die Narben meiner jahrzehntelangen Schindereien, Plackereien, Quälereien scheinen sich langsam wie schuppichte Haut von meinem Wesenskerne abzulösen, welcher sich einem geheimen Ziele zuneiget: vor lauter Seelenverletzungen läßt sich der Schmerz ohnehin kaum mehr empfinden – er erstirbt in sich selbst, zumal es eine Grenze des noch Fühlbaren gibt; der Schmerz wird nicht mehr weitergeleitet, die Nervenbahnen versagen ihren Dienst!, die Qual erstickt an ihrem eigenen Sinnen und Trachten, plagen zu wollen. Statt dessen breitet sich eine eigenartige Euphorie aus; ein warmes Gefühl des Weltenthobenseins durchströmt die zu Tode erschöpften Adern; alles nimmt eine lucide Leichtigkeit an, wie ich sie noch nie fühlte!! Ich spüre endlich, wie ich langsam, aber sicher die Räume vertausche: ich gehe festverfügten Schrittes vom Diesseits ins Jenseits, in eine andere Dimension; ich sehe jetzo, gleichsam in einer nahen Ferne, ein seltsam-heimisches Licht hell aufleuchten: eine Aureole, die alles Lebendige liebend umgibt …
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Eines Tages sprach ich, während eines gemeinsamen Gesangsabends am Pianoforte, mit Henrietten – mehrenteils trübsinnig als scherzhaft –, davon, daß ich dem ernsthaften Gedanken nachhinge, mich zu erschießen; just an eben diesem Tage wurde ihr, durch eine Indiscretion ihres Arztes, mitgeteilt, daß die Aussicht – sie litt an einem rasch fortschreitenden cancerösen Leiden der inneren weiblichen Organe – auf Heilung oder Linderung hoffnungslos sei; – worauf sie mich, mit klar formulierter Bitte auf der Zunge, aufsuchte! – von dieser Stunde an schmiedeten wir bis ins Kleinste am Plane, gemeinsam ins andere Reich überzutreten: voller Enthusiasmus, voller Freude und in einer Leichtigkeit der Seelen, die ihresgleichen sucht. Dergestalt also fand sich, gesandt vom Engel des gnädigen Schicksals, meine Begleiterin zum Tode! Ganz reif – von innen her ganz reif und rein waren wir zum Tode! Henriette bat mich sonach aus freien Stücken und reinster Überzeugung, sie möge meine Todesgefährtin sein – allein durch diese Äußerung ihres tiefen und ernsten Wunsches verwandelte sie sich unter meinen Augen in einen Cherub von Gottes rechter Hand: – unsägliches Glück und Wonne durchzuckte mich! Vereinigung im Tode, zusammen mit einem weiblichen Wesen: dies ist noch weit wunderbarer als der schöne Tod der Schlachten. Die Gottheit meinte es gut mit mir! Sie sandte mir den richtigen Engel zur richtigen Stunde: nunmehr ward sie reif, die Zeit! Im Augenblick der höchsten Sinnerfüllung verlieret alles seinen Sinn: denn das sind alles nur Worte, Worte! … Für mich hat die Unterscheidung von Diesseits und Jenseits nie wirklich existiert: wir Menschen sind einfach blind, die Wirklichkeit zu erkennen – nämlich daß beides eine einzige Welt darstellt! Wir spekulieren auf einen geheimnisvollen Zusammenhang und Austausch, wo in Wirklichkeit die Einheit! das wahre Wesen des Lebens ausmacht; wir denken uns ein getrennt Gefügtes, weil wir der endliche Teil eines ungeteilten Ganzen sind. Ich gab mir die allergrößten Mühen, in Wort und Tat – und allem voran in meinen Dramen – das Diesseits solcherart mit Sinn und erhabener Größe anzufüllen, daß es selbst für Menschenaugen in eine gesetzlich ausgerichtete Wechselbeziehung mit dem Jenseits treten möge; – ich wollte die Grenzen durchsichtig werden lassen, wollte das Un-
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sagbare bis zu einem bestimmten möglichen Grade dem Geiste näherbringen. Alles dreht sich am Ende doch nur um das Unendliche: alles sonst ist Schall und Rauch! – Denn das ist der inkarnierte Widerspruch: im Endlichen versuchen, des Unendlichen habhaft zu werden, es aufzudecken, mit der irdischen Wirklichkeit die jenseitige Wahrhaftigkeit zu vereinen! Den Preis, den ein solches Unterfangen zwangsläufig mit sich zieht, war ich bereit zu zahlen: auch wenn ich mich zunächst sträubte, selbst dies bezeichnet den Widerspruch, der eigentlich gar nicht existiert – wenigstens nicht vor dem Ewigen! Ich bin das Wesen, das in Raum und Zeit ganz windschief steht: ein Mahnmal – sich selbst und der Welt: unbehaust, weltfremd, anders. Eine meiner Eigenarten ist, mich in die Dinge mit Saft hineinzustürzen, wie gefährlich sie auch seien; nie laufe ich vor ihnen davon, nie – meine Fluchtlinie war stets die nach ganz vorne, selbst dann, oder erst recht!, wenn das dräuende Unrecht machtvollstreng und fest im Sattel saß! Ein Grund, weshalb mich Marie oft scherzhaft als den «Realisten des Unwirklichen» bezeichnete: denn ich suchte stets das Vollkommene, das Ewige im Hier und Jetzt, das Ideal ins Werk zu setzen! Allerdings irrt die gute Marie; mag sein, daß ich vieles falsch gemacht, vieles unglücklich angefaßt habe und noch unreif bin in der Verwirklichung dessen, was sich kaum ein Mensch überhaupt getraut anzufassen; doch ich bin keineswegs ein Unwirklicher: nein, ich bin ein Idealist des Wirklichen, welcher allerdings nur einen Geringteil dieser eingebornen Ideale umzusetzen wußte! Und meine wirkliche Heimat und Verwurzelung liegt gerade in diesem unendlichen Gestade der Ewigkeit, wodurch mich folglich die Endlichkeit nicht zu tragen und mir keine eigene Behausung zu geben vermochte. Dergestalt bin ich gezwungen, die Heimat und Geborgenheit in mir selbst zu finden – und ich werde sie finden: in meinem Freitod, zusammen mit meinem Jettchen; exactement in diesem Punkte finden Ewigkeit und Endlichkeit zusammen; in diesem Punkte nämlich fallen alle Sonderungen – und das Namenlose begegnet sich selbst, fließt in sich selbst zurück! Mein Fragen, mein Streben zielte stets auf die letzten Dinge: es interessierte mich bloß das, was hinter den Dingen, den Masken, dem
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Sein liegt; – daß etwas «ist», etwas so und nicht anders erfolgt, ist ja schön und gut: doch weshalb läuft es so und nicht anders? und wieso überhaupt erfolgt es – was ist die Ursache der Ursache selbst? Existiert sie gar? Jedwede Erscheinung suchte ich auf ihren zentralen, wesentlichen Punkt hin zu ordnen, ja zu erkennen und zu verstehen: ist dies überhaupt möglich? und wenn ja: ist es nötig? Muß man die Dinge nicht einfach in sich ruhen lassen? Ist es erlaubt, die menschlichen Grenzen zu überschreiten? – Es ist alleine diese Frage nach den tiefern Gründen, die mich lenkt; überall geh‘ ich in die Tiefe, dahin, worin jeglicher Mensch verloren sein muß: ein dunkler Trieb drängt mich, führt mich hinein! Ich will und muß erkennen: und was mir entdeckt wurde, ward mir bloß zu einer steten neuen Frage, einem weiteren Rätsel … – Die Mehrschichtigkeit wie -sinnigkeit jeglicher Erscheinung ist die einzig wahre Realität in den Tiefen des Seins: das Ein-Fältige, Einheitliche füget sich allein im Punkte der Ewigkeit damit ununterscheidbar zusammen; der Mensch, einsam seinen Pfad daherschreitend, fühlt sich dadurch genarrt – er löst das Rätsel entweder nicht, da er es als solcherart schwach ausgestattetes Wesen gar nicht vermag, oder er geht ihm schlichterdings aus dem Wege, was die bequeme und zumeist geübte Form des Umgangs damit ist! Ich weiche nicht, ich stehe – dergestalt, gleichermaßen abwechselnd, in gewaltigen Zuckungen durchschauert von Gluten und Frösten! Ich, der Zwingherr meiner Seele, welche unter den äußeren und inneren Quetschungen, meinem pressenden Griffe, entweder erstirbt oder sich in ein organisches Fragment einer höheren Erkenntnis wandelt: dies alles ist das Wittum meines tieflotenden Daseins; dies ist Himmel und Hölle meines Wesens; dies ist der Glanz und Schmutz meiner Seele: Bedrohung und Erlösung zugleich! O, daß ich in Unmacht hinsänke, heimkehrte in die Ewigkeit und aus dieser erneuert, gestärkt, heil und ganz wiederführe; daß die elementare Reinheit und Unversehrtheit mich nährte; daß ich im Hinabtauchen in die namenlose Seinstiefe mich wandelte ins BewußtseinsWahre!, ins Dasein geruhiget, wie das tiefste Meer sich hinschmiegt auf dem Erdenrund. Wie ist mir doch alle Gleisnerei dieser Welt zuwider: wie unecht und halbbeflissen ist doch das Weben und Streben der Kreaturen auf diesem Planeten … – und was bleibet davon? Was, wenn nicht das Dazugelernte, Edle, das in der Schlacke des Feuers
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Geläuterte? Das Ziel des Menschen ist und bleibt: das Menschsein vollends zu überwinden, ein Vorübergehender zu werden, die Welt der Prozesse und linearen Abfolgen zu vertauschen gegen eine höhere Daseins-Ebene, in welcher alleine das reine, absolute Sein vorherrscht; auf welcher alles von geistiger Schöpferkraft und Genialität durchdrungen ist. – Was bedeutet Wirklichkeit hier auf Erden? Ist es nicht der von Augenblick zu Augenblick wechselnde Grundzustand eines fortlaufenden Prozesses? Für einen ungemeßnen Zeitpunkt allein durchdringt das Ewige die krude Endlichkeit, zeitlos; wir, aus schwachem Stoffe geformt, nehmen‘s nicht wahr und schreiten weiter auf das unabwendbare Ende zu: ich versuchte dieses Unfaßbare zu greifen, ihm eine, wie auch immer geartete, Form zu verleihen: eine jeweilige, kurzfristige Wirklichkeit abzubilden … – Dies zu erreichen, stieg ich in die Tiefen meines Busens und faßte mir die noch ungeschaffne, unbearbeitete Offenbarung einer neuen Sprache, einer urtümlichen Sprache der Götter, welche den Begriff des Erklärens und Definierens aufhebt und in Reinheit den ewigen Tiefen der Seele genügt: einer offenbarten Sprache – wurzelfromm, symbolisch, anders, den Grund der Dinge beleuchtend, auf daß das Unerklärliche, sprachgestaltig angestrahlet, solcherart ergriffen werden möge, damit ein Teil davon zu Fleisch werde: nämlich derjenige Teil, welcher einem jeden in arteigner Form und Empfindung zukömmt, ihn berühret! Selbst in der Sprache soll das Moment des Überwindens angedacht sein: das Gefäß der materiellen Körperlichkeit muß aufgehoben werden, ins Transzendente überfließen: auf daß Seele unmittelbar zu Seele spreche! Der Seelenklang ist ein Musikalisches: Tonkunst und Dichtkunst sind miteinander verwandt; es sind die beiden Seiten ein und derselben Münze, und somit bezieht sich alles Dichterische fortwährend auf das Musikalische selbst. Wie gerne hätte ich mich noch mit dem Generalbaß, also der Harmonielehre, welche meiner Meinung nach die Anatomie der Dichtkunst in wichtigen Bereichen aufzuschlüsseln vermag, beschäftigt, ja überhaupt mit der Tonkunst im Allgemeinen wie Besondern – den beiden Kernbereichen des Seelischen an sich, Sprache und Klang! In der Musik verschwinden alle Widersprüche, wohingegen die Sprache solche erzeugen muß: dergestalt sind alle meine Werke, erst recht die dramatischen, ge-
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sungene Sprache! Nur in dieser Weise ist ihnen gerecht zu werden, zumal sie jegliche Formen des Eingesackten, abstrakt Formalen, den Regelkanon insgesamt aufsprengen – alle meine Figuren entstammen der reinen Seinsbewegung, deren Gehalt den Tiefen des Lebens selbst abgelauscht ist: wild-archaisch, und dennoch sauber und rein; gewalttätig-roh, und doch edel und klar; vollständig widersprüchlich, und trotz allem unverbraucht als Einheit: aus einem schillernd-jungfräulichen Diamanten herausgebrochen … – Rätsel und Lösung dessen in einem, gleichzeitig! – Punctum puncti: Das Echte und Innerste, was ich zu geben hatte und das kaum jemand verstand, wird die Zeiten überdauern – es ist das Gesetz der Welt! Mein Entschluß, meinem Leben ein Ende zu setzen, steht unverbrüchlich fest; mich durchdringt eine ungemeine Zufriedenheit, und in mir klingt eine Sphärenmusik an, die meine Schritte beschwingt: die ganze Welt taucht mir in ein samtenes, helles Blau – und je mehr ich dem festgesetzten Termin entgegenwandle, desto versöhnter und freier fühle ich mich! Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, in dem ich mich derart glücklich gefühlt hätte; in der Tat, ich habe meine Freiheit und mein Glück, ja mein Leben zurückgewonnen, indem ich mich für den Tod entschloß! Nichts dräut mehr, nichts plagt mich mehr: ein reines Licht und eine klare, himmlische Melodie durchströmt meinen arg geschundenen Körper als auch meine unglücklich-wunde Seele, dergestalt, daß es Wunder nimmt, daß so etwas sein könne – wenn nicht im Jenseits eine erweiterte, kräftigere, schöpfertätigere und leidentkernte Dimension meiner harren sollte! Je näher der Termin rückt, um so mehr weicht die Angst der ungeteilten Freude – Prinz Hamlet traute sich nicht, diesen letzten Schritt zu tun, zumal den Menschen alles ängstigt, was ihm unbekannt ist; ich bin mittlerweile durch alle Qualen, durch das ganze harte Leben soweit und mit Leib und Seele durchgegangen, daß nicht einmal mehr eine Angst vor der Angst bleibt: alles ist vollends zu Asche verbrannt. Ich kann nurmehr ganz vergehen oder neu erstehen – und das ist das Schöne!
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Den endgültigen Todesstoß in meine wunde, mattgeschundene und mürbe Seele versetzte mir der Besuch bei meiner Familie in Frankfurt/Oder (ich trug die Cabinets-Ordre bei mir, welche bestätigte, daß ich für die Wiedereinstellung ins Militär vorgesehen war: – dazu brauchte ich Geld, um mir überhaupt eine Uniform leisten zu können; ich war ja derweil hoffnungslos verarmt, so daß ich aus eigener Kraft die wenigen lächerlichen Taler für eine Montur nie und nimmer aufgebracht hätte; ja, es kam soweit mit mir, daß ich tatsächlich bisweilen bei Freunden den einen oder anderen Taler zusammenbetteln mußte, um über die Runden zu kommen): in demjenigen Hause, da wir unsere gemeinsame Kindheit verbrachten, wovon mir dennoch einige recht schöne Erinnerungen anhaften, obgleich sie sich die meiste Zeit reichlich freudlos und karg gestaltete: ich liebte meine Familie, meine Schwestern, meinen Bruder; und wie sehr rang ich um ihre Anerkennung und Gegenliebe! – Was aber! ich glaubte nicht richtig zu hören, als Auguste sowie Ulrike, meine geliebte Ulrike!, die schlimmsten und demütigendsten Schmähungen gegen mich aussprachen: ein Anathem sondergleichen schmetterten sie mir entgegen! Ich sei das unnützeste Glied der menschlichen Gesellschaft, ein vollständiger Versager und eingefleischter Nichtsnutz – sie würden sich für mich schämen, und ich wäre ihnen unwert! geworden: das schwarze Schaf der Familie Kleist; sie wollten mich nicht wiedersehen; und sie wünschten, mich gänzlich aus ihrer Seele getilgt zu wissen …! Wer kann sich vorstellen, wie sehr – abermals, und diesmal am tiefsten – geknickt ich diese meine Heimat, mein Elternhaus verließ? – Menschen, die ich tiefer liebe, als der Ozean ins Lot reicht, brachen mir, ihr letzter Liebesdienst an mir!, nun vollends das Rückgrat, welches nach vielerlei Kämpfen, Unbilden und Schicksalsschlägen längst in schlimmste Mitleidenschaft gezogen war: das letzte noch verbliebene Bißchen an vorhandenem Lebenswillen wurde in diesem Schwall von bitterer Häme zernichtet. Die ganze gräßliche, mich fortschreitend entkräftende Erfolglosigkeit in allen Sparten meines Lebens brach sich Bahn: die Erde löste sich auf, wie in meinem Traumgesicht, das ich hatte; der Boden versank im absoluten Nichts. Am liebsten hätte ich, gleich meiner «Penthesilea», den ehernen Dolch – den allerreinsten, entstammend meinem Bu-
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sen – gezückt und mich damit unverzüglich ums Leben gebracht: allein, ich gab ein Versprechen meiner Henriette, meinem Cherub, der mich in Harmonias Reigen in eine beßre Welt geleiten sollte … Nach Maries Abreise ins Mecklenburgische war es Henriette Vogel – sie als einzige unter allen Menschen –, die mir diese unendliche Leere meines Herzens wieder zu füllen wußte: sie belebte es mit dem verheißungsvollen Angebot des gemeinsamen Übertritts in ein neues Dasein! Unsere beider Einsamkeit fließt zusammen in einem gemeinsam angestrebten Ziele: aus den einsamen Seelen zweier Individuen erwächst jetzo eine ungeahnte, übersprudelnde Fülle zusammengeschmolzener Einheit! – Welch ein qualvoller Traum dies Leben mir doch war: ich eile nunmehr dem Ausgange zu! – Mein «Prinz von Homburg» läßt am Ende des Schauspiels fragen, ob all das Erlebte eitel Traum gewesen sei, worauf Obrist Kottwitz antwortet: «Ein Traum, was sonst!» – Ja, was sonst denn, als bloß ein langer, qualvoller Traum?
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Frankfurt an der Oder, 1. November 1811
O! mein liebster Bruder, mein liebster Heinrich! Ich bereue zutiefst meine Worte, die wir fallen ließen: vor einigen Tagen bei Deinem Besuch, hier bei uns in Frankfurt. Meines Bedünkens waren wir allzu strenge mit Dir. Kannst Du mir verzeihen, bist Du uns noch böse? Du bist doch meiner, unserer! ganzen Bewunderung würdig. So ganz würdig, durch und durch, lieber Heinrich! Dein wunderliches Wesen, Dein eigensinniger Auftritt allein trieb uns in dieser unglückseligen Stunde in eine Enge – nur so kam es, daß wir abscheuliche, ihrerseits fluchwürdige Schmähworte sprachen, allein im Zorne kam es dazu. Niemals, hätten sie fallen dürfen. Heinrich – verzeihe mir, ich bitte Dich: verzeihe mir!
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Du hast es doch bewiesen, ja der ganzen Welt hast Du es bewiesen, daß Du nicht etwa Schande willst, sondern Ehre. Wie sehr war unser Blick einseitig auf die Traditionen gerichtet, auf einen verblendeten Ehrbegriff, einen gänzlich unechten Ehrbegriff, der Dir so völlig fremd. Wie sehr war unser Blick allein auf unser Interesse gerichtet, wie ich bekenne. So sehr, daß wir im gewittrigen Gewölk Dein wahrhaftes, wenngleich unsäglich absonderliches und wunderliches Wesen nicht mehr sahen. Deine grauenhafte Niedergeschlagenheit, als Du uns verließest an jenem schröcklichen Tage, hat mich im Herzen derartig bange werden lassen, daß mein Gewissen mich bis zur Niederschrift dieser Zeilen täglich plagte. Ein Ungemach, eine Kleinmut überfiel mich und quälte mich! Ich beschwöre Dich inständig, mache keine Dummheiten, mein Bruder. Ich beschwöre Dich eindringlich. Mein Herz spricht des nachts klamme Worte zu mir, aber diese Zeilen trösten mich ein wenig, indem ich Dir – wie Du an Goethe schriebest: «auf den Knieen meines Herzens» – meine große Bestürzung und mein tiefstes Bedauern zukommen lasse. Natürlich wolltest Du nie und nimmer freiwillig diese Dir, vermittelst eines grausamen Spieles des Schicksals, aufgebürdete Sklavenkette mitschleppen, wohin Du auch gehest. Aber ich glaube, mein lieber Heinrich, ich glaube und hoffe! Die Vorsehung leitet uns, wir sind doch in Gottes Hand – nicht wahr? Ich weiß wohl, nicht einen Schritt hättest Du anders machen können, machen wollen, nicht anders handeln, als Du es tatest, ohne Deinem edlen Charakter ungetreu zu werden oder an Dir zum Verräter zu werden! Dein Dich stets durchströmendes Ehrgefühl! – hoffentlich stählt es Dich, da wir versagten. Hätten wir Dich doch in unsere Arme schließen sollen, wir sind ja eine Familie. Natürlich, selbstverständlich werde ich Dir das Geld für Deine Uniform zukommen lassen, die wenigen Taler. Gern auch mehrere, wenn es sein muß und Du sie brauchest. Ich habe Dich ja immer unterstützt. Wie sehr ich bereue, meinen jüngeren lieben Bruder solchermaßen zuschanden geredet zu haben, kannst Du nicht ermessen; ich schäme mich unendlich. Nochmals Verzeihung. Wir lieben uns doch – wir lieben uns doch so sehr! Gott muß Dir helfen, diesen so ganz trüben Abschnitt Deines Lebens zu bestehen! Da wird es eine
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große Kraft erfordern; vielleicht kann ich Dir ein wenig dazugeben? Aber richte den Blick gen Himmel, von wo alles Gute kömmt und alles Böse. In Deiner Erzählung «Das Erdbeben in Chili» hast Du einige Zeilen, die mich tief berührten, verfertigt. Das Schicksal muß für Dich gut enden, weil Du wahrhaftig bist. Dein Jeronimo hat dieses Erdbeben überlebt, diese schlimmsten Stunden. Habe ein Vertrauen in die Vorsehung … Als Jeronimo das Tor erreicht und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er unmächtig auf demselben nieder. Er mochte wohl eine Viertelstunde in der tiefsten Bewußtlosigkeit gelegen haben, als er endlich wieder erwachte und sich, mit nach der Stadt gekehrtem Rücken, halb auf dem Erdboden erhob. Er befühlte sich die Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem Zustande machen sollte, und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte und sein Auge sich nach allen Richtungen über die blühende Gegend von St. Jago hinwandte. Nur die verstörten Menschenhaufen, die sich überall blicken ließen, beklemmten sein Herz; er begriff nicht, was ihn und sie hierhergeführt haben konnte, und erst, da er sich umkehrte und die Stadt hinter sich versunken sah, erinnerte er sich des schrecklichen Augenblicks, den er erlebt hatte. Er senkte sich so tief, daß seine Stirn den Boden berührte, Gott für seine wunderbare Errettung zu danken; und gleich, als ob der eine entsetzliche Eindruck, der sich seinem Gemüt eingeprägt hatte, alle früheren daraus verdrängt hätte, weinte er vor Lust, daß er sich des lieblichen Lebens voll bunter Erscheinungen noch erfreue. Drauf, als er eines Ringes an seiner Hand gewahrte, erinnerte er sich plötzlich auch Josephens, und mit ihr seines Gefängnisses, der Glocken, die er dort gehört hatte, und des Augenblicks, der dem Einsturze desselben vorangegangen war. Die Liebenden finden sogar wieder zueinander (zusamt der Frucht ihrer Liebe: des kürzlich gebornen Söhnleins) und genießen für
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einen zeitlosen Augenblick das unaussprechliche, das ursprüngliche Glück. O! wie sehr wünsche ich Dir dieses Glück, mein lieber, guter Heinrich!! Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und stille, wie nur ein Dichter davon träumen mag. Überall längs der Talquelle hatten sich im Schimmer des Mondscheins Menschen niedergelassen und bereiteten sich sanfte Lager von Moos und Laub, um von einem so qualvollen Tage auszuruhen. Und weil die Armen immer noch jammerten: dieser, daß er sein Haus, jener, daß er Weib und Kind, und der dritte, daß er alles verloren habe, so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine Zweige voll duftender Früchte weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied. Hier ließ sich Jeronimo am Stamme nieder, und Josephe in seinem, Philipp in Josephens Schoß, saßen sie, von seinem Mantel bedeckt, und ruhten. Der Baumschatten zog, mit seinen verstreuten Lichtern, über sie hinweg, und der Mond erblaßte schon wieder vor der Morgenröte, ehe sie einschliefen. Denn Unendliches hatten sie zu schwatzen, vom Klostergarten und den Gefängnissen und was sie umeinander gelitten hätten; und waren sehr gerühret, wenn sie dachten, was für Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden! Wie unendlich schön diese Zeilen – wer solche Zeilen schreiben kann, muß einfach ein gutes und edelmütiges Herz haben! Gib nicht auf, Heinrich! Das Elend muß nunmehr enden. Ich hab‘s mit den Geschwistern abgesprochen – alle wollen Dir die Hand reichen: ich zuvörderst. Wir sind uns doch seit Anbeginn so traut gewesen. Nimm meine Hand! Wie geht es überdies der Henriette von Schlieben? Ich traf sie vor einiger Zeit auf einer Reise nach Dresden; sie sprach gut von Dir, machte mir aber einen etwas seltsamen Eindruck. Könnte sie nicht Deine Josephe sein? Sie ist ein gar liebreizend Frauenzimmer, und mich deucht, ihr würdet gut zueinander passen …
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Ich hoffe inständig, bald von Dir einige vertraute und hoffnungsfrohe Worte zu vernehmen, und daß Du uns wieder gut seist. Deine Dich über alles liebende Schwester Ulrike
[Der Brief Ulrikes blieb von Heinrich von Kleist ungelesen! Das Siegel wurde erst im Jahre 1961, am 21. November, einem Dienstag, durch Else von Moltke – in Anwesenheit einiger ausgewählter geladener Gäste sowie meiner Wenigkeit – erbrochen. Es war Kleists 150. Todestag. – Der Herausgeber]
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Kleiner Wannsee, gegen Mittag, 21. November 1811 Gesehen in meinem inneren, geistigen Auge – einige wenige Stunden vor dem beschlossenen Freitod zusammen mit meiner geliebten Henriette!
O, du gottesgleich huldreiches Wesen –: Wie weiblich – durch und durch! Nie konnt‘ ich ohne dich genesen: Einsamer Kämpe bloß. Ein traulich Meer umflort die Stirne dein‘: Mit Liebe – ganz durchdringend! Ein tiefer Sehnsuchtszweig umfanget mein‘: Der Höllenritt, er endet. So strahlen deine Lichter mir entgegen Und heilen mich! Ich geb‘ mit vollen Händen dir mein Leben – Erlösung soll der Wahlspruch sein!
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Ein unverbrüchlich‘ Heil – es adelt jede Suche, für und für; Das namenlose Sehnen … erstirbt nun hier. Es öffnet sich zum Himmel – die neuerliche Tür! O, Sternenkindlein: güldnes Gut; Willst immerdar mir Füllhorn aller Labung sein? Eröffne deine heil‘gen Pforten. Und nimmer enden jetzo wird mein Streben – rein Elysiums Erfüllung dir zu reichen! Wie selig müssen nunmehr alle Götter niederschweben – Reigen der Natur: er jauchzet froh! In ihm nun tanzet schweigend heitres Leben. Und alles Glück auf Erden horcht ihm zu.
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Ihr wollt mein Wesen wissen, was das eure, das der Welt ist? – so sei es: Eadem mutata resurgo. Verändert – und doch dasselbe – erstehe ich wieder. Man bette Henrietten meinem Grabe bei; einem schlichten Grabstein möge der genannte lateinische Spruch eingeprägt werden. Mit dem Leben, mit den Feinden habe ich mich versöhnt; meine Freunde werde ich beizeiten, so ihre Stunde geschlagen haben wird, zu fremden Gestaden in Empfang nehmen … –
Heinrich von Kleist
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Nachwort I. Über Heinrich von Kleist ist viel geschrieben worden. Darum wird sich die eine Leserin oder der andere Leser die berechtigte Frage stellen, was der vorliegende Roman überhaupt leisten kann oder soll – bzw. was eben nicht? Mein Bestreben war es, vor allem aus psychologischer Sicht mittels einer Innenschau den Zugang zu den tieferen Schichten, zu dem geheimnisumwitterten Wesen Kleists zu erschließen. Es ist dagegen nicht beabsichtigt gewesen, etwa die Sprache des Dramatikers nachzuahmen, wenngleich ich es mir nicht habe nehmen lassen, das Äußere, Formale mit meinen bescheidenen Mitteln möglichst dieser inneren Struktur seines Wesens anzugleichen – denn das ist die Achse, um die sich mein Roman dreht. Die seelischen, inwendigen Aspekte hatten also (wie es der Titel ja kündet) vor den philologisch-formalen den Vorrang. Dem sonderbaren Menschen näherzukommen, dies ist das erklärte Ziel des Romans! Dabei wurden selbstredend die spärlich vorhandenen historischen Leitplanken nicht touchiert, geschweige denn übertreten. Alles sonst mir zur Verfügung Stehende diente lediglich diesem einen Zweck: das Unaussprechbare zu verstehen versuchen!
II. Jenseits von Klassik und Romantik pflegt die Literaturgeschichte den krassen Außenseiter Heinrich von Kleist einzuordnen (sogenannte Paraklassik), wobei die Kleist-Forschung in fortwährender Weiterentwicklung begriffen ist. Kein Wunder – in Anbetracht der Widersprüche und der Rätselhaftigkeit seiner Person insgesamt ist Kleist als «das schwierigste Problem der Literaturgeschichte» (Helmut Sembdner) bezeichnet worden. Die ungezügelte Kraft der dichterischen Sprache und der dichterischen Ambitionen Kleists entsprach in keiner Weise der Weimarer Klassik, welcher es unerlaubt schien, das Unendliche, Numino-
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se anders als im Spiegel des Endlichen, Vergänglichen darzustellen: Bei Goethe (1749–1832) fielen die Begriffe von Dasein und Vollkommenheit zusammen. Der Einbruch des Göttlich-Absoluten in die konkrete Sinnenwelt bei Kleist und die aufwühlend-umwälzende, ja zerstörerische Wirkung, die dieser Einbruch hatte, waren Goethe und vielen seiner Zeitgenossen – die sich ob dieses Neuen, Andersartigen vor den Kopf gestoßen fühlten – als ein unmögliches, gar unverzeihbares Geschehnis ein Gräuel sondergleichen und lösten Ekel und Abscheu aus! – In der Tat: Hierin war Kleist seiner Zeit voraus, dass er einer neuartigen, vielleicht auch überzogenen sowohl Ich- als auch Weltanschauung eine gleichsam eherne Stimme verlieh. Und das erregte ein tiefwurzelndes Unbehagen in einer festgefügten Gefühlswelt, die sich krampfhaft an längst Vergangenem, an einem verflossenen Ideal orientierte – unfähig, sich den neuen politischen, gesellschaftlichen und überhaupt existentiellen Geistesströmungen auf allen Ebenen zu stellen, wie das ja nicht selten an Zeitenwenden der Fall ist. Allerdings neigte Kleist stets auch dazu, absichtlich (und womöglich teilweise unbewusst) zu provozieren. Das schönste Beispiel hierzu mag seine Tragödie Penthesilea sein, welche auf der einen Seite zumeist als geniale Dichtung anerkannt wurde, auf der anderen aber blankes Entsetzen hervorrief: Die antike Gestalt sowie das (kriegerische) Liebesspiel Penthesileas enden extrem tragisch, indem sie zuletzt in nackter Raserei und Wahn – gleich ihren Bluthunden – den Achill mit rohen Zähnen zerfleischt! Das war eindeutig zu viel des Guten – das klassische Ideal sah man mit Füßen getreten, den guten Geschmack mehr als nur strapaziert und verletzt: Provokation pur! Auch das war Kleist, und eine gewisse sado-masochistische Ader lässt sich schwerlich abstreiten. Ein sehr aufschlussreiches Zitat Goethes aus einem Gespräch des Jahres 1809 mit Johann Daniel Falk sei hier in bezeichnender Weise angeführt – es verdeutlicht lichtblitzartig die Misere der damaligen Zeit wie auch des Charakters Kleists (wenngleich von Goethe nicht sehr objektiv und unter einem gewissen Ressentiment geschaut): «Ich habe ein Recht, Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, dass seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall, durch die Zeit gestört wurde, oder was
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sonst für eine Ursache zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist zu arg; er richtet ihn als Menschen und Dichter zugrunde.» Und in Ludwig Tiecks Dramaturgischen Blättern von 1826 bemerkt er: «Seine (Tiecks) Pietät gegen Kleist zeigt sich höchst liebenswürdig. Mir erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre. Tieck wendet es um: er betrachtet das Treffliche, was von dem Natürlichen noch übrig blieb; die Entstellung lässt er beiseite, entschuldigt mehr, als dass er tadelte; denn eigentlich ist jener talentvolle Mann auch nur zu bedauern, und darin kommen wir denn beide zuletzt überein.» Demgegenüber bleibt gerechterweise beizufügen, dass Goethe – auch nicht eben ein einfacher Charakter im Privaten – stets diejenigen Menschen und vor allem durchschnittlichen Dichter gefördert hat (z. B. den heute nahezu unbekannten Zacharias Werner), welche für ihn insofern «ungefährlich» waren, als sie ihm nie das Wasser zu reichen vermochten. – Eins allerdings ist sicher: Kleists Person und Dichtung polarisieren wie kaum je – selbst heutzutage noch! Warum das so ist, wird deutlich, wenn man Kleist im Kontext der geistesgeschichtlichen Grundströmungen seiner Zeit betrachtet: Die Aufklärung (in der Hauptsache initiiert durch ein in seinem Selbstvertrauen gestärktes Bürgertum), deren wirkungsvollster Protagonist im deutschsprachigen Raume – wenn nicht gar gesamteuropäisch betrachtet – der geniale Kant (1724–1804) war, forderte religiöse Toleranz, Gleichheit der Menschen gemäß der Natur und eine grundsätzlich selbständige Entwicklung des Geistes ein! Die Herrschaft der Vernunft trat ihren gewaltsamen wie gewaltigen Siegeszug an; und alles, was unter Gewalt und Missachtung geschieht, fordert die Gegenkräfte heraus (hier die Entfesselung der Phantasie, der rücksichtslosen Gefühle: etwa in der Sturm-und-Drang-Zeit und in der Romantik) – denn der kardinale Fehler der Aufklärung liegt in dem Umstand begründet, dass sie geflissentlich alles Nicht-Rationale leugnet! Die Radikalität der
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Aufklärung hinwiederum geht ihrerseits auf den ungestümen Reflex zurück, mit dem sie sich von der Jahrhunderte andauernden Repression durch die katholische Kirche befreien wollte, was leicht nachzuvollziehen ist, und menschlich dazu. Faktisch ersetzt sie lediglich einen Wust von früheren Vorurteilen durch neue, deren absolute Priorität nunmehr die Vernunft bildet; dennoch ist die Aufklärung selbstredend als positiv anzusehen – aber die Grenzen müssen erkannt werden, und diese Grenzziehung hat Kant geleistet. In der Tat diente sie schließlich zunehmend als Basis in Philosophie, Wissenschaft, Kunst und zuletzt auch in der Politik (der demokratische Aufbau vieler Staaten geht auf aufklärerisches Gedankengut zurück)! Aber Immanuel Kants Philosophie ist gleichfalls prägend für den sogenannten Deutschen Idealismus in der Zeit der Klassik (1786– 1805); seine Metaphysik, seine Pflichtethik wie auch die Lehre vom Schönen und Erhabenen bilden deren geistesgeschichtlichen Hintergrund. Metaphysik wird nicht mehr als die Lehre vom Absoluten, von der einen Wahrheit angesehen, sondern eben von den Grenzen der menschlichen Vernunft her beschrieben. Folgende Postulate stehen bei ihm zuvorderst: Freiheit des sittlichen Tuns und Strebens, die Unsterblichkeit des sittlich Handelnden sowie die Gottheit, der Weltgeist als unverbrüchlicher Bürge dieser Sittlichkeit. In seiner Ästhetik entwickelt Kant die Lehre vom Schönen, welches lediglich ein Wohlgefallen erzeugt, und vom Erhabenen, welches die Idee der Unendlichkeit aufzeigt, als auch die Vorstellung des Genialen, wodurch die Natur der Kunst erst Regeln und Formen verleiht. Vorbild sind dabei die Griechen – siehe Goethe und die Weimarer Klassik! Gerade Friedrich Schiller (1759–1805) wurde nachhaltig von Kant beeinflusst. Uns Heutigen scheint in all diesen Bestrebungen der sämtliche natürliche Maße weit überspannende Aufklärungsgedanke blitzend auf, welcher anfänglich die Menschheit, gerade in seinem aufgezwungenen Lichte, blind für den Schatten werden ließ. In dieser Zeit verfiel auch Kleist – in einer hochsensiblen Lebensphase befindlich – solchen Ideen. Der geschichtliche Fortgang reagierte darauf bekanntlich mit der Epoche, die man Romantik nennt, einer Art Gegenbewegung zur starr gewordenen Aufklärungsorthodo-
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xie. – Diese beiden Strömungen treffen in Kleists Seele aus zwei entgegengesetzten Richtungen mit voller Wucht aufeinander: Insofern spiegelt er, diesbezüglich mustergültig – aus einem übergeordneten, geschichtlichen Aspekt heraus – und in einmaliger Weise einen Menschen zwischen zwei Welten wider. Die Gegenströmung zur Aufklärung bildete die Romantik (1795– 1835): Die teils heftigen Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten und Versuchen, gewaltfreie Reformen umzusetzen, gerieten in ein Spannungsfeld zu den revolutionären, radikalen Ideen! Die kalte Vernunft überging verächtlich die Grundbedürfnisse des Individuums und reizte somit den schlummernden Zerberus: Eine erste Phase von Irrationalität brach nunmehr offen hervor. Es erwachte ein geschichtliches Denken; das Interesse am längst Vergangenen, Überholten gewann neuen Schwung und Kraft; die tiefe Sehnsucht nach der Einheit von Glaube und Wissen gewann unverhofft neuen Glanz; auch die Sehnsucht nach Geborgenheit in der Natur, in der Gemeinschaftlichkeit des Menschseins wurde wiederbelebt. Die Romantik gilt als abschließende Stufe des Idealismus, nach der Sturm-und-Drang-Periode (1767–1785) und der Klassik. Ihre Kunstanschauung strebt exzessiv nach der Vereinigung der Gegensätze! Raum und Zeit, Anfang und Ende, Vergangenheit und Zukunft, Wirklichkeit und Möglichkeit, Gott und Mensch fallen in einer unendlichen, letzten Erkenntnis zusammen. Aus dieser Dialektik von Unbewusstem und Bewusstheit, der Irrealität als auch der Rationalität, erwächst der Zwang zur Zerstörung selbsterschaffener Illusionen. Es ist nicht zufällig, dass in der Selbstgefährdung und inneren Zerrissenheit romantischer Menschen ein Ansatz gesehen wird, der sich bis in die Moderne fortzeugt – nachzuvollziehen z. B. in den Phänomenen der «Bewusstseinsspaltung» des gegenwärtigen Menschen sowie den sich überschneidenden Elementen von Realität und Irrealität.
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III. Mit der Französischen Revolution schließlich trat offen zutage, dass das Gleichgewicht aller Kräfte bereits seit Längerem latent gestört war, und die außenpolitische Situation in Europa änderte sich schlagartig. In dieser äußerst labilen, völlig verzwickten Lage taktierte Preußen zunächst sehr arrogant: Nicht beachtend, dass die große friderizianische Zeit verflossen war, ruhte man sich auf den Lorbeeren aus, und die Nachfolger Friedrichs waren keine erstklassigen Persönlichkeiten mehr; die einstige Militärmacht befand sich auf dem absteigenden Ast. Vorerst erwies sich der zersplitterte Territorialstaat freilich als zuverlässiger Schutzwall gegen das Übergreifen der Revolutionstendenzen auf Deutschland. Deutsche und Österreicher hegten ohnehin ein tief wurzelndes Misstrauen gegen die Vorgänge in Frankreich – jetzt hätte man mit geeigneten Reformen vielleicht das wankende Staatsschiff aus dem mächtig wirkenden, alles zermalmenden Sog noch herausmanövrieren können, vielleicht. In stets wechselnden Bündnissen kämpften die europäischen Mächte gegen die Verbreitung der revolutionären Ideen sowie gegen die Expansionsbestrebungen der französischen Republik an, welche seit 1799 von Napoleon angeführt wurde. Diese Kriege veränderten im Ergebnis das politische Gleichgewicht von Grund auf, und zwar zugunsten der napoleonischen Vorherrschaft auf dem Kontinent, was wiederum einen wachsenden nationalen Widerstand auf den Plan rief und die Bereitschaft zu Reformen verstärkte bzw. diese nunmehr unumgänglich werden ließ! Solcherart wurden die ersten Grundsteine zu den modernen Staatsverfassungen gesetzt! Im Ersten Koalitionskrieg (1792–1797) fochten u. a. auch Preußen und Österreich mit: Für diesen wurde auch Kleist als gut 14Jähriger eingezogen; und es darf als selbstverständlich angenommen werden, dass die Ereignisse auf das bildsame Gemüt eines sensiblen Jugendlichen nicht ohne Auswirkungen blieben. Bis 1794 war hauptsächlich Frankreich im Vorteil. Mit dem Baseler Sonderfrieden vom 5. April 1795 – einem Dokument, das den preußischen Abstieg eindrücklich vor Augen führt – schied Preußen aus dem Krieg aus, und das linksrheinische Ufer wurde Frankreich zugeschlagen. 1797 folgte dann der Friede von Campo Formio
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zwischen Frankreich und Österreich. Im Zweiten Koalitionskrieg (1799–1802) wurde versucht, das Mächtegleichgewicht wiederherzustellen. Napoleon kehrte, nachdem er sein Heer 1798 in Ägypten hatte landen lassen, um die Seemacht England in die Knie zu zwingen, bereits nach weniger als einem Jahr wieder nach Frankreich zurück – zumal seine Flotte am 1. August 1798 bei Abukir durch Nelson vernichtend geschlagen wurde, womit England seine Vorherrschaft auf den Meeren unterstrich – und errichtet seine Militärdiktatur. 1802 wurde der Friede von Amiens unterzeichnet, ein eigentlicher «Erschöpfungsfriede», welcher einen ersten Höhepunkt in der Politik Napoleons darstellt. Der Dritte Koalitionskrieg von 1805 (mit der berühmten Dreikaiserschlacht von Austerlitz, Napoleons ruhmreichstem Sieg, sowie der Schlacht von Trafalgar) endete mit dem Pressburger Frieden und führte zur Gründung des Rheinbundes. Preußen verhielt sich während dieser Zeit neutral. Der Vierte Koalitionskrieg von 1806/07, welchen die preußischen Militärs in unbegründeter Selbstüberschätzung aufgrund einer vergleichsweise lächerlichen Verletzung Ansbachschen Territoriums durch französische Truppen anzettelten und den Friedrich Wilhelm III. in offenkundiger Naivität guthieß, endete im Tilsiter Frieden, besiegelte Preußens vollständigen Zusammenbruch und beendete seine Großmachtstellung; einzig der (sicherlich nicht uneigennützige) russische Einspruch verhinderte die vollständige Aufteilung unter den Mächten und damit noch Schlimmeres: nämlich die Aufhebung – und damit den endgültigen Untergang – der staatlichen Existenz Preußens. Es verblieb Rumpfpreußen mit französischer Besatzungsmacht! Bereits im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde die Aufhebung der deutschen Kleinstaaterei beschlossen, was eine radikale Änderung der Landkarte Deutschlands zur Folge hatte, und die Schaffung von mittelstarken – gegenüber Frankreich aber schwachen – Staaten in die Wege geleitet, welche im weiteren Verlauf im Rheinbund zusammengeschlossen wurden. Aus nahezu 2000 (!) kleinen und kleinsten Territorien entstand ein gänzlich neues Gebilde; allerdings resultierte daraus ebenso ein gewaltiger Verlust an kultureller Substanz (überstürzte Säkularisation), und den Rest besorgte ein bei allem Aufklärertum kleinkarierter Geist
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im Adel und unter den Beamten, welcher zum Teil mehr Chaotisches denn Nützliches bewirkte. In die Zeit um 1801 fällt Kleists erste Reise ins bürgerlich orientierte Paris, wo er seine innere Bestimmung zu finden hofft. Er sieht die Metropole der Franzosen als eine «Schule der Welt», in der er auch seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse mehren und vertiefen will. An der neuen Sozialordnung hingegen scheint er wenig interessiert: Ihm liegt hauptsächlich seine Selbstvervollkommnung am Herzen! Die Begegnung mit dieser lebhaften Stadt scheint ein weiteres Schlüsselerlebnis in seinem Leben zu sein. Die Pariser Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen ekeln ihn an. Er vermeint die sittlichen Aufklärungsideale beschnitten, wenn nicht gar verraten, was wahrscheinlich auch ein Grund sein mag, weswegen er (gemäß seinem Charakter) jäh im gegenüberliegenden Extrem sein Heil suchte. An Louise von Zenge schreibt er aus Paris: «Verrath, Mord u Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden afficirt.» Nach dem Baseler Sonderfrieden (1795) war Preußen kurzfristiger Nutznießer der politischen Entwicklungen und machte einige territoriale Zugewinne – bei gleichzeitiger Isolation vom Rest der Welt. Natürlich schwächte, ja verscherzte es durch seine Unzuverlässigkeit seine Position gegenüber möglichen Verbündeten (denn faktisch ließ es Österreich mit dem überraschenden Austritt aus dem Ersten Koalitionskrieg schnöde im Stich, wodurch Kaiser Franz II. gezwungen wurde, im Frieden zu Campo Formio die Segel zu streichen; doch im strengen Sinne zuverlässig war kaum einer der auf puren Eigennutz ausgerichteten mächtigen Staaten; lediglich die Franzosen bildeten in sich eine geschlossene Einheit, zumal sie eine Idee hatten, wofür sie enthusiastisch kämpften und wofür es sich zu sterben lohnte, und nicht zuletzt besaßen sie mit Napoleon einen mitreißenden politischen Anführer, der weit über die Durchschnittsköpfe seiner Zeit hinausragte). Mit dieser zwielichtigen Verhaltensweise bot sich das alleingelassene Preußen als nächstes Opfer Frankreichs geradezu auf dem Tablett an! Im Dezember 1804 krönte sich Napoleon von eigenen Gnaden
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zum erblichen Kaiser der Franzosen. Kurz zuvor hatte Franz II. unter dem Druck des Korsen auf die Kaiserkrone verzichtet: Es war dies das Ende des tausendjährigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, welches mit Karl dem Großen begonnen hatte. 1806 wurde der Rheinbund gegründet; die königlichen Staatshäupter hatten den Eid auf den Franzosenkaiser abzulegen und sich zur Heeresfolge zu verpflichten. Diese (teils durchaus freiwillige) Gefolgschaft wurde von den Gegnern als «hündischer Rheinbundsgeist» verunglimpft. – Eine erste Phase politischer Dichtung in einer nationalstaatlichen Bewegung erwachte in Deutschland erst unter dieser gewaltsamen Expansion des napoleonischen Reiches: Dabei spielten Heinrich von Kleist, Ernst Moritz Arndt, Adam Müller und der Philosoph Johann Gottlieb Fichte eine wichtige Rolle. Ihre Dichtungen wandten sich überwiegend der Verklärung einer romantischen Nationalstaatsidee zu.
IV. Bereits vor dem Zusammenbruch von 1806/07 begehrten leitende preußische Beamte und führende Köpfe aus allen Bereichen gegen das marode absolutistische Staatssystem auf und forderten mit Nachdruck gemäßigte Reformen; sie wünschten die Heranbildung eines ständischen Volksstaates, in welchem durch Befreiung und aufklärerische Erziehung die Untertanen zu verantwortlichen Mitbürgern ausgebildet würden! Hierbei nimmt eine führende Rolle der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein ein (1757–1831). Er war seit 1780 als Jurist im preußischen höheren Verwaltungsdienst tätig; seit 1804 wirkte er als Finanzminister. Ein historisches Ereignis ersten Ranges, sowohl für Preußen als auch für Deutschland insgesamt, war die Berufung durch den König am 10. Juni 1807, als dieser den Freiherrn vom Stein bat, an die Spitze des Ministeriums zu treten. Wegen außenpolitischer Meinungsverschiedenheiten mit dem König wurde er allerdings nach der preußischen Niederlage wieder entlassen, aber aufgrund einer Empfehlung Hardenbergs (und zunächst mit Napoleons Billigung) am 4. Oktober 1807 mit der Leitung der gesamten preußischen Politik betraut. Gegen Ende 1808 wurde er
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auf Druck Napoleons erneut entlassen, da er sich vehement gegen die immensen Kontributionsforderungen des Korsen und den Bündnisvertrag zwischen Preußen und Frankreich sperrte; schließlich wurde er durch ein Achtdekret Napoleons vom 16. Dezember 1808 zur Flucht nach Böhmen gezwungen – selbst der eigene König ließ ihn nunmehr fallen wie eine heiße Kartoffel und unterzeichnete seinerseits einen Achtbefehl! Stein war zeitlebens um die nationale Einigung Deutschlands bemüht. Das von ihm erdachte und nach ihm benannte Reformwerk wurde lediglich in dieser kurzen Frist eines Jahres ausgeführt, wobei zu bedenken ist, dass er noch zusätzlich das schwierige Ressort der Außenpolitik zu leiten hatte. Er ging von der klugen Voraussetzung aus, dass ein Wiederaufstieg Preußens allein dann möglich sei, wenn Regierung und Volk zu einem neuen und besseren Verhältnis zueinander gelangten. Seine Reformpläne legte er in seiner «Nassauer Denkschrift» von 1807 dar. – Wenige Wochen nachdem diese Steinsche Denkschrift erschienen war, wurde der Tilsiter Friedensvertrag unterzeichnet, und Kleist wurde aus seiner französischen Gefangenschaft entlassen, in die er zusammen mit seinen beiden Weggefährten – Gauvain und Ehrenberg – geraten war, als er fahrlässigerweise am 30. Januar 1807 ins besetzte Berlin reiste. Es bleibt bis heute ungeklärt, ob Kleist schon damals mit patriotischen Aufträgen betraut gewesen ist. Jedenfalls war die Situation für die drei überaus gefährlich, zumal die französischen Truppen oft nicht lange fackelten und es immer wieder – auch auf bloßen Verdacht hin – zur Exekution von Bürgern kam. Auf der gleichen Linie wie Karl vom Stein, wenigstens was die Grundgedanken und Leitvorstellungen anlangte, lagen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) sowie sein Mitarbeiter Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840), Kleists Gönner. Im selben Jahr, als die Nassauer Denkschrift Steins erschien, brachten Hardenberg und Altenstein im September ihre Rigaer Denkschrift heraus: Das aufklärerische Gedankengut war u. a. von Kant und dem Briten Adam Smith, dem «Vater der Nationalökonomie» (1723–1790), beeinflusst. Letzterer begründete den wirtschaftlichen Liberalismus und pochte auf Freihandel sowie auf freie Konkurrenz.
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Der Reichsfreiherr vom und zum Stein war ein wichtiger Initiator und Macher; aufgrund der immensen Fülle der Vorhaben und der Schwierigkeiten, die sich seiner Arbeit im Dienste an Preußen entgegenstellten, hatte er nicht die notwendige Zeit, um alle seine Ideen zu verwirklichen. Als er 1808 flüchtete, hinterließ er den fruchtbaren Geist und einen realen Anfang: erste, unverzichtbare Schritte in eine positive Zukunft, die kaum genug gewürdigt werden können! Tatsächlich war sein begonnenes Werk derart kraftvoll auf den Weg gebracht, dass es als wertvolle, ja geradezu lebensnotwendige Basis zur Wiedererstarkung und zum Wiederaufstieg von Staat und Volk dienen konnte. Es berücksichtigte zudem den Machtfaktor des mitarbeitenden Volkes sowie die Selbstverwaltung und Selbstverantwortlichkeit der dienstbaren Elemente. Ab 1810 bemühte sich Staatskanzler Hardenberg, das Stein’sche Reformprojekt weiterzuführen, was allerdings nur teilweise gelang, zumal für Hardenberg die Behebung der Finanzmisere im Vordergrund stand. So kamen die Reformabsichten tüchtig ins Stocken. Der Staatskanzler hatte andere Prioritäten vor Augen – er legte nicht, wie etwa vom Stein, wert auf die Übertragung politischer Rechte auf das Volk; im Gegenteil war er auf eine Stärkung der autoritären Regierung bedacht; eine gewisse Freiheit und Gleichheit war er bloß im Rahmen bürgerlich-wirtschaftlicher Tätigkeit zu gewähren bereit. Nicht der Staatsrat von Ministern, wie Stein es eingefordert hatte, sondern der Premierminister – de facto besaß Hardenberg diese Machtfülle, die den Aufgabenbereich eines Staatskanzlers überstieg! – habe neben dem König an der Spitze des Staates zu stehen. Kurz: Hardenberg war ein durch und durch opportuner Geist, zwar auf dem Parkett der Diplomatie (ähnlich wie Metternich) gewieft wie ein Fuchs – aber ihm mangelte es am Herzblut Steins. Aus Verdruss über die zunehmend unhaltbaren Zustände und die Hanswursteleien im eigenen Lande nahmen 1811 wichtige Männer wie Scharnhorst, Clausewitz, aber auch der Freiherr vom Stein russische Dienste an und hofften damit, indirekt für Preußen nützlich sein zu können. Hardenberg und Metternich führten während dieser Zeit stets eine Beschwichtigungspolitik gegenüber
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Napoleon und warteten eine günstige Gelegenheit ab; dagegen agierten vom Stein und Graf Philipp von Stadion – das Ebenbild Steins auf österreichischer Seite und Vorgänger Metternichs – weitaus weniger geduldig-angepasst, was ein wesentlicher Grund für ihre Absetzung war. Sowohl Stein als auch Hardenberg und andere wichtige Leute erkannten die Dringlichkeit einer Heeresreform als eines eigenen, wichtigen Teils einer Neugestaltung von Staat und Volk. Gerhard von Scharnhorst (1755–1813) – der das Leitwort prägte: «Jeder Bürger ist der geborene Verteidiger des Staates» – war auf militärischem Felde des Königs Trumpfkarte. Dennoch konnte er seine Neuerungen betreffend Taktik, Strategie und Offiziersausbildung nicht angemessen umsetzen – zu widerborstig sträubten sich die Nackenhaare einer verkrusteten Generalshierarchie, zu schwach war die Rückendeckung des ewig zaudernden Preußenkönigs. Belegt ist, dass Kleist weitgehend mit den Überlegungen und Forderungen der preußischen Militärreformer übereinstimmte, und eine längere Beschäftigung seinerseits mit militärischen Fragen ist ebenso überliefert. Vor der Schlacht bei Aspern im Mai 1809 dürfte sie am intensivsten gewesen sein, wie etwa durch Dahlmann bekannt wurde. Dagegen war der leidenschaftliche Napoleonhasser Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) der eigentlich revolutionäre Kopf unter den Militärreformern. (Gegen Ende seines Lebens traf Kleist mit ihm zusammen: er unterbreitete Gneisenau einige, wohl agitatorische, Aufsätze, die leider verlorengingen oder von Kleist später verbrannt wurden.) Gneisenau war ein Verfechter des Partisanenkrieges wie auch des organisierten Volksaufstandes. Carl von Clausewitz (1780–1831; Verfasser der berühmten Schrift Vom Kriege) war sein bedeutendster Gehilfe. Sowohl der politisch-gesellschaftliche Reformer Stein als auch der Militärreformer Scharnhorst zielten in der Hauptsache auf eine Bewusstseinsveränderung in der Bevölkerung ab. Aus ehemaligen in Kadavergehorsam gefangenen Untertanen sollten selbstdenkende, selbsttätige patriotische Bürger werden! Die Reformer wollten demnach die positiven Aspekte der Französischen Revolution nutzen, sie in sicheres Fahrwasser geleiten und die negativen Aus-
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wüchse unterbinden. Vor allem Stein tat dies, ohne zu missionieren, in einer aufrichtigen, ehrlichen und staatsmännischen Manier: nüchtern und überzeugend zugleich. Seine Ideologie war frei von weltfremdem Idealismus – er war ein kerniger Pragmatiker. Unglücklicherweise stand der preußische König diesen Reformbestrebungen ablehnend gegenüber, wobei er dennoch, wie wir sahen, leitende Positionen mit Reformern besetzte: Was könnte seine Widersprüchlichkeit, seinen Wankelmut und sein zauderndes Wesen besser zum Ausdruck bringen?
V. Es wird vermutet, dass Kleist die guten Verbindungen zur österreichischen Gesandtschaft in Dresden – welches ja französisch besetzt und sicherlich von Kollaborateuren durchtränkt war – für seine geheimdienstlichen Tätigkeiten genutzt haben mag. Dazu ist kaum mehr bekannt, doch es würde zum Charakter Kleists passen. Sicher ist, dass Kleist mit Nachdruck die aktive, auf Gesamtdeutschland übergreifende antinapoleonische Politik mehr als nur befürwortete. Ebenso wird vermutet, dass Heinrich von Kleist, mindestens seit dem Frühsommer 1808, in ständiger und intensiver Verbindung mit den militärischen Kreisen Preußens stand, wobei er seinem Wesen gemäß alles auf eine Karte gesetzt haben dürfte – etwa bei der Beschaffung und Weiterleitung politischer wie militärischer Informationen; zudem dürfte er Kundschafteraufträge übernommen haben. Der spätere General Hans Gustav Heinrich von Hüser (1782–1857) erklärt dazu in seinen Lebenserinnerungen: Auch verschiedene kleine Reisen wurden erforderlich, sowohl um Personen zu sprechen, als auch um in unbedeutenden, wenig beaufsichtigten Orten Briefe zur Post zu geben, die man in Berlin, wo die Post unter französischer Kontrolle stand, ihr nicht anzuvertrauen wagte. So bin ich zum Beispiel mehrere Male bis Baruth geritten, um dort an den als Dichter bekannten Heinrich von Kleist, der unser Gesinnungsgenosse war und in Dresden lebte, Briefe auf die Post zu bringen. (…) Durch Lützow und unsere gemeinsamen Bestrebungen kam ich jetzt mit dem Lieutenant
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von Röder vom ehemaligen Regiment Möllendorff und durch ihn mit seinem Bruder und einem Kreise seltener Männer in näheren Verkehr, dem ich unendlich viel verdanke. (…) Als die für mich Bedeutendsten nenne ich hier den Capitain von Bardeleben vom aufgelösten Regiment Herzog von Braunschweig-Oels, den Kammergerichtsrat Eichhorn, der in späterer Zeit mein Schwager werden sollte, den Buchhändler Reimer, den Major von Grolmann. Durch Reimer wurde in der Folge auch Schleiermacher und Ernst Moritz Arndt, der sich zeitweise in Berlin aufhielt, diesem Kreise zugeführt, noch etwas später schlossen sich ihm der Major Graf Chazot und der damalige Oberst von Gneisenau an. Dies sind die spärlichen bekannten Fakten; Genaueres ist also nicht auszumachen. Bei den von Kleist beschafften Informationen dürfte es sich sehr wahrscheinlich um Nachrichten bezüglich der französischen Truppenbewegungen gehandelt haben, auch um Informationen über deren Stationierung und/oder um anderweitige topographische Einzelheiten, vielleicht auch um Mitteilungen bezüglich einzelner Personen etc. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Napoleon über ein höchst effizientes Spionageabwehrnetz verfügte; zudem war die polizeiliche Überwachung sehr streng, und selbstredend stand auf Spionage der Tod. Gleich nach dem Friedensschluss zu Schönbrunn Mitte Oktober 1809 – obgleich sich die österreichische Armee streckenweise verblüffend wacker geschlagen hatte, war sie gezwungen, um Frieden nachzusuchen –, verfällt Kleist in eine seiner depressiven Stimmungslagen, zumal im Friedensvertrag festgeschrieben wurde, dass auch in Prag sich die Presse einer strengen Zensur zu beugen hatte. Am 31. Oktober 1809 macht er sich mit Dahlmann Richtung Norden auf – höher verschuldet denn je, geknickt, ohne Aussichten auf dichterischen oder sonstwelchen Erfolg und nicht wissend, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Diese tragischen Empfindungen gießt er in die wunderbaren Verse seines Letzten Lieds, in das sein Patriotismus und ebenso die bitteren Erfahrungen eines ganzen Lebens eingeflossen sind. (An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass sämtliche Gedichte des Romans – bis auf das «Mädchenrätsel» – aus mei-
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ner Feder stammen. Da es mir an einer Innenschau des Charakters Kleists gelegen war und nicht so sehr an Äußerlichem, sah ich mich gezwungen, zumal seine Liebeslyrik für meine Aufgabe wenig Geeignetes zur Verfügung stellte – gilt er doch nicht eben als ausgemachter Lyriker, erst recht nicht in Liebesangelegenheiten –, selber in die Tasten bzw. Versmaße zu greifen, um die Figur aus den Innenräumen heraus zu beleuchten. – Wirklich schöne, großartige Gedichte schuf Kleist hingegen in seiner Kriegslyrik, was bei seinem exzessiven Charakter wenig verwundert: Mit dem Letzten Lied sei hier ein Beispiel beigebracht.)
Das letzte Lied (Nach dem Griechischen, aus dem Zeitalter Philipps von Makedonien) Fernab vom Horizont, auf Felsenrissen, Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt. Die Blitze zucken schon, die ungewissen, Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt. Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen, Aus seines Ufers Bette heulend stürmt, Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen, Auf alles, was besteht, herangezogen. Der alten Staaten graues Prachtgerüste Sinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült, Wie, auf der Heide Grund, ein Wurmgeniste, Von einem Knaben scharrend weggewühlt; Und wo das Leben, um der Menschen Brüste, In tausend Lichtern jauchzend hat gespielt, Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen, Durch die die Wellen des Kozytus schleichen. Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen, Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt, Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,
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Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert; Das ist geboren nicht und nicht erzogen Vom alten, das im deutschen Land’ regiert: Das lässt in Tönen, wie der Nord an Strömen, Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen. Und du, o Lied, voll unnennbarer Wonnen, Das das Gefühl so wunderbar erhebt, Das, einer Himmelsurne wie entronnen, Zu den entzückten Ohren niederschwebt, Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen, Von allen Banden frei die Seele strebt; Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken, Und stumm ins Grab musst du darniedersinken. Ein Götterkind, bekränzt, im Jugendreigen, Wirst du nicht mehr von Land zu Lande ziehn, Nicht mehr in unsre Tänze niedersteigen, Nicht hochrot mehr, bei unserm Mahl, erglühn. Und nur wo einsam, unter Tannenzweigen, Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn, Wird Wanderern, die bei den Toten leben, Ein Schatten deiner Schön’ entgegenschweben. Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten, Der Töne ganze Macht lockt er hervor, Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten, Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr, – Und wie er, flatternd, das Panier der Zeiten Sich weiterpflanzen sieht, von Tor zu Tor, Schließt er sein Lied; er wünscht mir ihm zu enden, Und legt die Leier weinend aus den Händen.
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VI. Die Quellenlage wie überhaupt die gesamte Überlieferung ist bei Kleist besonders schwierig und verwickelt (im Gegensatz etwa zu derjenigen bei Goethe), was seinen Nachruhm wesentlich mitbeeinflusst hat. Es spielten auch Zufälle und Unwägbarkeiten eine Rolle: So ist es etwa das unumstrittene Verdienst Ludwig Tiecks (1773–1853), Dichter des Gestiefelten Katers, Kleists Prinz Friedrich von Homburg vor dem vollständigen Untergang gerettet zu haben; überhaupt hat Tieck unendlich viel zur Erhaltung und zur größeren Verbreitung der Kleist’schen Werke beigetragen. Gerade aufgrund der Tatsache, dass es in der Biographie Heinrich von Kleists viele dunkle Flecken gibt, ist der Spekulation, allerlei Phantastischem und mancherlei Mutmaßungen Tür und Tor geöffnet. Folglich existieren jede Menge von Forschungen aus der Feder berufener und weniger berufener Experten, Biographien, Untersuchungen zu den unterschiedlichsten Themenkreisen und Fragestellungen, (fraglichen) Dokumentationen, Werkausgaben etc. Natürlich gibt es auch viele gute bis sehr gute Buchausgaben in den verschiedenen Sparten. Von meiner Warte scheinen mir als Hinführung zu der Person Heinrich von Kleists besonders empfehlenswert: Helmut Sembdners Dokumente zu Kleist, die von Siegfried Streller herausgegebenen Briefe sowie die Biographien von Joachim Maass, Rudolf Loch, Curt Hohoff und Günter Blöcker (ein besonderer Genuss). Was nun, wird sich mancher fragen, ist historisch belegt, was dichterische Freiheit? Es existiert eine äußere, scheinbare Wahrheit und eine wirkliche, innere. Die äußere betrifft zumeist die nüchternen, historischen Fakten, die letztere hingegen das wahre Wesen des Lebendigen oder einer Sache. Und beide ergänzen sich, gehören zusammen. – Ich folgte den bekannten Tatsachen weitestgehend! Allerdings empfinde ich diese bloß als bedingt aufschlussreich, was das rätselhafte Wesen Kleists anlangt. Ich versuchte vor allen Dingen dem Menschen Kleist von innen her auf den Grund zu gehen. Dazu dienten mir natürlich einerseits die bekannten und belegten Fakten und Verhaltensweisen als auch seine (mehr oder weniger) persönlichen Äußerungen in seinen Briefen – und vor allem, andererseits, seine dichterischen Werke, in denen sein Innerstes am
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unmittelbarsten anklingt! Inwiefern ich meinem angestrebten Ziel nahegekommen sein und ich mich tatsächlich dem Kern seines Wesens angenähert haben mag, könnte höchstens Kleist selbst beurteilen. Um mit Kleist zu sprechen: «Das äußerste, was Menschenkräfte leisten, hab´ ich getan – Unmögliches versucht …»
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Lebenstafel 1777 Bernd Wilhelm Heinrich von Kleist erblickt am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder, laut Garnisonsregister um 1 Uhr a. m., als Sohn des preußischen Majors Joachim Friedrich von Kleist sowie seiner zweiten Ehefrau Juliane Ulrike (geb. von Pannwitz) das Licht der Welt. Aus erster Ehe stammen die Schwestern Wilhelmine (1772– 1817) und Ulrike (1774–1849), welche mit Abstand Kleists Lieblingsschwester war; aus der zweiten die Vollgeschwister Friederike (1775– 1811), Auguste (1776–1818), Leopold (1780–1837) und Juliane (1781). Erster Unterricht, zusammen mit dem Vetter Karl von Pannwitz, durch den Hauslehrer Christian Ernst Martini, den späteren Rektor der Frankfurter Bürgerschule. 1788 Kleist wird – zusammen mit den beiden Vettern Karl von Pannwitz und Ernst von Schönfeldt – zwecks Erziehung und Obsorge in Privatpension zu dem reformierten Prediger Samuel Catel nach Berlin gegeben. Am 18. Juni verstirbt der Vater; Kleists Mutter bittet wenig später König Friedrich Wilhelm II. um Gewährung einer Pension, die allerdings durch eine Kabinettsorder vom 22. Juni verweigert wird. Georg Friedrich Dames wird nun zum Amtsvormund für Kleist und seine Geschwister bestimmt. 1789 Am 4. Juli bemüht sich die Mutter in einem vergeblichen Schreiben an den König um Aufnahme Kleists in die Militärakademie zu Berlin. 1792 Am 1. Juni erfolgt die Aufnahme als Gefreiter-Korporal in das unter kronprinzlichem Befehl stehenden Regiment Garde Nr. 15 b, 3. Bataillon, zu Potsdam. 1793 Am 3. Februar stirbt die Mutter; im März reist Kleist zu seinem Regiment nach Frankfurt am Main, welches im weiteren Verlauf des Ersten Koalitionskrieges zwischen Preußen-Österreich und Frankreich dorthin verlegt wurde. Es finden heftige Kämpfe gegen die französischen Revolutionsheere im Rheinfeldzug statt – unter anderem die Gefechte bei Kettrich im August, Pirmasens im September sowie im November bei Kaiserslautern. Währenddessen studiert Kleist Christoph Martin Wielands (1733–1813) Sympathien. 1794 Es finden statt die Gefechte bei Frankenthal im Januar, Hochspeyer und erneut Kaiserslautern im Mai sowie Trippstadt im Juli. Alsdann erfolgt im November der Rückzug bis nach Frankfurt am Main. 1795 Am 5. April wird der Separatfriede zu Basel zwischen Frankreich und Preußen geschlossen, und am 14. Mai wird Kleist zum Fähnrich befördert;
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kurz darauf kehrt Kleist nach Potsdam zurück. Kasernendienst in der Sommerresidenz des preußischen Königs. 1796 Im Sommer unternimmt Kleist mit einigen Geschwistern eine Reise nach Sagard auf der Insel Rügen, wo er auch Ludwig von Brockes (1767–1815) kennenlernt. 1797 Am 7. März Beförderung zum Sekondeleutenant. Intensive Musikausübung mit den Freunden Ernst von Pfuel und Otto August Rühle von Lilienstern; mathematische, naturwissenschaftliche, philosophische und altsprachliche Privatstudien; schließlich Freundschaft mit den Geschwistern Gualtieri (Marie von Kleist), Luise von Linckersdorf sowie Adolphine Werdeck. Die Abneigung gegen den Soldatenstand nimmt infolge der Differenzen mit dem Vorgesetzten, General Ernst von Rüchel, deutlichere Formen an. 1798 Harzreise im Offi ziersquartett mit Rühle, Schlotheim und Gleißenberg als wandernde Musikanten. 1799 Kleist bittet um den Abschied aus dem Militärdienst, welcher ihm gewährt wird (4. April); er verpflichtet sich, ohne ausdrückliche königliche Genehmigung keinerlei ausländische Kriegsdienste oder Zivildienste anzunehmen. Am 10. April immatrikuliert er sich nach bestandener Reifeprüfung und beginnt das dreisemestrige Studium an der Philosophischen Fakultät der brandenburgischen Landesuniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder: dort besucht er Vorlesungen in Mathematik, Physik, Philosophie, Kulturgeschichte und Jura. Nebenbei Lateinunterricht und geselliger Verkehr im Hause des Generals und Stadtkommandanten Hartmann von Zenge. Weitere ausgedehnte Studien während des Wintersemesters, u. a. Privatvorlesungen über Experimentalphysik. 1800 Anfang des Jahres inoffi zielle Verlobung mit Wilhelmine von Zenge (1780– 1852); Vorbedingung der Eltern für eine Heirat ist der Antritt eines Amtes. Im Juni hält sich Kleist zusammen mit Ulrike zur Kur in Sagard auf, und im August bricht er das Studium, nach gerade einmal drei Semestern, ab. Übersiedelung nach Berlin. Darauf spricht er bei Staatsminister Struensee vor und reist über Pasewalk, Berlin, Dresden, Chemnitz – zusammen mit Ludwig von Brockes – nach Würzburg (Würzburger Reise). Später findet ein zweites Gespräch mit Struensee statt betreffend eine Stelle in der preußischen Verwaltung als Hospitant der Technischen Deputation – in der Hoffnung auf einen Verwaltungsposten im Fabrikenwesen –, worauf eine Teilnahme an den Sitzungen möglich wird. Besuch der Königsfamilie in Potsdam. Kleist versucht nunmehr, sich auf den Beruf eines Schriftstellers vorzubereiten. 1801 Gelegentlich geselliger Verkehr in den Häusern von Berliner Kaufleuten und Fabrikanten, etwa Clausius und Cohen. Professor Huth führt ihn in die
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gelehrte Welt ein, in der er sich aber nicht wohler fühlt als in den anderen Kreisen. Nach nervenaufreibenden erkenntnistheoretischen Studien verstört ihn eine Bildungs- und Erkenntniskrise, die sogenannte «Kantkrise», welche ihn an den Idealen der Aufklärung zweifeln lässt. Schließlich flüchtet er aus Preußen (zusammen mit Ulrike) und stürzt sich in ein ausschweifendes Reisedasein. Er fährt über Dresden – wo er die beiden SchliebenSchwestern, Henriette (1777–1850) und Caroline (1784–1837), kennenlernt –, Halle, Halberstadt, Göttingen, Mainz, Straßburg bis nach Paris, wo die Geschwister Anfang Juli ankommen. Dort studiert er die französischen Aufklärer, so Rousseau und Voltaire. Erste Ideenentwürfe zu Die Familie Thierrez (später umbenannt in Die Familie Schroffenstein) sowie Robert Guiskard. Im Oktober wird Kleist nach preußischem Gesetz für mündig erklärt und kann somit über sein kleines Vermögen von etwa 6000 bis 7000 Talern verfügen. Im November zieht er mit Ulrike von Paris bis Frankfurt am Main und darauf gemeinsam mit dem Dresdner Maler Lose weiter nach Basel, wo er sich mit ihm überwirft und alleine nach Bern weiterreist. Dort pflegt er einen trauten Umgang mit Heinrich Zschokkke, Ludwig Wieland und Heinrich Geßner. Er plant, sich als Bauer in der Schweiz niederzulassen, was sowohl Ulrike als auch Wilhelmine vehement ablehnen. Das führt schließlich zum Bruch mit der Verlobten. 1802 In der Schweiz erhält Kleist erste Anregungen zum Zerbrochenen Krug (Dichterwettstreit). Er will hier nunmehr tatsächlich ansässig werden und ein Landgut erwerben; dazu beschäftigt er sich eingehend mit Landwirtschaft. Einerseits wegen seiner zunehmend prekären Vermögenslage, andererseits infolge militärisch-politischer Wirren nimmt er jedoch Abstand vom Landankauf. Ab dem 1. April bewohnt er auf der Aare-Insel bei Thun (Delosea-Inselchen) ein kleines Sommerhäuschen und arbeitet in abgeschiedener Einsamkeit an verschiedenen Projekten, u. a. an der Familie Schroffenstein, dem Robert Guiskard sowie dem Zerbrochenen Krug. Die etwa gleichaltrige Magdalena Stettler ist um den Haushalt besorgt. Im Mai erfolgt die definitive Auflösung des Verlöbnisses mit Wilhelmine von Zenge, und von Juli bis August befindet er sich infolge einer Krankheit in Pflege bei Dr. Karl Wyttenbach. Im Oktober endlich geht er – aus der durch Napoleon zunehmend bedrohten Schweiz – mit seiner Halbschwester Ulrike sowie Ludwig Wieland über Jena nach Weimar und besucht um Weihnachten herum auf Gut Oßmannstedt Christoph Martin Wieland. Kurz zuvor erscheint in Zürich und Bern bei dem Verleger Geßner die Familie Schroffenstein. 1803 Fortgesetzter, rund zweimonatiger Aufenthalt im Hause Wielands. Kleist plant eine Wieland-Biographie, die aber leider nicht zustande kommt. Intensive Arbeit am Guiskard, welchen er dem alten Wieland begeistert vorträgt (der stolzeste Augenblick seines Lebens). Luise Wieland verliebt sich in Kleist und bittet ihn, zusammen mit ihrer Schwester Charlotte, um Abreise aus Oßmannstedt. Er zieht über Leipzig nach Dresden, wo er u. a.
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Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) und Johannes Falk begegnet, von welchem er einige Anregungen zu seinem Amphitryon erhält; weiter besucht er die Familie Schlieben und hegt Selbstmordpläne. Vom Juli bis September unternimmt er – der mittlerweile völlig Mittellose – eine Fußreise mit seinem Freund Ernst von Pfuel (1779–1866) über Bern, Mailand, Genf nach Paris, um sich von seinen Schaffensnöten abzulenken. In der französischen Hauptstadt erfolgt, nach einem Streit mit Pfuel, die endgültige Vernichtung des Guiskard-Manuskriptes. Kleist bricht alleine und ohne Pass (Spionageverdacht) nach Boulogne-sur-Mer auf und versucht, bei der französischen Invasionsarmee gegen England Dienste zu nehmen. Er ist dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch nahe. Endlich wird er durch einen bekannten französischen Major aufgegriffen, unter Schutz gestellt und vom preußischen Gesandten Lucchesini veranlasst, nach Deutschland zurückzukehren. Vor der Grenze zu Deutschland, in Mainz, stellt er sich Dr. Georg Wedekind vor, der ihm auch bei seinen psychosomatischen Beschwerden behilflich ist. 1804 Im Januar wird die Familie Schroffenstein im Nationaltheater Graz uraufgeführt. Im Juni trifft Kleist, nach über viermonatigem Aufenthalt bei Wedekind, in Berlin ein und muss sich in einer demütigen Audienz (Ungnade des Königs) im Schloss Charlottenburg vor dem Generaladjutanten Sr. Majestät, Karl Leopold von Köckeritz, verantworten (mögliches Hochverratsverfahren), gleichzeitig hofft er auf eine Anstellung im Staatsdienst. Ende Juni fasst er ins Auge – zusammen mit Peter von Gualtieri, dem Bruder Marie von Kleists –, unter Umständen als Attaché nach Madrid zu gehen. In dieser Zeit wohnt er im Gasthof Goldener Stern, und von hier aus bittet er seine Schwester Ulrike, ihm die von der Familie bei Botmäßigkeit ausgesetzten monatlichen 25 Taler zu besorgen. Derweil betritt er gelegentlich das Cohen’sche Haus, wo er im August im Kreise des «Nordsternbundes» u. a. die Bekanntschaft mit Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) und Adelbert von Chamisso (1781–1838) macht. Christian von Massenbach führt ihn in die Reformerkreise um den Außenminister von Hardenberg ein (1750–1822). Im Finanzminister Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) findet er einen Gönner, welcher ihn gegen Jahresende in den (erfolgreich absolvierten) Probedienst des Finanzdepartements einstellt. Kleist wird ein Posten im Rahmen des Altenstein’schen Reformprojekts im fränkischen Ansbach in Aussicht gestellt; so lebt er innerlich in gewisser Weise auf «Abruf». In der Zwischenzeit arbeitet er intensiv an seinen Stücken weiter. 1805 Zwecks weiterer Ausbildung im Staatsdienst übersiedelt er Anfang Mai als Diätar (ein behördlich auf Zeit Angestellter) der Domänenkammer nach Königsberg. Dort arbeitet er in seiner Freizeit zusätzlich am Michael Kohlhaas, der Marquise von O…, der Penthesilea und am Amphitryon. Gleichzeitig verfolgt er noch nationalökonomische Studien an der hiesigen Universität und lernt weitere Reformpolitiker kennen. Seine Unpässlich-
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keiten nehmen stetig zu. Es findet ein unverhofftes Zusammentreffen mit seiner ehemaligen Verlobten Wilhelmine von Zenge statt, welche mittlerweile mit Traugott Krug verheiratet ist. Ulrike zieht während des zweiten Halbjahres zu ihrem Bruder und bleibt bis zum nächsten Frühjahr bei ihm. Nach dem Sieg Napoleons bei Austerlitz am 2. Dezember tritt Preußen im Schönbrunner Vertrag Ansbach an Frankreich ab, womit sich Kleists Bemühungen um ein geregeltes Leben abermals zerschlagen. 1806 Kleist entschließt sich nun endgültig, aus dem Staatsdienst auszuscheiden, und nimmt im August aus gesundheitlichen Gründen Urlaub; seine literarische Produktion erhöht sich entsprechend. Am 14. Oktober erzwingt Napoleon bei Jena und Auerstedt den vollständigen militärischen Zusammenbruch Preußens. Der gesamte Hof flieht nach Königsberg. Ende Jahr beendet Kleist die tragische Novelle Das Erdbeben von Chili. 1807 Während der Hof zu Beginn des neuen Jahres vor der nachrückenden französischen Armee weiter nach Memel flüchtet, geht Kleist mit zwei weiteren ehemaligen Offi zieren (Gauvain und Ehrenberg) von Königsberg über Pommern nach Berlin; dabei durchstreifen sie französisch besetzte Gebiete. Ende Januar werden sie unter Spionageverdacht verhaftet und als rechtlose Strafgefangene abtransportiert. So gelangen sie über Wustermark, Marburg, Mainz, Straßburg in die Festung Joux bei Pontarlier. Erst Ende März fällt die Entscheidung des französischen Kriegsministeriums, die drei als kriegsgefangene Offi ziere mit gewissen Rechten zu behandeln. Mitte April erfolgt die Überstellung nach Châlons-sur-Marne. Währenddessen arbeitet Kleist ausgiebig an der Penthesilea; Anfang Mai erscheint der Amphitryon im Arnoldschen Verlag in Dresden. Erst nach dem Tilsiter Friedensschluss vom 9. Juli, nach fast halbjähriger Gefangenschaft, wird Kleist entlassen. Von Ende Juli bis Ende August unternimmt er die Reise über Berlin und Cottbus nach Dresden, wo er u. a. in den Häusern Körner, Haza und Buol den Umgang mit Adam Müller (1779–1829), Sophie von Haza (1775–1849) und Juliane Kunze (1786–1829) pflegt. Am 10. Oktober, den er zeit seines Lebens als seinen Geburtstag ausgibt, wird Kleist im Hause des österreichischen Legationsrates mit dem Dichterlorbeer gekrönt – es ist seine glücklichste Lebensphase: er erntet literarische Anerkennung und hat gesellschaftliche Erfolge (Lesungen seiner Werke in öffentlichen Gesellschaften) zu verzeichnen. – Das Käthchen von Heilbronn wird fortgesetzt, das Fragment des Guiskard wiederhergestellt. Zusammen mit Adam Müller, Pfuel und Rühle wird die Gründung einer Buch-, Karten- und Kunsthandlung geplant. Gegen Ende des Jahres: Vorbereitung zur Herausgabe der Monatsschrift Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Ende Dezember beantragt Müller beim sächsischen König eine Konzession für die Eröffnung der «Phönix»-Buchhandlung, welche – u. a. aufgrund von Einsprüchen Dresdner Buchhändler – abschlägig beschieden wird.
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1808 Am 23. Januar erscheint der Phöbus erstmalig. Am 2. März wird unter Goethes Leitung in Weimar der Zerbrochene Krug erfolglos aufgeführt, woraufhin Kleist in seiner Monatsschrift einige gehässige Epigramme gegen Goethe vom Stapel lässt. Ende März geraten die Herausgeber in finanzielle Schwierigkeiten und versuchen, die Zeitschrift zu verkaufen. Im Juli lernt Kleist den auf der Durchreise befindlichen Ludwig Tieck (1773–1853) in Dresden kennen. Erste Nachrichten bezüglich antinapoleonischer Erhebungen in Spanien dringen nach Dresden durch. Kleist arbeitet an der Hermannsschlacht und flüchtet sich, wegen des Misserfolges des Phöbus, vermehrt in die Aktualität des Zeitgeschehens. Im Juli erscheint die Penthesilea bei Cotta in Tübingen. Der Buchhändler Walther übernimmt den Verlag des Phöbus. – Nach Zeugnissen Gustav Heinrich von Hüsers (1782– 1857), eines späteren Generals, hat Kleist in der zweiten Jahreshälfte an geheimen politischen Tätigkeiten zur Vorbereitung eines antinapoleonischen Aufstandes teilgenommen. 1809 Im Februar erscheint mit Verspätung das letzte Heft des Phöbus. Anfang April ereignet sich die scharfe Auseinandersetzung mit Adam Müller, welcher in undurchsichtiger und eigenmächtiger Weise die Außenstände des Phöbus veräußert hat. Die Duellforderung Müllers wegen Beleidigung wird allerdings gemeinsam von Pfuel und Rühle beigelegt. Ebenfalls im April erhebt sich Österreich, wozu Kleist flammende vaterländische Gedichte verfasst. In Begleitung Friedrich Christoph Dahlmanns (1785–1860) wandert er Ende April über Teplitz und Prag nach Österreich. Er wird Zeuge des österreichischen Sieges über die Franzosen bei Aspern; zusammen mit Dahlmann besichtigt er das Schlachtfeld. Im Juni bis Oktober hält er sich, zunächst durch den Sieg mit neuer Hoffnung erfüllt, in Prag auf, verfasst politische Schriften und schreibt Kriegslyrik. Von dort versucht er auch, mit Unterstützung von Vertretern der Widerstandspartei, Einfluss auf die politischen Geschehnisse in Österreich zu nehmen, indem er mithilft, die Zusammenführung mit dem norddeutschen Widerstand zu bewerkstelligen. Zudem ist ein politisches Wochenblatt, die Germania, geplant. Doch die Niederlage Österreichs bei Wagram Anfang Juli sowie der Waffenstillstand von Znaim am 12. Juli lassen alle Hoffnungen dahinsinken; es erfolgt der abermalige Absturz in die völlige Verzweiflung sowie eine weitere (psychosomatische) Krankheit, eine weitere große Lebenskrise. Man hält den verschollenen Kleist für tot. Im November findet er sich völlig abgebrannt in Frankfurt an der Oder ein, wo er das kleine Erbe der Tante Massow entgegennimmt. Während dieser ganzen Zeit arbeitet er an seinem Prinzen von Homburg. Mitte Dezember ist Kleist bei Adam und Sophie Müller zu Gast, und im Hause des Verlegers Reimer begegnen sich Kleist und Ernst Moritz Arndt (1769–1860). 1810 Anfang Jahr reist Kleist über Leipzig nach Frankfurt am Main, von wo er ein Manuskript seines Käthchen von Heilbronn an Cotta in Tübingen übersendet. Die Rückfahrt erfolgt über Gotha und Potsdam nach Berlin.
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Später wohnt er dort in der Mauerstraße, in der auch Achim von Arnim (1781–1831) sowie Clemens Brentano (1778–1842) ihren Wohnsitz haben. Kleist nimmt während dieser Berliner Zeit an den verschiedensten Tischgesellschaften teil und verkehrt im Hause des Ministers vom Altenstein. Am 10. März überreicht Kleist Königin Luise zu ihrem Geburtstag das Gedicht An die Königin von Preußen, in der Hoffnung, sich dem Hof zu nähern. Am 17. März wird das Käthchen im Theater an der Wien uraufgeführt. Im Mai ergeben sich erste freundschaftliche Beziehungen zu Rahel Levin (1771–1833). Nach dem Tod von Königin Luise entfällt eine kleine Pension, welche Marie von Kleist jahrelang an den Dichter ausgezahlt, jedoch als Geschenk der Königin ausgegeben hatte. – Ein erster Band seiner Erzählungen (enthaltend den Kohlhaas, die Marquise von O… sowie das Erdbeben von Chili) erscheint bei Reimer zur Leipziger Herbstmesse. Seit dem 1. Oktober gibt Kleist beim Verleger Hitzig die Berliner Abendblätter heraus: ein Novum, welches täglich im Kleinformat erscheint und informative, kritische sowie politische Beiträge vereint, von denen Kleist viele selbst schreibt und bearbeitet. Darin erscheinen u. a. seine Anekdoten, Erzählungen wie Das Bettelweib von Locarno, Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik oder Aufsätze wie Über das Marionettentheater. Kleists Versuch hingegen, den Reformkurs Hardenbergs öffentlich zu diskutieren, führt notwendig zu Konflikten mit der preußischen Regierung. Durch eine Kabinettsorder des Königs wird das Blatt unter strengste Zensur gestellt, was zu Absatzeinbußen und zum finanziellen Ruin führt. Mitte Dezember wird Kleist beim Staatskanzler Hardenberg vorstellig: er will eine Entschädigung für die erlittenen Verluste herausschlagen. Ende Dezember tritt Hitzig genervt vom Verlag der Abendblätter zurück; kurz darauf übernimmt Kuhn das zweite, letzte Quartal. 1811 Der mühselige, undurchsichtige Zwist mit der Staatskanzlei wegen ausbleibender, offensichtlich zugesagter Unterstützungen gipfelt in der Duelldrohung Kleists an Regierungsrat Raumer. Im März schließlich erklären Hardenberg und Kleist gemeinsam die angeblichen Missverständnisse für ausgeräumt, während Kleists Herausgeberhonorar nicht bezahlt wird und der Verleger Regressforderungen stellt. Kleist versucht, seinen Prinz Friedrich von Homburg drucken zu lassen, wird aber von Reimer abgewiesen. Im August erscheint der zweite Erzählband mit Die Verlobung in St. Domingo, Das Bettelweib von Locarno, Der Findling, Die heilige Cäcilie sowie Der Zweikampf; Kleist kündigt Reimer zudem einen zweibändigen Roman an, welcher ziemlich weit vorgerückt sei. Im September setzt sich Marie von Kleist (1761–1831) vergeblich beim Prinzen Wilhelm zugunsten einer Pension für Heinrich ein. Endlich bemüht sich Kleist – ebenso vermittels Protektion Maries, zu der eine vertiefte Freundschaft erwächst –, beim König die Wiederaufnahme in den Militärdienst zu erwirken; das Gesuch wird günstig beschieden, unter der Voraussetzung, dass der Krieg wieder einträte. Im Sommer besucht Kleist u. a. den Oberstleutnant und Militärreformer Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), welcher einen Volksaufstand
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vorbereitet, und legt ihm einige politische Aufsätze vor. Doch anstelle einer Kriegserklärung schließt Preußen einen Bündnisvertrag mit Frankreich ab. Im Oktober unternimmt Kleist einen letzten verzweifelten Versuch, seine Familie in Frankfurt an der Oder um weitere Unterstützung anzugehen. Seine Bitte wird jedoch in schroffster und demütigendster Weise abgelehnt, worauf er endgültig zu sterben beschließt. Die sterbenskranke Henriette Vogel (1780–1811) begleitet ihn am 21. November in den Tod. – Ironischerweise verurteilt König Friedrich Wilhelm III. den gemeinsam verübten Suizid als Anschlag auf «die Religion und Sittlichkeit im Volke».
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Glossar Aar, m.: Adler (dichterisch). ad infinitum (lat.): bis ins Unendliche; unbegrenzt sich fortsetzend. Adjutant, m.: ein den Kommandeuren militärischer Einheiten beigegebener Offi zier. Ägide, f.: Schirmherrschaft (die Ägis ist der Schutzschild des Zeus), Obhut. Aiolos: in der griech. Mythologie der Beherrscher der Winde. Aischylos (ca. 525–455 v. Chr.): griech. Tragödiendichter; benutzt eine bilderreiche Sprache und behandelt in seinen Werken hauptsächlich die Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung; sieben vollständig erhaltene Dramen: Trilogie der «Orestie», «Der gefesselte Prometheus», «Die Perser», «Sieben gegen Theben», «Hiketiden». alter ego (lat.): sehr enger, vertrauter Freund; das andere Ich. Alraune, f.: menschenähnliche Zauberwurzel. Amazonenkönigin: Penthesilea, Tochter des Ares, fiel in der griech. Sage im Kampf vor Troja durch Achilles, der sich in die Sterbende verliebte. Anathem, n.: Verfluchung. Angebinde, n.: Geschenk. angelegentlich: im Sinne von eifriger Beflissenheit, vorwitzig. Antäus / antäisch: griech. Sagengestalt; Antäus, Sohn des Poseidon und der Gäa, ist ein Riese, dessen Kraft, sobald er im Ringkampf niedergeworfen wird, sich durch die Berührung mit seiner Mutter, der Erde, verdoppelt. Anthroposophie: die von ➚ Rudolf Steiner um 1913 begründete Lehre von der Wesenheit des Menschen, nach welcher jeder höhere seelische Fähigkeiten entwickeln und dadurch übersinnliche Erkenntnisse erlangen könne. antichambrieren: sich in Vorzimmern (an königlichen bzw. kaiserlichen Höfen) aufhalten, um bei wichtigen Personen vorgelassen zu werden zwecks Förderung eigener Interessen; katzbuckeln, dienern.
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Antidot, n.: Gegengift. Antinomie, f.: Widerspruch (in sich). a posteriori: nachträglich, vom Späteren her; man erkennt die Ursache erst aus der zuerst erfahrenen späteren Wirkung heraus, d.h. erst über die Erfahrungstatsachen, die Wahrnehmungen lässt sich auf die Ursachen rückschließen. a priorisch: von vornherein, vom Früheren her; die Erkenntnisse werden hier durch die Vernunft, durch reines Denken, aus logischen Schlussfolgerungen gewonnen und sind von den Erfahrungen und Wahrnehmungen unabhängig. Grundbegriff der kantischen Erkenntnislehre. Ase, m.: in der altnord. bzw. altgerm. Mythologie das von ➚ Odin / Wotan geführte zentrale Göttergeschlecht neben den Wanen. Atalanta: griech. Sagengestalt; vom Vater ausgesetzte und von einer Bärin ernährte Jägerin, welche alle Freier im Wettlauf besiegte, wobei die Unterlegenen getötet wurden, schließlich mit Aphrodites Hilfe überlistet. Attaché, m.: angehender Diplomat bei einer Vertretung seines Landes im Ausland. Aureole, f.: Lichtschein, Leuchterscheinung, Heiligenschein. ausgeschamt: unverschämt. Auspizien (Pl.): Aussichten, Vorzeichen, Vorbedeutung; abgeleitet von lat. Auspicium (n.), der Vogelschau im alten Rom, wobei der Seher oder Prophet aus dem Fluge der Vögel die Zukunft vorhersehen konnte. Autoklav, m.: Druckbehältnis, Gefäß zum Erhitzen unter Druck. Avalon: ➚ Elysium, Paradies. Balm, m.: Balsam, Linderungsmittel (dichterisch). Beilbrief, m: Schuldschein. beuen: bieten (dichterisch). biderb: bieder, plump. Bilch, m.: Siebenschläfer, ein Nagetier.
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Birnam-Wald: der vor dem Schlosse ➚ Dunsinan des Schottenkönigs ➚ Macbeth sich ausbreitende Wald; in einer Erscheinung, zu welchem ihm Hexen vermittels eines Zaubertranks verhelfen, wird ihm prophezeit: «Macbeth wird nie besiegt, bis einst hinab der große Birnamswald zum Dunsinan feindlich emporsteigt.» Die Engländer ihrerseits roden die Bäume, um ihre Truppenzahl geheim zu halten, und rücken nach Dunsinan vor; die doppelsinnigen Gaukelreden der Höllengeister werden Macbeth nunmehr selbst zum Verhängnis. Blachfeld, f.: flaches Feld. Born, m.: Brunnen. Bracke, f.: Spürhund. Bredouille, f.: schwierige Situation, aus der man nicht recht herauszukommen weiß; Bedrängnis, Verlegenheit. brühlig: faulig, sumpfig. Brünne, f.: Panzerhemd. Brünnhilde: altnord. Königin des Nibelungenlieds, welche durch Siegfrieds Betrug mit König Gunther vermählt wird und schließlich ➚ Hagen von Tronje zum Mord an Siegfried anstiftet. Cammeral-Wissenschaften: die Finanz-, Wirtschafts- und Verwaltungslehre des 17./18. Jh. Caudinisches Joch: Im 2. Samniterkrieg wird 321 v. Chr. ein römisches Heer in den Caudinischen Pässen eingeschlossen. Die Erlaubnis zum Abzug wird ihm nur unter den allerschimpflichsten Bedingungen gewährt: abgesehen davon, daß es Geiseln zu stellen hat, müssen alle Soldaten waffenlos unter einem eigens aufgestellten Joch hindurchgehen. Cerberus / Zerberus, m: in der griech. Mythologie der schreckenerregende, dreiköpfige Wachhund am Tor zur Unterwelt. Cherub, m. / Cherubim (Pl.): Engel als vierköpfiges Wesen mit vier Flügeln und Rad; himmlischer Wächter an der Pforte zum Paradies, auch als Wächter des göttlichen Throns dargestellt. Chimäre, f.: Hirngespinst; in der griech. Mythologie das feuerschnaubende, dreigestaltige Ungeheuer: der Oberteil ist löwenartig, der Mittelteil ziegenartig und der Unterteil drachenartig gestaltet.
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Chiron: ein Centaur der griech. Mythologie – der Oberkörper ist menschlich und einem Pferdeleib aufgepfropft (➚ Lapithen und Centauren); Chiron als weiser und heilkundiger Centaur war zudem Erzieher vieler Helden, u.a. des Achilles. coincidentia oppositorum (lat.): Zusammenfall des Widersprüchlichen; völlige Aufhebung aller irdischen Widerspüche im Unendlichen, in der Vergottung. comme travailler pour le Roi de Prusse: für nichts arbeiten; Undank ernten; – geht wohl auf die schwierige Charakterstruktur Friedrichs des Großen zurück, der oftmals fremde Leistungen für eigene ausgab. Daimon, m. / Daimonion, n. / Dämonium: im Sinne des Sokrates die innere (evtl. warnende) Stimme des eigenen Selbst bzw. der Gottheit. Darre, f.: Austrocknung, Trockenvorrichtung. Demant, m. / demanten: Diamant, diamanten. Denatus (lat.): der Verstorbene. despektierlich: abfällig, abwertend, geringschätzig. deucht: dünkt (dichterisch). Deus ex machina (lat.): unverhoffte, plötzliche und überraschende Hilfe in einer Notlage. Dez, m.: aus dem Franz. – la tête, der Kopf. dingen: zu Dienstleistungen gegen Entgelt verpflichten; in den Dienst nehmen. dräuen: drohen (dichterisch). Dunsinan: ein Schloss des Königs ➚ Macbeth; in einer Erscheinung, zu welcher ihm Hexen vermittels eines Zaubertranks verhelfen, wird ihm der Untergang prophezeit, falls sich der Birnam-Wald auf das Schloß zubewegen würde. Mehrere solcher Prophezeiungen wiegen Macbeth in einer falschen Sicherheit, bis er feststellen muss, dass die Reden der Höllengeister äußerst doppelbödig sind. Um die Truppenzahl geheim zu halten, roden nämlich seine Feinde sämtliche Bäume des Waldes und bewegen sich in deren Schutz auf das Schloss zu. Macbeth fällt zuletzt durch die Hand des Macduff; dem Schottenkönig wurde geweissagt: «Keiner, den ein Weib gebar, wird deiner Herrschaft zur Gefahr.» Macduff wurde aber vor der Zeit durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht … Eichkätzlein, n.: Eichhörnchen.
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eitel: nichts als, unvermischt, rein. Elysium, f.: in der griech. Mythologie die vom Lethe-Strom, dem Fluß des Vergessens (➚ Fünf Unterweltsflüsse), umflossenen Gefilde der Insel der Seligen im fernen Westen – dem Gegenstück der Insel Avalon der Artus-Sage –, an welchen Ort die Helden entrückt werden; Paradies. empfahn: empfangen (dichterisch). Empirie, f.: praktische Erfahrung. enthusiasmiert: enthusiastisch, begeistert, schwärmerisch. Epigramm, n.: ursprünglich Aufschrift auf Weihgeschenken und Denkmälern; seit dem 6. Jh. v. Chr. eine literarische Kurzform als Sinn- oder Spottgedicht abgefaßt. Epik, f.: erzählende Dichtung. Eppich, m.: Efeu. Erisapfel: Zankapfel; Eris ist die griech. Göttin der Zwietracht. Ihr goldener Apfel mit der Aufschrift «Der Schönsten» wurde Anlaß zu einem Streit unter den Göttinnen – nach dem Urteil des Paris – und mittelbar zum Trojanischen Krieg. Essay, m.: kürzere Prosabhandlung über kulturell-aktuelle Fragen in eleganter Form. ➚ Montaigne. Exaltation, f.: hysterische, überschwängliche Erregung; Überspanntheit. Fährlichkeit, f.: Gefährlichkeit. falb: gelblich. Fanal, n.: Ereignis; ein weithin wirkendes Zeichen, das Aufmerksamkeit erheischt und eine Veränderung ankündigt. Feldscher, m.: Truppenarzt ohne Medizinstudium; Wundarzt. Felleisen, n.: Behältnis aus Leder, welches mit einer Eisenstange zu verschließen ist. Fenn, n.: Moor- und Sumpflandschaft. Ferge, m.: Fährmann.
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Fittich / Fittig, m.: Flügel, Schwinge (dichterische Formen). fleuchen / entfleuchen: fliehen, entfliehen (dichterisch). Fliegende Hitze: eine fiebrige Erkrankung, Delirium. Flor, m.: Schleier, samtartiges Gewebe. Flottille, f.: Verband von kleineren Kriegsschiffen. Flutenroß, n.: Schiff (eine sogenannte «Kenning», was eine altnord., normalerweise mehrgliedrige Umschreibung für einen einzigen Begriff darstellt: Beispiel Herz = Burg des Mutes etc.). fodern: fordern (dichterisch). Foliant, m.: sehr großes, unhandliches, in der Regel dickes Buch. freislich: schrecklich. Frettchen, n.: eine domestizierte Form des Waldiltisses. Freund Hein: ein Name des Todes. Frommen, m. / frommen: Nutzen, Gewinn, Vorteil. Fronde, f. / frondieren: Widerstand, Opposition / sich widersetzen, auflehnen. füglich: ziemlich, schicklich, angemessen, ausgesprochen. Fünf Unterweltsflüsse: Acheron, Phlegeton, ➚ Kozytus, Lethe (➚ Elysium) und Styx. Furor, m.: Raserei, Wut. Gaden, m.: Raum, Haus, Zimmer, Behältnis. Gauch, m.: Tor, Narr, dummer Mensch. Gebresten, n.: Krankheit, Leiden. Gelaß, n.: Raum, Zimmer (dichterisch). Genealogie, f./genealogisch: Abkunft, Lehre von den Verwandtschaften, Ahnenforschung.
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Generalbaß, m: verallgemeinert die Kompositionslehre, Harmonielehre; im engeren Sinne die abgekürzte Aufzeichnung eines vielstimmigen Tonsatzes. Geschwader, n.: Verband z.B. einer Reiterformation oder von Kriegsschiffen etc. Gewinst, m.: Gewinn. gewitzigt: schlau, intelligent, erfahren. giepern: gierig, lüstern. Glast, m.: Glanz. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (1719–1803): dt. Rokokodichter des 18. Jh.; von stark friderizianischer Gesinnung. Gleisnerei, f.: Heuchelei, Blenderei. gleißend: strahlend, leuchtend, glänzend. Gliederfluß, m.: rheumatische Erkrankung. Glose, f.: Glühen, Leuchten, Lodern, Glimmen. Gorgonen, f.: in der griech. Sage die drei weiblichen, geflügelten Schreckensgestalten mit Schlangenhaaren: Stheno, Euryale und Medusa, bei deren Anblick der Mensch vor Entsetzen versteinert. Medusa ist sterblich. Goya y Lucientes, Francisco José (1746–1828): spanischer Maler und Radierer; 1786 wurde er zum ersten spanischen Hofmaler ernannt; gilt als Revolutionär, besonders was seine Graphiken anlangt: die «Caprichos» entstanden in der Zeit von 1796 bis 1798, die «Desastres de la Guerra» zwischen 1810 und 1813. Gran, n.: kleines Gewicht. Graphologie, f.: Handschriftendeutung und -beurteilung. Grimbart, m.: Name des Dachses in der Tierfabel. Grummen, m.: Gras. Guerilla, f.: Kleinkrieg führende Einheiten, welche keiner regulären Armee angehören; Freischärler, Partisanen. Habilitation, f.: Lehrberechtigung an einer Hochschule oder Universität bzw. deren Erlangung.
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Hagen von Tronje: Sagengestalt des Nibelungenliedes; Lehensmann des Burgunderkönigs Gunther; Mörder Siegfrieds; wird als letzter der Nibelungen von Kriemhild, Siegfrieds Braut, durch das Schwert erschlagen. Halbflat, f.: Flat = Schönheit, Sauberkeit, Lauterkeit; Halbflat ist nicht vollständiger Erfolg, nicht Fisch, nicht Vogel. Halbschied, m.: Hälfte; das halbe Geschiedene (vom Ganzen). Halse, f.: Wendung eines Schiffes vor dem Wind. Harmonia: griech. Göttin des Ausgleichs, des Ebenmaßes, der Eintracht und Harmonie. Harpyie, f.: Sturmdämon der griech. Sage, dessen Oberkörper mädchengestaltig und der Rest raubvogelartig, mit Krallen und Flügeln, ausgebildet ist. harsch: (hart-)gefroren, krustig. Hegemonialmacht: ein Staat, der die Vorherrschaft über andere Staaten hat. hehlen: verbergen, verstecken, tarnen. hehr: ehrwürdig, erhaben, heilig. Helios: griech. Sonnengott. Helvetik: Epochenbezeichnung der Staatsform der Schweiz nach Umwandlung des Bundes der Eidgenossenschaft in die sog. Helvetische Republik, welche mit der französischen Besetzung anhebt und rund vier Jahre (1798–1803) bis zur Mediationsakte Napoleons dauert. Hermaphrodit, m.: der zum Zwitter gewordene Sohn der griech. Gottheiten Hermes und Aphrodite. Hiatus, m.: Öffnung, Spalt, Kluft. Hindin, f.: Hirschkuh. Hippokratisches Gesicht: das Gesicht eines Sterbenden. hochmögend: edel, vornehm, einflußreich. Hofcharge, f.: Dienststellung am Hofe des Königs.
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Holmgang, m.: altnord. Zweikampf auf Leben und Tod, ausgetragen auf einer Insel (Holm). Hospitant, m.: Gasthörer an Hochschulen; Praktikant, der einen Unterrichtsbesuch absolviert. Husch, m: geschwinder Schlag, (Frost-)Schauder. Ida und Ossa: Ida ist ein Gebirge in Kleinasien, Ossa ein Berg in Thessalien. In Homers «Odyssee» wird darüber berichtet, wie die Riesen Ephialtes und Otos sich abmühten, den Pelion sowie den Ossa auf den Olympos zu türmen, um über diese Berge in den Himmel zu den Göttern aufsteigen zu können. Ikarus: griech. Sagengestalt; Sohn des Dädalus, der als genialer Baumeister für König Minos das Labyrinth auf Kreta zu erbauen hatte. Da Minos ihn nicht freiließ, fertigte er für sich und seinen Sohn Ikarus Flügel, die er mit Wachs zusammenklebte, und entfloh mit ihm durch die Luft. Ikarus kam jedoch der Sonne zu nahe und das Wachs schmolz, worauf er ins Meer stürzte und ertrank. Impetus, m.: Ungestüm, Schwungkraft, Impuls, innerer Antrieb, Heftigkeit. in globo: insgesamt. Inkarnationsstufe: hier im Zusammenhang mit den Ideen des ➚ Pantheismus zu sehen – jede endliche Erscheinung in Raum und Zeit ist ein bestimmter, verkörperter (inkarnativer) Aspekt desselben ewigen Urgrundes. irisierend: in Regenbogenfarben schillernd. irrlichtelieren: wie ein Irrlicht hin und her flackern. Isenstein, m.: Sitz der von ➚ Odin / Wotan in den Schlaf gezwungenen ➚ Walküre Brünnhilde. Ixion: Frevler der griech. Sage, der zur Strafe in der Unterwelt auf ein ewig rollendes Feuerrad geflochten ist (neben ➚ Tantalos und ➚ Sisyphos der bekannteste Büßer in der Unterwelt). jach: jäh. Janus(tempel): Janus war der röm. Gott des Tordurchgangs, weshalb er doppelköpfig dargestellt wird (Ein- und Ausgang; Anfang und Ende). Im antiken Rom wurden die Türen des zu Ehren des Gottes errichteten Tempels im Kriegsfall geöffnet, und sie blieben es so lange, bis in keinem Teil des Reiches mehr Krieg herrschte – dann erst wurden die Tore wieder geschlossen.
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Kämpe, m.: Kämpfer, Krieger, Held. Kaliban, m.: Ungeheuer, Ungetüm, Schreckgestalt; der Kaliban ist eine Figur aus Shakespeares «Sturm». Kartätsche, f.: dünnwandiges Artillerie-Hohlgeschoß, welches, mit Bleikugeln gefüllt, aus Geschützen auf kürzeste Entfernung gefeuert wurde. Karyatide, f.: Statue eines bekleideten Mädchens als gebälktragende Säulenfigur. Karzer, m: Gefängnis, Kerker. Kataklysmus, m.: Katastrophe, plötzliche Zerstörung. Katharsis, f. / kathartisch: Reinigung, Läuterung durch Abreaktion. ken: stechend, vernichtend, verletzend. kirre: zahm, zutraulich. Kleist, Ewald Christian (1715–1759): dt. Dichter der Aufklärung; preußischer Offi zier, Freund ➚ Gleims und ➚ Lessings; wurde in der Schlacht von Kunersdorf tödlich verwundet. Klunse, f.: Ritze, Spalte, Klinze. Knappsack, m.: Reisetasche. Knust, m. / knustig: Knorren, knotiger Auswuchs (niederdt. auch: Brotkanten). Konvulsion, f. / konvulsivisch: Schüttelkrampf / krampfartig. Kozytus, m.: Strom der Klagen – einer der ➚ fünf Unterweltsflüsse. krauen: kraulen, sanft streicheln. kreuchen: kriechen. Kritikaster, m.: Nörgler, kleinlicher Kritiker. krude: grob, roh, rauh. kujonieren: rücksichtslos und bösartig quälen, schlecht behandeln, aufs Blut schikanieren.
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Labung, f. / Labsal, f. / laben: Erquickung, erquicken. Laffe, m.: Geck. Lapithen: sagenhafte Bewohner Thessaliens, deren Kampf mit den Centauren (➚ Chiron) in der Kunst oft dargestellt worden ist. Laplace, Pierre Simon (1749–1827): franz. Astronom und Mathematiker; entwickelte die Wahrscheinlichkeitsrechnung, baute die Vorstellung Newtons über die Himmelsmechanik weiter aus und stellte eine Hypothese zur Entstehung des Planetensystems auf (Kant-Laplacesche-Theorie). Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716): letzter und bedeutendster Universalgelehrter. Er verband seine mathematischen-naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit der Theologie seiner Zeit; in seiner «Monadologie» nahm er als Grundbaustein der Welt unendlich viele individuelle Kraftzentren (sog. Monaden) an. Aufgrund einer Universalmathematik (➚ Meta-Sprache) hoffte er, die göttliche Logik der Welt zu erfassen. Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781): dt. Dichter und Dramaturg. Lessing gilt gleichzeitig als Vollender und Überwinder der Aufklärung; er war ein Wegbereiter der deutschen Klassik. Sein wohl berühmtestes Stück ist «Nathan der Weise». Letten, m: Ton, Lehm. letzen: laben, erquicken. Liebden: Ehrenbezeichnung. Loge, m.: Lohe, Loki ist eine altnord. Gottheit des Feuerelementes. Lure, f.: Waldhörner; konische, bis 2,3 m lange Bronzehörner. Macbeth: König von Schottland von 1040 bis 1057; Gestalt in Shakespeares gleichnamiger Tragödie. medioker: mittelmäßig. Medusa, f.: sie ist die sterbliche Schwester der drei ➚ Gorgonen; Schreckgestalt. Meleager: griech. Sagenheld, welcher auf der Kalydonischen Jagd den Eber bezwingt.
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Mendelssohn, Moses (1729–1786): dt. Philosoph; förderte und popularisierte die Ideen die Aufklärung v.a. in Berlin und übte einen Einfluß auf den befreundeten ➚ Lessing aus. Metaphysik, f.: befaßt sich mit den Grundfragen des Seienden an sich, mit den allgemeinen Begriffen von Sein und Werden, Ursache und Wirkung, Raum und Zeit etc.; man kann sie als die philosophische Grundlagenwissenschaft ansehen. Meta-Sprache: Erst der geniale Philosoph und Mathematiker ➚ Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Infinitesimalrechnung zur selben Zeit wie Newton erfand, erkannte die Notwendigkeit, für die Analyse der Begriffe und der Wahrheiten eine symbolische Kunstsprache (eine Über-Sprache = Meta-Sprache) zu schaffen. Diese «characteristica universalis» oder «kombinatorische Zeichenkunst» sollte es ermöglichen, jede komplexe Vorstellung in einfachste Begriffe zu zerlegen, so daß das Nachdenken – sowie das mathematische Beweisen – vollständig in einen rein formalen Kalkül überführt werden würde. Die Idee zum Aufbau einer solchen Übersprache war somit klar: Sie sollte eine Formelsprache des reinen Denkens sein, welche die Logik von der Grammatik der natürlichen Sprache ablösen und so eine Einsicht in die Beschaffenheit der begrifflichen Inhalte ermöglichen würde. – Dieser Gedanke ist typisch für das Denken jener Zeit und ein Aspekt der sog. «Aufklärungsorthodoxie». Denn was dabei nicht bedacht wurde, sind die Eigengesetzlichkeiten der «Seelenkräfte», die eben zu den Gegenbewegungen, u.a. der Romantik, führten. Miasma, n. / miasmatisch: ausdünstender Gift- und Pesthauch. Minchen / Minette: Kurzform von Wilhelmine. Ministeriale, m.: Angehöriger des (mittelalterlichen) Dienstadels. Minne, f.: Liebe. Misanthrop, m.: Menschenhasser, Menschenfeind. modus vivendi (lat.): eine mögliche Form des Zusammenlebens ohne eine notwendige völlige Übereinstimmung. Montaigne, Michel (1533–1592): franz. Philosoph und Schriftsteller; seine berühmten «Essais», in der Thematik griech. und röm. Literatur verpfl ichtet, waren von weitreichender Wirkung auf die europ. Literatur, besonders auf die franz. Moralisten, die nach seinem Vorbild eine freie, unvoreingenommene Kunst der Menschen- und Selbstbetrachtung entwickelten. Murkel, m: Wickelkind, Knirps.
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Mystik, f.: eine besondere und individuelle Form von Religiosität, in welcher der Mensch vermittels Hingabe und Versenkung zu einer Vereinigung mit dem höchsten Prinzip zu gelangen sucht. ➚ unio mystica. Nachen, m.: kleines Ruderboot. nachgerade: endlich, allmählich, geradezu. nachmalig: später. Nierenschweiß, m.: Urin. nolens volens (lat.): «nichtwollend wollend» – wohl oder übel. nomen est omen (lat.): im Namen liegt die Vorbedeutung. Norne, f.: in der altnord. Mythologie die das Geschick der Menschen Bestimmenden; es werden meist drei benannt: Urd = Ursache, Geist sowie Werdandi = Werden und Entstehen, Seele und Skuld = Schuld, Körper. Obolus, m.: Scherflein, kleiner Beitrag. Obsidian, m.: Gestein. Odin / Wotan: in der altnord. Mythologie ist Odin (altgerm.: Wotan = Sturm, Wut, Erregung) oberster Gott und Walvater. ➚ Walküre, ➚ Walhall, ➚ Walstatt. Okkultismus: Wissenschaft vom Verborgenen, Geheimen; Erforschung der Übersinnlichen. O tempora, o mores (lat.): Was für Zeiten, was für Sitten! Zitat aus Ciceros Reden gegen Verres und gegen Catilina. Panier, n.: Banner, Fahne. Pantheismus, m.: die Lehre, dass ein geistiges Prinzip alles durchdringe bzw. die Anschauung, dass ein schöpferisches Prinzip das Leben des Weltalls selbst sei und dass Gottheit und Welt eins seien; vor allem von ➚ Spinoza vertreten. Parzen (Pl.): röm. Schicksalsgöttinnen, entsprechen den griech. Moiren (Klotho, Lachesis, Atropos) sowie den altnord. ➚ Nornen. Pegasus: in der griech. Mythologie das Flügelroß, welches aus dem Rumpf der durch Perseus enthaupteten Medusa entsprang; es wurde von Bellerophon gezähmt. Auch das Musenroß, zumal unter seinem Hufschlag am Helikon die Musenquelle Hippokrene hervorsprudelt.
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pekuniär: Geldangelegenheiten betreffend, finanziell. Plebs, m./f.: Pöbel, gemeines Volk, Mob. plierig: triefäugig. Plotz, m.: Schlag, Fall, Knall. Pluto: röm. Gott des Reichtums und des Überflusses, aber auch Gott der Unterwelt; entspricht dem griech. Hades. Port, m: (sicherer) Hafen. Portolan, m.: mittelalterliches Segelhandbuch. Pragmatik, f.: Orientierung auf das allein Nützliche, Sachbezogenheit, auf das nützliche Ziel ausgerichtetes Handeln. Proteus: in der griech. Sage ein weissagender Meergeist, der die Gabe besitzt, sich in jede beliebige Gestalt zu verwandeln. Pygmalion: ein griech. Sagenkönig und Bildhauer, welcher sich in eine der von ihm erschaffenen Mädchenstatuen verliebt; Aphrodite haucht ihr – auf seine Bitte hin – daraufhin Leben ein. reffen: die Schiffssegel verkürzen. Reisiger: Gerüsteter, Reiter, im Mittelalter ein berittener Söldner. Rendantin, f.: Frau eines Rendanten, d.h. eines Rechnungsführers in größeren Gemeinden oder Verbänden. Replik, f. / replizieren: Gegenrede, Erwiderung / erwidern. Revers, m.: verpflichtende Erklärung, Verpflichtungsschein. Rousseau, Jean Jacques (1712–1778): franko-schweiz. Schriftsteller und Philosoph; Überwinder der Aufklärung und Wegbereiter der Romantik: Er sah alles Übel der Welt als Folge der Zivilisation und als Schuld einer verdorbenen Gesellschaft an und pries daher einen naturhaften Urzustand der Menschheit. Zudem forderte er eine radikale Neuordnung der Gesellschaft. Säkularisation, f.: Überführung des kirchlichen Besitzes in Staatsbesitz; sich aus der kirchlichen Abhängigkeit lösen. Salbaderei, f.: langweilige, frömmelnde Schwätzerei.
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Sarraß, m.: Hieb- und Stichwaffe, Schwert, Säbel mit schwerer Klinge. sattsam: stolz, üppig, ausreichend, genug. Schanker, m.: aus dem Lat. cancer = Krebs(geschwür); Geschlechtskrankheit mit typischen Hautgeschwüren; Syphilis. Schelch, m.: (Riesen-)Hirsch. Schlagfluß: Schlaganfall, Gehirnschlag, Herzinfarkt. Schlaube, f.: Hülle, Schale. schlechthinnig: sämtlich, restlos, völlig, vollkommen ungeteilt, sichtlich, unbedingt. Schoß, m.: Vorspringendes, Ecke. Schwäre, f.: Krankhaftes, Eiter, Anschwellung, Geschwür. schwalchen: rauchen, blaken, schwelen, dampfen, rußen, qualmen. Scylla und Charybdis: in der griech. Sage ist Scylla ein Meerungeheuer, welches in eine Felsengrotte haust und sich jeden vorbeiziehenden Seefahrer zu schnappen versucht, während gegenüber die Charybdis dreimal täglich das Meerwasser einsaugt und mit Wucht wieder ausspeit. sehren / sehrte / sohr: verwunden, verletzen, leiden; sohr (sehrte) = dichterische Form der Vergangenheit. Seim, m.: Wabenhonig. Sennkraft: Senne = dichterisch für: Sehne; Kraft der Sehne, Spannkraft. Seraph, m. / Seraphim (Pl.): Lichtengel mit sechs Flügeln in Gestalt einer Schlange. Shakespeare, William (1564-1616): engl.Dichter und Dramatiker; die erste deutsche Übersetzung schuf C.M. Wieland; als die klassischen Übersetzungen gelten die Arbeiten von A.W. Schlegel und L. Tieck. sic! (lat.): wirklich so! Siechtum, n. / siech: Krankheit / krank.
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Simsons Haar: Held im Alten Testament von unglaublicher Körperkraft, deren Geheimnis in seinen Haaren steckte; er wurde von seiner Geliebten Delila verraten und im Schlaf seines Haares beraubt, worauf er gefangen genommen und geblendet wurde. Nachdem sein Haar wieder nachgewachsen war, rächte er sich an seinen Feinden, den Philistern. Sinese, m: Chinese. Sisyphos: Büßer der griech. Sage; er muss in der Unterwelt unaufhörlich einen Felsblock auf einen Berg wälzen, der aber kurz vor Erreichung des Gipfels stets wieder hinunterrollt. sonder: ohne. Sophokles (ca. 496–406 v. Chr.): griech. Tragödiendichter, der wiederholt mehrere hohe Staatsämter innehatte; von über hundert Stücken sind lediglich noch sieben erhalten: «König Ödipus», «Elektra», «Antigone», «Aias», «Philoktet», «Ödipus auf Kolonos» sowie die «Trachinierinnen». In seinen Stücken verbindet er innere Harmonie mit tiefer Frömmigkeit zu einer vollendeten Einheit. Spannadern, f.: Nerven, Sehnen. Spinoza, Baruch de (1632–1677): niederl. Philosoph; der bedeutendste Systematiker des Rationalismus und ➚ Pantheismus. Seine «Ethik» enthält ein nach streng geometrischer Methode aufgebautes Identitätssystem, welches in der Lehre von einer allumfassenden, göttlichen Substanz gipfelt. Spiritualismus, m.: Auffassung, dass jede körperliche Erscheinungsform Ausdruck des Geistes sei und daß es nur geistige Substanzen gebe; lehrt die unmittelbare Verbindung des Menschen mit Gott. splißen: splittern. stabilieren: stabilisieren. stakern / staken / staksen: steif einhergehen. stammern: stammeln. stante pede (lat.): stehenden Fußes, sofort; auf der Stelle (im Hinblick auf etwas, das unmittelbar auszuführen ist). Steiner, Rudolf (1861 –1925): österr. ➚ Theosoph und Begründer der ➚ Anthroposophie; er versuchte auf philosophischer Basis eine Wissenschaft des Übersinnlichen zu begründen.
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Strategem, s. / Strategemata (Pl.): Kriegslist, Finte, Trick. Syntax, f.: Lehre vom Satzbau als Teilgebiet der Grammatik. Tabagie, f.: eigentlich ein Lokal für Raucher, aber auch Wirtshaus, Kneipe. Tantalos: griech. Sagenkönig, welcher den Göttern seinen eigens geschlachteten Sohn Pelops zum Mahle vorsetzte, um ihre Allwissenheit zu erproben, wofür er zu den Tantalosqualen in der Unterwelt verdammt wurde. Dort muss er bei stetem Anblick von Speise und Trank immerwährenden Hunger und Durst erleiden. Technische Deputation: sie gehörte zum preußischen Manufaktur-Kollegium und hatte u.a. die Fabrikation, Erfindungen sowie ihre Verwendung in der Produktion zu überwachen. Theosophie, f.: Gottesweisheit; eine religiöse Richtung, welche in meditativer und unmittelbarer Berührung mit Gott den Sinn des Weltganzen erschauen will; die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 von Helene Blavatsky gegründet; ➚ Rudolf Steiner trennte sich 1913 davon ab und begründete die ➚ Anthroposophie. Titania: Feenkönigin und Gemahlin Oberons (=Alberich: altfranz. Aubreon); Gestalt u.a. eines altfranz. Epos und in Stücken bei Shakespeare und Wieland sowie in einer Oper von Carl Maria von Weber. transponieren: ein Tonstück in eine andere Tonart übertragen; auf eine andere Ebene übersetzen, versetzen, umsetzen, verpflanzen. Transzendenz, f. / transzendent: Überweltlichkeit, d.h. die Welt außerhalb der Grenzen menschlicher Erfahrungen und menschlichen Bewusstseins; das Überschreiten dieser Grenzen. traut: innig geliebt. trimmen: die Schiffsladung gleichmäßig verteilen. Unband, m.: Zügellosigkeit, Wildheit, Wildfang. ungeschlacht: roh, grob. unio mystica (lat.): die ➚ transzendente Vereinigung der Seele und des Geistes mit der Gottheit als Ziel der Gotteserkenntnis in der ➚ Mystik. Unmacht, f.: Ohnmacht. unneidlich: nicht beneidenswert.
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Unterweltsflüsse: ➚ fünf Unterweltsflüsse. Verdikt, s.: Richtspruch, Urteilsspruch. Vestalin, f.: eine jungfräuliche Priesterin der Vesta, welche die röm. Göttin des Herdfeuers und der Familie darstellt; eine Vestalin hütet im Vesta-Tempel die heilige Flamme, welche nie ausgehen darf. vice versa: umgekehrt, wechselweise. voltigieren: plänkeln, Gefechte führen. Waberlohe, f.: flackerndes Flammenfeuer; in der altnord. Sage der schützende Wall von lodernden Flammen, mit dem ➚ Odin die schlafende ➚ Brünnhilde umgibt. wählig: gesund, munter, wohlig, frisch. währschaft: echt, dauernd, dauerhaft. Walhall, f: in der altnord. Mythologie die Halle für die auf dem Kampfplatz Gefallenen (Walstatt); Odin empfängt die ihm durch die Walküren zugeführten Kämpfer in einer Art Paradies für Nordmänner. Walküre, f.: in der altnord. Mythologie eine der neun Totenwählerinnen (küren = wählen), welche die Gefallenen nach Walhall führen. Walpurga: eine Hexe. Walstatt, f.: Kampfplatz, Schlachtfeld (Wal = Toter, also: Platz der Gefallenen). Weiche, f.: ungeschützter, verwundbarer Teil; Eingeweide. weidlich: tüchtig. weiland: ehemals. Weiterung, f.: Schwierigkeit, Verwicklung. Widertum, n.: hartnäckigster Widerstand, Widerstrebung (dichterische Eigenschöpfung). Wittum, f.: Brautgabe, gewidmetes Gut (der überlebenden Gattin).
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Wombat, m.: austral. und tasman. Plumpbeutler mit dem Aussehen eines kleinen Bären. Die ersten Europäer, welche einen Wombat zu Gesicht bekamen, waren Schiffbrüchige; ein Exemplar wurde Mitte 1797 in Sydney dem britischen Gouverneur Hunter geschenkt, und bald darauf brachte der Botaniker Braun einen Wombat lebend nach London. Wotan: ➚ Odin. Wundtau, m.: Blut. Wust, m.: Unrat, Schutt. Zähre, f.: Träne. zeihen: bezichtigen (dichterisch). Zelot, m. / zelotisch: fanatischer Glaubenseiferer. Zieten aus dem Busche: stehende Redewendung: aus dem Hinterhalt heraus in einer Notlage überraschenden Entsatz bringen; eine Schlacht im letzten Augenblick wenden. Die Redewendung geht auf einen äußerst fähigen Reitergeneral unter Friedrich dem Großen, Hans Joachim von Zieten (1699–1786), zurück, der den Alten Fritz mehrfach aus brenzligen Situationen gerettet hat. zurren: festbinden. zusamt: gemeinsam, ganz, alle. Zwicke, f.: Zange zum Zwicken. zyklopische Einseitigkeit: u.a. eine Kritik an den Spezialwissenschaften; die Begriffsprägung geht auf einen Ausspruch Kants in seiner «Anthropologie» zurück, wo er im ersten Teil «Vom Erkenntnisvermögen» meint: «Es gibt aber auch gigantische Gelehrsamkeit, die doch oft zyklopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kamelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen.»