LEONARD DAVENTRY
MR.COMAN HOCH DREI Science Fiction-Roman Scanned by Galan (sb)
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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LEONARD DAVENTRY
MR.COMAN HOCH DREI Science Fiction-Roman Scanned by Galan (sb)
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3280 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe A MAN OF DOUBLE DEED Deutsche Übersetzung von Helga Wingert-Uhde
Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat Copyright © 1970 by Marion von Schröder Verlag, Hamburg und Düsseldorf Printed in Germany 1972 Umschlagzeichnung: C. A. M. Thole Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
1 An einem warmen Oktobernachmittag des Jahres 2090 stieg Claus Coman in der Zwölften Stadt, Sektion 7, aus der Fähre Mond-Erde. Er war schlank, mittelgroß und von unbestimmbarem Alter; bis auf den Gegensatz zwischen seinen dunklen harten Augen und dem empfindsamen, sinnlichen Mund hatte er durchschnittliche Züge; er trug Zivilkleider, und einem unbefangenen Beobachter wäre es schwergefallen, seinen Beruf oder Status zu bestimmen. Er war in der Tat ein Mann mit vielen Eigenschaften. Er hatte zur Interplanetaren Truppe gehört, die auf dem Mond stationiert war, und als Geologe war er in der Paläontologie und der Mineralogie bewandert; seit geraumer Zeit jedoch vernachlässigte er seine Arbeit auf diesen Gebieten. Der Schwerpunkt im Leben Claus Comans hatte sich in dem Augenblick verlagert, als er vor drei Jahren entdeckte, daß er telepathische Kräfte besaß. Nachdem Coman sich den Elektronenaugen an der Sperre zur Untersuchung und Identifikation präsentiert hatte, fuhr er im Luftauto in eine Gegend, die Old Peckham hieß. Von dort aus ging er zu Fuß bis zu seinem Haus, einem gut erhaltenen Relikt aus den Tagen vor der Atomkatastrophe von 1990. Die Tatsache, daß er gern in diesem archaischen Gebäude wohnte, einem der ganz wenigen, die in dieser Sektion übriggeblieben waren, blieb seinen Bekannten ein ewiges Rätsel. Auch in anderer Hinsicht war er altmodisch. Er begnügte sich mit lediglich zwei Frauen und zog gedruckte Bücher und Musik den zahllosen, meist hektischen Vergnügungen seines Zeitalters vor. Er trank mäßig, rauchte stark, redete nicht viel, lachte selten und konnte überall einschlafen, wenn sich die Gelegenheit ergab oder es sein Wille diktierte. Als er schließlich auf der Schwelle seines Hauses stand, reflektierten drei Fernsehschirme sein Gesicht — ein Gesicht, das von den Dämpfen der Venus grau und weich geworden war und sich nun allmählich unter den trockenen Verhältnissen der Erde zu röten begann. Ein Summen ertönte, und zwei junge Frauen erblickten sein Bild auf dem Schirm; die ältere der beiden ging sofort in den Salon und drückte auf den Knopf zum Öffnen, dann schaute sie flüchtig in den hohen Wandspiegel und setzte sich in einen Sessel, der der Tür gegenüber stand. Als Coman eintrat,
verharrten beide unbeweglich, starrten sich beinahe eine Minute schweigend an, bis sie sanft sagte: »Nun sind wir wieder beieinander.« Er konnte nur ihren Namen hervorbringen: »Jonl«, aber der Ton und sein Blick trieben eine zarte Röte in ihr bleiches, feingeschnittenes Gesicht. »Setz dich. Ich hole ein paar Erfrischungen«, sagte sie und ging graziös an ihm vorbei in die Halle. Sekunden später betrat das andere Mädchen den Raum. Sein war drei Jahre jünger; sie hatte goldblondes Haar und ein ovales Gesicht. Ihre Lippen bogen sich in den Winkeln spitzbübisch aufwärts. Sie war kleiner und zarter als Jonl, in ihren Gedankengängen weniger kompliziert, aber extravagant in ihrem Tun und Lassen. Jetzt streckte sie ihre Hand aus, und als er sie ergriff, die Finger flüchtig mit den Lippen berührte, sprang der schwache Duft ihres Körpers wie ein Funke auf seine Sinne über. Als er ihre Hand losließ, führte sie sie an ihren Mund. In ihren schieferblauen Augen schimmerten Tränen. So war es meistens, wenn er nach langer Abwesenheit zurückkehrte. Die drei Menschen verband eine gegenseitige Anziehung, die im Augenblick der Wiedervereinigung neu erstand; es bedurfte keiner Worte, sich gegenseitig dieser Verbindung zu versichern. Um den niedrigen Tisch am Fenster lagen drei Kissen. Coman zog seine Jacke aus, lockerte den Hemdkragen und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das mittlere Kissen. Sein, die zu seiner Rechten saß, schien es, als verdunkelten sich seine Augen. Sie nahm ein Metallkästchen vom Tisch, öffnete es und bot ihm eine Zigarette und Feuer an; dann fragte sie ruhig: »Willst du darüber sprechen?« Coman zuckte die Schultern und inhalierte den schweren Rauch. »Mannein, ein Gott, wurde getötet«, sagte er, »und seine Anhänger zerstreuen sich. Das ist alles. Ich bin für seinen Tod verantwortlich.« Während er noch sprach, kehrte Jonl zurück. Sie trug ein Tablett mit drei Tassen Tee, den sie wie üblich nach der Heimkehr miteinander tranken. Sie setzte sich neben ihn. »Als Verbindungsmann verfügst du über Informationsquellen und Einsichten, die gewöhnlichen Leuten verschlossen bleiben; aber kannst du diesen Quellen auch immer trauen?« »Das heißt —?« fragte er. »Ist es nicht möglich, daß diese Quellen eines Tages von anti-
menschlichen Elementen kommandiert und entsprechend gefärbt werden?« »Das ist möglich — aber ich würde es sofort merken. Darüber besteht kein Zweifel.« Das Ritual — denn um ein solches handelte es sich — nahm seinen Lauf, mit Fragen, Antworten, Diskussionen und Versicherungen. Nach und nach trugen der Tee, die Kühle des dunkelhaarigen Mädchens und die Wärme der Blonden dazu bei, daß Coman sich entspannen und die Geborgenheit und Sicherheit, die das Haus stets für ihn bereithielt, in sich aufnehmen konnte. Gegen Ende des Rituals erhob er sich und ging ins Badezimmer, wo die Roboter bereitstanden, seinen Körper zu säubern und zu massieren. Kurz danach ging er, nur mit einem Hausmantel bekleidet, ins Eßzimmer, das an der Rückseite des Gebäudes lag, und blickte eine Weile aus den langen Fenstern auf den von einer Mauer umgebenen Garten. Hinter diesen Mauern schossen die weißen Wohnhäuser der Nachbarn in den Himmel, und um zu verhindern, daß allzu Neugierige beobachteten, was in seinem Haus vorging, hatte Coman einen R-Schirm errichtet, einen frei schwebenden Nebel aus atomisiertem Staub. Der Abend war hereingebrochen, und auch die beiden jungen Frauen trugen jetzt nur noch einen Hausmantel. Schweigend aßen die drei das von Robotern zubereitete Mahl. Danach sprachen sie beim Wein leicht, gelöst und scherzend über alles mögliche, und nach und nach verschwand in ihrem Gespräch über irdische Angelegenheiten alles Trennende, das noch zwischen ihnen sein mochte. Jonl arbeitete halbtags in der Zwölften Stadt als Sekretärin bei einem Professor im Museum für Naturgeschichte, und Sein kümmerte sich um das Haus. Coman erwähnte, daß er auf der Venus eine Menge Gerüchte über eine zunehmende Gewalttätigkeit unter den jungen Leuten auf der Erde gehört hätte, und bevor er nach Einzelheiten fragen konnte, bemerkte er, daß sich die Gesichter der beiden Frauen verdüsterten. »Es ist eine Art Irrsinn, der von Stunde zu Stunde schlimmer wird«, sagte Sein. »Erinnerst du dich an die Flut von Morden, die Jungen und Mädchen begingen, bevor du fortgingst?« Coman runzelte die Stirn, und als er merkte, wie sehr das Gespräch Sein und Jonl aufregte, sagte er: »Wir wollen für eine Weile die Welt da draußen vergessen. Hier sind wir sicher und können
unsere eigenen Träume schaffen. Ach ja! ... Ich habe euch ein Geschenk von der Venus mitgebracht.« »Wie herrlich!« rief Sein begeistert, als sie ihre Kette in die Hand nahm. Die Juwelen waren aus einem durchscheinenden Grün, in jedem Stein flammten merkwürdige Feuerwolken aus Orange und Rot. Jonl saß regungslos. Ihr Blick wanderte von dem Geschenk, einer Kette aus funkelnden Kristallen von einem unheimlichen Purpur, das man unter den Mineralen der Erde nicht fand, hinüber zu dem Mann auf der anderen Seite des Tisches. Auch die Augen der jüngeren Frau waren auf ihn gerichtet, ihre Wangen waren gerötet, die Lippen leicht geöffnet. Coman sagte leise: »Wir verlieren Zeit.« Er erwachte um zehn Uhr früh. Neben ihm stand frischer Tee. Nach einer Weile stand er auf, badete und ging zum Frühstück hinunter. Vom Tonbandgerät in der Halle erfuhr er, daß Jonl bei einer Konferenz im Museum zugegen sein mußte, jedoch mittags zurückkehren würde. Sein war ebenfalls fortgegangen, um etwas für das Haus zu erledigen. Während er aß, schaltete er zuerst die lokalen und dann die Weltnachrichten ein, schaute müßig zu, wie die Bilder über die Westwand des Zimmers fluteten. Zum zweitenmal während der vergangenen zwölf Stunden rief jemand in Gedanken seinen Namen, er ignorierte den Anruf jedoch und konzentrierte sich auf den Nachrichtenkommentar. Nunmehr gab es in der Stadt pro Minute zehn Morde und fünfzehn Selbstmorde. Die Pläne für einen neuen Straßentunnel von London nach Rom waren gebilligt worden. In New Jersey, Sektion 9, hatte man ein Arsenal privat hergestellter Atomwaffen entdeckt ... Die interplanetaren Nachrichten waren interessanter. Aus der Sterngruppe der Plejaden hatte man Signale von offensichtlich intelligenten Wesen empfangen; man konnte sie augenblicklich noch nicht verstehen, sie wurden jedoch von Experten untersucht. Irgendeine Gas- oder Partikelwaffe, die vermutlich von antimenschlichen Elementen außerhalb des Sonnensystems hergestellt worden war, hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden drei Raumschiffe durchdrungen und zerstört, und Detektive und Wissenschaftler arbeiteten an diesem Problem. Doktor Leiz hatte eine neutrale wissenschaftliche Kommission
aufgefordert, seinen neuesten Spiegel zu untersuchen, der, so behauptete er, »die Reflexion von Wesen zeigt, die uns zwar in Verhalten, Kleidung und Zeitalter exakt gleichen, jedoch überhaupt nichts mit uns und unserer Welt zu tun haben«. Coman dachte über diese letzte Meldung nach. Schließlich stand er auf und ging zu einem angrenzenden Raum, der mit allen möglichen Sicherheitsvorrichtungen verschlossen war. Hier bewahrte er seine persönlichen Wertsachen auf und die Maschine, die als Connector bekannt war. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür. Er hatte ein gewisses Recht, den Ruf zu ignorieren —eine Zeitlang zumindest, um sich zu erholen und ein wenig Ferien zu machen. In der vergangenen Nacht hatte er den beiden Frauen, die sein Bett teilten, so gut wie fest versprochen, daß er mit ihnen eine vierzehntägige Kreuzfahrt auf einem der wenigen blauen Meere, die auf der Erde noch übriggeblieben waren, unternehmen würde. Dennoch konnte er die Maschine nicht vergessen. Er war dem Connector bereits zu lange ferngeblieben, und außerdem hatte er einen namentlichen Ruf erhalten. Mit einem Spezialschlüssel setzte er den Auslösemechanismus in Bewegung und konnte schließlich das Zimmer betreten. Der rechteckige Raum war wie ein Arbeitszimmer eingerichtet, mit Hunderten von normalen und Video-Büchern, Tonbändern und Schallplatten, die mehr als tausend alte und moderne Kompositionen umfaßten. In einer Ecke befand sich, hinter Glas geordnet, seine Privatsammlung von Fossilien, und an der Stirnwand hing ein kleiner Schirm, ein Spezialentwurf. Die Klimaanlage funktionierte durch den Fußboden; es gab keine Fenster, und der Raum war vollkommen schalldicht. Coman wählte ein Musikstück, und nachdem er den Apparat angeschaltet und die Lautstärke geregelt hatte, machte er es sich in einem tiefen Sessel bequem, der dem Schirm gegenüberstand; er hatte die Augen geschlossen und alle Sinne, bis auf das Hören, abgestellt und in Passivität versetzt. Musik galt bei den Personen, die im Besitz telepathischer Kräfte waren, als eine hervorragende Vorbereitung auf die unbewußte Wachsamkeit. Coman hatte einen alten Klassiker gewählt: er hörte Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung«. Als das Stück beendet war, blieb er noch ein wenig sitzen, erhob sich dann, holte den Connector und stellte ihn auf einen kleinen Tisch neben dem Sessel. Der Connector war ein runder Gegenstand, nicht größer als zwei
Männerhände. Der Apparat bestand aus einem hauchzarten Crionium-Gewebe, einem seltenen Erz vom Merkur, das um eine Bleiplatte gelegt war. Das Ganze schlossen — in Spiritus schwimmend — der Boden des Zwischenhirns und die pituitäre Sektion eines menschlichen Gehirns ein. Zwei Bleiplatten, die vom Gehäuse ausgingen, mußten an den Schläfen befestigt werden. Connectoren ließen sich natürlich leicht transportieren, aber wegen ihres enormen Wertes und der Seltenheit des für ihre Konstruktion nötigen Materials hielten die wenigen Menschen, die einen besaßen, ihren Connector sorgfältig verschlossen und transportieren ihn lediglich in Augenblicken großer Dringlichkeit. Der Apparat verband seinen Träger mit Gedanken anderer Verbindungsmänner und -frauen, wobei es unwichtig war, ob sie gerade an den Kreis angeschlossen waren oder nicht. Außer den »namentlichen Anrufen« einer bestimmten Person erlaubte die Maschine jedoch direkte Verbindung nur mit anderen Trägern. Als Coman die Bleiplatten befestigt hatte, wurde es pechschwarz um ihn. Er hatte die Augen geöffnet, starrte fest auf den »Hilfs«schirm und ließ die Gedankenbilder seiner Kollegen auf der Erde in ein entspanntes, leeres Bewußtsein einfließen. Sie glichen winzigen transparenten Aalen, die sich durch einen See der Dunkelheit schlängelten und voranschossen, und es dauerte einige Zeit, bis er in diesen See hineinsank, eins mit ihm wurde. Die Minuten vergingen, die Farbe verließ sein Geeicht. Seine Glieder erkalteten, und der Herzschlag sank nahezu auf Null. In dem See befanden sich drei andere Menschen, die ebenfalls an einen Connector angeschlossen waren, und er konnte jeden einzelnen nunmehr ganz deutlich spüren. Es waren ein Mann und eine Frau, die er nur in Gedanken kannte — und Karns, dessen Geisteskind der Connector war. Der brillante Karns verbrachte viele Stunden an der Maschine, von der er hoffte, daß sie dazu beitragen würde, die Natur des menschlichen Lebens zu verändern. K. Kommen Sie, Coman, antworten Sie. C. Coman antwortet. K. Ich rufe Sie schon eine ganze Zeit. Warum hat es so lange gedauert? C. Bin ich ein Hund, daß ich gleich angerannt komme? K. Coman, jeder denkt nur Gutes von Ihnen, weil Ihr Handeln ebenso vorzüglich ist wie Ihr Denken. Coman fühlte bei diesen Worten Ärger in sich aufsteigen, nicht
nur, weil er Schmeichelei haßte, sondern auch, weil er gleichzeitig Karns Bedauern darüber spürte, daß es offenbar notwendig war, zu schmeicheln. Karns war der Beste unter ihnen, und es hieß sogar, daß er auf irgendeine Weise mit den Unbekannten Sinnen in Verbindung stand, jenen Gedankenprozessen, deren Gegenwart man nur spüren und nicht verfolgen konnte, die jedoch ganz sicher in dem See oder in der Leere des menschlichen Unterbewußten existierten. K. Je weiter wir vordringen, desto mühseliger wird der Weg, desto komplizierter sind die Fragen und die Antworten. In dem Maße, wie neue Bedingungen und Situationen entstehen, fluktuieren und verändern sich die Gehirne der besten Männer unaufhörlich, um mithalten zu können. Auf diese Weise schützen sie ihre Besitzer vor Irrsinn und Ruin. C. Das muß so sein. K. Unsere Aufgabe wird also immer komplizierter. Wir haben es auf uns genommen, uns einzumischen, und können nicht mehr zurück. Es entstand eine lange Pause. C. Also? K. Also müssen diese neuen und potentiell wichtigen Trends erforscht und analysiert werden — auf die eine oder andere Weise, vorzugsweise mit unserer Hilfe. C. Alle diese Punkte sind bekannt. Was schlagen Sie vor? K. Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Sie haben vielleicht mehr als mancher andere das Recht auf Ruhe und Erholung, aber Sie müssen berichten, sich äußern und Ihren Beitrag liefern. Es spielt keine Rolle, ob Sie der Ansicht sind, daß Sie aktiv eingreifen müssen oder lediglich an den Gedankenprozessen teilnehmen — aber Sie müssen stets und ohne Verzögerung berichten und sich äußern. Das bedeutete, daß er nach seiner Rückkehr zur Erde sofort an den Connector hätte gehen sollen. C. Ich hatte das neue Gefühl der Dringlichkeit noch nicht ganz begriffen. Mein Bericht lautet wie folgt. Er gab Bilder seines Aufenthaltes auf der Venus, Bilder jener Gedanken, die er während seiner Mission empfangen hatte, und Bilder, die sich als besonders interessant festgesetzt hatten. Alle wurden von dem dunklen See aufgenommen, lagen dort bereit für jeden, der irgendwann in der Zukunft nach ihnen fragen würde.
K. Vielen Dank. Wollen Sie jetzt wahrnehmen? C. Mit Ihrer Hilfe. Coman löste sich vollkommen, bis auf die letzte Verbindungsleine zum Bewußtsein, die beiden Männer ergriffen einander im Bruchteil einer Sekunde wie Trapezkünstler und stürzten in die Leere des Unterbewußtseins der Welt. Als diese Leere mit ihren zahllosen Milliarden von Gedanken — grausamen und friedlichen, bösartigen und liebevollen, kühnen und furchtsamen — über ihm zusammenschlug, erreichten sie den niedrigsten Punkt des Bogens, und Karns ließ ihn los. Coman war allein, fiel durch eine endlose Vielfalt klangloser Stimmen und grotesker Bilder. Bei der ersten Gedankenreise ist dies die erschreckendste und quälendste Erfahrung, denn in diesem Stadium, in dem das Fleisch völlig vergessen ist, hört ein menschliches Wesen auf, Mensch zu sein, ist kaum mehr als ein Flüstern in der Ewigkeit. Paradoxerweise wird ihm nur in diesem Zustand bewußt, daß ein System existiert — aber dies ist durchaus keine beglückende Erkenntnis, befähigt sie doch den Menschen zu erkennen, wie unendlich klein sein Anteil daran ist. Als Coman schließlich abwechselnd geschwind und mühsam aus den Maschen der Leere emporkletterte, warteten die drei noch auf der anderen Ebene. K. Nun? C. Bestimmte Faktoren scheinen Druck auszuüben. Zum Beispiel Leiz mit seinen Spiegeln. K. Ah! Ein etwas exotisches Geheimnis, das uns nicht weiter kümmern soll, bis wir mehr Daten besitzen. C. Dann die Angriffe auf unsere Raumschiffe. K. Die Wissenschaftler sind bereits auf dem Wege, eine Lösung für dieses Problem zu finden. C. Und der Vorschlag, eine Kriegssektion zu schaffen. K. Ich denke, daß diese Angelegenheit Ihre ganze Aufmerksamkeit verdient. C. Ich verstehe. Wie ist die allgemeine Ansicht? K. Im Augenblick scheint sie geteilt zu sein. Wie ist Ihre Meinung? C. Die naheliegende Antwort ist, daß es falsch sein muß, aber man lernt, naheliegenden Antworten zu mißtrauen. K. Natürlich. Kann ich morgen um diese Zeit ein abgewogenes Urteil erwarten? C. Gewiß.
K. Hier ist jemand, der Ihnen die vorliegenden Daten geben wird. Auf Wiedersehen. Es dauerte kaum länger als eine Viertelstunde, bis alle bekannten Fakten, die mit dem Vorschlag für die Errichtung einer Kriegssektion zusammenhingen, über die nun ein vom Weltrat eingesetztes Komitee beriet, säuberlich in Comans Gehirn eingeordnet waren, zusammen mit einem detaillierten Bericht über das enorme Ansteigen der physischen Gewalt innerhalb der letzten Monate. Es war halb zwölf, als er die Bleiplatten abnahm, das Instrument verschloß und wieder an das Tageslicht tauchte. Er fühlte sich an Körper und Geist erschöpft — eine normale, aber nichtsdestoweniger unangenehme Nebenwirkung der Arbeit am Connector. Es war niemand da, aber Sein hatte hereingeschaut und eine Nachricht hinterlassen. Sie bat ihn, sie in einem Restaurant in der Stadt zu treffen. Coman vergewisserte sich, daß das Haus gesichert war, und trat auf die sonnenüberflutete Straße. Er begegnete nur sehr wenigen Fußgängern, weil fast jeder mit dem Luftauto fuhr; er jedoch liebte es, seine Beine so oft wie möglich zu bewegen. Die Hände in den Taschen schlenderte er die Straße entlang, er hielt den Kopf gesenkt, in seinem Mundwinkel hing nämlich eine Zigarette, und er riskierte, aus der Luft von einem der Ordnungshüter gesehen zu werden. Als er den Stadtdistrikt erreichte, zertrat er die Zigarette und wies sich an einem der Eingangstore aus. Nachdem er identifiziert worden war, konnte er sich auf das Transportband stellen, das ihn weiter in die Vorstadt brachte; er stieg ab und fand schon bald das Restaurant, den Weißen Kometen. Sein war noch nicht da. Coman setzte sich an einen leeren Tisch. Er bestellte ein kaltes Getränk, schlürfte es langsam und starrte die anderen Gäste an. Es waren nicht viele. Dies war eine reine Geschäftsgegend, und zu dieser Tageszeit war nahezu jeder damit beschäftigt, Geld zu verdienen. Etwa gegen zwei Uhr würde die Arbeit zu Ende sein, dann ruhten sich die Leute ein oder zwei Stunden aus und begannen danach die fortwährende Suche nach Unterhaltung und Zerstreuung — eine Beschäftigung, die die gesamte Gesellschaft bis in den Morgen hinein beschäftigte. So etwa sah gegen Ende des 21. Jahrhunderts das Leben aus. Erst weitere fünfhundert Jahre später würde sich der Mensch völ-
lig aus dem Käfig der Selbstignoranz befreit haben, die ihn blendete und verhindert hatte, daß er schon viel früher in Frieden und Glück lebte. Die Existenz des Käfigs, der die Menschen umgab, hatte man bereits zu Beginn des Aufstiegs erkannt, und die Jugend einer jeden Generation hatte seine Gegenwart gespürt. Sie hatte stets die innere Gewißheit, daß die Welt ihrer Eltern in gewisser Weise unaufrichtig und verzerrt sei, obgleich sie zu jeder Zeit aus Mangel an Beweisen und fehlender Autorität hilflos und enttäuscht zuschauen mußte. So unvermeidlich wie ihre Desillusion und Bitterkeit war die verzweifelte Suche nach einem Ausweg; darin wurzelten zunächst die religiösen und politischen Kämpfe und später, in den ersten Tagen der Eroberung des Sonnensystems, das Abenteuer im Weltraum. Die jungen Menschen dieser Epochen klammerten sich wie Ertrinkende an die neuen Erlebnisse, die ihnen die Weltraumfahrt bot. Man könnte also annehmen, dies sei eine gute Gelegenheit gewesen, ein völlig neues System zu schaffen. Durch große Entfernungen von der alten Autorität entfernt, frei von religiösem und politischem Fanatismus, hätten sie diejenigen sein können, die ein besseres und weiseres Lebenssystem erdachten und einführten! — Aber noch immer umgab der unsichtbare Käfig die jungen und alten Menschen, und der Weg des Ausbruchs mußte noch entdeckt werden. Man hatte auf der Venus, dem Mars und anderen Planeten, die für eine Besiedelung weniger geeignet waren, Gemeinschaften gegründet, aber allzubald nur wuchsen die Kinder, die ausgezogen waren, um diese Planeten zu bevölkern, heran und glichen immer mehr ihren Eltern, die sie verachtet hatten; denn die Arbeit war hart und der Preis des Überlebens hoch, und so errangen oberflächliche Vergnügungen und Belohnungen auch hier unerbittlich den Sieg. Das Trachten nach Reichtum, die Gier nach Erregung und die Begeisterung für technische Entwicklungen verdunkelten weiterhin die gültigen Werte und Erkenntnisse, nach denen der Mensch in früheren Jahrhunderten so eifrig gestrebt hatte. Die Menschen des 21. Jahrhunderts empfangen den Wunsch nach echtem Verständnis und Liebe weniger stark als in all den Jahren der Götter, die man nun die falschen nannte. Eine neue Generation war herangewachsen, die alle Illusionen ablehnte und verabscheute; sie widmete sich aktiv der Zerstörung. Jeden Tag begingen junge Leute Tausende scheinbar sinnlose
Morde, anschließend nahmen sie sich entweder selber das Leben oder ließen sich verhaften. Die Situation hatte sich derart zugespitzt, daß die Weltregierung ihre Mitglieder aufgerufen hatte, Vorschläge zur Lösung des Problems zu unterbreiten. Viele hielten es für das praktischste, eine neue Sektion zu schaffen. Auf einigen tausend Quadratmeilen konnten sich alle Menschen, die antisoziale Tendenzen zeigten, unter primitiven, unzivilisierten Bedingungen durchschlagen. Ein solches Unterfangen mußte natürlich streng kontrolliert und von außen beobachtet werden — es besaß zumindest den Vorteil, daß man das Problem einstweilen, bis man eine bessere Lösung fand, im Griff hatte. Viele Wochen lang war dieser Gedanke heiß diskutiert worden, und in zwei Tagen würde ein Komitee zusammentreten und so lange tagen, bis die Angelegenheit geregelt war. Ein junger Mann und ein Mädchen hatten das Restaurant betreten und bestellten Getränke. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, von dem aus man auf die Luftautostation blickte. Sie unterhielten sich leise und schauten einander lächelnd in die Augen. Coman löste die Blockierung seiner Sinne und streckte vorsichtig seine Fühler in ihre Richtung aus, vorsichtig deswegen, weil man immer auf der Hut sein mußte; einige Menschen, die zwar selbst nicht in der Lage waren, Gedanken zu lesen, wußten oder spürten, wenn sich die Fühler eines fremden Bewußtseins ihrem eigenen näherten. Das Pärchen dachte nur an sinnliche Dinge, und er wollte sich schon zurückziehen, als er aus der Nähe den flüchtigen Wunsch nach einer Zigarette auffing. Es war der Eigentümer, der hinter der Theke beschäftigt war. Coman hatte dies kaum registriert, als Seins Gegenwart in sein Bewußtsein floß, einen Augenblick bevor sie in der Tür erschien. Ihre Gestalt zeichnete sich durch das hauchdünne Kleid klar gegen das Sonnenlicht ab. Er lächelte und erhob sich, um ihr entgegenzugehen, übersah ihre fragend hochgezogenen Augenbrauen und führte sie an die Theke. »Haben Sie ein Privatzimmer, wo wir Kaffee trinken können?« fragte er den Besitzer. Der Mann schien überrascht. »Da sind doch jede Menge leere Tische im Restaurant.« »Sie sehen ganz so aus, als wären Sie Raucher«, sagte Coman unbekümmert. »Was wollen Sie damit sagen? Das ist eine verdammte Lüge!«
»Das glaube ich nicht. Ich bin nämlich zufällig selbst einer. Wie wäre es also mit einem kleinen gemütlichen Eckchen, wo man genießen kann ...?« Unsicherheit und Resignation wechselten auf dem Gesicht des Mannes. Schließlich nickte er und zeigte auf eine Tür am Ende der Bar. »Da hindurch und die Treppe hinauf. Oben links, dann der dritte Raum rechts. Das wird aber extra berechnet.« »Selbstverständlich.« Es war ein kleiner Raum mit zwei Korbstühlen an einem Glastisch vor einem Fenster, das auf einen Miniaturpark mit einem kleinen Tisch aus Spiegelglas und Plastikbäumen blickte. »Es ist gut, mit dir allein zu sein«, sagte Sein. Coman blickte sie nachdenklich an, genoß ihre Schönheit und überlegte, was ihr wohl gerade durch den Kopf gehen mochte. Obgleich Sein und Jonl ihn so, wie er war, akzeptierten, mochten es beide nicht, wenn er ihre Gedanken las, außer unter ganz speziellen Umständen. Was Sein betraf, so war das auch kaum nötig. Sie war offen und unkompliziert, voller Liebe und stets bereit, Liebe zu empfangen. »Wollen wir fortgehen, nur du und ich?« fragte er. Sie lächelte, denn sie wußte, daß er scherzte. Nach längerer Zeit der Abwesenheit beherrschte die drei ein gegenseitiges Verlangen, und ohne Jonl konnten sie die wahre Erfüllung nicht finden. »Du hast versprochen, daß wir Ferien machen.« »Stimmt. « Er schaute aus dem Fenster. »Was soll das heißen — daß wir nicht fahren?« »O nein! Wir werden Urlaub machen.« In diesem Augenblick brachte ein Roboter den Kaffee. Als er wieder fort war, sprach Coman weiter: »Ich merke schon, daß du eine Abwechslung brauchst. Vielleicht sollte ich das Haus verkaufen.« »O nein, tu das bitte niemals. Ich liebe es.« Er lächelte. »Meine Ahnen haben dafür gesorgt, daß, solange das Haus aufrecht steht, kein Gesetz der Erde daran rütteln kann, daß es auf den männlichen Erben übertragen wird.« »Und du bist der letzte.« Er schaute sie an, und ihre Augen begegneten den seinen in einem langen, warmen Blick. »Das also möchtest du«, murmelte er.
Sie senkte die Augen, hob die Tasse und vermied nun, ihn anzuschauen. »Warum nicht? Ich habe viel darüber nachgedacht, während du fort warst.« In der Tat, warum eigentlich nicht, dachte er. Ein Baby — Junge oder Mädchen — könnte sehr gut mit der gleichen anomalen Fähigkeit der Sinneswahrnehmung auf die Welt kommen. Er empfand bereits ein seltsames Gefühl der Zärtlichkeit für das noch nicht einmal empfangene Kind, und in diesem Augenblick wußte er, daß Seins Vorschlag genau das war, was er sich wünschte, seitdem Jonl sie ihm vor achtzehn Monaten vorgestellt hatte. Allerdings gab es noch zahllose Schwierigkeiten. »Nach dem Gesetz übernimmt der Staat das Kind, nachdem es entwöhnt ist.« Sie machte eine Handbewegung. »Unsinn. Du wirst schon einen Weg finden, damit wir es behalten können. Du bist Verbindungsmann.« »Liebe Sein. Du kennst die wahre Stellung eines Verbindungsmannes nicht. In der Öffentlichkeit begegnet man ihm mit Mißtrauen und Argwohn, und wir haben nur wenige Freunde in einflußreichen Stellen. Es gibt in der Regierung viele, die uns als eine Gefahr betrachten und die jeden einzelnen von uns am liebsten eliminieren würden.« Sie blickte ihn erschrocken an. »Das habe ich nicht gewußt.« »Es ist wahr. Glücklicherweise werden wir durch die Art unserer Begabung im voraus gewarnt, so daß es unwahrscheinlich ist, daß heimliche Unternehmungen erfolgreich verlaufen.« Er schwieg und setzte dann hinzu: »Was hält Jonl von der Idee?« »Ich glaube, sie ist einverstanden, aber — und das ist viel wichtiger — was hältst du davon?« Er ergriff ihre schlanke Hand. »Ich möchte es, aber wir müssen einen Weg finden, wie wir das Kind behalten können.« In diesem Augenblick summte das winzige Kurzwellengerät, das alle drei am Handgelenk trugen, und Coman, der die Hand ans Ohr hob, hörte Jonl seinen Namen rufen. Er drehte an einem Schalter und führte das Gerät dicht an seine Lippen. »Ich höre.« »Ich bin Gott sei Dank fertig. Wie steht's mit Essen?« »Fein. Irgendwelche Vorschläge?« »Ja, eigentlich sind wir in einer Stunde bei meinem Vater ein-
geladen.« Er zögerte einen Moment und sagte dann: »Vorzüglich.« »Gut, aber seid vorsichtig. Im Augenblick tobt anscheinend gerade eine Bande Jugendlicher in dem Gebiet und bringt wahllos Menschen um.« »Welche Waffen?« »Nur kleine Strahlenpistolen, aber sie haben sechzehn Frauen und Kinder in einem Supermarkt getötet und verkrüppelt und zwei Untergrundwagen zerstört. Drei aus der Bande wurden festgenommen, zwei kamen um, aber fünf laufen immer noch frei herum.« Dann fügte sie sanfter hinzu: »Also bis dann.« »Bis dann.« Er wandte sich an Sein, die das Ohr an ihr Handgelenk gelegt hatte. »Du hast gehört?« Sie nickte. »Wir essen also bei Richter Elman — ein merkwürdiges Rendezvous!« Er zuckte die Schultern. »Mit dem Luftauto brauchen wir eine halbe Stunde. Dann habe ich noch fünfundzwanzig Minuten Zeit, um mich zu entspannen. Ich habe eine strapaziöse Stunde in meinem privaten Schwitzkasten hinter mir. Was willst du unternehmen? Möchtest du inzwischen einen Kaffee oder etwas Stärkeres?« »Nein, erst wenn du wieder wach bist — aber ich möchte eine Zigarette.« Sein rauchte wie ein kleines Mädchen, das Angst hat, von der Lehrerin erwischt zu werden. Eine Weile studierte sie sein Gesicht und dachte, wie kindlich, fast unschuldig er im Schlaf aussah. Dann nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe in den Müllzerkleinerer. 2 Richter Elman lebte in einer sogenannten »Hauswohnung« auf einem der Spezialgrundstücke, die für Angehörige der gehobenen Berufe reserviert waren. Bei Gericht galt er als Mann von reifem Urteilsvermögen. Er war klein und untersetzt, hatte graumeliertes Haar und eine Vorliebe für gutaussehende Jünglinge. In jungen Jahren war sein Geschmack weniger einseitig gewesen, und Jonl war das Produkt einer Liaison mit einer jungen Rechtsanwältin, die sich das Leben genommen hatte, kurz nachdem Elman ihrer
Gesellschaft überdrüssig geworden war. Für seine Tochter empfand er Zuneigung und ein gewisses Pflichtgefühl; jedoch konnte er nicht begreifen, warum sie sich so lange — drei Jahre — an einen einzigen Mann gebunden hatte, und noch dazu an einen Mann wie Coman. Im stillen hielt der Richter alle Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten für Phänomene, die eine bisher noch nicht klar definierte Gefahr für die Zukunft der Gesellschaft bildeten. Es gab keinen besonderen Grund dafür, daß er Jonl gerade an diesem Tage zum Essen eingeladen hatte. Den Morgen hatte er im Gericht verbracht, bei einem ermüdenden Streit über die Auslegung eines Gesetzes, und mit einiger Erleichterung hatte er vernommen, daß die Polizei eine Vertagung wünschte, um einige neue Nachforschungen abzuschließen. Dann war ihm plötzlich eingefallen, daß er seine Tochter seit Monaten nicht gesehen hatte, und obgleich sie keine besonders guten Freunde waren, hatte er auf der Stelle beschlossen, sie einzuladen. Es fiel ihm ein, daß Jonl sicher gern das blonde Mädchen Sein mitbringen würde. Dagegen war nichts einzuwenden, und er wußte, daß Coman für unbestimmte Zeit zur Venus gereist war. Jonl hatte die Einladung angenommen, und es war eine unangenehme Überraschung für den Richter gewesen, daß Coman am Abend zuvor zurückgekehrt war und ebenfalls zum Essen erscheinen würde. Es war unmöglich, die Einladung zurückzuziehen, und der Richter beschloß, das Beste aus der Sache zu machen. Eine Stunde lang entspannte er sich bei starken Getränken und schluckte einige Pillen, um den Zustand zu erreichen, den man brauchte, Gäste von zweifelhaftem Potential zu empfangen und zu unterhalten. Jonl kam natürlich als erste. Der gegenwärtige Geliebte ihres Vaters ließ sie ein — ein junger Mann mit stark geschminkten Augen und langem dunklem Haar. Er bat sie ins Empfangszimmer, verneigte sich und ließ sie allein. Ein paar Minuten später trat ihr Vater ein, und als sie einander angemessen begrüßt hatten — der Richter berührte den Kopf seiner Tochter, und sie legte die Hand auf das linke Knie —, sagte Jonl: »Vielen Dank für deine Einladung. Der Herr und die Dame werden zur verabredeten Zeit hier eintreffen.« Unwillkürlich zuckte er ärgerlich zusammen über die formelle Art, in der sie mit ihm sprach; aber sie war ein seltsam unergründ-
liches Wesen und erinnerte ihn in verschiedener Hinsicht an ihre Mutter. Sie war groß und dunkeläugig, das dunkelbraune Haar fiel ihr auf die Schultern, die Haut war milchweiß. Kalt wie Eis — aber unter dem beherrschten Äußeren war sie, daran zweifelte er nicht, ganz anders. »Möchtest du einstweilen einen Drink?« fragte er. »Danke ja — aber nichts Starkes.« Die Begrüßung war vorüber, und sie folgte ihm in das längliche Wohnzimmer. Der Raum war mit Holz getäfelt, bis auf eine Wand, die ganz und gar aus Glas bestand. Von hier aus blickte man meilenweit über das bebaute Land, das am Horizont verschwand. Das Grundstück lag direkt am Rande des Vorstadtdistrikts, stieß an ein Anbaugebiet, das sich bis an die Grenzen der Sektion über Land und Wasser erstreckte. Das Glas in der Hand, schaute Jonl den vierbeinigen Venusarbeitern zu. Plötzlich wandte sie sich an ihren Vater und sagte: »Du hast Pillen genommen. Warum?« Er lachte und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ja, man will den Gästen gegenüber doch schließlich .seine beste Seite hervorkehren, nicht wahr?« »Eigentlich hast du Coman nicht erwartet — ist es das?« »Nun ja, aus irgendeinem Grunde hatte ich mir eingebildet, er sei noch fort, aber .. .« Sie wandte sich um. »Und du möchtest ihn nicht sehen. Warum hast du dann deine Einladung nicht zurückgezogen?« Er biß sich auf die Lippen. Offensichtlich hatte er nicht genug von diesen verfluchten Pillen geschluckt. »Wenn man jemanden einlädt, dann kann dieser Gast mitbringen, wen er will.« Jonl runzelte die Stirn; sie war wütend auf ihn und auf sich selbst. Sie hatte gewußt, daß ihr Vater Coman nicht mochte. Zum erstenmal jedoch hatte sie das Ausmaß dieser Antipathie begriffen. »Ich glaube, du haßt ihn geradezu.« Elman sah gekränkt aus. »Ihn hassen? Was für ein Unsinn. Nur, Verbindungsleute haben etwas an sich — tja, das ist ein unangenehmes Gefühl.« »Und ...?« Er gab dem Roboter, der an der Tür stand, ein Zeichen, und als er herüberkam, schenkte er sich einen extra starken Drink ein. »Ich will offen sein«, sagte er plötzlich ärgerlich. »Ich glaube, daß
du eine begabte Frau bist und daß dich deine Verbindung mit diesem Mann daran hindert, wichtige Dinge zu vollbringen.« »Ich verstehe.« Ihr Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich, und sie mußte sich zwingen, langsam und tief zu atmen. »Ich zweifle nicht daran«, fuhr Elman fort, »daß diese etwas ungewöhnliche Partnerschaft für dich mit einer Menge Vergnügen verbunden war. Aber es muß doch noch andere Männer geben, attraktivere und tüchtigere.« »Richter des Obersten Gerichtshofes zum Beispiel?« Ihre Stimme klang noch immer kühl und beherrscht. »Nun ja. Da du gerade davon sprichst, fällt mir ein, daß ich mindestens zwei einflußreiche Männer kenne, und jemand, der in der Sektionskontrolle eine Rolle spielt, hat außerordentliches Interesse an dir bekundet. Du möchtest doch gewiß etwas Wichtigeres und Interessanteres tun als Schmetterlinge und Insekten katalogisieren und das Kindermädchen für einen alten Narren wie Pel Raws spielen!« Nun lächelte sie, weil sie angesichts dieser ungeheuren Ignoranz ihrer wahren Gefühle für ihre Arbeit und für Coman nichts als belustigte Verachtung empfinden konnte. »Du hast immer gewollt, daß ich mich mit dem Gesetz beschäftige«, sagte sie, »und sogar jetzt, wo ich mit einer anderen Arbeit sehr glücklich bin, versuchst du, mich mit neuen Methoden umzustimmen. Ich will offen mit dir reden. Ich bin über die Gesetze auf der Erde nicht glücklich und auch nicht über die Menschen, die sie vollstrecken. Und was Männer betrifft, da bin ich sehr altmodisch. Das Mädchen ist eine Wonne, die ich mit ihm teile, aber vergiß nicht, er ist der wichtigere Teil — für mich und für Sein.« »Wie bequem für ihn«, antwortete er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie starrte ihn einen langen Augenblick nachdenklich an und wandte sich dann wieder dem Fenster zu. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme leise und kontrolliert: »Ich fühle mich glücklich, daß ich Claus Coman begegnet bin und diese spezielle Verbindung habe. Und falls irgend jemand jemals versuchen sollte, diese Verbindung zu gefährden oder zu zerstören, dann schwöre ich, daß ich nicht eher ruhen werde, bis diese Person ruiniert oder tot ist.« Der Richter war ein wenig betroffen. Wie Jonl nicht gewußt hatte,
daß er Coman so sehr verabscheute, so hatte auch er die Tiefe ihres Gefühls nicht vermutet, und ihre Worte wirkten auf ihn wie eine kalte Dusche. In diesem Augenblick hörten er und Jonl den Summer, und sie erblickten auf dem Bildchsirm die Gesichter der beiden Menschen, über die sie sich gerade unterhalten hatten. Als das Luftauto auf dem Landeplatz aufgesetzt hatte, der etwa eine Meile vom Haus des Richters entfernt lag, und sie aus dem Fahrzeug gestiegen waren, hatte Coman die Schmerzreaktionen dessen, was in der Nähe geschehen war, gefühlt. Die wahnsinnigen Gedanken von Frauen mit schrecklichen Schmerzen, die Verzweiflung und Angst der Sterbenden. Coman spürte die Empfindungen der Opfer, das krankhafte Vergnügen und die gespenstische Wut der Mörder und danach die übergroße Vorsicht der Verfolger. Glücklicherweise hatten diese Schmerzwellen bereits das Ende ihres wahrnehmbaren Widerhalls erreicht, und Coman konnte Blockierungen errichten, um sie noch weiter abzuschwächen. Dennoch veranlaßte ihn das Gefühl der Gefahr und des Irrsinns, Sein am Arm zu packen und mit ihr durch die Sperre dorthin zu eilen, wo sich die Transportbänder über die Erde erhoben. Sie saßen auf einem Doppelsitz und bewegten sich geschwind auf die sich auftürmenden Wohnungen zu; schmale, hochstrebende Betonblöcke, in denen die Lifts mit siebzig Meilen Geschwindigkeit auf- und abfuhren, trennten die einzelnen Türme voneinander. Als sie einen Lift betraten, bemerkte Coman, daß sich einer der gesuchten Jugendlichen irgendwo im Gebäude befand. Irgendwo ... Als sie aufwärtsschossen, kam der Jugendliche näher. Er dachte: Wer kommt da; Ich habe noch ... Ich bleibe hier ... Ja, drei Kapseln ... sie werden mich nicht erwischen ... ich werde töten ... Vorsicht, da kommen sie ... Ich werde ... Aber der Fahrstuhl glitt weiter zum nächsten Stockwerk, zum übernächsten, dann hielt er an. Als sich die Gedanken entfernten, hellte sich Comans Gesicht auf, an seinen Nasenflügeln glänzten Schweißperlen. Sein mußte etwas Ungewöhnliches gespürt haben, denn sie fragte: »Was ist los?« »Es ist heiß hier drin«, antwortete er kurz. Bis auf eine kleine bleistiftähnliche Waffe, die Schlafnadeln abfeuerte und über eine Entfernung von mehr als 6 Metern wirkungslos war, trug er keine Waffen bei sich. Während sie vor der Tür des Richters warteten,
lauschten seine Sinne angespannt, aber der Junge verließ die Wohnung nicht. Schließlich wurden Coman und das Mädchen eingelassen, und er konnte dem glatthaarigen Jungen, der die Tür öffnete, sagen: »Ich möchte sofort ein Telefon.« »Ich bin kein Diener«, antwortete der Jüngling mit einem affektierten Lächeln. Coman seufzte, trat ans Schaltbrett an der Wand und drückte selbst auf den Knopf. Bis der Roboter erschien und Coman die Polizei benachrichtigt hatte, waren auch Jonl und ihr Vater in die Halle gekommen, und sie hörten ihn gerade noch sagen: »Ja, in Apartment 1009. Es ist unwichtig, woher ich das weiß oder wer ich bin — kümmern Sie sich um die Angelegenheit.« Mit diesen Worten bediente er die Verwürfelungsvorrichtung, um zu verhindern, daß der Anschluß ermittelt wurde. »Kein Wunder, daß du im Fahrstuhl so komisch warst«, sagte Sein hinterher, als sie mit ihren Getränken im Wohnzimmer saßen. Die Polizei war innerhalb kürzester Zeit erschienen, und nach einem kurzen Kampf hatten sie die Leiche des Jungen auf einer ihrer fliegenden Plattformen fortgeschafft. Ein Sergeant klingelte an der Tür und stellte Routinefragen, aber Richter Elman leugnete wie die anderen Bewohner, die zu Hause waren, irgend etwas über den anonymen Anruf zu wissen. Schließlich ließ man die Leute wieder in Frieden. »Siehst du nun, wie nützlich es ist, wenn man jemanden mit übersinnlichen Fähigkeiten zur Hand hat«, sagte Jonl zum Richter gewandt. Sie ging zu Coman hinüber und legte ihre Finger auf sein Gesicht, ein Gruß, den sie vorhin in der Aufregung versäumt hatte. »Das verstehe ich nicht«, sagte Elman. »Wie konnte der Junge denn dahingelangen? Jede einzelne dieser Wohnungen ist mit einem idiotensicheren Sicherheitssystem ausgestattet.« »Er wohnt dort«, sagte Coman. Elman dachte angestrengt darüber nach. »Und doch kann ich es nicht glauben. Die Leute da unten sind höchst respektabel, der Vater ist ein wichtiger Mann im Staatsdienst.« »Trotzdem«, sagte Coman. Er hatte den Vorfall bereits vergessen und konzentrierte sich auf die Eindrücke, die ihn jetzt erreichten. Nicht nur die Intuition, sondern seine Erfahrung hatte Coman gelehrt, daß alles — selbst der kleinste Vorfall — einem verschlungenen, aber deshalb nicht weniger bedeutungsvollen
Muster folgte; das Ganze glich einem Zusammensetzspiel, in dem es keine Lücken gab. Der Richter dachte: Habe den Polizisten ja nicht gerade gern angelogen, aber was blieb mir übrig? — man zieht sich nur unnötige Einmischungen in sein Privatleben zu. Wenn Coman nicht gewesen wäre, dann hätte dieser junge Gangster uns möglicherweise etwas angetan ... zum Teufel damit, irgend etwas muß geschehen! Das Komitee muß seine Zustimmung geben ... natürlich hängt alles von Marst ab, diesem Dickschädel — wenn er will, kann er die ganze Idee zum Scheitern bringen ... Elman kannte also einige, zumindest jedoch eines der Komiteemitglieder. »Ich glaube, das Essen ist fertig«, sagte der Richter. Er führte sie auf die Terrasse, von der aus man das flache Land bis zur Stadt hin überschauen konnte. Die Transportbänder erstreckten sich in einem Netzwerk schimmernder blauer Streifen über die gelbe Erde, liefen zwischen den großen weißen Gebäuden, in denen eine Million Menschen lebten, hindurch und um sie herum. Darüber schwebten in verschiedenen Höhen Sonnenplattformen, Radio- und Fernsehstationen, Wachtposten der Polizei, Schallwellenbrecher und all das übrige Drum und Dran des Zeitalters, zum Teil hinter den Wolken. »Ich denke, dies kleine Essen wird euch schmecken«, sagte Elman. »Es wurde von Hand, nicht vom Roboter zubereitet. Mein junger Freund hier, Janc, hat es erträumt.« Er wies zu dem Jungen hinüber, der sie bediente. Als sie saßen, fuhr der Richter fort: »Zuerst eine Suppe aus köstlichen Wurzeln und zarten Zungen, danach Salat und Fleisch von unseren besten Rindern aus Sektion 9. Zum Abschluß eine vorzügliche Nachspeise, eine Eigenkomposition von Janc.« Der Richter verwöhnte seinen Magen. Er schaute auf die Uhr und kommentierte: »Zeit für Regen.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da fielen schon die ersten Tropfen, und bald darauf verschleierte der feine Sprühregen das gesamte Gebiet. Als sie den ersten Gang hinter sich hatten, fiel nur noch über den Feldern im Westen des Hauses Regen. Später sagte Coman: »Ein herrliches Mahl. Gestatten Sie, daß ich rauche?« Jonl warf ihm einen schnellen Blick zu, aber ihr Vater antwortete: »Unter diesen Umständen ja, obgleich ich gestehen muß, daß ich
nicht begreife, warum jemand wie Sie mit dieser Gewohnheit nicht einfach brechen kann. Abgesehen von der Geld- oder Gefängnisstrafe, die Sie sich zuziehen können — man hat doch festgestellt, daß Rauchen ungesund ist.« Elman schenkte sich nach. »Altweibergeschwätz«, sagte Coman, zündete die Zigarette an und entspannte sich genüßlich. Er schaute den Richter nachdenklich an. »Hören Sie auf, meine Gedanken zu lesen«, sagte Elman gereizt. »Ich lese Ihre Gedanken nicht. Offensichtlich nehmen normale Menschen an, daß es allen Leuten mit übersinnlichen Kräften an Skrupeln und Manieren jeglicher Art mangelt; ich kann Ihnen jedoch versichern, daß die meisten von uns ihre Begabung nur unter besonderen Umständen einsetzen. Außerdem sind Sie mein Gastgeber, und ich habe an Ihrem Tisch gespeist ...« »Schon gut, tut mir leid«, sagte der Richter. Er schämte sich seiner Empfindlichkeit und war Coman für sein schnelles Eingreifen bei der Sache mit dem jugendlichen Gangster wirklich dankbar. »Ich fürchte, es ist nur natürlich, daß sich normale Menschen in Gegenwart eines Telepathen unsicher fühlen.« »Allerdings. Und dieses Kreuz müssen ich und Menschen meiner Art tragen, verstehen Sie das?« »Ich denke schon.« »Ich habe das Gefühl, daß eines Tages alle Menschen diese Begabung besitzen werden, und dann — wer weiß?« Comans Stimme klang abwesend und nachdenklich. »Vielleicht erreichen wir andere, größere Dinge.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Wußten Sie, daß Ihre eigene Tochter mit der entsprechenden Anstrengung und Konzentration telepathische Kräfte mobilisieren könnte?« Alle starrten ihn an — Sein überrascht, Jonl mit aufgerissenen Augen, der Richter bestürzt und ungläubig. »Was soll ...« Coman nickte lächelnd. »Sie weiß es auch, aber sie will nicht — außer vielleicht im Bett.« »Claus, ich bitte dich.« Er warf Jonl einen seltsamen Blick zu. Sein lachte. »Und was soll ich dann anfangen?« fragte sie mit gespielter Besorgnis. »Stimmt«, sagte Coman. »Ich fürchte mich davor«, sagte Jonl. »Das bedeutet — viel Schmerzen, und ich hasse Schmerzen.« Coman wechselte das Thema. »Was halten Sie von dem Ge-
danken, eine Kriegssektion einzurichten, Richter?« Es dauerte einen Augenblick, bis Elman seine Gedanken gesammelt hatte, dann sagte er: »Ich bin dafür wie alle vernünftigen Leute.« »Ich finde es gräßlich«, sagte Sein ruhig. Elman lächelte ihr gütig zu, ohne zu antworten, und Coman fuhr fort: »Glauben Sie, daß die Resolution durchkommt?« Der Richter wollte sich nicht festlegen. »Ich hoffe. Viele Leute machen sich schon länger Gedanken darüber, und jetzt sind die meisten bereit, den Gedanken in die Praxis umzusetzen. Niemand ist vor diesen jungen Irren sicher — denken Sie doch nur daran, was heute hier geschehen ist.« »Anscheinend kommen sie aus jeder Gesellschaftsschicht«, meinte Jonl. Der Richter warf ihr einen wachsamen Blick zu. »Stimmt, mit unserem sozialen Leben und den Erziehungsmethoden ist vieles nicht in Ordnung. Das ist eine alte Forderung, die besteht schon seit Jahrhunderten. Auf jeden Fall sollten die neuen Gesetze hinsichtlich der staatlichen Kontrolle über die Erziehung jedes einzelnen Kindes die Dinge in Kürze zum Besseren wenden. Im Augenblick müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, daß wir es mit extremer Gewalt übelster Art zu tun haben, einem Wahnsinn, den man eindämmen oder in ein abgeschlossenes Gebiet leiten muß, wo er unter unschuldigen, gesetzestreuen Bürgern keinen Schaden anrichten kann.« »Das scheint mir eine verdammt einfache berechnende Reaktion zu sein«, sagte Jonl. Elman zuckte die Schultern. »Man kann und wird andere langfristige Lösungen finden. Einstweilen jedoch haben wir es nicht nur mit professionellen Kriminellen, sondern mit diesen neuen Kohorten von Mördern und Selbstmördern zu tun, die vielleicht bereits heute von den Professionellen ausgenutzt werden. So stehen die Dinge augenblicklich, und man muß in Bausch und Bogen damit aufräumen.« »Dem würde ich zustimmen«, sagte Coman. »Wirklich? Ich dachte immer, Ihre Sorte würde die entgegengesetzte Meinung vertreten.« Coman zuckte die Schultern. »Ich habe für mich selbst gesprochen. Vielleicht haben wir beide unrecht.« Elman warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Hmm, ja, ich
kann Ihnen versichern, daß dies der einzige funktionierende Plan ist. Ich bin kein Unmensch, aber dieses Herumreden und Auf-dieTränendrüsen-Drücken der Intelligenzler finde ich jämmerlich. Ich zweifle nicht daran, daß man diese Burschen bessern und dahin bringen könnte, daß sie ihre Pflichten der Gesellschaft gegenüber erkennen — wenn man Millionen Koneen ausgibt und wenn es gelingt, Hunderttausende von Lehrern und Kindermädchen zu finden, die freiwillig ihr Leben bei der Durchführung dieser Reform riskieren! Wenn! Inzwischen werden Tausende harmlose Bürger ohne jeden Grund getötet.« »Es gibt immer einen Grund«, sagte Coman. »Welchen denn? Warum sind alle diese Jungen und Mädchen verrückt geworden? Aber man muß natürlich berücksichtigen, daß Verbindungsmänner mit all diesen besonderen Sinnen begabt sind und mit einer Weisheit, die normalen Menschen abgeht ...« Einen kurzen Augenblick wurden Comans Augen schmal. »Ich habe gesagt, daß ich dazu neige, Ihrer Lösung zuzustimmen.« »Das haben Sie, aber ich mißtraue Ihren Motiven. Vielleicht sind Sie so freundlich und erzählen uns, was der Grund dafür ist, daß sie verrückt spielen?« Jonl schaute auf die Uhr. »Das war eine außerordentlich interessante und unterhaltsame Stunde nach einem herrlichen Essen, aber jetzt müssen wir gehen. Vielen Dank für alles, Vater.« »Warum diese Eile?« fragte Elman. Er hielt das Glas gegen das Licht und blinzelte. »Wir sind doch gerade mitten in einer äußerst charmanten Diskussion, und wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht noch etwas erfahren.« Jonl sah ihn mit einem Blick an, in dem Zuneigung und Mitleid lagen. »Nein, ich glaube, wir sollten wirklich gehen.« 3 Alle drei schwiegen, bis sie im Luftauto saßen und in Richtung Stadt fuhren. Die automatische Kontrollvorrichtung klickte und surrte, und die Sonne schien blendend in die kleine Kabine. Jonl sprach als erste. »Claus Coman«, sagte sie unvermittelt. Coman rekelte sich auf der gegenüberliegenden Seite des Abteils. Seine Augen waren leer und blicklos, er nickte jedoch kurz, um
anzudeuten, daß er verstanden hatte. Wenn du willst, gelingt es dir häufig, die Feindseligkeit anderer Menschen zu beschwichtigen. Warum nicht bei diesem Mann?« Nach einem Augenblick antwortete er: »Es wäre unfair und zwecklos. Für die Antipathie deines Vaters gibt es viele Gründe, den wichtigsten jedoch, die Furcht, kann nur er allein überwinden.« »Du könntest ihm dabei helfen.« »Nein. Außerdem habe ich weder Zeit noch Lust.« Er wandte sich um und starrte sie an. »Ich habe anderen Menschen gegenüber einen zweifelhaften Vorteil — nämlich den, daß mir ununterbrochen die menschliche Verfassung bewußt ist. Ich weiß, wie nahe jeder einzelne von uns in jeder Minute dem Unglück oder dem Tode ist, wie pathetisch und wie dumm wir sind, wie blutdürstig und wie traurig.« Sie schwieg eine Weile und sagte dann: »Und doch willst du, daß ich die gleiche Bewußtheit habe.« Sein war aufgestanden und legte Coman die Hand auf die Wange. Sie starrte Jonl mit ängstlichem Gesichtsausdruck an, denn sie spürte, daß er ein Stadium großer emotioneller Spannung erreicht hatte. Aus Gründen, die normalen Menschen nicht immer erkenntlich sind, machen alle Telepathen solche Augenblicke durch, die Sein haßte und fürchtete, wenn sie Coman überkamen. Sein Gesicht war verzerrt, und er schien die folgenden Worte mühsam und überlegt herauszuwürgen: »Nicht alles ist Schmerz. Es gibt gute Augenblicke, Jonl — es muß gute Augenblicke geben. Aber es ist eine Frage dessen, was ich will, oder dessen, was du willst. Wenn man die Fähigkeit der Wahrnehmung besitzt, dann hat man auch die Pflicht, sie anzuwenden, dann muß man direkt auf den Vorhang schauen, der uns umgibt, und nach Möglichkeit zu begreifen versuchen, was dahinter liegt ...« Er hatte jetzt die Augen geschlossen, aber unter den Lidern quollen Tränen hervor. Sein schauderte und drängte sich näher an ihn. Jonl hatte die Hände im Schoß gefaltet und dachte: Ich weiß, daß er recht hat und daß ich es versuchen sollte. Aber ich habe Angst — o Stern Gottes, ich habe Angst ... nicht nur vor den Dingen, die ich vielleicht finden werde, sondern davor, daß ich dies verliere, dieses wunderbare Gleichgewicht zwischen uns zerstöre ... das muß er verstehen! Sie schaute zu ihm hinüber, aber
er war unvermittelt in tiefen Schlaf gesunken — sein einziges Refugium und sein einziges Betäubungsmittel. Als das Luftauto aufsetzte und auf die Haltestelle der gigantischen Endstation zurollte, erwachte Coman und sagte: »Es tut mir leid wegen der Hysterie — eine Reaktion auf die Heimkehr, vermute ich.« Er blickte sie nachdenklich an und sagte dann lächelnd: »Ich bin der glücklichste aller Männer. Wollen wir jetzt nach Hause gehen, oder wollt ihr lieber noch irgendwohin, wo man sich unterhalten kann?« »Wie du willst«, sagte Jonl sanft. Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ausgezeichnet. Laßt uns etwas suchen, wo wir einfach zusammensitzen und ungestört etwas trinken können ...« »Ich kenne einen herrlichen Ort ohne Blutvergießen oder Obszönitäten«, sagte Sein. Er nickte: »Gut. Wo ist das?« »Man muß auf das Dach der Stadt fahren, zu den Gärten, die hoch über der Themse liegen. Da gibt es ein Lokal, wo man draußen sitzt und einem altmodischen Streichorchester lauscht. Wenn man will, kann man sich alte Filme ansehen, die die Katastrophe überlebt haben. Und abends wird ein Kugelteleskop aufgestellt, durch das man die Sterne anschauen kann. Sie scheinen ganz nahe zu sein, und als du auf der Venus warst ...« Zum erstenmal seit seiner Rückkehr lachte er. »Das scheint ja ein ganz besonderer Ort zu sein.« Sie stiegen aus dem Luftauto und zeigten nach einer kurzen Fahrt auf dem Laufband den Elektronenaugen am Ausgang die Passierscheine; dann betraten sie eine Untergrundbahn, die sie ins Zentrum der Stadt bringen sollte. Der Wagen war überfüllt; viele Fahrgäste warfen neugierige Blicke auf die drei und die winzigen Insignien, die sie an den Ärmeln trugen. Derartige Hinweise auf eine Verbindung waren ungebräuchlich und zeugten von einem Glauben an die Liebe. Gefühle solcher Art hielt man in diesen aufgeklärten Tagen für überholt und lächerlich. Coman wußte all dies, und wenn er sich in der Öffentlichkeit befand, zog er im allgemeinen die Antenne seiner Sinne ein. Es war herrlich, zu beobachten, wie die Männer die Frau bewunderten, die die Insignien trug, die zeigten, daß sie einem allein gehörte — nicht so wunderbar jedoch war es, die schmierigen
Gedanken zu kennen, die den Neid kompensierten. Diese Dinge ärgerten ihn nicht mehr, wie es in der Vergangenheit der Fall gewesen war, und mehr aus Langeweile als aus Furcht, verletzt zu werden, verzichtete er auf die Wahrnehmung der Gedanken anderer. Als die Untergrundbahn jedoch geräuschlos unter der Stadt hindurchglitt, war er gezwungen, die allgemeine Atmosphäre der Hysterie und Furcht zur Kenntnis zu nehmen, die wie eine heimtückische Krankheit über der Stadt und ihren Bewohnern brütete und hier, tief unter der Erde, außerordentlich schwer und bedrückend wirkte. Hier schien es, als seien die Menschen trotz aller Fortschritte der Wissenschaft bei der Erforschung der Bedeutung des menschlichen Verhaltens, trotz aller Pillen, der psychologischen Behandlung, die direkt und indirekt an den Massen praktiziert wurde, ebenso verängstigt, unglücklich, unausgeglichen und einsam wie zuvor, und die Vernunft selbst schien am Rande eines Abgrundes zu kauern. Die Gewalttätigkeit der Jugendlichen wurde, obgleich sie nur eine einzige Facette am Stein dieser Zivilisation war, von der großen Masse vergrößert und aufgebläht und drohte ein integraler Teil des unsichtbaren Rechenmechanismus zu werden, der in der Geschichte so häufig Massen und Nationen zu entsetzlichem Blutvergießen und zur Selbstzerstörung aufgewiegelt hatte. Coman war nunmehr übermäßig aufnahmebereit — seine Haut kribbelte bei der Empfindung des Bösen, und sein Magen krampfte sich zusammen, als stünde er unmittelbar vor dem Zerreißen. Auf seine Stirn traten Schweißperlen, als er sich zwang, den Schmerz zu ertragen, wach und aufmerksam zu bleiben, denn in vier oder fünf verschiedenen Richtungen dieses einzigen Wagens spürte er Gefahr: Angst, verborgen hinter den Augen scheinbar passiver Männer und Frauen, Menschen, die sich selbst nicht einmal der Wut und Mordlust in ihrem Herzen bewußt waren. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Coman hatte beschlossen, die nächste Zeit nicht mehr mit der Untergrundbahn zu fahren; er packte die beiden Mädchen am Arm und schob sie hastig auf die geschlossenen Lifts zu. Jeder Fahrstuhl trug bis zu vier Personen. Nachdem es ihnen gelungen war, einen Lift für sich zu bekommen, befestigten sie die Sicherheitsgurte, und auf einen
Knopfdruck hin schoß der Kubus mit einer Geschwindigkeit von fast hundert Meilen pro Stunde himmelwärts; draußen lag die müde Stadt mit den Myriaden von erleuchteten Kanälen und Steinkorridoren, bunten Zeichen und flimmernden Fassaden, die lockten und warteten, die auf der Glastür zu einem grauen unergründlichen Klecks verschmolzen, bis schließlich der Boden des Kubus ein Eigenleben bekam und von einer gigantischen Hand nach oben gedrückt zu werden schien. Sie stiegen aus und blieben einen Augenblick stehen, atmeten die klare Luft und schauten zum blauen Himmelsgewölbe empor; dann gingen sie langsam durch das künstliche Parkgelände, das sich von einem Ende der Stadt zum anderen erstreckte. Das Dach war in jenen Tagen der ruhigste Platz in der Zwölften Stadt, und nur sehr wenige Leute kamen hierher. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten Menschen diesen Ort angelegt, die sich nach der üppigen grünen Vegetation der Zeit vor der Atomkatastrophe sehnten; jetzt galt das Gelände als außerordentlich langweilig und uninteressant, als ein pathetischer und ziemlich kitschiger Traum. Man ging nur dorthin, wenn man sich eine Art pseudovornehmes Vergnügen leisten wollte; hier konnte man seiner Phantasie freien Lauf lassen und eine Weile so tun, als existiere nicht die wirkliche Welt. »Von hier aus sind es noch etwa zwei Meilen, glaube ich«, sagte Sein. »Wenn wir zur östlichen Brückenmauer hinübergehen, finden wir es leicht.« Sie traten auf ein einfaches Laufband mit mäßiger Geschwindigkeit und fuhren durch die künstlichen Bäume mit ihren schimmernden »Blättern«, den bunten Bienen und Käfern und überquerten dann einen Trennungschacht. Zu beiden Seiten des Bandes schützte eine unsichtbare, dennoch unüberwindliche Mauer die Menschen vor zufälligem oder absichtlichem Herabstürzen; während man auf die gegenüberliegende Seite zuglitt, hatte man das Gefühl, als schwebe man einige Augenblicke durch die Luft —weit unten, zwischen den senkrechten Wänden der Stadt, schlängelte sich das Band der Themse, die seit der Katastrophe zu wenig mehr als einem Flüßchen zusammengeschrumpft war, wie schimmerndes, geringeltes Lametta durch die Metropole und verschwand schließlich im Meeresschlick weit im Westen. »Da, hinter dem See«, sagte Sein.
Wolken verdunkelten die Sonne, und es war offensichtlich Zeit für eine Regenperiode. »Gehen wir doch zu Fuß«, schlug Coman vor und trat vom Laufband ins Gras. Auch die beiden Mädchen stiegen herab und warteten, bis er neben sie trat. Jonl sagte: »Es wird gleich regnen.« »Dann werden wir eben naß.« Sie schwieg einen Augenblick und schaute ihn mit einem Ausdruck an, an den er sich viele Male, als er fern der Erde weilte, erinnert hatte. »Ich bin so froh, daß du wieder da bist«, sagte sie schließlich stockend. Er schaute mit gespieltem Entsetzen um sich. Sein lachteund ging weiter, ihr Körper schwang im Takt der Musik, die durch die stille Luft schwebte. »Sei vorsichtig, es könnte uns jemand hören.« »Na und?« sagte das dunkelhaarige Mädchen und ergriff seinen Arm, als sie um den »See« herumgingen und sich den Tischen und Stühlen näherten. Der Himmel hatte sich merklich verdüstert, und in den Bäumen waren bunte Lichter aufgeflammt, die der Szenerie ein beinahe märchenhaftes Aussehen verliehen. Die romantische Atmosphäre par excellence, dachte Coman. Er wußte zuviel von anderen, schrecklicheren Bildern, aber den Frauen zuliebe gab er den sanften Gedanken, die die Stimmung in ihnen erzeugte, nach. Sie erreichten den hübsch ausgestatteten Ort mit dem Orchester unter den Bäumen. Als sie sich setzten, begann es zu regnen, die ersten dicken Tropfen fielen auf den bunten Schirm, der aus der Mitte des Tisches aufragte und sie knapp schützte. Sein sagte: »Die Kellnerinnen hier sind menschlich, und sie servieren nicht, solange es regnet.« »Es wird nur fünf Minuten dauern«, antwortete Coman. »Setzt euch hin, entspannt euch und hört euch die Musik an.« Eine merkwürdig aussehende Gruppe ältlicher Musiker, die aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts hätten stammen können, spielte einen altmodischen Walzer. Man hatte sich die ganze Staffage natürlich nur ausgedacht, um die Illusion einer vergangenen Zeit zu vermitteln, und das war gelungen; das Ganze war recht eindrucksvoll, wenn man sich die umliegende »Vegetation« und die Kleidung der Gäste nicht allzu genau anschaute. Es waren nur etwa ein Dutzend Gäste anwesend, und alle saßen in
der Nähe des Podiums, auf dem die Musiker ihre Instrumente bearbeiteten. Nur Coman und die beiden jungen Frauen saßen im niederfallenden Regen. »Na, wie gefällt dir unser kleines Rendezvous?« fragte Sein. Er nickte. »Wir müssen wieder einmal hierher gehen.« Schweigend saßen sie da, während er sie betrachtete: Sein blickte in den Regen, der zu ihren Füßen auf die Erde prasselte, ihr kleines ovales Gesicht sah plötzlich abwesend und nachdenklich aus; Jonl starrte auf ihre gefalteten Hände, auf die langen sensitiven Finger mit der fast durchsichtigen Haut. Coman hatte das während der ersten Wochen ihres Zusammenlebens bemerkt. Bisher hatte er diese Tatsache nicht erwähnt und nicht versucht, diese Begabung vorzeitig zu fördern. Er war davon überzeugt, daß es, wenn es soweit war, geschehen würde, und dann wollte er zur Stelle sein und ihr helfen, den Alptraum der ersten Monate der Bewußtheit durchzustehen. Es war jedoch bisher nicht geschehen, und er erkannte, daß das Ich, der letzte Meister im Zentrum des Seins, große Angst hatte, Angst vor dem drohenden Wahnsinn, der Aufspaltung des Verstandes, ein Zustand, der tatsächlich bei den Menschen, die die Gabe der Telepathie voll realisierten, keine Seltenheit war. Es war teilweise Furcht, die sie zu dem Versuch veranlaßt hatte, seinem und ihrem Sex-Potential die letzte Erfüllung zu bringen, Coman hatte notgedrungen eine große Erfahrung mit Menschen, aber er kannte niemanden, der wie Jonl die Fähigkeit besaß, ihn so tief zu verwirren und zu bezaubern. Als er ihr zum erstenmal begegnete, war sie 21 Jahre alt gewesen, und ohne das leiseste Vorspiel hatten sie zueinander gefunden. Es hatte andere Frauen in seinem Leben gegeben, in ihrem jedoch war er der erste Mann, obwohl sie unter ihrer reservierten Haltung außerordentlich, beinahe unmäßig leidenschaftlich war. Es hatte fast den Anschein, als hätte Jonl nur auf ihn gewartet, und keine Warnungen ihrer Freunde und Verwandten konnten sie daran hindern, die Affäre zu festigen. Natürlich war sie ein potentieller Telepath —indem sie Sein in ihr Verhältnis einführte. Ihr Unterbewußtsein hatte ihr gesagt, daß dies nicht nur dazu beitragen würde, das Verhältnis zu verfeinern und zu sublimieren, sondern auch das eigentliche Problem noch weiter zu komplizieren und zu verschleiern. Unwillkürlich streckte er die Hand aus und legte sie auf ihre.
Coman empfand eine große Zärtlichkeit für Jonl; er versuchte, sie in Gedanken zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen. Obgleich sie sich ihm nicht entzog und ein kleines ernstes Lächeln auf ihren blassen Lippen erschien, hob sie die Augen nicht. Es war schon Abend, als sie zurückflogen zur Gebäudegruppe, die sich auf dem Ödland von Old Peckham erhob. Das Luftauto flog seine Station an, und schon bald befanden sie sich vor der Schwelle des Hauses, das so unpassend zwischen den riesigen Steinblöcken lag, in denen die übrigen zwei Millionen Einwohner lebten. Die Schlösser klickten und drehten sich, als sie von den Sicherheitsmechanismen »erkannt« wurden, und innerhalb kürzester Zeit konnten sie eintreten. Sein sah nachdenklich aus, als sie die Jacke auszog und in das Wohnzimmer trat. »Warum soll dein alter Herr der einzige sein, der sich an manuell zubereitetem Essen erfreut?« sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Jonl. »Es war köstlich«, antwortete das andere Mädchen lächelnd, »ich habe gehört, daß diese Idee bei den sogenannten höheren Rängen in Mode kommt.« »Nun, wenn der hübsche Junge das kann, dann kann ich's auch.« Damit verließ sie die beiden, vermutlich auf der Suche nach einem Kochbuch. »Das Essen muß großen Eindruck auf sie gemacht haben«, bemerkte Coman. »Nun, du hast gesagt, es sei wunderbar gewesen, und ich nehme an, sie hat es gehört.« Jonl trat zu ihm und legte ihre Hand an seine Wange. Ihre Augen loderten, und die Zungenspitze erschien zwischen ihren Lippen. Sie bebte. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und stieß sie beinahe roh zurück. Aber dann sagte er sanft: »Ich muß an den Connector. Das will ich zuerst hinter mich bringen.« Sie schloß die Augen, ihre Nasenflügel zogen sich leicht zusammen, dann wandte sie sich ab. »Karns?« Er nickte, beobachtete sie eine Weile, während sie sich sammelte, und staunte nicht zum erstenmal über die ungeheure Spannung, die jeder von ihnen innerhalb von Sekunden im anderen zu erzeugen vermochte. »Ich bin froh, daß Karns keine Frau ist«, sagte Jonl. »Laß dich
nicht in eine neue Weltraumreise hineinziehen. Versprichst du das?« »Ich habe doch gesagt, wir werden für uns Zeit haben, und ich habe das ernst gemeint ... Naja, ich werde jetzt eine Zeitlang dort drin sein.« »Wir können warten«, sagte sie. K. Hier Karns. Sind Sie zu einem Entschluß gekommen? C. Ja. Ich bin für den Vorschlag. K. Gut. Ich wollte Ihre Meinung hauptsächlich deswegen hören, weil Sie lange genug abwesend waren, um die gegenwärtigen Umstände objektiver zu betrachten als einige von uns. Ihr Resultat deckt sich mit der Ansicht der meisten Verbindungsmänner, eine Ansicht, die sich während der letzten Stunden kristallisiert und erhärtet hat. Würden Sie wohl so freundlich sein, sich mir vollständig zu öffnen und mir zu gestatten, daß ich Ihre Gründe sehe? Danke ... Der Hauptgrund ist bereits von anderen genannt worden, aber ich bin nicht völlig überzeugt ... glauben Sie wirklich, daß sich die Idee zu unserem Vorteil entwickeln könnte? C. Warum nicht? Die Hoffnung der Rasse muß im Verstand und im Herzen der jungen Leute liegen, ob sie nun ruhig und ordnungsliebend sind oder wild und rebellisch. Ich sehe es vielleicht falsch, aber ich glaube, daß der Homo sapiens der Zukunft über die zweite Kategorie sein Ziel erreichen wird, die Zusammenhänge der Existenz des Menschen zu entwirren. K. Sie mögen recht haben, Coman, aber einige dieser Kinder haben wie tollwütige Tiere gehaust und gemordet. C. Was ist die Wurzel dieses Irrsinns? Sie empfinden noch mehr als ihre Eltern die Absurdität unseres Lebens, des Lebens überhaupt, sie werden noch tiefer davon berührt. Einige werden sich nie fangen und ihre Hoffnungslosigkeit besiegen, aber anderen wird es gelingen, und die sind für uns von großem Wert. K. Sie meinen, daß viele von ihnen potentielle Telepathen sind. C. Ich bin ebenso sicher, wie Sie selbst es sein müssen. Schauen Sie sich jeden einzelnen von uns an. Jeder war in seiner Jugend ein Rebell, ein Nonkonformist. Viele waren gewalttätig und dickköpfig, keiner war sanft oder gab sich damit zufrieden, seinen Platz in der Tretmühle unserer Zivilisation einzunehmen. K. Ich möchte Sie daran erinnern, daß man, falls eine Kriegssektion eingerichtet wird, nicht nur jugendliche Rebellen hineinstecken wird in diesen — Schmelztiegel, sondern auch ältere
Männer und Frauen, verworfene Kreaturen ... C. Daran habe ich gedacht. Man muß auf jeden Fall Mittel und Wege finden, um die einen gegen die anderen zu schützen ... und das bedeutet Arbeit für uns. K. Das dürfte leicht untertrieben sein. C. Sie haben nach meiner Meinung gefragt, und ich habe geantwortet. K. Coman, Sie schlagen ein umfangreiches Projekt vor, und wir sind zu wenige, um ihm zum Erfolg zu verhelfen. C. Wie können wir das wissen, bevor wir es überhaupt versuchen? Auf jeden Fall stimmen wir darin überein, daß eine Kriegssektion eingerichtet werden sollte. Wenn das nicht geschieht, dann wird man mit Sicherheit andere, härtere Methoden anwenden, um diesen »Wahnsinn«, wie man es nennt, zu bekämpfen. K. Stimmt. Aus diesem Grunde sollten wir als Verbindungsmänner unsere Kräfte einsetzen, um die Entscheidung in die richtige Richtung zu lenken. Werden Sie uns helfen? C. Sie haben gesagt, daß ich eine Ruhepause verdient habe. In der folgenden Stille konnte Coman nur vermuten, was Karns dachte, weil er seine Gedanken blockiert hatte. K. Sie haben sich mir geöffnet. Jetzt werde ich das gleiche für Sie tun. Schauen Sie in meine Gedanken. Dies war ein Privileg, das ihm noch nie zuvor gewährt worden war, und zerrissen zwischen dem Wunsch, der Aufforderung nachzukommen, und dem Argwohn, daß es eine Falle sein könnte, zögerte Coman. K. Sie sind zu klug, um zu täuschen, Coman ... schauen Sie in mich hinein . Er tat es, und über die tausend oder mehr Meilen, die zwischen ihnen lagen, drangen Sinneseindrücke in sein Bewußtsein — er erblickte einen Geist voll überwältigender Güte. Es war, als erkenne er für einen kurzen Augenblick die wahre Bedeutung des vielgeschmähten Wortes »Liebe«. Und tief innen empfand er einen scharfen, peinigenden Schmerz, als stünde sein ganzes Sein dicht vor dem Zerspringen. Nur einen winzigen Augenblick —dann schloß sich die Tür, und er stand wieder draußen, mit einem seltsam bittersüßen, sentimentalen Gefühl der Trauer und dem Gefühl, einen unaussprechlichen Verlust erlitten zu haben. Er dachte bedauernd: Ja, es war eine Falle.
K. Die Falle ist in Ihrem eigenen Herzen, Coman ... Sie hatten heute einige schlimme Augenblicke. C. Sie haben die Erinnerung daran gelindert. K. Es wird andere geben, und jedesmal werden Sie reifer werden. Wieder entstand eine Pause, als Coman sich sammelte und seine Gedanken ordnete. C. Was schlagen Sie vor? K. Ich habe bemerkt, daß Sie den Namen Marst mit einem Hinweis auf seine Haltung und ihre Bedeutung aufgefangen haben. Das ist richtig. Er ist der Vorsitzende des Komitees, und seine Meinung wiegt schwer. Mit anderen Worten, seine Einstellung könnte leicht die Entscheidung herbeiführen. Es ist nicht nötig, daß Sie auf die Ferien, die Sie den beiden Frauen versprochen haben, verzichten. Der Weltrat wird seinen Beschluß im PazifikAuditorium fassen, und das Gebiet liegt in einer wunderbaren Gegend, in der man vorzüglich Urlaub machen kann. Marst ist schon dort, er wohnt in einem Hotel in der Innenstadt. Er unterstützt uns nicht aktiv, aber er hat sich nie vor uns gefürchtet, und seine privaten Gedanken uns gegenüber sind freundlicher Art. Ich glaube, daß seine Entscheidung günstig ausfallen wird, wenn er unsere allgemeine Haltung kennt. Aber einer von uns muß es ihm sagen und ihn von unseren Beweggründen überzeugen. Das muß natürlich schnell geschehen, bevor die Versammlung übermorgen zusammentritt ... C. Ich werde es tun. K. Es gibt einige Gefahrenpunkte. Zunächst einmal haben gewisse Verbrecher beschlossen, daß Marst seine Meinung nicht ändern darf, und sie sind soweit gegangen, ein paar Ganoven in der Stadt zu postieren, um ihre Schutzvorrichtung zu »bewachen«. So sehen sie aus ... C. Ich sehe sie. K. Diese Kreaturen könnte man leicht überlisten oder ihnen ausweichen, leider jedoch werden sie wiederum unterstützt und bewacht von zwei Jokern*, einem Mann und einer Frau. Hier sind ihre Gesichter ... *Die sogenannten Joker stellten unter den Telepathen ein fremdes „Stör"-Element dar. Sie besaßen eine begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit, die gewöhnlich mit einem Charakterdefekt zusammenhing, zum Beispiel mit Verbitterung, Instabilität oder Enttäuschung. Einige dieser Joker wollten lediglich Kapital aus ihren Talenten schlagen, während es anderen Spaß machte, dazu beizutragen, unter ihren Mitbürgern und den Behörden Unruhe zu stiften. Die Joker waren aus der Organisation der Verbindungsmänner ausgeschlossen und wußten daher nichts von der Leere. Während man den Verbindungsmännern im Weltrat widerwillig Anerkennung und einen gewissen Status einräumte, betrachtete man die Joker mit tiefem Mißtrauen. Es war also nicht weiter verwunderlich, wenn nach Ansicht der breiten Öffentlichkeit zwischen den beiden Arten von Telepathen nur ein vager Unterschied bestand.
C. In Ordnung. K. Vor einer Woche ist einer von uns in das Gebiet gereist, um mich über die Entwicklung der Situation auf dem laufenden zu halten. Sie kennen ihn — Clar Vane. Er wohnt Seth Street Nummer 14, Block 6. C. Ja, ich kenne ihn. Ich habe also einen Verbündeten. K. Verlassen Sie sich nicht darauf. Er war nicht auf Joker vorbereitet und wurde unverzüglich von dem männlichen Joker entdeckt; man hat ihn zwar bisher noch nicht angegriffen, er wird jedoch ununterbrochen beobachtet und belauscht. Wenn er nur im geringsten verrät, daß er versucht, Marst zu beeinflussen, wird er umgebracht. Ich habe ihn nicht zurückgerufen, weil das den Verdacht erregen könnte, daß ich ihn durch jemanden, der stärker ist, ersetzen will. Wenn es Ihnen gelingt, sich mit ihm unbemerkt in Verbindung zu setzen, könnte er eine Hilfe sein, aber das müssen Sie selbst entscheiden. Denken Sie daran: wenn Sie entdeckt werden, müssen Sie einen Fehlschlag in Kauf nehmen und sofort fliehen. Wir sind zu wenige, und ich möchte Sie nicht verlieren. C. Ich werde vorsichtig sein. K. Hoffentlich. Etwas anderes noch — das Mädchen, Jonl. C. Auch das haben Sie gesehen. K. Ich konnte es nicht verhindern, sie nimmt nämlich einen wichtigen Platz in Ihren Gedanken ein. C. So? K. Drängen Sie sie nicht allzusehr, Coman. Die besten Früchte sind manchmal diejenigen, die am längsten reifen. 4 Sektion 12 hatte im Jahre 2090 die Form eines Rechtecks von viertausend Meilen Breite, erstreckte sich etwa tausend Meilen nördlich des Wendekreises des Krebses bis hin in die Antarktis und umfaßte die meisten der Pazifischen Inseln. Zehn Jahre nach der Atomkatastrophe hatte man die Fünfzehnte Stadt aus Glas und Kunststoff erbaut; sie ragte auf röhrenförmigen Pfeilern, die in den Meeresboden eingebettet waren, 170 Meter aus dem Wasser; die ganze Konstruktion glich einer gigantischen Brückenkonstruktion, die sich fast sechshundert Meilen über und um die darunter liegenden Inseln wand. Gegen Ende des 21.
Jahrhunderts war dieses Gebiet Tummelplatz der Reichen und einer der drei Sitze der Weltregierung. Das Auditorium, in dem sich jedes Jahr vier Monate lang die Regierungsmaschinerie versammelte und Gesetze verabschiedete, lag mit den dazugehörigen Gebäuden am Ende der Stadt, inmitten einer weiten echten Parklandschaft — eine der wenigen, die seit der Veränderung in den atmosphärischen Bedingungen der Erde nach der Katastrophe unter Regierungsprotektion angepflanzt worden waren. Die Fünfzehnte Stadt erschien auf den ersten Blick als kraftvolles Beispiel für die Genialität des Menschen; aus den neuen Materialien, die im Raumzeitalter zur Verfügung standen, und dem Einfluß fremder Intelligenzen hatte man eine merkwürdige Mischung, fast einen Alptraum architektonischer Monstrositäten geschaffen; der größte Teil der Stadt war in grellen Farben gehalten und so voller Überraschungen und Übertreibungen, daß sie auf den sensiblen Besucher eine abstumpfende Wirkung ausübten. Nicht nur die Ideen der Fremden, sondern auch tatsächliche Nachbildungen von Teilen ihrer Städte und Behausungen waren der Stadt einverleibt worden. Man konnte eine breite Hauptverkehrsstraße, flankiert von den hohen schmalen Gebäuden eines vergangenen Marszeitalters, entlangschlendern, bog man aber um die Ecke, stolperte man über die naturgetreue Nachbildung der gefurchten Erde eines Saturn-Seitenweges, passierte niedrige Banitsteingebäude mit ihrem spezifischen Geruch und stieß dann auf die perfekte Imitation einer Autostraße der Venus, mit Feuersäulen und den dreieckigen Gebäuden der Wesen dieses Planeten. Ober allem lag der Lärm eines Tollhauses, und nachts loderten Lichtbündel und sinnestäuschende Effekte über den Himmel. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß viele gesetztere Einwohner der Stadt sich rechtzeitig auf die tieferliegenden Inseln zurückgezogen hatten, wo sie trotz der unwirtlichen Umgebung unbedingt ein Mindestmaß an Frieden und Ruhe erwarten konnten, überdies bot ihnen die Gegend einige Sicherheit vor der zunehmenden Gewalttätigkeit, die nicht nur in dieser Stadt tobte, sondern überall auf dem Globus. Auf einer dieser Inseln, in einem Gebäude, das die lokale Regierung erbaut und eingerichtet hatte, wohnte ein ehemaliger
Raumfahrer namens Deenan, den Coman jedesmal besuchte, wenn er sich in dieser Sektion aufhielt. Die beiden Männer waren seit vielen Jahren miteinander befreundet und hatten viele gemeinsame interplanetare Expeditionen hinter sich. Als man das Wunder des Zeitschrittes entdeckte, waren sie beide bei der ersten bemannten Fahrt in den fernen Weltraum dabeigewesen. Auf dieser Reise hatte sich Deenan eine unbekannte Krankheit zugezogen, die aus dem jungen, hervorragend durchtrainierten Mann eine gebrochene Karikatur seiner selbst gemacht hatte; lediglich der Geschwindigkeit und dem Können des Chirurgen, der sich an Bord des Raumschiffes befand, war zu verdanken, daß er am Leben geblieben war. Es war am Abend nach dem Gedankenaustausch mit Karns. Coman stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sagte: »Ihr beide habt den Wunsch nach einem Tapetenwechsel geäußert. Kannst du dich freimachen, Jonl?« Ihre Finger glitten durch sein Haar. Sie murmelte ihm ins Ohr: »Ohne weiteres. Seit Wochen helfe ich dem Professor bei der Vorbereitung einer Abhandlung über den Strukturunterschied, der bei den Coccinellidae — das heißt Marienkäfer — nach der Katastrophe aufgetreten ist. Aber die letzten paar Seiten kann er recht gut ohne mich beenden.« »Was ist denn nun der Unterschied?« erkundigte sich Sein. »Nun, zum einen haben die Fühler Extra-Glieder getrieben, zum anderen ...« »Gut, gut«, sagte Coman. »Dann sind wir morgen früh auf dem Weg zum Pazifik. Wir nehmen um zehn Uhr ein Flugzeug nach Süden und sind um zwölf Uhr fünfzehn da.« »O herrlich!« rief Sein. Jonl fragte: »Auf Instruktion deines Herrn und Meisters — oder vielmehr auf seinen Vorschlag hin, wie du es nennst?« »Genau«, erwiderte er, und unter gesenkten Lidern suchten seine Augen die ihren. »Claus — findest du, daß ich — daß ich mich zu sehr an dich klammere?« »Keine Angst«, sagte er, »ich wünschte, du hättest zwei Paar Hände oder noch mehr.« »Gut. Du willst dort niemanden umbringen, oder?« »Nein.« »Ja, was willst du denn sonst dort tun?« fragte sie ihn.
»Ich will mich nur mal umschauen und mich mit ein paar Leuten unterhalten. Die meiste Zeit werde ich mit euch verbringen.« »Ich habe schon oft von der Gläsernen Stadt gehört, war aber noch nie dort«, bemerkte Sein. »Es ist nicht alles Glas«, sagte Jonl, »meist Plastik und in Wirklichkeit eine scheußliche Angelegenheit — aber auf jeden Fall sehenswert. Ich bin einmal mit Claus dagewesen, und wir haben bei einem äußerst ungewöhnlichen Mann gewohnt ...« »Morgen wirst du ihn wahrscheinlich wiedersehen«, warnte Coman. »Oh, nein! Sein wird einen Todesschrecken kriegen!« »Du unterschätzt sie«, antwortete er, und zu Sein sagte er: »Sein Gesicht und sein Körper wurden arg verstümmelt, und weil damals keine Ersatzteilbank für menschliche Gliedmaßen vorhanden war, mußte man Kunststoff und Metall nehmen. Aber er ist ganz harmlos. Es passierte auf einer Expedition — eine Krankheit, an der zwei andere starben.« »Armer Mensch, als ob ich vor einem deiner Freunde Angst haben könnte.« »Warte, bis du ihn siehst — und hörst«, sagte Jonl. Aber sie lächelte. »Zumindest werden wir Ferien machen. Ich nehme an, es ist purer Zufall, daß die Sache mit der Kriegssektion genau an dem Ort, an dem wir unseren Urlaub verbringen wollen, entschieden wird?« »Nicht ganz. Ich möchte euch um eines bitten, und zwar um folgendes: versucht, während wir dort sind, zu vergessen, daß ich Verbindungsmann bin.« »Ich wünschte, wir könnten es«, sagte Jonl. »Wenn wir malen früh um zehn Uhr fliegen, dann müssen wir uns beeilen. Ich muß noch ins Museum und das Notwendige veranlassen, außerdem sind noch ein paar Einkäufe notwendig.« Fahrten innerhalb der Stadtgrenzen waren kostenlos, für Reisen von einer Sektion zur anderen allerdings mußte man Fahrgeld bezahlen. Coman löste drei Tickets für eines der hochfliegenden Linienflugzeuge und besorgte die nötigen Visa; er setzte sich mit der Ortspolizei in Verbindung und veranlaßte, daß Nr. 7 gegen Einbrecher gesichert wurde, und zwar mit einer Frequenz, die lediglich dem automatischen Überwachungssystem bekannt war. Nur wenige Minuten vor dem Abflug gesellte er sich zu den beiden
Mädchen, die im Flughafen auf ihn warteten. Stumm und verärgert blickten sie ihm entgegen, denn die Tatsache, daß sich die »Uhr« in seinem Gehirn stets als unfehlbar erwies, beschwichtigte nicht ihre Ungeduld darüber, daß er die Zeit stets mit scheinbarer Verachtung behandelte. Er lächelte entwaffnend. »Ihr seht so hübsch aus, daß man es kaum fassen kann.« »Alle Fluggäste an Bord bitte!« röhrten die Lautsprecher. »Nun, worauf warten wir noch?« sagte Coman, und als das Flugzeug, das 60 Meter entfernt stand, als Vorbereitung für den bevorstehenden Abflug einen lauten pfeifenden Lärm von sich gab, nahm er die beiden am Arm und trat auf das Laufband. Im Flugzeug war es ruhig und bequem. Obgleich ein menschlicher Pilot eigentlich nicht notwendig war, hatten die Luftfahrtgesellschaften die Erfahrung gemacht, daß bei irdischen Flügen ein Mann in der Nähe der Kontrollanlage auf nervöse Passagiere beruhigend wirkte. Der Pilot trug eine elegante Uniform mit goldenen Tressen, saß untätig in der Kanzel, für wichtige Leute leicht erreichbar, während sich die automatische Kontrollvorrichtung bewegte, blinkte und pausenlos verschiedene Töne von sich gab. Auch eine Stewardeß war an Bord, die Getränke und Pillen servierte. Das Mädchen war aschblond, trug eine enganliegende, vom Hals bis zur Taille geschlitzte Uniform. Als sie durch den Gang schritt, starrte sie Coman und seine beiden Begleiterinnen neugierig an, ihre Phantasie wurde durch den Anblick der Insignien angeregt. Sie dachte: Ihr Götter, was die sich wohl alles für Spielchen ausdenken! Aber nach außen hin lächelte sie verbindlich und fragte: »Möchten Sie etwas trinken?« Nachdem sie die Bestellung entgegengenommen und die Getränke serviert hatte, zögerte sie einen Augenblick. Ihre Finger spielten mit dem Kragenrevers, die Augen hatte sie fest auf Co-man gerichtet. Er erkannte das Ausmaß ihrer Neugier und merkte, daß sie zu denen gehörte, die lieber zuschauen als teilnehmen, und er schüttelte den Kopf. Sie errötete. »Ist das alles?« fragte sie. »Absolut«, antwortete er, gab ihr eine Konee, und sie ging. Coman leerte sein Glas und lehnte sich zurück. Er schloß die Augen und öffnete seine Sinne, um die Gedanken der Passagiere aufzufangen. Eine Frau mit zwei Kindern war auf dem Wege nach den Phoenix Islands, um Verwandte zu besuchen. Ein Reisender
war für seine Firma, die Zahnersatzteile herstellte, unterwegs. Ein Gladiator einer der Arenen war auf dem Wege zu seinem nächsten Kampf, begleitet von seiner gegenwärtigen Freundin, einer VideoBuch-Schauspielerin. Zwei Frauen Mitte Dreißig, die beide als Ladendetektive in einem großen Geschäft arbeiteten, saßen Hand in Hand. Ein älterer Herr starrte ins Weite und dachte: Was, zum Teufel, soll das alles? Wohin kommen wir mit unserer neuen Lebens- und Sterbensweise ...? Und die jungen Leute laufen Amok. Als ich jung war ... ah, das waren damals Zeiten, trotz der ziemlich primitiven Bedingungen, unter denen wir leben mußten ... Coman verzog das Gesicht. Wie viele Menschen hatten zu allen Zeiten so gedacht und würden so denken — und alles ohne Sinn? Hinter ihm saß ein anderer Mann, der den Mord an einer Frau plante, die er liebte. Sie hatte ihn kürzlich wissen lassen, daß sie des Verhältnisses überdrüssig sei. Coman fühlte alles. Den Schmerz und die Krankheit im Herzen des Mannes, die Pein, bevor er den verzweifelten Entschluß gefaßt hatte, am gleichen Abend in der Fünfzehnten Stadt zuerst sie, dann sich selbst zu töten. Coman zog sich aus diesem Elend zurück. Alle Telepathen lernten frühzeitig, sich von Gedanken dieser Art zu lösen. Sie lernten, sich nicht einzumischen, keine Präventivmaßnahmen zu ergreifen, es sei denn, ein Unglück stand unmittelbar bevor oder die eigene Sicherheit war bedroht. Auf einem Bildschirm erschienen Nachrichten und Kommentare. Im Keller des Gebirgsrefugiums eines berühmten Psychiaters hatte man einen Haufen zerstückelter Leichen gefunden. Ein bekannter Filmstar zeigte sich in der Öffentlichkeit mit einem weiblichen Venusbewohner. Auf dem Sirius hatten nichtmenschliche Elemente eine irdische Kolonie mit Waffen ausgelöscht, von denen man annahm, daß sie von menschlichen Sympathisanten auf der Erde hergestellt und geliefert worden waren. Die geheimnisvolle Zerstörung der drei interplanetaren Raumschiffe war aufgeklärt worden. Als Grund für das Unglück hatte man eine neue Art der Metallermüdung festgestellt und nicht den Anschlag eines unbekannten Feindes. Die gesamte Welt wartete auf die Entscheidung über die Kriegssektion. Wenn die Entscheidung positiv ausfiel, würde man sich mit vielen Problemen auseinandersetzen müssen, zum Beispiel mit der Größe einer solchen Sektion, ob sie auf diesem Planeten oder
einem mit weniger günstigen Lebensbedingungen oder vielleicht auch auf einem großen Satelliten irgendwo im Weltraum eingerichtet werden sollte; welche Waffen man den Bewohnern zur gegenseitigen Dezimierung überlassen, welche Art der Beobachtung man ausüben und ob man vielleicht die ganze Geschichte allen Radarnetzen zugängig machen sollte, um somit eine ununterbrochene »Show« für normale, gesetzestreue Bürger zu liefern. Professor Pein, der bekannte Soziologe, war ins Studio gekommen, um sich zu diesen Problemen zu äußern. Inzwischen glitt die Maschine über das weite öde Land, auf dem sich hier und dort zwischen den roten Pfeilen atomisierten Staubes eine Stadt erhob, und raste dann über das blaue Meer. »Wir sind jetzt am Ziel«, sagte Coman. Sein richtete sich neugierig auf und starrte durch das Fenster. Schon konnte man die Stadt erblicken; sie glitzerte auf dem Meer wie ein lässig auf purpurnen Samt geworfenes Halsband. Als sie niedriger flogen, erblickte sie Spitzen und Minarette und die schimmernden Kuppeln der Regierungsgebäude, dann erkannte sie die Inseln, die weiß in der Sonne schimmerten. Sie lagen so weit unter der Stadt, daß ihr Schatten gestreut und gebrochen war und hin und wieder reflektiertes Sonnenlicht von der darüberliegenden Struktur über sie hinwegschoß. Wie wundervoll, dachte sie. Dies war die Erde, die Heimat der Menschen. Wieviel Lärm, Schmerz und Widerwärtigkeiten es auch geben mochte — die Schönheit überwog alles. In dem merkwürdigen Glücksgefühl, das die Aussicht in ihr hervorrief, bemerkte Sein nicht, daß Coman ihre Gedanken kannte. Seine Augen ruhten auf ihrem seidigen Haar, das zu beiden Seiten des zart gewölbten Nackens herabfiel, und er nahm teil an ihrem Glück. Er warf einen Blick zu Jonl hinüber. Sie saß angespannt in ihrem Sessel und hatte die Hände so fest zusammengepreßt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte an ein erstauntes Kind. Als sie Comans Blick spürte, schaute sie ihn an, und ihre Lippen formten die Worte: »Ich habe Angst, Claus.« Er ergriff ihre Hand, und als er in ihre Gedanken eindrang, fühlte er das Pulsieren ihres Blutes, das schnelle Schlagen des Herzens ... er sah sie als Kind, von leuchtenden Farben und lebhaften Einbildungen bedrängt, und als alte Frau, kurz vor dem
Tode. Einen Augenblick wußte er, wie sie ihn sah, und kannte alles, was sie quälte. »Was ist los mit mir?« murmelte sie. »Nichts — es ist die Furcht.« In diesem Augenblick verkündete der Pilot: »In dreißig Sekunden setzen wir zur Landung an, meine Damen und Herren. Bitte, lehnen Sie sich zurück.« Als sie der Aufforderung nachgekommen waren, drückte er auf einen Knopf, und die unsichtbaren Sicherheitsgurte umschlossen die Passagiere so fest, daß sie keinen Muskel rühren konnten, während das Flugzeug mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert Meilen pro Stunde herabstieß. Das Fahrzeug glitt wie ein Senkblei auf den Landestreifen zu und wurde dort durch ein unsichtbares Maschennetz gestoppt. Sekunden später stiegen die Passagiere aus und passierten die Kontrollstation. Unterdessen dröhnte eine hohle Stimme aus den Lautsprechern: »Willkommen in der prächtigsten Stadt des Pazifiks! Hier können Sie den herrlichsten Sonnenschein der Welt genießen und sich an den vielfältigsten Unterhaltungen und Vergnügungen ergötzen, die der Mensch erfunden hat ... die Fünfzehnte Stadt ist die einzige Stadt, der pro Woche acht Stunden Regen zustehen, und diese Zeit ist sorgfältig über jeweils vierundzwanzig Stunden verteilt, um Ihnen ein Maximum an Genuß zu vermitteln ... Dreißig bis vierzig Männer und Frauen riskieren jede Woche in der Sportarena ihr Leben zu Ihrer Zerstreuung! ... Für diejenigen unter Ihnen, die einen konventionellen Geschmack haben, gibt es Bade- und Segelmöglichkeiten, Golfplätze und dergleichen ... Sehen Sie sich die große natürliche Parklandschaft an, die das Regierungsgebiet umgibt! ... Beachten Sie die außerirdischen Stadtteile, die bis ins letzte Detail genau nachgebildet sind! ... Schauen Sie sich die Bilder an, die wir kürzlich von Fossilien mit Schwimm- und Flughäuten erhielten; man fand sie auf einem Satelliten des Pluto ... Und noch etwas Beachtenswertes: wir sind für Ihre persönliche Sicherheit verantwortlich, und unsere Polizei ist die am besten trainierte und die schlagkräftigste der Erde. Denken Sie daran — sollten Sie ernstlich verletzt werden oder durch ein Verbrechen zu Tode kommen, dann wird Ihr nächster Verwandter sofort 3000 Koneen erhalten, der Rest Ihrer Blutsverwandtschaft 500 Koneen pro Kopf ...« Coman und Jonl beachteten das Geschnatter kaum, aber Sein,
die es zum erstenmal hörte, schüttelte sich und sagte: »Wie unpersönlich das alles klingt. Sie hätten doch bestimmt jemanden mit einer fröhlicheren Stimme finden können!« »Das ist ein Roboter«, erklärte Jonl. »Wir können unsere Koffer hier lassen, sie werden uns dann nachgeschickt«, sagte Coman. Als sie aus dem Flughafen traten, sahen sie sich einer Unmenge von Laufbändern und einem riesigen beleuchteten Stadtplan gegenüber. »Noch zehn Minuten, zweiunddreißig Sekunden bis zum Regen!« bellte eine hohle Stimme — die drei schauten sich an und lachten gleichzeitig. »Was wollen wir zuerst tun?« fragte Sein. »Wozu hast du denn Lust, Liebling?« sagte Jonl. Sein betrachtete die Tafel mit gerunzelter Stirn, während ihre Begleiter sie amüsiert beobachteten. Schließlich schnippte sie mit einem Finger an ihre Zähne — das tat sie immer, wenn sie aufge regt war — und sagte: »Ich würde gern im Regen schwimmen.« »Gut. Dann müssen wir uns aber in Bewegung setzen«, sagte Coman. Sie traten auf das entsprechende Laufband und erreichten in Kürze das Freibad, das etwa eine Meile entfernt war. Als sie ankamen, hatten sie noch fünf Minuten Zeit; sie erhielten Umkleidekabinen und verabredeten, sich so bald wie möglich am Schwimmbassin zu treffen. Coman war als erster draußen und stellte fest, daß sich hier lediglich Menschen befanden — Geschöpfe von anderen Sternen waren von dieser Einrichtung offensichtlich ausgeschlossen. Am Himmel waren bereits Wolken aufgezogen, und jedermann schien die trübe, graue Atmosphäre zu genießen. Seit seiner Ankunft war Coman vorsichtig gewesen, aber jetzt schien es ihm ungefährlich, geschwind die Gedanken der Leute in der Nähe des Beckens zu »lesen«. Er tauchte neben einer Gruppe von Männern und Frauen, die herumtollten, kam an die Oberfläche, tauchte noch einmal. Als er wieder hochkann, öffnete er seine Gedanken eine Sekunde lang für eine schnelle weite Sondierung — und erkannte sofort, daß er ein Narr gewesen war. Er verfluchte seine Sorglosigkeit und tauchte erneut bis auf den schimmernden Kachelboden, schwamm durch einen Wald von Beinen und kam in einiger Entfernung wieder an die Oberfläche. Er verließ das Wasser und
legte sich auf den Rücken. Sein Bewußtsein war jetzt leer, sein Körper entspannt, un der glich aufs Haar einem normalen Urlauber, war von den vielen Menschen, die um ihn herum saßen oder lagen, nicht zu unterscheiden. In dem kurzen Augenblick hatte eine andere Bewußtheit die seine aufgespürt und erkannt. Es war kein echter Telepath, sondern ein Joker, der sich nicht weit von ihm in der Umgebung des Schwimmbassins aufhielt. 5 Coman lag unbeweglich, während die Sekunden verrannen; seine Gedanken bewegten sich wie auf Zehenspitzen hinter der Schutzwand, die er beim letzten Hinabtauchen auf den Grund des Bekkens errichtet hatte. Auf der anderen Seite dieses Walles schnüffelte ein Unbekannter, versuchte, den Schutz zu durchbrechen. Verdammtes Pech, dachte er, daß ich so schnell entdeckt werden mußte, wenige Minuten nach meiner Ankunft in der Stadt! Bisher jedoch war er noch nicht körperlich entdeckt; der Kontakt hatte den anderen Telepathen mehr verblüfft als Coman, dem es noch im Augenblick der Überraschung gelang, sein Gehirn zu verschließen, bevor Einzelheiten entdeckt werden konnten. Jetzt ließ der andere Telepath seine Wahrnehmungssinne durch die Menge tasten, um den Mann zu finden. Coman hielt die Augen noch immer geschlossen; er atmete unbeschwerter und versuchte, die Blockierung seines Verstandes aufrechtzuerhalten. Selbst wenn er nicht noch einmal entdeckt wurde, war seine Anwesenheit bekannt, und das war schlimm genug. Der Joker würde seinen Kollegen verständigen und man würde die Wachsamkeit verdoppeln. Es bestand natürlich noch die Möglichkeit, daß es Vane war — oder auch ein anderer Telepath, der mit der Sache, deretwegen er gekommen war, nichts zu tun hatte aber instinktiv wußte Coman, daß es sich um eine andere Person handelte. Er öffnete die Augen und schaute sich die Leute träge und unauffällig an, etwa so, wie ein lediger Mann Ausschau nach einem hübschen Mädchen hält. Er hatte wenigstens den Vorteil, seine Widersacher, wenn er ihnen gegenüberstand, erkennen zu können. Aber gerade in diesem Augenblick kamen Sein und Jonl
und beobachteten ihn, so daß er gezwungen war, seine Suche aufzugeben, noch bevor er sie richtig begonnen hatte. Er starrte die beiden Mädchen mit unverhohlener Bewunderung an. Sie hatten sich Badeanzüge der neuesten Mode gekauft, die den Körper wie Handschuhe umspannten; lediglich Schultern, Beine und Arme waren unbedeckt. »Wir haben es gerade noch geschafft — seht mal, es regnet I« rief Sein. Sie stand auf Zehenspitzen, ihr schmaler Körper bebte wie ein Bogen, verharrte einen Augenblick ausbalanciert und tauchte dann ins Schwimmbecken. Jonl setzte sich neben Coman, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. »Wie interessant du aussiehst mit deinen kalten Augen«, sagte sie. »Niemand kann so grausam und heimtückisch sein, wie du aussiehst. Woran denkst du?« »Ich überlege, wie ich euch zwei ohne große Umstände hier fortbekomme. « Jonl schaute sich um und sah, daß viele Männeraugen auf ihr ruhten. Gleichsam als Antwort auf ihren Blick erhob sich ein großer muskulöser junger Mann und kam mit einem freundlichen Grinsen zu ihnen herübergeschlendert. »Hallo, mein Name ist Jark«, sagte er und legte eine Hand auf sein Herz — so pflegte ein Mann eine attraktive Frau zu begrüßen. Coman grunzte, und während er mit halbem Ohr der folgenden Konversation lauschte, ließ er seinen Blick langsam über die Menge am Becken wandern. »Nein danke«, sagte Jonl. »Was meinst du damit? Erzähl mir nicht, daß du >gebunden< bist oder etwas ähnlich Lächerliches.« »Bin ich aber, und zwar an diesen Mann.« »Das glaube ich nicht eher, als bis du mir die Insignien zeigst.« »Sie sind in der Ankleidekabine. Sie werden mir schon glauben müssen, wenn Sie nicht später eine Enttäuschung erleben wollen.« Der junge Mann sah nicht gerade begeistert aus. »Nun, ich nehme an, daß ich mich wenigstens mit Ihnen unterhalten darf — oder hat er was dagegen?« Coman beendete die Suche nach einem Gesicht und schüttelte den Kopf — lächelnd wartete er auf den nächsten Zug. Jark ließ sich nieder, streckte seine langen, gutgewachsenen Glieder aus und zeigte Jonl sein gutgeschnittenes Profil.
»Er ist ein häßliches Ekel, was, zum Teufel, finden Sie an ihm? Nein, sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten. Er ist glattzüngig, irdisch, um die Vierzig. Ich kann nicht so lange warten, bis ich diesen Meilenstein passiert habe — die hübschesten und interessantesten Mädchen scheinen sich nichts aus jungen kräftigen Männern zu machen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Ihnen an Mädchen mangelt«, erwiderte Jonl. Er strich sich nachdenklich durchs Haar. »Naja, man kann's aushalten. Aber natürlich möchte ich ein Mädchen, mit dem ich zusammen leben kann, bis daß der Tod uns scheidet. Insignien und all das ...« »Aber Sie haben doch gerade gesagt . . .« »Ich kannte Sie doch noch gar nicht. Wissen Sie, wenn Sie Ihre Bindung lösen würden, könnte ich Sie glücklich machen.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Jonl kühl. »So? Kennen Sie wirklich den Unterschied zwischen einem jungen Mann und einem, der's hinter sich hat?«. Seine Stimme klang jetzt unverschämt, denn er war an leichte Eroberungen gewöhnt und konnte den Gedanken nicht ertragen, abzublitzen. Es hatte aufgehört zu regnen. Coman wollte gerade etwas sagen, als Sein tropfnaß aus dem Becken stieg. Lachend kam sie zu ihnen herüber, und ohne von dem jungen Mann Notiz zu nehmen, stellte sie sich über Coman und schüttelte sich, daß ihm die Wassertropfen auf Gesicht und Schultern spritzten. »Wollt ihr zwei denn nicht ins Wasser kommen?« Jark war sprachlos. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie alle drei ...« Jonl nickte. »Ich fürchte, heute ist Ihr Unglückstag.« »Das muß ein Ulk sein!« sagte er, und Ungläubigkeit breitete sich über das Gesicht des jungen Mannes. Coman stützte sich auf einen Ellbogen und schaute Jark zum erstenmal an. »Warum machen Sie nicht, daß Sie fortkommen, erregen Sie sich anderswo!« Bei dieser Beleidigung sprang der andere auf. »Ich hätte Lust, Sie zum Kampf in die Arena zu fordern!« »Womit denn, mit schmutzigen Windeln?« Comans Stimme klang müde. Er dachte: Das mußte geschehen. Konnte ich denn nicht meinen Mund halten und abwarten? Jetzt ... Jonl unterdrückte ein Lachen und sagte: »Mach keinen Ärger, Jark - er wickelt dich glatt ein. Du liebe Güte, du hast aber wirk-
lich eine prachtvolle Figur.« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wade. überrascht schaute er zu ihr hinunter, unsicher, ob sie es ernst meinte oder ob sie sich nur über ihn lustig machte.. Das würde er bald herausfinden. Als wolle sie ihn liebkosen, glitten ihre Finger aufwärts, erreichten die Nervenzentren am Knie, kneteten und preßten geschwind. Er stieß einen Schrei aus, sein Bein knickte zusammen, der ganze Körper beschrieb einen Halbkreis, und in. dem Augenblick, als sein Hinterteil herumkam, versetzte ihm Jonl mit der Handfläche einen kräftigen Stoß. Er fiel direkt ins Becken, und Jonl stand mit funkelnden Augen auf und sagte: »Komm, Sein, wir wollen sein Feuer ersticken, bevor er wieder zu Atem kommt. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er nur noch fortkrabbeln wollen!« Die Sonne war wieder hervorgekommen und brannte auf das Schwimmbad und die Besucher herab, die weiße Mauer reflektierte das gleißende Licht, die Strahlen trieben wie kleine unaufhörlich durcheinanderwirbelnde Diamanten auf dem Wasser; die Wärme erfüllte Coman mit ihrer Kraft. Er liebte die Sonne und konnte ihren rauhen Atem und ihre schwere Hand länger ertragen als die meisten Menschen — eine Fähigkeit, die ihm bei den ersten Reisen auf den Merkur gut zustatten gekommen war. Nachdem Jark gnadenlos zwei- oder dreimal geduckt worden war, fand er seine gute Laune wieder und begann mit seinen Quälgeistern und einigen anderen Leuten Wasserball zu spielen. Coman hatte also Gelegenheit, ungestört die Menge beobachten zu können. Er hatte kein Glück. Derjenige, der seinen Sondierungsversuch aufgefangen hatte, mußte sich entweder aus der Sichtweite zurückgezogen oder das Bad überhaupt verlassen haben. Aber es gab noch eine letzte Möglichkeit, ihn oder sie zu finden, ohne selbst entdeckt zu werden, und Coman beschloß, die Chance wahrzunehmen. Der Weg in die Umkleidekabinen führte durch das Restaurant, und das wiederum erreichte man durch einen kurzen überdachten Gang, dessen Inneres im Schatten lag, der in der Nähe des Eingangs durch die scharfe Trennung vom hellen Sonnenlicht noch intensiviert wurde. Er erhob sich langsam und bewegte sich vorsichtig durch die. Menge, bis er in der Nähe des
Ganges war, dann schlüpfte er geschwind in den Schatten. Wenn der andere Telepath im Restaurant war und sich hinter ihm befand, dann schützte ihn nichts vor der Entdeckung. Er blickte zum Becken hinüber, lockerte die Wachsamkeit und unternahm eine allgemeine »Leseprobe« in seiner nächsten Umgebung. Einen Augenblick geschah nichts, dann empfing er die Frage: Wer bist du? Es war eine Frau — soviel wußte er jetzt. Ja, ich bin eine Frau. Wer bist du — und wo bist du? Aber er hatte seine Sinne wieder blockiert und trat rückwärts tiefer in den Schatten; er gebrauchte jetzt nur seine Augen und beobachtete intensiv die Stelle, von der die Fragen kamen. Auch sie mußte seine Richtung ungefähr ausgemacht haben und ebenfalls diese bestimmte Stelle scharf beobachten oder zumindest irgendwo hingehen, von wo aus ... Ah! Er hatte sie. Es war der weibliche Joker, vor dem ihn Karns gewarnt hatte. Das Bild ihres Kopfes und der Gesichtszüge, das Karns ihm geschickt hatte, übermittelte lediglich Knochenstruktur, Augen- und Haarfarbe und die hervorstechenden, zur Identifizierung notwendigen Merkmale. Nun erblickte er eine Frau von etwa 28 Jahren in einem knappsitzenden Badeanzug; sie war etwa 1,50 m groß, schlank und auf eine puppenhafte Weise hübsch. Auf Zehenspitzen versuchte sie, über die Köpfe und Schultern der Leute zu spähen. Selbst auf diese Entfernung hin — etwa 12 Meter lagen zwischen ihnen — kam es Coman so vor, als fühle er ihre grünen Augen auf sich ruhen, obgleich er wußte, daß er für sie unsichtbar sein mußte. Sie kam auf ihn zu, ihr Gesicht drückte Ärger und Entschlossenheit aus. Er überlegte schnell. Ihr Blick konzentrierte sich jetzt auf den Eingang, und wenn er ins Licht trat, würde das ziemlich sicher die Identifizierung bedeuten. Zum zweitenmal an diesem Nachmittag hatte er bedauernswert voreilig gehandelt. Es würde ein Wettrennen geben, wer von ihnen zuerst angekleidet war — und dann? Er mußte Sein und Jonl allein lassen und sich später mit ihnen in Verbindung setzen, wenn sie den Empfänger wieder am Handgelenk trugen, denn die Frau durfte nichts von der Existenz der beiden erfahren. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, eilte er auf die Kabine zu, und während er sich ankleidete, löste er die verräterischen Insignien vom Ärmel und steckte sie in die Tasche.
Bis er diese Frau los wurde, mußte er sich hinter einer völlig anderen Persönlichkeit verstecken. Er wußte, daß sie ihn jetzt finden würde. Bei dieser Entfernung hatten Telepathen kaum Schwierigkeiten, einander auszumachen, wenn sie auch nicht in der Lage waren, exakt die Gedanken des anderen zu lesen. Es war mehr ein Gefühl, vergleichbar dem, was ein Tier empfindet, wenn es von einer übernatürlichen Kraft gestreift wird. Er spürte sie bereits näher, sie suchte ... Irgendwo mußte er anfangen, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann mußte er eben mitspielen — und vielleicht würde es ihm sogar gelingen, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Neugieriges kleines Stück, dachte er offen. Oh, da also bist du, dachte sie zurück. Warum bist du fortgelaufen? Ich habe Angst vor Frauen. Sieht ganz so aus. Gib mir ein Bild von dir. Auf diese Bitte antwortete er nicht, kleidete sich fertig an und ging ins Restaurant. Er hatte sich in die Situation gefügt und hoffte wider besseres Wissen, daß weder Sein noch Jonl ihn vermißten. Er setzte sich an einen Tisch und wartete. Nach ein paar Minuten tauchte sie aus der Ankleidekabine für Damen auf, die an der gegenüberliegenden Seite des Raumes lag, und sah sich schnell um. Er begegnete ihrem Blick ohne Umschweife, und sie kam auf ihn zu, zupfte an dünnen eleganten Handschuhen, die ihre nackten Arme zur Hälfte bedeckten. Sie trug ein enganliegendes zweiteiliges Kostüm aus einem schimmernden Material mit farbigen Kristallmustern. Sie schaute ihn fest an und sagte: »Sie sind ja ganz schön hartgesotten — wollen Sie mir nichts zu trinken spendieren?« Er schüttelte den Kopf. »Ich suche einen Ort, wo ich eine Zigarette rauchen kann. Wissen Sie etwas?« »Sie sind fremd hier?« »Ich bin gerade auf den Planeten zurückgekehrt. Das letztemal war ich vor zwei Jahren auf der Erde.« »Warum sind Sie hier — machen Sie Urlaub?« Er nickte. »Ich bin Geologe und komme von einer Expedition zum Merkur zurück.« »Und Telepath?« Er stand auf und ergriff ihren Arm. »Sprechen Sie leise. Ich habe gehört, daß das an einigen Orten ausreicht, um gelyncht zu
werden.« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, ließ es jedoch geschehen, daß er sie zum Ausgang führte. Coman wußte, daß sie von Natur aus ihm gegenüber mißtrauisch war, aber er wußte gleichfalls, daß sie sich von ihm angezogen fühlte, und das war beruhigend. Solange er Sein und Jonl und den Zweck seiner Reise vorübergehend »vergessen« konnte, war alles in Ordnung, und er konnte möglicherweise sogar einen Vorteil für sich herausschlagen. Als sie vor dem Gebäude standen, löste sie ihren Arm aus seinem Griff und sah ihn kühl an. »Sie gehören nicht zufällig zur großen Bruderschaft der Humanitätsapostel?« »Um Himmels willen, mir wird ganz schlecht, wenn ich das nur höre — ich arbeite ausschließlich für mich selbst.« »Warum haben Sie versucht, mir auszuweichen — zweimal?« »Ebensogut könnte ich fragen, warum Sie so eifrig bemüht waren, mich zu finden.« »Stellen Sie sich nicht dumm. Es ist ganz natürlich, daß wir uns begrüßen und Geheimnisse austauschen — das müssen Sie doch wissen.« »Ich weiß es 'auch. Tut mir leid, aber ich bin lange fort gewesen und habe mich inzwischen daran gewöhnt, mit mir allein zu sein.« »Sie scheinen ein liebenswürdiger Halunke zu sein«, sagte sie und lächelte nun. »Ich kann kaum glauben, daß Sie Geologe sind und daß Sie auf dem Merkur waren.« »Nein? Nun, dann lesen Sie in mir.« Er übermittelte ihr das Bild einer anderen Zeit, die Hitze und das blendende Weiß des Sandes und der Felsen, die erstickenden blauen Staubwolken und die unvorstellbare Müdigkeit von der Arbeit im dicken Asbestanzug mit mangelhafter Sauerstoffzufuhr, er übermittelte ihr einen Eindruck davon, wie es ist, wenn man Experimente leitet unter den fürchterlichsten Bedingungen, die jemals ein Vermessungsteam irgendwo im interplanetaren Raum durchgestanden hat. Es machte nichts, daß die Szenen einige Jahre alt waren; sie konnte das nicht wissen, weil er nicht andeutete, wann es gewesen war. Sie stieß eine Verwünschung aus. »Beim Namen eines schwarzen Kometen! Was, um alles in der Welt, hatten Sie denn da zu suchen?«
»Ich war bereits Geologe, als ich meine telepathische Begabung entdeckte.« »Sie meinen, Sie lieben Ihre Arbeit wirklich?« Er nickte, und sie lächelte ein wenig schief. »Sie müssen nicht ganz richtig sein. Ich heiße Linnel — und Sie?« Er nannte seinen Namen, und sie sagte: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein Lokal, wo wir trinken und rauchen können.« Sie saßen in einem langen, spärlich erleuchteten Raum. Auf einer winzigen Bühne tanzten vier oder fünf nackte Mädchen von der Erde und der Venus zu einem rhythmischen Beat. »Machen Sie auch Urlaub?« erkundigte sie Coman. »Ich mache immer Urlaub«, antwortete Linnel. Sie hatte einen kleinen, wohlgeformten, aber entschlossenen Mund und winzige, zarte Nasenflügel. Alles an ihr war klein, bis auf die riesigen, leuchtendgrünen Augen. »Das kann ich nicht glauben«, sagte er lächelnd. »Hmm, Und ich kann nicht glauben, daß Sie ein Geologe auf Urlaub sind.« »Es hat ganz den Anschein, als müßten wir es dabei belassen«, antwortete er, »weil wir schließlich beide ein Recht auf private Zweifel haben.« Er stand auf. »Ich glaube, wir machen besser Schluß damit, was meinen Sie?. Vielleicht begegnen wir uns noch einmal.« »He, warum diese Eile?« fragte sie. »Setzen Sie sich. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie mag? Der Geruch der Stärke umgibt Sie, und das ist bei Telepathen selten. Ich möchte wissen, was für ein Liebhaber Sie sind.« »Ausreichend«, antwortete er und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. Er bestellte noch einmal, und Linnel lächelte. »Vermutlich haben Sie bereits eine Spielgefährtin für die Ferien gefunden.« . Er antwortete nicht. Hinter der Schutzsperre seines Verstandes versuchte er auf notwendigerweise begrenzter Ebene konstruktiv zu denken. Das war schwierig, denn von dem Augenblick an, als sie sich gesetzt hatten, spürte er, daß sie sich vorsichtig und zögernd vortastete, darauf wartete, daß er mit ihr Gedanken austauschte. Kurz zuvor war er einen Augenblick allein gewesen und hatte diese Gelegenheit genutzt, um sich mit Jonl über den Sender am Handgelenk in Verbindung zu setzen. Er hatte ihr
gesagt, sie solle so lange mit Sein im Bad bleiben, bis er zurückkäme; aber wenn er sie zu lange allein ließ, konnte ihnen etwas zustoßen. Es war nicht ungewöhnlich, daß gutaussehende Frauen, die schutzlos zurückblieben, spurlos von der Bildfläche verschwanden. Wenn er Linnel jedoch ausreichend entwaffnen konnte, gelang es ihm vielleicht, herauszufinden, wo sie und ihr Gefährte wohnten. Sie sagte gerade: »O kommen Sie, ist es nicht an der Zeit, daß wir uns genau kennenlernen? Sie dürfen zuerst in mich hineinsehen, wenn Sie wollen.« Er entspannte sich und nickte, die Aufregung in ihren Augen entging ihm nicht. Zunächst sah er nur, was er sehen sollte: ihren kleinen exquisiten Körper, ohne die Kleider, die sie augenblicklich trug. Sie drehte sich langsam, zögernd, ließ ihn ihre Reize gründlich betrachten. Diese Bilder vermischten sich mit der Demonstration einiger erotischer Künste, die sie erlernt hatte und die sie anscheinend mit ihm gemeinsam praktizieren wollte. In allem lag jedoch Unehrlichkeit, und als Coman seine erste Überraschung überwunden hatte, drang er tiefer, drang hinter diese Bilder auf andere Ebenen, warf schnell einen Blick in die vielen Räume, bevor sie sich vor ihm verschließen konnten.... Blitzartig, unvollständig und verworren, abgelenkt durch Querströmungen und Muster, sah er den Joker, mit dem sie zusammenarbeitete und den sie haßte, er erblickte das Zimmer, in dem sie wohnte, Marst, unbekannte Gesichter, wieder Marst ... noch weiter zurück einen ehemaligen Geliebten, andere ... noch weiter zurück erhaschte er sogar einen Blick auf das verlorene Kind, das in allen Jokern wohnte ... Dann verschloß sie sich unvermittelt. »Sie sind stark und neugierig. Waren Sie mit dem, was ich Ihnen zeigte, nicht zufrieden?« »Ihr Körper ist wunderschön und aufregend, aber der Körper ist nicht alles.« Sie brach in ein irritiertes Gelächter aus. »Ich verstehe Sie nicht. Sie sprechen nicht wie ein Joker, aber den Stempel eines Verbindungsmannes tragen Sie auch nicht. Im allgemeinen kann ich die beiden Arten gut auseinanderhalten.«, »Das hängt alles mit meinem Charme zusammen — dieses Anderssein.« Sie verzog den Mund. »Lassen Sie mich in Ihnen lesen. Vielleicht
erfahre ich mehr.« Es gab nur eine Möglichkeit, sie davon abzuhalten, daß sie die Erinnerungsblockierungen in seinem Verstand aufstöberte und befragte. Joker konnten nicht weiter vordringen, aber er wußte, daß sie klug war und interessiert genug. Wenn es ihm nicht gelang, sie abzulenken, würde sie der Wahrheit ziemlich nahekommen. Er zeigte sich ihr also auf die gleiche Weise, wie sie sich ihm gezeigt hatte, jedoch mit einer solchen Brillanz und Leidenschaft, daß sie mit beinahe wilder Kraft in seine Gedanken gezogen wurde. Die Bilder flossen eindringlich und schnell, ihr Inhalt wurde immer faszinierender und gleichzeitig unbarmherzig aufreizend, bis sie plötzlich aufstand und zitternd den Kopf abwandte. »Hören Sie auf.« »Ich dachte, das war's, was Sie wollten.« »Das war nicht fair.« Sie wandte sich um, aber jetzt waren ihre Augen sanft und nicht mehr durchdringend. »Mein Wort, Sie können mit — Frauen umgehen. Wie konnten Sie es bei all diesen Felsen und Fossilien aushalten, wenn nicht eine einzige Frau in Sicht war?« »Wenn es nötig ist, kann ich Frauen völlig vergessen.« Sie lachte ein wenig gekünstelt. »Nach dieser Vorstellung kann man sich das schwer vorstellen.« Sie war von dem, was sie gesehen und gefühlt hatte, betäubt und hatte ihre frühere Wachsamkeit und ihr Mißtrauen verloren. »Rauchen Sie«, sagte Coman. Zwischen ihnen beiden bestand nun eine andere Atmosphäre; sie hatten einander in Gedanken bereits geliebt. Jetzt entdeckte er die Existenz eines Angstneurons und schloß daraus, daß sie sich an ihren Auftrag erinnerte und darüber nachdachte, wie unklug eine sexuelle Verbindung unter den gegenwärtigen Umständen sein könnte. Er beschloß nachzuhelfen. »Sie haben Ferien, ich ebenfalls. Also ...?« »Bitte ...«, sagte sie. Sie nahm die Zigarette und wandte ihr Gesicht ab, als betrachte sie die herumwirbelnden Tänzerinnen. Dann wandte sie sich ihm mit einer schnellen nervösen Bewegung zu und hielt ihm die Zigarette zum Anzünden hin. Als er ihr Feuer gab, begegneten sich ihre Blicke und ihre Gedanken, vermischten sich sanft, liebkosend, beschäftigten sich mit nichts
anderem als der Person, dem Geschmack und der Sensibilität. Sie dachte: Ich weiß, was du willst, und du weißt, was ich empfinde, aber es geht nicht. Im Augenblick jedenfalls nicht. Nicht in den nächsten paar Tagen.. Warum nicht? Ich habe dich belogen. Ich mache keinen Urlaub. Ich muß einen Auftrag erledigen, und ich werde gut dafür bezahlt. Ich besitze viele Koneen. Es ist nicht nur das Geld. Wenn ich Schwäche zeige oder versage, werde ich zur Rechenschaft gezogen. Dann ... bist du also Mitglied irgendeiner Bande! Es entstand eine Pause. Ja. Kann ich mitmachen? Narr, natürlich nicht. Sie wandte den Blick ab, ließ den Zigarettenstummel in das Abzugsrohr in der Mitte des Tisches fallen und stand auf. »Jetzt bin ich an der Reihe, den Dingen ein Ende zu bereiten — vorläufig wenigstens«, sagte sie. »Schauen Sie mich nicht so an, ich kann nicht — ich darf nicht — meinen persönlichen Wünschen nachgeben. Diesmal nicht. Wo kann ich Sie finden?« »Bisher habe ich noch keine Bleibe. Wäre es nicht besser, wenn Sie mir Ihre Adresse geben?« »Nein«, erwiderte sie abrupt. Sie war ärgerlich und fürchtete sich, weil sie sich mit ihm so weit eingelassen hatte, daß sie die Situation nicht kalt und objektiv betrachten konnte. Sie wußte, daß es am richtigsten war, sofort aufzuhören und zu hoffen, daß man sich irgendwann einmal in der Zukunft begegnete. Aber nur wenige Joker hofften auf etwas — am wenigsten auf die Zukunft. Sie zögerte also. »Ich kann Ihnen die Adresse nicht geben, aber ichsage Ihnen den Distrikt. Es ist in der Martel-Sektion, wo all die Souvenirs und Nippessachen für die Touristen verkauft werden, an der Südseite des Großen Parks. Kommen Sie in drei Tagen gegen mittag dorthin und warten Sie in der >Willow Bar< auf mich.« »Das werde ich tun«, sagte er. Sie schaute ihn ernst an. »Versprechen Sie mir, daß Sie nicht vorher versuchen werden, mich zu finden?« »Ich werde nicht eher kommen, es sei denn, ich halte es für unbedingt notwendig.«
»Ist diese Einschränkung notwendig?« »Ich fürchte ja. Ich möchte nicht gern, daß Sie in Gefahr geraten. Warum müssen Sie sich für Kriminelle als Werkzeug hergeben?« Sie seufzte. »Das geht Sie nichts an, und Sie dürfen sich nicht einmischen. Wollen Sie mich nicht zum Abschied küssen?« »Soll ich?« »Nein, vielleicht lieber nicht. Sie haben mir bereits genug angetan.« Coman beobachtete, wie die schlanke Gestalt durch die Tische hindurch zur Tür ging und ohne sich umzuschauen verschwand; dann entspannte er sich bei einer weiteren Zigarette. Er hatte sie nicht gern belogen, sie zu erregen jedoch hatte ihm Spaß gemacht, hauptsächlich deswegen, weil sie das Spiel selbst begonnen hatte. Er begann einiges von dem, was er erfahren hatte, zu ordnen und sorgfältig zu untersuchen. Linnels telepathische Kräfte entsprangen der Furcht und hatten sich allmählich in einer Kindheit voller Bosheit und Grausamkeit entwickelt. Jetzt besaß nichts mehr wirklichen Wert für sie, außer ihren eigenen Vergnügungen, und die waren in der Hauptsache sinnlicher Natur. Wie die meisten Joker konnte sie von ihrem Zynismus und ihrer Hoffnungslosigkeit geheilt werden, jedoch nur, wenn sie selbst dabei half. Eine Wandlung war kaum möglich, weil es schwer war, die eigentliche Bewußtheit zu erreichen. Sie wurde von Träumen gepeinigt und nahm viele Drogen. Vermutlich würde sie durch Selbstmord enden. Er besaß ein Bild von dem Gebäude, in dem sie wohnte, und er wußte, daß der männliche Joker nicht dort lebte. Sie arbeitete als Sekretärin, offensichtlich um ihre eigentliche Arbeit zu maskieren. Unter ihrer linken Brust verborgen trug sie eine todbringende Waffe, die über eine Entfernung von 15 Metern lautlos feuerte; er war sicher, daß sie mit der Waffe vertraut war und sie auch gut zu benutzen wußte. Was hatte sie über ihn erfahren? Nicht viel, hoffentlich nur, daß sie ihm gefiel und er mit ihr ins Bett gehen wollte. Er warf einen Blick auf den Zeitfaktoren und sah, daß eine Stunde vergangen war, seitdem er das Bad verlassen hatte.
6 Als er zurückkehrte, warteten Sein und Jonl angekleidet im Restaurant, gemeinsam mit Jark, der ihnen offensichtlich Getränke spendiert hatte und zu dem Schluß gekommen sein mochte, daß ihm nun doch noch das Glück winkte. »Es war nett von Ihnen, als Eskorte zu dienen, und es ist ein Jammer, daß Sie nun gehen müssen«, bemerkte Coman. Jark sah verstimmt aus, hatte sich jedoch einigermaßen gesammelt, denn im Grunde seines Herzens war er recht gutmütig. Er erhob sich und sagte: »Unsere Begegnung stand unter einem schlechten Stern, und ich hatte gerade der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß ich meine Bereitschaft zur Wiedergutmachung beweisen könnte, indem ich Sie alle drei heute abend zu mir einlade.« »Es wird uns ein Vergnügen sein«, sagte Jonl, bevor Coman antworten konnte. Jark verneigte sich. »Dann bis heute abend acht Uhr. Sie haben die Adresse, und ich kann Ihnen versichern, daß meine Mutter entzückt sein wird, Sie alle kennenzulernen.« Mit einem höflichen Lächeln verließ er sie, ging beschwingt und elegant zum Ausgang. »Wie hübsch«, murmelte Coman. »Sei nicht so mürrisch«, sagte Jonl. »Wir machen Urlaub, nicht wahr? Als du fort warst, zeigte er sich außerordentlich umgänglich und unterhaltsam, und es sieht so aus, als wäre er der. Sohn von Doln Raylond, die eine Menge Geld für die Gesellschaft zur Verhütung von Selbstmord spendet, deren Mitglied ich bin. Und jetzt müssen wir dir zwei Fragen stellen. Wo bist du gewesen, und warum hast du die Insignien abgelegt, die uns verbinden?« Er blickte schuldbewußt auf die leere Stelle an seinem Ärmel. »Ich kann euch versichern, daß es nur vorübergehend ist.« »Gut, daß Jark es nicht gemerkt hat«, sagte Sein. »Oder vielleicht hat er doch?« »Für mich besteht kein Zweifel«, sagte Jonl, »daß du mit einer anderen Frau zusammen gewesen bist. Jetzt sind Erklärungen angebracht.« »Ich fürchte, du wirst dich ein wenig gedulden müssen.« »Nun hör mal zu, Claus Coman, machen wir hier Urlaub oder nicht?«
»Ich habe euch vorher gesagt, daß ich zuerst etwas anderes erledigen muß«, sagte er. »Ja, aber warum erzählst du uns dann nichts darüber, vielleicht könnten wir dir helfen, die Sache zu erledigen.« Er starrte sie an, und sie verstummte. Diesen Blick kannte sie sehr gut, und er sagte ihr, daß er wieder einmal unwiderruflich verpflichtet war, einen Befehl der Schlüsselorganisation auszuführen. »Es ist also eine große Sache«, sagte sie tonlos. Coman zuckte die Schultern. »Es kann leicht und ungefährlich sein — oder auch nicht. Auf jeden Fall möchte ich nicht, daß ihr zwei in die Sache verwickelt werdet. Ich brauche nur ein oder zwei Tage, dann können wir alle zusammen ausspannen.« »Ach so«, sagte Jonl. »Gerade solange, bis das Komitee einen Beschluß gefaßt hat. Verrate uns wenigstens das eine: ist die Sache sehr gefährlich?« »Das hängt davon ab, was man unter Gefahr versteht«, antwortete er unbeschwert. »Jede Zelle des menschlichen Körpers enthält Elemente, die jederzeit ihr Verhältnis zueinander verändern und uns somit töten oder verstümmeln können. Wir sind ununterbrochen von der Gefahr umgeben und eingeschlossen.« »Teufel auch, das sind die alltäglichen Gefahren — aber du scheinst auf spezielle Schwierigkeiten aus zu sein.« »Ich habe euch schon früher erzählt, daß der Besitz ungewöhnlicher Fähigkeiten mir Pflichten auferlegt, die ich ausführen muß.« Er legte seine Hand auf ihre und hielt sie so lange fest, bis sie sich entspannte. »Diese Frage steht immer zwischen uns«, sagte sie. »Dir ist nichts wichtiger als der Verbindungsjob. Alles andere, uns beide eingeschlossen, zählt wenig.« »Claus«, hauchte Sein, »du hast uns Urlaub versprochen.« »Und den bekommt ihr auch«, antwortete er lächelnd. »Für euch zwei hat er bereits begonnen, und ich werde mich euch in zwei Tagen anschließen.« »Du meinst, du willst uns verlassen?« beide starrten ihn empört an. »Du bist verrückt«, sagte Jonl. »In solchen Zeiten, an einem Ort wie die Fünfzehnte Stadt. Wie sollen wir uns denn schützen? Dein Freund Deenan kann es nicht.« Seine Augen wurden schmal, als er erkannte, worauf sie
hinauswollte, aber er hatte sich entschieden. Es würde für sie alle sicherer sein, wenn er sich die nächsten achtundvierzig Stunden von ihnen fernhielt. »Wie gut kennst du diese Doln Raylond?« fragte er. »Ich bin ihr noch nie begegnet, aber ich habe eine Menge über sie gehört«, antwortete Jonl. »In ihrer Jugend hat sie geheiratet —das war eine der letzten Zeremonien, die überhaupt abgehalten wurden —, und zwar einen bedeutenden Industriellen. Es war eine »Liebesheirat«, und dieser Jark entsprang der Vereinigung. Der Mann starb, und Doln blieb mit hundert Millionen Koneen zurück. Sie ist in der ganzen Welt für ihre Spenden bekannt.« »Vorzüglich. Ihr werdet gut miteinander auskommen. Glaubst du, daß du sie dazu bringen kannst, daß sie euch die nächsten beiden Tage als Gäste aufnimmt?« Jonl starrte ihn an. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich glaube schon. Für Leute ihrer Art würde bereits die Tatsache ausreichen, daß ich die Tochter eines Richters bin, um ihre Gastfreundschaft zu garantieren. Die bloße Erwähnung des Gesetzes klingt den Reichen immer gut in den Ohren.« »Dann mußt du das tun, und alles ist in Ordnung. Wenn sie euch eingeladen hat, gibst du mir Bescheid, dann lasse ich euch das Gepäck schicken. Danach dürfen wir keinen Kontakt miteinander aufnehmen, bis ich fertig bin. Bleibt nach Möglichkeit im Haus und auf dem Grundstück, es sei denn, ihr habt ausreichende Begleitung bei euch.« »Und Jark Raylond? Ich dachte, du magst ihn nicht.« »Natürlich mag ich ihn nicht. Er begehrt dich und hat seinen Wunsch noch nicht aufgegeben, das Ziel zu erreichen. Er wird überglücklich sein, euch unter dem Dach seiner Mutter zu haben. Seine Freude wird keine Grenzen kennen, wenn er erfährt, daß ich anderweitig beschäftigt bin. Aber sicher ist, daß er euch vor anderen schützen wird, und ich wiederum verlasse mich auf euch, daß ihr euch vor ihm schützt.« Trotz dieser Wendung der Ereignisse lächelten sie. »Und inzwischen machst du dir eine herrliche Zeit mit dieser anderen Frau«, sagte Sein. »Das bezweifle ich. Sagt mal, seid ihr für oder gegen die Einführung einer Kriegssektion?« »Ich finde den Gedanken abscheulich«, sagte Sein schaudernd. »Was soll diese gewichtige Frage?« erkundigte sich Jonl.
»Du hast ganz richtig vermutet, daß meine Aufgabe mit der Lösung dieses Problems zusammenhängt.« »Was für einen Unterschied würde dann unsere Meinung machen?« »Keinen. Aber ich würde gern wissen, wie ihr darüber denkt.« »Ich bin noch zu keinem Urteil gekommen. Als Frau sollte ich den Gedanken eigentlich verdammen. Es spricht allen Regeln der Humanität hohn, Menschen in einen Dschungel zu setzen, wo sie aufeinander Jagd machen und sich gegenseitig töten. Andererseits waren alle unsere sogenannten Zivilisationen bis zum heutigen Tage kaum etwas anderes. Und selbst wenn wir diese Gewaltverbrecher einsperren, wird der Rest von uns fortfahren, sich gegenseitig zu bekämpfen und Jagd aufeinander zu machen, weniger öffentlich, aber trotzdem nicht weniger grausam. Oh, ich weiß es nicht — vielleicht sollte man es versuchen, solange es ein Experiment bleibt für die Forschung — ich weiß es wirklich nicht.« »Aber ich«, sagte Sein. »Moralisch gesehen ist es falsch und kann nur zu einer Tragödie werden — für alle Menschen. Es ist schlimmer als >Die Spiele<. Ich weiß, daß meine Ansichten darüber intellektuell wertlos sind, daß ich, wenn es um die Beurteilung derart wichtiger Dinge geht, dir und Jonl nicht das Wasser reichen kann, aber ich halte die Sache definitiv für falsch. Und noch etwas — ich weiß nicht, was du damit zu tun hast, aber ich habe plötzlich schreckliche Angst um dich, Claus. Meine Intuition sagt mir...« Coman streichelte ihre Wange. »Du warst niemals ernster oder schöner. « »Ach, dich interessiert meine Meinung gar nicht.« Aber Coman und Jonl betrachteten sie gedankenvoll, denn ihre Erregung war alles andere als gespielt. Noch nie hatte sie für Dinge, die mit weltlichen Angelegenheiten zusammenhingen, ein derartiges Interesse oder eine Überzeugung bekundet — tatsächlich hatte sie sich niemals um etwas gekümmert, das außerhalb der Verbindung zwischen ihnen lag und über die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, die sie in die Hand nahm, hinausging. Nur einmal hatte sie ein Vorgefühl wirklicher Gefahr für Coman bewegt — eine Ahnung, die sich als wahr erwiesen hatte, denn kurz danach war er mit knapper Not aus einer unangenehmen Situation mit dem Leben davongekommen.
Er sagte: »Ich versichere dir, daß ich deine Ansichten respektiere, wenn sie deiner Intuition entspringen. Aber deine Angst um meine Sicherheit ist überflüssig, denn ich bin jetzt doppelt gewarnt.« Ihre großen Augen betrachteten ihn ernst. Einige Augenblicke verharrten sie schweigend, schließlich stand Coman auf. »Kommt. Wir wollen uns die Stadt anschauen und dann ein Lokal suchen, wo wir essen können.« Obgleich die Fünfzehnte Stadt aus der Ferne betrachtet schön war, entpuppte sie sich bei näherem Hinsehen als recht ,plump. Wegen der brückenähnlichen Konstruktion war sie auf einer vollkommen flachen Oberfläche von drei Meilen Breite erbaut worden und wand sich nahezu einhundert Meilen weit über die Canton- und Enderburyinseln. An der Westseite lief über die gesamte Länge die einzige, 300 Meter breite Hauptverkehrsstraße entlang, auf der sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit sechs breite Laufbänder bewegten, die von zahllosen Nebenlinien aus dem Stadtinnern gespeist wurden. An der äußeren Seite des Bandes lief eine Fußgängerpromenade über die gleiche Distanz und schaute über den Pazifischen Ozean. Spaziergänger konnten sich gegen ein kleines Geländer lehnen, außerhalb hing eine unsichtbare Wand als Schutzvorrichtung. Der mittlere und der östliche Teil der Stadt waren ein einziges Konglomerat von Läden, Gebäuden aller Art und Unterhaltungsstätten. Die letzten zwanzig Meilen nach Süden hin nahmen die Regierungsgebäude ein; sie waren fächerförmig konstruiert und auf allen Seiten von einer natürlichen Parklandschaft umgeben — eine von dreien, die es noch auf der Erde gab. An jedem Ende der Stadt gab es zwei Radarplattformen, auf denen sich die Hauptquartiere aller Radiound Fernsehkommunikationsmittel befanden, daneben die Quartiere der Polizei und die Maschinerie für die vielen automatischen Kontrollsysteme. Ungefähr in der Mitte der »Brücke« hatte man ein weites Rechteck mit Sitzgelegenheiten für 100000 Zuschauer errichtet, und hier versammelten sich die sensationslüsternen Touristen und Angehörigen der meisten Klassen der städtischen Gesellschaft, um als Zuschauer oder manchmal auch als Akteure an der beliebtesten Unterhaltung des Zeitalters' teilzunehmen. »Die Spiele« waren eine getreue Nachbildung des alten römischen
Spektakels; sie waren kurz nach der großen Ära des Wiederaufbaus, die auf die Atomkatastrophe folgte, wieder zum Leben erweckt worden. Zuerst waren sie ganz harmlos gewesen, bald jedoch ein Schauplatz zügellosen Blutvergießens und so kompliziert und vielseitig geworden, daß sie die Phantasie berauschten und verwirrten. Hier gab es Amphitheater, wo Männer sich als echte Männer betrachten konnten, die mit Schwertern und Degen dreinschlugen, mit Pistolen kämpften, mit Gewehren und Büchsen schossen und nicht mit unsichtbaren Strahlen und Schocks; hier fanden sie die Romantik der gepanzerten Fäuste und langen Lanzen, der Bombensplitter und Pfeile; dies war ein Ort, wo jeder Mann den erstickenden Mantel des modernen Komforts und sogar den Schutz der Medizin, die in der Lage war, das menschliche Leben auf einhundert Jahre und mehr zu verlängern, abwerfen und ein echter Mann werden konnte, ein Held, den Millionen verehrten. Viele Herausforderungen wurden geboten und akzeptiert — meistens von jungen Männern und Frauen. Ströme von Blut befleckten den Sand. Die Mehrzahl der Kämpfe und Schauspiele jedoch wurden von Professionellen bestritten — Gladiatoren aus Gladiatorenfamilien. Sie stammten aus jedem Land der Erde und von außerhalb: Bewohner von Venus und Mars, die Sefen aus der winzigen Welt im Großen Hund und seit kurzem auch die winzigen Kreaturen vom Macre im Formalhaut-System. Vor allem aber boten die Spiele eine Flucht vor der Verzweiflung, unter der die Menschen dieses Zeitalters litten. Die normalen Männer und Frauen wurden mit der Verarbeitung einer ständigen Lawine von neuem Wissen und neuen' Daten, die im Zuge der Eroberung des äußeren Weltraums und der Begegnung mit neuen Lebensformen, neuen Soziologien, Glaubensformen und Kulturen auf ihr Bewußtsein eindrangen, nicht mehr fertig. Seit mehr als hundert Jahren waren Millionen junger Menschen darauf trainiert worden, weitgehend in Begriffen der Technologie zu denken; aber die neuen Horizonte des Lebens und des Denkens, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt eröffnet wurden, lagen jenseits des Fassungsvermögens der allermeisten, nur ganz wenige bildeten eine Ausnahme. Nach einem Spaziergang über die Promenade fuhren sie mit einem Sessel-Laufband in jenen Teil der Stadt, in dem die Ray-
londs wohnten. Sie standen auf einer Brücke, die aus Drahtseilen konstruiert war, die trotz ihrer unglaublichen Stärke so hauchdünn waren, daß sie selbst aus kurzer Entfernung wie ein glitzerndes Spinnennetz aussahen. »Meine Güte, unser neuer Freund lebt jedenfalls stilvoll«, sagte Sein. Der ganze Distrikt bestand aus erstklassigen Häusern, die meisten waren von Gärten umgeben, die eine Fülle exotischer Blüten, Rasenflächen und hier und dort sogar ein kleines Schwimmbecken zeigten, ein Luxus, der durch die großzügige Regenzuteilung, die dieser Sektion zustand, möglich wurde. Rund um die Häuser und Laufbänder sah man kostspielige Alarmanlagen in Form bleistiftähnlicher Antennen, und fast jedes Grundstück besaß am Eingang oder in der Nähe einen Wachroboter. »Einerlei, in welchem der kleinen Gefängnisse ihr die nächsten zwei Tage verbringt, ihr werdet euch sicher wohl fühlen«, sagte Coman. »Vorausgesetzt, daß wir redegewandt genug sind«, sagte Jonl. »Oh — Teufel!« rief Sein plötzlich. Sie ergriff Comans Arm und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Warum mußte ich euch beide kennenlernen?« fragte sie. »Wie lange wird es dauern? Wie lange wirst du leben, Claus?« »Du wirst es mir sagen können — mit deiner Intuition«, antwortete er und streichelte ihr übers Haar. »Ich weiß nur, daß ich nicht mehr leben möchte, wenn — wenn uns irgend etwas Schreckliches zustieße.« Sie zitterte unwillkürlich. »Manchmal kommt es mir so vor, als sei diese Existenz eine Art Traum oder vielmehr — daß ich zu spät geboren wurde. Warum konnten wir nicht etwa zweihundert Jahre früher leben, als die Welt noch jünger war und voller natürlicher Schönheit?« Coman warf über ihren Kopf Jonl einen Blick zu. »Von jeher haben sich die Menschen gewünscht, in einem anderen Zeitalter zu leben«, sagte er. »Es hat keinen Sinn, Sein. Wir müssen in unserer Zeit leben und das Beste aus ihr machen.« »Ja, ich bin dumm«, sagte sie und suchte nach einem Taschentuch. »Kommt, ich brauche jetzt etwas zu trinken — etwas Starkes. Bis du fort mußt, möchte ich einen Schwips haben.« Sie fanden ein Restaurant, von dem aus man das Meer überblickte. Während des Essens fing sich Sein wieder, sie blieb
jedoch still und bedrückt, obgleich sie eine Menge Shinel trank, ein Getränk, das von der Venus stammte. Um halb sieben verließen sie das Restaurant. Ihre restliche Zeit verbrachten sie in einem Konzert, das eines der ersten Orchester der Welt gab. Es fand in einem gläsernen Dom statt, der auf einem großen Kunststoffdeckel stand, der sich mit Zuhörern und Musikern langsam in den Abendhimmel erhob; er verharrte in einhundertzwanzig Metern Höhe bis zum Ende der Vorstellung um zwanzig Uhr dreißig. Als die Zeit des Abschieds herannahte, berührte Coman die Gesichter der beiden, und Jonl sagte: »Paß auf dich auf und laß dich nicht zu sehr mit dieser Frau ein, wer auch immer sie sein mag.« Er lächelte, seine Gedanken weilten bereits anderswo. Er sagte: »Macht euch der Frau oder meiner Sicherheit wegen keine Gedanken. Es wird nichts geschehen, und in zwei Tagen sind wir wieder beisammen.« Sein schien etwas sagen zu wollen, wandte jedoch ihr Gesicht ab. Jonl ergriff ihren Arm und trat mit ihr, nach einem letzten Blick auf Coman, auf das Laufband, das sie zu der Schranke bringen sollte, die das Raylondsche Grundstück umgab. Er schaute ihnen nach, und in einen Teil seines Gehirns prägte sich das Bild ihrer kleiner werdenden Gestalten ein. Dieser Abschied konnte der letzte sein — wer wußte das? Hier gab es keine Sicherheitsschlösser, Erkennungssignale oder ähnliches. Warum auch? Wer würde schon einen Mann, der nichts besaß, angreifen oder berauben wollen? Wer wollte sich denn überhaupt einem Menschen nähern, der nur zur Hälfte ein Mensch war, ein Halbroboter mit verwirrten Sinnen, bei dem Leitungen für merkwürdige Geräusche und noch merkwürdigere Gedanken sorgten, der an den falschen Stellen lachte und sich mit einer grotesk melodischen Stimme mit Geistern unterhielt? »Guten Tag, Deenan«, sagte Coman. Die Gestalt im Sessel auf der Veranda starrte an ihm vorbei in die Dunkelheit und antwortete nicht. Nicht weit entfernt brandeten die Wellen des Pazifiks gegen einen der gigantischen freitragenden Pfeiler, die die Stadt stützten, und eine leichte Brise liebkoste das spärliche Federkraut in den Sanddünen. Coman stieg die Stufen zur Veranda empor, verharrte einen Augenblick und lauschte in
das fremde, halb menschliche, halb metallene Gehirn, folgte dem Wispern durch die Gänge des Irrgartens und fand das schlafende Ich. Achselzuckend trat er in das lange niedrige Haus. Das Wohnzimmer war streng funktional gehalten, peinlich sauber und behaglich, aber unpersönlich. Von einem Stuhl in der Ecke erhob sich der von der Regierung gestellte Roboter, ein spindelbeiniges Geschöpf vom alten Typ, mit menschenähnlichem Gesicht, und glitt vorwärts, als Coman die Schwelle überschritt. Sein Gehirn registrierte die Tatsache, daß er ein Neuankömmling war, und seine Stimme fragte: »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Antworten Sie, oder ich gebe Alarmsignale.« »Ein Freund von Deenan«, antwortete Coman und nannte seine persönliche Identitätsnummer. Deenan hatte jetzt also wenigstens einen fadenscheinigen Schutz, denn diese neue Vorrichtung war eingebaut worden, seitdem Coman das letztemal seinen Freund besucht hatte. Die schwerfälligen Gedankenprozesse suchten in der gezwungenermaßen begrenzten Gedächtnisbank, fanden seinen Namen und die fotografische Ähnlichkeit, und der Roboter stand in Habachtstellung. »Bring mir ein alkoholisches Getränk«, befahl Coman, und als der Roboter seinen Auftrag ausführte, bewegte sich der Mann auf der Veranda, erhob sich und kam ins Zimmer. Er setzte sich auf einen der drei Sessel, die um einen Tisch in der Mitte des Zimmers gruppiert waren, und begann zu lachen —ein merkwürdiges, unheimliches Geräusch. Coman spürte, daß sich Deenan verändert hatte oder verändert worden war. Auf den ersten Blick erschien er noch schrecklicher, und es war nicht schwierig, sich vorzustellen, daß das Klammern an den gesunden Verstand, der stets gefährdet war, und der feste Wille, die Farce des Lebens fortzusetzen, in den vergangenen Monaten seit ihrer letzten Begegnung ernsthaft gelitten hatten. Aber Coman war nicht ganz sicher. »Nein, das Uhrwerk läuft nicht ab — ist gerade erneuert worden!« rief die Karikatur eines Mannes und stampfte lachend den Fuß auf den Boden. Es war so, als hätte er die Gedanken seines Freundes gelesen, und doch hatte Coman nichts davon gemerkt. »Ich dachte, du schliefest«, sagte er. »Und ich dachte, du seist tot — du hast es immer darauf angelegt«, erwiderte Deenan. Zusammenhanglos fuhr er fort: »Hast du
meine Bilder gesehen? Es steht ganz gut mit mir, und sie haben mir einen neuen Kopf eingesetzt.« Er hörte auf, mit seinen metallenen Kiefern Grimassen zu schneiden, und seine geliehenen Augen ruhten sanft auf Comans Gesicht. »Ich kann die richtigen Worte nicht aussprechen, Coman.« »Streng dich nicht an, alter Knabe.« »Ich kann nicht — ich kann nicht — wo ist das wunderschöne dunkle weibliche Geschöpf, das du mitgebracht hast — war es gestern?« »Ich bin allein!« »Wie schade. Früher einmal bin ich sogar auf dich eifersüchtig gewesen, aber nun habe ich mich damit abgefunden.« Der ehemalige Raumfahrer klopfte auf seinen Körper, seinen Unterleib, und die dumpfe metallische Antwort drang durch seine Kleidung. »Roboter können wegen einer Frau nicht eifersüchtig werden — warum also die Aufregung?« »Ja, warum?« In den alten Zeiten waren sie beide verrückt nach Frauen gewesen und die Frauen nach ihnen. »Jetzt empfinde ich nichts mehr. Wünsche mir nichts mehr —nur das Meer. Ich möchte direkt zum Strand hinunter und hineingehen; aber sie haben eine Selbstmord-Sperrvorrichtung eingebaut.« Coman hörte nur mit halbem Ohr zu und nickte, während er in Deenans Gehirn schaute. Irgend etwas beunruhigte das sensitive Gewebe seiner eigenen Bewußtheit. Da war ein Unterschied — seit dem letzten Mal hatte sich in den geistigen Prozessen des anderen etwas verändert. Was hatte Deenan mit »einem neuen Kopf« gemeint und mit seinen »Bildern?« Physisch schien der Kopf unverändert zu sein. Zuerst war er von einem der Ärzte des Raumschiffes aus einer Reihe von Gründen etwas hastig und aufs Geratewohl zusammengeflickt worden — der Hauptgrund war, daß man ziemlich primitive Werkzeuge und Materialien verwenden mußte —, und bei der Rückkehr zur Basis hatte man die Arbeit für ausreichend erklärt und es nicht für nötig gehalten, die grundlegende Struktur zu verändern. Und dennoch, wo es Coman früher ein leichtes gewesen war, einzudringen, fand er jetzt Anzeichen für verschlossene Gebiete, die er vorher nicht gespürt oder wahrgenommen hatte, und es schien fast, als hätte der
Besitzer eine Reihe von »Blockierungen« errichtet, um ihn daran zu hindern, das, was in diesen Gebieten vor sich ging, zu untersuchen. Er stand vor einem Rätsel. Seine telepathischen Kräfte hatten sich erst einige Zeit nach jener Reise manifestiert, und Deenan hatte nichts davon gewußt — wußte es auch heute nicht —, soweit war Coman sicher. Andererseits jedoch: wie konnte ein Verstand, der zu zwei Dritteln mechanisch und beschränkt war, so wichtige Geheimnisse haben, daß er sie hinter Sperren verschloß? »Ich muß dir etwas sagen, aber ich kann mich nicht daran erinnern — klingt das dumm, Coman?« fragte Deenan; seine Augen, in ihren tiefen Höhlen, sahen ebenso besorgt und verwirrt aus wie die von Coman. Er begann seinen Arm gegen die Metalllehne des Sessels zu schlagen, und Coman zuckte unwillkürlich zusammen. »Diese Bilder, von denen du sprachst ...?« »Ach ja, trink noch etwas.« Er wandte sich an den Roboter, der bewegungslos in seiner Ecke saß. »Hol die Bilder, du häßlicher Kerl.« Als der Roboter verschwunden war, begann er zu kichern: »Du darfst nicht vergessen, daß ich besser dran bin als einige andere«, sagte er unter glucksendem Lachen. »Ich bin zur Hälfte Mensch, und zur anderen Hälfte gehöre ich zu ihnen, ich sehe also die Dinge von beiden Seiten.« Einen Augenblick lang schwieg er und fuhr dann fort: »Erinnerst du dich daran, wie wir über den Gedanken lachten, daß Roboter anfangen könnten, selbständig zu denken?« Coman nickte. Sein Freund drohte mit dem Finger. »Mach dich nie wieder darüber lustig, alter Freund.« Coman wurde nur noch verwirrter. Etwas von dem, was in den Gedanken des anderen vorging, konnte er lesen, aber es ergab keinen Sinn. Deenan versuchte, ihm etwas zu sagen, aber etwas anderes, als daß Roboter denken können. Und dennoch war es das. Als er versuchte, tiefer einzudringen und die wirkliche Antwort zu finden, stieß er nicht auf Barrieren, sondern auf -- nichts. Auf den ersten Blick glichen die Bilder grotesken Klecksereien in schreienden Farben; sie sahen so aus, als hätte man einem Halbverrückten Material und Gelegenheit zum Malen gegeben. Deenan bestand darauf, die Bilder an der Wand nebeneinander aufzustellen, und gab dann zu jedem einzelnen einen laufenden Kommentar, durchsetzt mit verschiedenen Instruktionen an den
Roboter: »Das ist das Interieur eines Hauses, das zu Raum und Zeit in einem völlig neuen Winkel steht. Rück es nach links, Cort, es stört die kopflose Nackte. Noch ein Stückchen — so ist es besser. Das da ist meine Vorstellung von einem Politiker, der in der Arena von Starm in Stücke zerrissen wird — nein, du hast es verkehrt herum aufgestellt, du metallgesichtiger Idiot! So ist es besser. Beachte den Sturzbach gelben Blutes und das Messer und die Gabel für den Sieger. Das ist ein Porträt von dir und dem Stück dunkler Faszination, das du letztesmal mitgebracht hast, Claus. Was hältst du davon?« Coman schaute das Bild intensiv an, versuchte, das unbewußte Muster, das es inspiriert haben mußte, zu finden. In einem rohen Quadrat verschiedener Blautöne standen eine Menge rote und grüne Streifen, und direkt im Zentrum befand sich ein vollkommener Kreis in einem zarten, vorherrschend warmen Grau. »Das übersteigt mein Fassungsvermögen«, sagte er wahrheitsgemäß. Es gab neue Dinge, die er spüren, jedoch nicht richtig verstehen konnte. Ihm wurde nun klar, daß die Bilder keineswegs ohne jeden Sinn waren und eine bestimmte Botschaft beinhalteten, und er fühlte, daß es wichtig für ihn war, ihren Inhalt und ihre tiefere Bedeutung zu begreifen. Seine Hände ballten sich vor Enttäuschung. Er wußte, daß dies nicht der richtige Weg war, das Problem anzugehen. Er mußte ruhig und entspannt sein, sich weit öffnen und aufnahmebereit sein; statt dessen war er gereizt und unglücklich. »Übersteigt dein Fassungsvermögen, Claus? Unmöglich, mein Junge. Du warst immer der Schlaueste und Patenteste. Trink noch etwas.« Vielleicht lag es am Alkohol, daß Coman im Laufe der Zeit feststellte, wie er immer interessierter wurde, und daß ihn die merkwürdigen Bilder schließlich faszinierten. Samt und sonders stellten sie keine Szenen und Figuren realistisch dar; die Farben vielmehr und die Art und Weise, wie sie angeordnet und geformt waren, übten nach einer Weile einen hypnotischen Effekt auf das Auge aus. Was empfinde ich? Welche Reaktion rufen sie in mir hervor? fragte sich Coman und: ich muß wenigstens einen Weg in das emotionelle Gebiet finden, dem sie entspringen und zu dem sie zurückkehren müssen. Einige von ihnen drücken eine Art
traurige Heiterkeit aus, falls es das überhaupt gibt; außerdem habe ich das Gefühl, als blickte ich in einen endlosen farbigen Raum. Ja, daran erinnerten ihn die meisten der Bilder. Er zwang sich fortzublicken, stand auf und fragte: »Hast du etwas zu essen? Ich bin hungrig.« »Natürlich haben wir zu essen — ganze Eimer voll. Deck den Tisch, Cort, und räume diese Meisterwerke fort. Ich werde sie verbrennen und morgen neu anfangen.« »Warum?« »Weil sie für die breite Masse zu gut sind. Weißt du, ich habe alles mögliche über Künstlergenies gelesen, und daß sie immer erst geschätzt wurden, wenn sie tot waren. Warum sollte ich also dazu beitragen, daß stinkende Fettwänste astronomische Summen verdienen, indem sie meine Bilder nach meinem Tode wieder und wieder kaufen und verkaufen?« Coman lächelte. »Ich glaube, da hast du recht. Aber schenkst du mir das Porträt von mir und dem Mädchen? Ich verspreche, daß ich es nicht verkaufen werde.« »Ja, wenn du außerdem versprichst, Instruktionen zu hinterlassen, daß man es nach deinem Tode verbrennt.« »Ich verspreche es feierlich.« »Gut, dann betrachte das Bild als dein Eigentum.« Das Essen war gut, auch wenn der Roboter es recht ungeschickt servierte. Deenan trank reichlich, ohne jede äußerliche Wirkung; er wurde lediglich stiller und in sich gekehrter. Schließlich sagte er: »Ich muß dir etwas sagen, aber ich weiß, nicht wie. Es ist so ähnlich, als wollte ich es in einer fremden Sprache ausdrücken, die ich nicht verstehe. Tut mir leid. Kannst du mich verstehen und mir vergeben, Coman?« Seine Stimme klang bittend, sein schreckliches Gesicht zeigte eine Andeutung von Zerknirschung. »Natürlich«, antwortete Coman, der aufs neue verwirrt war. Ohne ein weiteres Wort erhob sich Deenan und ging zu seinem Sessel auf der Veranda. Coman zündete sich eine Zigarette an und nutzte die Gelegenheit, den beiden Mädchen eine Nachricht zu senden. Sein antwortete: »Bist du's, Liebling?« »Wer denn sonst? Wie steht's?« »Wir haben es geschafft, wie du vorgeschlagen hast. Bist du in Sicherheit?«
»Natürlich. Glaubst du, daß ihr sicher seid, bis ich wieder zurück bin?« »Ich denke schon. Mrs. Raylond scheint nett zu sein, und das Haus ist wunderbar, mit dem herrlichsten Badezimmer, das ich je gesehen habe. Außerdem besitzt sie eine wundervolle Kuriositätensammlung, die ihr ihr Mann hinterlassen hat, und einige ausgezeichnete Konzertaufnahmen irdischer Musik. Trotzdem muß ich dir sagen, daß Jark von Jonl ziemlich beeindruckt zu sein scheint und daß er sein äußerstes tut, um ihr zu imponieren.« »Wieso, machst du dir ihretwegen Sorgen?« fragte er und bemühte sich, die aufsteigende Ungeduld unter Kontrolle zu halten. »Sei nicht albern. Ich mache mir nur seinetwegen Gedanken. Er macht nicht gerade einen ausgeglichenen und reifen Eindruck, das ist alles.« »Nun, ihr zwei solltet schon mit ihm fertig werden. Hör zu. Setzt euch nur mit mir in Verbindung, wenn ihr wirklich in Bedrängnis seid. Ich habe zu tun.« Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging auf die Veranda. Er berührte Deenans Schulter. »Ich denke, ich gehe jetzt schlafen.« Deenan nickte, seine Augen, die tief in den Metallhöhlen lagen, blickten unbeweglich aufs Meer, das reflektierte Licht der Lampen glitzerte in ihnen. Als Coman sich umwandte, um ins Haus zu treten, kamen aus dem Mensch-Roboter plötzlich monotone Worte, als seien sie an ihn selbst gerichtet: Lausche und lausche, Schweigen im LandNur das Geräusch von dem Mann in der Wand. — Stehe am Fenster, blick in die Hall', Nichts ist zu sehen, Leer' überall. — Schreit' durch die Halle auf und nieder, Schweigen. Nur's Klopfen im Hirn klingt wider. Bei den letzten Worten .bebte die Stimme ein wenig und verstummte dann. Erneut versuchte Coman, den verwirrten Verstand zu durchdringen, er hatte jedoch keinen Erfolg. Er ging ins Haus, und nachdem er den Flughafen instruiert hatte, wohin sein Gepäck und das der beiden Mädchen gebracht werden sollte, befahl er dem Roboter, ihm sein Zimmer zu zeigen.
7 Coman wußte, daß er träumte, aber er schlief so tief, daß er den Weckmechanismus nicht auslösen konnte. Solange der Traum einigen Sinn ergab, wollte er mitmachen, vielleicht konnte er sogar insgesamt etwas Neues erfahren. Karns, dem er in Wirklichkeit nie begegnet war, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Wir sind alle sehr stolz auf Sie, und um Ihnen zu beweisen, wie sehr, werde ich Ihnen nun einen Orden an die Brust heften.« Sie standen auf einer Art Podium, und aus einem dunklen Zuschauerraum starrten reihenweise Verbindungsmänner und freuen mit hölzernem Gesichtsausdruck herauf, der sich plötzlich in ein Grinsen verwandelte. »Das ist doch lächerlich«, sagte Coman und schob das Metall beiseite, als es sich seiner Brust näherte. Bei dieser Bewegung sah er, daß der Orden die Größe einer Untertasse hatte und auf der Vorderseite ein Kopf eingraviert war — Deenans Kopf, halbiert, so daß man die Drähte und Transistoren im Detail sehen konnte. Alle begannen zu lachen, und dann sagte er selbst zwischen einzel- nen Lachanfällen: »Das ist kein sehr geschmackvoller Witz.« Die Halle wurde still, die Gesichter ernst, und Coman spürte, daß er nicht sehr taktvoll gewesen war. Kerns war anscheinend recht alt; er trug einen langen weißen Bart und sagte: »Ich muß Ihnen ein ziemlich großes Geheimnis mitteilen, Coman, aber das kann ich natürlich nicht hier vor all diesen Leuten tun.« Dann heftete er den Orden an seine eigene Brust und führte Coman aus der dunklen Halle in ein regelrechtes Gewirr aus zerfallenen Gebäuden. In allen Ecken lauerten unbekannte Bedrohungen und Gefahren, aber Coman folgte der Vatergestalt mit einer Art amüsierter Neugier. Das Ich genoß den Vorteil zu wissen, daß alles ein Traum war, und konzentrierte sich in der Hauptsache auf die Möglichkeit, etwas Neues und Wichtiges aus diesem Erguß des Unbewußten zu erfahren. Darauf beschränke sich leider die Kenntnis des Ichs, und gewisse andere Strömungen machten sich in der Form eines undefinierbaren Unbehagens, das sich in Comans Gehirn ausbreitete, bemerkbar — und zwar so stark, daß er im Traum versuchte, Karns Hand loszulassen. Aber ihre Finger schienen aneinanderzukleben, und er war gezwungen weiterzugehen, bis sie schließlich an ein Gebäude kamen, das offensichtlich eine Art
Theater war. Draußen stand eine lange Schlange von Wartenden, und als sie sich anstellten, hörte er ein paar Kommentare: »Das ist eine Show, die ausschließlich von Robotern veranstaltet wird. Haben Sie je so etwas gehört?« »Sie sollen sehr gut sein — sollen in der schauspielerischen Fähigkeit den Menschen gleichkommen — so habe ich jedenfalls gehört.« »Mir gefällt das nicht«, sagte ein anderer. »Das verstößt gegen jedes Gesetz. Aber der Eintritt ist frei, nicht wahr?« Drinnen hatte die Vorführung bereits begonnen, sie schien jedoch weder eine feste Form noch einen Inhalt zu haben. Roboter, die nackten Menschen nachgebildet waren — bis auf den Unterschied, daß ihre Körper metallisch blau schimmerten — stolzierten einher, vermischten sich, tänzelten umher und spreizten sich auf einer riesigen Bühne, die sich meilenweit zu erstrecken schien. »Natürlich ist es widerlich — aber auch höchst unterhaltend«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm, und als er erstaunt den Kopf wendete, sah er Jonl, die Hand in Hand mit einem Roboter, den sie anlächelte, hinter ihm saß. In diesem Augenblick überkam Coman eine Welle jenes schwarzen Entsetzens, das stets im Ozean des Wahnsinns, den man die Leere nannte, lauerte; sein Abwehrmechanismus setzte sich in Bewegung und weckte ihn. Eine Zeitlang starrte er in die Dunkelheit des Raumes, versuchte, die Bedeutung des Traums zu ergründen; es gelang ihm jedoch nicht. Schließlich gab er auf und sank in einen entspannten, traumlosen Schlaf. Er erwachte früh. Das Gebrüll der See dröhnte ihm in die Ohren, die heiße Sonne fiel gleißend gegen die weißen Wände, und ohne sich erst anzukleiden, nahm er ein Handtuch und ging in das lange Wohnzimmer. Deenan schlief anscheinend noch, und nur der Roboter tickte in seiner Ecke. Als Coman eintrat, sprang er auf. »Sie wünschen?« fragte er. »Tee, ich möchte Tee«, anwortete Coman brüsk, weil ihm der Traum wieder einfiel. Dieses Wesen, das vor etwa dreißig Jahren konstruiert worden war, kam im Aussehen den Traumbildern am nächsten. Die neuesten Modelle hatte man absichtlich so konstruiert, daß sie wie Maschinen aussahen. Die ersten Roboter, die man in seiner Kind-
heit hergestellt hatte, waren damals menschlichen Wesen exakt nachgebildet; zunächst erfreuten sie sich großer Beliebtheit, nach und nach jedoch waren sie aus verschiedenen Gründen in Ungnade gefallen, hauptsächlich deswegen, weil man sie leicht für Betrügereien oder kriminelle Zwecke verwenden konnte. Der Roboter zog sich in die Küche zurück; Coman ging hinaus an den Strand und tauchte ins Meer. Es war nicht ratsam, sich zu weit vom Ufer zu entfernen. Die ganze Strecke bis zur Stadt hin versammelten sich eine Menge gefräßige Fische, die Müll und Abfall suchten, der vier- oder fünfmal pro Tag durch Schächte ins Meer befördert wurde. Die Hauptgefahr waren die Haie, deren Zahl während der vergangenen Jahre in diesem Gebiet enorm angewachsen war, obgleich die Haifischjagd als populärer Sport galt. Coman trocknete sich im Sand und legte sich einen Plan zurecht. Für durchdachte Vorbereitungen war keine Zeit, er konnte nicht einmal die örtliche Situation gründlich taxieren. Er würde sich zu der Adresse begeben, die Karns ihm gegeben hatte, und Vane aufsuchen, bevor er Marst aufspürte und sich mit ihm befaßte. Wenn Vane ihm nichts über die Methoden oder die Möglichkeit einer Ausschaltung der Agenten, die Marst beschatteten, sagen konnte, dann mußte er sich auf seine Ohren verlassen — oder sich noch einmal mit Linnel in Verbindung setzen und durch sie die beiden Joker ausschalten. Dies war die einleuchtendste und vielleicht beste Möglichkeit, denn die beiden Joker bildeten den Schwerpunkt der Gegenseite. Das jedoch konnte Blutvergießen bedeuten, und bei dieser Arbeit hatte er es vermeiden wollen. Er versuchte herauszubekommen, was eigentlich in seinem Verstand vor sich ging. Er lebte in einer Welt des plötzlichen Todes — und der beste Weg zu überleben war, wenn man Mördern gegenüberstand, zuerst zu töten. Er glaubte an seine Mission, und um diese Aufgabe zu erfüllen, mußte er Leuten ausweichen, die darauf vorbereitet waren, ihn sofort bei Erkennen auszuschalten. Und dennoch hoffte er auf eine gewaltlose Lösung seiner Probleme. Es gab zwei oder drei Antworten, und eine davon lag bei Linnel. Sie war ein Joker und hatte bereits erbarmungslos getötet. Sie glaubte an nichts, weil sie selbst nichts von sich hielt. Trotz des Verlangens ihrer Leiber würde sie ihn auf der Stelle umbringen, wenn sie die wahre Ursache für seinen Aufenthalt in der Stadt
argwöhnte. Dennoch konnte er sie eigentlich nicht verurteilen, er empfand sogar Mitleid mit ihr. Wenn man nur tief genug in einen Menschen hineinschaut, selbst in den schlechtesten, dann muß man Mitleid empfinden. Teufel auch, dachte er, es gibt Millionen Linnels und hat sie immer gegeben. Das ist nichts Neues. Aber er wußte, daß das nicht stimmte. Ich bin ein lüsterner Idiot, dachte er. Zwei Frauen sind mir nicht genug, ich will noch eine dritte. Aber auch das stimmte nicht. Etwas anderes interessierte ihn, die Tatsache nämlich, daß sie ein weiblicher Telepath war, von denen es nicht viele gab. Er stand auf und warf einen Stein weit hinaus in die Wellen, und mit dieser Bewegung löste sich seine Schwäche. Die Tage der Ritter und der Ritterlichkeit mochten einer vergangenen Welt angehören, aber dennoch würde er versuchen zu vermeiden, aufs neue kaltblütig zu töten. Als er zurückkehrte, fand er ein lauwarmes entsetzliches Teegebräu vor, und nach dem ersten vorsichtigen Schluck ging er in die Küche und schüttete es in den Ausguß. Dann suchte er in den Schränken nach den nötigen Tee-Utensilien. Der Roboter, der unfähig war, seinen Gesichtsausdruck zu verändern, ging unruhig auf und ab und wiederholte in Abständen: »Was machen Sie in der Küche?« Coman kümmerte sich nicht darum und fand schließlich in einem Schraubglas ein Paket Tee — dieses Paket hatte er bei seinem letzten Besuch mitgebracht, und als er es öffnete, stellte er erfreut fest, daß noch ein paar Teelöffel übriggeblieben waren. Es gab nichts, was einer Teekanne ähnelte, und so mußte er das Getränk in einem Krug aufgießen; aber trotzdem schmeckte es echter als das Robotergebräu. Als er mit der Tasse in der Hand die Küche verließ, traf er Deenan, der gerade aufgestanden war. Er war nackt, und die Metall- und Plastikteile waren deutlich sichtbar. Er erwiderte Comans Gruß mit einem schwachen Kopfnicken und fuhr fort, jedes einzelne Teil vorsichtig abzuklopfen, danach lauschte er eine Weile intensiv. »Claus Coman in Küche«, sagte der Roboter klagend. »Viel Spaß«, sagte sein Herr. »Ich muß das hier jeden Morgen tun, um festzustellen, ob ich noch heil bin«, erklärte er Coman. »Klopf klopf hier, klopf klopf da! Wenn es dumpf und schwer klingt, ist alles in Ordnung — ein metallenes blechernes
Geräusch irgendwo, und ich muß mir im Krankenhaus neue Ersatzteile holen. Wahnsinnig komisch, nicht wahr?« »Natürlich.« »Claus Coman in Küche. Irgend etwas stimmt nicht«, sagte der Roboter. »Halt den Mund und hol das Frühstück«, sagte Deenan kurz angebunden. Mit diesem neuen Auftrag war der innere Konflikt des Roboters auf einen Schlag gelöscht, und er machte sich ruhig an die Arbeit. »Das ist ein braver Junge«, sagte Coman. »Er ist die Pest«, sagte Deenan. »Sein Gehirn ist darauf programmiert, daß er mich wie ein Kindermädchen versorgt, und er ist verdammt lästig. Tut mir leid, daß ich gestern abend soviel getrunken habe.« »Das habe ich gar nicht gemerkt.« »Doch, und du hast gedacht, ich würde mich unter deinen Händen in meine Einzelteile auflösen.« Erneut überkam Coman das unheimliche Gefühl, daß sich Deenan verändert hatte, aber er war noch immer nicht in der Lage; zu ergründen, inwiefern oder auf welche Weise. »Du hast vor kurzem gesagt, daß dein Kopf ...«, begann er. Deenan lachte. »Ich hatte Oxydationsschmerzen in den Drähten, weiter nichts. Wie lange bleibst du?« »Ich weiß nicht. Einen Tag — vielleicht länger.« In diesem Augenblick erschien draußen über dem Strand eine kleine, von einem aufmontierten Roboter gesteuerte Plattform und schwebte auf die Veranda zu. »Meine Tasche«, sagte Coman. Er ging hinaus, quittierte die Empfangsbescheinigung und holte die Tasche ins Haus. Die Plattform stieg in die Luft und verschwand. Das Frühstück war serviert, und sie aßen schweigend. Dann brachte Coman die Tasche in sein Zimmer und öffnete sie. Man hatte sie nicht durchsucht; die Kleidungsstücke und Toilettenartikel, die Spezialinstrumente und die Waffen, die er normalerweise bei einem Auftrag mit sich führte, waren nicht angerührt worden. Außer der Schlafnadelpistole, die er an die Innenseite des rechten Unterarms schnallte, wählte er eine Schock-Pistole und steckte sie in eine Innentasche. Diese Waffe produzierte eine winzige Druckwelle, die sich während der Bewegung durch den Raum vergrößerte und aus einer
Entfernung von 10-12 m einen Mann mit einer Schlagkraft umwerfen konnte, die der gepanzerten Faust eines Gladiators gleichkam. Als er die Tasche wieder zugemacht und verschlossen hatte, war es neun Uhr, und er ging zurück ins Wohnzimmer, um mit Deenan zu sprechen. Er fand ihn draußen, wo er langsam am Ufer auf und ab ging. Er gesellte sich zu ihm und sagte: »Ich gehe in die Stadt hinauf.« »Tu, was dir Spaß macht, Coman«, antwortete Deenan. »Komm und geh, wann du willst. Du bist immer willkommen.« »Fabelhaft.« Er wollte gerade fortgehen, als Deenan stehenblieb, sich umwandte, und Coman sah, daß seine Augen einen sanften, freundlichen Ausdruck hatten. »Beweg dich vorsichtig zwischen Angst und Haß. Und vergiß nicht, was ich dir über die Roboter gesagt habe.« Coman runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. Er konnte hinter diesen Worten keinen Sinn erkennen. Sie entsprangen keiner klar umrissenen Gedankenlinie im Kopf seines Freundes. Deenan ging bereits weiter, die Augen hatte er zu Boden gerichtet, als suche er etwas. Er schien vergessen zu haben, daß Coman bei ihm war, und so wandte sich Coman ab und ging über die Insel hin zu der Stelle, wo ein großes »Bein« der Brücke an der Nordseite tief eingesunken war. In dieser Säule brachte ihn ein Lift geschwind hinauf ins Leben und in den Lärm der Stadt. Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und sie unbeirrt und unverzüglich durchzuführen, war Comans wertvollste Eigenschaft. Er glaubte an das Prinzip, daß man Denken und Handeln voneinander trennen sollte, und wenn er handelte, dann konnte ihn selbst eine Todesdrohung nicht daran hindern, sein Ziel zu erreichen. Es war schwierig, zu entscheiden, wie er sich mit Vane in Verbindung setzen sollte, weil er von der Gegenseite scharf beobachtet wurde. Er hatte wahrscheinlich mit zwei Verbrechern von geringer Intelligenz und natürlich einem Telepathen zu rechnen — der andere würde in Marsts Nähe postiert sein. Welcher von ihnen würde Vane belauschen? Er konnte nicht hoffen, daß es Linnel war. Coman beschloß, sein Glück zu versuchen. Er betrat eine Telefonzelle und fand die Nummer des Hotels, in dem Vane wohnte. Die Fernsehanlage war separat, und er benutzte nur die
normale Sprechverbindung. Endlich antwortete der Mechanismus: »Pension dritter Klasse. Seth Street 14, SooleSektion.« »Ich möchte Clar Vane sprechen. Mein Name ist Coman.« »Augenblick. Ich sehe nach, ob er anwesend ist.« Nach einem Augenblick wurde Coman durch den Klang einer menschlichen Stimme belohnt: »Hier Vane.« Es mußte ein Schock für Vane gewesen sein, zu erfahren, daß Coman in seiner Nähe war, denn man hatte ihn natürlich nicht gewarnt. Trotzdem klang seine Stimme ruhig und beherrscht. Coman sagte: »Ich möchte Sie sehen. Ist das möglich?« »Ja, fein, daß Sie hier in der Stadt sind. Wie geht es Charo?« Das sagte Vane, um irgend jemanden irrezuführen. »Ihr geht's gut, danke.« »Warum kommen Sie nicht auf einen Drink bei mir vorbei, dann können wir uns ein wenig unterhalten.« »Gern«, erwiderte Coman geduldig. »Zimmer 17, heute abend gegen acht. Okay?« »Ich komme sofort. Wie viele beobachten Sie in diesem Augenblick?« »Ein Uhr? Nein, das ist zu spät.« »Vorzüglich, ist es der Telepath?« »Nein, ich sage Ihnen doch, daß das zu spät ist.« Lächelnd legte Coman auf. Das war beinahe zu viel Glück auf einmal. Er nahm ein schnelles Laufband zur Seth Street 14, und die Pension war genauso schäbig und heruntergekommen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Außer dem Mechanismus zum Empfangen und Senden von Nachrichten und dem verstärkten Strahlensystem gegen Einbrecher lag alles in den Händen eines menschlichen Angestellten, der in einem kleinen Foyer hinter einem Schreibtisch saß. Außer ihm waren noch drei Leute anwesend: zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, waren harmlos, aber der dritte, ein Mann mit flinken Augen, der auf einer Sitzbank bei der Tür saß und in den Zähnen stocherte, war zweifellos einer der Gangster. Als Coman eintrat, erschien auf seinen Zügen kein Zeichen des Erkennens, sondern lediglich Neugier. Es gab leider keine Möglichkeit, diese Neugier zu beschwichtigen, und Coman wußte, daß man ihn deutlich hören konnte, als er sagte: »Ich möchte zu Mr. Vane. Er erwartete mich.« Der Mann zeigte auf den Lift. »Bedienen Sie sich. Zimmer 17.
Zweiter Stock.« Der Fahrstuhl war klein, es war gerade genug Platz für Coman und den Gangster. Keiner von ihnen sprach, bis sie den zweiten Stock erreichten, dann sagte Coman: »Sie hätten sich die Mühe wirklich sparen können.« Als sich der andere umwandte, traf ihn Coman mit dem Knöchel direkt hinter dem rechten Ohr. Als er zusammensackte, packte er ihn unter den Armen und zog ihn durch die sich öffnenden Türen auf den Flur hinaus. Nummer 17 war ganz in der Nähe, und da Coman gleich, nachdem er aus dem Lift getreten war, mit Vane in Gedanken Kontakt aufgenommen hatte, öffnete sich die Tür, als er ankam, und der Telepath half ihm, den Mann hereinzuziehen. »Warum, verdammt noch mal, mußten Sie das tun?« »Ich hielt es für nötig«, antwortete Coman unwirsch. Tatsache war, daß er den Mann kurzentschlossen außer Gefecht gesetzt hatte. Er fuhr fort: »Bei dem Telefonanruf haben Sie sich geschickt verhalten. Ist dies Ihr einziger Wächter?« »Im Augenblick ja. Der Telepath, Harkor, ist vor zehn Minuten fortgegangen, vermutlich, um Kontakt mit seinem Kollegen aufzunehmen, der bei Marst stationiert ist. Einmal täglich treffen sie sich in einem Café in der Nähe, gewöhnlich um diese Zeit, wahrscheinlich um Nachrichten auszutauschen. Sie haben genau im richtigen Moment angerufen.« Er schwieg und fügte dann nachdenklich hinzu: »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie in der Fünfzehnten Stadt sind.« »Sollten Sie auch nicht, alter Knabe.« »Verstehe.« Coman zündete eine Zigarette an, und sie betrachteten einander eingehend. Sie waren einander schon einmal flüchtig begegnet und fanden sich aus verschiedenen Gründen nicht sonderlich sympathisch. Hauptsächlich hing diese Antipathie wahrscheinlich mit dem Unterschied des Alters und des Temperaments zusammen und mit dem Ursprung ihrer übersinnlichen Wahrnehmung. Vane war noch jung und hatte die Gabe der Telepathie bereits in der Jugend besessen. Er litt ununterbrochen an einer Angst vor Schmerzen, und dadurch war er bei gefährlichen Unternehmungen kaum nützlich. Er war ein Träumer und sehnte sich nach einer Möglichkeit, den Unbekannten Sinnen näherzukommen. Vane stand immer dicht
vor einem Nervenzusammenbruch, und Coman fühlte sich in seiner Gegenwart unbehaglich. Vane sagte jetzt: »War es wirklich nötig, diesen Mann bewußtlos zu schlagen? Wenn Sie einen Plan haben, dann könnte sich dies doch ungünstig auswirken, nicht? Es wird nicht lange dauern, dann kehrt Harkor zurück ...« Coman unterbrach ihn: »Wenn Sie sich so sehr ängstigen, dann können Sie mit dem nächsten Flugzeug die Stadt verlassen. Aber zunächst einmal müssen wir uns ein wenig unterhalten, weil Sie vermutlich bestimmte Dinge wissen, die für mich nützlich Sein könnten. « »Es ist alles in Ordnung«, sagte Vane und reichte ihm ein Glas. »Sie dürfen nicht ungeduldig werden, Coman. Sie sind schließlich ein Mann der Tat.« Coman lächelte gezwungen. Er wußte, daß der andere mit dem Wort Tat in Wirklichkeit Gewalt gemeint hatte. »Ich muß Marst sehen, bevor sich das Komitee morgen entscheidet, Sie werden also meine Eile verstehen.« Die Gestalt auf der Erde bewegte sich; Coman beugte sich hinunter und riß den Mann hoch, dann hob er die Hand und feuerte vorsichtig eine Schlafnadel in den dicken Nacken, und zwar aus nächster Nähe, so daß sie völlig im Fleisch verschwand und ein kleines rundes Loch hinterließ, das dem Auge gerade noch sichtbar war. »Wo können wir diesen Kerl verstauen, damit er die nächsten paar Stunden nicht entdeckt wird?« Vane zuckte mit den Schultern und deutete dann mit der Hand auf einen Kleiderschrank am Fenster. Dann wandte er sich mit bleichem Gesicht ab. Als Coman den Schrank leerte und den schlafenden Mann hineinstieß, murmelte Vane: »Vielleicht ist all dies notwendig, aber ich finde es ausgesprochen widerlich.« »Ich weiß wirklich nicht, wie Sie mit dieser bösen Welt zurechtkommen«, sagte Coman, schloß die Schranktür und verriegelte sie. Vane ging auf die Bemerkung ernsthaft ein. »Ich weiß nicht, wie überhaupt jemand von uns mit ihr zurechtkommt«, antwortete er. »Manchmal frage ich mich, ob das, was wir tun, überhaupt der Mühe wert ist. Und die Tatsache, daß wir wie die anderen werden müssen, Gewalt anwenden, töten ...« »Sie meinen, dadurch werden wir nicht besser als sie«, führte
Coman statt seiner den Satz zu Ende und leerte sein Glas. »Das ist eine alte Geschichte — und ebenso bedeutungslos wie alle anderen. In Wirklichkeit ist nichts so, wie wir es gern haben möchten, Vane, und damit müssen wir uns abfinden.« Er fing einen unausgesprochenen Gedanken auf: Nur die Unbekannten Sinne haben einen Wert, und einmal werden wir den Weg dorthin entdecken. Ärgerlich dachte er daran, daß die Minuten verrannen, aber er wußte, daß es notwendig war, sich in diesem Augenblick miteinander zu unterhalten, als hätten sie endlos viel Zeit. »Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt existieren, setzen Sie also nicht bedingungslos auf diese Hypothese.« Vane wandte sich mit düsterer Miene um: »Wenn es sie nicht gibt, ist unser Leben bedeutungslos. Glauben Sie überhaupt an etwas, Coman?« Der ältere Mann lächelte. »Ich glaube an alles. Wir leben und müssen das Beste daraus machen. Jetzt habe ich einige Fragen; vielleicht können Sie sie beantworten. Zunächst Harkor und das Mädchen: Wie arbeiten sie zusammen?« »Ich habe sie nur einmal gesehen. Wie ich bereits sagte: sie treffen sich täglich, aber nur Harkor bleibt hier und natürlich dieser .. .Kerl, den Sie mitgebracht haben.« »Sie wissen nicht genau, wo sie ist und was sie tut?« »Tut mir leid, nein. Sie befindet sich in Marsts unmittelbarer Nähe, das ist alles, was ich weiß. Harkor beobachtet und belauscht mich, und ich kann Ihnen sagen, was für ein Mensch er ist. Er gehört zur übelsten Sorte der Joker. Er ist ein natürlicher Feind unserer Organisation. Außerdem ist er ein Sadist und ein Weiberheld und ein ziemlich guter Hypnotiseur. Ich glaube eigentlich nicht, daß er genau weiß, welche Bedeutung seine Aufgabe hier hat — er weiß auch nicht viel über die Leute, die ihn beschäftigen —, aber darüber macht er sich keine großen Gedanken. Er erhält eine beachtliche Summe, um Marst vor den >falschen< Einflüssen zu >beschützen<.« »Wie, zum Teufel, bringt er das fertig? Marst kann doch darauf bestehen, jeden beliebigen Menschen zu empfangen und zu besuchen. « Der andere lächelte trübe. »Sie würden sich wundern, wie viele Leute er und seine Muskelmänner bereits davon abgehalten haben, mit Marst zu sprechen. Dieser Harkor ist so stolz auf seine
Gerissenheit, daß er mich von seinem Können auf diesem Gebiet informiert hat. Aus irgendeinem Grunde nimmt der Idiot an, ich wollte Marst dazu bringen, daß er zugunsten einer Kriegssektion stimmt.« »Ach so. Sie sind gegen den Vorschlag.« Vane warf ihm einen Blick zu und las seine Gedanken. »Und Sie sind dafür. Sind Sie aus diesem Grunde hierher ...« Coman nickte, und der andere sah noch bekümmerter aus als zuvor. »Sie können das doch nicht für eine gute Idee halten, Coman. Jaja, ich weiß, daß man auf diese Weise den kriminellen Elementen einen Schlag versetzen würde, aber vom moralischen Standpunkt aus gesehen ist es ausgesprochen falsch! Ist diese Gesellschaft denn so wertvoll, daß wir sie auf diese Art und Weise schützen müssen?« Coman starrte ihn einen Augenblick schweigend an, dann nickte er aufs neue. »Ich habe mich entschieden und andere auch; bessere Denker als Sie oder ich sind zum gleichen Schluß gekommen — das Gesetz muß angenommen werden.« »Karns?« »Auch Kanrs.« »Gottes Stern, das hätte ich nie für möglich gehalten.« »Aber es stimmt. Jetzt müssen Sie mir genau berichten, wie weit Marst inzwischen gekommen ist.« Das kann ich nicht. Meine letzte Information lautete dahingehend, daß er so gut wie überzeugt ist, daß man mit einer Kriegssektion nichts Gutes schaffen würde. Außer ihm befinden sich zwölf andere im Komitee, und anscheinend steht es unentschieden, bis auf zwei, die sich nicht entschließen können — und es ist ziemlich sicher, daß diese beiden von Marst beeinflußt werden.« »Er hat einen guten Ruf«, sagte Coman. Vane nickte. »Er ist einer der wenigen Männer mit absoluter Integrität, und aus diesem Grunde hat man ihm auch die Kontrolle dieses Komitees übertragen.« »Ganz recht. Niemand von denen in der Regierung, die in Verbindung mit Korruption und Mißwirtschaft genannt werden, hat Einwände gegen seine Wahl zum Präsidenten geltend gemacht.« »Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.« »Ich meine damit, daß sie auf seinen Sinn für Moral bauen, damit er sie vor dem rettet, was ihnen als Katastrophe erscheinen muß.«
Vane schenkte nach und sagte dann tonlos: »Vielleicht sehen Sie und die anderen die Situation richtig, aber wie könnten Sie die eigentlichen Anführer, die Verbrecherbosse, aussortieren und deportieren? Die Drahtzieher, die sich nicht für Kriminelle halten und ohnehin über Recht und Unrecht >erhaben< sind?« Coman schaute ihn nachdenklich an. »Sie sind kein einfacher Mann, Vane. Niemand von uns ist einfach, weil wir alle gezwungen sind, auf vielen Ebenen zu denken und manchmal sogar auf verschiedenen gleichzeitig. Wenn ich Ihnen versichere, daß es neben den offensichtlichen Gründen noch andere gibt — können Sie dann begreifen, daß wir eine Kriegssektion brauchen?« Vane runzelte die Stirn. »Ich sehe, daß die Frage insgesamt schwieriger und vielschichtiger ist, als ich gedacht habe.« »Und verwickelt ist auch die Antwort. Nun erzählen Sie mir nach Möglichkeit, was für Wachen man in Marsts Nähe postiert hat.« »Nun, mindestens zwei normale Menschen mit geringer Intelligenz und natürlich die Telepathin. Ich konnte ihre genaue Position nicht aufspüren, zweifellos jedoch wohnt oder arbeitet sie im gleichen Hotel wie Marst — auf diese Weise bereitet es ihr keine Schwierigkeit, zu erfahren, was vor sich geht.« »Was ist mit der Polizei?« fragte Coman. »Unzuverlässig. In dieser Stadt sind sie besonders korrupt und werden nicht einschreiten, bevor Marsts leibliche Sicherheit bedroht ist. Es ginge wohl zu weit, zu behaupten, daß sie die Leute, die hinter Harkor stehen, aktiv unterstützen, aber keinesfalls sollte man von ihnen irgendwelche Hilfe erwarten.« »Daran habe ich auch nicht gedacht«, sagte Coman. Er überlegte und sagte dann: »Lediglich die Anwesenheit der Joker macht alles so schwierig. Einer oder auch beide müssen irgendwie unschädlich gemacht werden. »Sie meinen, Sie wollen ... sie töten?« »Nicht unbedingt. Wenn Harkor nach seiner Rückkehr etwa eine Stunde hier aufgehalten werden kann, habe ich es nur mit dem Mädchen zu tun. Vorhin sagte ich, Sie könnten die Stadt sofort verlassen, aber wenn Sie noch ein wenig länger bleiben . . .« »Natürlich. Auch wenn Sie anderer Meinung sind: Ich bin kein Nervenbündel.« Coman schaute ihn an. »Sie sind ein besserer Verbindungsmann als ich, und wir beide wissen das. Verzeihen Sie, wenn es so aussieht, als hätte ich diese Tatsache vergessen.«
Beide lächelten, und Coman erhob sich. »Bleiben Sie noch so lange hier, daß Sie Harkor aufhalten können, während ich mich an dem Mädchen vorbeischleiche. Seien Sie vorsichtig. Kontrollieren Sie Ihre Gedanken und denken Sie keinen Augenblick an mich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie den Mann im Schrank >vergessene müssen, falls Harkor ihn sucht und ihn fragt, wo er geblieben sein mag. Können Sie das tun?« »Ja.« »Gut — dann hat er keine Ursache, irgend etwas zu argwöhnen. Ich werde mich lieber vergewissern, daß er zurückkehrt. Ich warte im Foyer, bis ich ihn sehe. Danach — eine Stunde.« Er ging zur Tür, zögerte und wandte sich noch einmal um. »Irgend etwas beunruhigt mich, seitdem ich meinen Fuß in diese Stadt gesetzt habe. Es hängt mit den Robotern zusammen.« Vane blickte ihn scharf an. »Wie meinen Sie das?« »Nichts, das ich in klare Worte fassen könnte, es ist mehr das Gefühl, als versuche irgend etwas, sich verständlich zu machen.« Vane sah nachdenklich aus. »Ich habe auch etwas Merkwürdiges gefühlt. Ich weiß, daß irgend etwas Wichtiges im Anmarsch ist und daß es mit uns zu tun hat.« »Mit uns?« »Mit Verbindungsmännern und -frauen. Am Connector erzählte mir ein Freund aus der 9. Sektion, daß einer der unseren, ein Elektronenexperte, gerade neue Faktoren bestimmter Robotertypen entdeckt hat und daß wir in Kürze alles erfahren werden.« Coman war überrascht. »Sie haben einen Connector, hier?« »Ja, ich habe ihn aus meiner Heimat mitgebracht. Wie hätte ich sonst in dieser Situation Karns meine Berichte übermitteln können?« »Benutzen Sie ihn nicht wieder. Angenommen, Harkor würde Sie belauschen?« »Seitdem ich in diesem Loch sitze, habe ich ihn nur zweimal benutzt. Zuletzt gestern, nur für ein paar Minuten, als er mit dem Mädchen zusammen war. Er befindet sich jetzt in einem Safe, und nur ich besitze einen Schlüssel.« »Trotzdem beschwören Sie damit eine Katastrophe herauf.« Coman hielt inne und fuhr dann mit Bitterkeit in der Stimme fort: »Ich nehme an, Sie mußten in die Leere tauchen, damit Sie Ihren Wächtern nicht zu lange entschwanden ...« Aber Vane hatte sich abgewendet und starrte aus dem Fenster,
Gedanken und Ohren verschlossen. Mit einem Achselzucken verließ Coman das Zimmer. 8 Als Harkor das Foyer betrat, las Coman gerade die Hausordnung. Er spürte die Machtausstrahlung des Mannes, noch bevor er in den Spiegel an der Wand hinter dem Angestellten schaute. Er erblickte ein unschönes Gesicht mit Hängebacken; unter halbgeschlossenen Lidern wanderten die Augen heimlich umher. Harkor sah nicht besonders gefährlich aus: er erweckte eher den Eindruck, als sei er ein bedauernswerter Versager. Dennoch sah Coman auf den ersten Blick, daß man diesen Mann nicht unterschätzen durfte, in seinem Herzen trug er den glänzenden, harten Stein des Bösen. Harkor mißtraute anscheinend. Fahrstühlen, und als er sich der Treppe näherte, wandte sich Coman um und ging geschwind auf die Straße, betrat ein Laufband, das nach Westen führte. Er hatte beschlossen, Linnel nur in nächster Nähe zu suchen, um ein größtmögliches Überraschungsmoment zu erzielen. Das bedeutete, daß er seine Fähigkeiten nur begrenzt einsetzen konnte, nur soweit, daß er die Nähe kleinerer Fische erkennen konnte. Ohne Schwierigkeiten fand er das Hotel, denn es gehörte zu den drei modernsten Gebäuden des Viertels. Es war mit den neuesten elektronischen Systemen ausgestattet, und im Empfang arbeitete ein glitzernder, komplizierter Roboter. Er spürte nichts von Linnel, bemerkte jedoch sofort zwei Augenpaare und zwei Gehirne, die mißtrauisch auf der Lauer lagen. Einer der Männer — ein dunkelhaariger junger Bursche mit einer altmodischen Brille — kam näher und holte sich vom Empfangstisch eine Illustrierte, die er zu lesen vorgab. »Ich möchte Mr. Alte Marst sprechen«, sagte Coman. Es war der direkte und vielleicht gefährlichste Angriff, aber die Zeit war knapp. Der Roboter summte und klickte, sein Gehirn notierte Comans Kleidung, sein Erscheinungsbild und den Ton seiner Stimme. Offensichtlich fand eine Art Test statt, weil er fragte: »Sind Sie angemeldet, Sir?« Vielleicht war dies das neueste Modell eines Empfangschefs. Er hatte die Form einer Stange mit einem zwiebelartigen Kopf, eine
beruhigende Stimme und eine dünne Armantenne, die, wenn sie nicht in Gebrauch war, genau in den »Körper« paßte. Der Kopf hatte drei Augen — eines zur Übertragung von Comans Bild, eines, das ihn nach unerlaubten Waffen untersucht, und ein drittes, das im Notfall einen lähmenden Strahl abfeuern würde. »Ja. Bitte geben Sie meine Bitte und mein Bild weiter, und dies auch, angemessen vergrößert.« Coman hielt eine kleine Metallscheibe empor, auf der seine Personalien und ein Spezialzeichen eingeprägt waren, dessen Bedeutung nur wenige Menschen kannten. Der Roboter dachte nach — falls man das so nennen konnte — und entschied sich schließlich positiv. Coman nickte, seine Gedanken waren auf den Mann in seiner Nähe gerichtet. Der Bursche hatte seinem Kollegen ein Zeichen gegeben, es sah jedoch so aus, als sei keiner von beiden fest entschlossen, ihn von einer Begegnung mit Marst abzuhalten. Man hatte ihn nicht als wichtigen Befürworter des Planes einer Kriegssektion erkannt, und überdies schienen die Männer ihre Instruktionen von den Jokern zu erhalten. Andererseits befürchtete man offenbar von Verbindungsmännern eine mögliche Bedrohung, überlegte Coman, sonst hätte man Harkor nicht in Vanes Nähe postiert. Wo befand sich Linnel? In diesem Augenblick nahm er Gedanken in seiner Nähe wahr: Brauchen uns den Kopf nicht zu zerbrechen, die Dame wird mit ihm schon fertig werden, wenn es notwendig sein sollte. Und ihm wurde klar, daß Linnel in der Tat ganz in der Nähe von Marst war, daß er ihr, wenn der Roboter ihm die Erlaubnis zum Passieren gab, innerhalb weniger Minuten gegenüberstehen würde. »Gehen Sie hinauf, Sir. Mr. Marsts Sekretärin sagt, daß er Sie empfangen wird. Zweiter Stock, Apartment drei. Der Lift ist dort drüben.« »Danke schön.« Als sich Coman auf den Weg machte, folgte ihm der Mann, und als er den Fahrstuhl, betrat, war der andere direkt hinter ihm. In dem engen Raum starrten sie sich an, Coman abwartend, der Verbrecher mit ruhiger Unverschämtheit. Er schien glücklich darüber, daß er ein Mann der Tat war, gut darauf vorbereitet, mit Einfaltspinseln umzugehen, daß er oben und unten Freunde hatte und daß ohnehin keine Katastrophe eintreten würde. Er drückte auf den Knopf, und sie surrten mit geringer
Geschwindigkeit aufwärts. Als sich die Türen öffneten, grinste er Coman unverfroren an und verneigte sich übertrieben tief. Als Coman an die Tür Nummer drei klopfte, lehnte er sich gegen die Flurwand und verschränkte die Arme. »Sieh mal einer an, unser Geologe«, sagte Linnel. Sie stand in der Mitte des kleinen Vorzimmers und hielt in der manikürten Hand eine L-förmige Waffe auf seine Brust gerichtet. Als er sich die Waffe näher anschaute, lächelte er ungläubig. Es war die tödlichste Kleinfeuerwaffe, die es gab, mit einem so kräftigen Feuerstrahl, daß er auf eine Entfernung bis zu fünfzig Metern wie eine Sichel durch Fleisch und Knochen schnitt. Davon abgesehen wußte man, daß Waffen dieser Art Energie verloren und den Körper des Trägers schädigten; es war für einen Zivilisten ein Verbrechen, eine derartige Waffe zu tragen. Er starrte sie schweigend und lächelnd an; sie fragte scharf: »Was wollen Sie hier?« Sie hatte gewünscht, er würde sagen, daß er wirklich ihretwegen gekommen sei, daß er ihre Spur irgendwie bis hierher verfolgt habe. Er hätte diese Eröffnung benutzt, wenn sie nicht bereits seine Gedanken gelesen hätte. Außerdem las sie, daß er sich aus der drohenden Gefahr nichts machte, daß ihn der Anblick der Strahlenpistole in Wirklichkeit noch ein wenig zuversichtlicher stimmte. Sie empfand Ärger und Verwirrung und eine Spur von Angst. »Warum sind Sie gekommen?« fragte sie erneut, diesmal mit schriller Stimme. »Leg das weg, Linnel.« Ihre Mundwinkel entblößten die Zähne. »Glaubst du, ich würde sie nicht benutzen?« »Warum um alles in der Welt solltest du? Ich bin nicht gekommen, um dir irgend etwas anzutun. Wenn du abdrücktest, würdest du in Schwierigkeiten mit der Polizei geraten, einerlei, welche Geschichte du dir ausdenken würdest. Überdies magst du mich zu gern, um zuzuschauen, wie ich schreiend verbrenne ...« »Sei still!« Sie hatte jetzt Angst. Als sein Gesicht auf dem kleinen Schirm über ihrem Arbeitstisch erschien, hatte ihr Herz einen Sprung gemacht, wie bei einem Schulmädchen. Fast automatisch hatte sie dem Roboter gesagt, er solle ihn passieren lassen, und erst als er bereits unterwegs war, hatte sie beschlossen, die
Pistole herauszuholen. »Ich brauche nur den Mann draußen im Gang zu rufen ...« »Er hört dich nur, wenn du schreist, und dann hört dich auch Marst.« Zum erstenmal schwankte die Waffe, als Linnel klar wurde, daß sie zwei Fehler begangen hatte und daß beide damit zusammenhingen, daß sie eine Frau war. »Du hältst dich für verdammt klug, was?« sagte sie zitternd. Einen Augenblick lang glaubte Coman, sie würde auf den winzigen Knopf drücken, der den Strahl abfeuerte — aus purer Gehässigkeit. Aber der Augenblick verstrich, und dann öffnete Linnel ihre Jacke und schob die Waffe in eine Tasche, die in der Corsage verborgen war. »Ich bin froh, daß wir uns schon einmal begegnet sind und daß wir im guten auseinandergingen«, sagte er leise. »Kann ich mir denken. Du hast mich um den Finger gewickelt. Ich habe geglaubt, es sei gegenseitige Anziehung gewesen.« »War es auch.« Sie ließ sich nicht besänftigen. »Warum willst du mit Marst sprechen?« »Es ist privat — ein kleines Gespräch, das ist alles.« Er ging langsam auf sie zu, hielt sich zwischen ihr und der Tür zum Korridor. Als er näher kam, senkte sie die Augen, und ihre Schultern fielen herab. Sie erkannte, daß die Leidenschaft, die er in ihr erregte, ein Gift war, das ihre sonstige Vorsicht und Klugheit unterminiert hatte. Ihr Zustand war jetzt unhaltbar, vielleicht befand sie sich in äußerster Gefahr. »Komm«, sagte er, als er diese Gedanken las. »Du mußt keine Angst haben — es gibt aus jeder Schwierigkeit einen Ausweg.« Zum erstenmal ließ er sie den Zweck seines Besuches erkennen, und ihre Augen weiteten sich. »Du willst Marst dazu überreden, daß er für die Kriegssektion stimmt. Du mußt verrückt sein!« Er antwortete nicht, und einen Augenblick lang war Linnel erleichtert, weil sie angenommen hatte, er sei gekommen, um Marst etwas anzutun, so daß ein anderer seinen Platz einnehmen konnte. Coman stand jetzt dicht neben ihr. Sie wußte, was er vorhatte, und ließ schweigend und mit halb geschlossenen Augen zu, daß er sie küßte; seine Hand schlüpfte in ihre offene Jacke, liebkoste sie und nahm dann die Waffe heraus. Als er schließlich zurücktrat und lässig die Pistole von einer Hand in die andere
nahm, blieb sie unbeweglich stehen, ihre Augen waren verwirrt. »Es ist für uns beide besser, wenn ich dieses Ding habe«, sagte er. »Was bist du eigentlich — eine Art wandelndes Sexsymbol?« fragte sie matt. »Du weißt sehr gut, was ich bin.« »Trotzdem, du bist nicht das, was ich mir unter einem Verbindungsmann vorstelle. Ich habe immer gedacht, ihr seid ein Haufen von lammfrommen Weltverbesserern.« Coman schob die Waffe in seine Tasche und ergriff sie beim Arm. »Ich muß mit Marst sprechen, und du kommst mit. Du wirst schweigen, während ich rede, und nicht versuchen, dich mit deiner Bande da draußen in Verbindung zu setzen.« »Wenn es dir gelingt, bringen sie mich um«, sagte Linnel tonlos. »Quatsch. Sie brauchen doch gar nicht zu wissen, aus welchem Grunde ich hier bin. Du kannst ihnen irgend etwas erzählen, und sie werden nichts merken. Übrigens, wie sollst du überhaupt jemanden, der mit Marst sprechen will, davon abhalten?« »Du kennst Harkor nicht. Er wird meine Gedankenbarriere durchbrechen und es herausbekommen ... und dann ...« Coman runzelte die Stirn. Er wußte, daß Linnels Angst berechtigt war, aber das durfte ihn von seinem Plan nicht abbringen. »Ich habe ihn gesehen«, sagte er. »Er gehört zu der Sorte, die niemandem treu sind, am wenigsten vielleicht ihren Arbeitgebern. Wenn es soweit ist, werde ich ihn mir vorknöpfen.« »Bei ihm wirst du deinen Charme nicht spielen lassen können! Er ist heimtückisch wie eine Schlange. Lies einmal meine Gedanken.« Sie ließ ihn etwas von Harkor sehen: die Art, wie sein Verstand funktionierte, und die Dinge, die angeblich auf sein Konto gingen, und Comans Mund wurde hart. »Trotzdem werde ich mit ihm fertig werden.« Nicht sehr überzeugt zuckte sie die Schultern, ging zu ihrem Schreibtisch in der Ecke und bediente einen Schalter der Gegensprechanlage. »Ein Herr Claus Coman möchte Sie sehen, Sir.« Eine scharfe, affektierte Stimme antwortete: »Oman? Wer zum Donnerwetter ist das denn? Habe ich nicht klar und deutlich gesagt, daß ich heute abend niemanden mehr sehen will?« Linnel warf Coman einen Blick zu, und er gab ihr die Identitätsscheibe. Als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage deutete er auf den Apparat, und sie hielt den Gegenstand zur Reproduktion
auf Marsts Schirm in die Höhe. »Er hat mich gebeten, Ihnen dies zu zeigen.« Es entstand eine kurze Pause, und dann sagte die Stimme mit einer Spur von Resignation: »Also gut, führen Sie ihn herein.« Als sie eintraten, blickte Marst, der hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch saß, fragend auf. Er war klein und hatte eine gefurchte Stirn, die unmerklich in eine Glatze überging. Seine runden blauen Augen wurden durch die Brillengläser vergrößert. Er schien leicht gereizt zu sein. »Ich hatte mich schon gefragt, wann mich wohl einer von euch aufsuchen würde. In Ordnung, Miß Cray, Sie können gehen.« »Es wäre mir lieber, wenn sie hierbliebe, falls Sie nichts dagegen haben«, sagte Coman. Marst sah überrascht aus. »Ich habe nichts dagegen. Ich hatte nur gedacht, Sie würden eine vertrauliche Unterredung vorziehen.« Coman antwortete nicht. Er setzte sich in den ihm angewiesenen Sessel und entspannte sich, als sei er gerade von einer langen Reise nach Hause zurückgekehrt. »Darf ich rauchen?« Der andere nickte, heftete dann seine Augen auf Coman, ganz unbekümmert, ob der Verbindungsmann seine Gedanken las oder nicht. »Ich nehme an, Sie wollen mit mir darüber sprechen, ob wir eine Kriegssektion einrichten sollen oder nicht.« »Das war der generelle Gedanke.« Coman zündete seine Zigarette an, nahm einen Zug und starrte ins Leere. »Sind Sie sich der Tatsache bewußt, daß ich davon überzeugt bin, daß eine positive Entscheidung falsch ist?« »Überzeugt?« Marst machte eine ungeduldige Handbewegung. »Mehr oder weniger. Ich kann nichts gutes dabei entdecken. Was hält Ihre Organisation davon? Sie sind sicherlich der gleichen Meinung.« Coman antwortete langsam: »Ich kann nicht für alle von uns sprechen, aber ich bin hier, weil Karns mich schickt. Und Karns ist der Meinung, daß der Antrag angenommen werden sollte.« »Karns?« Über der großen Brille erschienen reihenweise Falten, und als Coman vorsichtig und geschwind tastete, erfuhr er etwas über Marst und auch über Karns. Es schien so, als hätten die beiden Männer vor langer Zeit gemeinsam an der Universität für Soziologie in der vierten Sektion gearbeitet; zwischen beiden mußte ein
bestimmtes Verhältnis bestanden haben, eine Art Einfühlungsvermögen, das, im Hinblick auf ihre unterschiedliche Art, Marst stets fasziniert hatte und auch heute noch faszinierte, ungeachtet der Tatsache, daß sich ihre Wege getrennt hatten und sie einander nicht mehr begegnet waren. Da war auch ein Mädchen, das Marst geliebt hatte; das Mädchen war gestorben ... »Karns ist der beste Mensch«, sagte Marst und artikulierte die Worte kaum. »Und doch kann er sich irren.« »Jeder von uns kann sich hier und da irren. Aber Sie wissen, daß Karns ein Mensch ist, dem das Beste der Menschheit am Herzen liegt; er hat sorgfältig über diese Sache nachgedacht.« Marst schien in die Enge getrieben. »Wie ist das möglich? Wie kann man zu einem solchen Schluß kommen? Es wäre doch, gelinde ausgedrückt, unvernünftig, wenn man böse Menschen zusammensperrt und sie mit jungen, unausgeglichenen Menschen allein läßt — Menschen, die bei richtiger Behandlung zu harmlosen, vielleicht sogar nützlichen Bürgern werden könnten.« Coman nickte. »Viele Arten der Behandlung sind bereits angewendet worden — ohne Erfolg. Gerade weil wir es mit jungen Menschen zu tun haben, befürworten wir einen vollständigen Abschied von dieser Zivilisation. Hier müssen sie verkümmern, ersticken unter dem Gewicht der Bedingungen, unter denen wir existieren.« »Was wollen Sie damit genau sagen?« »Fragen Sie sich selbst. Was halten Sie wirklich von unserer Zivilisation?« Das offene Gesicht wurde zur ausdruckslosen Maske, nur die Augen, die hinter den Linsen stark vergrößert wurden, schienen lebendig. Schließlich blies Marst erregt durch die Lippen und sagte: »Ich halte nicht besonders viel davon, aber es ist lediglich eine Reflexion des alten Kampfes, des gleichen Kampfes, der unsere gesamte Geschichte markiert.« »Genau — eine Reflexion. Ein Schriftsteller namens Oscar Wilde hat einmal eine Geschichte geschrieben, die von dem Bildnis eines jungen Mannes handelte, das den allmählichen Verfall des Mannes im Laufe seines Lebens spiegelte. Zum Schluß war das Spiegelbild zu widerlich, als daß man es beschreiben konnte.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Ich bin ein sinnlicher Mensch und liebe das Vergnügen, aber der Homo sapiens lebt heute
ausschließlich mit den Sinnen und für die Sinne. Die Schurken und die klugen Narren hatten stets die meiste Macht inne, aber bei der heutigen Technik und mit Hilfe der Wissenschaft ist ihre Herrschaft übermächtig geworden.« Wiederum schwieg er. Er wollte Marst eigentlich erzählen, daß er lediglich ein Werkzeug sei, daß man ihn an die Spitze des Komitees gestellt hatte, weil man wußte, daß sein Charakter und seine Einstellung nur ein einziges Ergebnis zuließen. Aber das war nicht nötig. Marst hatte das bereits vermutet. Coman sprach weiter: »Sie regieren und ernennen ihre eigenen Nachfolger. Wie hätte sonst ein Mann wie Sie bei der letzten Wahl aus dem Weltrat ausgeschlossen werden können? Wie kann es angehen, daß ein Drittel dieses Rates krimineller Abstammung ist, obgleich man sie nicht direkt als Kriminelle bezeichnen kann, weil die Väter so erfolgreich waren, daß die Kinder es nicht nötig haben, selbst Verbrechen zu begehen — sie sind in der Tat so weit davon entfernt, daß ein bedeutender Teil von ihnen zu den ersten gehören würde, die den Gedanken einer Kriegssektion befürworten.« »Und doch wollen Sie ihnen den Gefallen tun?« Coman seufzte, seine Augen glänzten. »Ja, ich möchte ihnen einen Gefallen tun und den anderen, verängstigten, ehrlichen Bürgern, die lediglich in Ruhe und Frieden ihr Vermögen stapeln wollen, und all den armen Seelen, die nur noch Automaten sind, die unglaublich Verhätschelten und Übersättigten, deren leibliche Kinder sich gegen sie wenden und sie vernichten, um dem gleichen Schicksal zu entgehen.« Eine Stille entstand. Nur selten sprach er so lange, aber es, war in diesem Falle nötig. Das Mädchen hatte sich fest verschlossen, und er konnte nicht feststellen, was sie dachte. Marst sagte ruhig: »Und die anderen, diejenigen, denen Sie nicht gefallen wollen — jene, die die eigentlichen Feinde sind?« »Derjenige, der der eigentliche Feind ist«, korrigierte Coman, und Marst lächelte zum erstenmal. »Der eigentliche Feind liegt mehr oder weniger in uns allen. Lethargie, Apathie, der Haß auf Veränderungen und neue Entscheidungen, der Wunsch, zu genießen und zu vergessen, zu loben und Speichel zu lecken, zu unterschätzen und zu übersehen; die Furcht davor, aus sich herauszugehen, davor, eine Gelegenheit zu nützen, vor Leiden und Sterben — der Feind hat hundert verschiedene Gesichter.«
Marst überlegte, prüfte und erinnerte sich dann. »Ein Teil meines Verstandes erkannte Ihren Namen und auch Ihr Gesicht, als Sie eintraten, aber erst jetzt fällt mir alles wieder ein. Waren Sie nicht der Mann, der vor zwei Jahren das Raumschiff Venture IV vor der Zerstörung bewahrte?« »Ich gehörte zur Mannschaft.« Der andere nickte. »Das hat damals großes Aufsehen erregt. Ich habe im Fernsehen die Sache als Schauspiel gesehen und fand es sehr eindrucksvoll. Sie wurden aber auch angemessen belohnt, glaube ich.« Coman sah verwirrt aus. »Wie meinen Sie das?« »Mit einem blonden Mädchen, hatte gute Beziehungen, war recht begehrt. War vermutlich von Ihrem Können und Ihrer Waghalsigkeit überwältigt; sie ließ alles hinter sich und kam zu Ihnen. « »Sie ist noch immer bei mir«, erwiderte Coman kurz. All dies war ein Vorwand für einen anderen, wichtigeren Gedanken, und es hatte keinen Zweck, ungeduldig zu werden. »Das freut mich. Ihr Vater und ihre Mutter waren ziemlich verzweifelt über den Zwischenfall, weil sie große Pläne für das Mädchen hatten. Ich kenne sie zufällig näher ...« »Dann teilen Sie ihnen bitte, falls Sie sie treffen sollten, die Tatsache mit, daß es ihr gutgeht und sie glücklich ist.« Marst lächelte. »Sie sind Narren, und sie lieben in Wirklichkeit nur sich selbst. Ich könnte einen Drink vertragen — einen starken. Und Sie?« Coman nickte, und Marst gab Linnel ein Zeichen. Sie erhob sich und instruierte den Dienstroboter. Coman beobachtete sie, fragte sich, ob sie versuchen würde, sich mit ihren Kollegen in Verbindung zu setzen. Sie wußte jetzt praktisch alles Wichtige über ihn, aber er machte sich keine Sorgen. Es war ihm gelungen, zu Marst vorzudringen, und er hatte sein Bestes getan, um ihn zu veranlassen, das Problem noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Coman erhob sich und schritt auf und ab, blieb einen Moment stehen, um seine Zigarette auszudrücken und eine neue anzuzünden, während der andere teilnahmslos zuschaute. Nach einem Augenblick sagte Marst: »Fassen wir noch einmal zusammen — ihr glaubt, daß man mit diesen Gewalttätern und Rebellen eine neue Art des Zusammenlebens schaffen kann —
mit Hilfe der Verbindungsmänner natürlich.« »Warum nicht? Vorausgesetzt, das Gebiet ist groß und weit genug entfernt, ein Satellit oder sogar ein kleiner Planet, dabei spielt es keine Rolle, wie rauh das Klima oder wie dürftig die Bedingungen zur Erhaltung unserer Lebensform sind ...« »Entlegen oder nicht, das Gebiet müßte auf jeden Fall von der Erde aus streng überwacht werden.« Coman zuckte die Schultern, und Marst fuhr nachdenklich fort: »Eine phantastische Idee; aber schließlich leben wir in einer Zeit, die vor hundert Jahren auch noch als unglaublich phantastisch gegolten hätte. Überdies leben wir, fürchte ich, in einem Zeitalter des akuten Pessimismus und Zynismus. Wie kann man glauben, daß einem solchen System Erfolg beschieden sein könnte, daß es etwas Neues und Wertvolles hervorbringen könnte und nicht in ein weiteres Schauspiel der Barbarei und des Irrsinns ausartet?« Coman schwieg, und Linnel kehrte mit dem Tablett zurück, das sie vom Roboter erhalten hatte. Sie schenkten sich ein. Linnels Augen waren ausdruckslos, und als Coman das Glas erhob, versuchte er vergebens, die Barriere, die sie errichtet hatte, zu durchdringen. Er sagte: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen klarmachen, daß wir recht haben.« Marst verzog das Gesicht. »Ich bin kein Narr, obgleich ich nicht Gedanken lesen kann. Es kommt mir so vor, als hätten Sie ein wenig mehr mit der Sache, die Sie fördern, zu tun.« »Karns unterstützt sie.« »Vielleicht, und Sie sind ihm in Gedanken näher, weil Sie ein >Ausführender< sind. Es gibt nicht viele Verbindungsmänner, und die wichtigsten sind die >Ausführenden<, von denen angeblich auf der Erde nur zwölf existieren. « Als Coman etwas entgegnen wollte, hob Marst die Hand. »Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ich empfinde große Achtung für Ihresgleichen. Obgleich es nicht viele Telepathen gibt und Sie überdies nicht straff organisiert sind, haben Sie häufig großartige Inspirationen, und soweit ich weiß, widmen Sie sich guten Zwecken. Dennoch muß ich darauf hinweisen, daß Sie trotz Ihrer Gaben Menschen sind und daß, wenn die Telepathen größere Macht erlangen — unser Geschlecht sich möglicherweise in noch größerer Gefahr befindet. Macht korrumpiert, das ist eine Binsenwahrheit, die im Laufe unserer Geschichte niemals widerlegt wurde.«
»Sicherheitsmaßnahmen gegen diese Eventualität sind in die Organisation bereits eingebaut worden«, sagte Coman. »Vielleicht. Man wird es Außenstehenden, wie ich einer bin, überlassen müssen, festzustellen, ob diese Maßnahmen auch wirkungsvoll sind.« Coman seufzte. »Ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern, daß im Augenblick wenig Gefahr von unserer Seite droht. Wir selbst leben beständig unter der Bedrohung, ausgerottet zu werden.« Wiederum lächelte Marst. »Damit müssen Sie rechnen, Co-man. Sie besitzen bereits erstaunliche Kräfte im Gegensatz zur Mehrheit der Menschheit. Sie können sogar töten und der Strafe entgehen.« Coman blickte ihn scharf an, und er nickte. »Ja, ich weiß über Mannein, den Gott, Bescheid. Sie, oder einer der Ihren, hat ihn getötet. Welches Recht hatten Sie dazu — das Gesetz in Ihre Hand zu nehmen und es zu brechen und dennoch den Konsequenzen Ihrer Tat zu entgehen?« Coman schwieg. Marst war ein normaler Mensch, auf seine Art so groß wie Kerns, aber dennoch normal. Er wußte nichts von der Leere, den fremden, mächtigen Einflüssen, die unter dem Bewußtsein des Menschen arbeiteten und gegeneinander kämpften. Selbst, wenn er davon gewußt hätte, wäre ihm dieses Wissen im Zusammenhang mit der Frage nicht wichtig erschienen. Für Marst war Recht Recht und Unrecht Unrecht — dazwischen lagen keine gewundenen Pfade, keine grauen Schattierungen, die Schwarz von Weiß trennten. Er repräsentierte das alte, ursprüngliche, menschliche Wesen, das wenig sah, jedoch deutlich erkannte und in dem Glauben sicher war, daß zwischen Gut und Böse stets eine scharfe, leuchtende Trennungslinie stand. Aber der Homo sapiens hatte sich verändert, veränderte sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, und das zunehmende Wissen über sich selbst und die »Materielle« Welt, die ihn umgab, und das endlose Universum dahinter verwirrte jede Tat und jeden Gedanken und verlieh ihnen eine katastrophale Absurdität. Und doch glaubte Coman leidenschaftlich an den Wert des neuesten Durchbruchs in die Bewußtheit, an die gegenseitige Verbindung der Gedanken. Und außerdem inspirierte ihn die Hoffnung, daß durch diese Tatsache der Mensch aufs neue eine Art Unschuld zu erlangen vermochte.
Mars nickte. »Sie wollten, ich wäre Telepath, nicht wahr?« . »Es schoß mir durch den Kopf.« »Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun.« »Ich weiß. Sie akzeptieren uns nicht als Teil der menschlichen Entwicklung.« »Ich kann das nicht anerkennen. Es widerspricht allem, was ich für gültig halte. Die Menschen sind nicht dafür geeignet, auf diese Art und Weise ineinander einzudringen. Das ist — beinahe unanständig. Meiner Meinung nach wird die ganze Würde des Individuums zerstört, und das ist etwas, an das ich immer geglaubt habe. Es tut mir leid, aber ...« Er zögerte. »Bitte sprechen Sie weiter.« »Nun, ich denke, daß Telepathen die unglücklichsten aller Menschen sind. Ihre Macht muß Ihnen mehr Traurigkeit als Freude bringen. Ich glaube, daß Sie auf dem schmalen Grat zwischen Gesundheit und Wahnsinn balancieren.« Coman. und das Mädchen krümmten sich innerlich, denn Marst hatte die verletzlichste Stelle aller Telepathen gefunden. »Und dennoch glauben wir an uns selbst, an alle Menschen«, sagte Coman. Es entstand eine Pause. Marst nickte nachdenklich. Plötzlich stand Coman auf. »Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Was ich sagen wollte, habe ich gesagt, und ich kann nur hoffen, daß Sie in den letzten Stunden, bevor Sie den Weltrat von Ihrer Entscheidung unterrichten, die Frage einer Kriegssektion noch einmal überdenken.« Marst war von diesem offensichtlichen Wunsch, die Diskussion zu beenden, sichtlich beeindruckt, aber Coman war noch nicht fertig. Als sei es ihm gerade erst eingefallen, fügte er hinzu: »Sie hatten recht, als Sie sagten, daß der Mord an Mannein ein ungesühntes Verbrechen sei. Ich möchte hier und jetzt gestehen, daß ich für den Tod verantwortlich war. Wenn Sie eine Tonbandaufnahme machen möchten, bin ich bereit, das Geständnis zu wiederholen.« Marst starrte ihn ausdruckslos an. »Sind Sie sich über die Bedeutung dieser Behauptung im klaren?« »Natürlich. Ich bin bereit, zu gegebener Zeit vor ein Gericht zu treten und jede Strafe, die man über mich verhängen wird, zu akzeptieren. « Es entstand eine lange Pause, dann erhob sich auch Marst. »Sehr gut, wir werden das Geständnis festhalten.«
Er ging voran ins Vorzimmer, und in Gegenwart Linnels als Zeugin wurden Bild und Ton aufgezeichnet und dann in einer Blechdose versiegelt. »Wann kann ich die Festnahme erwarten?« fragte Coman. Marst hielt die Aufzeichnung in der Hand und schien sie abzuwägen; sein Gesicht war unergründlich. »Ich habe im Augenblick wichtigere Dinge zu bedenken, Coman. Ich weiß noch nicht, ob ich dies hier den Behörden übergeben werde. Das Geständnis hat mich, genau wie Sie beabsichtigen, beeindruckt, und ich kann Ihnen versichern, daß ich von Anfang an nicht an Ihrer Aufrichtigkeit gezweifelt habe. Ich kenne die Umstände, die mit Manneins Kult zusammenhängen und bin bereit zu glauben, daß sein Tod unter diesen Gegebenheiten das Beste war, was passieren konnte. Dennoch haben Sie eines der wenigen Gesetze gebrochen, denen sich alle Menschen unterwerfen müssen, und Sie sollten bestraft werden. Wir werden sehen. Im Augenblick bleibt die Sache in der Schwebe und wird vertraulich behandelt. Meine Sekretärin ist durch ihren Berufseid an die Schweigepflicht gebunden, und ich rate Ihnen, aus der Zeit, die Ihnen verbleibt, das Beste zu machen.« Er reichte ihm die Hand, und als Coman sie ergriff, sagte er: »Miß Cray wird Sie hinausbegleiten.« Als sich die Tür hinter Marst schloß, schauten sie einander ins Gesicht — Coman unbeteiligt, Linnel grenzenlos erstaunt. Schließlich sank sie auf ihren Stuhl und sagte: »Ich verstehe dich einfach nicht. Du mußt doch wissen, was für eine Strafe dich erwartet, wenn man dich schuldig spricht? Tod in der Arena.« »Oder vielleicht Verbannung in eine Kriegssektion«, murmelte er. Sie schien zu begreifen: »Du glaubst also, daß dein Geständnis als Druckmittel wirken wird?« »Es ist möglich. Außerdem war es mein letzter Trumpf.« Sie wandte sich ab, ihre Gedanken befreiten sich plötzlich vom Zwang des Willens, und er erblickte ein Gewirr aus Bitterkeit, Ärger und Enttäuschung. »Das ist also ein Verbindungsmann!« Neugierig schaute er in ihre Gedanken, versuchte, es kühl und ohne Zärtlichkeit zu tun, aber er konnte nicht leugnen, daß er tief im Herzen Aufregung empfand. Was sie während der vergangenen zwanzig Minuten erfahren hatte, hinterließ auf dem Mechanismus der Gedankenmuster, die ihr Verstand errichtet hatte, um mit dem Leben fertig zu werden, einen starken, beinahe
zerschmetternden Eindruck. Sie sagte: »Du bist also an eine Frau gebunden, oder sind es zwei? Ich muß geahnt haben, daß die Dinge so liegen. Du hattest in Wirklichkeit gar nicht vor, mit mir ins Bett zu gehen, nicht wahr?« »Ins Bett gehen ist nur ein Teil der Liebe.« »Nein, das stimmt nicht. Für mich nicht.« Sie wandte ihm ein bleiches Gesicht zu, in ihren Augen glitzerten Tränen. »Du glaubst doch nicht, daß ich an all den verwickelten Unsinn glaube, den ihr Liebe nennt, was? Ich binde mich an niemanden. Was für ein großer Narr du trotz deiner scheinbaren Klugheit sein mußt. Und die beiden Frauen — was für Spatzenhirne! Was passiert denn mit ihnen, wenn's dich erwischt? Vermutlich werden sie den Witwenschleier anlegen und flennen — bis ihnen ein neuer Vollidiot über den Weg läuft. In dieser Welt glaubst du an die Liebe?« Sie begann zu lachen, ihre schmalen Schultern bebten unbeherrscht; plötzlich schaute sie ihn mit hartem Gesicht an. »Es ist lange her, da habe ich beschlossen, daß ich nicht zulassen werde, daß mir irgend jemand weh tut.« »Ich weiß.« »Ja, du weißt alles, du neunmalkluger Bastard.« Er schnitt ein Gesicht, zündete sich eine neue Zigarette an und lehnte sich gegen die Wand. Eine seltsame Ahnung trieb wie eine dunkle Wolke tief durch sein Unterbewußtsein, und er fühlte sich unbehaglich. Eine plötzliche Rastlosigkeit überkam ihn, er wollte augenblicklich fort, aber es war, als würden seine Füße am Boden festgehalten, und dieses Widerstreben ließ sich nur durch die Tatsache erklären, daß er sich um die junge Frau sorgte. Sie war vernichtet. Sie war davon überzeugt, daß sie von der Bande gejagt und getötet würde, wenn Harkor etwas über Coman herausbrachte. Sie wollte Coman besitzen, und gleichzeitig haßte sie ihn. Er wußte, daß sie sich in diesem Augenblick so verloren und betrogen fühlte wie er selbst, als Karns am Ende der letzten Sitzung am Connector die Tür zu seinen Gedanken geschlossen hatte. Während er durch die Furcht und Verwirrung ihrer Gedanken wanderte, erkannte er, daß ein Teil dieses Entsetzens mit ihm selbst verbunden war, doch als er sich zurückziehen wollte, spürte er das Kind in ihr, das sich an ihn klammerte, verzweifelt und sehnsüchtig. Aber er besaß nur wenig von der Kraft, die sie brauchte. Nur Karns konnte diese Stärke geben, eine Stärke, die vollbrachte, daß man der scheinbaren Sinnlosigkeit geradewegs
ins Gesicht blicken konnte, die Bedeutungslosigkeit der eigenen geheimen Gedanken und Wünsche erkannte und akzeptierte und weiterlebte ... »Dieser Karns«, flüsterte sie, »ist er ein Mensch oder mehr?« »Mehr nicht«, antwortete Coman. Er ging zu ihr hinüber und berührte ihr Gesicht. »Selbst einige Menschen, die nicht die Gabe der Telepathie besitzen, müssen durch diese Hölle hindurch. Viele können sich drücken oder die Probleme auf die eine oder andere Art vermeiden, aber schließlich werden alle Telepathen mit ihnen konfrontiert, ob es ihnen gefällt oder nicht. Ich bin zufällig der Schlüssel, mit dem du die Tür geöffnet hast, aber wenn ich es nicht gewesen wäre, dann ein anderer oder etwas anderes.« »Du meinst also, ich hätte mich in dich verliebt.« Sie sagte es tonlos, ohne Bitternis oder Zärtlichkeit. »Nein. Ich symbolisiere eine Menge Dinge, die außerhalb des Gefängnisses deiner Gedanken liegen, und du empfindest auf einmal etwas für einen anderen Menschen, brauchst einen anderen.« »Und ist das — gut?« »Ich versuche selber, Antwort auf dieses Rätsel zu finden.« Sie starrte ihn lange an. »Du gehst jetzt besser. Stell dir vor, was geschieht, wenn er zurückkehrt und dich noch hier findet?« »Sehr gut. Hör zu, mach dir keine Sorgen wegen dem, was zwischen Marst und mir vorgefallen ist. Niemand außer uns dreien braucht davon zu erfahren, und du kannst dir eine Geschichte ausdenken, warum ich hier gewesen bin. Zum Beispiel könnte ich gekommen sein, um den Mord an Mannein zu gestehen — verwende das. Es ist fast wahr, und du hast den Beweis — selbst Harkor wird darauf 'reinfallen.« »Du willst, daß er das erfährt?« »Warum nicht? Von nun an werde ich mich in Harkors Nähe befinden und dafür sorgen, daß er dir nichts tut. Alles was ich will, ist, daß Marst allein bleibt und zu einer Entscheidung kommt.« »Ich soll einem von ihnen Bescheid sagen, wenn er sich entschieden hat.« »Gut. Was dich betrifft, so hat er sich nicht entschieden und wird es auch nicht tun, bis zu dem Augenblick, wenn er und das Komitee morgen im Hauptauditorium zusammenkommen.« »Weißt du was?« sagte sie. Er schaute sie fragend an, und auf ihrem Gesicht erschien die Spur eines Lächelns. »Es ist mir ein Rätsel, wie du es fertiggebracht hast, so lange am Leben zu bleiben.«
Auch er lächelte, und als er zur Tür ging, spürte Linnel, wie sich die Finger seiner Sinne allmählich von ihr lösten. Lange saß sie regungslos und versuchte, sich über den Mann klarzuwerden, der den Konflikt in ihr entfacht hatte. 9 Der Mann, der im Gang hin und her geschlendert war, hielt die Angelegenheit offensichtlich für erledigt, denn er war verschwunden. Coman wartete auf den Fahrstuhl und fuhr dann ins Erdgeschoß. Trotz der vielen Leute, die sich im Foyer drängten, konnte Coman feststellen, daß die beiden Männer noch da waren. Sie würdigten ihn kaum eines Blickes, und er atmete auf. Einer von den Gangstern hielt ein Nachrichtenblatt in der Hand und studierte die Liste der Kämpfer bei den nächsten Spielen; der andere ging, als er Coman bemerkt hatte, auf den Lift zu, wahrscheinlich, um sich mit Linnel in Verbindung zu setzen. Das bedeutete, daß der Mann mit der Zeitung entweder eine Ausrede finden mußte, um Coman solange aufzuhalten, oder daß er ihm nachgehen würde, um zu beobachten, wohin er ginge. Es würde ihm nicht schwerfallen, den Mann abzuschütteln; aber es war ratsam, die beiden nicht mißtrauisch zu machen, und aus diesem Grunde blieb Coman in der Nähe des Empfangstisches und blätterte im Fernsprechteilnehmerregister. Es bestand auf jeden Fall die Möglichkeit, daß Linnel ihn hinterging. Aus dem Augenwinkel sah er den Roboter, hörte ihn klicken und summen, hin und wieder beantwortete die gepflegte Stimme einen Telefonanruf oder beschäftigte sich mit Gästen, die Auskunft verlangten. Eine dicke Frau, die ein quengelndes Kind an der Hand hielt, stellte gerade endlos viele Fragen über Luftautorouten in verschiedene Teile der Stadt, als das Seltsame, das Unmögliche geschah. Mitten in den Antworten des Roboters vernahm Coman die Worte »Vane stirbt.« Hatte er die Worte mit den Ohren oder dem Verstand vernommen? Er starrte die Frau und den Roboter an, aber beide schienen ihn überhaupt nicht zu beachten. Er war sicher, daß der Roboter die Worte ausgesprochen .hatte, denn Ton und Art der Stimme waren unmißverständlich gewesen. Dennoch schienen sich weder die Frau noch der Roboter über die Ungeheuerlichkeit oder die Bedeutung dieses Satzes im klaren zu sein. Wichtig jedoch war, daß er Bescheid wußte.
Die seltsame Unruhe, die Coman empfunden hatte, war damit erklärt. Einen Augenblick lang schossen ihm viele Fragen durch den Kopf, verlangten eine Antwort, aber dann war er plötzlich kalt und ruhig. Mehr mit den Sinnen als mit dem Auge registrierte er, daß der erste Mann zurückkam und dem anderen ein beschwichtigendes Zeichen machte. Dann ging Coman langsam auf den Ausgang zu. Niemand folgte ihm, und im Nu war er auf dem Bürgersteig. Bis zu Vanes Pension hatte er mehr als eine halbe Meile zurückzulegen. Er zügelte seine Ungeduld und machte sich zu Fuß auf den Weg, um einen Ort zu suchen, wo er die Waffe, die er Linnel fortgenommen hatte, verschwinden lassen konnte. Es war außerordentlich gefährlich, eine solche Waffe zu besitzen, und er wollte sich nicht gern strafbar machen. Schließlich fand er eine Abfallvorrichtung, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihn niemand beobachtete, wischte er mit dem Taschentuch die Fingerabdrücke ab, ließ die Waffe in das Loch fallen und lauschte, bis sie tief unten von der Zentrifugalkraft gepackt wurde. Die Waffe war so konstruiert, daß sie sich nicht auflösen konnte; sie würde zwischen verschiedenen anderen Metallgegenständen in einem Schutthaufen auf einer der tiefer liegenden Inseln landen, möglicherweise gefunden und in das Gerichtslabor der Zentralen Polizei geschickt werden. Er ging durch die künstlich beleuchteten Fußgängertunnel bis zu Vanes Pension, und die ganze Zeit umgab die dunkle Wolke sein Herz beinahe greifbar dicht, bis sie einer würgenden eisernen Hand glich. Er hatte Vane geraten, die Stadt sofort zu verlassen, hatte dann seine Meinung geändert und ihn gebeten, noch zu warten. Aus diesem Grunde war er teilweise für das, was geschehen war, verantwortlich. Als er das Gebäude erreichte, erstickten Schmerzwellen beinahe seine Sinne, und ohne die Angestellten im Foyer eines Blickes zu würdigen, stieg er die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal, bis er die Tür erreichte, hinter der die Schmerzwellen hervordrangen. Als er davor stand, endeten sie mit einem dünnen, hohen Vibrieren. Vane war tot. Aber es hatte einige Zeit gedauert, bis er starb. Hinter der Tür hatte sich Schmerz und Pein für einen Menschen ins Unerträgliche gesteigert, hatten dann mit Wahnsinn und Tod geendet. Er spürte, daß sich zwei andere Männer im Zimmer befanden.
Der eine war Harkor, den anderen hatte Coman noch nicht gesehen; er stand am Fenster und blickte auf die erleuchtete Stadt, seine Gedanken kreisten um eine Frau, mit der er später schlafen wollte. Harkor befand sich in einer Art Betäubung, er war übersättigt von Grausamkeit, die sich jedoch mit einer gewissen Enttäuschung vermischte; er war soweit abwesend, daß er glücklicherweise nicht bemerkt hatte, daß ein Verbindungsmann vor der Tür stand. Irgendwo hinter Coman suchte der Empfangschef den Hoteldetektiv. Und Vane war gefesselt, geknebelt und tot. In extremer Gefahr oder Dringlichkeit ordneten sich Comans Gedankengänge und all seine Emotionen. der Herrschaft eines neuen Herrn unter, der tief im Labyrinth seiner Sinne residierte. Coman verwandelte sich in ein Wesen, das keine menschlichen Züge mehr trug. Geschwind folgte ein Gedanke dem anderen. War die Tür verschlossen? Konnte er versuchen, ohne Warnung einzudringen? Unmöglich. Er holte die Schockpistole heraus, entsicherte sie, verbannte jeden oberflächlichen Gedanken, klopfte leise an die Tür, gerade mit der nötigen Höflichkeit, trat dann an die gegenüberliegende Wand zurück und wartete. »Ja?« ertönte eine Stimme hinter der Tür. »Eine Nachricht von einer Miß Cray«, antwortete er. Ein Schlüssel drehte sich, Coman schnellte durch den Flur in den Raum, stürzte auf den Teppich, überschlug sich, fing sich, die Hand am Auslöser. Er schoß zweimal, es klang, als ob Papiertüten zerplatzten. Eine Druckwelle traf den Mann, der den Schlüssel umgedreht hatte, am rechten Oberarm, so daß er gegen die Wand geschleudert wurde, und die andere war auf Harkor gezielt, der an der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand, zerschmetterte ein Bild, daß das Glas zersplitterte und der Joker für einen kurzen Moment abgelenkt wurde. Während er seine eigene Waffe zog, sprang er beiseite, und Coman feuerte noch einmal. Diesmal traf die Schockwelle Harkors Handgelenk, schleuderte ihm die Pistole aus der Hand und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er taumelte zum Fenster. »Keine Bewegung«, sagte Coman. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, lehnte wie eine Stoffpuppe kraftlos an der Wand; er war bewußtlos. Sein Kopf war mit voller Wucht gegen das Holz geprallt. Vane war an seinen Stuhl gefes-
selt, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Coman warf nur einen flüchtigen Blick auf ihn. Sie hatten ihn ausgezogen und die alten bewährten Methoden angewendet, um ihn zum Sprechen zu bringen, Mittel, die man seit undenklichen Zeiten benutzt. Coman sträubte sich, daran zu denken, wie lange es gedauert haben mochte, bis er das Bewußtsein verlor, und er hoffte nur das eine: daß Vane vielleicht die Unbekannten Sinne gefunden hatte, nach denen er sich so sehr gesehnt hatte. Coman blickte in Harkors Gedanken und sah, wie er in Begleitung des Individuums, das jetzt auf der Erde saß, hereingekommen war und sich schon bald nach dem Mann erkundigt hatte, der im Schrank in Vanes Zimmer versteckt war. Anscheinend waren dieser Mann und Harkor befreundet gewesen, und nachdem Harkor nachgeforscht und herausbekommen hatte, daß niemand gesehen hatte, wie er das Gebäude verließ, ging er durch die Gänge, schnüffelte mit seinen Sinnen so lange, bis er schließlich davon überzeugt war, daß Vane etwas von der Sache wußte. Es hatte dann nicht lange gedauert, bis er seinen betäubten Kollegen fand, und als Harkor sich mit der Sperre ins Vanes Gedanken konfrontiert sah, wurde ihm klar, daß etwas wirklich Wichtiges im Gange war. Sie hatten Vane in Harkors Zimmer gebracht, die Tür verschlossen und versucht, ihn zum Sprechen zu bringen. Vergeblich. Der Mann, dessen Empfindlichkeit gegen Schmerz und Leiden so groß gewesen war, daß man ihn für eine aktive Teilnahme an Unternehmungen, die mit Gefahr oder Mühsal verbunden waren, für nutzlos hielt — dieser Mann hatte jede Erinnerung an Coman aus seinem Gedächtnis verbannt, und selbst als er bereits wahnsinnig war, konnte Harkor keine Antwort finden. Es war unglaublich, unmöglich. Coman schritt durchs Zimmer und hob die Waffe auf, die Harkor aus der Hand gefallen war. Es war das Gegenstück zu der Pistole, die das Mädchen bei sich trug; er betrachtete sie mit tiefem Abscheu. Harkor las seine Gedanken, erkannte alles, plante, lauerte, wartete auf eine Schwäche und versuchte schließlich, sich anzubiedern. Er dachte: Sie sind also Coman? Tja, ich habe von Ihnen gehört. Sie sind Verbindungsmann, und die sind für ihr faires Verhalten bekannt. Warum betrachten Sie's nicht so: Sie haben mich ein wenig unterschätzt, haben nicht erwartet, daß ich Ihren Freund bei meinen Bemühungen, die Wahrheit
herauszufinden, töten würde. Ich war mißtrauisch, und als es dann soweit war, haben wir beide auch Ihren Freund unterschätzt. Na, egal, was Sie vorhatten, ist Ihnen gelungen, und ich sitze in der Tinte. Die werden mir ganz schön die Hölle heiß machen, warum arrangieren wir uns dann nicht einfach? Und im Hintergrund lauerten alle möglichen Pläne, nahmen Gestalt an, wurden verworfen, formten sich aufs neue und so weiter. Schweigend warf Coman die Strahlenpistole in einen Sessel an der Wand und trat ans Fenster, die Aufmerksamkeit nur teilweise auf Harkor gerichtet. Die Spannung war vorüber, und die Reaktion setzte ein. Er zitterte. Unterdessen bewegte sich Harkor; er lächelte, schickte fortwährend Wellen von Gewissensbissen und Beteuerungen aus, bis ... Als er tauchte, um seine Pistole aufzuheben, wandte sich Coman langsam um, wie ein Träumender, jedoch zuversichtlich, weil er bereits eine Waffe in der Hand hielt und seinen Vorteil ausnutzen mußte. Fast zu spät erkannte er, daß seine Waffe im Vergleich zu der seines Gegners lediglich ein Spielzeug war, und erst als der andere die todbringende Waffe vom Sessel riß und sich umwandte, als sich sein Finger um den Knopf spannte, der den Strahl auslöste, begriff Coman, daß Harkor bereit und willens war, die Strahlenpistole zu benutzen. Er drückte ab, die Druckwelle traf Harkors Hand mit der Gewalt eines Stahlbolzens, schleuderte die Pistole durch die Luft, so daß der Strahl einen brennenden Bogen über die Decke beschrieb und dann Harkors Gesicht traf. Flammen und Rauch, ein dünner, schrecklicher, erstickter Laut, als Harkor zu schreien versuchte, und im nächsten Augenblick wand sich sein Körper am Boden, die Waffe glitt zur Seite, Arme und Beine bewegten sich wie rasend, die Schuhe trommelten auf den Teppich. Coman schloß die Augen und lehnte sich gegen die Wand; mit totenbleichem Gesicht dachte er: beeil dich doch, stirb endlich. Und nach einer Weile starb Harkor. Jemand klopfte an die Tür. Coman öffnete die Augen. Der Körper auf dem Boden regte sich nicht mehr, aber der Geruch war unerträglich. Das Klopfen wurde lauter, und Coman bewegte sich, besann sich dann. Er ging zurück zu der Gestalt auf dem Stuhl, durchschaute das Jackett, das auf der Erde lag, bis er in einer der Taschen schließlich den Schlüssel zum Safe fand. Es war ein kleiner Kunststoffschlüssel. Er schluckte ihn und öffnete dann
die Tür. Draußen stand der Hausdetektiv, ein großer Kerl mit steinernem Gesicht. Er streckte die Hand aus und sagte: »Einen Augenblick, was geht hier vor sich?« »Sehen Sie selbst«, antwortete Coman. Die Hauptdienststelle der Polizei, 12. Sektion, glich einer großen Glasblase, die zur Hälfte über der Fünfzehnten Stadt, zur Hälfte über dem Pazifik schwebte. Die Festgenommenen mußten beim Betreten einen schmalen, durchsichtigen Gang durchqueren, wo Elektronenaugen und Strahlen die Kleidung und den Körper durchschauten. Die entsprechenden Daten wurden per Fernschreiber getippt, sortiert, geheftet und in verschiedene Richtungen geschickt. Wenn man den Beamten erreichte, der am Ende des Ganges saß, hatte er bereits eine Liste und die genaue Beschreibung eines jeden Gegenstandes, den der Verhaftete bei sich trug, vorliegen, des weiteren körperliche Kennzeichen, besondere Merkmale, Krankheitsgeschichte und so weiter. Als Coman ankam, prüfte der Beamte, eine Person chinesischer Abstammung, die entsprechenden Unterlagen und sagte: »Anscheinend haben wir Ihren Namen nicht. Können Sie uns vielleicht behilflich sein?« »Claus Coman.« »Danke schön. Legen Sie zunächst Ihre Schockpistole und die Telefonvorrichtung hier auf den Schreibtisch und leeren Sie dann Ihre Taschen vollständig. Gut. Sie kommen für eine Stunde in eine Zelle und werden dann zum Verhör gebracht.« Als Coman der Aufforderung nachgekommen war, glitt auf ein Zeichen des Beamten ein Roboter heran, ergriff Comans Arm und half ihm auf eine Transportplattform. Mensch und Maschine glitten in das durchsichtige Gebäude, erreichten schließlich einen kleinen Raum, in dem sich lediglich ein Bett, ein Waschbecken und eine kleine Latrine befanden, dann blieb Coman eine Stunde lang allein. Allein. Unter sich konnte er eine andere Zelle sehen und einen anderen Gefangenen, und darunter wieder eine andere, und noch eine andere, ad infinitum. Über ihm spannte sich der dunkle Himmel mit einem kupferfarbenen Mond. Der Raum hatte eine Klimaanlage und war nicht unbequem. Links und rechts befanden sich weitere Zellen, einige waren belegt, andere leer,
aber hinter Coman befanden sich lediglich zwei, und dahinter konnte er die Stadt sehen, die sich wie ein glitzerndes Reptil in den Dunstschleier wand. Jenseits der Tür seiner Zelle erkannte er verschiedene Angestellte: Roboter, Menschen und Venusbewohner; sie saßen an Schreibtischen, hantierten an komplizierten Instrumenten, aßen, und einige hatten sich sogar niedergelegt und hörten Musik. Hin und wieder schwebten sechzig Quadratzentimeter große Polizeiplattformen mit Menschen vorüber in andere Abteilungen der Hauptdienststelle. Insgesamt glich die Struktur einem riesigen Gehirn, das in verschiedenen Intervallen Gedanken ausschickte oder empfing. Aber Coman befand sich nicht in der Stimmung, die Genialität oder die reibungslose Funktion zu bewundern; das Kinn in die Hände gestützt, setzte er sich auf das Bett und dachte mißgelaunt an die Zigaretten, die jetzt in einer Schublade lagen. Wieder dachte er an Vane und an das, was ihm zugestoßen war, und wie wenig er, Coman, von Vane gehalten hatte. Dann zwang er sich, über seine eigene Lage nachzudenken. Die Polizei schätzte keine Telepathen, und die Tatsache, daß er die Genehmigung der offiziellen Stellen hatte, mochte in dieser bestimmten Situation kaum eine Hilfe sein. Auch die Tatsache, daß er Harkor in Notwehr getötet hatte, spielte keine Rolle. Es hing allein davon ab, ob sie seinen Kopf wollten oder nicht. Jonl und Sein waren jetzt weit fort, Coman dachte an sie; als seien sie für ihn verloren, ein etwas melancholisches Vorgehen, das ihm jedoch half, unbelastet durch emotionale Probleme nachzudenken. Er würde seine Geschichte erzählen und abwarten, ob die Polizei Lücken fand. Vielleicht konnte er auch jemanden bestechen, um schneller herauszukommen, denn die Polizei der Fünfzehnten Stadt war berüchtigt für ihre Korruptheit. Langsam verging die Zeit. Schließlich erschien ein Roboter, öffnete die Zelle und gab ihm ein Zeichen, auf die Plattform zu steigen. Dann wurde Coman in ein Zimmer mit glasierten Wänden und glattem Fußboden gebracht, in dem sich ein Tisch und drei Stühle befanden. Auf zwei Stühlen saßen an einer Seite des Tisches zwei Männer in Zivilkleidung, Coman nahm den Polizisten gegenüber Platz. Der Mann, der am meisten sprach, war dünn und drahtig, hatte ein Zwergengesicht und liebenswürdige Umgangsformen, der andere hatte einen kugelförmigen Kopf und Schweinsäuglein, die
sich wie zwei Haken an Coman hefteten und ihn die ganze Zeit über nicht losließen. »Mein Name ist Orvil«, sagte der Liebenswürdige. »Machen Sie es sich bequem und regen Sie sich nicht auf. Niemand will Sie hereinlegen oder für etwas bestrafen, was Sie nicht begangen haben. Vergessen Sie das nicht, dann werden wir uns sicher einigen. Wir wollen nichts weiter als ein paar Tatsachen erfahren.« Er schaute auf ein Bündel Notizen, die vor ihm lagen neben einem Telefon mit Fernsehanlage, stützte die Ellbogen auf den Tisch, verschränkte die Finger und nickte ermunternd. »Soweit wir wissen, sind Sie ein Verbindungsmann, und es ist allgemein bekannt, daß ihr normalerweise schon verschwunden seid, wenn das Gesetz einschreitet. Wir hätten allerdings gern einen anderen Telepathen dabei gehabt, wenn wir Sie verhören, damit er die Richtigkeit Ihrer Aussagen überprüft, aber wie Sie ja vielleicht wissen, sind nicht einmal Joker von der Arbeit der Polizei begeistert — nicht, daß wir diesen Abschaum im Prinzip unterstützen. Dieser Mann, Harkor, war wohl ein Joker?« Diese Frage kam wie zufällig, und Coman nickte automatisch. Für Verhöre von Telepathen hatten die beiden Männer anscheinend eine wirksame Technik erlernt, die sich aus einer Mischung von Blockierungen und Verwürfelungen zusammensetzte, wodurch sie erreichten, daß die eigentlichen Vorstöße bis zur letzten Minute verborgen blieben. Die Frage kam für Coman unvermittelt, aber glücklicherweise war sie nur von geringer Bedeutung. »Sie kannten Ihn also«, fuhr der andere fort. »Waren Sie schon lange befreundet?« »Ich bin ihm nur einmal begegnet. Er ging im Hotelfoyer an mir vorüber.« »Gut, fangen wir noch einmal von vorne an. Was tun Sie eigentlich in unserer wunderschönen Stadt?« »Ich mache Urlaub.« »Oje, dann ist er aber bisher nicht sehr schön gewesen, was? Ach, übrigens, wir haben in Ihren Taschen ein kleines Abzeichen gefunden ...« »Ich bin mit zwei Frauen liiert. Sie wohnen bei einer Mrs. Doln Raylond.« Coman registrierte, daß beide gleichzeitig in Gedanken aufhorchten, als er diesen Namen nannte; er gab Näheres über Jonl und Sein an und erzählte beinahe alles, was er bisher in der Stadt getan hatte, bis zu dem Augenblick, da er die Pension zum
zweitenmal betrat. Er fuhr fort: »Ich erreichte die Tür und klopfte; als sie geöffnet wurde, stürzte ich ins Zimmer ...« Orvil unterbrach ihn. »Zunächst einmal würde ich gern wissen, woher Sie wußten, was mit Vane geschah.« Coman seufzte. »Ich sagte es Ihnen doch schon. Ich fühlte, daß er litt.« Er hatte nicht gewagt zu erwähnen, daß er vom Roboter in Marsts Hotel eine Botschaft erhalten hatte. »Sie — haben es einfach so gefühlt«, murmelte der mit den Schweinsäuglein. »Ja. Wenn jemand große Schmerzen oder irgendeine andere tiefe Gefühlsbewegung empfindet, senden Gehirn und Herz eine Menge Vibrationen aus, die jeder, der die Fähigkeit zur übersinnlichen Wahrnehmung besitzt, empfangen kann.« »Sie haben also diese — Vibrationen trotz der großen Entfernung bis zu Marsts Hotel hin gespürt?« sagte Orvil nachdenklich. »Es muß doch wunderbar sein, wenn man Verbindungsmann ist.« Coman schwieg. Es hatte ganz den Anschein, als ob er in der Klemme saß, und er konnte es kaum ändern. Orvil fuhr fort: »Sie stürzten also ins Zimmer und ...?« »Ich habe auf beide Männer mit der Schockpistole geschossen.« »Ohne jede Herausforderung«, sagte der Fette sanft. »Ganz richtig. Es sei denn, man sieht in der Folterung und dem Tod eines Freundes eine Art Provokation.« Bei diesen Worten sah Orvil weniger fröhlich aus, ein gequälter Zug trat in sein Gesicht. Er räusperte sich und schaute wieder auf seine Notizen. »Ich sehe, daß der erste Mann, den der Strahl aus der Schockpistole traf, ein Jak Barne, eine Aussage gemacht hat, in der er merkwürdige Dinge behauptet. Er sagt, ich zitiere: >Ich und mein Kollege Harkor hatten nichts damit zu tun, daß der Knabe auf dem Stuhl umgelegt wurde. Wir kamen gerade von einem Spaziergang zurück, und da war er im Zimmer, zusammengebunden wie eine Roulade und tot wie Pluto. Und dann plötzlich, als wir uns noch fragten, was wir mit dem armen Kerl machen sollten, klopft es an die Tür, dieser andere Stinker platzt herein und schießt wie ein Verrückter! So wie ich das sehe, hat der das Ganze selbst angestellt, ist dann weggegangen, bis wir wieder zurück waren, und versucht jetzt, die Sache so hinzudrehen, als hätten Harkor und ich das Ganze auf dem Kerbholz. Harkor hat er umgelegt, und mit mir wollte er dasselbe tun, aber es kam etwas dazwischen.< Was halten Sie davon?«
»Was halten Sie davon?« fragte Coman mit Nachdruck. Der mit den Schweinsäuglein sagte: »Wissen Sie, daß wir Sie an einen bestimmten Ort hier im Hause bringen und Ihnen das Lebenslicht ausblasen könnten — auf der Stelle?« »Das glaube ich nicht. Ich habe ein paar gute Freunde, die schon bald Fragen stellen würden.« Die Überzeugung, mit der er sprach, täuschte. Er wußte, daß es für seine Wärter nicht schwierig sein würde, eine passende Geschichte zu erfinden; wenn es nötig war, würden sie sogar Zeugen zur Hand haben. Orvil winkte nachlässig mit der Hand. »Verlieren wir nicht den Kopf, nachher bereuen wir, was wir gesagt haben. Natürlich wissen wir, daß dieser — Barne lügt, und es ist ziemlich klar, daß sie Vane getötet haben. Auch Vane war Verbindungsmann wie Sie, und was sie getan haben, hätte ausgereicht, um jeden normalen Menschen in Wut zu bringen. Was Harkor betrifft, so ist das kein Verlust, eigentlich sind wir hier sogar angenehm überrascht, daß er tot ist, weil er in verschiedenen Sektionen Unruhe gestiftet hat. Was meinen Kollegen und mich wirklich interessiert, ist, warum er ein derartiges Risiko auf sich nahm, um Ihren Freund zum Sprechen zu bringen. Was wollte er wirklich von ihm?« »Informationen über mich.« »Aber Harkor kannte Sie doch nicht einmal.« »Er wußte, daß etwas im Gange war — ob es für ihn wichtig war, wußte er nicht. Ich bezweifle, daß er sich viel daraus machte. Er hatte ein Opfer, das eine Art Geheimnis hatte, und es machte ihm Spaß, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen.« Der andere kratzte sich am Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Ihr Freund brauchte ihm doch nur zu erzählen . . .« »Ergibt überhaupt etwas auf der Welt einen Sinn?« fragte Co-man. Er war es müde, Fragen zu beantworten, die sinnlos waren. »Warum gingen Sie zu Marst?« »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich wollte mich mit ihm über die Möglichkeit, eine Kriegssektion einzurichten, unterhalten. Meine Organisation ist für die Idee, und wir waren der Ansicht, daß Marst unseren Standpunkt erfahren sollte.« »Haben Sie ihn unter Druck gesetzt?« erkundigte sich der mit den Schweinsäuglein. »Nein.« »Und als Sie ihn verließen — hatte er sich da entschlossen?« »Ich glaube nicht.«
»Hören Sie mal zu, Sie sind Telepath. Sie müssen doch wissen, was er von Ihren Argumenten hielt.« Dies war also der eigentliche Zweck des Verhörs. Allmählich erkannte Coman den Grund für die Jovialität, die Drohungen und alles andere. »Tut mir leid, aber ich weiß es nicht. Ich bin sicher, Sie wissen selbst sehr gut, daß man Sperren errichten kann, die nicht einmal ein Telepath zu durchbrechen vermag.« »Wir haben Mittel und Wege, um herauszufinden, ob Sie die Wahrheit sagen«, warnte ihn der Dicke. »Das glaube ich gern. Sie sehen ganz so aus, als gehörten Sie zu Harkors Sorte.« Es folgte eine unheilschwangere Stille, und Comans Muskeln spannten sich. Er hatte keine Chance, aber es kümmerte ihn nicht mehr, und er hoffte nur, daß er ein, zwei Schläge mit dem freien Arm führen konnte — der Roboter umklammerte noch immer den anderen —, bevor er niedergeschossen wurde. Aber plötzlich erhob sich Orvil und raffte seine Unterlagen zusammen. »Wir brauchen diese kleine Unterhaltung nicht fortzusetzen. Sie scheinen von der Justizmaschinerie unseres Departements merkwürdige Vorstellungen zu haben, Mr. Coman. Wir mißhandeln keine unschuldigen Leute, und wir befassen uns nur mit Tatsachen.« »Ausgezeichnet. Kann ich jetzt gehen?« fragte Coman. »Ich fürchte, wir sind noch nicht davon überzeugt, daß Sie uns die ganze Wahrheit gesagt haben.« »Oh, das ist schade. Kann ich mich dann mit meinen Freunden in Verbindung setzen?« »Wir werden uns darum kümmern. Sie ruhen sich einstweilen etwas aus, dann unterhalten wir uns später noch ein bißchen.« 10 Coman hatte Orvils Sinn für Humor ziemlich genau eingeschätzt und war nicht weiter überrascht, als der Roboter schließlich an dem Ort, an dem er sich >ausruhen< sollte, anhielt. Es war zwar eine andere Zelle, aber abgesehen von den durchsichtigen Wänden hatte sie mit der ersten keinerlei Ähnlichkeit. Sie war etwa ein Meter fünfzig hoch und gerade groß genug, daß sich ein Mann darin umdrehen konnte. Er mußte entweder gebeugt
stehen oder hocken — in jeder Stellung tat ihm etwas anderes weh. Außerdem befand sich im Fußboden ein Rost, durch den Hitzewellen in die Zelle quollen, und innerhalb von fünf Minuten strömte ihm der Schweiß vom Körper. Nach dreißig Minuten zwang ihn der Schmerz in den angespannten Sehnen und Muskeln, sich in Trance zu versetzen. Als er das Bewußtsein wiedererlangte, wußte er, daß zwei Stunden vergangen waren, er fühlte sich jedoch um Jahre gealtert. Sein Körper schmerzte, als hätte man ihn ausgepeitscht, gereckt, jeden Knochen einzeln gebrochen und dann aufs Geratewohl wieder aneinandergefügt. Völlig widerstandslos saß er jetzt den beiden Männern gegenüber. Als er seinen Arm bewegen wollte, schien er gelähmt zu sein, und ihm war, als hämmere jemand gegen seine Wirbelsäule. Minutenlang beobachteten sie ihn, wie ein Sammler einen Schmetterling betrachtet, den er lebendig aufgespießt hat. Schließlich öffneten sich seine Lider, und stöhnend zwang er sich, die Arme auf den Tisch zu legen und sich auf sie zu stützen. Schweißgeruch stieg ihm in die Nase, in seiner Wange zuckte unkontrolliert ein Muskel. Er hörte Orvil sagen: »Nun sind Sie schön ausgeruht und werden sich vielleicht soweit herablassen, uns ein wenig mehr von Ihrer wertvollen Zeit zur Verfügung zu stellen. Ich nehme an, Sie halten uns für ein bißchen beschränkt, aber vergessen Sie nicht, daß wir nur normale Menschen sind und aus diesem Grunde nicht halb so schnell begreifen wie Sie. Sie werden sich also einfach ausdrücken — in Ordnung?« »Fangen Sie an«, sagte Coman — oder wollte es vielmehr sagen, denn aus seiner Kehle kam kein Laut. Er versuchte es noch einmal, und es gelang ihm diesmal, einen merkwürdig krächzenden Ton herauszubringen. Die beiden Gesichter vor ihm schienen körperlos zu sein, eins verschwamm mit dem anderen, dann waren es wieder zwei; er biß die Zähne aufeinander und versuchte verzweifelt, sich in den Griff zu bekommen. »Hören Sie zu, Coman, wir haben uns noch einmal mit diesem Barne unterhalten, und er hat uns erzählt, daß er, Harkor und einige andere Marst vor Wichtigtuern und Besserwissern, wie Sie einer sind, beschützen sollten; wir sehen jetzt also ein wenig kla-
rer. Was wir wissen wollen, ist folgendes — hatten Sie Erfolg?« »Warum fragen Sie nicht Marst selbst?« murmelte er. In dem darauffolgenden Schweigen kamen die Gesichter zum Stillstand, und Coman konnte sie klar erkennen. Orvil sagte leise: »Es ist gerade bekanntgeworden, daß Marst die übrigen Mitglieder des Komitees zu einer abschließenden Geheimsitzung in seine Suite berufen hat. Sie brauchen uns lediglich Ihre Meinung zu sagen — Ihre ehrliche Meinung — weiter nichts! Dann können Sie als freier Mann hier herausspazieren. Das ist doch gewiß nicht zuviel verlangt, was?« Coman starrte durch die beiden Masken hindurch, erkannte das kalte Zweckdenken der Gehirne, die sich jetzt vor ihm öffneten und ihm trotz seiner telapthischen Kräfte erlaubten, beliebig durch die Gänge zu wandern, die eingefahrenen Kreise zu betrachten, die sie zu gehorsamen Dienern einer unbarmherzigen, korrupten Behörde machten. Er sah die Erinnerung an andere Männer, die verletzt und getötet worden waren, und sie gaben ihm zu verstehen, daß sie selbst kein Interesse an dem hatten, was er ihnen erzählte, daß sie ihre Instruktionen erhalten hatten, die lauteten, aus ihm herauszubekommen, was Marst seiner Meinung nach tun würde. Diese Information sollten sie ihren Vorgesetzten mitteilen. Was dann damit geschah, war ihnen unbekannt und ihrer Meinung nach auch nicht ihre Sache. Es stimmte, daß er gehen konnte, wenn er ihnen die Wahrheit sagte. Tatsache jedoch war, daß er keine feste Meinung hatte. Dies war die wahre Antwort und gleichzeitig die einzige, die sie nicht akzeptieren würden. Er seufzte tief. Er konnte sie auch nicht belügen, nicht einfach ja oder nein sagen, denn sie waren im Verhör geübt und brauchten keine übersinnlichen Fähigkeiten, um ihn bei einer Lüge zu ertappen. Die Erinnerung an Vanes zermarterten Körper überkam ihn, und die Lebenslinie zwischen Herz und Verstand straffte sich. Vane hatte unter brutaler Gewaltanwendung geschwiegen, hatte sich geweigert, seine, Comans, Existenz zu erwähnen, selbst dann noch, als er bereits gewußt haben mußte, daß er sterben würde. Eine Weile verstrich, dann sagte er: »Ich denke, es ist an der Zeit, daß ich mich noch etwas erhole.« Etwa drei Sekunden vergingen, bis sie begriffen, dann schlug ihn der dicke Mann, und er fiel auf den Boden. Wie aus weiter Entfernung hörte er eine heisere Stimme etwas Unverständliches
sagen, und Orvil antwortete: »Was soll's? Es wäre Zeitverschwendung. Ich gebe Befehl, ihn zu töten.« Aus dem Apparat, der auf dem Tisch stand, ertönte ein Summton, und Orvil sagte: »Am Apparat. Ja, wir sind fertig. Nein, ich weiß nicht — was sagen Sie? Wer? Oh, hat er tatsächlich? Gut, gut, Sie rufen gerade rechtzeitig an. Macht nichts.« Es folgte Schweigen, und dann wurde Orvils Sessel zurückgestoßen, als er aufstand. Coman vernahm die leise, leidenschaftslose Stimme: »Glück gehabt, Coman. Sieht so aus, als hätten Sie wenigstens einen einflußreichen Freund — Sie können gehen.« Er beugte sich herunter, faßte Comans Arm, brachte ihn auf die Beine und half ihm in den Sessel. Der andere Mann hatte zu protestieren begonnen, aber Orvil beschwichtigte ihn mit einer Handbewegung. »Bevor Sie gehen, müssen wir noch schnell etwas erledigen, Coman, damit wir Sie auch ganz sicher wiederfinden, wenn es die Umstände erfordern sollten. Eine kleine Kapsel wird Ihnen eingesetzt, ein sich automatisch aufladender Sender, über den wir stets feststellen können, wo Sie zu finden sind. Entspannen Sie sich, Mr. Coman. Ich lasse einen Roboter kommen, der Sie zur Behandlung bringt. Ich kann Ihnen versichern, daß es im Handumdrehen erledigt ist. Es ist völlig schmerzlos.« Orvil betätigte einen Hebel an dem Instrument, das vor ihm auf dem Tisch stand, und sprach hinein. Es war dunkel, und das Innere des Gebäudes wurde von einem weißlichen Licht erhellt, durch das man jedoch die funkelnden Sterne am Himmel und die Myriaden von Lichtern der Stadt erkennen konnte. Am Schreibtisch saß noch immer der gleiche Beamte. Zum erstenmal war Coman sicher, daß er wieder frei war, und als der Roboter seinen Arm losließ, taumelte er ein paar Schritte und lehnte sich gegen den Schreibtisch. Er fühlte sich zerschunden, alle Glieder schmerzten, und doch kehrte mit jedem Atemzug die Kraft zurück. »Hier sind Ihre Sachen, bis auf die Zigaretten, die wir beschlagnahmt haben. Überprüfen Sie die Liste und quittieren Sie«, sagte der gelbe Mann, lächelte wie zuvor und schob Coman Formular und Stift zu. Er verzog das Gesicht, als er merkte, daß der Beamte Raucher war und das meiste für den eigenen Bedarf be-
schlagnahmt hatte. Sonst war alles vorhanden, auch das Geld, zweihundertfünf Koneen. »Ach, da wäre noch etwas«, sagte der Mann, als sei es ihm gerade erst eingefallen, als er Comans Unterschrift geprüft hatte. »Nach den Bestimmungen vom März 2078 betreffs der Festnahme von Personen, die im Besitz von Zigaretten oder Tabak sind, müssen Sie sofort ein Bußgeld zahlen.« »Wieviel?« »Oh, genau zweihundert Koneen. Ich schreibe Ihnen eine amtliche Quittung aus.« »Wie freundlich von Ihnen.« Der andere lächelte. »Sie haben ja wenigstens noch genug Bargeld, um nach Hause fahren zu können. Und auf der Bank haben Sie vermutlich noch viel mehr. Wissen Sie, ich habe nämlich einiges über Sie erfahren, und mit der Pension, die Sie als ehemaliger Weltraumfahrer erhalten, und den diversen Beträgen aus verschiedenen Machenschaften, die Sie als von der Regierung anerkannter Telepath beziehen müssen, werden Sie wohl ganz gut über die Runden kommen. Ach, übrigens, wenn Sie ein oder zwei Koneen für unseren Polizeifonds stiften wollen, so finden Sie direkt am Fahrstuhl im Erdgeschoß einen Kasten.« Im Erdgeschoß wurde er bereits erwartet. Sie war zurechtgemacht, gut gekleidet, ihre Augen funkelten vor Wiedersehensfreude. »Mein armer Schatz, du humpelst ja«, sagte Linnel. »Wer hat die Kaution hinterlegt?« fragte Coman, obgleich er die Antwort schon kannte. »Marst. ES waren weniger die tausend Koneen — das war lediglich eine Geste —, sein Name und sein Einfluß gaben den Ausschlag. Sobald er erfuhr, daß du in Schwierigkeiten geraten warst, zog er an verschiedenen Fäden.« »Ach so. Und wer hat ihm die Geschichte erzählt?« »Ich. Willst du mich nicht begrüßen?« Sie stand dicht neben ihm, und ihr Körper war vor Erregung gespannt. Als Coman mit seinen Fingerspitzen ihre Wange berührte, zitterte Linnel. Er brauchte nicht ihre Gedanken zu lesen, um zu wissen, daß sie davon überzeugt war, dies sei die Gelegenheit, ihn zu besitzen. Er war seelisch und körperlich geschwächt, er brauchte Wärme und einen Ort, an dem er sich ausruhen konnte. Zu Sein und Jonl konnte er erst wieder gehen, wenn er die Entscheidung
des Komitees kannte — und verschiedene andere Dinge wußte. »Woher wußtest du es, wurde es im Fernsehen durchgegeben?« »Nein, weder im Radio noch im Fernsehen. Ein Roboter hat es mir gesagt.« Coman starrte sie an, seine Stirn war gefurcht, er erinnerte sich an den Roboter in Marsts Hotel. Aber Linnel schüttelte den Kopf. »Nein, es war in einem Laden im Blage-Distrikt. Ein prächtiges neues Ding, das Geld kassiert und jedermann Instruktionen erteilt. Ich konnte es zuerst nicht fassen. Der Apparat gab mir das Wechselgeld heraus und übertrug dann einen Gedanken. Plötzlich sah ich das Zimmer mit Vane und wußte, was geschehen war, dann sah ich den Detektiv und dann dich bei der Polizei. Als ich ganz verwirrt dastand, wie du dir wohl denken kannst, sagte der Roboter: >Sag es Marst.< Ich wußte, daß ich mir das Ganze nicht eingebildet hatte, und darum habe ich es Marst sofort erzählt.« »Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte Coman, ergriff ihren Arm und führte sie auf die Straße, wo sie ein Laufband betraten, das in den Westen der Stadt führte. Auf einem Band in der Nähe, das nach Süden ging, tanzten und grölten einige junge Leute, und als sie vorüber waren, fragte er: »Wie hat er es aufgenommen?« »Ich habe ihm alles erzählt, auch, was mit Harkor und mir los war — ein Glück, daß es ihn erwischt hat! Er hat mir schweigend zugehört. Als ich fertig war, sagte er: >Claus Coman hat also wieder getötet.< Und ich erwiderte, das sei nicht fair, weil es ein Unfall war, außerdem sei Harkor der Teufel in Person gewesen.« »Was hat er darauf geantwortet?« »Lange Zeit sagte er gar nichts, und ich konnte ohne weiteres seine Gedanken lesen. Er wußte nicht, was er denken oder tun sollte. Ich glaube, er hatte noch nie mit dem wirklichen Leben und Sterben zu tun, und diese Geschichte paßte nicht in seine kostbaren Kategorien von Recht und Unrecht. Wenn man bedenkt, daß Menschen dieser Art Entscheidungen treffen, die Millionen Menschen betreffen ...« »Erzähl weiter.« »Nun, schließlich sagte er: >Nichts, aber auch nichts entschuldigt einen Mord — und doch will ich ihn befreien. Ich werde ihn dort herausholen, und sei es nur, um zu verhindern, daß er getötet wird.< Du siehst also — er ist im Bilde über die hiesige Polizeigewalt!« Linnel schaute zu ihm auf und sagte frohlockend: »Und
du brauchst dir wegen des Geständnisses keine Gedanken zu machen — er wird es nicht gegen dich verwenden.« »Es spielt keine Rolle, ob er es tut oder nicht«, sagte Coman. Er wußte nun, wie Marst sich entschieden hatte, und plötzlich überkam ihn Erschöpfung, die Ereignisse der vergangenen Stunden wirkten auf ihn wie eine düstere Wolke, die drohte, Verstand und Körper zu erdrücken. Da fühlte er, wie ihn Linnels schlanker Arm umschlang. »Wir gehen zu mir, mein Junge«, sagte sie leise. »Da ist es gemütlich und ruhig, ich wohne direkt am Parkgebiet — es ist ein Zimmer mit herrlichem Ausblick. Und ich habe ein paar Zigaretten...« Er war unfähig, ihr zu widersprechen. Er brauchte Ruhe und hatte nicht vor, die verräterische Kapsel in seinem Körper zu lassen, solange noch Gelegenheit war, sie zu entfernen. Und um sie herauszubekommen, brauchte er Hilfe. Ein paar Meter vor ihnen war ein Platz frei, aber er konnte nicht einmal mit ihrer Unterstützung die paar Schritte machen; er lehnte sich an sie, bis sie ein anderes Laufband betreten mußten, das bis dicht zu ihrer Wohnung fuhr. Diesmal setzten sie sich gleich auf einen Doppelsitz. Er schloß die Augen, und Wellen der Müdigkeit schlugen über ihm zusammen. Wie aus weiter Ferne hörte er Linnel seinen Namen rufen, und auf der Stelle hatte er sich wieder in der Gewalt, stand auf und folgte ihr bereits, bevor sich seine Augen geöffnet hatten. Eine schmale Straße, einige Lichter, streitende Stimmen, das vibrierende Klagen einer Venusflöte, dann waren sie in einem hohen Gebäude, fuhren hinauf in den 15. Stock. Die Wohnung war klein, aber gemütlich, den Teppich bildete eine dicke Lage grünes, imitiertes Moos, es gab ein Bad mit Massageapparaten, und im Schlafzimmer stand ein riesiges versenkbares Bett, elektrisch beheizt. Coman sank dankbar darauf nieder, während Linnel Kaffee kochte. Er streifte sein Hemd ab und tastete mit dem kleinen Finger der rechten Hand nach der Stelle, an der sie die Kapsel eingesetzt hatten. Nach einer Weile fand er sie, dicht neben der Brustwarze. Sie saß etwa einen dreiviertel Zentimeter tief im Fleisch, haftete an der vierten Rippe der linken Seite. Als sie mit dem Kaffee hereinkam, sagte er: »Ich möchte dich um etwas bitten.«
»Ich tue alles!« sagte sie, aber als sie seine Gedanken las, wurde ihr Gesichtsausdruck besorgt. Er nickte. »Sie haben mich auf ihrem vorzüglichen Radarsystem >festgenagelt<, und ich möchte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen, bevor das Loch geheilt ist. Kannst du es sehen?« Sie untersuchte die Stelle, die er andeutete, und nickte nach ein paar Sekunden. »Das Loch ist sehr winzig. Glaubst du ...?« Coman holte aus seiner Jacke die kleine Brieftasche, die ihm die Polizei zurückgegeben hatte. Neben anderen Instrumenten befand sich darin eine lange, haarfeine Nadel, deren unterer Teil antiseptisch behandelt war. Er reichte sie Linnel, legte sich auf den Rücken und sagte: »Geh jetzt ganz dicht heran und halte die Nadel fest, aber nicht verkrampft. Achte darauf, daß sie genau vertikal steht und auf die Mitte des Loches gerichtet ist. Nimm dir Zeit. Wenn du sicher bist, drück die Nadel langsam herunter, bis du das Hindernis spürst. Dann stichst du einmal kurz zu und ziehst die Nadel sofort heraus. Wenn wir Glück haben, hängt die Kapsel dran. Verstanden?« »Ich — ich glaube schon«, sagte sie. Der Gedanke, daß Nadeln in ihr eigenes Fleisch dringen könnten, erfüllte sie mit Entsetzen, und sie war nicht sicher, ob sie es bei ihm fertigbrachte. Er erkannte ihre Gedanken und lächelte ihr ermutigend zu. »Komm, es wird nur einen Augenblick dauern, und dann können wir uns entspannen. Knie dich über mich und setze dich auf mich — so kannst du völlig ungehindert arbeiten.« Linnel nahm die Nadel und tat, wie ihr gesagt worden war. Als sie die Nadel hineinstoßen mußte, hielt sie den Atem an, Schweißperlen erschienen auf ihren Nasenflügeln, aber die Nadel glitt leicht hinein und stieß auf Widerstand. Auch Coman schwitzte nun, obgleich der Schmerz zu ertragen war. Der Chirurg hatte ihm die Kapsel in liegender Position eingesetzt; eine winzige Veränderung in der Lage, und schon verlief die kleine Operation erfolglos. Ein weiterer Versuch würde die Sache nur verschlimmern. »Jetzt stoß zu, klopf mit dem Finger gegen die Nadel — und zieh sie heraus.« Zuerst konnte Linnel nichts entdecken — nur einen Blutstropfen an der Nadelspitze —, aber Coman lächelte, nahm ihr die Nadel aus der Hand, steckte sie in den Mund und hielt sie dann zur
Inspektion in die Luft. Die Kapsel saß an der Nadelspitze, sie war so winzig klein, daß sie für das bloße Auge gerade noch sichtbar war. »Du hast es geschafft. Ich laufe nicht besonders gern als lebendiger Sender durch die Gegend.« »Werden sie es nicht merken?« fragte sie matt. »Und wenn schon?« Auf einmal wurden sich beide gleichzeitig ihrer Nähe bewußt, sie starrten einander schweigend an. Die Wärme von Linnels Körper floß auf Coman über, und seine Finger glitten, wie aus eigenem Antrieb, langsam über ihre Knie. Er las ihre Gedanken und erkannte, daß sie ebenso wie Jonl eine Frau war, die gern den Mann spielte, und etwas Feminines in ihm reagierte instinktiv. »Was ist mit dem Kaffee, er wird kalt«, murmelte er. »Zum Teufel mit dem Kaffee«, antwortete sie. Als er morgens erwachte, wurde die heiße Sonne von der Decke reflektiert, und strahlender Glanz umgab seinen Körper. Linnel schlief noch, er schlüpfte aus dem Bett und betrachtete sie einen Augenblick nachdenklich. Zärtlichkeit erfüllte ihn. Man konnte unmöglich sagen, wie sie enden würde, auf jeden Fall jedoch hatte sie sich verändert, würde sich weiterhin verändern, würde eine andere werden als die Frau, der er im Bad begegnet war. Er ging ins Badezimmer. Als er angekleidet zurückkehrte, saß Linnel im Bett und kämmte sich. Er zündete sich eine Zigarette an und fragte: »Hast du deine Arbeit bei Marst beendet?« »Ja. Er braucht mich nicht länger.« Ihre Sinne suchten, mühten sich herauszufinden, was er jetzt für sie empfand. Aber er hatte Sperren errichtet, und sie konnte ihre Neugier nicht befriedigen. »Hast du genug Geld?« fragte er. Linnel zuckte die Schultern. »Genug. Marst war großzügig. Von Harkor sollte ich fünfhundert Koneen bekommen, aber das hat sich erübrigt. Ich wage es nicht, mich mit dem Rest der Bande in Verbindung zu setzen.« »Weiß irgendeiner von ihnen, daß du hier bist?« »Nur Harkor — und ich glaube nicht, daß er es jemandem erzählt hat. Wieso, wolltest du mich bezahlen?« Er lächelte. »Soviel du willst, innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich.« »Was war es wert, Coman?«
Er starrte sie an, und sie blickte ihm intensiv in die Augen, dann mußten beide lachen. Er trat ans Fenster und schaute hinunter. In einiger Entfernung breitete sich der Park wie ein großer grüner Fächer aus, und die weiße Kuppel des Regierungsgebäudes glänzte unter einem strahlendblauen Himmel. »Wer hat Harkor beauftragt?« fragte er. »Ich weiß darüber ebensowenig wie du. Es sind legale Verbrecher, sie leben von Gewinn und Korruption. Harkor sagte, sie seien so mächtig, daß er nicht verstehen könne, warum sie sich überhaupt Sorgen machten.« »Diese Leute reagieren automatisch. Die Einrichtung einer Kriegssektion wird ihnen wahrscheinlich mehr nützen als hinderlich sein.« »Und trotzdem hast du dein Bestes getan, um den Plan durchzusetzen?« rief sie aus. Er achtete nicht darauf und fuhr fort: »Sie haben also Harkor beauftragt, damit er diese Arbeit auf eigene Faust durchführt — sie haben ihm freie Hand gelassen.« »Ja. Er hat die anderen selbst bezahlt, hat sie hier an Ort und Stelle ausgesucht. Eigentlich hatte er eine kleine Bande, drei Männer, deren Stärke das Glücksspiel war. Sie zogen mit einem Motorschiff durch den ganzen Pazifik und kannten jeden Kniff.« »Wo stecken die drei nun?« Linnel zuckte erneut die Schultern. »Ich glaube, er hat sie mit dem Boot auf einer der Inseln gelassen. Sie werden jetzt versuchen herauszubekommen, wer ihn umgebracht hat. Andererseits ist es genausogut möglich, daß sie die Flucht ergriffen haben.« »Vielen Dank, daß du mir das erzählt hast.« Ihre Schultern zuckten, sie stand dicht vor einem hysterischen Anfall. »Ich habe erst jetzt wieder an sie gedacht, und außerdem ist es gut möglich, daß alles gelogen ist. Bei Harkor konnte man das nie so genau wissen.« Coman erwiderte nichts, sondern starrte weiter aus dem Fenster. Nicht weit im Westen sah er die Brücke, von der aus er, Jonl und Sein zum Haus der Raylonds hinübergeschaut hatten, und sein Herz schlug schneller. »Ist es das also?« fragte sie. »Ja, wir müssen Abschied nehmen«, antwortete er.
»Wie wird man eine Verbindungsfrau?« Coman drehte sich um, ignorierte das Verlangen, das sie ihm zu übermitteln versuchte. »Du meinst es nicht ernst und du weißt es auch. Falls du jemals bereit bist, eine zu werden, wirst du wissen, was du tun mußt.« Linnel erhob sich und kam zu ihm herüber. »Ich weiß nicht, was ich will. Ich habe immer gedacht, Sex sei — nun, Sex — bis du erschienen bist. Warum komplizierst du etwas, was jedermann als eine natürliche Funktion ansieht, als ein bißchen Spaß, mit einer Menge altmodischem seelischem Krimskrams?« Ihre Stimme klang nahezu bitter. Coman unternahm keinen Versuch, sie zu berühren, und sie wandte sich ab und kleidete sich an. Dann fing sie plötzlich einen Gedanken auf : Roboter. »Was meinst du damit?« fragte sie scharf. »Du weißt, was ich meine. Du bist weniger als ein menschliches Wesen, trotz deiner telepathischen Begabung. Du bist ein Roboter. Ich habe dir im Laufe der Nacht mehrmals meine Gedanken geöffnet, aber du hast mir nichts gestattet. Es war, als hätte ich eine Maschine geliebt. « »Hör auf!« »Warum hast du Angst, Linnel? Du besitzt eine kostbare Gabe, eine Fähigkeit, durch die du das Leben doppelt genießen solltest, und dennoch wünschst du dir nichts außer dem, was man kaufen kann. Für uns — einen männlichen und einen weiblichen Telepathen — liegt in der Vereinigung der Körper ein großes Geheimnis, der Schlüssel zum Leben.« »Und zum Tode«, sagte sie schaudernd, denn sie hatte in der vergangenen Nacht ihre Sinne nicht völlig verschließen können. »Du siehst, daß wir uns trennen müssen«, sagte er. Sie frühstückten schweigend, und als sie fertig waren, zeigte die Uhr bereits neun. Coman erhob sich, seine Finger glitten über ihre Wange. »Auf Wiedersehen, meine Liebe. Einer meiner Fehler ist die Ungeduld — kannst du mir verzeihen?« Sie sah ihn mit glänzenden Augen an. »Noch einmal. Werden wir einander jemals wieder begegnen?« Wer kann das wissen, dachte er. Sie sagte: »Dann also auf Wiedersehen« und wandte sich ab.
11 Coman hatte den Schlüssel, den er in Vanes Zimmer verschluckt hatte, wiederbekommen. Er schlenderte in der Nähe des Safes, in dem der Connector lag, umher und wartete ab, ob er verfolgt worden war oder ob man den Safe bewachte. Niemand zeigte jedoch Interesse; schließlich öffnete er die Tür und fand das kostbare Instrument. Es war zehn Uhr. In einer halben Stunde würde der Entschluß des Komitees dem Weltrat verkündet werden. Als er wieder auf der Insel war und die Treppe zu Deenans Haus hinaufstieg, war es bereits zwanzig nach zehn. Deenan bemalte ein großes Stück Karton, und der Roboter stand in seiner Ecke. Als Coman eintrat, reagierte nur der Roboter. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Doch nicht schon wieder!« »Halt den Mund, Blechgesicht, und bring dem Mann was zu trinken«, sagte Deenan. Er wandte sich an Coman. »Der Wanderer kehrt also zurück. Was hältst du hiervon?« Coman starrte auf den Karton. Im Gegensatz zu den anderen Gemälden war dieses Bild gegenständlich gehalten und erinnerte ihn an die rekonstruierten Bilder der Vergangenheit, die man im Museum besichtigen konnte. Nasse Straßen und schimmerndes Pflaster, kleine Gestalten trippelten durch einen Regenschleier -es fehlte jede Ähnlichkeit mit den bis ins letzte berechneten Regenschauern, es war ein Regen, von dem man sich vorstellen konnte, daß er unaufhörlich herabfiel — ein allesumschließender, beinahe deprimierender Regen. Je länger er auf das Bild starrte, desto bizarrer und gleichzeitig echter wirkte es. »Wie bist du darauf gekommen?« fragte er. »Es summte in den Drähten«, sagte Deenan. »Ach so. Hast du etwas dagegen, wenn ich die Nachrichten anstelle?« »Nur zu.« Er nahm das Glas, das ihm der Roboter brachte, schaltete das entsprechende Programm ein und machte es sich in einem Sessel bequem. Das Ereignis hatte natürlich vorübergehend alle anderen Nachrichten verdrängt, und auf dem Fernsehschirm erschien das Interieur der Großen Halle; die Kamera verweilte zunächst auf den Computern und dem riesigen Aufgebot an Maschinen, die zur Errichtung und zum Schutz des Gebäudes und seiner Bewohner
benutzt worden waren, glitt dann über die dichtgeschlossenen Reihen der Mitglieder der Weltregierung, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten, und hielt dann schließlich im Zentrum inne, richtete sich in Großaufnahme auf die Gestalt des alten Präsidenten Jal Monar, der — so behaupteten seine Feinde — Telepath und geheimes Mitglied der Organisation der Verbindungsleute war. Während er dieses ehrwürdige Gesicht anschaute, fragte sich Coman, was es mit dieser bestimmten Beschuldigung auf sich haben mochte — eine Beschuldigung, die, soweit er wußte, jeder Grundlage entbehrte. Jal Monar war hundert Jahre alt und konnte sich noch an die Wüste erinnern, in die sich die Erde nach dem Zusammenbruch der alten Welt verwandelt hatte. Ein solcher Mann, der noch im Vollbesitz seiner Fähigkeiten war, ein Mann von unendlicher Klugheit und erstaunlichem Scharfsinn wäre mit übersinnlichen Kräften ohne weiteres der Oberste aller Telepathen. Aber der Vorsitzende war Karns, und Coman konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß Monar und Karns ein und derselbe sein sollten. Wiederum entstand in der Halle Bewegung, die Kameras zeigten Männer, die ihrem Platz an einem halbmondförmigen Tisch rechter Hand der Regierungsbänke zustrebten. Der Berichterstatter erklärte: »Jetzt nehmen die Mitglieder des Komitees die Plätze ein, schon bald werden wir das Ergebnis kennen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Alle wichtigen Männer haben in den letzten Wochen das Wort gehabt, und alle Welt wartet voller Spannung auf die Entscheidung. Jetzt werden wir es erfahren, und, einerlei, wie sich das Komitee entschieden hat, eines ist so gut wie sicher: die Regierung wird diesen Vorschlag akzeptieren. Wenn die Entscheidung >Nein< lautet, dann wird diese spezielle Lösung des Problems asozialer Gewalt in unserer Zeit nicht noch einmal vorgeschlagen; lautet die Antwort >Ja<, dann wird sofort eine Debatte über die Maschinerie entstehen, die nötig ist, um eine Kriegssektion. einzurichten ... Hier ist Alte Marst, Präsident des Komitees, ehemaliger Inspekteur des Venus-Feldplanes, seit zehn Jahren Hochkommissar der Zweiten Sektion, ein Mann von Format, der, so heißt es, nichts mit diesem Problem zu tun haben wollte, den man nur mit allergrößter Mühe zur Teilnahme bewegen konnte.« Marsts Gesicht war ausdruckslos. Er nahm Platz zwischen vier
Männern und sechs Frauen, die alle für ihre Integrität bekannt waren, in einer Welt, die derartige Qualitäten schnell als zwielichtig abtat. Wie auch immer ihre Entscheidung ausfallen mochte, Verleumder und Ehrabschneider warteten bereits darauf, sie falscher oder mißverstandener Motive anzuklagen. Marst hatte sich erhoben, und es wurde auf einmal still. Die Kameras glitten über die Tausende von Gesichtern, die zu den Hunderten von Parteien gehörten, die aus allen Teilen der Erde und von den Gebieten im Weltraum stammten. Er sprach zunächst über die Ereignisse, die zur Aufstellung eines Komitees geführt hatten, faßte die Maßnahmen zusammen, die man bisher unternommen hatte, um der Gewalt Herr zu werden, sprach davon, daß man Betrug und Diebstahl der eigentlichen Kriminellen, der Industrieverbände und auch gewisser Regierungskreise nicht in einen Topf werfen dürfe mit der Gewalt an Personen — er sprach von der neuen Welle scheinbar sinnloser mörderischer Ausbrüche, die vor dreizehn Monaten bei Jugendlichen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren begonnen und während der letzten Monate erschreckende Proportionen angenommen hatte, trotz der Maßnahmen, mit denen man die drohende Gefahr abzuwenden versuchte. Er fuhr fort: »Erfahrene Psychiater versichern uns, daß es sich um eine Art Geisteskrankheit handelt, die Diagnosen gehen jedoch beträchtlich auseinander, und alle bekennen, daß sie dieser Krankheit hilflos gegenüberstehen; sie haben nur den schwachen Trost parat, daß sie nicht permanent sein kann und daß sie in ein, zwei Jahren vielleicht im Sande verlaufen wird wie ein Fieber. Inzwischen jedoch werden Tausende unschuldige Menschen verstümmelt und getötet, Woche für Woche, manchmal von ihren eigenen Kindern. Überdies beschränkt sich der Wahnsinn nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsschicht.« Er hielt einen Augenblick inne, sein Gesicht verriet intensive Konzentration. »Wir müssen uns die Frage stellen: >Hat die menschliche Rasse einen Punkt des Niedergangs erreicht? Bringt sie in ihren Kindern die ersten Anzeichen für einen Wahnsinn hervor, der sie schließlich zerstören wird?< Angesichts dieses neuen Schreckens ist dieses Komitee vielleicht widerwillig, nichtsdestoweniger aber entschlossen zu der Überzeugung gekommen, daß wirkungsvolle revolutionäre Maßnahmen ergriffen werden müssen. Es genügt nicht und ist auch niemals
tatsächlich befriedigend gewesen, jene, die getötet haben, mit dem Tode zu bestrafen. Andererseits ist es unmöglich, sie als Kranke zu behandeln, wenn wir den Sitz der Krankheit nicht kennen. Und aus diesem Grunde ...« — seine Stimme wurde ruhiger, blieb jedoch klar und deutlich — »hat das Komitee nach langen Beratungen einstimmig beschlossen, dem Weltrat die Schaffung einer neuen Sektion vorzuschlagen, einer Sektion, die alle Menschen aufnehmen kann, die des Gewaltverbrechens für schuldig befunden wurden, einer Sektion, die durch das Wort >Krieg< bezeichnet werden sollte, ein Gebiet von mindestens zweitausend Quadratmeilen Größe, das möglichst auf einem anderen Planeten liegen sollte.« Er hatte kaum ausgesprochen, als aus der riesigen Zuschauermenge ein einziger Laut aufstieg, ein Dröhnen des Kommentierens, in dem selbst die Ausrufe der Berichterstatter untergingen. Coman schaltete die Nachrichten ab. Dann seufzte er tief und zündete sich eine neue Zigarette an. Als er sich nach Deenan umschaute, sah er, daß er fort war, er machte vermutlich einen Spaziergang am Strand. Das Gemälde lag auf der Erde, und der Roboter stand in seiner Ecke, die blanken Augen blickten scheinbar starr und unbeweglich auf Coman. Coman nahm den Connector und brachte ihn ins Zimmer, in dem er die Nacht verbracht hatte. Er schloß die Tür hinter sich. Ohne die Hilfe des Schirms oder der Musik dauerte es eine Weile, bis er seine Sinne von unwesentlichen Gedanken befreien und in jene Dimension eintreten konnte, in der er einen oder mehrere seiner Kollegen finden würde. Schließlich hörte er sie, und es waren viele. Sie unterhielten sich über Roboter, und schon bald kannte er das Geheimnis der Nachrichten und anderer Rätsel, die ihm zu schaffen gemacht hatten. Offenbar hatte ein Verbindungsmann namens Sarre aus Düsseldorf, Sektion 7, bei Experimenten entdeckt, daß Stite, eine Kobalt-Wolfram-Verbindung, die Ebin enthielt, die gleichen oder doch annähernd die gleichen Eigenschaften wie Crionium besaß; auch mit diesem Element konnte man über große Entfernungen hinweg Botschaften übermitteln und empfangen. Noch bedeutender jedoch war die Tatsache, daß man in den vergangenen zwei Jahren diese Legierung in großen Mengen bei der Konstruktion der Gehirneinheiten von Robotermechanismen
verarbeitet hatte. Sarre hatte unverzüglich die Bedeutung für alle Verbindungsmänner erkannt und in Zusammenarbeit mit zwei Kollegen eine Maschine gebaut, mit der er nicht nur visuelle Impressionen von Robotern, die Stite enthielten, empfangen konnte; mit einiger Mühe war es ihm auch möglich, gelegentlich über die gleiche Verbindung Gedanken zu senden. Als er diese Information vernommen hatte, schickte Coman sofort einen namentlichen Ruf an Karns und wartete, daß der alte Mann den Kontakt aufnahm. Schließlich meldete er sich. K. Willkommen. Die Sache ist erledigt, und Sie sind noch am Leben. C. Und Vane ist tot. Einen Augenblick lang spürte Coman gemeinsam mit Karns einen tiefen Schmerz, eine Qual, die sich nicht in Worten beschreiben ließ. K. Ich glaube, daß der Tod für einen von Ihnen unvermeidlich war. Versuchen Sie, nicht zu lange zu trauern, Coman. C. Was mich betrifft — Sie kennen meine Lage und wissen, daß Marst mich beim Wort nehmen wird. K. Ich weiß. Haben Sie Angst vor den Konsequenzen? C. Das ist eine Frage, auf die, wenn überhaupt jemand, Sie selbst die Antwort kennen müssen. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und Coman wußte, daß er, wenn er wollte, ins innere Bewußtsein des anderen eintreten konnte. Aber er tat es nicht. K. Warum wollen Sie nicht? Wegen Vane? C. Ich empfinde Schuld und Abscheu, eine Übelkeit vor mir selbst und sogar vor Ihnen. K. Das bedeutet nichts. C. Gibt es überhaupt etwas, das von Bedeutung ist? K. Sie bedeuten mir etwas, Coman. C. Und wenn ich fort bin ...? K. Nun, auch die Welt und die Sterne und all die Billionen Galaxien werden einmal fort sein, Staub in einer Schale, die sich in der Ewigkeit zu sich selbst zurückkrümmt. Schauen Sie in mich hinein. C. Nein. Ich verdiene Ihren Trost nicht, und mich verlangt auch nicht danach. K. Sehr gut. Aber Sie müssen sich erholen und die Kraft bekommen, neue und vielleicht noch hoffnungslosere Dinge
ertragen zu können — wahrscheinlich in einer neuen Welt der Unzivilisiertheit, der Mühsal und des plötzlichen Todes. C. Lediglich das zweite Wort verspricht Neues. Kennen Sie den Namen dieser Welt? K. Nein. Es gibt viele Vorschläge, aber man hat noch nichts beschlossen. Zahllose Probleme müssen abgewogen werden, nicht nur von den Behörden, sondern auch von den Verbindungsmännern: ob Sie gehen sollen oder nicht, wer folgen wird und wie es gehandhabt werden soll. Und seit kurzem besitzen wir etwas, das nützlich sein kann ... C. Kommunikation via Roboter? K. Ja, wir machen Fortschritte, wie Sie sehen. Wir müssen das Geheimnis strengstens wahren, sonst wird man aufhören, Stite zu verwenden. Normalerweise hätte ich diese Entdeckung der Regierung mitgeteilt, aber unter den gegenwärtigen Umständen halte ich das für eine unnötig offene Geste. C. Sie hätten mir wenigstens vorher etwas darüber sagen können. K. Ich hatte gespürt, daß in dieser Richtung geforscht wurde, aber erst an dem Tag, als Sie in die Fünfzehnte Sektion abreisten, rief mich Sarre und teilte mir Einzelheiten mit. Ich habe sofort veranlaßt, daß er versuchen sollte, Ihren Bewegungen zu folgen und sich, falls nötig, mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Obgleich seine Bemühungen nicht hundertprozentig zufriedenstellend waren, sind sie doch ermutigend. C. Sie waren alles, andere als zufriedenstellend. Es hat mir wenig genützt, zu erfahren, daß Vane starb. Wenn ich schon früher die Nachricht von der drohenden Gefahr erhalten hätte, wäre es sinnvoller gewesen. K. Lösen Sie sich aus dieser Verbitterung. Sarre tat sein Bestes und hat ebenso wie jeder andere von uns gelitten, weil er wußte, daß es mit etwas intensiverer Nachforschung und mehr Erfahrung möglich gewesen wäre, Vane zu retten. Lassen wir das Thema beiseite. Ich schätze, daß Sie noch drei Wochen Frist haben, bevor die Kriegssektion verwirklicht wird, und aus dieser Zeit müssen Sie das Beste machen. Vor allem müssen Sie am Leben bleiben. Viele Kräfte haben sich gegen Sie verschworen, und die Polizei könnte sich als eine der größten Gefahren erweisen. Ich möchte mit Ihnen über das Mädchen nachdenken. C. Linnel? K. Nein, die andere — die Ihrem Herzen näher ist — fonl. Sie ist
für die telepathische Entwicklung reif, und mit 'Ihrer Überzeugungskraft und Hilfe müßte sie die verschiedenen Schocks und Ängste überwinden können, um ihre neue Verantwortung auf sich zu nehmen. C. Noch vor wenigen Tagen haben Sie mir geraten, sie nicht zu drängen. K. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß sich in den letzten Stunden etwas ereignet hat, dessen Widerhall bereits die Umstände verändert. Einerlei, wie es sich in der Praxis auswirken wird — die Entscheidung zugunsten der Kriegssektion beschleunigt unser Leben und fügt unserer Bedeutung als Verbindungsmänner und -hauen neue Dimensionen hinzu. Bald schon werden Sie sie verlassen haben, aber in der Ihnen verbleibenden Zeit müssen Sie Ihr möglichstes versuchen. C. Und Sein? K. Ihretwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie trägt bereits Ihren Samen in sich, upd wir werden alles tun, um sie und das Ungeborene zu schützen. Schweigen entstand, während Coman dies verdaute, und dann sprach Karns weiter. K. Was die dritte Frau betrifft — vergessen Sie sie. Sie hat keine Bedeutung mehr. Im Schlamm der Themse findet man manchmal eine Schnecke, deren Häßlichkeit durch einen Sonnenstrahl verwandelt wird, der Schleim glitzert in neuer, wunderbarer Schönheit. Und doch ist es eine Schnecke und bleibt eine. Denken Sie ein wenig über Jonl nach, dann werde ich versuchen, Ihnen einige Ratschläge zu geben, wie Sie die Probleme und Schranken überwinden können. Anschließend trug Coman den Connector nach draußen, schmetterte ihn, wie Karns ihm geraten hatte, gegen einen Felsen und warf ihn ins Meer. Dann ging er am Strand entlang, um Deenan zu suchen. Er fand ihn zwischen den Dünen; er lag nackt in der Sonne. Aufs neue erschrak Coman darüber, wie zerbrechlich diese Karikatur eines Mannes aussah. Das Fleisch am Hals und zu beiden Seiten des Kopfes war erhalten, desgleichen die Ohren und die Schädelbasis, die Arme und Beine, der obere Teil des Brustkorbes, die Schultern und die Armgelenke, der Rest jedoch war aus grauschimmerndem Metall, unterbrochen durch die diversen Kunststoff»fenster«, hinter denen man sah, wie
bestimmte Organe ihre verschiedenen Funktionen ausübten. Coman hockte sich nieder und betrachtete den Freund mit Interesse und Zuneigung, nach einigen Augenblicken sprach Deenan, ohne die Lider zu heben. Ein Mann von zweifacher Wirklichkeit streute Samen im Garten zur Frühlingszeit. Und als der Same zu wachsen begann sah's wie ein Garten voll Schnee sich an. Und als der Schnee fiel auf das Land war's als sängen die Vögel auf der Wand. »Woher hast du das?« fragte Coman. Deenan öffnete die Augen. »Ich habe es vor langer Zeit gelesen. Es stand in einem Gedichtband, den ein Archäologe in den Ruinen der alten Stadt Birmingham gefunden hat. Niemand weiß, wer die Verse schrieb, und niemand weiß, was sie eigentlich bedeuten. Willst du den Rest auch noch hören?« »Sicher.« »Gut.« Und als die Vögel gen Himmel flogen, sah's aus, als käme ein Schiffswrack gezogen; Und als der Himmel zu splittern begann, fühlt sich's wie eine Rute auf meiner Schulter an. Und als ich fühlte stechende Schmerzen war's wie ein Messer in meinem Herzen. Und als mein Herz zu bluten begann, war ich tot, war ich tot, ein toter Mann. »Das klingt wundervoll. Weißt du, was es bedeutet?« »Es steckt voller Symbolik, und man muß es selbst deuten. Mich entschädigt es für vieles. Wo wir gerade dabei sind — du bist ein Mensch von zweifacher Wirklichkeit, du und Karns und die anderen .« »Wieso weißt du von ihnen?« »Ich weiß es eben.« Ein Gesicht aus Metall und Kunststoff kann keinen Ausdruck spiegeln, ein künstlich hergestellter Verstand keine dunklen Ecken und Verstecke haben — nur Türen, die sich öffnen und schließen. Ja oder nein. Es stimmte — er wußte es einfach. »Als du über deinen Kopf sprachst, hast du damit gemeint, daß er
kürzlich repariert wurde?« »Natürlich. Eines schönen Morgens haben sie mich geholt und an mir herumgebastelt, ohne sich überhaupt für die Störung zu entschuldigen. Die Teufel sagten, sie würden neue Drähte einsetzen, aber ich glaube, das war nur ein Vorwand, um an mir herumspielen zu können. Diese Halunken !« Aber im Grunde dachte Deenan nicht schlecht über sie. Er nahm ihnen nur übel, daß sie ihm niemals eine Art Penis gegeben hatten, mit der er die natürlichen Funktionen ausüben konnte. Wahrscheinlich hatten die Chirurgen derartiges Zubehör für überflüssig gehalten. Er besaß jedenfalls nur eine Öffnung, die, obgleich sie ihren Zweck ausreichend erfüllte, durch ihren Mangel in einem Gehirn, das zu zwei Dritteln automatisch war, ein Neuron der Gereiztheit erzeugt hatte. »War es — sehr schlimm, hier auf der Insel?« fragte Coman und bereute im gleichen Augenblick die Frage. Deenan richtete sich auf, und als sich sein schwerer Kopf nach vorn neigte, stützte er ihn in seine Hände und gab eine Art Stöhnen von sich. »Sehr schlimm, Coman? Du bist der einzige, der mich überhaupt besucht, und nicht einmal du bringst noch Freunde mit.« Coman schwieg. Deenan fuhr fort: »Letztesmal, als du das Mädchen mitbrachtest, habe ich mich wie ein Narr benommen, aber ich habe mich jetzt geändert. Ich habe mich damit abgefunden, das zu sein, was ich bin.« Die künstliche Stimme klang eindringlich, und Coman seufzte: »Wenn du dich damit abgefunden hast, dann darfst du nicht länger darauf warten, daß dich jemand besucht. Du mußt zu den Menschen gehen.« In der folgenden Stille bohrten sich die ausgeliehenen Augen starr in seine, dann begann Deenan zu lachen, sein Mund klappte wie ein Visier auf und zu. Er grub die Zehen in den feinen Sand, wedelte mit den Armen und rief schließlich: »Natürlich muß ich das! Die Welt ist für mich bereit, und ich bin bereit für die Welt! Ich werde ...« In diesem Augenblick erschien am Ende der Landzunge, etwa zwei Meilen östlich, ein dunkler Schatten; die beiden Männer wandten sich um, aufmerksam geworden durch das Geräusch des Motors, der die Stille durchbrach. »Da haben wir ja schon Besuch!« rief Deenan. »Eine Abordnung
von draußen; sie sollen mich zweifellos feierlich ins Regierungsgebäude bringen.« Er stand auf, aber Coman packte ihn am Arm und zog ihn wieder herunter. Es war ein langes, schlankes Boot, ein Modell mit fünf Kojen und Zwillingsmotoren; seiner Schätzung nach machte es bei dieser See bis zu hundertfünfzig Knoten pro Stunde. Als es sich näherte, erkannte er, daß es ein Luxusmodell war. Mit Booten dieses Typs unternahmen die ganz Reichen lange Kreuzfahrten durch den Pazifik. Auf dem Verdeck kauerte die Gestalt eines Mannes hinter einem schlanken, L-förmigen Geschütz, das größer war als die Waffen, die Linnel und Harkor benutzt hatten. Es war auf glänzende Beine montiert. Er hatte dies alles kaum wahrgenommen, als die Waffe abgefeuert wurde, geräuschlos stieß sie einen weißen glitzernden Bogen aus. In der Richtung, wo Deenans Bungalow stand, erschien plötzlich eine Rauchwolke, alles wurde rot ... dann war nichts mehr zu sehen, nur eine Rauchkugel, die sich langsam emporhob, sich an dem gigantischen Pfeiler auflöste, der die Stadt stützte. Sie haben mich schnell gefunden, dachte Coman, und: Mit wieviel Strahlenwaffen müssen wir noch rechnen? »Was für eine Party ist denn dies?« erkundigte sich Deenan. »Bleib in Deckung. Ich fürchte, du wirst jetzt in die weite Welt ziehen müssen«, erwiderte Coman. Er blickte zur Stadt empor, die in einem schimmernden Hitzeschleier lag. Da oben mußte jemand gesehen haben, was hier vor sich ging. Es geschah jedoch nichts. Keine Polizeiplattform, keine lähmenden Strahlen. Überhaupt nichts. Er starrte angestrengt zum Boot hinüber. Die Maschinen standen still, und es trieb auf das Ufer zu. Der Mann hinter der Kanone hatte noch immer das Gesicht am Visier, die Arme in die Seiten gestemmt, Finger am. Abzug. Zwei weitere Männer waren aufgetaucht und suchten mit Ferngläsern das Ufer ab. Coman dachte angestrengt nach. Linnel hatte gesagt, es seien nur drei Männer, und alle drei konnte er sehen. Er besaß eine Schockpistole und die Nadelwaffe; aber das waren lediglich Spielzeuge, die über eine Entfernung von etwa 18 Metern hinaus wirkungslos waren. Und Deenan war völlig unbewaffnet. Der Kanone auf dem Boot hatten sie nichts entgegenzusetzen, und er konnte nur hoffen, daß der Feind kehrtmachte und verschwand. Zuerst sah es so aus, als würde das auch geschehen, aber dann entbrannte offenbar zwischen den
Männern auf dem Boot eine Art Streit. Coman vermutete, daß das Haus völlig zerstört war und daß nun ein oder vielleicht auch zwei der Männer davon überzeugt waren, daß er und Deenan den Tod gefunden hatten, die Gegenpartei jedoch wollte sich vergewissern. Deenan fluchte vor sich hin, und Coman konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, zum Strand hinüberzurennen. »Zum letztenmal — bleib in Deckung! Wenn sie dich sehen, sind wir im Nu ein Häufchen Asche. Die Gemälde sind zerstört, und du mußt von vorn anfangen ...« Er hielt inne, fing Deenans Gedanken auf, noch bevor er ihn ausgesprochen hatte: »Zum Teufel mit den Bildern. Ich denke an meinen kleinen Metallbruder. Diese verfluchten Schweinehunde haben ihn in seiner Ecke ermordet!« Bei allen Galaxien, dachte Coman, er hat Gefühle für das Ding wie für einen Bruder. Er packte den Freund am Arm und zog ihn in eine kleine Mulde, die von. Grasbüscheln gesäumt wurde, dann stellte er vorsichtig fest, wo sich das Boot inzwischen befand. Zwei der Männer kletterten eine kleine Leiter am Heck hinunter und wateten im nächsten Moment bereits auf das Ufer zu. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt. Beide trugen Sprengstoffpistolen. Sie hielten sie über den Kopf, damit sie nicht naß wurden. Der dritte hatte sich in die vordere Kajüte zurückgezogen, eine Minute später wurden die Maschinen angelassen, und das Boot bewegte sich langsam am Ufer entlang, hielt mit den beiden Männern Schritt. Als seien sie mit dem zweiten Gesicht begabt, trotteten sie in Comans und Deenans Richtung, als sie den Strand erreicht hatten. Sie näherten sich wie zwei Punkte eines sich öffnenden Fächers, einer der Männer blieb im Sand, der andere ging im flachen Winkel auf das Binnenland zu; das Boot blieb mit dem ersten Mann auf gleicher Höhe. Ein Entkommen war unmöglich, auch konnten sie nicht länger als ein, zwei Minuten verborgen bleiben. Mit gesenktem Kopf wühlte Coman in seiner Jacke und reichte Deenan nach kurzem Zögern die Schockpistole. Damals, als sie noch miteinander im Weltraum flogen, war Deenan ein Meisterschütze gewesen. Man konnte seine gegenwärtigen Fähigkeiten nicht einschätzen, aber Coman sagte so schnell und deutlich wie möglich: »Wenn ich auftauchte, nimmst du dir den Kerl an meiner Seite vor, ich beschäftige mich mit dem anderen. Ein Schuß, paß auf, daß du triffst —
dann laß dich fallen und krieche vorwärts.« Deenan erwiderte nichts, und Coman konnte nur hoffen, daß er ihn verstanden hatte. Der erste Mann war jetzt nur noch etwa fünfzehn Meter entfernt. Er kam direkt auf sie zu und dachte: Hier ungefähr habe ich doch gesehen, wie ... Der andere war etwa zwanzig Meter entfernt, jedoch am unteren Ende des Abhanges. Beide gingen vorsichtig, die Waffe im Anschlag. »Jetzt!« schrie Coman und sprang hoch. Es erforderte mehr Nervenkraft, als er erwartet hatte, vor einem Feind zu stehen, der mit eine Strahlenpistole auf einen zielte, und diesen Feind völlig ignorieren zu müssen. In dem Augenblick, als er auf den Mann am Ufer zielte, schien sein Blut zu Wasser zu werden ... Ein Schrei, und viele Dinge ereigneten sich gleichzeitig. Die Waffe in seiner Hand gab ein flüsterndes Geräusch von sich, und er hörte, daß die Strahlenpistole und die Schockwaffe gleichzeitig begingen. Er warf sich auf den Mann, den Deenan getroffen hatte, seine Hände griffen nach der Waffe, die in den Sand gefallen war. Er fand sie, gab einen Schuß auf den sich überschlagenden Mann ab und wandte sich sofort um. Seine Augen suchten verzweifelt nach einem festen Punkt — Himmel, Meer und Strand wirbelten durcheinander. Deenan rannte den Abhang hinunter, und auch der Mann am Strand rannte vorwärts, versuchte zu zielen... Die Maschinen des Bootes standen wieder still, und plötzlich heulte die Kanone am Bug fast unhörbar auf. Im nächsten Augenblick schien einer der beiden Männer in Flammen zu stehen. Coman riß sich zusammen und rannte auf das Wasser zu. Die Strahlen-Kanone schwenkte herum, und er rannte in wildem Zick-zacklauf. Als sie erneut abgefeuert wurde, schien die Erde dicht neben ihm eine einzige Eruption aus Rauch und Sandkörnern zu sein. Dann stand er im Wasser, so dicht am Boot, daß ihn die Kanone nicht erreichen konnte. Er erreichte die Leiter und kletterte hinauf; er erwartete jeden Augenblick niedergemacht zu werden. Als er jedoch unter sich das Geräusch der Maschinen vernahm, wußte er, daß sein Gegner wieder im Ruderhaus war. Einen Moment später war er über die Reling geklettert, und das Boot entfernte sich vom Ufer. Durch das Fenster der vorderen Kajüte erkannte er das Gesicht des Mannes, hinter dem er her war. Selbst in seinen besten Zeiten mußte der Kerl
außergewöhnlich häßlich gewesen sein, aber jetzt war sein Gesicht nur noch eine Grimasse, von Furcht und Haß verzerrt. Der Mund bewegte sich, unverständliche Laute kamen heraus, und Coman starrte den Mann fasziniert an. Als er die Strahlenpistole hob, verschwand das Gesicht schließlich, das Ruder wurde herumgeworfen, und eine Sekunde später stürzte sein Gegner aus der Kabine und sprang über Bord. Plötzlich machte sich die Reaktion auf den Schock bemerkbar. Mit zitternden Gliedern sah Coman zu, wie die untersetzte Gestalt auf die Füße taumelte und durch die hohen Wellen stolperte. Die Arme schlugen wie Dreschflegel durch die Luft. Er grinste schwach, seine freie Hand tastete automatisch nach einer Zigarette. Als er sie anzündete, hatte die Gestalt gerade den Strand erreicht und taumelte auf das Innere der Insel zu. Er hätte den Mann ohne weiteres mit der Strahlenkanone treffen können, aber er machte sich die Mühe nicht. Seine Augen wanderten nach Westen, wo die beiden schwarzen Gestalten in den Dünen lagen. Das Boot trieb auf das Festland zu. Coman ging ins Ruderhaus, drückte den Starter, und als die Motoren zu dröhnen begannen, schwenkte er das Fahrzeug herum und fuhr gegen die Strömung. Als er den Kampfplatz wieder erreichte, stellte er die Maschinen ab und setzte das Boot behutsam in den Sand. Deenan lag ein paar Meter neben der Leiche des Gegners, und einen Augenblick dachte Coman, auch er sei tot. Seine Fleischteile schienen jedoch unbeschädigt zu sein, obgleich ein Teil des metallenen Magens von der Hitze aufgerauht und verfärbt und das »Fenster« verbogen und undurchsichtig war, spürte er zwischen den Kunststofflippen noch Atem, und in den Blutgefäßen, die hinter einer anderen Scheibe zu sehen waren, konnte Coman den starken Herzschlag erkennen. Er kniete nieder und hob die schwere Gestalt auf. Da schlug Deenan die Augen auf, öffnete den Mund und gab einen obszönen Ausdruck von sich. »Erkennst du mich?« fragte Coman, der befürchtete, daß die Gehirnstruktur möglicherweise verletzt war. Deenan lachte, stand aus eigener Kraft auf, schwankte; er war eine groteske Gestalt, aus seinem schimmernden Hinterteil ragte ein dehnbarer Stab, aus der Metallhülse wuchsen braune Beine,
die besorgniserregend schwach und verletzlich aussahen. »Wie hätte ich dich vergessen können? Du hast das Boot gewendet und bist zurückgekehrt.« Coman unterdrückte seine tiefe Bewegung, und sein Gesicht sah steinern aus. »Willst du damit sagen, daß du dachtest, daß ich mich davonmache?« »Warum nicht? Ich kann dir doch nicht nützen.« Coman erwiderte nichts und schaute zum Himmel empor. Als der Roboter im Haus geschmolzen war, mußte automatisch ein Alarmsignal zur Hauptdienststelle der Polizei gegeben worden sein, aber noch immer rührte sich nichts. Auf dieses Rätsel gab es nur eine Antwort, und er akzeptierte sie ohne übermäßige Sorgen oder Ärger. »Such lieber deine Sachen zusammen und zieh dich an«, sagte er. Sie erklommen gemeinsam den Abhang und fanden schließlich die wenigen Besitztümer, die Deenan nun noch sein eigen nannte, dort wo er sie verlassen hatte. »Komm, schau dir dein neues Zuhause an«, sagte Coman und zeigte auf das Boot. Die Flut drohte es in Kürze fortzuspülen. Die beiden Männer liefen den Hang hinunter, schoben das Boot ins Wasser und kletterten an Bord. Als sie im tiefen Wasser waren, unternahm Coman eine Inspektionsrunde und machte Inventur. Was er sah, stimmte ihn zufrieden. Das Boot war fünfzehn Meter lang, hatte hinten drei und vorn eine Kajüte mit vielen Raffinessen und Luxuseinrichtungen. Außer der Strahlenkanone, die er zerlegte und verstaute, fand er ein regelrechtes Waffenlager und genug Vorräte, um eine ganze Armee während einer langen Belagerungszeit zu versorgen. Dann untersuchte er Deenan gründlich und stellte fest, daß seine Maschinerie nicht ernstlich verletzt worden war. Mit Erleichterung sah er, daß er die oberflächlichen Fleischwunden und Verbrennungen selbst mit Hilfe der Bordapotheke verarzten konnte. Danach kochte Coman Kaffee und schaltete den Kurzwellensender an seinem Handgelenk ein. Schließlich vernahm er Jonls Stimme. »Claus ?« »Ja.« »Dem Himmel sei Dank.« »Warum — habt ihr Schwierigkeiten?« »Nein, du Idiot, ich habe mich gefragt, wo du steckst.« »Wieso?«
»So dumm, wie du denkst, bin ich nicht. Du bist jetzt in Sicherheit, nicht wahr, Liebling?« »Absolut, und ich habe meinen Auftrag erledigt.« »Das habe ich mir schon gedacht, als ich die neuesten Nachrichten hörte. Du kannst also kommen und uns abholen, wann es dir paßt.« »Wie steht's mit euch?« »Langweilig und ein bißchen komisch.« »Wie meinst du das?« »Jark Raylond bildet sich ein, er sei in mich verliebt — richtig verliebt.« »Aha. Und glaubst du, daß das stimmt?« Sie schien einen Augenblick zu zögern, dann sagte sie: »Ich weiß es wirklich nicht genau — ist das denn wichtig, Claus? Es wäre zu einfach, wenn ich sagte, er begehrt mich nur. Er hat versucht, mich zu betören, auf die vornehme Art — ein wenig anders als beim ersten Versuch. Es sieht so aus, als fände hier heute Abend eine Party der ortsansässigen Intelligenz statt. Vermutlich wird auch der Sex nicht zu kurz kommen.« »Etwa, um dich in Stimmung zu bringen?« Sie lachte schrill. »Vielleicht. Ich habe versucht, ihm klarzumachen, daß es in meinem Leben nur einen Mann gibt, aber entweder kann er es nicht verstehen, oder er will nicht.« »Und Sein?« »An ihr hat er kein Interesse, obgleich ich mir vorstellen könnte, daß auch sie während der Party in Schwierigkeiten gerät.« »Allmählich begreife ich, warum ich euch zwei so schnell wie möglich abholen sollte.« »Gut. Ich hoffe, es wird keine — Schwierigkeiten geben, aber langsam finde ich die Sache ungemütlich.« »Was ist los?« Durch die atmosphärischen Störungen hindurch konnte er in ihrer Stimme eine gewisse Anspannung entdecken. »Er scheint sich in die Idee verrannt zu haben, und seine Mutter findet die Sache anscheinend ausgezeichnet. Sie betet ihren Sohn an; sie hilft ihm und unterstützt ihn in allen seinen Neigungen.« »Verstehe. Kann ich die Sperren des Hauses ohne weiteres passieren?« »Ja, ich werde den Wachen Bescheid sagen. Übrigens »Ja?« »Machen wir jetzt wirklich Urlaub?«
Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Ja. Ich plane eine kleine Seereise.« »Oh, herrlich! Wann können wir dich erwarten?« »Heute nachmittag gegen vier Uhr.« 12 Zwei Roboter bewachten den Eingang. Beide sahen ziemlich menschlich aus. Sie bewegten sich gleichzeitig, und während der eine sprach, fingerte der andere an einer Waffe herum. »Ja, bitte?« »Claus Coman.« Sie inspizierten ihn schweigend, dann öffnete derjenige, der gesprochen hatte, das Tor und ließ ihn ein. »Bitte steigen Sie auf das Laufband und verhalten Sie sich, wie es sich gehört.« Während er bequem über einen langen Rasen transportiert wurde, in dessen Mitte ein Teich mit einem Springbrunnen lag, der in der Abendsonne glitzerte, mußte Coman unwillkürlich darüber nachdenken, daß man von jetzt an über Roboter Gedanken senden würde. Es war sechzehn Uhr dreißig. Er hatte sich verspätet und fragte sich, ob die »Party«, die Jonl erwähnt hatte, bereits im Gange war. Er wollte nur die beiden Mädchen abholen und auf das Boot bringen, das jetzt hoffentlich irgendwo zwischen Ellice und Samoa kreuzte. Deenan schien kräftig genug zu sein. Coman verließ sich auf ihn, er würde schon mit dem Boot zurechtkommen, bis sie sich an der vereinbarten Stelle trafen. Coman wußte nicht, ob die Polizei sich aktiv an einem neuen Anschlag auf sein Leben beteiligen oder sich lediglich passiv verhalten würde, während andere, falls es noch andere gab, ihn verfolgten. Auf jeden Fall hatte er jetzt die Möglichkeit, mit seinen Freunden zu verschwinden, während sich die Maschinerie zur Errichtung einer Kriegssektion langsam in Bewegung setzte. Als er das Haus erreichte, erwarteten sie ihn bereits an der Tür in Gesellschaft von Jark Raylond. Die Mädchen begrüßten ihn lediglich mit einem Blick, aber Jark sagte: »Hmm, Sie sind ein bißchen früh dran — macht nichts, die übrigen Gäste werden nicht lange auf sich warten lassen. Kommen Sie herein und trinken Sie etwas.« »Vielen Dank«, sagte Coman. »Es war sehr liebenswürdig von
Ihnen, daß Sie Jonl und Sein während meiner Abwesenheit unterhalten haben, aber nun wollen wir Sie nicht länger belästigen.« »Aber ich bitte Sie, ist das der Dank für meine Gastfreundschaft? Sie können wenigstens etwas trinken und sich meiner Mutter vorstellen lassen. Sie sind doch nicht etwa auf der Flucht?« Coman starrte ihn an, aber abgesehen von der Frustration und Hilflosigkeit, die für das Zeitalter bezeichnend waren, konnte er keinen verräterischen Gesichtsausdruck entdecken — außer dem fast verzweifelten Wunsch, Jonl zu besitzen. Angesichts Comans Ankunft sah Jark sich gezwungen, neue und ausgefallenere Methoden zu entwickeln, um sein Ziel zu erreichen. Coman dachte: Hier riecht es nach Gefahr. Eine verlegene Pause entstand, dann sagte Jonl lächelnd: »Wir haben gerade versucht, Jark davon zu überzeugen, daß wir fort müssen, wenn du kommst. Aber er hat gar nichts davon wissen wollen. Vielleicht sollten wir doch noch ein wenig bleiben — damit du wenigstens Mrs. Raylond kurz begrüßen kannst.« Coman runzelte die Stirn, berührte leicht ihre Wange und liebkoste dann Sein. »Es wäre wirklich flegelhaft, wenn ich mich weigerte. « Das Gebäude war im Bungalow-Stil erbaut und hatte riesige Ausmaße, solide Wände und eine Beleuchtung, die von Hand bedient werden konnte. Als sie Raylond folgten, erkannte Coman, daß er auf Mittel und Wege. sann, ihn aus dem Wege zu räumen. Außerdem erkannte Coman, daß es ihnen, falls sie sich geweigert hätten, noch länger zu bleiben, unmöglich gewesen wäre, an den Robotern am Eingang vorbeizukommen. Er saß erneut in der Klemme. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt Vorwürfe zu machen, daß er vorgeschlagen hatte, Jonl und Sein sollten hier wohnen. Er überlegte, wie er die Glut des jungen Mannes kühlen oder ihn auf andere Weise überlisten konnte. Wenn er keinen Ausweg fand, würden sie für unbestimmte Zeit Gefangene sein. Die beiden Frauen ahnten nichts von der unangenehmen Lage, in der sie sich befanden. Sie freuten sich über seine Rückkehr — Sein ganz offen, Jonl mit einem gelegentlichen Seitenblick. Sie betraten einen riesigen Raum mit gekacheltem Boden; die Luft war leicht parfümiert, Musik ertönte; das Zimmer war mit klei-
nen, wunderbar gearbeiteten Möbeln ausgestattet und mit vielen Kunstwerken, die von Planeten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems stammten. Als sie eintraten, erhob sich eine majestätische, stark geschminkte Dame, um sie zu begrüßen. Als Jark den Gast vorstellte, reichte sie ihm die Hand und lächelte. »Sie sind also Claus Coman«, sagte sie. »Ein glücklicher Mann, der in dieser Zeit mit zwei so intelligenten und hübschen Frauen liiert ist.« Sie gab sich liebenswürdig, aber Coman ließ sich nicht täuschen. Er wußte, daß er in ihren Augen ein Hindernis für das Glück ihres Sohnes und somit ein Feind war. Er ergriff das von Juwelen schwere Handgelenk, berührte es flüchtig mit der linken Hand und verneigte sich. »Ich bin davon überzeugt, daß auch Sie die Liebe erfahren haben, gnädige Frau«, sagte er kühn. »Das stimmt. Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Coman. Was möchten Sie trinken — Tee?« Er nickte leicht überrascht, und sie nickte ebenfalls. »Ich weiß nämlich über Sie Bescheid -- ich weiß sogar, daß Sie direkt von den Engländern abstammen. Da diese Nation unter der großen Katastrophe mehr als jede andere gelitten hat, gibt es nur noch sehr wenige von Ihnen, nicht wahr?« Er antwortete: »Nur ein paar hundert Menschen konnten entkommen, unter ihnen waren meine Großmutter und ihr kleiner Sohn.« »Faszinierend«, sagte Jark. »Ich werde etwas Stärkeres als Tee trinken.« Er gab dem Roboter ein Zeichen, und schon erschien er mit einer Anzahl von Getränken. Comans Tee wurde auf einem separaten Tablett auf die alte Art serviert, mit Teekanne, Tasse, Untertasse, Milchkännchen und Zuckerschale. Er schmeckte vorzüglich. »Stört Sie die Musik?« fragte ihn seine Gastgeberin. »Nein, ich mag Vaughan Williams sehr gern. Dies ist die Dritte Symphonie, nicht wahr?« Sie strahlte. »Ja. Es ist ein Jammer, daß so wenig von Sibelius erhalten ist, dem Meister, der ihn — das nimmt man wenigstens an — weitgehend beeinflußt hat.« Trotz der Tatsache, daß sie keine Freunde sein konnten, fühlte sich Coman von ihr angezogen. Obgleich sie kein Telepath war, besaß sie übersinnliche Kräfte anderer Natur, die man allgemein
als »psychisch« bezeichnete, eine Gäbe, mit der man wenig anfangen konnte, weil sie von sprichwörtlicher Unzuverlässigkeit war. Diese Kräfte reichten jedoch aus, um sie von den »normalen« Menschen zu unterscheiden. Als er versuchte, ihre inneren Gedanken zu lesen, merkte er, daß er nicht über ihr Bewußtsein hinausdringen konnte, ohne daß sie es merkte. Da sich ihre Gedanken jedoch hauptsächlich um ihren Sohn drehten, begriff er schon bald, daß sie fürchtete, Jark könnte in Kürze etwas Verderbliches, Tragisches unternehmen und einer von denen werden, die überall auf der ganzen Erde verrückt spielten und mordeten, wie ihnen gerade der Sinn danach stand. In diesem Augenblick ertönte ein Summer, und Jark sagte: »Das werden die ersten Gäste sein. Ich führe sie in das Terrassenzimmer.« Als er fort war, goß Mrs. Raylond Coman eine zweite Tasse ein, und als sie sie ihm reichte, sagte sie ruhig: »Sie haben gerade von der Liebe gesprochen. Auch mein Sohn hat sich verliebt, zum erstenmal in seinem Leben.« Sie machte eine bestimmte Handbewegung, die Musik verstummte. Jonl sagte freundlich: »Sehen Sie, Doln ...« Die ältere Frau schnitt ihr das Wort ab. »Nein. Lassen Sie mich ausreden. Ich glaube an die Liebe, jawohl — zwischen zwei Menschen, aber nicht zwischen dreien. Dieser Mann liebt Sie nicht — er liebt sich selbst.« Angespannte Stille folgte, und Coman trank schweigend seinen Tee. Jonl machte noch einen Versuch: »Sie verstehen nicht ...« »O doch. Ich weiß, daß in Ihnen eine lesbische Neigung steckt, der Hauptgrund dafür ist jedoch, daß Sie diesen Mann nicht tief genug lieben. Sehen Sie nicht, daß bei meinem Sohn ...« Nun unterbrach sie Jonl. Mit funkelnden Augen sagte sie: »Glauben Sie nicht, daß drei Menschen glücklich miteinander sein und ihre Liebe teilen können?« »Das hat zuviel mit dem Fleisch zu tun«, sagte Mrs. Raylond. Coman sagte beherrscht: »Manchmal erreicht man durch das Fleisch das, was dahintersteckt. Wenn der Körper völlig befriedigt ist, dann hat die Seele, oder wie auch immer Sie es nennen wollen, freies Spiel.«
Mrs. Raylond öffnete den Mund, und es hatte den Anschein, als wollte sie eine heftige Entgegnung machen, dann blickte sie ihn scharf an. »Sind Sie Telepath?« Er nickte und erkannte ihr Ressentiment. Sie hatte den Unterschied erkannt und wußte nun, daß sie einer stärkeren Kraft gegenüberstand, als sie erwartet hatte. Einen Augenblick lang war sie außer Gefecht gesetzt. Sein sagte leise: »Ich glaube nicht, daß man Jarks Verlangen nach Jonl sehr viel Bedeutung beimessen sollte. Ich glaube, es hängt vielmehr damit zusammen, daß bestimmte Männer in einem Zeitalter, in dem fast jede Frau bereitwillig mit jedem Mann ins Bett geht, eine Frau, die anders ist, in hohem Maße begehrenswert finden.« Mrs. Raylond zuckte gereizt die Schultern. »Er braucht eine Frau wie Jonl. Er ist dickköpfig und kindisch, aber diesmal ist er verliebt, und die Qualitäten, die er von seinem Vater geerbt hat, werden zutage treten, sobald er mit der richtigen Frau verbunden ist.« »Immerhin gehören zwei dazu«, sagte Jonl. »Und ich denke, ich habe deutlich gezeigt, daß ich nicht im mindesten interessiert bin. Sie wissen genau, daß diese ganze Diskussion völlig überflüssig ist.« Mrs. Raylonds Gesicht schien einzufallen, und erneut erkannte Coman ihre Angst. »Er ist fast am Ende seiner Kräfte — er wird sich das Leben nehmen!« sagte sie abrupt und sah Jonl verzweifelt an. »Sie wissen ebenso gut wie ich, warum die Menschen Selbstmord begehen — Selbstverachtung, Einsamkeit, Verzweiflung, Sehnsucht nach Liebe, nach einem Halt.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er so labil ist«, sagte JonL Aber sie wich dem Blick der älteren Frau aus. Coman sagte ruhig: »Das ist eine Krankheit, die nur das Opfer selbst heilen kann, gnädige Frau.« Er erhob sich. »Ich glaube wirklich nicht, daß Sie einen Selbstmord befürchten müssen, Mrs. Raylond, aber ich denke, wir sollten uns jetzt unverzüglich empfehlen.« »Niemand hält Sie auf«, sagte sie gleichgültig. Er sagte geduldig: »Würden Sie bitte die Roboter am Eingang benachrichtigen, damit wir passieren können?« »Was für ein Unsinn. Es ist nicht nötig. Sie brauchen nur ...« »Mr.
Coman und seine Begleiterinnen dürfen uns noch nicht verlassen, Mutter.« Jark war zurückgekehrt und stand nun in der Tür. Lächelnd fuhr er fort: »Warum kommen Sie nicht ins Wohnzimmer und lernen die anderen Gäste kennen? Es ist eine interessante Mischung, und ich bin sicher, daß ihre Possen und ihre Unterhaltung Sie fesseln werden.« »Die Gäste bildeten einen ziemlich genauen Mikrokosmos der Menschheit der letzten Jahre des 21. Jahrhunderts. Vor der Atomkatastrophe hatten sich Kunst und Wissenschaft auf der gleichen Ebene intellektueller Bedeutung befunden, obgleich sie voneinander getrennt waren und sich beinahe feindlich gegenüberstanden. Nach der Katastrophe jedoch war die Wissenschaft auf einen Platz verbannt worden, der weit unter dem früheren Status lag. Nach Ansicht der Männer, die in den Tagen der Wiederherstellung und des Aufbaus an die Macht gekommen waren, hatten die Wissenschaftler ihr Recht verwirkt, als Menschen betrachtet zu werden, die die gleiche humanitäre Verantwortung besaßen wie Philosophen und Denker, die seit Jahren die Welt vor den Gefahren, die das Überleben bedrohten, gewarnt hatten. Es war nutzlos, daß sie protestierten, es sei nicht ihr Fehler, daß man ihre Erfindungen zu zerstörerischen Zwecken verwendet hatte; es war sogar nutzlos, daß sie darauf hinwiesen, daß die Geschwindigkeit, mit der man die neue Welt aufbaute, größtenteils ihrer Arbeit zu verdanken war — nach der Katastrophe waren sie gezwungen, sich bis dahin unbekannten Kontrollen und Beschränkungen zu unterwerfen, und die Künste wurden zur einzig anerkannten Quelle, aus der sich die neue Intelligenz rekrutierte. Im Laufe der Zeit waren die meisten von ihnen leider Hersteller der zahllosen Traumwelten geworden, die stündlich aus Hunderten von Hör- und Fernsehstationen ausgestrahlt wurden, Schöpfer und Lieferanten »neuer« Empfindungen und Sensationen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die in den Träumen auftraten, die Kritiker und Bewunderer, Schmeichler und Berater, Gönner und Mittelsmänner — sie alle waren längst erschöpft durch Eifersucht, Meinungsverschiedenheiten, Geschäftigkeit und Intrigen, so daß sie oft wie Pappfiguren erschienen, die vom winzigsten Hauch der Feindschaft oder von
einem Mißgeschick umgeblasen zu werden drohten. Auf viele traf das auch zu, aber die meisten waren stärker, als sie aussahen. Sie konnten nicht aufhören zu denken, aber sie hatten sich darauf trainiert, nichts dabei zu fühlen. Sie liebten Essen und Trinken, es mußte jedoch das Beste sein. Sie genossen den Sex, er mußte jedoch exotischer Natur sein, am liebsten aus zweiter Hand durch Hören und Sehen. Liebe im alten Sinn war für sie bedeutungslos. Sie prüften die Gewalt, ebenfalls aus zweiter Hand, untersuchten ihre Bedeutung, ihre Werte, schwelgten in den blutrünstigsten Details und spannen alle möglichen philosophischen Theorien aus, um ihre Existenz in einer Gesellschaft zu erklären, die den Menschen innerhalb vernünftiger Grenzen alles zur Verfügung stellte. Coman hielt ein Glas in der Hand und beobachtete, wie die Menschen lachten, plauderten, herumalberten, und er empfand nichts als grenzenlose Langeweile und den beinahe peinigenden Wunsch fortzugehen. »Man kann sich heutzutage absolut nirgends mehr sicher fühlen«, sagte ein Mann mit karminrot gefärbten Lippen, und in seiner Stimme klang ein Unterton von Triumph mit, als wollte er hinzufügen: >Sie sehen also, wir haben fast das Ende erreicht, das endgültige Ergebnis vieler Jahrhunderte Zivilisation. Wenn das zutrifft, dann ist überall Gewalt — was wird mit uns geschehen? Ein Mädchen, dessen Brüste durch das Kleid schimmerten, erwiderte: »Natürlich wissen Sie, was nun geschehen wird, nicht wahr? Das Pendel wird umschlagen, bis man nicht einen einzigen Geschlechtsakt mehr auf dem Bildschirm zu sehen bekommt, und dann wird eine Periode folgen, in der die Frau ihr früheres Mysterium zurückerhalten wird. Es muß so kommen.« Ein kahlköpfiger Mann, der bereits so voller Aufputschmittel hereingekommen war, daß er nur noch über das, was seinem Herzen am nächsten lag, sprechen konnte, erklärte: »Diese Kriegssektion wird eine gute Sache werden. Da kann man eine Menge Beute machen. Ich habe Verbindungen und kann Ihnen versichern ...« In einiger Entfernung unterhielt sich Mrs. Raylond mit Freunden, aber Jark war nirgends zu entdecken. Am anderen Ende des Raumes sah Coman Sein und Jonl dicht beieinander. Anscheinend, unterhielten sie sich ausgezeichnet. Man konnte
sich ohne weiteres vorstellen, daß dies eine völlig normale Party war und die beiden Mädchen fröhliche Gäste in einer harmlosen sympathischen Umgebung. Bildete er sich Gefahren ein, die nicht existierten? Vorübergehend verlor er die Orientierung, es war, als löse er sich auf. Das war bei Telepathen nicht selten; fast gleichzeitig schaltete sich sein Abwehrmechanismus ein und brachte ihn wieder in die Realität zurück. Gerade da schaute Jonl ihn an, und er sah ihre Augen, die im Gegensatz zu den lächelnden Lippen angstvoll schienen. Er ging auf sie zu und zog sie in einen verhältnismäßig ruhigen Platz des Raumes. Dies war für beide die erste wirkliche Gelegenheit, miteinander zu sprechen. »O Claus, wann werden wir hier herauskommen?« »Ich dachte, du unterhältst dich«, sagte er und beobachtete Sein, die mit einem großen jungen Mann zu einer eigenartigen Melodie tanzte, die von einer Welt stammte, die fast fünfzig Lichtjahre entfernt war. »Das stimmt nicht. Ich fürchte mich sehr. Wann gehen wir?« Der Mann, mit dem Sein tanzte, sagte: »Natürlich stimme ich Ihnen darin zu, daß in gewisser Hinsicht alle Lebensformen des Universums Teil ein und derselben Brüderschaft sind, aber wenn einige Leute meinen, wir sollten sie als gleichberechtigt akzeptieren, dann ist mir immer, als müßte ich mich übergeben.« Gleichzeitig dachte er: Bei Jupiter, die ist hübsch. Ich würde ein kleines Vermögen geben, wenn ich sie in einer Liebesmaschine sehen könnte. Comans Blick fiel durch die langen Fenster auf die Terrasse. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und hinter einem unsichtbaren Schirm hüpften und flatterten Tausende von Insekten, die vergeblich versuchten, ins Zimmer zu gelangen. Er sagte: »Wir sind so gut wie gefangen. Gibt es noch einen anderen Ausgang als das Tor?« Jonl beantwortete die Frage nicht sofort. Sie hob den Kopf, schaute ihn an und murmelte: »Das habe ich mir schon gedacht. Es ist mein Fehler ...« »Unsinn. Raylond ist krank, und man kann ihm nicht helfen. Du warst die erste Frau, die ihm einen Korb gegeben hat, und das hat ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Der Ausgang ...?« »Das Haus ist völlig einbruchsicher. Es gibt nur ein Tor, der Rest ist ständig von einem undurchdringlichen Strahlenzaun um-
geben.« »Es muß doch eine Art Schalter geben ...« »Nein. Das ist ein automatischer Strahl, direkt vom Polizeihauptquartier. Er wird lediglich' auf Befehl von Mrs. Raylond oder ihrem Sohn abgeschaltet. Ich habe dir, glaube ich, bereits erzählt, daß sie hier sehr einflußreich ist und aus diesem Grunde besondere Privilegien genießt.« »Das ist großartig, einfach großartig!« Jonl starrte ihn an, ihr ovales reizvolles Gesicht war ruhig und ernst. »Als du zurückkehrtest, strahltest du Gewalt aus. War es — schlimm, Claus?« Er zuckte die Schultern. »Vergessen wir das. Wenn wir das Haus verlassen — und wir werden hinauskommen —, dann werden wir drei richtig Urlaub machen. Sonne und Meer ...« Jonl ließ ihn nicht aus den Augen. »Es war schlimm, nicht wahr?« Coman schwieg, ihre Augen begegneten sich, und plötzlich wußte Jonl, daß dieses Gefühl zwischen ihnen beiden nichts mit Gefahr oder Tod zu tun hatte. »Die Frau, der du begegnet bist?« fragte sie. »Ja, die Frau.« »Du bist bis in ihr Innerstes gedrungen.« Sie wandte sich ab. Er spürte den Kampf, die Verwirrung in ihr und kontrollierte dennoch den Impuls, ihre Gedanken zu lesen. Ihr Gefühl sagte ihr, daß nichts von Bedeutung geschehen war zwischen ihm und der anderen Frau — nichts, was das Band zwischen ihnen gefährden konnte —, aber es blieb die Frage: Warum? Auch Coman hatte sich am Morgen diese Frage gestellt, als er neben Linnel erwacht war. Er hatte niemals, nicht einmal während der langen Monate auf der Venus, das Verlangen nach einer fremden Frau empfunden, warum also jetzt? Die Frage lag auf der Hand, und schließlich wandte Jonl ihm ihr Gesicht wieder zu und sagte leise: »Ich habe dich lange warten lassen, Claus, nicht wahr?« Seine Finger glitten sanft ihr Gesicht entlang, bei der Berührung hob sie ihre Hand und murmelte: »Ich bin bereit, es durchzustehen — in deine Welt zu gelangen.« Es stimmte also. In diesen wenigen Sekunden hatte Jonl ihrer Furcht Herr werden und ihm die Schranken ihres Verstandes öffnen können. Sie sprach weiter, so leise, daß er nur mit Mühe die Frage ver-
stehen konnte: »Und Sein?« »Es wird sich nichts ändern. Wenn du und ich völlig umschlossen sind, müssen wir ihr helfen, auch dorthin zu gelangen — und dann sind wir drei wieder beisammen. Es wird wie ein Wunder sein, ist dir das klar?« Jonl nickte zitternd, sie war ein Opfer unnennbarer Ängste und doch bereit, zu glauben, daß er recht hatte und daß alles gut werden würde. Sein hatte unvermittelt aufgehört zu tanzen und entfernte die Hand ihres Partners von ihrem Hinterteil. »Hol Sein«, sagte Coman, »bring sie auf die Terrasse. Laß dir Zeit, mach es so unauffällig wie möglich: Wir müssen einen Plan schmieden.« Als Jonl fort war, ging er wie zufällig durch das Gedränge, bis er an die langen Fenster kam, und nach einem schnellen Rundblick, mit dem er sich vergewisserte, daß ihm niemand zuschaute, öffnete er einen Flügel und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit Es war nicht völlig dunkel. Schimmerndes Mondlicht tauchte den Rasen in bleiches Silber, aber auf die Terrasse fielen Schatten. Jark mußte gewartet haben, er hatte alle bewußten Gedanken beiseite geschoben, denn Coman bemerkte seine Anwesenheit erst, als er plötzlich aus dem schwarzen Schatten einer Urne im Mauerwerk der Terrasse hervortrat. Coman sah das Glitzern einer Waffe. Er atmete tief und wartete entspannt, bis schließlich der Wächter in seinem Verstand, der plötzlich unerklärlicherweise ermüdet schien, sich bequemte, die Möglichkeit des bevorstehenden Ausgelöschtwerdens zu erkennen. Jark sagte: »Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie früher oder später herauskommen würden. Sie wissen, was ich will; brechen Sie mit Jonl. Und wenn Sie nicht einwilligen, dann töte ich Sie. Das ist ganz einfach.« Coman las die Gedanken des jungen Mannes und wußte, daß er es mit dieser Drohung ernst meinte. Er sagte ruhig: »Eine Bindung ist eine Bindung, und man kann ein Gesetz nur dann brechen, wenn beide Partner damit einverstanden sind.« »Zum Teufel mit diesem Blödsinn. Ich kann nur mit Jonl glücklich werden, und Sie fesseln sie mit ihren seltsamen Geisteskräften an sich. Sie braucht doch nur zu versuchen, an irgend etwas zu denken, mit dem Sie nicht einverstanden sind,
und Sie wissen es schon, bevor sie es weiß, und können sie auf der Stelle >berichtigen<. Glauben Sie denn, ich weiß nicht, wie weit Ihre Klugheit reicht? Und ich übersehe auch nicht die Vorteile, die Leute Ihrer Art gegenüber anderen Menschen haben.« Coman sagte: »Sie sind ein Narr. Jede beliebige Frau trägt den Samen dieses Glücks, das Sie suchen, in sich. Sie müssen sich nur die Mühe machen, diesen Samen zu finden und aufzuziehen.« »Versuchen Sie nicht, mich irrezuführen, Coman. Zu einer anderen Zeit mag dieser Quatsch etwas bedeutet haben, aber Sie und ich wissen, daß man heutzutage Glück kaufen kann oder es sich nehmen muß.« »Warum machen Sie sich dann die Mühe, meine Einwilligung zu bekommen? Sehen Sie lieber, daß Sie mich umlegen.« Coman war plötzlich wütend und traurig. Er suchte in sich selbst nach Antworten, erkannte, warum er den jungen Mann von Anfang an nicht gemocht hatte: Jark glich zu stark dem Menschen, der er selbst vor zwanzig Jahren gewesen war. Die gleiche Unruhe, die Hoffnungen und Träume, das Gefühl, in der falschen Zeit zu leben, der gleiche übertriebene Wunsch nach »Wahrheit«, die gleiche Erkenntnis der menschlichen Einsamkeit und das verzweifelte, gefühllose Verlangen nach Frauen. »Warum drücken Sie nicht ab, Jark?« »Das hat Zeit. Sie können nichts tun, und ich riskiere so gut wie gar nicht, bestraft zu werden, wenn ich Sie umbringe. Es gibt hier in der Regierung bestimmte Leute, die gern sähen, wenn Sie verschwinden — wußten Sie das?« »So?« »So!« äffte ihn Jark nach, seine Stimme klang jetzt gereizt. »In Wirklichkeit möchte ich Sie nicht töten, warum geben Sie nicht nach, Coman? Vor langer Zeit hat man beschlossen, daß alle Männer und Frauen die Freiheit haben, sich miteinander zu vergnügen und zu liieren, solange die Blutsverwandtschaft nicht berührt wird. Warum klammern Sie sich an eine Lebensauffassung, die altmodisch und grundlegend falsch ist?« Er wußte, daß er Unsinn redete, daß es hoffnungslos war und daß er, selbst wenn er Jonls Körper besaß, nicht das hatte, was er eigentlich wollte, und aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus würde er gleich abdrücken. Gerade in diesem Augenblick erschien auf dem bleichen Rasen der lange Schatten einer Kreatur, die in gewisser Weise Ähnlich-
keit mit einem Menschen hatte. Coman beobachtete die Gestalt über Jarks Schulter hinweg mit ungläubigem Staunen. Er sagte: »Wenn Sie mich töten, so bringt Sie das nicht weiter. In diesem Falle hilft Ihnen Kaufen oder Nehmen überhaupt nichts. Sie sind intelligent genug, uni das zu wissen. Ihre Mutter hat das Geld und den Einfluß, die Drogen und die Behandlung zu bezahlen, die Jonls Haltung Ihnen gegenüber verändern würde, wenn ich nicht mehr bin, aber mit dieser Veränderung hätte sich auch die Frau, die Sie jetzt lieben und bewundern, gewandelt, und Sie hätten nur den Schatten, nicht die Substanz ...« Er wußte, daß er das Falsche gesagt hatte. Besser wäre es gewesen, wenn er geflucht oder gebettelt hätte, anstatt an den gesunden Menschenverstand des jungen Mannes zu appellieren, denn jetzt hob er die Pistole, zielte. »Sie Halunke. Mit Ihrer Glattzüngigkeit übertölpeln Sie mich nicht ...« Hinter sich spürte Coman, daß Sein und Jonl kamen. Er spannte sich, die alten Instinkte kehrten zurück. Und doch glich die Waffe dicht vor ihm einem Schwert; er konnte kaum atmen. Und dann erschien um Jarks Kehle plötzlich ein Handgelenk, sein Kopf wur de nach hinten gezogen. Wie eine Feder schnellte Coman vor und schlug die Pistole zur Erde. Als sie mit metallenem Klirren auf die Steine fiel, schlug er noch einmal zu, diesmal in das auswärtsgerichtete Gesicht, direkt unter das Ohr. Der junge Mann sackte zusammen, sank lautlos auf die Erde. Über dem Mauerwerk erschien das groteske, erschreckende Gesicht Deenans. Coman starrte ihn an, die halbwegs geformte Frage erstarb ihm auf den Lippen. Deenan würde für sein Kommen keinen logischen Grund angeben können. >Irgend etwas in seinem Verstandskasten< hatte ihm gesagt, er solle das Schiff verlassen und schnell hierher kommen. Und das war ein guter Gedanke. Coman wandte sich an die beiden Frauen, die auf die Terrasse hinausgetreten waren. »Schließt die Fenster«, sagte er. Während Sein seinen Worten nachkam, trat Jonl auf ihn zu. »Was ist geschehen?« Sie blieb stehen, als sie Deenan erblickte. »Nichts. Jark wurde unangenehm, weiter nichts. Hast du ein Taschentuch?« Johl reichte es ihm schweigend, während Sein wie erstarrt zuschaute, als Deenan über die Balustrade sprang. Coman stopfte
Jark das Taschentuch in den Mund, löste die Kordeln von der Hose des jungen Mannes und band sie um Mund und Kopf, fesselte ihm die Handgelenke auf dem Rücken. »Hilf mir, ihn außer Sichtweite zu tragen«, sagte er zu Deenan. Gemeinsam trugen sie den schlaffen Körper die Treppe zum Rasen hinunter in den Schatten der Büsche in der Nähe des Sees. »Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?« fragte Co-man endlich. »Ich habe mit ihnen geredet, und sie waren gehorsam. Für sie bin ich etwas Besonderes, eine bessere und fortschrittlichere Version ihrer eigenen Gattung. Warum bin ich nicht früher hergekommen? Ich könnte König der Roboter sein. Ich kann nämlich direkt mit dem >geschlossenen Rätsel< ihres Verstandes in Verbindung treten.« Coman lächelte fasziniert über diese Möglichkeit. Seitdem man menschenähnliche Roboter baute, hatten die meisten Leute festgestellt, daß in ihren Denkvorrichtungen etwas Ungewöhnliches existierte, eine unbekannte Eigenschaft, die man nicht während des Montageprozesses eingebaut hatte. Wissenschaftler und Ingenieure hatten längst aufgegeben, diese Eigenschaft vermeiden und ausschalten zu wollen. Einige der Maschinen sprachen ein wenig merkwürdig, betonten die Sätze nicht richtig, andere verhielten sich häufig unnötig umständlich. Manchmal waren die Besitzer belustigt, manchmal verärgert, niemals jedoch war die Fähigkeit der Maschinen, dem Menschen zu dienen, ernsthaft beeinträchtigt worden. »Meinst du, daß du uns sicher hier herausbringen kannst?« fragte Coman. Deenan machte eine unbestimmte Geste. »Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie für die Ankunft und das Verlassen von Menschen spezielle Instruktionen.« »Sehr gut. Geh voran und versuch es. Wir kommen nach. Wenn sie nicht wollen, müssen wir kämpfen.« Der Metallmund öffnete sich zu der Imitation eines Grinsens. Coman las den Gedanken: Ich kann keinen Roboter töten. Aber die Stimme sagte: »Ich habe in Ruhe und Frieden gelebt, bevor du auftauchtest, und seitdem gibt es nur noch Gewalt und Aufregung, Verbindungsmann.« »Ja«, sagte Coman unbewegt, »die Welt hier draußen bedeutet Gewalt.« Er wandte sich um und winkte. Die beiden Mädchen
kamen näher. »Anscheinend ist eure Abwesenheit nicht aufgefallen.« »Es wird auch eine Weile dauern«, sagte Jonl. »Gerade hat ein hübsches kleines Spielchen begonnen, eins von der Sorte, die garantiert jedermann in ihren Bann ziehen.« »Vorzüglich. Geh voran, Deenan.« Deenan trat auf das Laufband, und nach einigen Sekunden folgten die drei. Als sie bis auf etwa fünfzig Meter an die Wachen herangekommen waren, stiegen sie ab und gingen zu Fuß weiter. Deenan schien sich mit den Robotern zu unterhalten. Die Tore waren geöffnet, und die Laufbänder glitten wie Flüsse im Mondlicht über das Grundstück. Plötzlich wandte sich Deenan halb uni und winkte mit einer Hand, die Augen hatte er noch immer fest auf die Wachen geheftet, die wie Statuen standen. Coman sagte: »Gut. Gehen wir.« Sie traten wieder auf das Laufband. Mit gespanntem Körper, auf Zehenspitzen glitten sie mit der Standardgeschwindigkeit von vier Meilen pro Stunde auf die drei Gestalten zu. Es schien endlos lange zu dauern, bis sie die Torflügel erreichten. Deenan und die Roboter glichen Traumgestalten, regungslos blickten sie einander ins Gesicht. Coman versuchte, einen Gedanken aufzufangen, aber da war nichts, nur ein Vakuum an Stille und Bewegungslosigkeit. Als sie auf gleicher Höhe waren, hob der Einarmige seine Waffe langsam aus dem Halfter und zielte einen Augenblick ungenau in ihre Richtung, dann senkte er die Pistole. Sie waren draußen. Deenan wandte sich um und rannte hinter ihnen her, sprang auf das Laufband und wedelte aufgeregt mit den Armen, eine Aufregung, die aus einer unbekannten Quelle kam. Eilig bahnten sie sich ihren Weg durch das Labyrinth von Laufbändern; Coman ging voran, unruhig suchte er jeden neuen Kreuzungspunkt ab, die Hand an der Waffe in seiner Tasche. Aber zu dieser Nachtzeit waren nur wenige Leute unterwegs, und sie wurden nicht belästigt. Hinsichtlich der Polizei konnte er nichts unternehmen, und er wußte, daß jede ihrer Bewegungen auf den Bildschirmen im Zentraldepartment zu sehen war. Sie erreichten jedoch die Fahrstühle nach Ellice Island ohne Zwischenfall, und als sich die Tür schloß und der Kubus abwärtsschoß, schaute Coman Jonl an. Ihre Augen begegneten seinem Blick, eine Hand lag auf dem goldenen Cape, das sie trug, die
Finger ruhten auf dem Kragen, der sich um ihren Hals breitete. Zum erstenmal dachte er näher darüber nach, was sie gemeinsam tun würden. Es würde aufregender und umfassender sein als früher, aber auch unendlich befriedigender und lohnender als nur die Vereinigung der Körper. Es würde qualvoll sein, das Bloßlegen endloser Erinnerungen: vergangene Ängste, die Süße der kindlichen Unschuld und das langsame, schrittweise, manchmal schockierende Verderben dieser Unschuld, die Entsetzensbilder der Jugendzeit. Trotz Mißtrauen, Furcht und sogar Abscheu würden sie zum Schluß, wenn er Erfolg hatte, ein Verständnis und einen Frieden empfinden, dessen Vorhandensein Jonl sich nicht hatte vorstellen können, und den vielleicht nicht einmal er selbst wahrnehmen konnte. Coman sondierte versuchsweise ihre oberflächlichen Gedanken, er fand Zögern und Furcht trotz ihrer äußeren gefaßten Haltung, sie versuchte, die Furcht zu kontrollieren, die Furcht davor, nun alles zu verlieren, was sie als kostbarsten Besitz angesehen hatte. Jonl würde lernen, daß es auch für Telepathen die Möglichkeit gab, ein geistiges Eigenleben zu führen, aber er hoffte, daß sie während des Austausches ihrer gegenseitigen Erfahrungen auf diese Kraft verzichten würde. Gleichsam als Ermunterung erkannte er ihr Vertrauen, die Erinnerung an seine Sanftheit und Rücksichtnahme bei der Eroberung ihres Körpers. Als sie schließlich seinem Wunsch zugestimmt hatte, erhielt sie Festigkeit und Sicherheit — die Sicherheit, sich selbst gegenüberzutreten und zu versuchen, sich selbst zu erkennen und auch gleichzeitig ihn vollständig zu entdecken. Dies war sein größtes Risiko. Im Lichte dessen, was er innerhalb einer gewissen Zeit über Männer und Frauen erfahren hatte, konnte er alles Wissen über sie anpassen, ihre Fehler betrachten und akzeptieren, desgleichen alle Irrtümer, die sie je begangen hatte, die zahllosen Gedanken, hinterhältig oder ausweichend, bedauernswert oder niederträchtig, wollüstig, mörderisch, die sie natürlicherweise irgendwann einmal gedacht hatte während ihrer Kindheit und Jugend. Für Jonl jedoch, die nicht nur diesen Dingen in sich selbst, sondern den noch weitaus stärkeren und häufig auch böseren Facetten des männlichen Charakters gegenüberstehen würde, konnte es eine entsetzliche Erfahrung sein, ein Alptraum, in dem sie, wenn Coman nicht vorsichtig war,
ihm entgleiten und unwiederbringlich verlorengehen konnte. Und Sein. Auch sie beobachtete ihn mit festem Blick. Er begriff, daß sie erkannt hatte, was er vorhatte, und sie hatte es bereits akzeptiert, ohne Furcht oder Ärger. In diesem Augenblick, als der Lift die letzten Meter zurücklegte, überkam den Mann und die beiden Frauen gleichzeitig die. Erkenntnis. Einen Augenblick lang waren Zeit und Bewegung verbunden und unteilbar, sie sahen sich nicht als drei Individuen, sondern als ein einziges -Wesen mit einer Bedeutung und Zielbewußtheit, die so fremd und komplex waren, daß man sie nicht beschreiben konnte. In diesem Augenblick der Enthüllung verschmolzen ihre Persönlichkeiten miteinander, und dennoch behielt jeder einzelne von ihnen seinen Platz in ihrem Bund, sie glichen Neutronen und Elektronen in einem Atom, so schön und perfekt, als sei es vor undenklichen Zeiten festgelegt worden. Der Augenblick verging, und der Lift erreichte die Insel.