Hugo Manfred Beer
Moskaus As im Kampf der Geheimdienste Die Rolle Martin Bormanns in der deutschen Führungsspitze
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Hugo Manfred Beer
Moskaus As im Kampf der Geheimdienste Die Rolle Martin Bormanns in der deutschen Führungsspitze
2. Auflage
Verlag Hohe Warte • Franz v. Bebenburg KG
Gescannt von c0y0te. Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht für den Verkauf bestimmt.
Alle Rechte vom Verlag vorbehalten. Copyright by Verlag Hohe Warte • Franz v. Bebenburg • Kommanditgesellschaft, 8121 Pähl, 1983. ISBN 3-88202-311-4. Gesetzt aus der Garamond und gedruckt in der Carl Bauer’sdien Druckerei, München 2
Inhaltsübersicht EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ERSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werdegang Bormanns — Erpressung des Gefangenen Bormann zur Spionage — Stalin über Bormann ZWEITES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Hitlers Menschenkenntnis — Sein Vertrauen zu Prof. Morell — Bormanns „Sperrmauer” um Hitler — DRITTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Atmosphäre um Hitler — Zeugen über Bormann — Prof. Killian: „Waren Bormann u. Morell Komplizen?” VIERTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bormanns Aufstieg in der NSDAP — Röhm sucht Material gegen Bormann u. a. Gegner — Bormann schlägt zu FÜNFTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bormann immer mächtiger — „Säuberungen” in Wehrmacht und Roter Armee — Hitlers Horoskop SECHSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fall Tuchatschewski — War er Freimaurer? — Canaris versagt Heydrich Hilfe für Fälschungen SIEBTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freisler und der Volksgerichtshof — „Freisler in seiner ganzen Art ein Bolschewik” (Hitler) ACHTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heß ’ Englandflug — „Bormann Made im Reichsapfel” NEUNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bormann zerstreut Hitlers Bedenken gegen Ostfeldzug — Exilrusse Dallin durchschaut Bormann ZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Führerbefehl” und „Kommissarbefehl” ELFTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NS-Besatzungspolitik schafft Partisanen — Bormann verhindert den Gauleitern den Zutritt zu Hitler ZWÖLFTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funkspiel mit Moskau — Funkabwehr stutzig — Canaris glaubt an Verrat Bormanns und Gestapo-Müllers
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DREIZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keitel unterdrückt Nachrichten von Canaris an Hitler — Wohin verschwanden Bormann und Müller? VIERZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bormanns Intrigen gegen Luftwaffe — General Kollers Argwohn FÜNFZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bormann prophezeit Rittmeister Boldt „Rittergut nach siegreichem Ende” SECHZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbruch aus der Reichskanzlei — Radio Moskau: Bormann festgenommen SIEBZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orakelhafte Worte Sowjet-Generals Rudenko ACHTZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . US-Richter: Bormann war Sowjetagent — Sowjetoffizier sah Bormann — Bormann Leiter des Roten Orchesters NEUNZEHNTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . General Gehlens Memoiren erregen linke und rechte Öffentlichkeit — General Praun stützt Gehlens Angaben ZWANZIGSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überraschende Funde am Lehrter Bahnhof (Berlin) EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Veröffentlichungen vor und nach Gehlens Memoiren — Zeugen nach dem 1. Mai 1945 ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sowjetische Agenten in hohen US-Regierungsstellen — Präsidentenberater Harry Dexter White und Harry Hopkins auch Sowjetagenten — US-Major Jordans Begegnungen mit Sowjetagenten — Harry Hopkins Verbot, Uranlieferungen an die Sowjets aktenkundig zu machen SCHLUSSBETRACHTUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Sowjets siegen durch Spione” — U S-Präsidentenberater Harry Hopkins — „Kundschafter des Friedens” Guillaume — Richard Sorge — Martin Bormann — Morell
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EINLEITUNG
Die vorliegende Schrift über Martin Bormann erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Diese kann nur erwartet werden, wenn die sowjetrussischen Archive jedem Forscher aus aller Welt ohne Vorbehalte geöffnet würden. Bisher war es unmöglich, an Akten und Urkunden zu gelangen, die sich in sowjetischen Archiven befinden. Es ist nicht einmal festzustellen, was die Rote Armee bei Kriegsende an Material erbeutet und weggeschafft hat. Daher wird ein umfassendes und lückenloses Bild von Martin Bormann erst dann ausgearbeitet und der Öffentlichkeit übergeben werden können, wenn die Archive aller Siegermächte des Zweiten Weltkrieges in ihrem heutigen Stande von jedermann ebenso ausgewertet werden können, wie es in den Archiven der Bundesrepublik Deutschland jederzeit und jedermann möglich ist. Ähnlich äußerte sich auch der französische Rechtsanwalt und Schriftsteller Gilles Perrault in seinem Buch „Auf den Spuren der Roten Kapelle” in Zusammenhang mit der „Aktion Bär”, einem von der NS-Führung genehmigten Funkspiel mit Moskau, in dem Martin Bormann mit Heinrich Müller („Gestapo-Müller”) eng zusammengearbeitet hatte. Darüber wird in einem späteren Abschnitt berichtet. Gilles Perrault schreibt: „... man könnte es nur erfahren, wenn man die Archive der Zentrale einseben dürfte, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind... Vielleicht wird man eines Tages die ganze Wahrheit über das ,Große Spiel’ (Aktion Bär) erfahren, aber das wird noch lange dauern und aus Moskau wird die Aufklärung wahrscheinlich nicht kommen ... (36) 7
Auch Oberst Erich Helmdach (47) meint: „Zunächst sollten aber zur Bereinigung der Historie Vorurteile aller Art, dabei auch gewollte sprachliche Unklarheiten ausgeräumt werden, damit die Geschichtsschreibung wie der politische Alltag davon befreit wären. Mit Täuschung und Verschleierung können fortlaufend Verstrickungen in neues Unheil entstehen. Ideologische ,Gefangenschaft’ und ‚Gesetzmäßigkeit’ müssen zu eigenem Nachteil und zu Schaden führen. Das Verheimlichen und Verschließen der Archive und damit das Erschweren der Wahrheitfindung kann weder Entspannung noch Verständnis oder Zusammenarbeit fördern ...” Eine sachliche Darstellung Martin Bormanns als Mensch, seine Erscheinung, sein Wirken als Gutsverwalter in Pommern, sein Aufstieg in der NSDAP, später im engeren und zuletzt im engsten Führungskreis des Dritten Reiches, sein Verhalten bei bestimmten Anlässen, sein Verschwinden ins Nichts — wirklich ins Nichts? — dieses und vieles Andere ist Grund genug, nach 37 Jahren Abstand von der deutschen und europäischen Katastrophe des Jahres 1945, darüber im Rahmen des zur Zeit Möglichen ernsthaft nachzuforschen. Diese Forschungen sollten vom Geiste des sinnreichen altrussischen Sprichwortes „Prawda vitezi” (Die Wahrheit siegt) begleitet sein, dem die gesetzliche Eidesformel für Zeugenaussagen vor englischen und amerikanischen Gerichten „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit” auszusagen, ebenbürtig gegenübersteht. Mit der Wahrheit, als Übereinstimmung der Vorstellung mit den Tatsachen, hat es übrigens seine eigene Bewandtnis: sie kann ebensowenig verboten werden, wie es möglich ist, die Bewegungen der Planeten zum Stillstand zu bringen. Nur die Verbreitung der Wahrheit kann für begrenzte Zeit gestoppt werden. Die Ablösung des irrigen ptolemäischen (geozentrischen) Weltsystems durch das kopernikanische (heliozentrische) Weltsystem, das sich auch mit dem Wissensstand der Gegenwart deckt, erforderte Jahrhunderte. Inquisitionsgerichte und kirchliche Verbote hinderten damals gewaltsam die Ausbreitung wissenschaftlich erforschter und bewiesener Wahrheit. 8
Ebenso wie ein erklärter Feind bestehender staatlicher Ordnung nicht im Dienste des Staates, den er zerstören will, amtlich — z. B. als Richter — tätig sein kann, ebensowenig kann ein parteiisch gebundener Historiker echte Geschichte schreiben. Die Ergebnisse sind bekannt, seit die Geschichtsschreibung in den Dienst des geltenden „Zeitgeistes” gestellt wurde. Das lassen die Chroniken des frühen Mittelalters erkennen, die von Geistlichen handschriftlich verfaßt wurden. Das damalige Geschichtsbild wurde vom Glauben an die „Allein selig machende Kirche” geprägt, ohne daß dabei bedacht wurde, daß jede Weltreligion (Christentum, Buddhismus, Mohammedanismus) die Unfehlbarkeit in Glaubensangelegeheiten für sich beansprucht und damit zugleich die anderen Religionen verdammt (2). Die zunehmende Abkehr von der christlichen Lehre, die in Europa etwa vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges einsetzte, hat nationale und parteipolitisch gebundene Historiker hervorgebracht. Der Totalitarismus des aufstrebenden Nationalsozialismus begünstigte diese Entwicklung erheblich. Es konnte dabei eine außenpolitische Annäherung an den älteren Totalitarismus osteuropäischer Form beobachtet werden. Dieser Annäherung verlieh Erich Koch, der ehemalige Gauleiter von Ostpreußen, deutlich Ausdruck, als er sagte: „Denn Hand in Hand mit jedem außenpolitischen Fortschritt in unserer Friedenspolitik wird auch ein entsprechender wirtschaftlicher Interessenausgleich zwischen den beteiligten Mächten gehen. Es wird schließlich dahin kommen, daß alle Ostmächte zwischen Rhein und Stillem Ozean, zwischen Finnland und Schwarzem Meer in den großen Fragen gemeinsam berührt werden ...” (3) Dieser Annäherung war jedoch nur kurze Dauer beschieden. Es kam zu der gewaltigen Auseinandersetzung, an deren Ende die militärische und nachher die politische Niederlage des Nationalsozialismus stand. Obwohl inzwischen fast 40 Jahre verstrichen sind, hört man noch heute aus Moskau, daß „die Jugend der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten, insbesondere die Jugend der Deutschen Demokratischen 9
Republik, im Sinne des Friedens und der Zusammenarbeit, im Geiste eines tiefen Hasses gegen den Nazismus erzogen wird” (4). „Geist tiefen Hasses” gegen etwas nicht mehr Bestehendes ist sinnlos. Einer haßerfüllten neuen Generation können keine nüchtern denkenden und urteilenden Historiker entwachsen. Wenn Wilhelm von Schramm hinsichtlich des Ostfeldzuges im Zweiten Weltkrieg meint, „wer sich lange und eingehend, dazu nach wissenschaftlichen Methoden, mit dem Gegner beschäftigt, hört auf, ihn zu hassen, fängt an, ihn zu verstehen, seine Art, sowie seine Lebensinteressen zu begreifen” (5), dann ist v. Schramm hier von dem tiefen Verständnis vieler Zeitgenossen des Abendlandes getragen und zeugt von der Denkungsweise ritterlicher Kriegführung der Vergangenheit. Dieses auch nur annähernd ähnliche Verständnis ist auf der ideologisch d. h. marxistisch-leninistisch geschulten, ja gedrillten Gegenseite nicht zu finden und nur aus Gründen des bereits erwähnten anerzogenen Hasses gegen den toten Nationalsozialismus, aber auch gegen den bestehenden Kapitalismus nicht zu erwarten. Von den zahlreichen Veröffentlichungen über Martin Bormann werden nun die für diese Arbeit interessantesten einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Bei der vorliegenden Thematik gehen die den Verfassern von Memoiren, den Historikern und Schriftstellern gesteckten Grenzen ineinander über. Es kann festgestellt werden, daß mit zunehmendem Abstand von Martin Bormann und den mit ihm verbundenen Ereignissen und Vorgängen mehr Nüchternheit, ja bescheidene Anfänge eines Willens zur Wahrheitfindung aufscheinen, der in den beiden Jahrzehnten nach Kriegsende weitgehend fehlte. Lediglich die an Ideologien gebundenen Veröffentlichungen sind in ihrem Aussagewert unverändert geblieben. Nur die Formulierungen sind verfeinert und an die Ansprüche des allgemeinen Niveaus des westlichen Leserpublikums annähernd angepaßt.
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ERSTES KAPITEL Vergleich zwischen Leibarzt Prof. Morell und Sekretär Martin Bormann — Werdegang Martin Bormanns — Erpressung des gefangenen Bormann zur Spionage — Stalins Äußerungen über Bormann zu Benesch — Bormanns Beteiligung an Fememord Aus dem großen Kreis der Anhänger und Mitarbeiter Adolf Hitlers haben sich zwei unauffällige Männer seiner engeren und spater engsten Umgebung, sein Leibarzt und sein Sekretär, in den entscheidenden Jahren als so einflußreich erwiesen, daß es keinesfalls abwegig ist, sich mit ihrem Werdegang kritisch zu befassen. Der medizinischen Tätigkeit des Leibarztes Dr. Morell haben die Ärzte Dr. Rohrs (6) und Henning Fikentscher (1) im Rahmen ihrer Betrachtungen über Adolf Hitlers Krankheit gebührend Aufmerksamkeit geschenkt. Es überrascht, daß Dr. Morell in der umfangreichen Nachkriegsliteratur, die alles Mögliche und Erdenkliche rund um Adolf Hitler aufgriff, kaum Erwähnung fand, während der Sekretär und engste Mitarbeiter, Martin Bormann, der gleich Dr. Morell die Öffentlichkeit stets und in jeder Form mied, nach seinem Verschwinden aus dem Bunker der Reichskanzlei (l./2. Mai 1945) Anlaß zu einer weltweiten Kette von Legendenbildungen gab, wie sie von dem Verteidiger Martin Bormanns im Nürnberger Prozeß (1946), Dr. Friedrich Bergold, richtig vorausgesehen worden war (7). Diese Legendenbildungen um Martin Bormann sollen in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit näher betrachtet werden. Der am 17. Juni 1900 in Halberstadt (Sachsen) als ehelicher Sohn des Stabstrompeters Theodor Bormann und seiner Ehefrau Luise, geb. Grobler, zur Welt Gekommene besuchte drei Jahre eine private Lehranstalt in Eisenach. Später, als die Familie nach Weimar übersiedelte, kam Martin Bormann auf das Realgymnasium, das er nach Abschluß der Obersekunda verließ. Gemäß Bormanns selbst verfaßtem Lebenslauf, auf den sich Jochen v. Lang (8) und Lew Besymenski (9) stützen, soll er im Juni 1918 11
beim Feldartillerie-Regiment 55 in Naumburg als Rekrut eingerückt sein. Nach der Demobilisierung im Februar 1919 erhielt er im August 1920 die Stellung eines Geschäftsführers mit Generalvollmacht einer mecklenburgischen Begüterung. Die letzte Angabe stammt von Martin Bormann selbst. Dazu bemerkt Jochen v. Lang (8) auf Seite 30 seines Buches „Der Sekretär”: „Es läßt sich jetzt nicht mehr feststellen, wo Martin Bormann seine Elevenzeit, sprich Lehre, verbracht hat. Er selber nannte Mecklenburg, und Verwandte behaupten, es sei nicht eigentlich ein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern vielmehr eine Ölmühle gewesen. Doch das eine braucht das andere nicht auszuschließen — beides war damals noch häufig miteinander verbunden. Unklar ist auch, wie lange diese Ausbildung dauerte und was sie umfaßte. Zu solchen Überlegungen führt zwangsläufig Bormanns selbstverfaßter Lebenslauf, denn darin folgt auf die Entlassung aus der Naumburger Kaserne im Februar 1919 als nächstes fixes Datum der August 1920 — und da wurde er angeblich ‚Geschäftsführer mit Generalvollmacht einer mecklenburgischen Begüterung’. Demnach müßte er in eineinhalb Jahren alles über Acker und Stall gelernt haben, und wenn er auch während dieser Zeit an einem Fachkurs teilgenommen hat und durch Fleiß und rasche Auffassung gut abgeschnitten hat, wofür es Zeugen gibt, so ist es doch unwahrscheinlich, daß jemand einem so unerfahrenen und milchbärtigen Anfänger gleich eine ,Begüterung’ zur Bewirtschaftung anvertraute. Schließlich war der junge Mann noch nicht einmal volljährig und also auch nicht voll geschäftsfähig.” Wie ernst der Verfasser dieses Thema behandelte, verraten die Sätze: „Unklar ist auch, wie lange diese Ausbildung dauerte und was sie umfaßte.” „Zu solchen Überlegungen führt zwangsläufig Bormanns selbstverfaßter Lebenslauf, denn darin folgt auf die Entlassung aus der Naumburger Kaserne im Februar 1919 als nächstes fixes Datum der August 1920 . ..” 12
In der SS-Stammrolle (10) hat Bormann folgende Angaben gemacht: „Juli 1920 bis 1926 Mitglied des Verbandes gegen Uberhebung des Judentums. Abschnittsleiter der Organisation Roßbach in Mecklenburg 1922/23. Juli bis Dezember 1923 in Untersuchungshaft in Leipzig. März 1924 aus politischen Gründen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Entlassung im Frontbann bis zum Parteieintritt am 17. 2.1927. 1927/28 Gaupresseobmann in Thüringen.” Die Zeiten im Lebenslauf und in der SS-Stammrolle (10) Martin Bormanns sind fast immer mit der Nennung eines Monats verbunden. Es ist verständlich, daß die exakten Daten dieses Abschnitts seines Werdeganges, die in die bewegte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fielen, nur auf diese Weise begrenzt werden konnten. Unklar bleibt die Zeit zwischen der Entlassung aus der Armee — Februar 1919 — und August 1920, der Arbeitsaufnahme als Gutsverwalter in Herzberg bei Parchim. Ob er diese achtzehn dazwischenliegenden Monate auch tatsächlich zur Erlernung der Landwirtschaft verwendet hat, wie Jochen v. Lang vermutet (8), ist keinesfalls bewiesen, auch wenn Jochen v. Lang weiter berichtet „und wenn er auch während dieser Zeit an einem Fachkurs teilgenommen und durch Fleiß und rasche Auffassung gut abgeschnitten hat, wofür es Zeugen gibt ...”, so fehlen Angaben über diese nicht näher bezeichneten Zeugen ganz. Aber auch Lew Besymenski (9), Joseph Wulf (10), Trevor Roper (11) und Ladislas Farago (12), die bekanntesten BormannForscher in Ost und West, wissen nichts über diese Lücke im Lebenslauf Martin Bormanns zu berichten, die anscheinend nicht aufgefallen ist. Erheblich mehr erfahren wir von Klaus Benzing (33), der in seinem Buch „Der Admiral” auf Seite 113 berichtet: „Wer war Martin Bormann? Nach dem Ersten Weltkrieg kämpfte er in einem Freikorps im Baltikum und wurde 1920 von den Sowjetrussen gefangenge13
nommen. Er wird aber — überraschend für seine Kameraden — nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Admiral Canaris hielt es für möglich, daß Bormann zu jenem Zeitpunkt für den sowjetischen Spionagedienst verpflichtet wurde.” Nach der Quelle dieser Mitteilung über Martin Bormann befragt, teilte Klaus Benzing dem Verfasser folgendes mit: „Zu Ihrer Frage nach der Primärquelle meiner Angaben zu Bormann, kann ich Ihnen mitteilen, daß es in Amerika eine Personalakte von Bormann gibt, die ich eingesehen habe.” (14) Dieselbe Version über den Aufenthalt Martin Bormanns — zumindest für das erste Halbjahr 1920 — vertritt auch der tschechische Journalist Pawel Havelka, der sich auf mündliche Angaben des tschechischen Generals Bartik beruft. General Josef Bartik war über zehn Jahre Chef der tschechischen Gegenspionage im Generalstab und Vertrauter des Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Eduard Benesdi, gewesen. Benesch soll sich mit Stalin sehr gut verstanden.haben und sei nicht wenig stolz auf das Vertrauen gewesen, das der russische Diktator ihm, einem nicht-kommunistischen Politiker bürgerlich-liberaler Prägung, entgegengebracht habe. Dennoch habe General Bartik erklärt — so Pawel Havelka in der in Malmö (Schweden) erscheinenden sozialdemokratischen Zeitung „Arbeitet” —, daß Bormann ein Agent Stalins gewesen sei. Bormann gehörte 1920 einem baltischen Freikorps an, das sich mit den Bolschewiken schlug. Er wurde gefangen und wußte, was ihn erwartete. Bormann rettete sein Leben dadurch, daß er ein Papier unterschrieb, in dem er sich verpflichtete, als Agent für die Russen zu arbeiten (15). Dazu berichtet Pavel Havelka ferner: „Als man das nächste Mal von Bormann hörte, war er einer von Hitlers nächsten Mitarbeitern. Von 1943 an, war er der zweitmächtigste Mann in des Führers Hauptquartier. Als Deutschland 1941 die Sowjetunion angriff, erhielt die sowjetische Abwehr den Auftrag, in Archiven nach deutschen Staatsbürgern zu forschen, über die man Material besaß, mit dem man sie zwingen konnte, sowjetische Agenten zu werden. In einem längst vergessenen Winkel fand man die Verpflichtung, die 1920 von Bormann unterzeichnet worden war. Der Rest sei Routine gewesen. 14
Bormann habe eine Fotokopie des Papiers mit seinem Namen darunter erhalten. Die Russen hätten einen Tag gewartet, ob Bormann Hitler seine Jugendsünde beichten werde. Er schwieg. Nun habe man ihm nur noch das Messer an die Kehle zu setzen brauchen. Bormann tat, was ihm von sowjetischer Seite gesagt wurde. In der Folgezeit erfuhren die Russen das meiste direkt aus Hitlers Hauptquartier.” Ein Spionagesystem, das ohne Erpressung arbeitet und doch „funktioniert” ist schwer denkbar. Zu einer gewissen Vollendung durch geschickte Erpressung hat es diesbezüglich das sowjetische System gebracht. Darüber ist früher sehr umfangreich berichtet worden, daß es sich erübrigt, auch in dieser Arbeit näher darauf einzugehen. Es sei hier nur an einen Komplex erinnert, der nicht ohne Ähnlichkeit zu der von Pavel Havelka berichteten Bormann-Erpressung dasteht. Darüber schreibt Reinhard Heydrich in einer Meldung vom 10. Juni 1941 an Heinrich Himmler (16), mit welchen Methoden die GPU gegen die volksdeutschen Umsiedler damals vorging, um diese zur Spionage gegen Deutschland zu zwingen: „Die deutschen Umsiedler wurden in solchen Fällen von der GPU vorgeladen, stundenlang verhört und es wurde ihnen angedroht, daß sie von der Umsiedlung ausgeschlossen würden, wenn sie sich dem Ansinnen der GPU nicht gefügig zeigten. Beliebt war auch die Methode, den angegangenen Umsiedlern zu erklären, daß man sich an den zurückbleibenden Angehörigen schadlos halten und diese als Geiseln behandeln würde, wenn sie den unter Zwang übernommenen Verpflichtungen nicht nachkommen oder es wagen sollten, in Deutschland Anzeige zu erstatten. Man drohte ihnen weiter, daß der lange Arm der GPU sie auch in Deutschland erreichen würde ... Diese Anführung von begründeten Einzelbeispielen könnte auf Hunderte von Fällen ausgedehnt werden, da es feststeht, daß die GPU nach vorsichtiger Schätzung an etwa 50 v. H. der Umsiedler herangetreten ist, um sie durch erpresserische Drohungen oder riesenhafte Geldversprechungen zur Mitarbeit zu zwingen ...” Besonders deutlich äußert sich über diese erpresserischen Me15
thoden zur Gewinnung von Agenten für das sowjetische Ausland-Netz David I. Dallin (18), wenn er schreibt: „Schließlich wurden einige recht zweifelhafte Charaktere durch finanzielle Verlockungen in das Netz gezogen. Abenteurer, vom Pech verfolgte Spieler, Personen, die die Gefahr nicht richtig einschätzten, verschuldete Individuen, in Liebesaffären verwickelte Personen waren Agenten oder potentielle Agenten. Einige wurden gefaßt und vor Gericht gestellt. Andere versuchten in ein ruhig-bürgerliches Leben zurückzukehren. Die Namen der letzteren Gruppe vergaß Moskau jedoch nicht: in manchen Fällen wurden diese Personen nach einiger Zeit stiller Zurückgezogenheit von Agenten Moskaus an ihre Vergangenheit erinnert und vor eine unselige Alternative gestellt.” Rudolf Ströbinger und Reginald Peek teilen laut der deutschen Tageszeitung „Die Welt” (17) und der britischen Tageszeitung „Daily Telegraph” mit: „Stalin selbst soll dem ehemaligen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Eduard Benesch, mitgeteilt haben, daß Reichsleiter Bormann, unter Hitler der zweitmächtigste Mann in Deutschland, für die Sowjetunion spioniert habe. Das berichtet der Londoner ,Daily Telegraph’ am Montag unter Berufung auf den tschechischen Journalisten Rudolf Ströbinger, der 1968 nach der Invasion der Sowjets seine Heimat verlassen hat und in der Bundesrepublik lebt. Wie der Bonner Korrespondent, Reginald Peek, in dem Londoner Blatt schreibt, habe Ströbinger seine Kenntnis sechs Monate vor der Invasion in Prag von General Josef Bartik erhalten, der unter Benesch Chef des Geheimdienstes gewesen sei. Benesch soll einmal zu Bartik gesagt haben: ,Wenn Bormann noch lebt, wird er niemals hingerichtet werden. Er war einer von Stalins Spionen. Stalin selbst hat mir das gesagt.’ Ein Bericht gleichen Inhalts findet sich, wie dpa meldet, in der schwedischen sozialdemokratischen Zeitung ,Arbeitet’. Der Verfasser ist ein tschechischer Journalist mit dem Pseudonym Pavel Havelka.” Im übrigen dürfte sich nach Ende des Ersten Weltkrieges bei den Kämpfen der zahlreichen Freikorps im Baltikum außer der Episode der Gefangennahme und Freilassung eines Soldaten 16
namens Martin Bormann durch die Sowjets auch anderes zugetragen haben, was die Aufmerksamkeit auf die Abwehrkämpfe der deutschen Freikorps in diesem Raum lenkt. Darüber schreibt Rudolf Diels (19) anläßlich von Gerüchten über geplante Attentate auf Hitler: „Ich habe mich gehütet, diese Geschichten Hitler mitzuteilen; er hätte sie begierig aufgesogen. So berichtete ich ihm auch nicht, daß sich ein ehemaliger Freikorpsführer, der zu den Kommunisten einmal übergegangen war, täglich ungehindert Einlaß in die Reichskanzlei verschafft hatte, in seine nächste Nähe, bis ihn der Führer der Leibstandarte selbst als ‚Attentäter’ entlarvt und mich um seine Festnahme ersucht hatte, als er nicht mehr wiederkam. Der heute noch lebende ,Hansdampf in allen Gassen* fand sich aber freiwillig bei mir ein, um mich um die Vermittlung zu einer Unterredung mit Hitler zu bitten, dem er ,nur’ Treue und Gefolgschaft versprechen wollte. Ich riet ihm, sich klein zu machen.” Durch glaubwürdige, ehemalige Angehörige des baltischen Freikorps Roßbach, das damals noch „Sturmabteilung Roßbach” genannt wurde, ist die Liste des Offizierskreises dieser Einheit aus dem Jahre 1921 erhalten geblieben. Hier findet sich die folgende Eintragung: „Bormann, Martin, Weimar, Belvedere-Allee 28” Bekanntlich zog der in Halberstadt geborene Martin Bormann mit den Eltern nach Eisenach, wo er eine Privatschule besuchte, und von dort nach Weimar. Dort wohnte Familie Bormann in der Belvedere-Allee (8). Demnach dürfte dieser Martin Bormann mit dem in der Liste des Offizierskreises der „Sturmabteilung Roßbach” Genannten identisch sein. Um so mehr fällt auf, daß Martin Bormann seine Freikorpszeit bei den Angaben zur Person anläßlich der Aufnahme in die Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verschwieg; dabei wäre gerade ihm, dem strebsamen Kandidaten, diese Zugehörigkeit zum Offizierskreis des baltischen Freikorps Roßbach nur förderlich und keinesfalls hinderlich gewesen. Jeder Freikorpskämpfer war schon vor 1933, noch mehr aber im Dritten Reich geachtet. Gerhard Roßbach, der Freikorpsführer Martin Bormanns, berichtet über den Mord an Walter Kadow in Parchim aus seiner 17
Sicht und verharmlosend, wenn er in seinem Buch „Mein Weg durch die Zeit — Erinnerungen und Bekenntnisse” (44) sagt: „Höß und Genossen wurden mit Ausnahme von Martin Bormann wegen Mordes angeklagt und zu Zuchthausstrafen verurteilt.” In dieser Darstellung Roßbachs, in der er sich auf Auskünfte seines Anwalts beruft, ist nicht enthalten, daß Martin Bormann „ ... wegen Beihilfe zu schwerer Körperverletzung sowie wegen Begünstigung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, wovon ein Monat durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüßt gilt.” (4, 20) Ferner kann durch diese Darstellung Roßbachs bei dem flüchtigen Leser der Eindruck erweckt werden, daß Martin Bormann straffrei ausgegangen sei. Dazu noch ergänzend die eidesstattliche Aussage von Dr. Robert M. W. Kempner vor dem Nürnberger Militärgericht: „In meiner Eigenschaft als Oberregierungsrat und Hauptrechtsberater der preußischen Polizeiverwaltung in der Zeit vor Hitler wurde ich amtlich mit dem Strafregister des Martin Bormann, der mit dem jetzt vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, Deutschland, angeklagten Martin Bormann identisch ist, bekannt. Das amtliche Strafregister des Martin Bormann enthält nachstehende Eintragung: ,Bormann Martin, verurteilt am 15. Mai 1924 durch den Staatsgerichtshof zum Schütze der Republik in Leipzig (Deutschland) zu einem Jahr Gefängnis für die Teilnahme an einem politischen Mord.’” (Dokument 3355PS, US-682. 45) Offensichtlich versuchte Roßbach seinen ehemaligen Freikorpsangehörigen Martin Bormann noch im Jahre 1950 zu decken, den er im Jahre 1921 in die Liste seines Offizierskreises aufgenommen hatte; zweifellos hat sich Martin Bormann damals besondere Verdienste erworben. Dazu kann Martin Bormanns überraschende Rückkehr aus der sowjetischen Gefangenschaft beigetragen haben, die nicht von ungefähr erfolgte (13, 15) und die sich unter dramatischen Umständen vollzogen haben kann. Roßbach hielt seinem gewiß mutigen Mitkämpfer die Treue. Es ist denkbar, daß Roßbach die 18
vermeintlich tapfere Tat, sich selbst aus der Gefangenschaft zu befreien, mit der Aufnahme in den Führungskreis seines Freikorps belohnte. Zu jenem Zeitpunkt, vielleicht auch später, war er von eingegangenen Agenten Verpflichtungen mancher „Heimkehrer” nicht unterrichtet. Wie Roßbach schrieb, hat er aber in seinem Befehlsbereich Beförderungen ausgesprochen (44). Der weitere Werdegang Bormanns ist klarer dargelegt nach seinem im Juli 1920 erfolgten Eintritt in den „Verband gegen Überhebung des Judentums” und seine im August 1920 aufgenommene Arbeit als Gutsverwalter auf Herzberg bei Parchim (Mecklenburg), die er bis zu Beginn seiner Tätigkeit als GauPresseobmann in Thüringen (Mai 1926), mit einer Unterbrechung von mehr als einem Jahr, ausgeübt hat. Bei dieser Unterbrechung, die sich vom Juli 1923 bis März 1925 erstreckte, müssen wir verweilen, da hier ein weiterer Grund für Bormanns späteres Verhalten erblickt werden kann. Im Februar 1923 hatte der am 29. Januar 1900 in Hagenow, Mecklenburg, geborene Volksschullehrer Walter Kadow um Aufnahme in die Herzberger Roßbach-Gruppe nachgesucht. Diese wurde ihm auch gewährt, da er schon früher eine deutschvölkische Jugendgruppe in Wismar, dem Wohnsitz seiner Eltern, geleitet hatte. So wurde Kadow Angehöriger des Pfeiffer'schen Trupps der Roßbacher. Da er jedoch in seinen Auffassungen etwas links und damit in Widerspruch zu der politischen Anschauung der anderen Roßbacher stand, wurde er von ihnen stets mißachtet (9). Kadow machte sich unbeliebt, indem er sich als „Leutnant a. D.” ausgab, obwohl er nie Offizier gewesen war. Auch zeigte er Orden vor, die ihm nicht verliehen worden waren. Ferner lieh er sich Geld aus, ohne es zurückzuerstatten. Damit schuf er eine Atmosphäre der Abneigung um sich herum, die in Haß umschlug, als durch einen gewissen Wiggers das Gerücht verbreitet wurde, daß Kadow kommunistischer Spitzel sei, denn er habe an geheimen Versammlungen kommunistischer Funktionäre teilgenommen. Nun sollte Kadow auf Betreiben Bormanns aus dem Kreis der Roßbacher entlassen werden. Bormann vereinbarte mit Masolle, 19
einem Geschäftsmann in Parchim, Kadow bei einem eventuellen Wiedererscheinen in Parchim, im Gasthof „Louisenhof” festzuhalten und Bormann im 13 Kilometer entfernten Herzberg zu verständigen, damit Kadow dort seine Schulden abarbeiten könne. Später änderte Bormann seine Absicht dahingehend, daß Kadow eine Tracht Prügel beziehen sollte. Damit beauftragte er den Kaufmann Masolle und fügte hinzu, Masolle möge dazu noch einige Kameraden mitnehmen. Kadow traf am 31. Mai 1923 in Parchim ein. Er begab sich in den Gasthof „Louisenhof”, wo er zunächst zahlreiche Schnäpse erhielt, so daß er bald auf dem Sofa in der Gaststube lag. Dabei wurden ihm Papiere aus der Tasche gezogen, aus denen seine kommunistische Tätigkeit hervorgegangen sein soll. Es soll auch eine blaue Karte der kommunistischen Jugend, auf den Namen Kadow lautend, darunter gewesen sein. In seinem Rucksack habe sich eine größere Menge russischen Geldes befunden (4, 8, 9, 10). Über diesen Abend hat Jochen v. Lang (8) folgendes ermittelt: „In Hamburg lebt heute noch der Schneidermeister Heinrich Krüger. Er lebte damals in Parchim und war Augenzeuge des Gelages der Roßbacher im ,Louisenhof’. Von der Theke aus beobachtete er mit einem Arbeitskollegen, daß auch Bormann an diesem Abend in der Gaststätte auftauchte. Ein Roßbacher zeigte Bormann Papiere, die man bei dem betrunkenen Kadow gefunden hatte. Krüger berichtete weiter: Ich sah, wie Bormann eine Pistole aus der Tasche zog und sie dem Roßbacher zuschob. Krüger meldete sich damals nicht bei der Polizei, weil er Schwierigkeiten bei seiner bevorstehenden Meisterprüfung vermeiden wollte.” Zu vorgerückter Stunde schleppten einige Roßbacher — unter ihnen auch Rudolf Höß, sein Name sollte später als Leiter des KZ Auschwitz bekannt werden — den schwer betrunkenen Kadow zu einem Jagdwagen, den Bormann zur Verfügung gestellt hatte. Sie fuhren in den Wald bei Parchim, wo sie Kadow grausam ermordeten und verscharrten. In dem Prozeß, der vom 12. bis 15. März 1924 in Leipzig stattfand, wurde Höß als Rädelsführer und nicht Bormann, wie zu erwarten gewesen wäre, zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. 20
Bormann kam mit einem Jahr Gefängnis unter Anrechnung eines Monates der Untersuchungshaft davon. Die Begründung lautete: „wegen Beihilfe zu schwerer Körperverletzung und Begünstigung”. Die gerichtliche Untersuchung dieses Falles hatte das Bild von Kadow erweitert: „ ... Vor allem aber war der Verdacht rege geworden, daß Kadow ein kommunistischer Spitzel sei. In der Tat läßt sich dieser Verdacht nicht als unbegründet von der Hand weisen, wenn man berücksichtigt, daß Kadow nach Aussage des Zeugen Wiggers noch in der Zeit, als er die Lehrtätigkeit ausübte, an geheimen Funktionärsversammlungen der Kommunistischen Partei teilnahm, im Januar/Februar 1921 auf drei Wochen nach Rußland reiste, sich dort um eine Stellung bemühte, auch das Bild von Lenin in seinem Besitz hatte ...” (Aus der Urteilsverkündigung am 15. März 1924, lt. Besymenski „Die letzten Notizen von Martin Bormann”.) In einem „Bericht über die damalige Zeit”, den Lew Besymenski ohne Quellenangabe veröffentlicht (9), lesen wir: „In dieser Gruppe” (Roßbacher) „befand sich auch der Jugendliche Walter Kadow. Doch bald sagte er sich von den reaktionären Banden los, ergriff für die Sache der Arbeiterklasse und die Revolution Partei und unterstützte die Parchimer Genossen. Diese mutige Tat mußte er mit dem Leben bezahlen; er wurde am 31. Mai 1923 von den Feme-Mördern viehisch umgebracht.” Nach einer Schilderung des Mordes fährt Besymenski fort: „Heute kann man jedoch mit Bestimmtheit feststellen, daß Kadow — davon überzeugt, daß seine Kollegen Banditen seien — Kontakte mit der Organisation der KPD aufnahm und sich entschloß, Parchim zu verlassen. Das war auch die Ursache für seine Ermordung. Als Kadow in Parchim erschien, wurde Bormann davon unterrichtet. Dieser gab den Befehl, Kadow umzubringen.” Joseph Wulfs Beurteilung des Mordes an Kadow (10) erfolgt aus höherer Sicht, wenn er schreibt: „Martin Bormann verdankt seiner Betätigung während der Roßbach-Zeit jedenfalls den Blutorden. Damit hatte es folgende 21
Bewandtnis: Als Albert Leo Schlageter wegen Sabotage von den Franzosen im Ruhrgebiet festgenommen und am 23. Mai 1923 von ihnen hingeriditet wurde, beschloß die mecklenburgische Roßbach-Gruppe, den angeblichen Verräter Schlageters an die Franzosen zu bestrafen. Obwohl es keine Hinweise dafür gibt, daß Walter Kadow in Mecklenburg Leo Schlageter an die Franzosen verraten hat, ermordeten ihn die Roßbach-Leute...” Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die von Admiral Canaris gegenüber General Gehlen geäußerte Vermutung, daß Bormann erpreßt wurde (21), ihre Begründung in den folgenden beiden Punkten in Bormanns Lebenslauf haben kann: a) Fast gleichlautende Mitteilungen von Pavel Havelka und Klaus Benzing, daß Martin Bormann als 22jähriger Freikorpskämpfer im Baltikum, als er dort in sowjetische Gefangenschaft geraten war, sein Leben durch Unterschrift unter eine Spionageverpflichtung zu Gunsten der Sowjets erkaufen mußte. b) Mögliche sowjetische Drohung der Bekanntgabe der Rolle, die Bormann im Parchimer Fememordprozeß gespielt hat, daß er vom Leipziger Reichsgericht am 17. März 1924 „wegen Beihilfe zu schwerer Körperverletzung sowie wegen Begünstigung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, wovon ein Monat durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüßt galt” (4) und daß er für diese Gefängnisstrafe später mit dem Blutorden ausgezeichnet wurde (9).
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ZWEITES KAPITEL Adolf Hitlers Menschenkenntnis — Sein Vertrauen zu Prof. Morell — Bormann steht hinter Prof. Morell — Schellenberg über Himmlers Meinung und Mißtrauen gegen Prof. Morell — Gauleiter Jordans letzte Begegnung mit Hitler — Bormanns „Sperrmauer” um Hitler — Ruf Prof. Morells — Widersprüche zwischen Worten und Taten Bormanns Dem Anschein nach dürfte Adolf Hitler in Personalfragen recht einsame Entschlüsse gefaßt haben. Dabei hat er sich oft auf die „Intuition” (Eingebung) verlassen, obwohl bekanntlich keine Eingebung oder „innere Stimme”, welcher Art auch immer, fundiertes Fachwissen und die übliche Überprüfung zu ersetzen vermag. Dazu meint Hans F. K. Günther, indem er auf die verderbliche Auswahl von Hitlers Unterführern hinwies, „wie er (Günther) auch bereits Unfähige und Unwürdige in Hitlers Umgebung genannt habe, die von Hitler, dem es an Menschenkenntnis gebrach, gewählt worden waren. Der von Hitler gewählte Leibarzt ist ihm am meisten zum Verhängnis geworden” (l, 22,23). Anknüpfend an „Untaten hoher Bonzen, die bekannt geworden waren”, bemerkt Günther weiter, „deren Täter aber niemand und auch keine Zeitung öffentlich anzuklagen wagte. Ich brauche hier nur den Namen Koch, des Gauleiters von Ostpreußen, anzuführen. Koch soll dem ,Führer’ durch Streicher und Bormann empfohlen worden sein — Menschenkenntnis?” Treffend stellt Günther die Frage: „Wer hat törichterweise das Wort ,Herrenrasse’ auf die Deutschen unserer Zeit angewandt? Ist es Hitler gewesen? Ich bezweifle es; — Hitler war ein umwelt- und schulungsgläubiger Optimist, der von der Schulung und Erziehung durch den Nationalsozialismus eine ‚fortschrittliche’ Verbesserung der deutschen Bevölkerung erwartete ... in einem wahnvollen Wunschgedanken (hat er) auf einem Parteitag ausgerufen, das deutsche Volk sei durch den Nationalsozialismus noch schöner geworden. Von solch unhaltbaren Vorstellungen aus ließe sich auch begreifen, daß er das törichte Wort ,Herrenrasse’ zugelassen hat, ein Wort 23
in außenpolitischer Anwendung ebenso schädlich wie die Bezeichnung ,slawische Untermenschen’, die von dem — durch Hitler gewählten — Koch, einem wirklichen Untermenschen, sogar auf die anfangs deutschfreundlichen Ukrainer übertragen wurde.” Gottfried Feder, der alte Mitstreiter Adolf Hitlers aus der Frühzeit der Partei und Verfasser des Parteiprogramms der NSDAP, fand sich, nach Dr. Ernst Hanfstaengl, dem Auslandspressechef der NSDAP (46), „immer wieder zur Kritik herausgefordert, sooft das Gespräch jetzt auf Hitler kam. ,Möchte wissen’, sagte er, ,wie Hitler eines Tages das Staatsschiff ohne Gefährdung steuern will, wenn er nur Halbgebildete und blinde Jasager in seiner Umgebung duldet. Um auf die Dauer Erfolg zu haben, wird er wohl anderer Leute bedürfen, als solcher Halbwissen’ Wie recht Feder mit dieser Einschätzung der kritiklosen Jasager in Hitlers Umgebung hatte, zeigte sich in dem allmählich platzgreifenden Führerkult, den Heß in seiner grenzenlosen Verehrung für Hitler um die Person seines Idols aufbaute. Hatte bis zum Putsch” (vom 30. Juni 1934) „noch niemand daran gedacht, ihn anders anzureden als mit ,Herr Hitler', so titulierte ihn Heß jetzt nur noch mit ,Chef’, um bald darauf — in Übersetzung des italienischen ,Duce’ — die Bezeichnung ,Führer' in Umlauf zu bringen.” Der andere unauffällige Mann in Adolf Hitlers unmittelbarer Nähe war der von ihm selbstgewählte Leibarzt Dr. med. Theodor Morell. Es gelang ihm, sich Adolf Hitlers Zufriedenheit und Vertrauen durch Anwendung fragwürdiger Medikamente und Injektionen(!) zu erschleichen. Die konstatierten Scheinerfolge festigten das Vertrauen Adolf Hitlers in Dr. Morells Behandlungsweise so sehr, daß eine Überprüfung der angewendeten Heilmethoden und Medikamente unterblieb (1,6). Dr. Morell wurde auf Empfehlung des Photographen Heinrich Hoffmann, ohne Befragung oder Beratung mit der ärztlichen Führung in der Partei zum Leibarzt Adolf Hitlers ernannt, selbst entgegen schweren Bedenken des Reichsärzteführers Dr. Conti, des Dr. Brandt, des früheren Begleitarztes des Staatsoberhauptes und anderer Mediziner von Rang. 24
Wie groß das Vertrauen Adolf Hitlers in Dr. Morell war und wie er es begründete, geht aus dem Gespräch des Architekten Professor Hermann Giesler hervor, das dieser im Spätherbst 1944 mit Hitler in seinem Hauptquartier führte. Hitler: „Zu allen Mißhelligkeiten war ich dabei auch noch dem Zank der Ärzte ausgesetzt. Morell lag unter Beschüß, man warf ihm vor, er habe mich falsch behandelt, gerade als ich erkrankte und ihn brauchte. Die Chirurgen gingen gegen ihn vor, sie stützten sich dabei auf die Beurteilungen und Argumente von Internisten, die ich nicht kenne, denn sie blieben in Deckung — unglaublich, mir auch das noch anzutun! Ich war in einem schlechten Zustand, ich hatte Bauchkrämpfe mit Schmerzen, kolikartige Zustände, und eine Art Gelbsucht kam auch noch dazu. Morell war mit seinen Nerven völlig am Ende, ich mußte ihn wieder aufrichten. Ich weiß, Sie mögen ihn nicht, aus Gründen, die ich zwar verstehe, über die ich aber hinwegsehe, — er ist ein guter Arzt, und er hilft mir!” (25) Ferner berichtet Hermann Giesler von einem Gespräch mit Martin Bormann über Dr. Morell vom selben Tage: „Ich ging zurück zu Bormann, um mich über die Ärzte-Dissonanz zu informieren. Ich hatte immer den Eindruck gehabt, Bormann teile meine Sympathien für Dr. Karl Brandt. Bormann sagte: Sicher habe Karl Brandt verantwortungsbewußt und in gutem Glauben seine Bedenken über die Behandlung und die Medikamente von Morell vorgebracht, aber er sei schließlich Chirurg, und habe sich auf Meinungen ihm bekannter Internisten gestützt, vielleicht auch von ihnen die fraglichen Medikamente analysieren lassen. Die Einmischung dieser Internisten halte er für leichtfertig, der Führer sei nicht ihr Patient, und er meine, nur eine gründliche Untersuchung dürfte die Voraussetzung sein für eine kritische Beurteilung von Morells Therapie. Eher bekomme man die Architekten unter einen Hut — und das wolle doch was heißen — als die Mediziner. Hier träten sich die Lehrmeinungen hart gegenüber. Aber auch ich sei voreingenommen gegen Morell! Nun, er gebe zu, er sei keine ästhetische Erscheinung, aber komme es denn dar25
auf an? — Doch, auch! Und meine Abneigung sei begründet: Ich mußte mich mal von Morell untersuchen lassen, das wurde damals veranlaßt, als ich mit München beauftragt wurde und oft an des Führers Tafel saß.” Nach einer ausführlichen Schilderung Professor Gieslers über seine Eindrücke von einem Besuch der Praxis Dr. Morells am Kurfürstendamm fährt er in dem Gespräch mit Martin Bormann fort: „Ich habe dem Chef schon einmal gesagt: Der Morell dünstet wie ... Ich sagte es Bormann, aber jetzt, aus der Erinnerung geschrieben, wäre es doch etwas hart, den Vergleich zu wiederholen. Bormann verzog sein Gesicht und meinte: Sie können sich allerlei Spötteleien erlauben, auch beim Chef, aber nur weil er weiß, daß keine Gehässigkeit dahintersteht. Wie hat sich denn der Führer dazu geäußert? Er sagte: Giesler, ich hab den Morell nicht hier zum gut Riechen, als Arzt soll er mir helfen, — und das tut er! Aber es gibt sicherlich viele tüchtige Ärzte, sagte ich zu Bormann, weshalb nun gerade — — — Bormann unterbrach mich: er hat verschiedene Ärzte konsultiert, doch Morell hat ihm damals geholfen, und das schnell! Es stand schlimm um seinen Zustand, außer Haferflocken und gedünsteten Mohren konnte er nichts zu sich nehmen, und schließlich vertrug er auch das nicht mehr ... Nun, zweifelsohne hat Morell ihm geholfen, und das führte natürlich zu dem Vertrauen, das er nun genießt. Es war deshalb töricht und zeitlich völlig unpassend, Morells Therapie anzuzweifeln — wobei ich mich vorsichtig ausdrücke! Bitte, halten Sie sich da 'raus, trotz ihrer Sympathie für Karl Brandt, den Sie als ihren ,Hellenen’ bezeichnen. Nochmals, Giesler, ernsthaft, machen Sie uns keinen Kummer, beschränken Sie sich auf Ihr Gebiet.” (25) Zur Bereicherung des Wissens über Dr. Morell, den „stillen Mann in der Führungsspitze des Deutschen Reiches von 1936 bis 1945”, seien einige der von Henning Fikentscher (1) ermittelten Tatsachen wiedergegeben: „Obwohl bis dahin als Facharzt für Geschlechtskrankheiten bekannt, betätigte er sich in seiner neuen Stellung als Internist und Gesundheitsführer. 26
Als Leibarzt wurde er zum Professor ernannt und ihm — obwohl er erst 1933 Parteigenosse geworden war — das Goldene Parteiabzeichen verliehen. Für den Doppelbetrug, er habe das Penicillin erfunden und zuerst hergestellt, verlieh ihm der Führer und Reichskanzler das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz, obwohl seine Penicillinampullen nur destilliertes Wasser enthielten. Morell bezichtigte den englischen Erfinder des Penicillins, Alexander Fleming, des geistigen Diebstahls. Morell genoß das blinde Vertrauen des Reichsoberhauptes, jedoch das Mißtrauen der nächsten Standesgenossen und Fachleute im Führerhauptquartier. Die US-amerikanischen ärztlichen Befrager beurteilten die gefangenen deutschen Ärzte als ebenbürtige Kollegen, den Leibarzt dagegen als ein standesunwürdiges Geschöpf, das sich rühmte, seinen hohen Schützling langsam vergiftet zu haben. Morell blieb unbehelligt, die mitgefangenen NS-Ärzte wurden als Verbrecher betrachtet, bestraft, ja gehenkt oder in den Freitod getrieben. Morells riesiges Vermögen wurde freigegeben, das der anderen NS-Ärzte enteignet, die Witwen an den Bettelstab gebracht. Wirkliche und angebliche Verfehlungen von NS-Ärzten wurden jahrelang in allen Zeitungen ausgewalzt, über Morell wurde auch nach seinem Tode Stillschweigen bewahrt. Lange nach Morells Tod wurden sich gegenseitig ausschließende Lügen darüber verbreitet und nachgeschrieben: Er soll im Lager verstorben, beseitigt worden sein, nach Amerika verbracht, sich selbst entleibt haben oder in Nürnberg verurteilt und gehenkt worden sein. Die Bedeutung des Wirkens Morells als Leibarzt Adolf Hitlers in entscheidenden Jahren hat noch kein Geschichtsforscher ernstlich angefaßt oder offen dargestellt. ” Der geneigte Leser wird sich an dieser Stelle fragen, welche Bedeutung dem Leibarzt Adolf Hitlers, Dr. Morell, denn zukommt, da dieser in einer Arbeit über Martin Bormann so eingehend gewürdigt wird. Es handelt sich jedoch weniger darum, Dr. Morells medizinische Tätigkeiten kritisch zu beleuchten, als die anscheinend bestehende, aber gut getarnte Verbindung zwi27
sehen Bormann und Morell anhand von Augenzeugenberichten aufzuzeigen. Zunächst sei der subjektive Eindruck wiedergegeben, den Dr. Morell auf Walter Schellenberg, den späteren Nachfolger von Admiral Canaris, machte, als er mit dem Gefolge Adolf Hitlers die letzten Kämpfe im Polenfeldzug (1939) bei Warschau beobachtete (l6). Darüber berichtet Walter Schellenberg in seinen Memoiren folgendes: „Wir waren schon alle wieder zum Flugzeug zurückgekehrt, als festgestellt wurde, daß Hitlers Leibarzt Dr. Morell fehlte. Nach etwa zehn Minuten kam er in Begleitung dreier Soldaten schweißtriefend angelaufen. Die Landser erklärten, sie hätten diesen Mann in einem Waldstück angetroffen; er habe, um wieder zum Flugzeug zu kommen, die Feuerzone umgehen und den sicheren Umweg durch die Wälder machen wollen. Bei diesem Vorfall hatte Morell nicht weniger Spott einzustecken als auf einem anderen solchen Frontflug. Wir waren in so böiges Wetter geraten, daß Morell laut stöhnte und sich übergeben mußte. Hitler sah seinen Leibarzt mißfällig an und sagte so laut, daß es jeder hören konnte: ,Dieser dicke Kerl hat beim Frühstück wieder mal so viel in sich hineingezwungen, daß ihm jetzt schlecht davon ist.’ Am Abend ließ Himmler mich rufen und gab mir die Weisung, Morell hinfort überwachen zu lassen, dies solle aber äußerst vorsichtig geschehen. Er hatte wohl schon seit längerer Zeit den Verdacht, daß Morell seine Beziehungen zu Hitler dazu ausnutzte, um sich für mehr als seine ärztliche Aufgabe zu interessieren. Daß Hitler nun seinen Leibarzt zum Gespött aller machte, schien ihm seine bis dahin noch gehegte Scheu vor der Stellung Morells zu nehmen. Himmler glaubte auch, Morell schlage aus der Gunst Hitlers Kapital. Tatsächlich schwamm Hitlers Leibarzt im Geld. Er besaß unter anderem in Böhmen und Mähren große Fabriken, die Äther und Medikamente herstellten. Später trat noch der Verdacht hinzu, daß er bewußt die Gesundheit Hitlers untergrabe. So verschrieb er Hitler ständig Pillen, die beruhigend auf Magen und Darm wirken sollten, in Wirklichkeit aber soviel 28
Strychnin enthielten, daß man die Lähmungserscheinungen Hitlers in den folgenden Jahren darauf zurückführte. Eine Verbindung mit feindlichen Geheimdiensten konnten wir Morell nicht nachweisen.” Ferner überliefert Schellenberg den Inhalt einer erregten Aussprache mit Himmler, in deren Verlauf er den Vorschlag machte, Hitler entweder unter Darlegung der Kriegslage (März 1945) zum Rücktritt zu bewegen oder mit Gewalt zu beseitigen oder mit Hilfe der Ärzte zu isolieren. Die letzte Lösung erschien Himmler als die günstigste, da auch er sich über Hitlers Gesundheitszustand und Regierungsfähigkeit ernstlich Gedanken gemacht hatte. Himmler konfrontierte danach Professor de Crinis, Dr. Morell und Dr. Stumpfegger mit Martin Bormann. Zwei Tage später erfuhr Schellenberg von Professor de Crinis das Ergebnis: die Ärzte hatten es abgelehnt, sich festzulegen und „im übrigen seien alle ihre Argumente Bormann gegenüber fruchtlos geblieben. Als ich Himmler darüber unterrichtete, bat er mich, über diese Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren.” Über diesen Vorgang ist bereits oben aus der Sicht Bormanns von Professor Giesler berichtet worden (25). Es ist kein Zeuge aus der engeren bzw. weiteren Umgebung Adolf Hitlers bekannt geworden, der Dr. Morell geschätzt hätte — sogar Martin Bormann und Eva Braun lehnten ihn als Mensch und Arzt ab. Als Dr. Morell einmal Martin Bormann ein Medikament verschrieben hatte, nahm Bormann dieses Mittel nicht etwa ein, sondern soll es seiner Frau geschickt haben, mit dem Auftrag, es zu verschenken (8). So gering war das Vertrauen Bormanns in die ärztliche Kunst des Leibarztes Adolf Hitlers, für den er aber höchst eigenartigerweise eine Lanze brach, wie dem Gespräch mit Professor Giesler klar entnommen werden kann und worauf noch später eingegangen wird. In einem der zahlreichen Briefe Bormanns an seine Frau läßt er sich über den Fahrer des Leibarztes in kleinlich-gehässiger Weise aus und nennt abschließend Dr. Morell „eine wahre Pest” (28). Als jedoch die Entfernung dieser „wahren Pest” aus dem Hauptquartier bzw. aus der Reichskanzlei zur Diskussion stand, nahm Bormann wider Erwarten und mit Nachdruck für die Wei29
terverwendung Dr. Morells Stellung mit Gründen, die ein Arzt rasch und überzeugend widerlegt hätte. Das geht aus dem Gespräch Professor Gieslers mit Martin Bormann eindeutig hervor. Anfang der 30er Jahre fungierte Dr. Karl Brandt noch als „Erster Begleitarzt des Führers”. Als nach dem 30. 1. 1933 eine ungeheure Arbeitslast auf Adolf Hitler zukam, behielt er seine ungeregelte Lebensweise, nämlich die Nacht zum Tage zu machen, bei. Der Schlaf wurde durch Anwendung pharmazeutischer Mittel herbeigerufen. Oberst Hoßbach konstatierte, daß Adolf Hitler während einer militärischen Übung, wohl zufolge der Übermüdung in frischer Luft, plötzlich vom Schlaf übermannt wurde. Mitte der 30er Jahre stellten sich zunehmende Verdauungsbeschwerden ein. In diesem Stadium riet der Partei-Photograph Heinrich Hoffmann dem Führer und Reichskanzler, den ehemaligen Schiffsarzt Dr. Morell zu konsultieren. „Ein sehr merkwürdiger und der übrigen Umgebung im Grunde höchst unsympathischer Mann. Morell verordnete eine Kur zur Verbesserung der Darmflora, die Erfolg hatte. Er wurde ihm unentbehrlich und ging bald auch dazu über, ihm Vitaminund Traubenzuckerinjektionen zu verordnen, um seine Spannkraft künstlich zu steigern, eine im Grunde höchst gewissenlose Methode, die noch verhängnisvolle Folgen zeitigen sollte.” (29) Diese medizinischen Erfolge Morellscher Heilpraktiken am Staatsoberhaupt können aus der Sicht der heutigen Erkenntnisse jedoch nur als Scheinerfolge bewertet werden. Zum besseren Verständnis ist es daher notwendig, noch einmal in die Reichskanzlei zurückzukehren, wo Adolf Hitler am 24. 2. 1945 seine letzte Ansprache an die Gauleiter des Deutschen Reiches gehalten hat. Der ehemalige Gauleiter Rudolf Jordan berichtet darüber: „Bormann begrüßte uns kurz und unpersönlich; wie stets versucht er seine Unsicherheit durch Betriebsamkeit zu tarnen: ,Parteigenossen! Bitte einmal herhören! Der Führer befindet sich im Augenblick in wichtigen, um nicht zu sagen wichtigsten militärischen Besprechungen. Trotzdem wird er sich die Zeit nehmen, um zu Ihnen zu sprechen. Nach seiner Ansprache wird er gemeinsam das Essen mit Ihnen einnehmen; er kann jedoch heute nur kurze Zeit in Ihrer Mitte bleiben, denn er wird anschließend sofort 30
wieder bei entscheidenden militärischen Besprechungen erwartet. Ich kann verstehen, daß Sie gerade heute vieles dem Führer unterbreiten wollen. Aber er darf in der augenblicklichen Situation nicht abgelenkt werden. Ich appelliere an Ihre Disziplin: verschonen Sie den Führer heute mit allen Ihnen auch noch so wichtig erscheinenden Fragen. Was ich Ihnen jetzt gesagt habe, ist der Wunsch des Führers und ich bin gewiß, daß Sie ihn erfüllen werden!’ Nach dieser Mitteilung herrschte zunächst betretenes Schweigen. Sogar noch in dieser Stunde eine Sperrmauer? Einer von uns richtet an Bormann mit entschlossener Stimme die Frage: ‚Parteigenosse Bormann! Was Sie soeben gesagt haben, ist das der Wunsch des Führers oder sein Befehl?’ Bormann schaltet schnell: ,Meine Herren! Was ich Ihnen gesagt habe, das ist der Wunsch des Führers — und ich glaube, damit für uns auch sein Befehl.’... Unsere Augen sind zur Tür gewendet. Langsamen Schrittes betritt Adolf Hitler, von Bormann geleitet, den Saal. Wie unter einer schweren Last gebeugt, mit ernstem Gesicht, tritt er in unsere Mitte, entbietet uns zunächst stumm seinen Gruß. Dann drückt er jedem von uns die Hand. Es sind traurige, müde Augen, in die wir blicken, nicht mehr die lebendigen, alles durchdringenden von ehedem__ Nach dieser Zeremonie gehen wir gemeinsam in den anschließenden Reichskabinettssaal, in dem Hitler zu uns sprechen wird. Wir sitzen dicht um ihn herum, es herrscht Totenstille. Der Eindruck der Erschöpfung verstärkt sich. Hitlers Schultern hängen schlaff herunter, der Rücken ist stark gekrümmt und die Gesichtsfarbe blaß und fahl, die Haare merklich ergraut... Langsam, stockend, mit tiefer schleppender Stimme beginnt er: ,Meine Kampfgenossen.’ Als wenn es kein Drängen in dieser Stunde gäbe, keine gebietende Gegenwart, verweilt er in einer geschichtlichen Betrachtung des Ersten Weltkrieges und seines Endes. Während seiner gequälten Rede überlaufen ihn mehrmals Schulterzuckungen, die er durch nervöse Gegenbewegungen abzureagieren sucht. Seine linke Hand hält er unter der Tischkante 31
verborgen. Gelegentlich greift er mit der rechten Hand nach ihr, gleichsam, um sie zur Räson zu bringen ... So sehr wir von diesen fast seherisch vorgebrachten Argumenten überzeugt sind — auf das, worauf wir in dieser Stunde warten: auf klare und konkrete Weisungen und Parolen für unser Verhalten in diesen Tagen, in denen der Feind bereits auf deutschem Boden steht — warten wir vergebens. Hitler beendet seine Ansprache mit einigen kurzen Hinweisen auf ,neue Waffen’... Wir erheben uns still zum Gruß — und wissen eines: das war nicht mehr unser Hitler, wie wir ihn gekannt hatten ... ein dem Tode Verfallener, ein Einsamer, ein Verlassener, der bereits auf den Trümmern seines Werkes stand, ohne daß es ihm schon voll zum Bewußtsein gekommen war. Als wir Hitler in den Eßraum folgten, befreit sich einer der alten Kämpen von dem Alpdruck der Stunde mit dem gequälten Wort: ,Um Gottes willen!’ Inzwischen war Bormann mehrere Male aus dem Raum geeilt und wieder zurückgekommen. Schließlich unterbricht er den Führer mit einer Meldung, die ihm eine Ordonnanz gereicht hat. Hitler steht spontan auf, hebt die Hand zum gemeinsamen Gruß an uns alle, die wir uns mit ihm erhoben haben. Im Hinausgehen sagt Bormann noch zu den Umstehenden: ,Also, in vierzehn Tagen ... Aber wir werden nicht mehr gerufen. Es war das letzte Treffen des Führerkorps der Partei.” (30) Diesem dramatischen Bericht eines prominenten, gläubigen und enttäuschten Nationalsozialisten, der seines Umfanges wegen nur im Auszug wiedergegeben werden kann, kann ein gewisser geschichtlicher Wert nicht abgesprochen werden, da er in mehreren Punkten wesentliches für diese Arbeit über Martin Bormann enthält: a) Hitler dürfe in der augenblicklichen Situation (24. 2. 1945) nicht abgelenkt werden. b) „Sogar noch in dieser Stunde eine Sperrmauer ?” c) Die Beschreibung der Erscheinung und des sichtlichen Ge32
sundheitsverfalls Adolf Hitlers, die den „alten Kämpen” zu dem verzweifelten Ausruf „Um Gotteswillen!” bewegen, d) „Das war nicht mehr unser Hitler, wie wir ihn gekannt hatten ..., der bereits auf den Trümmern seines Werkes stand, ohne daß es ihm schon voll zum Bewußtsein gekommen war.” Die Punkte a) und b) beinhalten wie — d. h. mit welch plumpen, nicht nachprüfbaren Vorwänden — Martin Bormann die „Sperrmauer” zwischen Staatsoberhaupt und allen jenen zu errichten verstand, die Tatbestände und Sachverhalte klar dargelegt hätten. So verhinderte Bormann, daß Adolf Hitler über die wirkliche Lage im Lande angemessen unterrichtet wurde. Der verfallende Gesundheitszustand Adolf Hitlers begünstigte dieses Vorgehen Bormanns erheblich. Für den Gesundheitszustand Adolf Hitlers, der auch als „Gesundheitsverfall” bezeichnet wurde, war aber der Leibarzt verantwortlich. Der Ruf dieses Leibarztes scheint nicht so makellos gewesen zu sein, wie es von dem Leibarzt eines Staatsoberhauptes erwartet werden konnte. Darüber mögen einige Augenzeugenberidite Aufschluß geben. Der Gerichtspsychologe beim Nürnberger Prozeß, G. M. Gilbert, berichtet von einem Besuch und Gespräch mit Emmy Göring, der Frau des Reichsmarschalls Hermann Göring, am 23. März 1946 folgendes: „Nachdem Frau Göring ihre Tochter Edda zum Spielen geschickt hatte, sagte sie zu mir: ,Können Sie sich vorstellen, daß der Verrückte Befehl gab, das Kind da zu erschießen?' Dann erzählte sie mir voller Verbitterung, wie sie auf Hitlers Befehl verhaftet wurden und erschossen werden sollten, weil Hitler Göring der Treulosigkeit verdächtigte ... ,Hitler muß geisteskrank gewesen sein', stieß Frau Göring hervor. ,Haben Sie mit Dr. Morell gesprochen? Er muß es gewußt haben. Er hat ihn täglich behandelt.’ Gilbert: ,lch habe mit Dr. Morell gesprochen. Er schien sich über die Behauptungen Sorgen zu machen, seine Injektionen hätten eine ungünstige Wirkung bei Hitler hervorgerufen. Aber er war kein Psychiater und ich halte ihn mehr oder weniger für 33
einen Quacksalber. Jedenfalls schien er mir selbst auf dem besten Wege, irrsinnig zu werden.' Frau Göring: ,Das glaube ich wohl! Ein Arzt, der ihn jeden Tag behandelte, hätte feststellen müssen, daß mit dem Mann etwas nicht stimmte. Ich konnte es selbst sehen, er war nicht normal!’ Gilbert: ,Wenn ein Psychiater Hitler für anormal erklärt hätte, meine ich, wäre der vermutlich erschossen worden.’” (31) In diesem Zusammenhang sei noch einmal an die Worte Professor Gieslers erinnert, die er zu Bormann über den Leibarzt sagte: „Ich habe es dem Chef (Hitler) schon einmal gesagt, der Morell dünstet wie ...” Die Einstufung als Quacksalber erfuhr Dr. Morell außer von dem Gerichtspsychiater Gilbert auch durch Verhöroffiziere der Alliierten (l und 6). Professor Albert Speer schreibt in seinen Erinnerungen (32): „Auch Eva Braun wurde auf Hitlers Geheiß von ihm (Morell) untersucht. Sie erzählte mir danach, daß er ekelerregend schmutzig sei, und versicherte angewidert, sie lasse sich nicht länger von Morell behandeln.” Ein weiterer Zeuge im Hauptquartier, General Heinz Guderian, schreibt über Dr. Morell in soldatischer Kürze: „Hitler riet mir sodann, seinen Leibarzt Morell wegen meines ihm bekannten Herzleidens zu konsultieren und mich von ihm spritzen zu lassen. Die Konsultation habe ich ausgeführt. Nach Befragen meines Berliner Arztes lehnte ich die mir dargebotenen Spritzen aber ab. Das Beispiel Hitlers ermutigte nicht gerade zu einer Behandlung durch Herrn Morell.” (33) Albert Speer handelte ebenso wie General Guderian, als ihm von Adolf Hitler eine Untersuchung und anschließende Behandlung durch den Leibarzt empfohlen worden war (32). Professor Dr. H. F. K. Günther überliefert (22): „Hitlers Leibarzt: Ich hatte im Internierungslager eines Abends einen Lagergenossen in dessen Stube besucht, einen schlesischen Grafen meiner Altersstufe. Da kamen einige Kameraden eines Außenkommandos in ihre Stube zurück, und einer erzählte, in 34
der Stadt habe er in einer Zeitung gelesen, Hitler habe einen Leibarzt gehabt; er nannte den Namen, einen in Deutschland seltenen, in England häufiger vorkommenden Namen. Da schlug der Graf mit der Faust auf den Tisch und schrie: ,Was, dieser Schuft! Der hat mir meine Frau verrückt gemacht.’ Er berichtete, die Gräfin, nervenkrank, habe sich in Berlin in die Behandlung dieses Arztes begeben, dessen Heilmittel ihr aber den Verstand zerstört hätten. Er habe sie daher dieser Behandlung entzogen und in eine Heilanstalt gebracht, aus der sie nach längerer Zeit geheilt entlassen worden sei. Ich habe später ein Bild dieses Arztes gesehen. Wie hatte Hitler ein solches Gesicht täglich um sich ertragen können? Menschenkenntnis?” Im Hinblick auf die extrem späte Eheschließung Adolf Hitlers mit Eva Braun (Ende April 1945), der das freiwillige Ausscheiden dieser beiden Ehepartner aus dem Leben fast unmittelbar danach folgte, meint Prinz zu Schaumburg-Lippe (34), ehemals hoher SA-Führer, indem er eine Verbindung konspirativer Art zwischen Dr. Morell und Martin Bormann andeutet: „daß Hitler, wie ich annehme, spätestens zu jener Zeit, wahrscheinlich aber schon mindestens seit Monaten eben nicht mehr der Hitler war, der er gewesen. Und auch diese Lesart würde letzten Endes zu Lasten eines Mannes gehen, der ohne Martin Bormanns Macht im Hintergrunde niemals hätte handeln können, wie er tatsächlich gehandelt hat. Dr. Theo Morell — von Hitler später zum Professor ernannt — war als ganz unbekannter Arzt aus Südamerika gekommen. Zu einer Zeit, als in Hitlers Partei viele der berühmtesten Ärzte Mitglied waren und Hitler Dr. Brandt, einen guten, sein Vertrauen genießenden, menschlich absolut sauberen jungen Mann, als Leibarzt hatte, kam Morell dazu... In der Umgebung Hitlers wie ein Fremdkörper wirkend. Ohne jede innere Beziehung zur Partei. Ich selbst war bei Morell in Behandlung gewesen. Weil ich glaubte, Hitlers Leibarzt müsse ein außerordentlicher Arzt sein. Aber ich war bald schon für ihn kein interessanter Patient. Er überließ mich seinem Assistenzarzt, Dr. Weber. Als ich ihn das letzte Mal in Berlin sprach, da war der arme Dr. Weber voll35
kommen am Ende seiner Kräfte. Er muß Furchtbares durchgemacht haben. Er sagte selbst, seine Nerven seien am zerreißen, er könne und wolle das alles nicht mehr mitmachen. Er weinte. Ich kannte ihn als einen anständigen Mann, völlig unpolitisch und ängstlich. Was das Furchtbare war, unter dem er so sehr zu leiden hatte, war von ihm nicht zu erfahren. Er sagte mir später: ,Sie sind in einer guten Lage — man hat Sie weggejagt — seien Sie doch zufrieden damit — ich wollte, ich wäre in Ihrer Lage.’ Was Dr. Weber erlebte, habe ich erst viel später erfahren. Damals aber wußte ich schon: Morell ist ein Mann von Martin Bormann. Und heute halte ich Professor Morell für schuldig daran, daß Hitler nicht mehr er selbst war, als der Krieg in die letzte Entscheidung ging. Ich glaube Hitler gut genug gekannt zu haben, um zu wissen, daß ein normaler Hitler niemals einem Martin Bormann derartige Vollmachten gegeben haben würde. Ich bin weiterhin davon überzeugt, daß Martin Bormann nur diesem zweiten Hitler soviel hat vormachen und verschweigen können. Die äußerste Notlage des deutschen Volkes einerseits und die schwere gesundheitliche Schädigung Hitlers andererseits boten dem Intriganten Bormann die Möglichkeit, alle Macht an sich zu reißen. Er allein konnte stets während dieser letzten Zeit unmittelbar im Auftrag und auf Befehl Hitlers durchgreifen, selbst gegen den Reichsführer SS (Himmler) und den Reichsmarschall Hermann Göring, die er ja auch noch abgesetzt hat.” Die Mitteilungen des Gauleiters Jordan, von Emmy Göring, Albert Speer, General Heinz Guderian, Professor Dr. Günther und Prinz zu Schaumburg-Lippe machen den verzweifelten Ausruf des „alten Kämpen” „Um Gotteswillen!” verständlich. Martin Bormanns Wachsamkeit entging wenig; „er hatte seine Augen überall, darin zeigte sich der ehemalige Gutsverwalter”, meinte Professor Giesler anerkennend (25). Um so mehr wundert es, daß er, dem der sichtliche Gesundheitsverfall Adolf Hitlers nicht entgangen sein kann, keinen Anlaß fand, dagegen etwas zu unternehmen. An Einfallsreichtum hat es Martin Bormann nicht gemangelt. Wenn auch im täglichen Umgang mit einer Person Veränderungen, für die es verschiedene Anzeichen gibt, nicht 36
gleich erkannt werden, so hätte spätestens der „Ärztestreit”, über den sich Adolf Hitler beklagte, den allgegenwärtigen Sekretär alarmieren müssen. Volk und Reich befanden sich in einem „Totalen Krieg” (35), von dessen Ausgang das Schicksal aller, ja jedes Deutschen abhing. Dennoch drängte Martin Bormann nicht auf eine notwendige Besserung der gesamten Führung des Reiches, die sicher eingetreten wäre, wenn das von ihm so geschätzte Staatsoberhaupt, wie er häufig betonte, aus den Händen des „Quacksalbers” (31) genommen und einem erfolgreichen Ärzteteam zugeführt worden wäre. Auch Professor Giesler gegenüber hat Martin Bormann geäußert, „daß er nur eine Aufgabe und ein Ziel habe, das sei, als Nationalsozialist dem Führer treu zu dienen. Sein ganzer Ehrgeiz sei, dies so gut zu tun, wie er es vermag. Die Autorität, die er dazu brauche, gebe ihm der Führer. Er setze sie ein, aber sie diene ausschließlich nur dieser, seiner Aufgabe.” (25) Bei dieser betonten Ergebenheit vor Adolf Hitler befremdet es nicht wenig, daß er anläßlich der bereits zu Anfang dieses Kapitels geschilderten, durch Himmler veranlaßten Konfrontation der Ärzte — wider Erwarten — entscheidend dazu beitrug, daß alles beim alten blieb. Dr. Morell durfte Adolf Hitler weiter „behandeln”. Bei diesen Handlungen ist ein Riß zwischen den Worten bzw. den Beteuerungen und den Taten Martin Bormanns deutlich sichtbar geworden. Es scheint, als ob Dr. Morell ohne Martin Bormann und der Sekretär ohne den Leibarzt, diese beiden unauffälligen, damals öffentlich unbekannten Männer in der engeren Umgebung Adolf Hitlers nicht hätten wirken können. Dem Anschein nach mieden sie einander — aber sie bekämpften sich nicht.
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DRITTES KAPITEL Die Atmosphäre um Hitler — Zeugen über Bormann — General Koller und Reichsschatzmeister Schwarz — Prof. Morells „Erfindung” — Prof. Killian: „Waren Bormann und Morell Komplizen?”
Im zweiten Kapitel sind wir der chronologischen Wiedergabe des Lebenslaufes von Martin Bormann weit voraus geeilt. Das war unseres Eraditens jedoch notwendig, da nur dadurch das verflochtene Wirken von Martin Bormann und Dr. Morell um das Staatsoberhaupt etwas aufgehellt werden konnte. Im vorliegenden Abschnitt dieser Arbeit über Martin Bormann wird nicht nur seine geschickte Beeinflussung der Atmosphäre um Adolf Hitler diskutiert, sondern auch dargelegt, wie diese Atmosphäre mit Hilfe von Dr. Morell im Sinne Bormanns beeinflußt werden konnte. Wenn es Martin Bormann möglich war, den am 24. 2. 1945 versammelten Reichsleitern zu erklären, daß Adolf Hitler in der gegenwärtigen Lage nicht abgelenkt werden dürfe, so konnte er auch für Ablenkung in vollem Umfang Sorge tragen. Hermann Giesler schreibt darüber recht anschaulich im Kapitel „Sorgen — Führer-Hauptquartier Winniza, Spätsommer/Herbst 1942” seines Erinnerungswerkes (25): „Martin Bormann rief mich aus dem Führer-Hauptquartier Winniza an und trug mir auf, sofort ins Hauptquartier zu kommen: Parteigenosse Giesler, Sie werden hier dringend benötigt, kommen Sie mit allen Linzer Plänen und richten Sie sich auf einige Wochen ein, Beeilung bitte! Wenig später kam ein Anruf von Feldmarschall Keitel mit dem Wunsch, doch baldmöglichst mit meinen Architekturplänen ins Führer-Hauptquartier zu kommen. Dann schaltete sich ein Adjutant ein, der mir sagte, mit welcher Kuriermaschine ich von Berlin aus fliegen könnte. Schon bei der Anrede von Bormann merkte ich auf, erst recht aber bei dem ungewöhnlichen Wunsch Feldmarschall Keitels... 38
Bormann ... sagte nur, Adolf Hitler habe den Wunsch geäußert, mit mir über die Linzer Planung zu sprechen, soweit seine militärische Beanspruchung es zulasse. Nur die Beschäftigung mit städtebaulichen Fragen und mit Architektur-Planungen könne ihn entspannen. Seltsam — Feldmarschall Keitel war in Sorge um den Chef auf denselben Gedanken gekommen, Giesler könnte mit seinen Planungen zur Entspannung beitragen. Während meines Aufenthaltes im FHQ Winniza war ich meist der einzige Gast Adolf Hitlers; wir nahmen zusammen die Mahlzeiten ein, und ich verbrachte bei ihm die langen Abende und Nächte mit ernsten Unterhaltungen, nicht nur über architektonische Planungen. Oft zeichneten wir gemeinsam und besprachen bauliche Details, bis in die ersten Morgenstunden ... Erschöpft von der Anspannung vielseitiger Unterhaltung suchte ich dann mein Lager in der Blockhütte auf, wobei ich im Vorübergehen meist feststellte, daß Bormann immer noch tätig war. Einmal trafen wir uns vor meiner Blockhütte: ,Lieber Professor, ruhen Sie sich nun aus, sicher haben Sie jetzt erkannt, wie notwendig Sie hier sind!’” Über eine weitere, ebenfalls durch Martin Bormann angeregte Maßnahme, Adolf Hitler von den Tagessorgen abzulenken, berichtet Giesler in demselben Werk; der Rüstungsminister Albert Speer habe, aus dem Hauptquartier kommend, Giesler aufgesucht, über die dort empfangenen Eindrücke nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 berichtet und dann besorgt ausgeführt: „Der Führer war und ist auch noch jetzt nach dem Attentat und seinen militärischen und politischen Folgen sehr beansprucht. Aber ich glaube, nun ist es doch an der Zeit, daß du dich im Hauptquartier einfindest. Der Führer muß Abstand gewinnen von dem Attentat und den ganzen Enttäuschungen. Giesler, du bist der einzige, der ihn, und wenn auch nur auf einige Stunden am Tage, ablenken könnte. Trag ihm städtebauliche Probleme vor, Linz und die Donauuferbebauung, das würde ihn auch jetzt interessieren und aus dem dauernden Grübeln herausführen. Nach einigen Tagen kam der Tejefonanruf aus dem FührerHauptquartier. Bormann war kurz: Bitte kommen Sie so bald 39
als möglich, der Führer erwartet Sie. Bringen Sie von Ihren Planungen mit, was ihn interessieren könnte, und natürlich alles, was sich auf Linz bezieht!” Über seinen weiteren Aufenthalt im Hauptquartier schreibt der Verfasser: „Bormann bat mich am nächsten Morgen zu sich. Er gab mir Hinweise: Bitte stellen Sie dem Führer keine Fragen über den 20. Juli und das, was damit zusammenhängt, es sei denn, er spricht von sich aus darüber. Versuchen Sie vielmehr alles, um ihn abzulenken — sprechen Sie mit ihm über Ihre Planungen, vorwiegend Linz, das interessiert ihn am meisten.” Je länger der Krieg dauerte, um so massiver wurde die „Sperrmauer”, die Martin Bormann um das Staatsoberhaupt errichtete; Adolf Hitler lebte in einer derartigen Isolierung, daß nicht einmal mehr „Alte Kämpfer” der NSDAP, wie der Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz oder der Reichsminister und Leiter der Reichskanzlei, Dr. Lammers, zur erforderlichen Berichterstattung vorgelassen wurden. Darüber haben sich Franz Xaver Schwarz bei General Karl Koller mündlich (37) und Dr. Lammers bei Martin Bormann schriftlich (38) bitter, aber erfolglos beklagt. General Koller, der seine Tagebuchaufzeichnungen stenographisch abgefaßt hat, teilt dazu anfangs Mai 1945 mit: „Nachmittags kommt der Reichsschatzmeister Schwarz, der in Thumersbach an der Ostseite des Zeller Sees in einem kleinen Häuschen dicht am Wasser wohnt, mit seinem Arzt, Dr. Bauer, zu mir. Schwarz möchte wissen, wie er sich verhalten soll; er mag nicht in Thumersbach sozusagen versteckt sein. Ich übernehme es, ihn durch sein Verbindungskommando in Zell bei den amerikanischen Behörden zu melden. Ich habe mit Schwarz bisher keine nähere persönliche Berührung gehabt; er ist 70jährig und herzleidend. Mit bitteren Worten beklagt er sich über die Verhältnisse in der Partei und darüber, daß man ihn seit mehreren Jahren systematisch von Hitler ferngehalten und gehindert habe, sich mit ihm über die Zustände auszusprechen. Als er dann einmal durch die Vermittlung von” (Adjutant) „Schaub zu Hitler zum Essen geladen worden sei, hätten ihn Bormann und seine Kumpane so eingerahmt, daß er auf jedes intimere Gespräch mit 40
Hitler verzichten mußte. Immer, wenn er etwas sagen wollte, rissen Bormann oder seine Gehilfen die Rede sofort an sich. Schwarz bezeichnet Bormann als Hitlers bösen Geist, den Totengräber von Partei und Staat. Er sagt: ,lch verstehe aber auch Hitler nicht. Ich war doch der Reichsschatzmeister der Partei, durch meine Hände sind ungeheure Summen, Milliarden, gegangen, und Hitler läßt mich jahrelang nicht vor, er mußte doch selbst das Bedürfnis haben, mit mir zu sprechen. Ich konnte doch mit all den gewaltigen Geldern wer weiß was machen.‘ Nachher erkundigte ich mich bei Dr. Bauer über Hitlers Leibarzt Morell. In Berlin hatte ich Anfang April zufällig am Kurfürstendamm ein Schild mit der Aufschrift — ,Dr. Morell — Haut- und Geschlechtskrankheiten‘ gelesen. Darauf befragte ich meinen Arzt Dr. Sajitz vom Westsanatorium über die Identität, die mir bestätigt wurde. Hitlers vertrauter medizinischer Berater und behandelnder Arzt hat nach dem, was mir Sajitz verriet, eine recht anrüchige Klientel gehabt. Warum wählte sich Hitler diesen Menschen anstelle eines bekannten Internisten oder sonstigen Fachmannes aus? ... Bauer erzählte mir, daß Hitlers Photograph Hoffmann ihm den Morell vermittelte.” Ähnliche Erfahrungen machte der Leiter der Reichskanzlei, Reichsminister Dr. Lammers. Er führt in einem zehn Seiten langen Brief vom 1. Januar 1945 an Martin Bormann Klage darüber, daß er seit dem 24. September 1944 trotz wiederholtem Drängen nicht mehr zum Vortrag gerufen worden sei. Auch seine Versuche, die früheren guten Beziehungen mit Martin Bormann wieder aufzunehmen, seien fehlgeschlagen, so daß er sich „abgehängt” fühle. Die ausführlichen Begründungen, die darin gipfeln, daß bestimmte Bereiche des Staatsapparates auch im Kriege nicht stillgelegt werden dürfen, scheinen Martin Bormann doch soweit beeindruckt zu haben, daß er sich schon am 5. Januar 1945 zu einer Antwort entschloß. In diesem Schreiben kommt Martin Bormanns Gabe, Sachverhalte kurz und verständlich zu formulieren, deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig mischt er sein starkes Bedauern darüber ein, daß Dr. Lammers z. Zt. nicht in seiner Nähe weile, denn auch er 41
sehe selbstverständlich die von Dr. Lammers geschilderten Nachteile. Dieses Bedauern erscheint unaufrichtig, wenn in Betracht gezogen wird, daß Teile der Reichskanzlei, die dem Hauptquartier Adolf Hitlers als „Feldquartier” angeschlossen waren, am 21. Oktober 1944 nach Berlin zurückverlegt worden waren, was kaum gegen den Willen des zu jenem Zeitpunkt schon allmächtigen Martin Bormann befohlen worden sein dürfte. Auch die Vorwände in diesem Brief, die „Telefonsperre” und „ewigen Leitungsstörungen” betreffend, waren nicht stichhaltig, da er außer dem Telefon auch über ein Fernschreibnetz, das sogenannte „Gauleiternetz” und eine auf den Parteicode eingestellte Funkstation verfügte (39). Ein weiterer Hinweis auf die Nachrichtenverbindungen der Parteikanzlei Martin Bormanns ist dem General der Nachrichtentruppe, Albert Praun, zu verdanken (5): „Reichsleiter Bormann behauptete 1944, seine Fernschreibverbindungen zu den Gauleitern genügten nicht, er verlange ein eigenes Funknetz. Aber gerade das wollte General Praun Zivilisten nicht zur Verfügung stellen, weil die Gefahr des Mißbrauchs nahelag. Außerdem verfügte das Heer damals bereits weder über die nötigen Funkgeräte noch Funker, die es zu diesem Zweck hätte freimachen können. Da sprang die Kriegsmarine ein, sehr gegen den Willen des Chefs der Wehrmachtnachrichtenverbindungen, und stellte dem Reichsleiter Bormann das Funknetz zur Verfügung, das er verlangte. Die Kriegsmarine hatte Funkgeräte für U-Boote gehortet und sie nun zur freien Verfügung, da diese ja nicht mehr gebaut wurden. Sie hatte auch noch Funker, die sie nun zu der Parteikanzlei abkommandierte und nicht zum Heer, wo sie dringender gebraucht wurden. Es ist nicht bekannt, ob und wie eine Kontrolle oder Beobachtung des für Reichsleiter Martin Bormann neu geschaffenen Funknetzes erfolgt ist. Hier ist sicher eine Dunkelzone entstanden.” Diesen Angaben zufolge war Martin Bormann jederzeit in der Lage, mit jedermann, vor allem mit dem Leiter der Reichskanzlei, Dr. Lammers, in Verbindung zu treten, der sich auf korrekte Weise darum bemüht hatte, bis er als letzten Ausweg den eingangs erwähnten zehn Seiten langen Brief an Bormann verfaßte. 42
— Die Dr. Lammers in Aussicht gestellte Vorsprache bei Adolf Hitler kam übrigens nicht mehr zustande. Die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Beeinflussung der Atmosphäre um Adolf Hitler durch Martin Bormann, auch mit Hilfe des Leibarztes Dr. Morell, erscheint in einem Falle so klar, daß dieser Vorgang hier nicht unerwähnt bleiben soll. Offenbar störte jeder den Sekretär, der in den Führungskreis des Dritten Reiches Eingang fand und Martin Bormann nicht genehm war. Der Parteiphotograph Heinrich Hoffmann, ein alter Mitstreiter aus der Frühzeit der Partei, verstand es auf volkstümliche Weise, Klatsch aus Münchner Partei- und anderen Kreisen auf gut-bayrisch-witzige Weise Adolf Hitler erheiternd nahezubringen. Dagegen war in Friedenszeiten nichts einzuwenden gewesen. Im Kriege änderte sich die Lage von Grund auf; es entstand Mißstimmung im deutschen Volke, die mit den Terrorangriffen der anglo-amerikanisdien Bomberflotten auf das Reichsgebiet anstieg. Von den deprimierenden Verlusten der Zivilbevölkerung und den umfangreichen Zerstörungen in den Wohnbereichen sollte Adolf Hitler möglichst wenig erfahren. Dazu schreibt Jochen v. Lang (8): „Als Goebbels einmal eine Anzahl Luftaufnahmen von Trümmervierteln in die Reichskanzlei schickte, bekam er sie von Bormann mit der Bemerkung zurück, des Führers Zuversicht dürfe durch solche Bilder nicht beeinträchtigt werden. Auch die Berichte der Gauleiter über die Auswirkungen des Krieges gingen von Bormanns Schreibtisch direkt in die Panzerschränke.” Demnach unterdrückte Martin Bormann die schriftlichen Mitteilungen der Gauleiter ebenso, wie er am 24. 2. 1945 den in der Reichskanzlei fast vollzählig versammelten Gauleitern den angeblichen Wunsch Adolf Hitlers als Befehl übermittelte, ihn „keinesfalls durch behelligende Fragen von seinen militärischen Aufgaben abzulenken”. Die Anwesenheit des gelösten, Heiterkeit verbreitenden Parteiphotographen Heinrich Hoffmann, der sich als „Alter Kämpfer” der NSDAP in seinen Äußerungen kaum einschränken mußte, hätte manche der Informationen, die Martin Bormann so ängstlich und konsequent von Adolf Hitler fernhielt, bekannt 43
werden lassen. Das mußte unter allen Umständen vermieden werden. Daher wurde das Staatsoberhaupt von der Bevölkerung isoliert gehalten. Dazu die Teilergebnisse über „Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg” von Marlis G. Steinert(4l): „Hitler trat langsam in den Hintergrund; das läßt sich ablesen aus dem schwachen Widerhall und der mangelnden Durchschlagskraft seiner Neujahrsansprache (1944), einem weiteren Nachlassen der Hitlerwitze und der Attacken gegen seine Person: die Kritik richtete sich vor allem gegen die von ihm verkörperte Regierung und deren Maßnahmen ... Noch deutlicher wird die gewollte Distanz anhand einer Anordnung Bormanns. Hier wird Hitler den Massen nicht nur in geschichtlicher Proportion vorgestellt, sondern quasi in religiöse Sphären entrückt. Da der Begriff ,Führer‘ Weltbedeutung erlangt habe, sei es erforderlich, bei der Benutzung dieses Wortes in anderen Zusammenhängen Zurückhaltung zu üben... Titel ,Führer‘ soll für Hitler Privileg bleiben, um so Profanierung zu vermeiden. (Anordnung 91/44 vom 29. 4.1944)” Wenn es schließlich doch noch gelungen ist, für Heinrich Hoffmann das Hauptquartier zu sperren, so wäre das selbst einem Martin Bormann allein nicht möglich gewesen. Dem Anschein nach fand er in Dr. Morell tatkräftige Unterstützung. Hier der Sachverhalt: Als Ende 1944 Heinrich Hoffmann Adolf Hitler im Hauptquartier aufsuchen wollte, riet ihm Martin Bormann (8), seines angeblich schlechten Aussehens wegen, den Leibarzt zu konsultieren. Diesen Rat nahm Heinrich Hoffmann an, um so mehr, als er es ja gewesen war, der Dr. Morell Adolf Hitler empfohlen hatte. Inzwischen war Dr. Morell Leibarzt des Staatsoberhauptes geworden. Von Adolf Hitler — nicht aber von seiner Umgebung — geschätzt, war Dr. Morell zum Professor ernannt und mit dem Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet worden (26). Die an Heinrich Hoffmann durchgeführte Untersuchung ergab nichts Nachteiliges, aber zwei Wochen später erfuhr der inzwischen nach München heimgekehrte Photograph von Dr. Morell 44
telefonisch, daß er „ohne selbst krank zu sein, ein ParatyphusAusscheider” sei. Adolf Hitler lehne daher weitere Besuche ab, und Martin Bormann habe inzwischen verfügt, daß Heinrich Hoffmann umgehend isoliert werde (8). Dieser begab sich sofort zu einer Kontrolluntersuchung nach Wien, die jedoch ein gegenteiliges Ergebnis brachte. Obwohl dieses Ergebnis umgehend an Martin Bormann weitergeleitet wurde, antwortete die Parteikanzlei darauf nicht. „Dagegen meldete sich das Wiener Gesundheitsamt, weil aus dem Führer-Hauptquartier die Anweisung gekommen war, Hoffmann als gefährlichen Seuchenverbreiter zu isolieren. Nur das ärztliche Zeugnis mit dem verwandtschaftlichen Schutz” (des Gauleiters von Wien, Baldur von Schirach) „bewahrte ihn vor der Zwangsmaßnahme.” (8) Zum Jahresende 1944 war die Angelegenheit noch nicht ausgeräumt; es erschien ein Kriminalbeamter aus dem Begleitkommando des Hauptquartiers mit dem Auftrag, „alle Personen zu vernehmen, die sich mit dem Fall Hoffmann befassen, und sie gegebenenfalls zu verhaften”. Die weiteren bakteriologischen Untersuchungen mußten unter SS-Aufsicht durchgeführt werden. Auch diese stets negativen Befunde gingen an die Parteikanzlei. Dennoch hatte Hoffmann in das Hauptquartier keinen Zutritt mehr. Heinrich Hoffmann war hartnäckig in der Verfolgung seiner Absichten. Er, der seinen Beruf unter erschwerten Bedingungen in England erlernt hatte, machte sich schon im Jahre 1905 einen Namen als „politischer Sensationsphotograph”; er hatte im Park des Schlosses Fürstenberg (Donaueschingen) Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II. gemeinsam aufgenommen. Auch die Bilder von Joachim v. Ribbentrop und Joseph Stalin nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrages im Jahre 1939 in Moskau stammen von ihm. Das Monopol, Bilder von Adolf Hitler und Parteiveranstaltungen anfertigen zu dürfen, besaß er etwa zwanzig Jahre lang (42). Anfang April 1945, also wenige Wochen vor dem Zusammenbruch, erschien er, der ja aufgrund der negativen Befunde ein gutes Gewissen hatte, noch einmal, aber unangemeldet in der 45
Reichskanzlei. Hier wurde er von einem offensichtlich beeinflußten Adolf Hitler unwillig empfangen. Martin Bormann herrschte ihn mit den Worten an: „Wer hat Dir gesagt, daß Du hierher kommen sollst? Es wäre besser gewesen, Du hättest Strahlen erfunden, um die Flugzeuge herunterzuholen.” (8) Der Sohn Heinrich Hoffmanns vertritt heute die Ansicht, daß Dr. Morell nicht in dieses Spiel eingeweiht gewesen sei, mit der Begründung, daß die bakteriologische Untersuchung nicht von ihm sondern von einem (ungenannten) Institut vorgenommen worden sei, wo Martin Bormann einen positiven Befund „bestellen” konnte (8). Wie diese Sache nun auch wirklich gewesen sein mag, ohne Billigung des Leibarztes hätte Martin Bormann nicht so zäh gegen Heinrich Hoffmann vorgehen können. Schriftliche Befunde über diesen Vorgang liegen nicht vor. Bekannt ist nur, daß Heinrich Hoffmann von Dr. Morell telefonisch eine Mitteilung über den positiven Befund der bakteriologischen Untersuchung erhielt. Eine den Wortlaut dieses Telefonats bestätigende schriftliche Mitteilung vom Leibarzt selbst, wie es der Bedeutung der Sache angemessen gewesen wäre, ist nicht erwähnt, anscheinend nicht erfolgt oder verlorengegangen. Diese Unklarkeiten erlauben wohl die Frage, ob etwa der als dynamisch charakterisierte Sekretär den als „weichlich” geschilderten Leibarzt gezwungen haben könnte, diese schwerwiegende Mitteilung an Heinrich Hoffmann telefonisch zu machen. Es ist denkbar, wenn in Betracht gezogen wird, welch wechselvolle Umstände Dr. Morell vom Schiffsarzt der ,,Hapag” und „Hamburg-Süd” über seine berüchtigte Praxis in Berlin (1) zum Leibarzt Adolf Hitlers und weiter begleitet haben. Die Kenntnis dieser Umstände kann Martin Bormann zur Erreichung seiner Absichten ausgenutzt haben. Dr. Morell verkündete in einem Vortrag im August 1942, dem auch der Reichspressechef Dr. Dietrich beiwohnte, daß er innerhalb von zehn Tagen ein gut wirksames Läusepulver für die im Osten kämpfende Wehrmacht entwickelt habe. Der Reichspressechef nahm diese Ausführungen des Leibarztes Adolf Hitlers kritiklos zur Kenntnis. In einem fachkundigen Hörerkreis hätte 46
diese Behauptung Dr. Morells Heiterkeit hervorgerufen, da bekanntlich in der chemischen Industrie vom Laboratoriumsversuch bis zur Fabrikationsreife eines Produktes meist eine Laufzeit von Jahren erforderlich ist. Dr. Morells „Russla-Läusepulver” hat sich jedoch im Einsatz an der Ostfront (1942: 100 Tonnen verteilt) nicht bewährt, wie Frontärzte und höhere Sanitätsoffiziere übereinstimmend bestätigt haben (43); dazu der Bericht eines Oberfeldarztes des Ostheeres (43): „Der Russla-Puder war ein Schwindel und wohl ein übles Geschäft, das unzähligen unserer Kameraden die Gesundheit kostete, ja das Leben. Unsere Truppe wurde dadurch immer mehr geschwächt. Wir haben bei unserer Armee jährlich etwa eine Division an Fleckfieberkranken gehabt. Alle unsere entsprechenden Berichte und Eingaben haben ihr Ziel nie erreicht.” Das bisher erfolgreich verwendete Präparat, das Läusepulver der IG Farben „Lauseto”, wurde von Generalarzt Bickerth nicht mehr an die Truppen ausgegeben. Er stützte sich dabei auf einen „Führerbefehl”, der die weitere Ausgabe verbot (43). Erst viel später ist bekannt geworden, daß Dr. Morell für seine eigenen Schreiben Briefbogen mit dem Kopf „DER FÜHRER UND REICHSKANZLER” verwendete und gelegentlich sogar die mit übergroßen Typen bestückte Sonderschreibmaschine Adolf Hitlers für seine Mitteilungen benutzt hat. Durch solche Machenschaften kann Dr. Morell „Führerbefehle” vorgetäuscht und erlassen haben (43). Ferner hat Dr. Morell in Ölmütz (Böhmen) angeblich die erste Penicillinproduktion im Dritten Reich aufgebaut. Daraus wurden dreißig Ampullen entnommen und einer fachmännischen Prüfung in der Universität Breslau unterzogen. Es wurde keine Spur Penicillin festgestellt, die Ampullen enthielten nur reines Wasser. Über diesen ungeheuerlichen Tatbestand berichtet ausführlich Prof. Dr. med. Hans Killian in dem Kapitel „Der große Bluff des Dr. Morell” seines Buches „Über aller Macht ist Licht — Der Kampf gegen die Sepsis” (26). Am Ende dieses Kapitels stehen die Worte: „Offiziell ist damals von unseren Ergebnissen nichts bekannt 47
geworden. Wir mußten schweigen, es hätte sonst zu große Unannehmlichkeiten gegeben.” (26) Für diese nachweislich vorgetäuschten Leistungen und Erfolge hat das Staatsoberhaupt seinen Leibarzt mit der Verleihung des Professortitels und des Ritterkreuzes zum Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet. Es bedarf keiner Erläuterung, was mit Dr. Morell geschehen wäre, wenn Adolf Hitler den wahren Sachverhalt erfahren hätte, da dann auch die Anwendung der fragwürdigen Medikamente bei Hitler selbst bekannt geworden wäre. Ob bzw. wie weit Martin Bormann von diesen Angelegenheiten Dr. Morells Kenntnis hatte, kann aufgrund der z. Zt. vorliegenden Unterlagen nicht zuverlässig ermittelt werden. Es ist aber wahrscheinlich, daß Martin Bormann einiges gewußt und entsprechend verwendet hat. Er hat es schon immer verstanden, aus dem Hintergrund andere zu steuern, wie es bei dem Mord an Walter Kadow eindeutig bewiesen ist. Zu dieser Ansicht neigt heute auch Prof. Dr. Hans Killian, wenn er unter Würdigung des Beitrages von Henning Fikentscher über „Hitlers Leibarzt Morell” (43) in der „Deutschen Hochschullehrerzeitung” schreibt: „Waren Morell und Bormann Komplizen? In dem genannten Artikel in der Hochschullehrerzeitung wird nun die sehr enge Beziehung zwischen Bormann und Morell, die unzweifelhaft den Tatsachen entspricht, hervorgehoben. Zwangsläufig bringt dies auf den Gedanken einer Konspiration gegen Hitlers Aktionsfähigkeit oder gar sein Leben. Wenn die These des Generals Gehlen zutreffend ist, und dafür spricht vieles, daß Bormann jener Verräter in der nächsten Umgebung Hitlers war, der jede geheime Entscheidung nach Moskau meldete, dann bekommt die Zusammenarbeit dieser beiden düsteren Männer eine geradezu infernalische Bedeutung.” Im folgenden Kapitel soll die unterbrochene chronologische Darstellung des Lebenslaufes von Martin Bormann fortgesetzt werden.
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VIERTES KAPITEL Bormanns Aufstieg in der NSDAP — In der Hilfskasse der Partei — Darre und General Lenz über Bormann — Röhm sucht Material gegen Bormann u. a. Gegner — Heydrich schafft „zündfähige Unterlagen” — Bormann schlägt zu — Der 30. Juni 1934 Nach der im Februar 1925 erfolgten Entlassung Martin Bormanns aus dem Gefängnis zu Leipzig begann sich ein übersichtlicherer Verlauf seines Werdeganges als bisher abzuzeichnen. Er begab sich, da er jetzt mittellos war, wieder nach Parchim, wo er bis Mai 1926 blieb, um es dann endgültig zu verlassen. Er wohnte bei seiner Mutter in Weimar, die ihre Wohnung, obwohl schon zum zweiten Male verwitwet, in der Belvedere-Allee behalten konnte, dank der Zuwendungen ihres Sohnes Albert, der später einer der Adjutanten Adolf Hitlers wurde. Für einen Vorbestraften, auch aus national-politischen Motiven, dürfte es zu jener Zeit doch schwer gewesen sein, eine Beschäftigung zu finden. So ist sein Eintritt in den „Sturmbann”, eine ursprünglich nationale, später nationalsozialistische Organisation, verständlich. In den Jahren 1925/26 schwelten aus weltanschaulichen Gründen Unstimmigkeiten zwischen dem Schriftsteller und Gauleiter Thüringens, Arthur Dinter, und Adolf Hitler. Dieser Zustand wurde durch die Ablösung Arthur Dinters und Einsetzung Fritz Sauckels beendet. Hans Severus Ziegler, damals Herausgeber einer NS-Wochenzeitung und freier Schriftsteller, hat sich im Jahre 1927 des arbeitslosen Martin Bormann angenommen, indem er ihn mit Aufgaben wie Inkasso, Buchhalter, Kraftfahrer und dem Vertrieb seiner Wochenzeitung erfolgreich betraute. Ende 1927 wurde er zufolge seiner Zuverlässigkeit und seines Fleißes schon Geschäftsführer und Presseobmann des Gaues Thüringen. Seine Versuche, auch als Redner aufzutreten, schlugen fehl. Erste Erfolge stellten sich bei seiner Tätigkeit als Geschäftsführer ein, da er hier durch Rundschreiben, Anordnungen usw. vom Schreibtisch aus „regie49
ren” lernte, eine Fähigkeit, die er im Kriege in erheblich erweitertem Umfang bis zur Vollendung entwickelte. Hier knüpfte Martin Bormann auch die ersten Verbindungen über den Gau Thüringen hinaus, sei es durch Besuche von Parteigrößen oder durch eigene Dienstreisen in das „Braune Haus”, die Zentrale der NSDAP in München. In Weimar wurde Martin Bormann auch mit Adolf Hitler bekannt. Durch Ehrlichkeit in Geldangelegenheiten, Zuverlässigkeit und Fleiß hatte sich Martin Bormann in Parteikreisen einen guten Ruf erworben. Daher überraschte seine Versetzung im Oktober 1928 in die Zentrale der Partei nach München nicht. Dort traf er zu einem Zeitpunkt ein, als sich ernste Schwierigkeiten zwischen der Obersten SA-Führung (OSAF) und einer Versicherungsgesellschaft ergeben hatten. Die SA-Führung wollte ihren bei „Saalschlachten” verletzten SA-Männern allgemeinen Versicherungsschutz zukommen lassen, während die Versicherungsgesellschaft nur bei Invalidität oder bei Tod des betroffenen SA-Mannes Schadenersatz leisten wollte. Nach einigen Überlegungen gelang es Martin Bormann, diese Versicherung in die „Hilfskasse der Partei” umzuwandeln. Als durch diese geschickte Maßnahme und durch rechtliche Absicherung gegen staatliche Finanzkontrollen unter Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes das angestrebte Ziel erreicht war, wurde der Initiator Martin Bormann von den ihn umgebenden Laien, aber auch von Adolf Hitler selbst als „Finanzgenie” hochgelobt. Im September 1929 heiratete Martin Bormann die Tochter des Majors a. D. Walter Buch, der Vorsitzender des Untersuchungsund Schlichtungsausschusses für Streitfälle innerhalb der Partei war. Trauzeugen waren Adolf Hitler und Rudolf Hess. Im Spätherbst desselben Jahres kam Martin Bormann der Einfall, ein NS-Automobilkorps aufzustellen. Dieser Gedanke fand Beifall; am 1. April 1930 wurde die Gründung dieses Korps amtlich bekanntgegeben. Ein Jahr später übernahm Adolf Hühnlein, ein ehem. Offizier, dieses in „NSKK” (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps) umbenannte Automobilkorps; Adolf Hitler erhielt die Mitgliedsnummer l, Martin Bormann erschien unter Nr. 2. Meinungsverschiedenheiten, die im Sommer 1930 zwischen der 50
Obersten SA-Führung (Pfeffer v. Salomon) und Adolf Hitler auftraten, beseitigte er durch „Gleichschaltung”, eine Bezeichnung, die im Dritten Reich oft verwendet wurde. Adolf Hitler ernannte sich selbst zum Obersten SA-Führer, Stabschef wurde der aus Bolivien heimgekehrte Hauptmann a. D. Ernst Röhm. Damals war auch der spätere Ernährungsminister, Walter Darre, der sehr geschätzt wurde, in den engeren Führungskreis aufgenommen worden. Das hatte Martin Bormann erkannt, darum gesellte er sich ihm, auf seine Weise, zu. Anscheinend ging er dabei allzu stürmisch vor, denn Darre sagte später einmal: „Man konnte machen was man wollte, er (Bormann) fand immer einen Grund, sich zu einem zu setzen ... Der Mann war mir in seiner öligen Speichelleckerei zutiefst zuwider.” Weniger drastisch über seine Begegnung mit Martin Bormann äußert sich General Lenz, der ehemalige Kommandeur des Gebirgsjäger-Regiments 100, anläßlich einer Meldung beim Staatsüberhaupt, die Ende November 1938 am „Berghof” stattfand: „Als ich ... die breite Freitreppe zum Hauseingang erklomm, empfing mich dort der SA-Adjutant und ehem. Heeresoffizier, der Obergruppenführer Brückner, mit der entschuldigenden Bemerkung, der Führer habe momentan noch einen Besuch und lasse mich bitten, noch etwas Geduld zu haben. Unmittelbar darauf ließ mir der damalige Reichsleiter und später allmächtige Chef der Reichskanzlei” (verwechselt mit Parteikanzlei) „Bormann sagen, ich möchte doch noch einen Augenblick zu ihm herüberkommen. Er wohnte schräg vis-a-vis vom Führerhaus. Auf Anraten Brückners, der sichtlich froh war, auf diese Weise die unvorhergesehene Pause zu überbrücken, folgte ich dieser improvisierten Einladung. Vom Hausherrn freundlich empfangen, der mich durch sein schönes Haus in den 1. Stock und dort auf den Balkon hinausführte, genoß ich den herrlichen Blick auf die Südseite des Untersberges und die ganze, einmalig schöne Umgebung. In seiner sich beinahe überschlagenden Höflichkeit bot er mir gleich einen Schnaps an, was ich mit der nachdrücklichen Bemerkung ablehnte, ich könne doch unmöglich dem Führer (der bekanntlich Antialkoholiker war) mit einer ,Fahne‘ begegnen! Es war dies übrigens das einzige Mal, daß ich mit Bormann zusam51
mentraf, einem Mann, der in den folgenden Kriegsjahren einen gefürchteten Namen bekam ...” (27) In diese durch emsiges Arbeiten und gelegentliche zweckbedingte Speichelleckerei gekennzeichnete Periode im Leben Martin Bormanns fiel im September 1931 ein Geschehnis, das nicht unerwähnt bleiben sollte. Beamte der politischen Polizei erschienen in seiner Wohnung mit einem Durchsuchungsbefehl und fanden eine Schrift: „Die wichtigsten politischen Parteien und Verbände”. In dieser Schrift fand sich ein Stempel, der sie als Polizeieigentum auswies. Daher wurde Martin Bormann, der durch den Besitz dieser Schrift in den Verdacht gekommen war, über seine rein kaufmännischen Aufgaben in der Hilfskasse auch politisch tätig zu sein, auf das Präsidium vorgeladen. Dort nahm man ihn wegen Verdunkelungsgefahr in vorläufige Haft. Er wurde aber, überraschend für alle Beteiligten, innerhalb weniger Stunden auf freien Fuß gesetzt (8). Die Gründe, die zu seiner unerwartet raschen Enthaftung führten, sind nicht bekannt geworden. Der zweite Teil dieses Vorganges erinnert an seine ebenfalls überraschende Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft während der Freikorpskämpfe im Baltikum, über die im ersten Kapitel berichtet wurde (13,15). Kleinere Begebenheiten in einer Zeit, die durch Straßen-, Wahl- und Saalschlachten gekennzeichnet war, wie die Verstärkung der Hilfskasse durch den Bruder Albert Bormann, der sich von Martin in jeder Weise angenehm abhob, sind für diese Betrachtungen unerheblich und können daher entfallen. Im Jahre 1932 gingen die Wogen des Wahlkampfes besonders hoch; dennoch fiel das Wahlergebnis für die Nationalsozialisten schlecht aus. Im Herbst desselben Jahres wurde der Reichstag aufgelöst, ein Ereignis, das verständlicherweise die Ungeduld der Parteifunktionäre auf eine harte Probe stellte, da sie um ihre Existenz fürchteten. Uneinigkeit zwischen dem Parteirichter Walter Buch, dem Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz und dem Leiter der Hilfskasse Martin Bormann kam hinzu. Über dieses „Klima” in der Parteiführung war der temperamentvolle Stabschef der SA Ernst Röhm äußerst aufgebracht. Zu diesem 52
unpassenden Zeitpunkt trat er mit der vertraulichen Frage nach Belastungsmaterial über seine Gegner in der NSDAP, zu denen Buch und Bormann gehörten, an Hauptmann a. D. Karl Mayr, einen alten Vertrauten, arglos heran. Diese Interna der NSDAP sickerten auf ungeklärte Weise in die sozialdemokratische Presse („Münchner Post”). Am Ende kam es zu einer Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf Röhm eine eidesstattliche Erklärung abgab, die aber nicht ausreichte, ihn aus der Affäre zu ziehen. In diesem Stadium griff Martin Bormann ein. Er richtete am 5. Oktober 1932 ein umfangreiches Schreiben an Rudolf Heß, in dem er sich über das von Röhm gesuchte bzw. erwünschte Belastungsmaterial gegen höhere Parteigenossen, ferner Beleidigungen und Beschimpfungen von Parteifunktionären als „Bonzen” bitter beklagt. Er prangert mit eindringlichen Worten den ungeheuren Schaden an, den der Stabschef der SA Röhm der Bewegung zugefügt habe. Am Ende dieses Briefes schreibt er: „Gnade Gott meinem eigenen Bruder, wenn er sich auch nur einen Bruchteil dessen gegen die Bewegung leistete, was sich der Stabschef leistete.” (8) Martin Bormann war empfindlich getroffen, da Röhm nach Belastungsmaterial gefragt hatte. Er mußte mit Recht Enthüllungen fürchten. Seine Existenz, die er sich mühselig aufgebaut hatte, stand auf dem Spiel. Darum mußte er wirkungsvoll angreifen — ein Mann der Halbheiten ist er nicht gewesen. Zweifellos hätte er einen Termin für eine Vorsprache bei Rudolf Heß oder Adolf Hitler erhalten, da er ja seit seiner Hochzeit mit Hilde Buch kein unbekannter Parteigenosse mehr war. Er scheint sich aber der Grenzen seiner Fähigkeiten als Vortragender bewußt gewesen zu sein, denn er hätte sein Anliegen kaum mündlich vorbringen können, ohne zu stocken. Aus diesem Grund dürfte er den schriftlichen Weg gewählt haben. Das war psychologisch wohlüberlegt und zugleich am wirksamsten. Martin Bormanns eindringliche, ja fast beschwörende Worte in diesem an Rudolf Heß gerichteten Brief, der Adolf Hitler gewiß auch vorgelegt wurde, haben ihre Wirkung sicher nicht verfehlt und damit Zündstoff erzeugt. Ernst Röhm ist wiederholt als „Rabauke” bezeichnet worden. 53
Dazu trug seine offene, gerade Art erheblich bei. Über ihn kann rückschauend gesagt werden, daß ihm nicht so sehr seine abartige Veranlagung, die Adolf Hitler seit Jahren bekannt war, sondern viel eher seine unvorsichtigen Äußerungen und Absichten über „eine grundlegende Änderung in der politischen Führung” (44) zum Verhängnis geworden sind. Darüber sprach Röhm auch mit Gerhard Roßbach, dem ehemaligen Freikorpsführer Martin Bormanns. Auf die Frage Roßbachs, was der Führer zu diesen Änderungen sage, antwortete Röhm: „Hitler ist von ebenso dummen wie gefährlichen Subjekten umgeben, die ihn nicht auslassen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch: Aber ich werde ihn aus diesen Fesseln befreien! Das dürfen Sie mir glauben, Roßbach!” (44) Dr. Rudolf Diels, NS-Polizeipräsident und Oberpräsident, der Schöpfer und „erste Chef der Gestapo”, zeichnet von Röhm ein Bild, das von den Darstellungen des NS-Propagandaministers Dr. Goebbels erheblich abweicht: „Röhm war kein hintergründiger Mann, er war in seiner bajuwarischen Liberalität gut zu leiden. Mit beiden Füßen stand er auf der wohlgerundeten Erde. Er forderte keine göttliche Verehrung und strebte nicht nach Maßlosigkeiten. Göring nannte er klar und schlicht einen Popanz und Hitler einen Narren. Er lachte über Verstiegenheiten. Er war Nationalist, und er mußte es sein, weil diese Gesinnung seinem Handwerk entsprach. Er war ein Soldat — kein preußischer Militarist, sondern von der lässigen und lebensfrohen süddeutschen Art. Auch er strebte nach Macht. Dafür war er ein Kondottiere und ein Abenteurer. Doch er war nicht eitel und ohne dämonisches Streben. Der Lärm des Feldlagers gefiel ihm und das passende Treiben in der Marketenderei. Daß seinen braunen Legionen marodierende Haufen folgten, machte ihm so wenig Kopfschmerzen, wie einem Landsknechtsführer des Dreißigjährigen Krieges. Er bereitete mir noch am wenigsten Schwierigkeiten, als ich sie stellte und bändigte. Der Aufwand, den er in seinen Quartieren in Berlin und München trieb, wurde später von Hitler ins Maßlose übertrieben, ebenso wie seine Veranlagung. Ich wußte, lange bevor ich ihn kannte, davon, doch ich habe keine ,Lustknaben‘ 54
um ihn bemerken können, und die von Goebbels aufgebrachte Geschichte, daß er in flagranti ertappt worden sei, habe ich nie glauben können. Rohm begnügte sich mit behäbigem Zusehen, wenn es bei seinen SA-Führern hoch herging; im Essen und Trinken war er mäßig. Nur Bayrisch Bier, Sauerkraut und Würstchen konnte er weder in Bolivien noch auf seiner Italienreise entbehren.” (19) Noch am 18. April 1934, etwa zehn Wochen vor den Morden des 30. Juni, berief der arglose Ernst Röhm das diplomatische Korps und die Auslandsjournalisten zu einer Pressekonferenz nach Berlin, wo er einige Erklärungen abgeben wollte. Die Beteiligung war groß, da man sich vom Stabschef der SA, der auch Reichsminister und einer der ganz wenigen Duzfreunde Adolf Hitlers war, Interessantes erwartete. Darüber berichtet Max Gallo (40), der auch Teile der Rede Röhms zitiert: „,Der Kampf in all den langen Jahren bis zu der Wegstrecke der deutschen Revolution, auf der wir uns gegenwärtig befinden, hat uns zur Wachsamkeit erzogen. Die SA erkennt auf Grund langjähriger, oft genug bitterer Erfahrungen die offenen und versteckten Feinde des neuen Deutschlands durch alle Masken hindurch.‘ Bedeutet das nicht, daß sie auch die Nazi-Maske tragen? Kann nun nicht jedermann Feind der SA sein? Eine ungeschickte aggressive Formulierung von Röhm, die alle in Angst versetzt, die nicht mit ihm, hinter ihm und in seiner SA sind. ,Wir haben keine nationale, sondern eine nationalsozialistische Revolution gemacht, wobei wir besonderes Gewicht auf das Wort sozialistisch legen.‘ Die Rede nimmt nun Formen an, die vor einem Publikum von Diplomaten und Auslandsjournalisten ungewöhnlich sind. ,Reaktionäre, Mucker und Spießer‘ ruft er aus, , ... uns wird schlecht, wenn wir an sie denken.‘” Die weitere Vorgeschichte und der Ablauf der Ereignisse des 30. Juni und 1. Juli 1934 sind durch zahlreiche Schilderungen bekannt geworden. Für diese Betrachtung wertvoll ist das ausführliche Werk von Heinz Höhne „Der Orden unter dem Totenkopf” (48), in dem er sich zum Teil auf Primärquellen stützt. Walter 55
Hagen, alias Dr. Höttl, im Auslandsgeheimdienst des Dritten Reiches an leitender Stelle tätig, berichtet in „Die geheime Front” (49) von einem „Ahnungsvermögen” Heydrichs, das diesen in die Lage versetzt haben soll, die zwischen Adolf Hitler und Ernst Röhm bestehenden Unstimmigkeiten zu erkennen und zu deuten. Zu Röhms Absichten, auf die bereits eingegangen wurde, gesellte sich sein Streben nach Aufstellung eines nationalsozialistischen Volksheeres. Diese insgeheim bekanntgewordenen Absichten Röhms erweckten den Argwohn des Staatsoberhauptes und der Wehrmachtführung. Heydrich sah es als seine — vielleicht auch von Himmler angeregte — Aufgabe an, diesen Argwohn zu schüren, indem er sowohl der Wehrmachtführung als auch Adolf Hitler „Material” zukommen ließ, das auf die Betroffenen provozierend wirken mußte, wie z. B. Abschiebung Adolf Hitlers auf einen Repräsentationsposten (48 und 49). Die aufgekommenen Gerüchte, die beim Staatsoberhaupt zusammentrafen, genügten jedoch noch nicht, um ein Vorgehen gegen Röhm einzuleiten. Heydrich konstruierte — im wahrsten Sinne des Wortes — zündfähige Unterlagen. Das war aus seiner Sicht notwendig geworden, da man in höheren Wehrmachtskreisen bereits davon abkam, noch an einen Putsch Röhms zu glauben (48). Dazu ermittelte Heinz Höhne (48): „Gegen die Skeptiker vom Schlage (Oberst) Heinricis und (General) von Kleists aber setzte nun Heydrich eine Lawine in Bewegung, die alle Bedenken mit einem Geröll von Gerüchten, Falschmeldungen und manipulierten Dokumenten zudecken sollte. Auch der letzte Reichswehroffizier mußte putschgläubig gemacht werden. Sepp Dietrich” (hoher SS-Führer) „zeigte dem Reichswehrministerium eine angebliche Abschußliste der SA-Führung, aus der hervorging, Röhm wolle die oberste Garnitur der Wehrmacht von den Generalen Beck und v. Fritsch an abwärts liquidieren, während andere SS-Beauftragte bei Wehrkreis- und Stadtkommandanturen SA-Listen vorlegen, wonach praktisch der Hinauswurf aller älteren Offiziere beschlossene Sache war. Bei dem Stabschef des Wehrkreiskommandos VI (Münster), Oberst Franz Halder, meldete sich ein SA-Obergruppenführer 56
und bat um Einweisung in Halders Dienstgeschäfte, da demnächst die SA-Führung die Reichswehr übernehmen würde. Halder lehnte ab, fragte aber im Reichswehrministerium nach. Dem Obersten kam die Sache seltsam vor; der SA-Besucher hatte nicht einmal seinen Namen genannt und wieder rasch die Szene verlassen. Er meldete sich auch nicht wieder. Halder vermutete, der vermeintliche Obergruppenführer sei überhaupt kein SA-Mann gewesen, sondern ein Agent provocateur interessierter Kreise. Ein anderer Trick Heydrichs war das Herumreichen angeblicher Röhm-Befehle, die von der Reichswehr meistens geglaubt wurden. Kam aber einmal ein SA-Führer den Falschmeldungen auf die Spur, dann wußten die SS-Männer auch die Richtigstellungen der SA umzulügen. Karl Ernst, Führer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg, vertraute sich eines Tages dem aus der SA stammenden SS-Gruppenführer Daluege an: Es gingen in der Reichshauptstadt die unsinnigsten Gerüchte über einen bevorstehenden SA-Putsch um; er, Ernst, bäte den Kameraden Daluege, ihm eine Unterredung mit Reichsminister Frick zu ermöglichen, damit er solcher Verleumdung der SA entgegentreten könne. Daluege ... lief stattdessen ins Reichswehrministerium und meldete dem stellvertretenden Abwehrchef: Soeben habe sich bei ihm ein SA-Führer ausgesprochen, der an einer internen Besprechung zur Vorbereitung eines SA-Putsches teilgenommen, dabei aber Bedenken bekommen habe und nun die Reichswehr vor der drohenden Gefahr warnen wolle ... Als Abwehrchef Patzig” (Kapitän z. S., Vorgänger von Admiral Wilhelm Canaris) „plötzlich auf seinem Schreibtisch, wie von Geisterhand hingeworfen, einen angeblichen Bewaffnungsbefehl Röhms vorfand, aus dem er folgern mußte, die SA plane einen Überfall auf die Reichswehr, und das Dokument (General) v. Reichenau vorlegte, zeigte das Gesicht General v. Reichenaus helle Empörung. Von Reichenau: ,Nun wird es aber höchste Zeit.‘ Aber waren Heydrichs Falschmeldungen nur auf die Offiziere der Reichswehr gemünzt? Manches spricht dafür, daß die Falsifikate ebenso auf Hitler zielten ...” Die oben zitierten Ermittlungen Heinz Höhnes werden er57
gänzt durch Max Gallo (40). Demnach meldete die Abwehr an General von Reichenau: „In einem Haus gegenüber der Wohnung eines französischen Diplomaten übt sich die SA im Gebrauch schwerer Maschinengewehre. Der Diplomat hat das zweifellos nach Paris gemeldet, denn die Schüsse sind bis auf die Straße zu hören. Erst vor einer Woche haben sie damit begonnen. Der Hinweis ist schwerwiegend. Viel ernster als das, was in dem Dokument steht, das Kapitän Patzig auf seinem Schreibtisch vorfand.” Walter Hagen (49) vertritt die Ansicht, daß Heydrich es war, der Adolf Hitler in der Meinung bestärkte, Röhm habe nicht nur Ehrgeiz Wehrminister zu werden, sondern er wolle auch Hitler verdrängen oder auf einen Repräsentationsposten abschieben. Heydrich soll, nach Hagen, auch eine Verschwörung der SA mit ausländischen Mächten nachgewiesen haben. Ferner meint er: „Hitler gab ... Heydrich Generalvollmacht zum Handeln. Heydrich stellte die Listen zusammen, nach denen sowohl in München wie in Berlin erschossen wurde; auch Göring erhielt die Erschießungsliste von Heydrich.” Diese „Generalvollmacht” Adolf Hitlers an Heydrich öffnete diesem alle Wege, um ein massives Vorgehen gegen die „SARabauken, das Fußvolk der Revolution” zu „rechtfertigen”. Dazu Max Gallo in „Der Schwarze Freitag” (40): „Goebbels weiß sehr wohl, daß Heydrichs Listen immer länger werden: jeder Name hat dort eine Nummer. Er weiß auch, daß Heß, Martin Bormann und Major Walter Buch, der Leiter des Parteigerichts (USCHLA), Material über Korruption und Ausschweifungen in der SA-Führung sammeln. Die Akten über Heines, der an der Ermordung von Minister Rathenau teilgenommen hatte, häufen sich. Goebbels weiß auch, daß der Haß gegen Röhm und seine Leute wächst: Major Walter Buch und sein Schwiegersohn Martin Bohrmann” (Im Original ist Bormann mit ,h‘ geschrieben.) „haben seit langem, seit Jahren schon ein Hühnchen mit Röhm zu rupfen ... Schon 1932 hat Buch versucht, Röhm und seinen Stab zu liquidieren. Standartenführer Graf v. Spreti, Graf v. Moulin-Edkart und Georg Bell, Nachrichtenmann der SA, sollten die Opfer einer 58
Gruppe von gedungenen Mördern sein, an deren Spitze Buch den ehemaligen Standartenführer Emil Traugott Danzeisen und Karl Hörn stellte. Hörn verriet den Plan an die SA. Eines Morgens versuchten die Mörder, allerdings ohne Erfolg, ihn zu beseitigen. Nun wissen Rohm, Spreti und Moulin-Eckart, daß Hörn nicht gelogen hat. Erschrocken übergeben sie die Sache der Polizei, und im Oktober 1932 wird Emil Danzeisen wegen versuchten Mordes zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Röhm hat zu seinem Schutz mit den Gegnern der NSDAP, den Sozialdemokraten, Kontakt aufgenommen. In der Umgebung von Buch und Bormann herrscht Entrüstung. Sie werden Röhm nicht mehr loslassen: im Frühjahr 1934 halten sie Unterlagen und Listen bereit.” Kurz vor dem Höhepunkt jener Tage begab sich Adolf Hitler mit Gefolge nach Essen zur Hochzeit des Gauleiters Terboven. Unmittelbar nach seinem Eintreffen erreichten ihn Alarmrufe Himmlers aus Berlin über angebliche Machenschaften der SA. Darüber Lutze, der Nachfolger Röhms, laut Heinz Höhne: „Hier auf seinem Zimmer im ,Kaiserhof‘ in Essen ging nun auch der Fernsprecher fast ununterbrochen. Der Führer überlegte stark, war sich aber scheint's klar darüber, daß er nun zuhauen wollte. Ein weiterer Konfident der Verschwörer platzte in die Führerbesprechung: Paul (,Pilli‘) Körner, Faktotum Görings und Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium, war soeben mit dem Flugzeug aus Berlin eingetroffen und brachte weitere Nachrichten von Himmler. Im ganzen Land, so schien es, rüste sich die SA zum Aufstand.” Diese und weitere Alarmmeldungen aus verschiedenen Teilen des Reiches verfehlten ihre Wirkung auf Adolf Hitler nicht: er begab sich mit seiner engsten Begleitung, der auch Martin Bormann angehörte, unmittelbar von der Hochzeitstafel Terbovens eilig zum Flugplatz Hangelar bei Bonn, von wo er nach München-Oberwiesenfeld flog und mit Kraftwagen nach Bad Wiessee weiterfuhr. Die dort am 30. Juni 1934 ab 6 Uhr 30 vom „Führer und Reichskanzler” persönlich durchgeführten Festnahmen, denen 59
zahlreiche weitere im gesamten Reichsgebiet folgen sollten, werden als bekannt vorausgesetzt, ebenso die anschließenden Morde durch befohlene und auch nicht befohlene Erschießungen und auf andere Weise — Untaten, die der Ministerstab am 3. Juli 1934 — also nachträglich — durch folgendes Gesetz sanktionierte: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverrätischer Angriffe am 30. Juni und am 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.” Nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung waren die Morde an den SA-Leuten verschiedener Dienstgrade ebenso „rechtens” wie die Morde an den Reichswehrgenerälen Kurt v. Schleicher, Ferdinand v. Bredow, sowie an Frau v. Schleicher, an Vizekanzler v. Papens Pressechef v. Böse, an Dr. Erich Klausner (Ministerialdirektor im Reichs Verkehrsministerium), an Rechtsanwalt Dr. Förster, an Stadtbaurat Kamphausen, an Gregor Strasser und anderen, insgesamt dreiundachtzig Deutschen. Sie alle wurden ohne Gerichtsverfahren, ohne Gelegenheit zur Verteidigung hingemordet. Dazu Adolf Hitler: „In dieser Stunde war ich... des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr.” Welche Rolle hat nun Martin Bormann in diesen Tagen und Stunden der „deutschen Bartholomäusnacht” gespielt? Jochen v. Lang (8) hat ermittelt, „daß es keinen Beleg dafür gibt, daß Bormann schon Tage zuvor in den Plan eingeweiht wurde”. Er führte ständig ein Notizbuch als Terminkalender mit sich; dort findet sich die Eintragung vom 30. 6. 1934: „RöhmKomplott aufgedeckt: Schneidhuber, Graf Spreti, Heines, Heyn, Schmid, Heydebreck, Ernst erschossen.” (7) Auffällig sei, folgert v. Lang, „daß diese bewegten Tage keine ausführliche Niederschrift ausgelöst haben — und das, obwohl Bormann damals schon zum engsten Gefolge Hitlers gehörte, an allen internen Parteiveranstaltungen teilzunehmen hatte, zwischen Reichskanzlei und Braunem Haus pendelte und bereits mit Privatangelegenheiten seines Führers beauftragt wurde. Der Ablauf des Geschehens läßt eher den Schluß zu, daß er gemeinsam mit dem Münchner Gauleiter Adolf Wagner hintergründig wie 60
beim Fememord in Parchim dafür zu sorgen hatte, daß das Drama ohne Panne über die bayrische Bühne gehen konnte.” Diese etwas kühne Behauptung begründet v. Lang damit, daß der Münchner Gauleiter Wagner am 29. Juni abends telefonisch an Adolf Hitler nach Bad Godesberg meldete, daß SA-Stürme, von putschenden Führern alarmiert, durch München marschierten. Diese Meldung Wagners „paßte” in die Reihe der bereits vorliegenden Meldungen Heydrichs und anderer und kann dazu beigetragen haben, Adolf Hitlers Entschluß, nach Bad Wiessee zu gehen, beschleunigt durchzuführen. Die Vorgänge in Bad Wiessee sind bereits vorstehend gestreift. Fest steht, daß Adolf Hitler, aus Bad Wiessee kommend, von Rudolf Heß und Martin Bormann im „Braunen Haus” in München erwartet wurde und Heß und Martin Bormann die versammelten Funktionäre der Partei in den Senatorensaal gerufen haben. Hier griff Adolf Hitler den bereits am 5. Oktober 1932 in seinem Brief an Heß gemachten Vorschlag Martin Bormanns auf, Röhm als Stabschef der SA durch Viktor Lutze zu ersetzen. Über die Vorgänge im Senatorensaal berichtet Jochen v. Lang (8) weiter: „,ln seinem Arbeitszimmer (nach Heß) fällt der Führer die ersten Urteilssprüche.‘ Einzige Unterlage dafür war eine Liste mit den Namen der verhafteten SA-Führer, zusammengestellt von den Stadelheimer Gefängnisbeamten, bei denen sie einsaßen. Nun war die Liste in den Händen Bormanns, der wie kein anderer in der Runde die peinlich genaue Bearbeitung von Akten gewährleistete, den es nicht störte, daß dieses summarische Verfahren auf Anklage, Zeugen, Verteidiger, Richter verzichtete und der, blind gehorchend, einen Namen ankreuzte, so oft Hitler ein Todesurteil aussprach. Die Exekutive wartete inzwischen im Adjutantenzimmer: Sepp Dietrich, Gruppenführer der SS und Kommandeur der Leibstandarte... Ehe er vorgelassen wurde, diktierte Hitler Verlautbarungen und Presseberichte für die Öffentlichkeit... Bormann hatte dafür zu sorgen, daß diese Texte getippt, korrigiert und den jeweils Zuständigen übergeben wurden... Von Bor61
mann bekam er (Sepp Dietrich) die Liste in die Hand gedrückt, und Hitler befahl, die dort angekreuzten SA-Führer ... erschießen zu lassen. Auch hier, wie seinerzeit in Parchim mordete Bormann nicht selber, auch hier leistete er nur Beihilfe ...” Die Darstellung Max Gallos (40) über die Vorgänge vor und während der „Urteilsverkündung” Adolf Hitlers im Braunen Haus weichen von der Schilderung v. Längs (8) etwas ab. Max Gallo: „Hitler hat sich mit seiner Umgebung in ein Zimmer zurückgezogen. Lutze, Goebbels, der Parteirichter Buch, Martin Bormann, Sepp Dietrich, Rudolf Heß, Wagner und Max Amann sind da, hören ihm zu. Ihre Gegenwart bestärkt Hitler in seiner Unversöhnlichkeit, denn alle diese Männer sind seit langem Gegner Röhms und der SA ... Sie werden jene sein, die dem Führer geholfen haben, den Feind in diesen tragischen Stunden zu vernichten ... Ein Augenblick des Schweigens tritt ein, dann stellt Parteirichter Buch, dem Röhm schon 1932 entkam” (nicht 1923, wie im Werk Max Gallos steht) „neuerlich die Frage nach dem Schicksal der Gefangenen, die sich in Stadelheim befinden. ,Diese Hunde sind zu erschießen‘, schreit Hitler. Er nimmt eine Liste, die Innenminister Wagner ihm hinhält, und kreuzt eine Reihe von Namen an. Manchmal zögert er, dann aber setzt er die beiden Striche hin, die das Todesurteil bilden. Alle schweigen, man hört nur die Feder über das Papier kratzen. Schließlich übergibt der Führer Sepp Dietrich die Liste: ,Sie begeben sich sofort in das Gefängnis Stadelheim. Nehmen Sie einen SS-Offizier und sechs Unteroffiziere mit und exekutieren Sie die SA-Führer wegen Hochverrats.‘ ... Der Führer fügt trocken hinzu: ,lch habe Röhm seiner Verdienste wegen begnadigt.‘ ... Bestürzung malt sich auf den Gesichtern von Buch, Goebbels und Bormann. Röhm wird ihnen also wieder entkommen. So lange er lebt, ist ein Umschwenken Hitlers immer wieder möglich. Nur der Tod Röhms kann ihnen Sicherheit gewähren ... Göring und Himmler überreden Hitler” (in Berlin) „Röhm doch noch liquidieren zu lassen. Hitler gibt um 13 Uhr nach und 62
erteilt” (am 1. Juli 1934) „SS-Oberführer Theodor Eicke Befehl, Röhm zu beseitigen, ihn, wenn möglich, zum Selbstmord zu bringen ... In Berlin zeigt sich Hitler nochmals der begeisterten Menge, als ihm ein SS-Offizier eine Meldung überbringt: Röhm ist tot.” (Röhm beging nicht Selbstmord, sondern wurde von Eicke ermordet.) „Hitler zieht sich einige Minuten später in seine Räume zurück. Himmler und die SS haben ihren Sieg davongetragen. Göring, Heydrich, Goebbels, Bormann, Buch und ihre Komplizen können nun in aller Ruhe über Deutschland herrschen...” Ernst Röhm war sein allzu drastisches, polterndes, letzten Endes undiplomatisches Auftreten, auch seine Reichswehrpläne, zum Verhängnis geworden: damit hatte er keine maßgeblichen Freunde gewonnen, sondern vielmehr sich mit allen Machtgruppen des Dritten Reiches verfeindet: „Reichswehr und Göring wurden einen unerwünschten Konkurrenten los, Parteiapparatschiks und Tugendwächter waren von einem lästerlich-lasterhaften Störenfried erlöst und die SS konnte sich endlich von ihrer letzten Bindung an die SA freimachen.” (48) Um nun die Rolle zu beleuchten, die Martin Bormann um den 30. Juni 1934 gespielt hat, sind bereits die Darstellungen Jochen v. Längs (8) und Max Gallos (40) zitiert. Zur vollständigen Orientierung sei auch Heinz Höhne (48) herangezogen, da in seinem umfassenden Werk „Der Orden unter dem Totenkopf” die behandelten Vorgänge und Gestalten so exakt wie möglich aufgezeigt und vor allem jede Aussage und jedes Zitat quellenmäßig belegt ist: „Um 14.30 Uhr” (am 30. Juni 1934) „war (Sepp) Dietrich wieder da. Er mußte sich drei Stunden lang im Adjutantenzimmer des Braunen Hauses langweilen, während durch die Doppeltüren des Sitzungssaales” („Senatorensaal” genannt) „lautes, aber undeutliches Stimmengewirr drang. Hitler und seine engsten Mitarbeiter debattierten über das Schicksal der verhafteten SA-Führer. Es war die große Stunde des Parteirichters Buch, der offen nachholen konnte, was ihm 1932 mißglückt war: die Ermordung des Röhm-Kreises. Rudolf Heß und der NS-Verlagsherr Max 63
Amann” (des Franz Eher Partei Verlages München) „wetteiferten um das Vergnügen des Mordens; Heß rief: ,Mein Führer, es ist meine Aufgabe, Röhm zu erschießen.‘ Fassungslos saß der neue SA-Stabschef Lutze dabei und hörte das mörderische Gerede der anderen. So hatte er sich die Säuberung der SA nicht vorgestellt. Als ihn Hitler fragte, wer erschossen werden solle, wich Lutze aus: Er wisse nichts von Schuld und Mitschuld, er könne keine Namen nennen. Und verließ schweigend den Saal. Gegen 17 Uhr öffnete sich die Tür, und Martin Bormann, Buchs Schwiegersohn, trat heraus. Er führte Dietrich zu Hitler. Der sagte: ,Fahren Sie hinaus in die Kaserne, lassen Sie sich sechs Unteroffiziere und einen Offizier geben und lassen Sie die SA-Führer erschießen wegen Landes- und Hochverrats.‘ Dann reichte Bormann dem Gruppenführer Dietrich eine Häftlingsliste ..., sie enthielt die Namen der in Stadelheim eingelieferten SA-Führer ... Sechs Namen hatte Hitler mit einem Grünstift abgehakt ...” (Es folgen Namen und Dienstgrade der betroffenen SA-Führer, sowie deren Zellennummer im Gefängnis Stadelheim.) Bei dem Vergleich der Darstellungen von Jochen v. Lang, Max Gallo und Heinz Höhne über die Vorgänge im Senatorensaal des „Braunen Hauses” in München, wo Adolf Hitler die Todesurteile anhand der Liste aus dem Stadelheimer Gefängnis aussprach, fallen Abweichungen auf, die nicht unerwähnt bleiben sollen. Während v. Lang davon spricht, daß Martin Bormann diese Liste in den Händen hatte und immer dann einen Namen ankreuzte, wenn Adolf Hitler ein Todesurteil aussprach, schreibt Max Gallo, daß Adolf Hitler auf dieser Liste die Namen der zu Erschießenden — „mit zwei Strichen ankreuzte, die das Todeskreuz bilden” und daß „man die Feder über das Papier kratzen hörte”. Am einfachsten ist dieser Vorgang von Heinz Höhne geschildert: sechs Namen auf der Liste hatte „Hitler mit einem Grünstift abgehakt”. Wenn auch die Form der Bezeichnung der Todeskandidaten auf der Liste letzten Endes unerheblich ist, so stellt sich doch die Frage, wieso Gallo von einem „Todeskreuz” mittels einer „Feder, die man über das Papier kratzen hörte”, spricht, während Höhne 64
„Abhaken mittels Grünstift” nennt. Am weitesten entfernt von diesen Darstellungen ist v. Lang, da nach seinen Angaben nicht Adolf Hitler selbst, sondern Martin Bormann die Namen der sechs zu exekutierenden SA-Führer bezeichnet haben soll. Die Überprüfung der Angaben Gallos und v. Langs ist dadurch erschwert, daß beide Verfasser ihre Quellenangaben summarisch für den Gesamtinhalt ihrer Bücher machen. Höhne dagegen ermöglicht die Verfolgung seiner Angaben bis ins letzte Detail, wie bereits vorstehend erwähnt ist. Das „Abhaken mit einem Grünstift” entnahm Höhne den Einlieferungslisten des Strafvollzugsgefängnisses München, Prozeßakten des Landgerichts München I (48), die in den Bibliographien Gallos (40) und v. Langs (8) fehlen. Die in- und ausländische Öffentlichkeit war der Ansicht, daß am 30. Juni 1934 die Reichswehr einen Sieg über Röhm und seine Absichten davongetragen habe. Diese Auffassung ist irrig. Heydrich hatte nicht als Verbündeter der Reichswehr gehandelt, als er einen ihrer hervorragendsten Repräsentanten, General Kurt v. Schleicher, ermorden ließ (49). In den folgenden Jahren wurde die SS bewaffnet. Die Reichswehr war nicht mehr „einziger Waffenträger der Nation” (Adolf Hitler). Am 3. Juli 1934 schrieb die gewiß nicht deutschfreundliche „Le Temps” (Paris): „Altes Deutschland, das hast Du nicht verdient.”
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FÜNFTES KAPITEL Bormann immer mächtiger — Er leitet Überwachung des Deutschen Volkes durch Gestapo ein — Verbot freier Meinungsäußerung — Gleichzeitige „Säuberungen” in der Wehrmacht und der Roten Armee — War ein Horoskop Ursache für Hitlers Unrast? — Hitler stellt Parteidenken über Vaterlandsliebe Durch den Aufstieg der NSDAP war „Neuland” entstanden. Hier stieß Martin Bormann geschickt und erfolgreich vor. Bereits am 27. Mai 1933 richtete er ein Schreiben an Rudolf Heß, in dem er an seine wiederholten Bitten um Versetzung aus der Hilfskasse der Partei erinnerte. Er begründete diesen Wunsch damit, daß der Reichsschatzmeister Schwarz eine Vereinfachung der Beitragsabrechnung anstrebe, wodurch Martin Bormann befürchte, überflüssig zu werden. Während er im zweiten Absatz dieses Briefes „um anderweitige Verwendung und um eine andere Aufgabe in der politischen Organisation” spricht, wiederholt er im dritten Absatz des Briefes nur den zweiten Teil seines Anliegens, „Verwendung innerhalb der politischen Organisation” zu finden, mit Nachdruck. Es ist verständlich, daß ein 33jähriger, rühriger junger Mann nach der oft zitierten „Machtübernahme” der Partei an die Stelle treten wollte, wo Aussicht auf Erfolg bestand und er zugleich auch seinen Ehrgeiz zufriedenstellen konnte. Ein negatives Bild — um auch diese Seite zu sehen — vermitteln die Worte seines ehemaligen Vorgesetzten, des Reichsschatzmeisters Schwarz (laut General Koller, 37), die sich allerdings nicht auf den Bormann aus der Zeit der Hilfskasse, sondern den „Sekretär” der späteren Jahre beziehen. Schon Anfang Juli 1933 wurde in der „Parteikorrespondenz” die Ernennung Martin Bormanns zum Leiter des Stabes von Rudolf Heß bekanntgegeben. Einige Schreiben an Adolf Hitlers Stellvertreter hatten demnach genügt, um nur sechs Monate nach der „Machtübernahme” der Partei die spätere „Machtübernahme” Martin Bormanns innerhalb der Partei einzuleiten. Von einer 66
politischen Überprüfung ist nie die Rede gewesen. Ein Vergleich aus unseren Tagen bietet sich an: Walter Guillaume — Willy Brandt. Am 10. Oktober 1933 erfolgte Bormanns Ernennung zum Reichsleiter und wenige Wochen später war er Abgeordneter des Deutschen Reichstages. Joseph Wulf (10) hat den Lebenslauf Bormanns in fünf Etappen gegliedert. Die erste Etappe umfaßt die Jahre der „weltanschaulichen Orientierung” von 1920 bis Juli 1933, der Ernennung zum Stabsleiter von Rudolf Heß. Die zweite Etappe dürfte mit dem Flug von Heß nach England (10. 5. 1941) zu Ende gegangen sein; nun begann die dritte Etappe, die Joseph Wulf von Mai 1941 bis 12. April 1943 ansetzt. Die vierte Etappe soll bis Ende 1944 gerechnet werden, als die Ardennenoffensive erfolglos verlief, während die fünfte Etappe am 1. Mai 1945 zu Ende war. Dieser Gliederung können wir uns nicht anschließen, da der Aufstieg Martin Bormanns vom „unbekannten Parteigenossen” zu den „Schalthebeln der Macht” durch besondere Merkmale gekennzeichnet ist, die nicht durch Titel bzw. Dienstbezeichnungen wie „Reichsleiter”, „Abgeordneter” und „Sekretär des Führers” begrenzt werden können. Das eine Merkmal war das Vertrauen, das Adolf Hitler zu ihm hatte und das nur durch besondern Fleiß, Aufmerksamkeit, ständige Anwesenheit und zur Schau getragene Gläubigkeit sowie Unterwürfigkeit erworben werden konnte. Wenn Adolf Hitler z.B. eine Beurteilung aus der Sicht der Partei wünschte, dann besorgte sie Martin Bormann zu jeder Tages- oder Nachtzeit in kürzester Frist, wenn erforderlich auch durch Einsatz aller Fernmeldeeinrichtungen wie Fernsprecher, Fernschreiber, Funk. Bücher wurden auf dem Luftwege beschafft. Eine weiteres Merkmal war, das so erworbene bzw. erschlichene Vertrauen nach seinem, Bormanns Gutdünken und Absichten einzusetzen und zugleich mit den Auffassungen des Staatsoberhauptes zu verbinden. Eine Parallele dazu stellt das Vertrauensverhältnis Adolf Hitlers zu seinem Leibarzt Dr. Morell dar, worüber im 2. Kapitel eingehend berichtet wurde. Martin Bormanns Tätigkeit im Stabe von Hess war vielseitig 67
und sein Interesse erstreckte sich auf die meisten Bereiche in der Partei-Organisation (PO), aber auch darüber hinaus. Dazu einige Beispiele: Als die drei „Führer-Adjutanten” Brüdmer, Schaub und Wiedemann vom Herzog v. Coburg mit dessen Hausorden dekoriert worden waren, erregten diese Ehrungen den Unwillen des Reichsleiters Bormann. Er erinnerte schriftlich daran, daß es Parteigenossen untersagt sei, für Verdienste um die Erhebung Deutschlands Orden anzunehmen, und daß es den „ehemaligen Potentaten” nicht zustehe, ja eine Anmaßung bedeute, überhaupt noch Orden zu verleihen. — Umfang und fachlicher Inhalt dieser Mitteilung lassen den Juristen erkennen. Möglicherweise hat sich Martin Bormann von seinem Mitarbeiter Dr. Heim beraten lassen, ehe dieser Brief seine endgültige Fassung erhielt, in dem auch die abweisende Haltung gegenüber „unsern ehemaligen Monarchen” zum Ausdruck kommt (8). Die Oberste SA-Führung beklagte sich im Herbst 1933 darüber, daß in allen Teilen des Deutschen Reiches von den „Amtswaltern” der Partei olivgrüne Mäntel getragen würden, die ausschließlich für die SA bestimmt seien. Hier schaltete sich Reichsleiter Bormann mit einem klärenden Schreiben am 8. November 1933 ein: für die politischen „Amtswalter” seien nur braune Mäntel zulässig, während die SA grüne Mäntel zu tragen habe (10). Eine freie Meinungsäußerung hat es im Dritten Reich nicht gegeben. Martin Bormann wollte diejenigen Deutschen überwachen, die die NSDAP zu kritisieren wagten. Dabei bediente er sich der Denunziation und arbeitete Hand in Hand mit der Gestapo. Auch hier ging er methodisch vor. In dem Rundschreiben vom 14. Februar 1935 forderte er die Dienststellen der Partei auf, „allmählich endlich alles Mißtrauen gegenüber der Gestapo fallen zu lassen und ihr lieber zu helfen, die schweren Aufgaben zum Schutz von Volk und Partei zu lösen, anstatt sich ihr entgegenzustemmen ...” (10). In einem weiteren Rundschreiben zur Sache erteilte er ein halbes Jahr später, am 3. September 1935 allen Parteidienststellen den Befehl, seine Forderung laut Rundschreiben vom 14. Februar 1935 auszuführen (10): 68
„Am 3. September 1935 gab Stabsleiter Bormann dann allen Parteidienststellen den ganz unzweideutigen Befehl, der Gestapo jeden gewissenhaft zu melden, der die Partei selbst oder eine ihrer Gliederungen zu kritisieren und zu verunglimpfen wage. Er bezog sich dabei auf ein Gesetz vom 20. Dezember 1934, demzufolge die Partei, ihre Gliederungen sowie jeder Hoheitsträger den gleichen Schutz genieße. Falls daher eine verleumderische Anzeige gegen die NSDAP, ihre Gliederungen oder einzelne Parteimitglieder vorliege, deren Heimtücke offensichtlich sei, müsse der Reichsjustizminister sich dieserhalb unmittelbar mit dem Stellvertreter des Führers in Verbindung setzen. „Stellvertreter des Führers” aber bedeutete schon damals praktisch ,Martin Bormann‘. Meistens jedenfalls! Gemeinsam werde dann gegen den heimtückischen Verleumder vorgegangen werden.” Eine Anordnung, das ganze deutsche Volk zu bespitzeln, hatte es selbst zu Metternichs Zeiten in diesem Umfang im deutschen Sprachraum nicht gegeben. Der älteren Generation, soweit sie nicht voll hinter Adolf Hitler stand, ist die so geschaffene Atmosphäre jener Tage erinnerlich. Seither ist die Abkürzung „Gestapo” der Inbegriff für Angst und Terror geworden. Übertreibungen, wie sie heute in den Massenmedien des In- und Auslandes zu finden sind, gehen aber am Sachverhalt ebenso vorbei wie Versuche, die Gestapo reinzuwaschen, weil ihr Leiter, Heinrich Müller, katholisch war, früher der bayerischen Volkspartei angehörte und „durch mißbräuchliche Verwendung dieses Instruments ... dem Nationalsozialismus das Odium des Polizeistaates anlastete”. (50) Schließlich sei noch der Brief erwähnt, den Martin Bormann dem Auslandspressechef der NSDAP, Dr. Ernst Hanfstaengl, schrieb, als dieser aus Angst um Leib und Leben in das Ausland geflohen war. Es hatte sich folgendes zugetragen: Dr. Hanfstaengl, der die Partei schon in der Frühzeit finanziell unterstützt hatte und seit jenen Tagen zu dem kleinen Kreis der Vertrauten um Adolf Hitler in München gehörte, hatte aufgrund seines Wissens um zahlreiche Interna eine unvorsichtige Äußerung getan. Er wurde am 10. Februar 1937 während eines 69
Fluges von Staaken nach Würzen i. Sa. an Bord einer Ju 52 zum Absprung mit Fallschirm gedrängt. Er weigerte sich, dem Folge zu leisten, und hielt sein Leben für bedroht. Er floh über die Schweiz nach London. In Zürich erreichte ihn folgendes Schreiben Hermann Görings vom 19. März 1937, um ihn zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen: „Lieber Hanfstaengl! Wie mir heute mitgeteilt worden ist, befindest Du Dich seit einiger Zeit in Zürich und hast die Absicht, vorläufig nicht nach Deutschland zurückzukehren. Ich nehme an, daß die Gründe hierfür auf Deinen letzten Flug von Staaken nach Würzen i. Sa. zurückzuführen sind. Ich versichere Dir, daß die ganze Angelegenheit nur einen harmlosen Scherz darstellen sollte. Man wollte Dir wegen einiger allzu kühner Behauptungen, die Du aufgestellt hattest, Gelegenheit zum Nachdenken geben. Etwas anderes war wirklich nicht beabsichtigt. Ich habe Oberst Bodenschatz zu Dir geschickt, der Dir persönlich noch einige Aufklärungen geben wird. Ich halte es aus verschiedenen Gründen für dringend notwendig, daß Du mit Bodenschatz sofort nach Deutschland zurückkehrst. Ich erkläre Dir ehrenwörtlich t daß Du Dich hier bei uns wie immer in aller Freiheit bewegen kannst. Laß also allen Argwohn fallen und handele vernünftig. Mit kameradschaftlichen Grüßen Heil Hitler! Hermann Göring” (Hervorhebungen im Original)
In der Höhe der Unterschrift hat Göring handschriftlich hinzugefügt: „Ich erwarte, daß Du meinem Wort Glauben schenkst!” (Hervorhebg. i. Orig.) Darüber Dr. Hanfstaengl in seinen Memoiren (46): „Durch den amerikanischen Kurier bat ich meinen alten Freund Truman-Smith, vorsichtig bei meinen Bekannten zu sondieren, ob mein Leben im Falle meiner Rückkehr gefährdet sei. Er wandte sich sogleich an General v. Reichenau, der ihm nach einigen Wochen mitteilte, es sei unserem gemeinsamen Bekannten von einer Rückkehr abzuraten. Das nächste, was ich hörte war, daß mein Vermögen beschlagnahmt worden war. Selbst jetzt 70
hörten ihre Bemühungen nicht auf, mich wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Martin Bormann betonte in einem Schreiben, daß alle Strafmaßnahmen aufgehoben und mir die Kosten meines Londoner Aufenthaltes vergütet werden würden, wenn ich zurückkäme. Bodenschatz kam zum zweiten Mal nach London und brachte den Mann meiner frühern Sekretärin mit, der in Goebbels‘ Ministerium tätig war. Er überbrachte mir eine beschwichtigende Botschaft vom ‚kleinen Doktor‘. Als ich auf nichts eingehen wollte, fuhr Bodenschatz schweres Geschütz auf: ,Wenn Sie nicht zurückkommen, gibt es noch andere Mittel, Sie zum Schweigen zu bringen', drohte er. Ich erwiderte ihm, meine Erinnerungen seien bereits geschrieben und lägen im Panzerschrank meines Anwalts. Stürbe ich eines natürlichen Todes, würden sie vernichtet werden; stoße aber mir oder meinen Verwandten etwas zu, so würden sie veröffentlicht.” Am 6. November 1965 gab Generalmajor v. Schoenebeck in München die folgende Erklärung zu dieser Angelegenheit ab: „Hinsichtlich des angeblichen Scherzes, der am 10. 2. 1937 auf Befehl des damaligen Befehlshabers der Luftwaffe, Hermann Göring, gegen den ehemaligen Auslandspressechef der NSDAP, Dr. Ernst Hanfstaengl, inszeniert wurde, habe ich das Folgende zu sagen: Als damaliger Kommandeur der Erprobungsstellen in RechlinMüritzsee erhielt ich am 10. 2. 1937 von dem damaligen Adjutanten des Reichsmarschall Göring, General Bodenschatz (soweit ich mich erinnere), den Befehl, eine Ju 52 mit einer kompletten Blindflugbesatzung für eine ,Sonderaufgabe‘ zur Verfügung zu stellen. Der damalige Flugzeugführer war Herr Frodel (auch dies soweit ich mich erinnere). Gegen Abend meldete sich die Besatzung zurück und gab ihrer Empörung Ausdruck über die Verwendung, die sie gefunden hatte. Es hatte sich folgendes abgespielt: An einem bestimmten Ort wurde unter ändern Dr. Ernst Hanfstaengl an Bord genommen und es war ihm unterwegs eröffnet worden, er habe mit dem Fallschirm abzuspringen. Dr. Hanfstaengl konnte sich Gott sei Dank der mit Nachdruck geforderten Aufforderung entziehen. Nach meiner Beschwerde am 71
nächsten Tag über die Verwendung meiner Flugzeuge zu derartigen Sportveranstaltungen, (sprich Liquidierungen), wurde das Unternehmen als ,Scherz‘ bezeichnet.” (46) Kehren wir aber wieder zu Martin Bormann zurück. Es konnte nicht ausbleiben, daß er bei dem engen Kontakt, den er mit Adolf Hitler hatte, gelegentlich auch zurechtgewiesen wurde. Das geschah einmal in besonders scharfer Form, als Hitler dem erkrankten General Ludendorff im Herbst 1937 in München einen Besuch abgestattet hatte. Darüber Wilhelm Breuker (51): „Wenige Stunden nach diesem Besuch äußerte jemand aus dem Gefolge Hitlers: ,lch habe den Führer nie so weich gesehen. Wenn jetzt der richtige Mann da wäre, der den Mut hätte, nachzustoßen, dann würde Hitler seine Kriegspläne aufgeben und seine ganze Politik herumwerfen.‘ Und von einer anderen Seite aus der Umgebung Hitlers wurde erzählt: Als Bormann, beunruhigt durch die Ergriffenheit, mit der der Führer von seinem Besuch bei Ludendorff berichtete, die Bemerkung gewagt habe, Ludendorff sei sicher ein großer Soldat, aber immer ein schlechter Politiker gewesen, habe ihn Hitler mit den Worten angeherrscht: ,Schweigen Sie, Ludendorff sieht klarer als wir alle.‘” Ferner meint Breuker, daß es für jeden, der General Ludendorff kannte, keinen Zweifel geben könne, daß er Hitler ein letztes Mal vor seiner Politik des Säbelrasselns gewarnt habe. — Im übrigen hat schon am 30. März 1937 General Ludendorff im Münchner Generalkommando an Adolf Hitler folgende Worte gerichtet: „Ich warne Sie aber sehr ernst davor, einen Krieg zu beginnen. Wir müssen uns überhaupt aus jeder kriegerischen Verwicklung heraushalten. Nur ein Verteidigungskrieg kommt für Deutschland in Frage, sonst nur strikte Neutralität. Die neue Armee braucht sowieso noch Jahre, bis sie diese Aufgabe erfüllen kann. Nach allem, was ich über den Aufbau der neuen Wehrmacht erfuhr, wird Ihnen zu Beginn des Krieges großer Erfolg sicher sein. Es mag sogar sein, daß Sie bis vor Kairo und Indien kommen. Der weitere Krieg wird aber zur völligen Niederlage führen. Die Vereinigten Staaten werden diesmal in noch ganz an72
derm Ausmaß eingreifen und Deutschland wird schließlich vernichtet.” (52) Nachdem die Gefahr, die der Parteiführung von Röhm „gedroht” hatte, am 30. Juni 1934 radikal beseitigt worden war, wendet sich Martin Bormann dem Ausbau des Obersalzberges, des geplanten Sommersitzes des Staatsoberhauptes, mit der ihm eigenen Energie zu. Er hat sich mit Geldern aus der „Adolf Hitler-Spende der Industrie” in „Wahrnehmung der persönlichen Interessen Hitlers in den Besitz des Obersalzberges rund um den Berghof gesetzt und sich dadurch geschickt in das Privatleben Hitlers hineingespielt und sich im Laufe der Jahre so in ihm verankert, daß Hitler ihn in zunehmendem Maße für unentbehrlich hielt und diesem gehirnlosen Menschen dann immer mehr politischen Einfluß gab, weil er in ihm das absolute und blind gehorsame Werkzeug zur Weitergabe ... seiner Befehle bis zum furchtbaren Ende gefunden hatte”. (42) Der damalige Rüstungsminister und Architekt, Albert Speer, erinnert sich: „Bormann war der wahre Herr des Obersalzberges. Er kaufte unter Zwang jahrhundertealte Bauernhöfe auf und ließ sie ebenso abreißen, wie die zahlreichen geweihten Marterln, obwohl hier die Kirchengemeinde Einspruch erhob. Auch Staatsforste kassierte er, bis das Gelände von einem fast 1900 Meter hohen Berg in das 600 Meter tiefer gelegene Tal reichte und eine Fläche von sieben Quadratkilometern umfaßte. Der Zaun um den innern Bereich maß etwa drei, um den äußern vierzehn Kilometer. Ohne jedes Empfinden für die unberührte Natur durchzog Bormann diese herrliche Landschaft mit einem Netz von Straßen; aus Waldwegen, bisher mit Tannennadeln bedeckt und von Wurzeln durchquert, wurden asphaltierte Promenaden. Eine Kaserne, ein ganzes Garagenhaus, ein Hotel für Hitlers Gäste, ein neuer Gutshof, eine Siedlung für die ständig wachsende Zahl der Angestellten entstanden so schnell hintereinander, wie bei einem plötzlich in Mode gekommenen Kurort. Wohnbaracken für Hunderte von Bauarbeitern klebten an den Berghängen, Lastwagen mit Baumaterial befuhren die Straßen, des Nachts waren verschiedene Baustellen erleuchtet, denn es wurde in zwei Schichten 73
gearbeitet, und gelegentlich dröhnten Detonationen durch das Tal.” (32) Anzahl und Stärke dieser Sprengungen haben anscheinend zugenommen, denn „Hitler sah sich im Laufe der Jahre gezwungen, Bormann diese Sprengungen bis 12 Uhr mittags zu untersagen, damit sie ihm nicht den Schlaf raubten. Die Arbeit und die Erdbewegungen nahmen im Laufe der Jahre nicht ab, sondern wuchsen sich aus. Denn mit ihnen wuchs auch Bormanns Bedeutung! Man bekommt eine Vorstellung von dem Umfang dieser Arbeiten, wenn man weiß, daß nicht weniger als fünftausend meist ausländische Arbeiter bis weit in die Kriegsjahre hinein am Obersalzberg ... beschäftigt waren.” Soweit der Reichspressechef Dr. Otto Dietrich. (42)
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SECHSTES KAPITEL Werdegang und Fall Tuchatschewskis — War er Freimaurer? — Canaris versagt Heydrich Hilfe für Herstellung von Fälschungen — Bormann schaltet sich entscheidend ein
Die Säuberungen der Roten Armee (1937—1938) sind ein Teil der Säuberungen gewesen, die mit der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow am 1. Dezember 1934 begannen und sidi von 1935 bis 1938 auf alle Kreise der russischen Bevölkerung erstreckten. Nicht ausgenommen davon waren selbst alte Kämpfer Lenins und Stalins, wie Sinojew, Kamenew, Bucharin; auch Karl Radek war darunter, der die einleitenden Gespräche mit General v. Seeckt über die Zusammenarbeit der Roten Armee mit der Reichswehr wenige Jahre vorher geführt hatte. Diese „Trotzkistenprozesse”, wie die Säuberungen nach sowjetischer Terminologie oder „Schauprozesse” nach westlichen Auffassungen genannt wurden, wären in den Jahren 1935 bis 1938, als Adolf Hitler die Welt in Atem hielt, nicht sonderlich beachtet worden, wenn nicht auch die Rote Armee davon erfaßt worden wäre. Als bekannt wurde, daß der Sowjetmarschall Mihail Tuchatschewski verhaftet, in geheimer Verhandlung verurteilt und hingerichtet worden war, wurde die Weltöffentlichkeit aufmerksam. Es folgten die Erschießungen der Militärbefehlshaber von Weißrußland, Uborewitsch und von Kiew, Jakir, ferner des Kommandeurs der Frunse-Kriegsakademie, Kork, des Chefs des Generaldirektorats der Armee, Feldmann, des Chefs des Ossoviachim (Vormilitärische Ausbildung), Eidmann, des frühern sowjetischen Militärattaches in London, Putna, auch des Korpsgenerals Primakow. „Der Chef des Generalstabes Egorow, der Befehlshaber der Luftstreitkräfte Alksnis, der Befehlshaber der Marine, Orlow, der Inspekteur der Artillerie und der Panzertruppe, 13 Armeegenerale von 15, 57 Korpsgenerale von 85, 110 Divisionskom75
mandeure von 195 und 220 Brigadekommandeure von insgesamt 406 waren nach weniger als Jahresfrist verschwunden. Der Chef des politischen Direktorats der Armee, Gamarnik, beging Selbstmord in seinem Büro... Im Jahre 1938 waren nur noch zwei von fünf Marschällen übriggeblieben. Von den 80 Mitgliedern des Obersten Militärrats verschwanden 75, 35 000 Offiziere und Kommissare waren liquidiert oder deportiert worden, ebenso verschwanden 90% der Generale und 80% der Obersten ... Die Stäbe der Militärbezirke der zukünftigen Armeen, Korps und Divisionen waren vollständig ausgefegt. Kein noch so mörderischer Krieg hätte so verheerende Folgen haben können ...” (59) Durch die Ereignisse der Oktoberrevolution von 1917, des Bürgerkriegs sowie verschiedener Säuberungen hatten die Historiker den Umfang der damit verbundenen Liquidierungen erfahren. Als jedoch bekannt wurde, daß sogar die Spitzen der militanten Sowjetmacht, der Roten Armee, einer besonders radikalen Säuberung zum Opfer gefallen waren, erschien dieser Vorgang unverständlich, auch daher, weil sich unter den Betroffenen ein Teil der Sowjetkommandeure befand, die noch wenige Jahre vorher durch Offiziere der deutschen Reichswehr ausgebildet worden waren und die zu den sichersten Stützen des Sowjetsystems gerechnet wurden. Daher nehmen die Vorgänge um die Person des zweiten Mannes in der Roten Armee, des Sowjetmarschalls Tuchatschewski, in der westlichen Literatur einen breiten Raum ein. Es wird berichtet, daß der im Jahre 1893 Geborene adeliger Herkunft war. Er diente als Leutnant im Semeonowski-Garderegiment des Zaren Nikolaus II. Er geriet 1914 verwundet in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der ihm nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen erst 1918 die Flucht gelang. Tuchatschewskis Mitgliedschaft in der Loge „Polarstern”, der auch weitere Gardeoffiziere des Zaren angehört haben sollen, wurde von Viktor Alexandrow (60), der sich auf den exilrussischen General Skoblin bezieht, veröffentlicht. Diese Angaben sind jedoch aktenmäßig nicht bewiesen. Es wird darauf später, im Zusammenhang mit Heydrich, eingegangen werden. 76
Tuchatschewski trat kurz nach dem Zusammenbruch der Zarenregierung in die Rote Armee ein. Hier kämpfte er erfolgreich gegen die weißrussischen Verbände des Admirals Koltschak und des Generals Denikin. Ferner nahm er am Abwehrkampf der Sowjets gegen die in die Ukraine eingefallenen polnischen Truppen unter Pilsudski teil, die am 7. Mai 1920 Kiew besetzt hatten. Es gelang ihm nicht nur, die polnischen Truppen aus der Ukraine zu vertreiben, sondern bis in die Vororte Warschaus vorzustoßen, wo seine Verbände erschöpft und ohne Reserven zum Stillstand kamen. In dieser Lage befahl das Oberkommando der Roten Armee seiner unter Jegorow und Budjonnyj stehenden Südarmee, Tuchatschewski zu Hilfe zu kommen. Die Kommandeure der Südarmee, die Armeekommissar Stalin begleiteten, kamen diesem Befehl jedoch nicht nach, sie stießen auf Lemberg vor. In der Folge gelang es den Polen, mit französischer Waffenhilfe unter General Weygand, dem im Stich gelassenen Tuchatschewski vor den Toren Warschaus eine vernichtende Niederlage zu bereiten. (Wunder an der Weichsel, 59, 61) Auch mit der Niederschlagung des Matrosenaufstandes der Seefestung Kronstadt, dem sich die im gegenüberliegenden Oranienbaum stehenden Regimenter angeschlossen hatten, war Tuchatschewski betraut worden. Diese Aufgabe löste er unter schweren Kämpfen in der kurzen Frist von neun Tagen (7. bis 16. März 1921). Erstaunlich ist, daß seine Karriere trotz der aristokratischen Herkunft in der Roten Armee steil blieb: er wurde Befehlshaber des Leningrader Militärbezirks und Direktor der Frunse-Akademie. Seine Reformen der Roten Armee erstreckten sich auf die Schaffung mechanisierter und gepanzerter Verbände; Teile der Infanterie- und Kavalleriedivisionen sollten motorisiert werden. Auch der Aufbau einer Luftwaffe einschließlich Luftlandeverbänden, die einst auf den Manövergast General v. Hammerstein so großen Eindruck gemacht hatten, waren geplant. Er erhielt 1931 vom Polit-Büro der Partei den Auftrag, seine Pläne durchzuführen. Tuchatschewski erfreute sich nicht nur bei den Soldaten, son77
dem bei der ganzen Bevölkerung der Sowjetunion großer Popularität. Darüber hinaus begab er sich in politische Bereiche. Das wurde ihm zum Verhängnis. Tuchatschewski war durch und durch Russe. Die genannten Maßnahmen, die er traf, weisen auf eine nationale Denkungsart hin. Auch der Bau von Autostraßen, die für die neue Waffengattung „Motorisiertes Transportkorps” geschaffen wurden, deuten darauf hin (59). Hier ist der Vergleich mit den Reichsautobahnen und dem NS-Kraftfahrkorps nicht abwegig. Hand in Hand mit seinen Plänen zur militärischen Stärkung der Sowjetmacht gingen seine politischen Überlegungen. Im Januar 1936 hielt er vor dem Zentralkomitee in Moskau eine Rede über die allgemeine politische Lage in Europa. Hier war er durch seinen leidenschaftlichen deutschfeindlichen Ton aufgefallen, der in scharfem Gegensatz zu Stalins gemäßigten Erklärungen in derselben Sache stand (53). Im Winter 1936/37 berichtete der in Paris lebende exilrussische General Skoblin, der auch im Dienste der GPU gestanden haben soll, dem Chef des deutschen Sicherheitsdienstes, Heydridi, daß in der Roten Armee eine Verschwörung gegen Stalin geplant sei, an deren Spitze Tuchatschewski und General Putna stünden (53). Eindeutiger drückt sich der Verfasser des Buches „Der Marschall war im Weg” (60), Viktor Alexandrow, aus, wenn er sagt, „daß der Sowjetmarschall” (Tuchatschewski) „alles vorbereitet hatte, um eine gegen das Dritte Reich gerichtete Allianz auf die Beine zu stellen, die bei erster Gelegenheit eine Präventivaktion einzuleiten bereit war”. An dieser Stelle sei auf die Angaben General Skoblins eingegangen, die er über Tuchatschewski zu Heydrich gemacht haben soll (60). Demnach war a) Tuchatschewski sehr antideutsch eingestellt und b) als ehem. Gardeoffizier des Zaren Mitglied der Loge „Polarstern ” im 23. Grad c) Die Familie Tuchatschewski gehörte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Freimaurerei und 78
d)
Tuchatschewski sei jüdisch versippt; sein Großvater soll eine zum Christentum übergetretene Jüdin geheiratet haben e) Skoblin zu Heydrich: „Wenn es uns mit Ihrer Hilfe gelingt, die Kommunisten zu schlagen, dann garantiere ich Ihnen, Herr Heydrich, daß in Rußland nicht viele Juden übrig bleiben werden.” Es liegt auf der Hand, daß General Skoblin Argumente vorbrachte, die geeignet waren, den Sowjetmarschall in den Augen Heydrichs als äußerst gefährlich erscheinen zu lassen und zugleich gegen ihn aufzuputschen. Skoblins Argumente liefen parallel mit dem politischen Kurs der NSDAP. Er ist mit seinem Wissen an Heydrich herangetreten, wodurch die von Stalin geplante Liquidierung Tuchatschewskis eingeleitet werden konnte, weil Heydrich bzw. die Abwehr unter Admiral Canaris im Besitz der Unterlagen mit den Unterschriften Tuchatschewskis waren, über die bereits berichtet wurde. Dadurch ist es wahrscheinlicher geworden, daß Skoblin als Nachfolger der entführten zaristischen Generäle Kutjepow und Miller aus Paris nicht nur für die in Frankreich lebenden russischen Emigranten sondern auch für Stalins GPU tätig gewesen war. Diese Zusammenhänge zu durchschauen und damit die Grenzen seiner Tätigkeit klar zu erkennen, war dem sonst als hochintelligent geschilderten Heydrich anscheinend nicht möglich. Er glaubte bis zu seinem Tode (4. Juni 1942) daran, daß er entscheidend zu der Schwächung der Roten Armee beigetragen habe (49), ohne zu ahnen, daß auch er im Interesse Stalins gearbeitet hat. Zu der Behauptung Skoblins, daß Tuchatschewski Freimaurer gewesen sei, ist zu bemerken, daß sich eine solche Mitgliedschaft nur auf die Zarenzeit beziehen kann, da die russischen Logen nach Ausbruch der Revolution 1917 aufgelöst und verboten worden waren. Darüber teilen Friedrich Wichtl und Robert Schneider (65) folgendes mit: „In Rußland hat der Prozeß gegen Radek und Genossen ergeben, daß zwischen den russischen und den französischen Freimaurern die engsten Verbindungen bestehen. (Vgl. ,Neue Abendzeitung* Ludwigshafen vom 9. 2. 1937) Radek war Meister vom 79
Stuhl der Sowjetfreimaurerloge ,Stern des Nordens‘. Dieser Loge gehörten sowjetrussische Diplomaten und zwei Mitglieder des Zentralausschusses der kommunistischen Partei an. Es ist inzwischen bekannt geworden, daß Sowjetrußland 6 Großlogen wieder zugelassen hat, die in Verbindung mit den französischen Großlogen stehen. Das neue sowjetrussische Staatswappen zeigt Hammer und Sichel, die die Erdkugel beherrschen. Darüber befindet sich der fünfeckige Stern.” Da die subjektiven Behauptungen Viktor Alexandrows (60) über Aussagen Skoblins in Sachen Tuchatschewski, ferner die Angaben von Wichtl-Schneider (65) mit Martin Bormann nicht in Zusammenhang stehen, wird von weiteren Betrachtungen des Komplexes aus dieser Sicht Abstand genommen. Um die Glaubwürdigkeit der Angaben in seinem Buch „Der Marschall war im Wege” zu stützen, hat Viktor Alexandrow im Vorwort dazu gesagt: „Möglicherweise wird es Erstaunen erregen, daß ich so genau über die Umstände der Verhaftung Tuchatschewskis, ja selbst über die Worte informiert bin, die er damals mit dem Offizier wechselte, der die Verhaftung vorzunehmen hatte. Dieser Offizier indessen wurde 1937 als Vertreter des NKWD an die Botschaft in Sofia entsandt. Er hat dem damaligen Botschafter Raskolnikow die Ereignisse in allen Einzelheiten geschildert. Von diesem habe ich sie erfahren, nachdem er seinen Posten verlassen hatte und nach Paris emigriert war.” (60) Solche Äußerungen und eventuelle Absichten Tuchatschewskis waren nur geeignet, den stets Wachsamen und Mißtrauischen im Kreml zu beunruhigen, da er permanent um seine Macht fürchtete. Zwischen Stalin und Tuchatschewski gab es erhebliche Unterschiede im Herkommen, in der Vergangenheit, im Charakter und den persönlichen Zielen. „Neben der Furcht, auch aus der russischen Revolution könne ein neuer Napoleon auferstehen, machte Stalin schon der Gedanke krank, daß unter seinen Untergebenen jemand war, der ihm an geistigen Gaben, an Arbeitskraft, im äußern Auftreten und im Bildungsgrad überlegen war... Tuchatschewski gehörte 80
nicht zu denen, die Stalins Gunst suchten ... Während des spanischen Bürgerkrieges kam es zu ersten schwerwiegenden Spannungen zwischen dem Diktator und dem Marschall...” (59) Tuchatschewski wollte lediglich Freiwillige zur Unterstützung der Rot-Spanier gegen General Franco (1936) entsenden, um die Rote Armee für zentraleuropäische Aufgaben intaktzuhalten. Stalin setzte die Unterstützung der Rot-Spanier durch, unter denen sich auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt befand, indem er reguläre Truppen der Roten Armee nach Spanien beorderte. Ferner hatte Tuchatschewski in seinem schriftlichen Bericht über den Polenfeldzug (1920) Stalin für seine Niederlage vor Warschau verantwortlich gemacht, was dieser nie vergaß (62). Schließlich war die Rote Armee unter Tuchatschewski stärker und nationaler geworden. „Sie stellte eine Macht dar, die sich immer mehr von der Partei unabhängig zu machen verstand. Der Politische Apparat in der Armee hatte sich immer stärker den Soldaten angeglichen und war längst kein Instrument mehr, mit dem die Partei hätte die Armee kontrollieren können —” Ähnliche Entwicklungen zeichneten sich auch außerhalb der Armee im politischen und wirtschaftlichen Bereich des Staatsgefüges ab. Das waren bescheidene Anfänge eines „Demokratisierungsprozesses”, wie sie kein Diktator dulden konnte. Daher kam es zu den bereits genannten Säuberungen, die im kompakten Heereskörper besonders radikal durchgeführt wurden. Hier ging Stalin besonders umsichtig vor, da er über die Säuberungen auch hätte stürzen können. Heute steht fest, daß die Ausschaltung Tuchatschewskis und seiner Kameraden sowohl im Interesse Stalins als auch Adolf Hitlers lag. Leopold Trepper, der „Chef der Roten Kapelle” im Zweiten Weltkrieg, der zu den Wissenden gerechnet werden darf, vertritt die Ansicht, „daß Stalin sich der Komplizenschaft Hitlers bediente, um der Streitmacht des russischen Volkes diesen tödlichen Schlag zu versetzen.” (63) Außer der sowjetamtlichen Darstellung von Lew Nikulin (64) sind auch Walter Hagen (49), Walter Schellenberg (16), Geoffrey Bailley (53), Viktor Alexandrow (60), der sich auf eine 81
Primärquelle beruft, ferner Heinz Höhne (48), Michel Garder (59) und andere der gleichen Ansicht, daß nämlich Heydrich es war, der die Tuchatsdiewski und seinen Kreis belastenden „Dokumente” herstellen und über Benesch an Stalin weiterleiten lies. Auf die zahlreichen dort geschilderten Einzelheiten kann, ihres Umfangs wegen und da sie nicht zum Thema dieser Arbeit gehören, nicht näher eingegangen werden. Es sei lediglich auf die Beschaffung der Originale hingewiesen, die Heydrich benötigte, um die Fälschungen durchführen zu können. Aus der Zeit der Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee waren Belege und Schriftstücke vorhanden, die die Unterschriften der deutschen und sowjetischen Befehlshaber trugen, wie Berichte, die Tuchatschewski während seiner Ausbildungszeit bei der Reichswehr geschrieben und persönlich unterzeichnet hatte. Auch handgeschriebene Briefe an die Generäle v. Hammerstein und v. Fritsch befanden sich darunter mit einer Anzahl Manöverfotos und auch Abrechnungen. (60) Diese Originale waren in den Archiven der Admiral Canaris unterstehenden Abwehr verwahrt. Nachdem Heydrich diese von dem nicht unterrichteten und vor allem ehrenhaft denkenden Admiral Canaris vergeblich angefordert hatte, schaltete sich Hess mit demselben Anliegen, ebenfalls erfolglos, ein. Nach Viktor Alexandrow (60) „war er” (Canaris) „der Überzeugung, daß die Gestapo einige hochgestellte Offiziere der Reichswehr mit irgend einer dunklen Angelegenheit in Verbindung bringen wollte, wahrscheinlich Mitglieder der Schleichergruppe. Canaris war daher fest entschlossen, diese hinterhältigen Pläne zu durchkreuzen. Er verzögerte mit den trügerischsten Vorwänden die Aushändigung der Dokumente, die Hess verlangt hatte. In diesem Augenblick schaltete sich der dynamische Martin Bormann ein, die graue Eminenz des Führers. Er setzte sich ganz einfach an die Spitze des Komitees der ,drei H‘ (Hitler-HimmlerHeydrich) und arbeitete einen Plan aus, mit dessen Hilfe man die von Canaris verweigerten Dokumente in die Hand bekam”. (Kursiv v. Verf.) Wie das geschah, teilt Viktor Alexandrow ebenfalls mit: 82
„Des langen Wartens auf die Aushändigung der Dokumente durch Canaris leid, hatte der Chef des SD” (Heydrich) „einfach in die Amtsräume des Nachrichtendienstes der Wehrmacht einbrechen lassen” (60) (Kursiv v. Verf.) In der dazu gehörenden Fußnote schreibt Viktor Alexandrow (60): „Ein Raubüberfall auf das Büro der Abwehr durch den Chef des SD” (Heydrich) „könnte recht unwahrscheinlich anmuten. Die Tatsache wird jedoch recht eindeutig von Schellenberg” (Heydrichs rechter Hand) „in seinen Erinnerungen bestätigt. Seinerseits hat Canaris darüber mit dem Oberst Abshagen und dem Major v. Prittwitz gesprochen, deren Aussage von Colvin in seinem Werk ,Chief of Intelligence‘ festgehalten sind. Schellenberg schreibt in seinen Erinnerungen, daß die Einbrecher rückfällige Berufsverbrecher waren, sogenannte ,Ringbrüder‘, die zu schweren Strafen verurteilt waren. Heydrich hatte sie begnadigt. Sie arbeiteten mit solchem Tempo, daß nach ihrem Fortgang ein Brand ausbrach. Dieser Unglücksfall zerstörte einige wichtige Akten, die aber nichts mit der Angelegenheit Tuchatschewski zu tun hatten.” Die gestreiften Ereignisse, deren Schilderung inzwischen zu einer Literatur angeschwollen ist, fanden in den Jahren 1935 bis 1938 statt, als die Bauvorhaben auf dem Obersalzberg noch bei weitem nicht vollendet waren. Wie bekannt, hatte sich Martin Bormann zum Bauherrn gemacht. Darüber vergaß er aber seine Aufgaben als Leiter des Stabes von Heß nicht, die er sich oft selbst stellte. Joseph Wulf (10) ist der Ansicht, daß „Bormann als Stabsleiter gewissermaßen ein Doppelleben führte. Zielstrebig, aber gut getarnt und ganz heimlich baute er sich die Stellung nach eigenen Wünschen aus, ohne daß es im allgemeinen seiner Umgebung zum Bewußtsein kam. Er ging dabei so geschickt vor, daß er fast jeden täuschte.” (Kursiv v. Verf.) Leider bricht Wulf diesen Gedankengang hier ab, ohne Namen der Nicht-Getäuschten zu nennen, und geht zu der Begründung seiner Ansicht über. Dabei bezieht er sich auf die zahlreichen und mannigfaltigen Rundschreiben, die Martin Bormann verfaßte 83
und mit denen er den Ausbau seiner Stellung betrieb. In diesem Zusammenhang spricht Wulf etwas drastisch, aber nicht ganz abwegig von einer „regelrechten Untergrundarbeit” (10). Es mutet in der Tat eigenartig an, wenn der aus der Hilfskasse freiwillig Ausgeschiedene, der eine Tätigkeit in der politischen Organisation der NSDAP suchte (Schreiben Bormanns an Heß v. 27. Mai 1933), sich in Rundschreiben an alle Reichs- und Gauleiter mit der Farbe der Mäntel befaßt, die von Amtswaltern bzw. von der SA zu tragen seien. Ferner befaßt er sich mit dem Chauffeur des Leibarztes, für den er Frontbewährung befahl, die Dr. Morell sehr schnell annullierte. In einem streng vertraulichen Rundschreiben an die Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer tritt er für die Einrichtung von Bordellen für Fremdarbeiter, sehr detailliert, ein. In seinem Rundschreiben vom 3. Januar 1941 erklärt er die deutsche Schrift (Fraktur) zu „Schwabacher Judenlettern” und verfügt — im Namen Adolf Hitlers —, daß die Antiquaschrift künftig als „Normalschrift” zu bezeichnen und nach einer Übergangszeit nur noch allein zu verwenden sei. Auch die Verfügung, daß beim Singen des Deutschlandliedes und des Horst-Wessel-Liedes die rechte Hand zum „deutschen Gruß” zu erheben sei, war auf Martin Bormann zurückzuführen. Anfang 1938 wurde er von Adolf Hitler nach Berlin befohlen. Es kam zu dem bereits erwähnten 4. Februar, als über zehn Generäle der Wehrmacht und der Reichsaußenminister v. Neurath entlassen und durch Nationalsozialisten ersetzt wurden. Es kam zu der Intrige gegen Kriegsminister v. Blomberg und den Oberbefehlshaber des Heeres v. Fritsch. Ob bzw. welche Rolle Martin Bormann dabei gespielt hat, ist unbekannt geblieben. Beim Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich (März 1938) befand er sich in Adolf Hitlers Umgebung. Er hatte die Aufgabe, einen früheren Bekannten Adolf Hitlers, Reinhold Hanisch, mit Hilfe der Gestapo festnehmen zu lassen. Hanisch hatte im Jahre 1910 die Aquarelle des Kunstmalers Hitler verkauft und mit ihm in einem Männerheim in Wien-Meidling gewohnt; auch hatte Hanisch mit Enthüllungen gedroht. Später schrieb Martin Bormann in einer Aktennotiz, daß „Hanisch sich nach der Übernahme Österreichs erhängt habe” (8). 84
Im Sommer 1938 begann Martin Bormann, das Staatsoberhaupt von der Bevölkerung zu isolieren, was Rudolf Jordan (30) in den letzten Kriegs jähren so treffend als „Sperrmauer” bezeichnet hat. Er ließ durch einen zwei Meter hohen Drahtzaun das Gelände des Obersalzberges von den verbliebenen Besitzern abgrenzen und diese Zone in einen äußeren und einen inneren Sperrkreis teilen. Der innere Kreis wurde von Zivilbeamten Himmlers überwacht, die am Obersalzberg Martin Bormann unterstellt waren (8). Der Vollständigkeit halber sei vermerkt, daß Martin Bormann auch im zweiten Halbjahr 1938 ständiger Begleiter Adolf Hitlers gewesen ist; er nahm teil an der Inspektion des Westwalls, an einer Flottenparade, an Truppenbesichtigungen und Anfang September am Nürnberger Reichsparteitag, wo ihm Adolf Hitler den „Blutorden” verlieh. Auch bei bedeutenderen und politischen Anlässen, wie der Konferenz Hitler-Chamberlain in Bad Godesberg aus Anlaß der „Tschechenkrise” und beim bekannten Münchner Abkommen über das Sudetenland war Martin Bormann zugegen.
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SIEBTES KAPITEL Freisler und der Volksgerichtshof — „Freisler in seiner ganzen Art ein Bolschewik” (Hitler) — Bormann attakiert General Rommel und übt Rache an ihm
Zu der „Bewältigung der Vergangenheit”, über die immer wieder gesprochen wird, gehört sowohl das Wissen über die heterogene Zusammensetzung der Führungsspitze im Dritten Reidi als auch die Betrachtung zweier weiterer Personen, denen später neben Dr. Morell und Martin Bormann große Bedeutung zukommen sollte. Es waren dies der frühere Sowjetkommissar Roland Freisler, der, obwohl halbarisch, bis zum Präsidenten des Volksgerichtshofes aufstieg, und der Duzfreund Martin Bormanns, Erich Koch, der Gauleiter von Ostpreußen, über den im Zusammenhang mit der NS-Besatzungspolitik in der Ukraine noch zu sprechen sein wird. Der Lebenslauf und die Karriere Freislers weisen einige Merkwürdigkeiten auf. Roland Freisler wurde am 30. Oktober 1893 in Celle bei Hannover geboren. Er besuchte die Schulen in Aachen und Kassel und hatte sich einen gewissen Ruf erworben, bei Wortgefechten schlagfertig und ironisch zu sein. Nach abgelegtem Abitur begann er, in Jena Rechtswissenschaften zu studieren. Anfang August 1914 meldete auch er sich als Kriegsfreiwilliger; im Herbst 1914 kam er zum Einsatz an die Ostfront, wo er nach einem Jahr in Kriegsgefangenschaft geriet. Er erlernte die russische Sprache, was ihm hervorragend gelang. Auch soll er sich intensiv mit dem Marxismus beschäftigt haben. Schließlich wurde er bolschewistischer Kommissar im Bereich der Lebensmittelversorgung (19, 66, 68). Im Juli 1920 nach Kassel zurückgekehrt, nahm er sein Studium wieder auf, das er 1921 mit summa cum laude bestand. In der Praxis war er ein guter Jurist, von dem gesagt wurde, daß „die Farben seines Temperamentes zwischen äußerster Geisteskälte, philosophischem Enthusiasmus und Kaschemmenton spielten” (19). 86
Seine Berufung als Ministerialdirektor ins preußische Justizministerium erreichte den 39jährigen im Februar 1933. Dieser Erfolg hielt den Ehrgeizigen aber nicht davon ab, Anfang März „an der Spitze seiner braunen Freunde” (66) das Rathaus in Kassel ebenso zu stürmen, wie das Bonner Rathaus vierzig Jahre später von Roten gestürmt und „besetzt” wurde. Dieser Erfolg dürfte Freisler bewogen haben, schon am nächsten Tage mit seiner braunen Schar vor das Kasseler Gerichtsgebäude zu ziehen, offenbar um auch dieses zu stürmen. Es gelang einem besonnenen Beamten, ihn davon abzubringen und sich mit der Befestigung einer Hakenkreuzfahne über dem Hauptportal zu begnügen. Über Freislers geistige Beweglichkeit schreibt Gerd Buchheit (66): „Ohne Mühe hatte er sich in der ,Kampfzeit‘ der Bewegung die Grundsätze von ,Gemeinnutz, Volk, Rasse, Erbgut‘ usw. angeeignet, so wie er in den Jahren seines Aufenthaltes in Rußland sich mit dem Wortschatz der kommunistischen Lehre vertraut gemacht hatte... Er war als Funktionär ein so perfekter Nationalist, daß er sich kaum von dem kommunistischen Apparatschik unterschied...” Über die Angeklagten des zwanzigsten Juli 1944 sagte Adolf Hitler nach Buchheit: „Und das Wichtigste ist, daß sie keine Zeit zu langen Reden erhalten dürfen. Aber das wird der Freisler schon machen. Das ist unser Wyschinski.” (Bekannter sowjetischer Staatsanwalt bei den Schauprozessen 1937. Kursiv v. Verf.) Buchheit fährt fort: „Diese Kennzeichnung des Präsidenten des Volksgerichtshofes ist recht aufschlußreich, zumal wenn man sich erinnert, daß Hitler ein andermal erklärt hatte: ,Freisler ist in seiner ganzen Art ein Bolschewik.‘” Über die Art der von Freisler geleiteten Gerichtsverhandlungen schreibt Buchheit: „Mit Recht wurde von Augenzeugen die Prozeßführung Freislers als eine Karikatur einer Gerichtsverhandlung bezeichnet. Mit schauspielerischem, brutalem und erbarmungslosem, anschei87
nend vor dem Spiegel einstudiertem, Gesichtsausdruck betrat der Vorsitzende an der Spitze seiner Mitarbeiter den Saal. Nichts von Menschlichkeit in dieser widerlichen Fratze mit den großen, von den Lidern halb überdeckten, gleißnerisch-hinterlistigen Augen ...” (66) Der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) SS-General Dr. Kaltenbrunner schreibt in seinen geheimen „Berichten an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944” u. a.: „Freilich fehlte es auch nicht an Stimmen, die an die Verhandlungsführung des Vorsitzenden kritische Betrachtungen knüpfen. So wird, insbesondere in Kreisen der Intelligenz und Rechtswahrer darauf hingewiesen, daß die Art und Weise, wie der Prozeß aufgezogen und in breiter Form in der Öffentlichkeit besprochen worden sei, ... an frühere sowjetische Schauprozesse erinnere ... Die ,billige Art', in der der Vorsitzende — so wird gesagt — die Angeklagten, die eigentlich schon gerichtet wären, beschimpft und lächerlich gemacht habe, entsprächen nicht ganz der Würde des höchsten deutschen Gerichtshofes...” (69) Kaltenbrunner fährt in seinem Geheimbericht fort: „Andere Volksgenossen weisen darauf hin, daß es sich bei einigen der Angeklagten doch um Persönlichkeiten handele, die wegen ihrer Verdienste und wegen ihrer Tätigkeit gerade im nationalsozialistischen Staat zu höchsten Ehren und Auszeichnungen gelangt seien. Es sei doch seltsam, daß diese Männer, die noch vor nicht allzulanger Zeit vom Führer selbst befördert und deren Taten in der Presse als Heldentaten gefeiert worden seien, nun als töricht, vertrottelt und unentschlossen dargestellt würden. Wenn die Bevölkerung auf diese Weise darüber aufgeklärt würde, daß ein Generalfeldmarschall und ein Generaloberst, die über den Einsatz von Zehntausenden von Soldaten hätten bestimmen können, sich als derartige Verbrecher und unfähige Kreaturen herausstellten, so müsse damit das Vertrauen in die Wehrmacht einen starken Stoß erleiden. Es müßten aber auch Zweifel in die P e r s o n a l p o l i t i k in den höchsten Fühmann, die schon im Polenfeldzug die innere Einstellung dieses hohen und bedeutungsvollen Stellen belassen habe... Gewisse Bedenken werden auch aus der Tatsache hergeleitet, 88
daß die Prozeßführung offenbar eine freie Entfaltung der Geständnisse der Angeklagten über ihre wahren Motive verhindert hatte. Bei aller Ausführlichkeit lasse der offizielle Pressebericht viele Fragen offen. Es handele sich doch zweifellos um eine Reihe von Männern, die in der Lage gewesen wären, Deutschlands militärische und politische Möglichkeiten zu überblicken und von denen man kaum annehmen könne, daß sie grundlos und ohne jede Überlegung ein solch verabscheuungswürdiges Verbrechen vorbereitet und durchgeführt hätten ...” (69) Zu diesen Verhandlungen waren annähernd dreihundert Personen als Zuhörer zugelassen. Zahlreiche davon überlebten den Krieg und hinterließen ausführliche Berichte. Freisler schrie nicht nur die angeklagten Offiziere nieder, wenn sie eine Erklärung abgeben wollten, er beleidigte sie auch in gehässiger Weise. Hier im Verhandlungssaal des höchsten deutschen Gerichtes tobte sich der Haß des ehemaligen Sowjetkommissars, des deutschen „Wyschinski”, gegen den deutschen Adel und hochverdiente Offiziere in wahrhaft orgiastischer Weise aus. Vielleicht glaubte dieser „politische Soldat des Führers”, wie er sich einmal selbst bezeichnet hat, durch solches Verhalten öffentlich zu beweisen, daß er ein fanatischer Nationalsozialist sei, und wollte damit, gleich Heydrich, seine halbarische Herkunft kompensieren. Dieses von Haß getragene Verhalten Freislers findet eine Parallele bei dem „ewigen Widerpart des Heeres” (33) Martin Bormann, die schon im Polenfeldzug die innere Einstellung dieses Mannes grell beleuchtet. Darüber teilt General Walter Warlimont in seinen Erinnerungen mit (70): „Damit auch die Groteske, soviel Ernsthaftes ihr innewohnen mochte, nicht fehle, seien noch einige Beobachtungen besonderer Art von dem Aufenthalt im Hauptquartier Zoppot vermerkt. Am frühen Morgen sammelten dort an der Auffahrt zum Hotel, in Doppelkolonne aufmarschiert, 20—30 Wagen zur Fahrt auf das Gefechtsfeld nördlich Gdingen. General Rommel, der Kommandant des Hauptquartiers, mußte sich dabei der Aufgabe unterziehen, diesen Troß, mit Hitler an der Spitze, in Marsch zu setzen. 89
Auf die erstaunte Frage, warum denn in Doppelkolonne gefahren werde, erhielt der Besucher von Rommel die Antwort, daß er nach manchen peinlichen Erfahrungen diese ,Marschgliederung‘ eingeführt habe, weil sie am besten geeignet sei, den Rang- und Vorfahrtsansprüchen der nicht der Wehrmacht zugehörigen Besucher gerecht zu werden, die sich inzwischen zahlreich im Hauptquartier eingefunden hatten. Auf diese Weise seien wenigstens 6—8 von ihnen, zwei „Wagenladungen”, jeweils auf gleicher Höhe und im gleichen Abstand von Hitler untergebracht und darauf käme es ihnen vor allem an. Trotzdem mußte Rommel an diesem Tage eine weitere peinlich Erfahrung machen, als sich die Doppelkolonne auf schmalem Feldwege nicht mehr aufrechterhalten ließ und plötzlich der größere Teil der Wagen an einer Sperre angehalten wurde, während die Spitze mit Hitler davonfuhr. Obwohl es sich unter den Zurückgebliebenen sogleich herumsprach, daß ein kurzer Besuch in einem nahen Feldlazarett der Anlaß für die Unterbrechung war, erhob Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei, auf dem noch kaum aufgeräumten Gefechtsfeld ein wütendes Geschrei und beschimpfte General Rommel wegen dieser vermeintlichen Zurücksetzung in unerhörter Weise. Rommel schien gegen solche Frechheit machtlos. Auch als ihm der Besucher noch in derselben Minute und an derselben Stelle seine Empörung über das Verhalten Bormanns zum Ausdruck brachte, bat Rommel ihn nur darum, doch auch den Chef-Adjutanten der Wehrmacht, Schmundt, im gleichen Sinne über den Vorfall zu unterrichten.” (Kursiv v. Verf.) So offen zeigte Martin Bormann seine Abneigung, ja Haß gegen die Wehrmacht selten. Er intrigierte in den kommenden Jahren im stillen erfolgreich weiter, da Adolf Hitler ihm erheblich mehr Vertrauen entgegenbrachte als den Offizieren der Wehrmacht. Der oben geschilderte Vorfall läßt aber auch das Klima ahnen, in dem später die Entscheidungen getroffen wurden, die, abgesehen vom Verrat im „Führerhauptquartier” nach den ersten und großen militärischen Erfolgen von Niederlage zu Niederlage führen sollten. 90
ACHTES KAPITEL Bormann baut seine Stellung aus — Eigenarten von Heß — Heß' Flug nach England — „Bormann eine Made im Reichsapfel” — Bormann gewinnt Terrain durch Heß’ Ausscheiden — Charakterzüge Bormanns
Die Zeit zwischen dem glänzend geführten Feldzug in Polen (Feldzug der 18 Tage) im September 1939, der Besetzung Dänemarks, der Landung und Kämpfe in Norwegen, die bis Ende 1940 andauerten, der Offensive im Westen (10. Mai 1940), der Niederwerfung Jugoslawiens und Griechenlands (April 1941) war für Bormann ausgefüllt mit der Bearbeitung parteipolitischer Aufgaben und Probleme, die durch die Besetzung der eroberten Gebiete entstanden waren. Er befaßte sich auch mit der Organisation der Zivilverwaltung in diesen Gebieten, wobei er besonderes Augenmerk den Polen zuwandte. So protestierte er in einem Brief an den Leiter der Reichskanzlei, Dr. Lammers, gegen die Einführung des deutschen Strafrechtes in den Ostgebieten. Geordnete deutsche Rechtsverhältnisse erschienen ihm für die Polen zu human. Er erreichte schließlich, daß im Mai 1941 als Sonderstrafrecht für die Polen ein Polizeistrafrecht eingeführt wurde; es reichte von der Prügelstrafe bis zur Todesstrafe (8). Zur gleichen Zeit ging Martin Bormanns Vorgesetzter, Rudolf Heß, der „Stellvertreter des Führers” einer weniger verantwortungsvollen Tätigkeit nach: er betrieb Sport und lief Ski, sehr zum Unwillen Adolf Hitlers. Heß war dem Okkultismus und seinen Pseudowissenschaften, wie Astrologie, Hellsehen, Pendeldeutung usw. sehr zugetan, „ja, er war so etwas wie ihr Protektor gewesen” (49). Als Felix Kersten, der Masseur Himmlers, einmal Heß auftragsgemäß besuchte, fand er diesen im Bett. Hier seine Schilderung (71): „Fünfzig Zentimeter über seinem Körper hing ein großer, an der Zimmerdecke befestigter ,Automagnet‘. Im Flüsterton sagte er zu Kersten, er mache gerade eine magnetische Kur. Diese be91
stand nun darin, daß unter dem Bett von Heß 12 starke Magnete lagen und über ihm ein Magnet hing. Ihre Aufgabe sollte sein, alle schädlichen Stoffe aus dem Körper zu ziehen. Als Kersten unwillkürlich bei diesem Anblick lachen mußte, erklärte Heß in vorwurfsvollem Ton: ,Die wahren Heilkräfte der Natur kennt die Medizin noch nicht. Die liegen in der magnetischen Kraft. Ebenso wie die Magnetnadel sich aus eigener Kraft nach Norden dreht, ebenso kann man, wenn magnetische Eisen richtig angesetzt werden, auch Krankheiten aus dem Körper ziehen und den Körper kräftigen.' Nach einer Zeit ruhigen Daliegens sagte er dann in prophetischem Ton, er müsse enorme Kräfte sammeln, um eisenstark zu werden, damit er diese außergewöhnliche Kraft für die Rettung Deutschlands einsetze. Auf die Frage Kerstens, worin er denn diese Rettung sehe, antwortete er, darüber könne er nicht sprechen, aber er bereite eine Tat von geschichtlicher Größe vor. Kersten empfand tiefes Mitleid mit diesem Mann, der offensichtlich an einem Trauma litt. Oft konnte er von ihm hören, daß er das Leben, das er jetzt führen müsse, nicht mehr aushalte. Er wolle nicht am Schreibtisch sitzen. Fest entschlossen, sein Leben zu Ehren Deutschlands in die Schanze zu schlagen, würde er bald selbständig handeln. Bei einer solchen Zukunftsschau meinte er gelegentlich mit Tränen in den Augen zu Kersten: ,Die Welt muß einsehen, daß Deutschland unbesiegbar ist. Und ich muß die Hand dazu bieten, daß die Völker sich mit uns versöhnen.‘” Speers Bericht über Heß (32), wie dieser mit einem Adjutanten an der Tafel Adolf Hitlers erschien, entbehrt nicht der Komik: hinter Heß schritt sein Adjutant, ein Gefäß mit Speisen tragend, die nur mit Heilkräutern zubereitet waren, an deren Wunderwirkung der „Stellvertreter des Führers” fest glaubte. Adolf Hitler kommentierte diesen Aufzug sehr realistisch. Am 10. Mai 1941 flog Heß nach England. Diese Tat erregte damals überall viel Aufsehen. Es ist, besonders von sowjetischer Seite, angenommen worden, dieser Flug sei im Auftrage Adolf Hitlers durchgeführt worden, um mit Großbritannien einen Sonderfrieden zu schließen. Dieser Auffassung steht die eidesstatt92
liche Versicherung von Hildegard Fath entgegen, die vom 17. Oktober 1933 bis zum 10. Mai 1941, dem Tage seines Fluges nach England, Sekretärin von Heß in München gewesen war. Hildegard Fath sagte vor dem internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg aus (72): „Vom Sommer 1940 an — den genauen Zeitpunkt kann ich nicht mehr angeben — mußte ich im Auftrag von Heß geheim Wettermeldungen über die Wetterlage über der britischen Insel und über der Nordsee einholen und an Heß weiterleiten. Die Meldungen bekam ich von einem Hauptmann Busch. Teilweise bekam ich auch Meldungen von Fräulein Sperr, der Sekretärin von Heß bei dessen Verbindungsstab in Berlin ...” Eine Erklärung für diesen Flug gibt Albert Speer in seinen Erinnerungen (32): „Nach meiner damaligen Auffassung trieb der Ehrgeiz Bormanns Heß zu diesem Verzweiflungsschritt. Heß, ebenfalls ehrgeizig, sah sich bei Hitler zusehends ausgeschaltet. So sagte mir beispielsweise Hitler, etwa im Jahre 1940, nach einer vielstündigen Besprechung mit Heß: — , ... Mit Heß wird jedes Gespräch zu einer unerträglich quälenden Anstrengung. Immer kommt er mit unangenehmen Sachen, und laßt nicht nach.‘ Wahrscheinlich suchte Heß mit seinem Englandflug, nach so vielen Jahren im Hintergrund, Aufsehen und Erfolg zu erringen; denn er besaß nicht die Eigenschaften, die notwendig waren, sich inmitten eines Sumpfes von Intrigen und Machtkämpfen zu behaupten. Er war zu sensibel, zu offen, zu labil und gab oft allen Parteien, in der Reihenfolge ihres Erscheinens, recht... Fünfundzwanzig Jahre später versicherte mir Heß im Spandauer Gefängnis allen Ernstes, daß ihm die Idee von überirdischen Kräften durch einen Traum eingegeben worden sei...” Winston Churchill urteilte kurz und treffend: „Mit diesem Flug sei eine Made im Reichsapfel sichtbar geworden.” (32) Diese Ansicht Churchills kommentiert Albert Speer (32) mit den Worten: „Er konnte nicht ahnen, wie buchstäblich dieses Wort auf Heß' Nachfolger” (Martin Bormann) „zutraf.” 93
Aus geheimdienstlicher Sicht ist aus den Memoiren Walter Schellenbergs (16) mehr zu entnehmen: „Hitler selbst, hieß es, sei durch das Ereignis völlig konsterniert und kaum noch einer Reaktion fähig. In dieser Verfassung Hitlers gelang es Reichsleiter Martin Bormann, einen entscheidenden Vorstoß zu machen, mit dem er sich fortan das Vertrauen Hitlers sicherte. Er erfand die These: ,Heß ist verrückt geworden.‘ Er war es auch, der Hitler dazu brachte, diese Erklärung in das erste offizielle Kommunique aufzunehmen. Man hatte dabei allerdings nicht bedacht, daß nun allerseits die Frage laut wurde, wie denn ein Irrer so lange Stellvertreter des Führers habe sein können — Nun überstürzten sich die Exekutivanweisungen Hitlers. Müller” (Gestapo-Müller) „war dabei in seinem Element. Er konnte auf der ganzen Klaviatur seines Apparates herumspielen... Vom Adjutanten über seine Freunde bis zum Chauffeur des ehemaligen Stellvertreter Hitlers wurden alle verhaftet. Am liebsten hätte Müller auch noch das gesamte Flugplatzpersonal sowie die technischen Direktoren der Flugzeugfirma Messerschmidt eingesperrt, da Heß in einer Messerschmidt-Maschine geflogen war. Und wenngleich er sich auf einen kleineren Rahmen beschränkte, so ergriff seine Verhaftungswelle dennoch viele, die nicht im entferntesten daran gedacht hatten, in diesen Fall einbezogen zu werden. Berichten des Inlandsnachrichtendienstes zufolge sollte Heß ein ,stiller Förderer‘ und Anhänger des Anthroposophen Rudolf Steiner gewesen sein. Prompt wurden denn auch aus diesen Kreisen zahlreiche Menschen in Haft genommen. Doch damit nicht genug — die Berichte ergaben weiterhin, daß Heß ständige Beziehungen zu Astrologen, Hellsehern, Magnetopathen sowie Naturheilkundigen gepflegt und seinen Flug auf Grund astrologischer Ratschläge berechnet habe. Darauf wurden Müllers Kollektivverhaftungen auch auf diese Gruppen ausgedehnt__ Wußte man denn nicht vorher zur Genüge, daß Heß in dieser Richtung besondere Schwächen gezeigt hatte, die von Fachleuten schon als pathologisch bezeichnet worden waren? Und daß auch Hitler der Astrologie einiges Interesse entgegengebracht hatte, 94
wurde geflissentlich übersehen. (Nach dem Verschwinden seines Stellvertreters schlug seine Neigung in eine kompromißlose Antipathie um, und die ganze Astrologie wurde radikal verfolgt.) Ich weiß mich noch sehr wohl zu erinnern, mit welch innerem Widerstreben Himmler, der ebenfalls mit mystischen Prophezeiungen liebäugelte, damals der Kollektivaktion gegen die Astrologen und Hellseher gegenüberstand und mit welch unverhohlener Freude Heydrich, der davon wußte, in seiner Gegenwart Müller die bis ins Detail gehenden Anordnungen Hitlers auseinandersetzte. Oft genug schon hatte sich Heydrich bei mir beklagt, daß Himmler mal wieder in diesem oder jenem Falle zaudere, weil er zu tief in sein Horoskop geblickt habe. Bei einem der Telefongespräche, die nach dem Fall Heß zwischen Himmler und Heydrich geführt wurden, hörte ich letzteren wörtlich sagen: ,Dem einen machen die Sterne auf den Schulterstücken Sorgen, dem anderen die am Himmel. Es fragt sich, mit welchen man besser zusammenarbeiten kann.‘ ... Unser Geheimdienst vertrat die Auffassung, Heß könne durch einen seit Jahren an ihn herangeführten Mitarbeiter des Secret Service zu seinem Entschluß, nach England zu fliegen, bewogen worden sein. Auch ein gewisser Professor G., ein Spezialist für Schilddrüsenerkrankungen, der auf Heß einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben sollte, könne eine Rolle mitgespielt haben. Es müsse überdies in Betracht gezogen werden, daß Heß als Auslandsdeutscher (in Ägypten aufgewachsen) in seiner Jugend britisch beeinflußt worden sei. Doch das alles zusammen erklärte uns den Fall noch nicht hinreichend. In einer Unterredung mit Heydrich vertrat ich die Ansicht, Heß hätte sich wahrscheinlich in eine Art Messiasgedanken hineingesteigert, da er ja als intimster Freund Hitlers jahrelang in dessen Gedankengängen gelebt und unter dem Einfluß der Hitlerschen Idee vom ,englischen Brudervolk‘ gestanden habe. Entsprechende Äußerungen seien in intimen Kreisen von seiner Seite oft genug gefallen. Heydrich war nüchtern genug ... meine Meinung an sich gelten zu lassen; jedoch versteifte er sich in erster Linie auf die Vermutung, daß der Secret Service seine Hand im Spiele habe und 95
wir diese Spur weiterverfolgen müßten. Dann fügte er noch ein paar sonderbare Sätze hinzu, die ich wörtlich wiedergeben möchte: ,Sollten diese Meldungen (den Secret Service betreffend) richtig sein, dann könnte uns seitens dieser Kreise auch noch an anderer Stelle empfindlicher Schaden zugefügt werden. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir eines Tages weitere ähnliche Überraschungen erlebten. Ich bin überzeugt, daß der Secret Service so weit plant.‘ Und dann kam der Satz: ,Na, und die Russen sind nicht weniger dumm.‘ Die Version, Hitler selbst habe Heß mit dem geheimen Auftrag nach England geschickt, ein letztes Friedensangebot zu machen, muß ich auf Grund unserer Ermittlungen als ausgeschlossen bezeichnen... Ich hatte in der Folgezeit immer wieder Informationen über sein Verhalten und seinen geistigen Zustand einzusehen. Es war Himmler, der dafür besonderes Interesse zeigte und mich, ohne Wissen Hitlers, beauftragte, eine Postverbindung zwischen Heß und seiner Frau herzustellen. Die Briten ließen einen Briefwechsel in beschränktem Maße zu. Die Post wurde über das Internationale Rote Kreuz in der Schweiz geleitet. Ein großer Teil der Briefe trug rein persönlichen Charakter und zeigte eine große Verehrung und Liebe zu Frau und Sohn. Im übrigen war der Inhalt für uns nur schwer verständlich. Ich wunderte mich damals sehr, daß die britische Zensur nicht schärfer gehandhabt wurde; sie mochte aber auf Grund von eingehenden Vernehmungen zu der Ansicht gelangt sein, daß es sich bei diesen Mitteilungen vielfach mehr um mystische, ja manische Ideen als am wichtig zu nehmende Informationen handele. Heß zitierte immer wieder alte Weissagungen und hellseherische Bilder. Dabei berief er sich auf frühere Horoskope, deren Voraussagen durch das bisherige Schicksal seiner selbst, seiner Familie, aber auch Deutschlands bestätigt worden seien. Seine Frau ging in rührender Weise darauf ein, ohne daß ich sagen könnte, wie ihre sachliche Einstellung dazu war. Bitter gestaltete sich das Schicksal des ersten Adjutanten von Heß. Er wurde die Zielscheibe der Hitlerschen Wut wie auch fortgesetzter Intrigen Bormanns. Heydrich versuchte wiederholt, 96
ihn durch geschickte Gegenzüge frei zu bekommen; wenn ihm dies nicht gelang, so trug meines Erachtens Müller die Schuld daran. Dieser folgte kompromißlos den Anordnungen Bormanns, in dem er schon damals den Nachfolger Heß' vermutete und dessen stärkere Dynamik und Durchschlagskraft er einkalkulierte. Der Adjutant mußte bis zum Kriegsende in einem KZ ausharren, ohne daß ihn dies nach dem Zusammenbruch vor weiteren Strafmaßnahmen seitens der Alliierten bewahrt hätte.” So weit Schellenberg. James Leasor (73) berichtet zahlreiche Details über den Ablauf der Ereignisse bei und nach der Meldung des Heß-Adjutanten Pintsch auf dem Berghof bei Adolf Hitler. Wissenswert erscheint das hier geschilderte Verhalten Martin Bormanns. Demnach soll Pintsch den Brief von Heß an Adolf Hitler diesem übergeben haben, der ihn mehrere Male las, ehe er ihn in die Rocktasche schob. Von einem „unartikulierten, fast tierischen Aufschrei” wie Albert Speer (32) meint, ist in dieser Schilderung nichts enthalten. Außerdem spricht Speer von zwei anwesenden Adjutanten, Leitgen und Pietsch, während Leasor (73) nur von einem Adjutanten Pintsch und nicht Pietsch schreibt. Pintsch wurde zum Mittagessen mitgenommen. Auf dem Wege zum Speisesaal begegnete er „zufällig” Martin Bormann, der begreiflicherweise fragte, was passiert sei. Weiter berichtet James Leasor: „Der Stellvertreter des Führers ist nach Schottland geflogen, erklärte Pintsch. Bormann zuckte sofort zurück. Er wollte alles vermeiden, was ihn in unangenehme Dinge verwickeln könnte. ,Nach Schottland?‘ wiederholte er ungläubig. ,Damit will ich nichts zu tun haben. Davon habe ich nichts gewußt‘, sagte er, ,halten Sie mich auf jeden Fall heraus.‘ Sie kamen in den Speisesaal. Dr. Todt war schon da, ferner Dr. Otto Dietrich, der Reichspressechef, Walter Hewel, ein Mitarbeiter Ribbentrops im Auswärtigen Amt und der General der Flieger, Karl Bodenschatz ... Das Essen war einfach ... Die anderen am Tisch, Eva Braun, Hitlers Geliebte, Martin Bormann... Außenminister v. Ribbentrop, Luftwaffengeneral Ernst Udet und Karl-Heinz Pintsch — bekamen Suppe ... 97
Pintsch war erleichtert. Die vertrauten Gesichter um ihn herum — und schließlich hatte er an Hitlers Tafel gesessen, und zwar nicht an einem der kleinen runden Tische, die für andere Gäste und Adjutanten bestimmt waren. Er glaubte daraus schließen zu können, daß seine Nachricht für Hitler keine Überraschung bedeutete. Er war dem Schicksal dankbar, daß Hitler nicht getobt und ihn angebrüllt hatte, was er sonst tat, wenn schlechte Nachrichten kamen.” (Hitler) „ging um den Tisch herum und blieb hinter Pintschs Stuhl stehen. Der Adjutant drehte sich um und sah unsicher in Hitlers blasses, fast graues Gesicht. Er wußte nicht: sollte er aufstehen oder sitzenbleiben? An seiner einen Seite erhob sich Bormann und trat zurück. Er wollte in das Gespräch der beiden nicht verwickelt werden. Er war viel zu gerissen, als daß er eine Meinung geäußert hätte, ohne daß man ihn fragte. Und er war besonders besorgt, daß man ihn in das Unternehmen ,Schottland-Flug‘ einbeziehen könnte. Bormann befand sich in einem Dilemma. Wenn Heß mit seiner Friedensmission Erfolg hätte, dann könnte Pintsch für ihn noch einmal recht nützlich sein. Wahrscheinlich aber würde die Sache schiefgehen. Dann war es besser, Pintsch nie gekannt zu haben. Niemand konnte innerhalb der nächsten Stunden wissen, welcher der beiden Fälle eintreten würde. Deshalb schien es der taktisch klügste Kurs, so lange wie möglich neutral zu bleiben. Aber so leicht kam Bormann noch nicht davon. Der Führer tippte ihm auf die Schulter und nickte fast unmerklich in Richtung Tür. Bormann verstand. Er verließ den Raum. Dabei vermied er es, Pintsch ins Gesicht zu sehen. Einen Moment später war er wieder da, begleitet von zwei jungen Hauptleuten aus Hitlers Leibwache. Sie trugen Pistolen am Koppel. Im Gleichschritt kamen sie quer durch den Raum und stellten sich hinter Pintschs Stuhl. Pintsch versuchte, in ihren Gesichtern ein Zeichen der Freundschaft zu entdecken, aber sie sahen starr und ausdruckslos aus wie Totenmasken. Bormann räusperte sich. ,Karlheinz Pintsch‘, sagte er mit rauher Stimme, ,Sie sind verhaftet. Sie erhalten Hausarrest in Obersalzberg, bis ein Verfahren stattfinden kann. Es soll festgestellt 98
werden, wie weit Sie an dem beteiligt sind, was heute geschehen ist!‘ Pintsch stand auf. Er war nicht gerade klein. Seine Wächter aber überragten ihn fast um Haupteslänge. Pintsch verbeugte sich leicht zum Führer hin, dann zur übrigen Gesellschaft und marschierte mit dem Posten zur Tür. Die übrigen Gäste sahen seinem Abgang zu. Der Raum war so still, daß Pintsch das Knirschen seiner neuen Lederstiefel hören konnte. Er hoffte nur, daß die anderen sein Herzklopfen nicht vernahmen. Die Tür schloß sich hinter ihm. Schweigend gingen die drei Männer Seite an Seite durch das marmorne Treppenhaus hinunter ins Erdgeschoß ... Draußen wartete ein kleiner Wagen mit laufendem Motor ... Nicht unfreundlich, aber bestimmt wurde Pintsch in den Wagen geschoben. Er saß auf dem Rücksitz in der Mitte zwischen den beiden Posten. Sie rasten die Bergstraße hinunter ... Als sie jetzt unter sich waren ... gaben sich die beiden Hauptleute ganz anders. ,Nun erzählen Sie mal, Pintsch, was ist denn eigentlich los?‘ ... Sie bestürmten ihn mit Fragen. Pintsch schüttelte den Kopf. ,Das ist eine lange Geschichte‘, sagte er, ,viel zu lang, als daß ich sie hier erzählen könnte.‘” James Leasor war bemüht, sich in Bormanns Überlegungen hineinzudenken. Er berichtete weiter: „Bormann kannte natürlich genau das politische Terrain, das er seinem Vorgesetzten in den letzten Stunden abgewonnen hatte. Und seine Reaktion auf Heß‘ Flug war genau die eines politischen Opportunisten. Bormann hielt es für unwahrscheinlich, daß Churchill einem Frieden mit Deutschland zustimmen würde. Bormann rechnete deshalb so: Vorausgesetzt, daß Heß nicht während der Reise verschwunden war, mußte Hitler sich innerhalb kurzer Zeit sehr massiv von ihm absetzen. Nur das konnte die Spekulationen über Heß‘ Absichten und Vollmachten in Deutschland zum Schweigen bringen. Bormann überlegte: Die Chancen, daß Heß‘ Unternehmen mißlang, überwogen weitaus. Aber es blieb immer noch eine leise Chance, daß Heß Erfolg hatte. Bormanns Klugheit und sein hochentwickelter politischer Instinkt bewahrten ihn vor jedem voreiligen Akt bis zu jenem Montag, 99
an dem Hitler entschied, man müsse nunmehr zugeben, daß Heß vermißt sei.” Anscheinend hat Heß über seine Pläne, geschweige sein Flugziel, gegen jedermann Stillschweigen bewahrt. Andernfalls hätte sich seine Frau, Ilse Heß, nicht fernmündlich an Adolf Hitler um Aufklärung gewandt, die ihr aber verweigert wurde, so daß sie mit Martin Bormann sprechen mußte. Dieser verhielt sich sehr reserviert, sandte aber doch einen Mitarbeiter seines Stabes, Dr. Hansen, zu ihr. Die von ihm erhofften Informationen blieben jedoch aus, im Gegenteil, er erwartete von Ilse Heß Aufklärung, die sie ihm mangels Orientierung über die Vorgänge um Heß nicht geben konnte. Wenig später wurde bekannt, daß Heß in Schottland gelandet war. Sofort verfügte Martin Bormann von sich aus die Kennzeichnung des Inventars in Heß‘ Berliner Dienstwohnung in ,privat‘ und ,dienstlich‘. „Herablassend meinte Bormann zu Frau Heß, sie könne die Schlafzimmermöbel billig ,als Erinnerungsstücke erwerben‘” (73). Öffentliche Einrichtungen und Straßenschilder, die den Namen „Rudolf Heß” trugen, wurden umbenannt bzw. entfernt. In ihrer Notlage wandte sich Ilse Heß an Eva Braun, Adolf Hitlers spätere Frau. Diese schrieb ihr über einen Mittelsmann: „Ich mochte Sie und Ihren Mann am liebsten von allen. Bitte, lassen Sie es mich wissen, wenn die Dinge unerträglich werden. Ich kann mit dem Führer sprechen, ohne daß Bormann irgendetwas davon erfährt.” (73) Als Dr. Hansen zum zweiten Mal mit einigen Abgesandten aus der Parteikanzlei Martin Bormanns erschien, wurde ihr die Aufhebung der ersten, durch Martin Bormann gegebenen Befehle bekanntgegeben: Adolf Hitler habe verfügt, „daß nichts was Heß gehörte, bewegt oder beschlagnahmt werden darf” (73). Da Martin Bormann im Zuge seiner Verfolgungen gegen die Familie Heß durch Adolf Hitler selbst gebremst wurde, begab er sich auf ein Gebiet, in dem er freie Hand hatte: er ließ seine beiden minderjährigen Kinder, Rudolf und Ilse, bei deren Taufe das Ehepaar Heß die Patenschaft übernommen hatte, in HerbertGerhard und Eike umtaufen. Das Ministergehalt für Heß, das 100
Martin Bormann ebenfalls sofort nach dem Bekanntwerden des Fluges nach Schottland gesperrt hatte, wurde auf Anordnung Adolf Hitlers weiter überwiesen. Auch in der Zustellung der Post von Heß an seine Frau trat keine Unterbrechung ein, obwohl sein Nachfolger dieses durchsetzen wollte (8). Wir sind mit diesen Feststellungen und Betrachtungen am Vorabend des Ostfeldzuges angelangt. In dieser Zeit und auch später war Martin Bormann mit der Festigung seiner durch den Flug von Heß freigewordenen Stellung voll beschäftigt. Wenn ihm auch der Partei-Titel seines Vorgängers nie verliehen wurde, so hatte er schon zu Beginn des Rußlandfeldzuges mehr Macht in den Händen, als sie Rudolf Heß jemals besaß.
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NEUNTES KAPITEL Bormann zerstreut Hitlers Bedenken gegen Ostfeldzug — Exilrusse Dallin durchschaut Bormann — Hitler-Bormanns Untermenschenpolitik — Rosenberg — Dr. Kleist will retten t „was durch Waffen nicht mehr zu retten war” — Bormanns Duzfreund Koch nicht hingerichtet
Die weitere Festigung seiner Macht, die Martin Bormann seit dem Englandflug von Heß auf die gesamte Organisation der NSDAP ausdehnte, erstreckte sich auf die Kirchen, auf die Juden (z. B. Deportierung von 65 000 Juden aus Wien nach Polen) und Anordnungen betreffend strenger Behandlung der polnischen und später aller „Ostarbeiter”. Seine tiefgehende Abneigung gegen die Christliche Lehre kam in „im Namen des Führers” angeordneten Beschlagnahmen von Kirchen, Klöstern und sonstigen kirchlichen Eigentum zum Ausdruck. Geistigen Auseinandersetzungen und Streitgesprächen über „Hier Christentum — dort Nationalsozialismus” wich er — wohl mangels tieferer Kenntnis — stets aus. Joachim von Ribbentrop, der damalige Reichsaußenminister, hat in seinen letzten Aufzeichnungen hinterlassen (74): „Starke Reibungen ergaben sich die ganzen Jahre hindurch auch mit der Parteikanzlei unter Bormann. Hier handelte es sich um die Entwicklung in der Kirchenfrage, die Arbeit der Auslandsorganisation u. a. m. In der Kirchenfrage nahm Reichsleiter Bormann eine völlig kompromißlose Haltung ein. Sie führte zu stärksten Spannungen mit dem Vatikan und machte auch in den protestantischen Ländern alle kirchlichen Kräfte gegen uns mobil, eine außenpolitisch sehr bedeutsame und nachteilige Entwicklung, die sich im Laufe des Krieges immer mehr verschärfte. Alle Vorstellungen bei der Parteikanzlei und auch bei Adolf Hitler selbst führten zu keiner Änderung.” Über diese Anordnungen, Verfügungen usw., die stets von Martin Bormann verfaßt und „im Namen des Führers” weitergeleitet wurden, sowie über die zahlreichen, mit Martin Bor102
mann verknüpften Intrigen innerhalb der Parteispitze, einschließlich Göring, Dr. Goebbels, Dr. Ley usw. ist so viel geschrieben und polemisiert worden (7, IMT Registerband, ferner 8, 9, 10, 11, 32), daß eine Wiederholung an dieser Stelle überflüssig erscheint. Zu Beginn des Rußlandfeldzuges, als der einfache Berliner schon auf der Straße sagte: „Jetzt haben wir den Krieg endgültig verloren”, da kamen auch Adolf Hitler die ersten Bedenken vor diesem ungeheuren Wagnis, wie sein Reichspressechef, Dr. Otto Dietrich (42), zu berichten weiß: „Schon in der gleichen Stunde, in der auf seinen Befehl deutsche Truppen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer antraten, überfielen Hitler die ersten dunklen Ahnungen! Nach Anhören der für die Ankündigung des Rußlandfeldzuges und der erwarteten Siegesmeldungen festgelegten Rundfunk-Fanfaren-Komposition (nach Motiven von Franz Liszts Präludium) äußerte er, wie mir später erzählt wurde, gegen drei Uhr nachts, im Kreise einiger Männer: ,Mir ist, als ob ich eine Tür zu einem dunklen, nie gesehenen Raum auf stoße — ohne zu wissen, was sich hinter dieser Tür befindet.‘ Die gleiche dumpfe Atmosphäre lag über der Pressekonferenz Ribbentrops im Auswärtigen Amt, als ich sie gegen fünf Uhr aufsuchte und inmitten der übernächtigten und diese neue unheimliche Kriegsbotschaft mit innerer Beklommenheit aufnehmenden Journalisten saß. Hitler hatte diese Stimmung wohl nochmals nachempfunden, als er mir einige Tage darauf sagte, daß die Presse seinen Schritt gegen Rußland nicht wirksam und überzeugend genug unterstützt habe. Dann waren es wieder berauschende militärische Siegesnachrichten, die Hitlers trübe Ahnungen verscheuchten und seine Zweifel zum Verstummen brachten.” Martin Bormann teilte diese dunklen Ahnungen nicht, obwohl er sonst immer für die Ansichten Adolf Hitlers energisch eintrat — in diesem Falle äußerte sich Martin Bormann mit eingehender Begründung für den Krieg gegen die Sowjetunion. Darüber Schellenberg (16), der damals Heydrichs rechte Hand war: „Am 21. Juni 1941 — gelegentlich eines Essens bei Horcher” 103
(bekanntes Restaurant in Berlin), „an dem Heydrich und ich teilnahmen, unternahm Canaris noch einmal einen Vorstoß, um Heydrich vor der allzu optimistischen Einstellung im Führungshauptquartier zu warnen. Heydrich entgegnete, er sei am Vortage von Himmler über das jüngste Tischgespräch zwischen Hitler und Bormann unterrichtet worden. Bormann habe die ernste und nachdenkliche Stimmung, in der sich Hitler zur Zeit befinde, dem Sinne nach etwa mit folgenden Worten zu verscheuchen gesucht: ,Mein Führer, Sie machen sich verständlicherweise große Sorgen. Die Auslösung eines solch gewaltigen Feldzuges zur rechten Zeit und mit den rechten Mitteln hängt doch allein von Ihnen und Ihrer Berufung ab. Die Vorsehung hat Sie zum Träger solch weltbestimmender Entscheidungen ausersehen, und kein anderer als ich weiß besser, mit welcher Sorge und Mühe Sie sich den kleinsten Problemen bei der Vorbereitung Ihrer Entscheidungen gewidmet und darüber nachgegrübelt haben ...' Der Führer habe sich diese Worte, ohne zu unterbrechen, angehört und dann erwidert: Man könne nur hoffen, daß er, Bormann, recht behalte. Aber bei so gewaltigen schicksalsschweren Entscheidungen wisse man nie, ob man wirklich alles richtig erwogen und vorausschauend berechnet habe. Er könne nur die Vorsehung bitten, daß sie, sich seiner als Mittler bedienend, für das deutsche Volk alles zum Guten wende.” Es begann ein Siegeszug ohnegleichen, der die deutschen Heere tief nach Rußland führte, bis der Winter fast vor den Toren Moskaus ein Halt gebot. Die militärischen Leistungen, die mit der Eroberung eines derart ungeheuren Gebietes verbunden waren, wo dazu noch Truppen, Panzer und Gerät z. T. erst von den Balkankriegsschauplätzen (Jugoslawien und Griechenland) herbeigeschafft und überholt werden mußten, erregten bei Freund und Feind Anerkennung. Es galt nun, die Etappe klug zu verwalten und den landwirtschaftlichen Reichtum dieser Gebiete, vor allem der Ukraine, kriegswirtschaftlich zu nutzen. Über die Kandidaten aus den Reihen und Organisationen der NSDAP und über deren Methoden, dieses Ziel zu erreichen, hat Alexander Dallin (24) eine um104
fangreiche „Studie über Besatzungspolitik” verfaßt, auf die dieses Kapitel überwiegend gestützt ist. Als Anwärter auf die Macht über diese Gebiete kamen in Betracht: Martin Bormann und der Parteiapparat, Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Hinrich Lohse, Reichskommissar für das Ostland, Erich Koch, Reichskommissar für die Ukraine, Joseph Goebbels mit dem Propagandaministerium, Joachim v. Ribbentrop und das Auswärtige Amt, schließlich Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan, Heinrich Himmler und die SS, und schließlich die Wehrmacht. Die Ursachen für die Spannungen zwischen den oben Genannten lagen in persönlicher Abneigung (Rosenberg und Ribbentrop), Konkurrenzkampf um Macht und Ansehen (Himmler, Goebbels, Bormann) sowie Wettbewerb einzelner Gliederungen der Partei, des Staates und der SS. Alexander Dallin (24) beurteilt die Lage wie folgt: „Unsichtbar im Hintergrund stand Martin Bormann. Er vertrat einen extremen Standpunkt, den er dank seiner Schlüsselstellung bei Hitler durchzusetzen vermochte. ,Hitlers böser Geist‘, des ,Führers Mephisto‘, die ,braune Eminenz‘ — solche und ähnliche Beinamen drücken etwas von der Meinung aus, die andere deutsche führende Persönlichkeiten von ihm hegten. Wie Himmler hatte auch Bormann sein privates Imperium — den Parteiapparat — aber ihn behinderte nicht solch ein Ballast wie Himmlers Hingabe an die Sache, Rosenbergs Bindung an selbstaufgestellte ,Grundsätze‘ oder die Traditionen und Skrupel des Heeres. Bewußt hinter den Kulissen agierend, hemmungslos in seinem Haß gegen jeden, der sich ihm, aktiv oder passiv entgegenstellte, war er das Musterexemplar eines Machiavellisten.” Bemerkenswert ist, daß Dallin (24) anhand des Quellenstudiums erkannte, „daß Martin Bormann darauf bedacht war, Einfluß auf den Gang der Ereignisse zu gewinnen ...” Er erreichte bei Adolf Hitler, daß die Probleme mit jedem Kandidaten einzeln und nicht in großem Kreise besprochen wurden. Denn, so wurde von Martin Bormann geltend gemacht, 105
„die zukünftige Verwaltung des für den deutschen Lebensraum so wichtigen russischen Gebietes wäre eine derart wichtige politische Aufgabe, daß die NSDAP als die politische Willensträgerin des deutschen Volkes unbedingt maßgeblichen Einfluß hierauf haben müßte, daß also eine Zivilverwaltung geschaffen werden müßte, die weitgehend von der NSDAP her zu steuern und personell zu besetzen wäre.” Zu Beginn des Rußlandfeldzuges konnten hinsichtlich der Ostpolitik zwei Richtungen festgestellt werden: Adolf Hitler und Martin Bormann waren kompromißlos gegen den Kreml, aber auch gegen das russische Volk eingestellt (;,Untermenschen”). Auf der anderen Seite standen die Kenner des Ostens im diplomatischen Dienst und in der Wehrmacht. Diese vertraten den Standpunkt einer Spaltung des Sowjetregimes und des „Sowjetvolkes” durch entsprechende Propaganda, wobei große Bedeutung der Erhaltung Rußlands als Ganzes zukam, um als künftiger nationaler russischer Staat Mitglied der europäischen Völkerfamilie zu werden. Wenige Wochen nach den ersten deutschen Siegen im Osten wurde das Ostministerium mit Alfred Rosenberg an der Spitze geschaffen. Ihm unterstellt war Erich Koch, als „Reichskommissar für die Ukraine”. Koch, der sich mit Martin Bormann gut verstand, sie waren Duzfreunde, gelang es mit Bormanns Hilfe, Zutritt zu Adolf Hitler zu bekommen, was seinem Vorgesetzten, Rosenberg, nicht immer gelang. Ein wesentlicher Beitrag Görings zu der gesamten NS-Ostpolitik war die Befürwortung und Durchsetzung der Ernennung Kochs zum Reichskommissar für die Ukraine, von dem er sich tatkräftige wirtschaftliche Unterstützung für den Vierjahresplan und die Kriegswirtschaft erhoffte. Über die entscheidende Besprechung, die die Berufung Kochs als Reichskommissar auslöste, berichtet Dallin (24): „Bormann, ein Feind Rosenbergs und alter Freund Kochs, hatte in der Konferenz geschickt Göring den Ball überlassen. Erst in dem Sitzungsprotokoll, das Hitler vorgelegt wurde, setzte er in Klammern einen listigen Vermerk hinzu: ,Es tritt mehrfach in Erscheinung, daß Rosenberg für die Ukrainer sehr viel übrig hat.‘” 106
„Der Mann, der unter dem Namen ,Brauner Zar der Ukraine‘ berüchtigt werden sollte”, berichtet Dallin weiter, „hatte seine Laufbahn als kleiner Eisenbahnbeamter im Rheinland begonnen. Dort hatte er während der Besatzungszeit in den ersten zwanziger Jahren an Aktionen gegen die Franzosen teilgenommen, wobei Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsame Sache machten ...” (Kursiv v. Verf.) Man ist versucht, hinzuzufügen: „... wie heute, wenn es um die Bekämpfung der Wahrheitsfindung im Falle Martin Bormann geht.” Doch darüber später. „Koch konnte seine Stellung”, schreibt Dallin weiter, „dank seines Verhältnisses zu Martin Bormann stark festigen. Wenn Bormann auch so geschickt operierte, daß sich die Rolle, die er gespielt hat, manchmal der dokumentarischen Festlegung entzieht” (Kursiv v. Verf.), „so stimmen doch vom Autor befragte deutsche Beamte darin überein, daß Bormann ein äußerst wichtiger Mittelsmann zwischen Koch und Hitler war... Noch bedeutsamer war die Tatsache, daß Bormann und Koch eng befreundet waren und einander duzten. Bormann seinerseits wurde mehr und mehr zu Hitlers Vertrautem und damit schloß sich der Ring. In der Befehlskette des Ostministeriums war Koch zwar nominell Rosenbergs Untergebener, doch konnte er sich über dessen Kopf hinweg, durch Bormanns Vermittlung unmittelbar an den Führer wenden, was er denn auch tat.” Einer der wichtigsten und umstrittensten Mitarbeiter Rosenbergs war Dr. Georg Leibbrandt, der — in Odessa geboren — als Kenner russischer Verhältnisse galt. Er wurde von der SS angefeindet, da er als Stipendiat der Rockefeller-Stiftung von 1931 bis 1933 in Paris und Nordamerika studiert hatte. Wegen seiner verständnisvollen „pro-ukrainischen” Haltung wurde er sowohl von Himmler als auch von Bormann/Koch so heftig angegriffen, daß er im Jahre 1943 aus dem Ost-Ministerium ausscheiden mußte und das Kriegsende bei der Wehrmacht verbrachte. Im Verlauf des Krieges verhärteten sich die Fronten innerhalb der nationalsozialistischen Führung. Während Rosenberg verkündete: „Unser Ziel ist ein freier ukrainischer Staat”, entgegneten Bormann-Koch: „Eine Ukraine gibt es nicht. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir das Herrenvolk sind.” 107
Um sich heute eine Vorstellung davon machen zu können, wie die nationalsozialistische Verwaltung in den besetzten Ostgebieten verfuhr, möge noch einmal der Nationalrusse Dallin (24) zu Wort kommen: „Kochs Ernennung leitete eine Zeit des Schreckens und der Unterdrückung ein, und sein Name wurde zum Sinnbild deutscher Brutalität und Stupidität im Osten. Mehr als irgendeinem andern gelang es Koch, die Bevölkerung der Ukraine gegen die Deutschen aufzubringen.” Dr. Peter Kleist, Ministerialdirigent im Ost-Ministerium Rosenbergs und Beamter des Auswärtigen Amtes Ribbentrops, drückt sich in seinen Erinnerungen dramatischer aus, wenn er sagt: (75) „An Stelle des Aufrufes der Völker” (gemeint sind die Völker der Sowjetunion) „zum Freiheitskampf trat die These vom Untermenschentum, an Stelle des selbständigen ukrainischen Staates trat das Reichskommissariat, an Stelle der politischen Vernunft trat Erich Koch. Für wessen Interessen handelte Erich Koch? Jeder Narr mußte einsehen, daß er mit seinem Regime jede Chance der siegreichen Überwindung des Bolschewismus konsequent und zielbewußt vernichtete. Mit jedem seiner brutalen Schläge härtete sich der Widerstand der Rote Armee, jede seiner Maßnahmen trieb die ukrainische Bevölkerung in die Arme der Partisanen, die bald mit tödlichem Griff den Nachschub der immer schwerer kämpf enden Front erstickten. Aus dem ukrainischen Bundesgenossen wurde ein Feind — im Laufe der Zeit entwickelte sich eine ukrainische Widerstandsarmee UFA. Die ersten Partisanen, die im Osten gegen deutsche Truppen kämpften, waren enttäuschte Nationalisten und keine Sowjetagenten. Erst später verstand es Stalin, sich diese Kräfte dienstbar zu machen. War Erich Koch so dumm, die Revolution der sowjetischen Völker, die der deutschen Armee entgegenkam, nicht zu erkennen, oder sollte jene Anekdote richtig sein, die erzählt, daß Stalin bei der Ordensausschüttung im Winter 1942/43 den ersten und höchsten Orden mit dem Bemerken beiseite legte: diesen Orden könne er heute noch nicht verleihen, weil sein Empfänger, 108
der Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch, von seinem Posten unabkömmlich sei.” Dr. Peter Kleist schließt mit den eindringlichen Worten: „Nicht Josef Stalin und seine Alliierten, nicht die Gegner des Nationalsozialismus können heute Ankläger oder Richter Erich Kochs werden, denn er hat das Menschenmögliche getan, um Deutschland im Osten verbluten zu lassen. Erich Koch und die mit seinem Namen verbundene Politik blinder und sturer Gewalt haben der Roten Armee und ihrem Generalissimus Stalin den Weg in das Herz Europas geöffnet.” (75) Es wurde seinerzeit alles unternommen, um Adolf Hitler von der selbstmörderischen Gewaltpolitik Erich Kochs abzubringen. „Nicht nur von oben her”, schreibt Dr. Peter Kleist, „auch vom untersten Mann an der Front her war man einer politischen Methode zugeneigt, die sich in der Praxis langsam durchsetzte und glänzend bewähne. Auch bei der SS und in den Kreisen der Wirtschaft fanden sich einsichtige Männer, die aus ihrer täglichen Arbeit erkannten, wie jede Gewaltmethode, jeder Versuch der non-fraternisation auf die Dauer ersticken und eine gefährliche Gegenwehr erzeugen mußte.” — „So setzten wir damals”, fährt Dr. Kleist fort, „im Sommer 1942 noch einmal mit einem breit angelegten Versuch ein, das Steuer herumzuwerfen. Wir waren monatelang unterwegs, von Heeresgruppe zu Heeresgruppe, von Armeestab zu Armeestab, zu den SS- und Polizeiführern, zu General- und Gebietskommissaren, zum Hauptquartier und in Berlin zu den Ministerien, Ämtern und Parteistellen. Mühsam gewannen wir Raum für ,politische Methoden‘.” Es kam die Zeit der Denkschriften. Im Ost-Ministerium wurde eine sogenannte „Große Denkschrift” verfaßt, deren Inhalt Rosenberg dem Staatsoberhaupt zur Kenntnis brachte. Adolf Hitler zeigte sich unzugänglich. „Die Antwort Hitlers war ein Brief seines Sekretärs Bormann vom Juni 1942, der die negative, nur auf Gewalt begründete Politik Kochs und Sauckels bestätigte, ein furchtbares Dokument politischer Blindheit und Engstirnigkeit.” (75) Das gleiche Schicksal ereilte die Denkschriften des Schriftstellers Edwin Erich Dwinger (Verfasser der Bücher „Die Armee 109
hinter Stacheldraht”, „Zwischen Weiß und Rot”) der Hauptleute Strick-Strickfeldt, Schenkendorf und Oberländer. Auch die Denkschriften der Generäle v. Unruh und Gehlen wurden von Adolf Hitler abgelehnt. In diesen Denkschriften wurde das zum Ausdruck gebracht, was der Auffassung vieler Besatzungsbeamter und Offiziere der Wehrmacht entsprach: eine Politik menschlicher Anständigkeit zu vertreten. „Bei den Berufsoffizieren bestand noch ein traditionelles Moralgefühl, das diktierte, was zu tun und zu lassen sei.” (24) Langsam setzte sich in der Wehrmacht eine Kritik an der selbstmörderischen NS-Ostpolitik durch. Dadurch wurden Teile des Offizierskorps zu einem „Treibhaus der Opposition” (24). Auch Oberst v. Stauffenberg ist dazuzurechnen, der am 20. Juli 1944 das Attentat auf Adolf Hitler ausführte, weil er die Folgen der von Hitler-Bormann-Koch geführten „Ostpolitik” nicht mehr tatenlos mitansehen konnte. Breiten Raum räumt Dallin (24) der Denkschrift General Gehlens ein, die vom Staatsoberhaupt ebenfalls verworfen wurde. Dallin berichtet: „Einen weit größern Widerhall rief ein I7seitiges Dokument aus der Feder des Chefs der Abteilung Fremde Heere Ost, des Generals Gehlen, hervor, der sich gewöhnlich im Hintergrund hielt. Wie acht Monate vorher Schenkendorff, bettete Gehlen seine Kritik und seine Empfehlungen in das nichtpolitische, militärische Thema der Partisanenbekämpfung und der Verwendung einheimischer Hilfskräfte ein. Indem er hervorhob, wie sehr es die Sowjets verstanden hätten, die deutschen Streitkräfte hinter der Front zu binden und zu stören, wies er auf die Anwerbung von Einheimischen als der einzigen praktischen Gegenmaßnahme hin: Voraussetzung für ihren Erfolg sei indes eine prodeutsche Stimmung bei der Bevölkerung. Was der Russe sich ersehne, was ihm aber weder die sowjetischen noch die deutschen Behörden gegeben hätten, hieß es nicht ohne kluge Berechnung in der Denkschrift, seien ,Gerechtigkeit, Organisationskraft, Verständnis, Fürsorge‘. Zur Basis der gesamten (nationalsozialistischen) Verwaltungsmaxime wurde der Grundsatz erhoben: ,Der Russe ist objektiv 110
minderwertig; er ist somit als rechtloses Ausbeutungsobjekt anzusehen, zwecks hoher Arbeitsleistung kärglich am Leben und auf niedrigstem Wissensniveau zu erhalten.‘ Diese umstrittene Auffassung wird aber unbestreitbar zu einem Fehler schwerster Art, wenn sie der betreffenden russischen Masse aus sämtlichen getroffenen Maßnahmen leicht erkennbar wird. Und hierfür wird in der Tat allenthalben ausreichend gesorgt... Dem Anwachsen der Partisanenbewegung, fuhr Gehlen fort, könne nur begegnet werden mit einer radikalen Änderung der deutschen Taktik, wozu unter anderm eine programmatische Erklärung der deutschen Führung mit der Zusicherung gehöre, daß Rußland nicht einen Kolonialstatus, sondern Selbstregierung erhalten werde. Es sei naiv anzunehmen, fügte er hinzu, der russische Nationalismus sei dadurch auszumerzen, daß man ihn totschwiege. Als wirkungsvolle Unterstreichung einer derartigen Erklärung, (hieß es in der Denkschrift weiter), kann die fiktive Bildung einer nationalrussischen Scheinregierung dienen, die als ,Nationalkomitee zur Befreiung der Heimat‘ in Erscheinung treten und allein durch papiermäßige Existenz und vaterländische Erlasse diesseits und jenseits der Front propagandistisch wirken kann. Einsatzbereite Persönlichkeiten mit Namen von Klang stehen hierfür in der gefangenen Generalität ausreichend zur Verfügung. (Aber sie) wollen nicht als Landsknechte dastehen, die ihr Vaterland ,für ein Stück Brot verraten‘. Der bessere Russe hatte mehr Selbstachtung, als man ihm zuschreibt. Zu solch einer Wandlung gehörte schließlich auch die rücksichtslose Ausmerzung diffamierender Behandlungsmethoden von ,freiwilligen‘ russischen Arbeitskräften im Reich, die Gewährung größerer Selbstverwaltung in den besetzten Gebieten, mehr kulturelle Freiheit und stärkerer Einsatz einheimischer Truppen als echte Verbündete des Reichs. Der Gehlen-Bericht fand große Beachtung. Hier war, mitten in der Stalingrad-Krise, eine ausführliche Neuformulierung buchstäblich aller Zweckmäßigkeitsargumente, die ein realistischer patriotischer‘ Offizier zugunsten einer grundsätzlichen Umorientierung der Ostpolitik vorbringen konnte. Der Bericht war 111
symptomatisch für das zunehmende politische Denken beim deutschen Militär. Ungewöhnlich offen, insbesondere in seinem Eintreten für eine Exilregierung, spiegelte er das Ende 1942 sich abhebende Zusammenfließen von drei deutlich voneinander zu unterscheidenden Tendenzen wieder: Kritik an der Ostpolitik schlechthin, Anschwellen der Anti-Hitler-Strömung im Offizierskorps, Enttäuschung über die militärischen Rückschläge, die mit Stalingrad ihren Höhepunkt erreicht hatten. Letzten Endes war es die wachsende Wahrscheinlichkeit der Niederlage, die mehr und mehr Leute der Wehrmacht in der Politik das Allheilmittel sehen lies, das vielleicht retten konnte, was durch Waffen nicht mehr zu retten war: die politische Kriegführung ging hervor aus der bitteren Hefe der Niederlage.” Der italienische Marschall Giovanni Messe meint dazu: „Deutschland strebt nicht danach, das bolschewistische Regime durch irgendein anderes zu ersetzen, sondern will sich ganz Osteuropa als wirtschaftliche Einflußzone unmittelbar sichern. Die Behandlung der Bevölkerung und der Gefangenen sowie die Ausbeutung der örtlichen Bodenschätze verraten oft Mangel an Voraussicht ... Deutschland hat es nicht verstanden, bei der Bevölkerung der besetzten Gebiete Sympathie und Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu erwecken ...” (76) Durch die zahlreichen Maßnahmen, Verordnungen usw., die „Im Namen des Führers” getroffen wurden und die die oben genannten Denkschriften abbogen, soweit sie über den Schreibtisch Martin Bormanns gingen, zieht sich wie ein roter Faden Bormanns Einflußnahme, die in manchen Fällen „ein Schlaglicht auf sein wahres Wesen warf, das er im allgemeinen so gut zu verbergen verstand” (24). Seine Bestrebungen gingen dahin, die befohlenen Maßnahmen noch zu verschärfen. „Bormann warnte... vor zu milder Behandlung der Kriegsgefangenen und wiederholte, sie seien unsere Feinde und man müsse entsprechend mit ihnen umgehen” (24). „Viele Angehörige der Wehrmacht erkannten schon frühzeitig, wie wahnsinnig und auch unmoralisch die so rücksichtslos durchgeführte Politik war. Doch ihre Stimmen gingen zunächst im Lärm der nationalsozialistischen Untermensch-Parolen unter”, 112
die Bormann mit Nachdruck vertrat. Dazu gehörte auch der Wunsch Adolf Hitlers, daß die Angehörigen der Ostvölker — wie Martin Bormann im Juli 1942 dem Ostminister Rosenberg mitteilte — „und damit auch die sogenannten Ukrainer nur Lesen und Schreiben lernen sollten”, um sie planmäßig auf einer niedrigen Kulturstufe zu halten. Aktive Unterstützung erhielten diese Absichten Martin Bormanns durch seinen Intimus Erich Koch, der im Winter 1942/43 sogar vierklassige Schulen in mehreren ukrainischen Bezirken schließen ließ und diese Maßnahme mit „Kohlenmangel” begründete. Darüber war Ost-Minister Rosenberg derart empört, daß er diese Anordnung Kochs als „Verrat an den politischen Zielen Deutschlands” bezeichnete. Damit war zum ersten Mal von einem prominenten Nationalsozialisten ein anderer prominenter Nationalsozialist und zugleich Martin Bormann selbst des Verrats bezichtigt worden. In seinem Rundschreiben von Anfang November 1941 an die politischen Leiter verfügte Martin Bormann, daß die Leichen verstorbener russischer Kriegsgefangener wie folgt zu behandeln seien: „Die Toten sollen nicht eingesargt, sondern nur in Teerpappe oder Ölpapier eingeschlagen und mit Wehrmachtslastwagen unauffällig abtransportiert werden. Erst wenn genügend Leichen vorlägen, sollen sie im Massengrab Seite an Seite gelegt werden, aber nicht unbedingt Kopf an Kopf. Zeremonien seien bei dieser Prozedur ebenso verboten wie späterer Grabschmuck”. Am 19. August 1942 schrieb Martin Bormann über die russischen Kriegsgefangenen (8), „sie sollten für uns arbeiten, und soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben.” Die zahlreichen o. a. Zitate aus Martin Bormanns Arbeitsbereich seit Beginn des Ostfeldzuges, die seine Gesamteinstellung beleuchten, könnten durch zahlreiche weitere Einzelheiten ergänzt werden. Wir müssen aus Raumgründen davon Abstand nehmen und verweisen auf das Quellenverzeichnis. Seine Einstellung, die Bormann auf die „Nationalsozialistische Weltanschauung” stützte, vertrat er in einer radikalen Form, indem er „Führerbefehle” und andere Anordnungen von sich aus 113
verschärfte. Das führte in der Tat dazu, daß aus den vermeintlich befreiten Ukrainern und andern Ostvölkern, die die Wehrmacht einst mit Brot und Salz empfangen hatten, langsam Feinde wurden. Dadurch nahm die Zahl der Partisanen und der von ihnen verübten Überfälle ständig zu. Aus dieser Sicht war die Beurteilung der Ostpolitik Kochs durch Rosenberg zutreffend, wenn er sie als „Verrat an den politischen Zielen Deutschlands” bezeichnete. Dieser Satz nimmt Gestalt an, wenn man erfährt, daß Erich Koch — nach dem Kriege von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt — noch am Leben ist und im polnischen Gefängnis zu Wartenburg (Ostpreußen) 1975 seine Erinnerungen schrieb. Darüber berichteten „Die Welt” und „Mensch und Maß” (77): „Martin Bormanns Freund Ex-Gauleiter Erich Koch schreibt seine Memoiren. Als im Herbst 1975 unter der Überschrift ,Keine Träne für den Gauleiter‘ in der Tageszeitung ,Die Welt‘ (25./26. Oktober 1975) berichtet wurde, daß Erich Koch, Hitlers ehemaliger Gauleiter von Ostpreußen, noch lebe und in einem polnischen Gefängnis im ostpreußischen Wartenburg seine Lebenserinnerungen schreibe, da haben sich gewiß manche Leser gewundert. Diese Verwunderung war berechtigt, da bekannt ist, daß Erich Koch, erst 1949 in der BRD aufgegriffen, an die Polen ausgeliefert, am 9. März 1959 zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet worden sein soll. So berichtet Stockhorst in seinem Nachschlagwerk ‚Fünftausend Köpfe — wer war was im Dritten Reich?‘(1967). Besser unterrichtet ist dagegen das ,Archiv der Gegenwart‘, dem zu entnehmen ist, daß Kochs Verteidiger dem polnischen Staatsrat ein Gnadengesuch zugeleitet hatten, der das Todesurteil in eine Zuchthausstrafe umwandeln kann. Diese Umwandlung erfolgte nach ,Der Welt‘ zwar nicht, ,gleichwohl kam es, angeblich wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Delinquenten fortan nicht zur Vollstreckung der Todesstrafe‘. Diesem ,schlechten Gesundheitszustand‘ widerspricht der weitere Bericht der ,Welt‘: ,Er genießt Sonderrechte. Aber er ist gesund. Das habe eine 114
grundsätzliche Untersuchung Anfang September ergeben.‘ Dieser Tatbestand mutet im Hinblick auf die Koch im Prozeß angelasteten Verbrechen (mitschuldig am Tode von 200 000 Juden und 72 000 Polen laut ,Archiv der Gegenwart‘, bzw. 400 000 Polen und polnischen Juden laut ,Die Welt‘) überraschend mild an. ,Der Prozeß gegen ihn‘, so berichtet ,Die Welt‘ weiter, ,wurde in ungewöhnlich fairer Weise geführt.‘ Darauf kommen wir noch zurück. Lesen wir weiter, was ,Die Welt‘ über Erich Koch noch zu berichten weiß: ,lm Prominentengefängnis im masurischen Wartenburg führt Erich Koch, gemieden von seinen Mitgefangenen, ein eher bequemes Leben. Er darf Verwandtenbesuche aus der Bundesrepublik empfangen, er hört Radio und jede Woche soll er eine deutsche Zeitung bekommen: ausgerechnet das in Hamburg erscheinende Ostpreußenblatt. Länger als in allen ändern Zellen darf bei Koch das elektrische Licht brennen: Denn der Einsitzer schreibt seine Memoiren und er soll jetzt fast am Ende damit sein. Die Erinnerungen des überraschend vitalen Greises sollen übrigens bald im Eigenverlag der Wartenburger Strafanstalt herauskommen. Man erhofft ein großes Geschäft. Der 79jährige aber hofft, begnadigt und in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben zu werden. Er glaubt, wie in Wartenburg zu erfahren ist, zu jenen 125 000 Deutschen zu gehören, die im Zuge der jüngsten Bonn-Warschauer Abmachungen endlich grünes Licht für eine Umsiedlung bekommen sollen. Kein Zweifel: Hitlers Lieblingsgauleiter will ,heim ins Reich‘*. Am Fall Koch ist bemerkenswert, daß sein Verfahren so lange verschleppt und die Todesstrafe nicht vollstreckt wurde. Das dürfte nicht von ungefähr kommen. Daher soll durch eine nähere Betrachtung von Kochs politischer Vergangenheit eine Erklärung für die auffallend schonende Behandlung dieses radikalen »politischen Soldaten Adolf Hitlers‘ anhand glaubhafter Aussagen gesucht werden. Koch gehörte zum revolutionären Flügel der NSDAP und behielt, wie seine Protektoren Göring und Bormann, etwas von seiner antikapitalistischen Einstellung bis zuletzt bei. Während 115
der Wirtschaftskrise trat Koch als einer der hauptsächlichen nationalsozialistischen Wortführer für eine Annäherung an die Sowjetunion ein. Wie Rauschning sich später erinnerte, war Koch einer von Gregor Strassers Leuten, ein eifriger Verfechter der prorussischen Politik. Noch am Vorabend des Krieges vertraute Koch dem Völkerbundkommissar für Danzig, Carl Burghardt, an, er, Koch würde fanatischer Kommunist geworden sein, wenn er nicht Hitler begegnet wäre ... In seinem Buch ,Aufbau im Osten‘ (Breslau, 1934) äußert Koch sich freimütig über seine Ansichten. Er meinte dort: ,Die Zukunft gehört den jungen sozialistischen Völkern, nicht dem kapitalistischen Westen.‘ Er geht den Spuren deutschrussischer Zusammenarbeit von Peter III. bis zum Vertrag von Rapallo (1922) nach: ,Denn alle Mächte zwischen Rhein und Pazifischem Ozean haben bei ihren großen Problemen gemeinsame Interessen.‘ Demnach dachte Koch schon vor vierzig Jahren so, wie die heutigen Baumeister der Ostpolitik, wo ihre Schreibtische auch immer stehen mögen ... Über Erich Kochs politische Grundhaltung teilt N. Broszat in seiner Untersuchung ,Der Staat Hitlers‘ folgendes mit: ,Ostpreußische NS-Bauernführer führten gegen ihren Gauleiter Koch Klage, er betriebe eine Parteidiktatur nach sowjetischem Muster, werfe den Bauern mangelndes proletarisches Bewußtsein vor und habe in diesem Zusammenhang von Reaktion und Konterrevolution gesprochen.‘ Aufgrund der angezogenen Unterlagen und der gemeinsamen politischen Heimat Erich Kochs mit dem auch nach dem Zusammenbruch aktiv gebliebenen Sowjetagenten Martin Bormann erscheint der Hinrichtungsstop für den zum Tode verurteilten Erich Koch verständlich. Bei dem derzeitigen politischen Klima wäre sogar eine Abschiebung Erich Kochs durch Polen in die Bundesrepublik, wie es laut ,Die Welt‘ für möglich gehalten wird, nichts Außergewöhnliches. Koch hat durch laufende konspirative Unterstützung seines ,an den Schalthebeln der Macht‘ operierenden Freundes Martin Bormann den Sowjets im Krieg wertvollste Dienste geleistet. Ob die von Kleist (75) überlieferte Anekdote anläßlich der Or116
densausschüttung durch Stalin der Wahrheit entspricht oder nicht, der sonst unverständliche Hinrichtungsstop für Koch stellt eine recht eindeutige Aussage dar. Einem Erich Koch das Leben zu schenken und ihn auch noch freizulassen, kann in der Tat nur als Belohnung in anderer Form, als es die Anekdote berichtet, aufgefaßt werden ... Ein Erich Koch ... dürfte von dem polnischen Ankläger lediglich, um vor der Weltöffentlichkeit und den Hinterbliebenen seiner Opfer das Gesicht zu wahren, symbolisch zum Tode verurteilt worden sein. An einem Manne wie Erich Koch, der der sowjetischen Politik im Kriege derartige Dienste geleistet hat, daß Kleist (75) mit vollster Berechtigung sagen konnte: ,nicht die Gegner des Nationalsozialismus können heute Ankläger oder Richter Erich Kochs werden, denn er hat das Menschenmögliche getan, um Deutschland im Osten verbluten zu lassen‘, an einem solchen Manne konnte die Todesstrafe nicht vollstreckt werden. Darum wurde auch der Prozeß gegen ihn, wie ,Die Welt‘ richtig bemerkt, ,in ungewöhnlich fairer Weise geführt‘. Erich Koch hätte nur von einem deutsch-polnischen Gericht verurteilt werden können, weil er dem deutschen und polnischen Volk durch seine verbrecherischen Untaten unermeßlichen Schaden zugefügt hat ...” Mit Abstand von den Ereignissen kann festgestellt werden, daß die Führung des Dritten Reiches nach seltenen Anfangserfolgen durch die Deutsche Wehrmacht den Feldzug gegen die Sowjetunion verloren hat nicht allein durch a) Nichtbeachtung der bereits von General Ludendorff wiederholt ausgesprochenen Warnung vor der unermeßlichen amerikanischen Waffenhilfe, b) deutsche Sabotage, sondern c) in erheblichem Umfang durch die Untermensch-Politik des ,wirklichen Untermenschen Erich Koch‘ mit Martin Bormann im Hintergrund, der diese Politik extrem auf die ,anfangs deutschfreundlichen Ukrainer übertragen hat‘, wie Professor Günther schreibt, (s. 2. Kapitel und die Quellen 22 und 24) 117
Es widerspricht dem geschichtlichen Sachverhalt, wenn die Hauptschuld an der Niederlage im Osten einseitig einem der drei oben genannten Gründe, vor allem deutscher Sabotage, zugeschrieben wird, während die ändern Begründungen bagatellisiert werden oder unerwähnt bleiben. In diesem Kapitel erschien zum ersten Mal das Wort vom „Verrat an den politischen Zielen Deutschlands”, dessen Bormann-Koch bezichtigt werden und die Worte von dem „ ... auch nach dem Zusammenbruch aktiv gebliebenen Sowjetagent Martin Bormann ...” In dem folgenden Kapitel wird der Leser näher an diese Dinge herangeführt.
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ZEHNTES KAPITEL „Führerbefehl” und „Kommissarbefehl” — Warum aus befreiten Ukrainern Partisanen wurden — Deutscher Widerstand gegen NS— — Bormann für Heydrich als Reichsprotektor in Böhmen und Mähren — Hintergründe des Attentats auf Heydrich — Wer zog Nutzen aus Heydrichs Tod? Ebenso, wie ein wertvolles Medikament, übermäßig dosiert, den Zustand des Patienten verschlimmern, im Extremfall sogar seinen Tod herbeiführen kann, ist es in der Staatsführung möglich, durch ein Zuviel an Demokratie ein Land mit seinem Volk in den Ruin zu führen. Aber auch Gegenteiliges kann zu denselben Folgen führen. So hat Martin Bormann Äußerungen Adolf Hitlers als „Führerbefehle” formuliert und erheblich radikalisiert an die entsprechenden Behörden und Dienststellen hinausgehen lassen. „Führerbefehle” wurden im Dritten Reich blind befolgt. Eine der wenigen Ausnahmen kann in dem sehr umstrittenen „Kommissarbefehl” erblickt werden, nach dem angeordnet wurde, daß jeder in Gefangenschaft geratene Kommissar der Roten Armee ohne Verfahren sofort zu erschießen sei. Da die Deutsche Wehrmacht in ihrer überwiegenden Mehrheit derartige Befehle nicht auszuführen gewillt war, wurden zur Lösung solcher „Aufgaben” sogenannte Einsatzgruppen aufgestellt. General Guderian (33) äußert sich dazu: „Schließlich muß noch einer Angelegenheit Erwähnung getan werden, die in der Folge dem deutschen Ansehen höchst abträglich wurde. Kurz vor Beginn der Feindseligkeiten erging ein Befehl des OKW über die Behandlung der Bevölkerung und der Kriegsgefangenen in Rußland unmittelbar an die Korps und die Divisionen. Er enthielt Bestimmungen, die die Anwendung des Militärstrafgesetzes nicht mehr unter allem Umständen erforderlich machten, sondern in das Belieben der direkten Disziplinarvorgesetzten stellten.” 119
Da dieser Befehl nach der Auffassung Generalfeldmarschalls v. Brauchitsch, General Guderians und der Kommandierenden Generale geeignet war, die Disziplin der Truppe zu schädigen, hat General Guderian die Ausgabe dieses Befehls an die Truppe verboten und seine Rücksendung nach Berlin angeordnet. Auch der „gleichfalls unrühmlich bekanntgewordene, sogenannte ,Kommissarbefehl‘ gelangte überhaupt nicht zur Kenntnis meiner Panzergruppe. Er ist anscheinend bereits bei der Heeresgruppe ,Mitte‘ angehalten worden. Auch der ,Kommissarbefehl‘ ist bei meinen Truppen nicht angewendet worden.” (33) Die Abfassung von Befehlen dieser Art wurde bestimmt von den dienstlichen Niederschriften, die Dr. Henry Picker an einem Tisch neben der Tafel Adolf Hitlers im Auftrage Martin Bormanns angefertigt hatte. In seinen Ausführungen über die Entstehungsgeschichte des Buches „Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier” (83) berichtet der Verfasser: „Da diese ‚dienstlichen‘ Niederschriften Unterlagen für Bormanns dienstliche Überlegungen und Zielsetzungen sein sollten, korrigierte er in ihnen ungeniert herum, diktierte Teile wohl auch im Sinne einer schärferen Formulierung um und versah sie mitunter sogar mit Randbemerkungen, die seinen Mitarbeitern in der Parteikanzlei den von ihm gewünschten Kurs klarmachen sollten. (Kursiv v. Verf.) Um bezüglich der dienstlichen Verwendung dieser Sorte von Niederschriften Hitler gegenüber gedeckt zu sein, verständigte er mich von seinem Wunsch nach einer derartigen Aufzeichnung durch Kärtchen, Zeichen oder Ordonnanz stets so auffallend, daß alle Tischgäste es sehen mußten und er daher Hitler Kenntnis und stillschweigendes Einverständnis für die konkrete Ausnahme von seinem Aufzeichnungsverbot unterstellen konnte.” Befehle und Anordnungen dieser Art haben das anfangs gute Verhältnis zwischen den deutschen Befreiern und der einheimischen Bevölkerung nicht vertieft. Ebenso wirkten die Maßnahmen des Reichskommissars Koch über die im 9. Kapitel ausführlich berichtet wurde. Dadurch wurden die Befreier zu Eroberern, ja Ausbeutern, und der Einheimische wandelte sich zum Feind. Die gefürchtete Partisanentätigkeit nahm zu. Damit war ein 120
Teilziel Stalins erreicht. Martin Bormann und Erich Koch haben dazu erheblich beigetragen, auch wenn sie sich mit ihren Maßnahmen auf die „Nationalsozialistische Weltanschauung” beriefen. Die so praktizierte Anwendung dieser „Weltanschauung” hat schließlich zur endgültigen Niederlage geführt. Der Nationalsozialismus ist mit seinen vermeintlichen Waffen bzw. Ideologien im Osten geschlagen worden, wobei nicht außer acht gelassen werden darf, daß Martin Bormann es war, der — meist im Hintergrund agierend — durch die von ihm erheblich verschärften Anordnungen und durch sein willfähriges Werkzeug Erich Koch die Volksseele dieser „Untermenschen” bis zur Verzweiflung angeheizt hatte und sie schließlich zu den Partisanen in die Wälder trieb. „In keiner Frage” schreibt Alexander Dallin, „war die Uneinigkeit innerhalb der deutschen Führung eklatanter als in der Ukraine. Es gab kein Gebiet, das ihr mehr bedeutete als dieses. Dennoch wurden die Stimmen, die nach einer neuen, ,aufgeklärten‘ Politik riefen, überhört von denen, die die Macht hatten. Von Hitler bis Koch blieb man stur in den Mythen und Visionen verhaftet. Solange die deutschen Truppen siegreich waren, hielt man es für überflüssig, auf die Erwartungen des Volkes mit Zugeständnissen einzugehen; als die Niederlagen kamen, galten Konzessionen als gefährlich und als der Widerstand der Bevölkerung zur Lawine wurde, reagierte man darauf mit wachsendem Terror gegen die ,zügellosen Banden‘. Einwände Andersdenkender waren vergebens. Als das Jahr 1944 anbrach und die deutschen Truppen sich aus der Ukraine zurückzogen, hatte weder Hitler in seinem Hauptquartier noch Koch in Rowno ein Rezept für die ‚Beherrschung des Ostens‘ gefunden.” (24) Das war bei dieser Bevölkerungspolitik von Anfang an auch nicht zu erwarten. Zwei Aussprüche Erich Kochs mögen seine Einstellung beleuchten: In Melitopol hielt er vor einer großen ukrainischen Hörerschaft eine Rede, in der er u. a. sagte: „Für dieses Negervolk stirbt kein deutscher Soldat.” Ein anderes Mal erklärte: „Wenn 121
ich einen Ukrainer finde, der (es) wert ist, mit mir an einem Tisch zu sitzen, muß ich ihn erschießen lassen.” (24, 82) Es wurden aber nicht nur meist die für den „freiwilligen Arbeitseinsatz” in Deutschland in Frage kommenden ukrainischen Männer und Frauen zu Verzweiflungstaten getrieben, da sie sich nur auf diese Weise der drohenden Deportierung entziehen konnten. Auch auf deutscher Seite griff angesichts dieser brutalen NSOstpolitik beginnende Verzweiflung um sich. Als erkennbar wurde, daß die in dieser Sache eingereichten Denkschriften unbeachtet blieben, gingen viele, deren Vaterlandsliebe die Zuneigung zu Adolf Hitler und der NSDAP übertraf, in den Widerstand. Einige außergewöhnliche Persönlichkeiten, wie der frühere deutsche Presseattachè in Moskau, Wilhelm Baum, beging 1942 aus Verzweiflung und Abscheu über diese Ostpolitik Selbstmord. (78) An dieser Stelle erachten wir es für dienlich, in Hinblick auf die von den Verantwortlichen im Dritten Reich, Bormann-Koch, angeordnete bzw. praktizierte NS-Ostpolitik einen Vergleich zu ziehen mit der Ostpolitik des kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkriege. Näheres darüber aus den Kriegserinnerungen General Ludendorffs (81): „Ich will nur ein Bild der Verwaltung des Oberbefehlshabers Ost geben und tue dies gern, denn ebenso wie meinen Mitarbeitern auf rein militärischem Gebiet, schulde ich hier meinen Helfern Dank. Die Arbeit, die wir dort zusammen, bis zu meinem Weggang Ende Juli 1916, geleistet haben, war eine große, schöne und deutscher Männer würdige Tat. Sie war der Armee und der Heimat sowie dem Lande und seinen Bewohnern selbst zu Nutz und Frommen ... Für die reine Verwaltung mußte ich auch Herren ohne fachtechnische Vorbildung nehmen, hier konnten klarer Wille, allgemeines Wissen und gesunder Menschenverstand Fehlendes ersetzen. Für Landwirtschaft und Forsten, Gericht, Finanzen, Kirche und Schule waren Leute vom Fach unbedingt nötig ... Jeder machte sich gleich mir mit Eifer an seine schwere und mühevolle Arbeit. Wir sahen uns einer fremden Bevölkerung gegenüber, die aus verschiedenen sich gegenseitig befehdenden 122
Stämmen zusammengesetzt war, uns sprachlich nicht verstand und größtenteils innerlich ablehnte. Der Geist treuer und selbstloser Pflichterfüllung, das Erbteil hundertjähriger preußischer Zucht und deutscher Tradition beseelte alle ... Ich sah allmählich, bei näherer Kenntnis des Landes, daß dies und jenes nicht durchzusetzen war und mußte ändern ... Besondere Aufmerksamkeit schenkten wir den hygienischen Verhältnissen der Bevölkerung. Der Kampf gegen das Fleckfieber, das an vielen Stellen herrschte, wurde erfolgreich durchgeführt. Er kostete uns große Opfer an Ärzten. Zur Beruhigung der Bevölkerung und zur materiellen Hebung des Landes wurde mit der Einlösung der von den Truppen während der Operationen ausgestellten Requisitionsscheine begonnen. Wir zahlten von nun an alles bar. Ich wollte damit eine Hebung der Produktion erreichen, an der mir sehr viel lag und dem Lande helfen. Zur Unterstützung des Landes ließen wir die Tätigkeit von auswärtigen Unterstützungskomitees der im besetzten Gebiete vorhandenen Nationalitäten zu; ich forderte nur, daß sie nicht einseitig bei der Hilfeleistung an ihren Volksteil stehenblieben, sondern andere gleichfalls bedachten. Die jüdischen Komitees, die über die meisten Mittel verfügten und sie auch aus Amerika bezogen, haben großzügig und nutzbringend gewirkt... Die erste jüdische Volksküche, die in Kowno entstand, trug meinen Namen. Der Feldrabbiner Rosenack hatte mich darum gebeten. Das Aufbringen der Rohstoffe war eine besonders wichtige Aufgabe. Auch hier fand Barzahlung statt. Der Jude als Zwischenhändler war dabei unentbehrlich. Wir führten viele Häute, Felle, Kupfer und Messing, Lumpen und Schrott (Alteisen) der heimischen Kriegswirtschaft zu, und entlasteten sie durch Inbetriebnahme von Fabriken in Kowno, Libau und Bjalystok... Die reichen Waldbestände regten besonders zur Ausnutzung an, jeder Raubbau aber war untersagt. Der Holzverbrauch für den Stellungsbau und für Eisenbahnschwellen war ganz außerordentlich groß ... Nutzholz ging nach Deutschland selbst, auch wurde Holz an die Bevölkerung zum Wiederaufbau der Wohnungen gegeben... 123
Die wirtschaftliche Ausnutzung des Landes war nach allen Richtungen hin sehr gründlich und, soweit möglich, mit der Schonung des Landes und seiner Bewohner verbunden ... Die Gerichtsverfassung entsprach der Haager Landkriegsordnung. Diese verlangte, daß die Bewohner privatrechtlich nach ihren Landesgesetzen abzuurteilen sind. Es mußte daher erst festgestellt werden, welche Gesetze überhaupt galten. Das war bei den verworrenen russischen Verhältnissen, die auch auf diesem Gebiete vor dem Kriege geherrscht haben, nicht leicht. Nachdem die Gesetze gefunden waren, mußten sie ins Deutsche übersetzt werden, damit die deutschen Richter danach Recht sprechen konnten... Weitere Wohltaten sollten der Bevölkerung durch die Richtlinien für die Schule gegeben werden ... Sie sind von Hoher Warte geschrieben und ließen jedes Bekenntnis und jeden Stamm zu seinem Rechte kommen. Hier, wie überall sollte alles ausgeschlossen werden, was als Nadelstichpolitik wirken konnte ... Die Bekenntnisse wurden in ihrer Ausübung durch nichts beschränkt. Wir gingen in dem Entgegenkommen so weit, daß wir die Ausgabe von Weizenmehl an die Juden zur Matzen-Erbakkung ermöglichten ... Wir erleichterten schließlich auch den Verkehr der Litauer und Juden mit ihren Stammesverwandten in den Vereinigten Staaten.” Wenn Martin Bormann und Erich Koch ihre Entschlüsse mit einem Zuviel von nationalsozialistischem Gedankengut angereichert hatten, so hat ein anderer Mann in der Führung des Dritten Reiches, Reinhard Heydrich, keinen Wert darauf gelegt, gute Nationalsozialisten oder „Alte Kämpfer” um sich zu haben. Heydrich schätzte in seinem Amtsbereich nur willige, bedenkenlos „funktionierende” Fachleute als Mitarbeiter. Den späteren Chef der Geheimen Staatspolizei („Gestapo”), Heinrich Müller, der bis 1933 ein erklärter Gegner der NSDAP gewesen war, förderte er aufgrund seiner fachlichen Eignung sehr, obwohl Martin Bormann die Aufnahme Heinrich Müllers in die Partei bis zum September 1939 hinausgezögert hatte. 124
In seinem ehrgeizigen Streben soll Heydrich so weit gegangen sein, die Stellung des Reichskanzlers von der des „Führers” zu trennen, Adolf Hitler die repräsentative Rolle eines Reichspräsidenten zuzubilligen, um selbst der „Erste Mann im Deutschen Reich” zu werden. „Sein Gott war die Macht”, so beschreibt ihn Walter Hagen (49), der ihn aus der Nähe erlebte, „nicht einmal der Staat ... Dem Besitz und Genuß der Macht wird alles untergeordnet, auch die Ideologien, deren Wahrheitsgehalt für eine solche Denkweise gleichgültig ist, und die nur als Instrument der Massenführung Bedeutung haben... Politik war für Heydrich nichts anderes als die Technik der Machteroberung und der Machterhaltung ... Daher zieht sich durch das kurze Leben dieses Mannes eine nicht abreißende Kette von Morden an Mißliebigen, Konkurrenten, Oppositionellen, Unzuverlässigen und von teuflischen Intrigen, die ebenso schlimm waren wie Morde, wenn nicht noch bösartiger. Das Leben anderer war für Heydrich kein in sich selbst ruhendes, schützenswertes Gut; wenn der Machtzweck es verlangte, wurde es eben ausgelöscht ... Nicht auf die Macht des Deutschen Reiches kam es ihm an, sondern auf seine eigene”. (Vgl. auch Viertes Kapitel) Admiral Canaris notierte in seinem Tagebuch unter dem 18. 7.1939: „Heydrich ist mir zutiefst unheimlich und widerlich. Seine mongolischen Augen haben den kalten Blick einer Schlange. Er kennt keinerlei Hemmungen. Er ist aber die klügste Bestie, die es gibt. Er ist mein geborener Feind!” (13) Ähnlich lautet das Urteil von Professor Carl Burckhardt, dem ehemaligen Danziger Völkerbundskommissar, über Heydrich: „ein junger, böser Todesgott, dessen unnatürliche Lilienhände zum hinauszögernden Würgen wie geschaffen waren.” (13) Heydrichs Ehrgeiz war außerordentlich groß. Er mag in Komplexen gelegen haben, die mit seiner nicht ganz arischen Herkunft begründet gewesen sein können. Sein Drang, sich auf sportlichem Gebiet hervorzutun, äußerte sich im Fechten, Reiten und Fliegen. Als Flieger unternahm er mit seinem Privatflugzeug gelegentlich recht gewagte Flüge. Einmal mußte er hinter der russischen Li125
nie notlanden; es gelang ihm jedoch, sich wieder bis zur deutschen Front durchzuschlagen (16). Auch ein ehemaliger Oberleutnant und Ritterkreuzträger d. L. berichtet, daß Heydrich 1940 oder 1941 vom Feldflugplatz des Kampfgeschwaders 55 bei Villa Coublay, nahe Versailles, zu mindestens einem Flug über England gestartet war. Heydrich machte sich über Freundschaft und Kameradschaft lustig, selbst freiwilliger Gefolgschaftstreue traute er nicht. Er hielt nur eine Bindung für zuverlässig: den Besitz intimer Privatgeheimnisse anderer, der es ihm gestattete, den Belasteten gefügig zu machen. Um mit solchen erpresserischen Methoden herrschen zu können, sammelte er nicht nur Belastungsmaterial, für „seine Munitionskiste”, wie er sich ausdrückte, gegen seine Mitarbeiter, sondern auch gegen die führenden Persönlichkeiten im Dritten Reich, wobei er Adolf Hitler nicht ausnahm. Die meisten hatten etwas zu verbergen, wie Martin Bormann, worüber im 1. Kapitel berichtet wurde. Im Mai 1941 — so Schellenberg (16) — hatte Adolf Hitler zu Heydrich geäußert, er wolle den Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Frhr. v. Neurath, ablösen und an seine Stelle Heydrich einsetzen. Ferner, so teilte Heydrich weiter mit, „unterstütze Bormann diese Kandidatur ... Heydrich erging sich dann in längern Ausführungen über das Verhältnis Himmler-Bormann und sagte, er habe mit letzterem eine längere Unterredung gehabt und den Eindruck bestätigt gefunden, Bormann sei ein nicht zu unterschätzender Gegner und es erscheine ihm unklug, sich mit diesem zu verfeinden. Bormann habe sich inzwischen beim Führer so stark in den Vordergrund geschoben, daß es angebracht wäre, ihm auch unsererseits etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und zwar riet er mir, Bormann nicht nur wichtige Lageberichte, sondern auch ab und zu interessante Einzelmeldungen zugehen zu lassen. Im übrigen habe sich Bormann auch nach mir erkundigt und gefragt, ob er, Heydrich, nicht bereit sei, mich auf ein halbes Jahr in Bormanns Stab abzukommandieren. Mißtrauisch fragte er mich: ,Wie kommt er darauf? Haben Sie etwa irgendwelche Querverbindungen dorthin?‘ Das interne Verhältnis Bormann-Heydrich war bislang nicht 126
besonders gut gewesen; sie kannten sich genau in ihren Stärken und Schwächen und operierten beide mit äußerster Vorsicht. Wenn Bormann nun die bevorstehende Ernennung Heydrichs zum stellvertretenden Reichsprotektor befürwortete, dann mußten besondere Gründe dafür vorliegen. Er (Heydrich) äußerte noch, wie sehr ihn die neue Aufgabe reize, denn er sehne sich wieder einmal danach, etwas Neues aufzubauen. Bormann habe ihm bei dieser Gelegenheit angedeutet, daß dies auch ein großer Fortschritt nach vorn sei, vor allem dann, wenn es ihm gelänge, die mit Zündstoff geladenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in diesem Raum erfolgreich zu lösen...” Solche Worte aus dem Munde des allmächtigen Martin Bormann waren sehr geeignet, den Ehrgeiz Heydrichs zu wecken. Es kann nicht behauptet werden, daß sich das stets wache Mißtrauen bei dieser Eröffnung nicht geregt hat. Kurz nach seinem Amtsantritt als „Stellvertretender Reichsprotektor” setzte eine intensive Verfolgung aller Gegner der deutschen Besatzung ein: Der tschechische Ministerpräsident Elias wurde in wenigen Stunden zum Tode verurteilt, Widerstandsgruppen wurde niedergekämpft und Oppositionelle verhaftet. In wenigen Wochen war „Ruhe” eingetreten. Jetzt begann er planmäßig, das tschechische Volk zu spalten, indem er den Arbeitern und Bauern wohlwollend gegenübertrat, was auf Kosten der Intelligenz erfolgte, aus der sich der Widerstand rekrutiert hatte. Er erhöhte die Fettrationen für Industriearbeiter, ließ 200 000 Paar Schuhe für Rüstungsarbeiter bereitstellen und Luxushotels in weltberühmten Kurorten als Ferienheime für tschechische Arbeiter bereitstellen; auch die rückständige Sozialversicherung wurde verbessert. Ferner baute Heydrich die Bestimmungen ab, die die Tschechen diffamiert hatten. Die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeiter und Bauern begann bald ihre Früchte zu tragen: relative Zufriedenheit, politisch passive Bevölkerung und Steigerung der Industrie- und Agrarproduktion waren die weitere Folge. (48) Heydrich hatte in relativ kurzer Zeit viel erreicht und damit auch bewiesen, daß seine Politik — insoweit — klüger war, als 127
die „Untermenschen”-Politik Bormanns und Kochs in der Ukraine. Er hatte in Böhmen und Mähren das Gegenteil der BormannKochschen Politik praktiziert und damit das Gegenteil erzielt. Von seiner moralischen Seite abgesehen, die ihm überwiegend Ablehnung und Feindschaft eingetragen hat, wurde er ob seiner Erfolge erwartungsgemäß beneidet und angefeindet. Heydrich bemerkte dieses zunächst in Spannungen, die zwischen Himmler und ihm aufgetreten waren. Nach Schellenberg (16) führte er die Gründe darauf zurück, „daß Himmler eifersüchtig auf seine Erfolge im Protektorat schaue und offensichtlich passe es ihm auch nicht, daß der Führer mit seiner, Heydrichs, Amtsführung sehr zufrieden sei und sich am liebsten mit ihm allein, ohne Himmler und Bormann, unterhalte — Ich merkte aber, und Heydrich ließ dies auch durchblicken, daß ihm bei dieser Spannung dennoch nicht ganz behaglich zumute war. Noch decke ihn zwar der Erfolg seiner sachlichen Arbeit beim Führer, äußerte er, aber er sei sich doch nicht im klaren darüber, wie er die ,Hemmschuhe‘ Himmler und Bormann beseitigen könne. Ein offener Vorstoß bei Hitler bleibe gefährlich, denn dieser reagiere darauf meistens negativ.” Aber auch die tschechische Exilregierung unter Benesch in London war über diese elastische und erfolgreiche Besatzungspolitik Heydrichs nicht erbaut. Es war eine Existenzfrage für sie, eine aktive tschechische Widerstandsbewegung im Protektorat am Leben zu erhalten. Das konnte nur durch Herausforderung der NS-Machthaber geschehen. Daher beschloß das Londoner tschechische Exilkabinett im Dezember 1941 ein Attentat auf Heydrich. Die beiden Attentäter brachte ein britisches Flugzeug kurz nach Weihnachten 1941 an ihren „Einsatzort” in Böhmen. Wenige Wochen vor dem Attentat, das am 27. Mai 1942 verübt und dessen Ablauf oft geschildert wurde, z. B. von Heinz Höhne (48), fand eine von Heydrich einberufene Arbeitstagung der Abwehrstellenleiter in Prag statt. Über die anschließend geführten Gespräche zwischen Heydrich und Schellenberg berichtet der Letztere (16): „Es fiel mir auf, daß er” (Heydrich) „wiederholt auf sein 128
immer schlechter werdendes Verhältnis zu Himmler und Bormann zurückkam. Die Spannungen, meinte er, seien so stark geworden, daß er erwäge, mich unter irgendeinem Vorwand in die unmittelbare Nähe Hitlers zu lancieren, um, wie er wörtlich sagte, jemanden zu haben, der sich dort oben einmal für ihn umschaue. Ich versuchte ihm diesen Plan auszureden, doch er kam stets wieder darauf zurück. Schließlich einigten wir uns auf eine Abkommandierung auf sechs Wochen, doch dazu sollte es nicht mehr kommen.” Dazu ist zu bemerken, daß die Absicht einer Kommandierung Schellenbergs in die Nähe Adolf Hitlers in den Memoiren Schellenbergs zweimal erscheint: auf Seite 188 der Ausgabe 1959: Martin Bormann habe sich nach Schellenberg erkundigt und seine Abkommandierung auf ein halbes Jahr in den Stab Bormanns angeregt, während auf Seite 256 derselben Ausgabe diese Abkommandierung von Heydrich gewünscht worden sein soll. Da nicht angenommen werden kann, daß Schellenberg gerade in einer so persönlichen Angelegenheit einem Irrtum zum Opfer gefallen ist, wäre es möglich, daß dieser Widerspruch auf andere Weise in die Memoiren gelangte. Folgen wir nun weiter den Ausführungen Schellenbergs: „Bei unserm letzten Treffen hatte mir Heydrich folgendes Erlebnis erzählt: Während seiner letzten Reise ins Führerhauptquartier sollte er Hitler über bestimmte Wirtschaftsfragen des Protektorats und die von ihm dazu ausgearbeiteten Vorschläge berichten. Nachdem er schon längere Zeit vor dem Befehlsbunker Hitlers gewartet habe, sei plötzlich Hitler in Begleitung Bormanns herausgekommen. Heydrich habe vorschriftsmäßig gegrüßt und erwartet, daß Hitler ihn nun ansprechen und zum Vortrag bitten werde. Der Führer habe ihn aber statt dessen einen Augenblick lang unwillig angesehen und ihn wortlos stehen gelassen. Daraufhin habe Bormann den Führer mit einer Handbewegung wieder in den Bunker lanciert. Und an diesem Tage sei Heydrich auch nicht mehr von Hitler empfangen worden. Am nächsten Tage habe ihm Bormann eröffnet, der Führer lege auf Heydrichs Vortrag keinen Wert mehr, da er sich über die mit Heydrich zu besprechenden Sachprobleme bereits klar 129
geworden sei. In der Form sei Bormann zwar äußerst höflich geblieben, doch sei die eisige Kälte auf der ganzen Linie deutlich zu spüren gewesen. Ein Versuch Heydrichs, doch noch zu Hitler vorzudringen, sei gescheitert. Am übernächsten Tage habe er unverrichteter Dinge nach Prag zurückfliegen müssen. Seitdem hatte Heydrich das deutliche Empfinden, dies äußerte sich in einer auffallenden Unruhe, daß ein entscheidender Schlag gegen ihn bevorstand. Dabei glaube ich nicht einmal, daß ihn das Faktum als solches so sehr bewegte, als vielmehr die Frage, wann und wie dieser Schlag geführt werden würde. Dies war schließlich auch der Grund, warum er mich eine Zeitlang im Führerhauptquartier wissen wollte.” Dieser Satz enthält zwar eine Begründung für den Wunsch Heydrichs, seinen Mitarbeiter Schellenberg im „Führerhauptquartier” zu wissen, ohne jedoch einen Hinweis darauf zu geben, daß hier die Wünsche Heydrichs und Martin Bormanns zusammentrafen, wie es der Fall wäre, wenn die Äußerung Martin Bormanns bezüglich Schellenberg (Seite 188) authentisch ist. Eine Klärung könnte vielleicht durch Vergleich der britischen Ausgabe von Schellenbergs Memoiren (London, 1956) erfolgen. Als Schellenberg die Nachricht von dem auf Heydrich verübten Attentat erreichte, „tauchte in mir damals blitzartig die Erinnerung an die mir von Heydrich geschilderten Spannungen zwischen ihm und Himmler sowie Bormann auf, und ich konnte beim Gedanken, wer hinter diesem Attentat stecke, nicht umhin, meinen Verdacht in diese Richtung zu lenken. Es bestand auch kein Zweifel für mich, daß es Charakteren vom Schlage Himmlers und Bormanns bei den Erfolgen Heydrichs, der ihnen an Geist und Einfallsreichtum weit überlegen war, auf die Dauer unheimlich werden mußte. Hitlers allerengster Führungskreis, der stets dadurch regierte, daß er die verschiedenen Kräfte gegeneinander ausspielte, wußte genau, daß diese Taktik bei Heydrich nicht verfangen würde. Heydrich ließ sich einfach nicht überspielen und hielt auch die erforderlichen Mittel ständig bei der Hand, um auf jede Situation blitzschnell reagieren zu können. Ich bin sogar davon überzeugt, daß sich Bormann, sofern Heydrich am Leben geblieben wäre, 130
eines Tages in den Fangnetzen dieses Mannes verstrickt hätte und von seiner stolzen Höhe herabgestürzt wäre...” Bemerkenswert, daß in diesem letzten Satz nur noch von Martin Bormann die Rede ist und Himmler ausgeklammert wurde. „Nein, ich glaubte an kein Attentat tschechischer oder sonstiger Kreise”, fährt Schellenberg fort: „Ich war innerlich überzeugt, daß Heydrich der geheimen Feme des allerengsten Führungskreises (Hitler-Bormann-Himmler) zum Opfer gefallen war.” Eine weitere Stimme, die sich mit den Hintergründen des Attentats auf Heydrich befaßt, findet sich in der Tageszeitung „Die Welt” vom 15. September 1971. Der in Schweden lebende tschechische Journalist Pavel Havelka berichtet über Gespräche, die er in Prag mit General Bartik geführt hatte, der seiner Zeit enger Mitarbeiter des damaligen Chefs der tschechischen Spionageabwehr, Frantisek Moravek, gewesen war. Hier der Bericht: „Beide zusammen” (Moravek und Bartik) „arbeiteten den Plan für das Attentat gegen den stellvertretenden Reichsprotektor, Heydrich, aus. Sowohl Moravek als auch ich hatten Bedenken, doch Benesch bestand darauf, daß das Attentat ausgeführt werden sollte. Der endgültige Entschluß wurde erst im Mai 1942 gefaßt” (kurz vor Wiedereröffnung der Prager Universität auf Anordnung Heydrichs), „also mehr als vier Monate, nachdem ein britischer Bomber die Attentäter — Deckname Silver A — östlich von Prag abgesetzt hatte. Ich nehme an, daß die Entscheidung von der Nachricht beeinflußt wurde, daß auch die Russen ein Attentat gegen Heydrich planten.” Pavel Havelka berichtet weiter: „General Bartik habe seine Aussage durch eine weitere Mitteilung ergänzt: die Russen hätten Heydrich sicher forthaben wollen, weil er für Martin Bormann, der ja ihr Agent war, gefährlich gewesen sei. Zum erstenmal habe Bartik, nach diesem Bericht, im Herbst 1946 von Bormanns Rolle als Spion gehört, als die bei den Nürnberger Prozessen zum Tode Verurteilten hingerichtet worden waren. Martin Bormann war in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Bartik hatte gerade eines seiner heimlichen Treffen mit Präsident Benesch, als dieser plötzlich 131
sagte: ,Wenn Bormann tatsächlich lebt, so wird er nicht hingerichtet werden, er war auf jeden Fall Stalins Agent.‘” Abschließend berichtet Pavel Havelka: „Moskau fürchtete Heydrich. Wenn einer Bormanns Doppelrolle hätte entdecken können, so wäre das Heydrich mit seinem Sicherheitsapparat gewesen, sagte General Bartik. Deshalb hätten die Russen Heydrich aus dem Wege räumen wollen. Bartik: ,Aber wir kamen ihnen zuvor.‘ Soweit General Bartik. Ich hatte mich mit ihm in der Prager Weinstube verabredet, um mehr über Beneschs und Sikorskis Londoner Pläne über eine Föderation zwischen der Tschechoslowakei und Polen nach dem Krieg zu erfahren. Ein Thema, über das ich ein Buch vorbereitete. Diese Angelegenheit hatte ich ganz vergessen, nachdem ich nun bedeutend interessantere Auskünfte bekommen hatte. Ich bekam sie unter der Bedingung, daß ich sie für mich behalten würde. Die wirkliche Geschichte über die Russen, Bormann und Heydrich gedachte der General sich für seine eigenen Memoiren aufzubewahren, die er gerade im Begriff war, abzuschließen. Einige Wochen später sei Bartik jedoch gestorben. Seine Erinnerungen werden mit Sicherheit nicht in der heutigen Tschechoslowakei veröffentlicht werden. Vermutlich lagern sie gut verwahrt in einem Tresor des Sicherheitsdienstes. Aber der frühere westdeutsche Abwehrchef General Gehlen hat demnach nicht unrecht mit seinen Enthüllungen, daß Bormann ein russischer Agent war. Zeugen dafür sind Präsident Benesch und Stalin selbst.” Nach den vorliegenden Quellen hatte Heydrich aufgrund seiner Intelligenz und vor allem seiner Fähigkeiten wegen im Inund Ausland Feinde. Wenn Klaus Harprecht im Vorwort der Memoiren Schellenbergs (1959) schreibt, „Schellenberg pflegte zu erzählen, daß Heydrich nicht gezögert haben würde, Adolf Hitler zu beseitigen, hätte er noch mit eigenen Augen gesehen, wie der Diktator das Reich von Niederlage zu Niederlage in den Abgrund trieb. Es darf vermutet werden, daß dieser fürchterliche Erbe Fouchés den Fall Hitler mit der gleichen Skrupellosigkeit ‚erledigt‘ hätte wie die Judenfrage”, dann ist Heydrichs Beihilfe an den politischen Morden des 30. Juni 1934 („Röhmputsch”), 132
an der Beibringung von Belastungsmaterial für die Devisenund Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Kleriker in Deutschland (um die Kirche zu diffamieren), ferner seine Mitwirkung an dem — nach Hagen (49) — gestellten Attentat im Bürgerbräukeller am 8. November 1939 auf Adolf Hitler, die Ausschaltung verdienter Offiziere der Wehrmacht wie v. Blomberg und v. Fritsch auf skandalöse Weise, sein Mitwirken zur Beschaffung von Belastungsmaterial gegen Tuchatschewski und weitere hohe Offiziere der Roten Armee in Komplizenschaft mit Martin Bormann, schließlich das als Unternehmen „Bernhard” getarnte Banknotenfälschungsunternehmen für britische Noten — als Einzelschritte Heydrichs zu dem von ihm erstrebten Machtzuwachs zu betrachten. Es bleibt noch zu berichten, was nach dem Attentat geschah. Schellenberg, der in nächster Nähe weilte, berichtet von der Meldung Müllers („Gestapo-Müller”), daß Heydrich in ein Prager Hospital gebracht wurde und noch ohne Bewußtsein sei. „Zahlreiche Splitter hätten Entzündungsherde gebildet, vor allem sei die Milz gefährlich verletzt worden. Am siebten Tage trat dann eine allgemeine Sepsis ein, die rasch den Tod herbeiführte. An der ärztlichen Behandlung unter der Oberleitung Professor Gebhardts, des Leibarztes Himmlers, ist später von ändern Fachärzten Kritik geübt worden. Soweit ich mich erinnere, hätte man versuchen können, die Milz herauszuoperieren, um damit rechtzeitig den Hauptherd einer zu erwartenden Sepsis zu entfernen.” (16) An den Schluß dieser Betrachtungen seien Teile eines zeitgenössischen Berichtes von Olga v. Barényi, die damals in Prag lebte, wiedergegeben: „Der einzige, der die katastrophalen Fehler der Deutschen begriff, war Reinhard Heydrich. Der Zankapfel, die geschlossenen tschechischen Universitäten, mußten wieder geöffnet werden, und die Insignien zurück in die Karls-Universität in die Hände des tschechischen Rektors. Die anständigen Tschechen freuten sich, die tschechischen Deutschenhasser in London handelten. Sofort 133
wurden mit einem Flugzeug die Tschechen Kubis und Gabcik in die Tschechei gebracht, die am 27. Mai 1942 in einem Prager Vorort das Attentat auf Heydrich verübten. Der durch diese Schüsse schwer verletzte Heydrich hätte aber überlebt, und darum wurde er am 4. Juni 1942 im Krankenhaus Bulovka in Prag vergiftet.” (Hier irrte die Verfasserin: Heydrich wurde nicht durch Schüsse verletzt — die Maschinenpistole hatte Ladehemmung —, sondern durch Splitter einer Handgranate.) Die inzwischen verstorbene Verfasserin dieses Berichtes lehnte es leider ab, die Quelle zu nennen, nach der Heydrich überlebt hätte und im Krankenhaus vergiftet worden sei. Diese Auffassung erhält Gewicht, wenn in Betracht gezogen wird, daß Professor Gebhardt, der Leiter des Krankenhauses in Prag, in dem Heydrich lag, Himmlers Leibarzt und SS-Gruppenführer war. Er versuchte auch den Rüstungsminister Albert Speer durch falsche Diagnosen und entsprechende Behandlung gesundheitlich zu schädigen bzw. zu beseitigen, wie Speer in seinen „Erinnerungen” überliefert hat. In äußerster Notlage erbat Speer Hilfe durch Professor Koch, einen Mitarbeiter Sauerbruchs, den er in Gebhardts Sanatorium unterbrachte. Professor Gebhardt versuchte Professor Koch durch Hinzuziehung von Hitlers Leibarzt, Professor Dr. Morell, auszuschalten, was jedoch nicht gelang. In diesem Zusammenhang bezeichnete Professor Koch Hitlers Leibarzt Prof. Dr. Morell als „Nichtskönner”. „Während meines bedrohlichen Zustandes” — schreibt Speer in seinen „Erinnerungen” — „habe Gebhardt von ihm” (Prof. Koch) „einen kleinen Eingriff verlangt, der nach der Ansicht des Internisten” (Koch) „mein Leben gefährdet hätte. Als Prof. Koch zunächst nicht verstehen wollte und sich dann schließlich weigerte, den Eingriff vorzunehmen, sei Gebhardt ausgewichen: er habe ihn nur auf die Probe stellen wollen.” (32) (Hervorhebung v. Verf.) Wenn schließlich noch in Betracht gezogen wird, daß Professor Gebhardt im Kreise höherer SS-Führer geäußert habe, „daß nach Himmlers Meinung Speer eine Gefahr seit er müsse verschwinden” (32), und Professor Gebhardt sich selbst „nicht nur Arzt 134
sondern auch politischer Arzt” (32) bezeichnet habe und auch an Häftlingen in Konzentrationslagern Experimente durchgeführt habe, dann erscheint es durchaus als möglich, daß Heydrich in dem von Professor Gebhardt geleiteten Krankenhaus vergiftet worden ist. Dieser politische Mord an dem stellvertretenden Reichsprotektor Heydrich schuf Märtyrer, wie es wohl auch beabsichtigt war. Darüber schreibt Olga v. Barényi: „Heydrich war also wunschgemäß tot, die tschechischen Hochschulen blieben wunschgemäß geschlossen, und die deutschen Protektoratsbehörden handelten jetzt so, als ob sie sich mit Benesch, Senfton Delmer oder Ben Gurion beraten hätten. Jeden Tag verkündete der Prager Rundfunk mehrmals, daß jeder zehnte Tscheche, ob Mann oder Frau, erschossen wird, falls die Mörder des SS-Obergruppenführers Heydrich nicht gefunden werden. Dieser Aufruf wurde von Rundfunkstationen im Westen mit Wonne übernommen und ausgiebig kommentiert, als neuer Beweis der deutschen Barbarei. Gleichzeitig war es für die Tschechen ein Signal, anonym bei der Gestapo ihre unbequemen Landsleute anzuzeigen. Wozu z. B. eine Scheidung? Die liebevolle Gattin zeigte ihren Gatten an, daß er ,etwas über die Mörder Heydrichs wisse', das übrige besorgte die Gestapo. Übrigens, auch eine von den unbekannten und totgeschwiegenen Tatsachen ist, daß es in dem Hauptquartier der Gestapo, in der Bredauergasse in Prag, eine Tafel mit tschechischer Aufschrift gab: ‚Überlegen Sie es sich gut, bevor Sie Ihre Landsleute anzeigen. Falsche Denunzianten werden mit dem Tode bestraft' Was nachher folgte, hätte sich auch der größte Deutschenhasser nicht besser ausdenken können. Es waren ‚Repressalien‘ für die Ermordung des SS-Obergruppenführers. Das Schnellgericht und Sondergericht in Prag arbeitete fieberhaft. Der Prager Rundfunk meldete täglich nach den Nachrichten um 22 Uhr 50 bis 70 Hinrichtungen. Die hingerichteten Tschechen waren dabei namentlich genannt und ihr Alter angeführt. Familie Penkava aus einem Dorf bei Pilsen, alle 14 Angehörigen, von der 80jährigen Großmutter bis zu dem 15jährigen Enkel. Die Begründung des Urtei135
les war fast immer dieselbe: ,Bejahung des Mordes an dem SSObergruppenführer Reinhard Heydrich.‘ Die Gerichtsverhandlung dauerte nur einige Minuten, Zeugen waren keine anwesend und die anonymen Anzeiger blieben anonym. Die Opfer dieser Gerichte waren durchwegs unschuldig und außerdem deutschfreundlich. Daß sie ihnen durch die tschechischen Agenten untergeschoben wurden, das begriffen die Deutschen nicht. Nach der Verlesung der Liste der Hingerichteten — alle starben im Pankracer Gefängnis in Prag, Tod durch Beil — wurde jedesmal sofort ein flotter Marsch gespielt, oder es folgten Sportnachrichten. Die anständigen Deutschen und Tschechen waren über diese dumme und grausige Taktlosigkeit fast genauso entsetzt und empört, wie über die Hinrichtungen ...” Wer zog den meisten Nutzen aus dem gewaltsamen Tode Heydrichs? Himmler, der den einfallsreicheren Ränkespieler fürchtete? Benesch, mit der tschechischen Exilregierung in London, die aktiven Widerstand in der Tschechoslowakei brauchte und nicht friedliche Verhältnisse, wie sie von Heydrich in der zweiten Phase seiner Tätigkeit geschaffen worden waren? Stalin, weil — nach tschechischen Quellen — Martin Bormann als Agent des Kreml im „Führerhauptquartier” vor Heydrich geschützt werden mußte? Es soll nicht bestritten werden, daß Himmler und Benesch aus dem Tode Heydrichs jeder seinen Anteil am Nutzen zogen. Die Frage der Nutznießung Stalins an diesem Mord erhält Bedeutung, wenn beachtet wird, daß Martin Bormann die Ernennung Heydrichs zum stellvertretenden Reichsprotektor nicht nur befürwortet, sondern durch treffende Worte auch erstrebenswert gemacht hat. So entsteht die begründete Vermutung, daß Martin Bormann Heydrich in eine tödliche Falle gelockt hat, unter geschickter Ausnutzung einer bei Heydrich extrem entwickelten Eigenschaft: dem Ehrgeiz. Eine Parallele zu dieser Vermutung begegnet uns etwa zwei Jahre später, als Himmler entgegen dem eindringlichsten Rat Guderians (33) von Adolf Hitler am 13. Februar 1945 zum „Oberfehlshaber der Heeresgruppe Weichsel” ernannt 136
wurde. Diese Ernennung kommentiert Jürgen Thorwald in seinem „Bericht des großen Verrats” (80) wie folgt: „Am 22. Februar (1945) erhielt (Oberst i. G.) Herre die Nachricht, daß Himmler ihn am nächsten Vormittag im Hauptquartier der Heeresgruppe Weichsel im Prenzlauer Stadtwald erwarte. Bei der Anmeldung traf Herre zwei alte Bekannte aus dem Generalstab des Heeres, den Ia Oberst i. G. Eismann und den Ic Oberstleutnant i. G. Wessel. Von ihnen hörte er näheres über Himmlers fruchtlose und enttäuschende Tätigkeit als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel. Sie waren beide der Ansicht, daß die Ernennung Himmlers ein neuer Coup Bormanns gewesen war, um Himmler durch die Übertragung einer Aufgabe, an der er scheitern mußte, bei Hitler in Mißkredit zu bringen. Nach anfänglichem dilettantischen Eifer hatte Himmler begonnen, die Zwielichtigkeit seiner Situation zu erkennen.” (80) Die militärischen Fähigkeiten Heinrich Himmlers beurteilte General Heinz Guderian, vom 21. Juli 1944 bis 28. März 1945 Chef des Generalstabes des Heeres: „Auf dem militärischen Gebiet scheiterte Himmler zuerst und vollständig. Seine Beurteilung unserer Feinde war geradezu kindisch zu nennen. Seine Führung der Heeresgruppe ,Weichsel‘ 1945 war von Furcht diktiert. Trotzdem hatte er das Ohr Hitlers fast bis zum Schluß ... Ich hatte mehrfach Gelegenheit, sein mangelndes Selbstbewußtsein, seine fehlende Zivilcourage in Hitlers Gegenwart festzustellen. Himmler hatte bei der Offensive aus dem Raume um Arnswalde nach dem Ausfall des Generals Wenck vollständig versagt. Die Zustände in seinem Oberkommando wurden immer schlechter. Ich erhielt keine zutreffenden Meldungen von seiner Front und hatte nie die Gewähr, daß die Befehle des OKH ausgeführt würden. Daher fuhr ich um die Mitte März (1945) in sein Hauptquartier bei Prenzlau, um mich zu orientieren. Himmlers Stabschef Lammerding empfing mich am Eingang des Quartiers mit den Worten: ,Können Sie uns nicht von unserem Oberbefehlshaber befreien?‘ Ich sagte Lammerding, daß dies eigentlich Aufgabe der SS sei. 137
Auf meine Frage nach dem Reichsführer erfuhr ich, daß Himmler an Grippe erkrankt sei und sich im Sanatorium Hohenlychen, in der Behandlung seines Leibarztes, des Professors Gebhardt, befände. Ich fuhr sofort dorthin, traf Himmler bei leidlichem Wohlsein und stellte fest, daß mich ein leichter Schnupfen nicht veranlaßt hätte, meine Truppe in so gespannter Lage zu verlassen. Dann machte ich dem SS-Gewaltigen klar, daß er eine Fülle höchster Reichsämter in seiner Person vereinige ... Er werde inzwischen wohl eingesehen haben, daß es nicht so leicht sei, Truppen an der Front zu führen. Daher schlüge ich ihm vor, auf den Oberbefehl über die Heeresgruppe zu verzichten und sich auf seine anderen Ämter zurückzuziehen — Er schwankte: ,Das kann ich dem Führer nicht sagen! Er wird mir das nicht genehmigen.‘ Ich erblickte meine Chance: ,Dann gestatten Sie mir, daß ich es ihm sage.‘ Nun mußte Himmler zustimmen. Noch am gleichen Abend schlug ich Hitler vor, den überlasteten Himmler von seinem Kommando zu entheben und an seiner Statt Generaloberst Heinrici zu ernennen. Unwillig knurrend stimmte Hitler zu.” (33)
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ELFTES KAPITEL Terbovens Besatzungspolitik steuerte Norwegen in den Widerstand — NS-Besatzungspolitik in Jugoslawien schafft Partisanen — Bormann verhindert Gauleitern Zutritt zu Hitler — Titos Bereitschaft für Waffenstillstand mit Wehrmacht und dann gemeinsames Vorgehen gegen evtl. landende Anglo-Amerikaner Nach eingehender Würdigung der von Hitler-Bormann inspirierten und von Erich Koch praktizierten NS-Ostpolitik, wendet sich der Blick anderen Gebieten zu, wie Norwegen und Jugoslawien, in denen ebenfalls eine Besatzungspolitik geübt wurde. Unmittelbar nach Beendigung der Kämpfe in Südnorwegen wurde der rheinländische Gauleiter, Josef Terboven, zum Reichskommissar für Norwegen ernannt. Mit ihm kamen ein höherer SS- und Polizeiführer sowie Einsatzkommandos nach Norwegen. Am 9. April 1940 war Vidkun Quisling, der Führer der „Nasjonal Sämling”, Ministerpräsident geworden, wurde aber schon am 15. April zum Rücktritt gezwungen. Zwischen ihm und Terboven ist es zu immer stärkeren Spannungen gekommen, über die nachstehend berichtet wird. Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge ist es erforderlich, auf den Lebenslauf Quislings einzugehen. Geboren im Jahre 1887 in Telemarken (Südnorwegen), wurde er mit Auszeichnung Artillerieoffizier und wählte Rußland zu seinem Studiengebiet. Er wurde Militärattache in Petersburg, später in Helsingfors. Gemeinsam mit Fritjof Nansen, dem Vater des „Nansen-Passes”, zog er nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in das hungernde Rußland, um dort ein Hilfswerk aufzubauen, wobei Quisling die Beherrschung der russischen Sprache sehr nützlich war. Ende der zwanziger Jahre war er Gesandschaftsrat in Moskau. Der durch seine Aufenthalte in Rußland und sein sonstiges Wissen zum Kenner russischer Verhältnisse Gewordene, hatte sich zu einem Gegner des bolschewistischen Systems entwickelt, weil er dort die Elemente erkannt hatte, die die Spaltung auch 139
seines Volkes hervorrufen konnten. Um die Norweger wachzurütteln, schrieb er das Buch: „Rußland und wir”. Das darin angestrebte Ziel war „die Befreiung des Vaterlandes von Klassenkampf und Parteipolitik sowie die nationale Einigung”. Im Jahre 1931 wurde er Verteidigungsminister. Dieser Ernennung folgte eine linke Pressekampagne gegen ihn; auch ein Mordversuch fand statt, ebenso eine Demonstration eines eintausend Mann starken Zuges unter roten Fahnen, der unter Aufbietung von Militär zerstreut wurde. Nach Abschluß der Untersuchungen über diese Vorgänge hielt Quisling vor dem Storting (Parlament) eine Rede, in der er anhand von Dokumenten kommunistische Umsturzpläne aufdeckte und eine geplante „N o r we gisc h e S o wje t r ep ub lik” zur Sprache brachte. Quittungen über hohe Geldsummen bewiesen die Unterstützung durch die KOMINTERN, darunter war eine unterzeichnet mit einem später um den ganzen Erdball bekanntgewordenen Namen: Trygve Lie (UN-Generalsekretär). (85) Vidkun Quisling wurde für nicht begangene Verbrechen verantwortlich gemacht und zum Tode verurteilt. Nach seinem Biographen, dem Engländer Ralph Hewins, ist Quisling von der deutschen Absicht des Überfalls auf Norwegen nicht unterrichtet gewesen (84), auch für die Hinrichtungen und Verschleppungen wurde er in dem Prozeß 1945 verantwortlich gemacht, obwohl er Erschießungen, die von Terboven befohlen worden waren, wo es ihm möglich war, verhinderte (85). Über das Verhältnis zwischen Quisling und Terboven hat Hans-Dietrich Loock in seiner Dissertation (86) folgendes ermittelt: „Die an Lammers” (Leiter der Reichskanzlei) „gesandten Berichte ... schilderten die ersten beiden Gespräche, die Terboven und seine Mitarbeiter ... mit Quisling geführt hatten, um ihn zum Verlassen des Landes zu zwingen. ... Rosenberg,... der beklagte, daß die Bemühungen der deutschen Verwaltung ständig darauf gerichtet sind, nicht etwa die Nasjonal Sämling unter Vidkun Quisling zu unterstützen, sondern sie dadurch unfähig zu machen, daß man ihr ehemalige Renegaten als Mitarbeiter 140
aufzwingt. Er beklagte vor allem, daß Quisling abgeschoben werden solle und empörte sich darüber, daß der Reichskommissar seine finanzielle Unterstützung der Nasjonal Sämling vom Eingehen Quislings auf seine Forderungen abhängig zu machen droht.” Ferner teilte Rosenberg mit, „daß im Reichskommissariat von der ,Untragbarkeit‘ Quislings gesprochen” werde. Schickedanz, Beamter des Auswärtigen Amtes, später Reichskommissar für den Kaukasus, berichtete „Über die Summen, die Terboven der Nasjonal Sämling als Unterstützung auszahlen ließ, und erklärte in diesem Zusammenhang, gegen diese Machenschaften scheint ein Protest von Seiten des Pg.” (Parteigenosse) „Eck, des ehemaligen Gauschatzmeisters in Frankfurt am Main, in Norwegen auszugehen, der seinen Posten dem Reichskommissar scheinbar zur Verfügung zu stellen beabsichtigt. Herr Eck fungiert in Norwegen als Finanzberater der Nasjonal Sämling. Herr Eck scheint nach einem heftigen Zusammenstoß unmittelbar vor dem l. Juli Norwegen verlassen zu haben. Da der Gauschatzmeister” (Eck) „von Bormann für Norwegen abgeordnet worden war, kann nicht ausgeschlossen werden, daß die ,theoretischen Wirkungen‘, von denen Schickedanz schrieb, von Eck über Bormann ausgelöst wurden und daß Hitlers Aufmerksamkeit für die neue Aktensendung Rosenbergs ebenfalls auf diesem Wege erreicht wurde.” (86) „Am 6. Juli 1940”, so ermittelte Hans-Dietrich Loock weiter, „fertigte Rosenberg eine Aktennotiz über ein Gespräch mit dem aus Norwegen verbannten Quisling aus. ... Bemerkenswert sind einige, mehr oder weniger wörtlich wiedergegebene Äußerungen Terbovens. Dem Argument Quislings, ,es sei klar, daß die Gegner Deutschlands ihn weghaben wollten, um ihre Arbeit zu beginnen‘, setzte Terboven die kühle Bemerkung entgegen: ,Quisling solle sich nicht so in den Mittelpunkt stellen.‘” Damit war Terboven seinem Sieg über Quisling nähergerückt. „Er hatte die Erklärung Quislings in der Hand, daß er einer Einladung nach Deutschland folgen und die Führung der Nasjonal Sämling ‚vorläufig‘ abgeben werde. So sandte Terboven noch am Abend des 29. Juni (1940) ein Fernschreiben an Bormann 141
ab, in dem er mitteilte, daß die vorbereitenden Arbeiten zu den im Grundsatz von ihm (Hitler) genehmigten politischen Entscheidungen in Norwegen beendet sind. Zugleich bat er um einen Termin zum Vortrag bei Hitler, ,wenn möglich im Laufe des Mittwoch, den 3. 7.‘ Dieser Termin ist ihm von Bormann bereitwillig schon am 2. Juli eingeräumt worden. Einen Tag nach der Unterredung zwischen Adolf Hitler und Terboven, am 3. Juli 1940, schrieb Scheidt (Leiter der Abteilung Norden im außenpolitischen Amt der NSDAP) an den deutschen Marineattaché in Oslo, Schreiber, ,er danke ihm auch im Namen des Reichsleiters und Stabsleiters für dessen tatkräftige Hilfe‘.” (Damals war Martin Bormann noch Reichsleiter und Stabsleiter von Rudolf Heß.) „Er machte aber zugleich darauf aufmerksam, ,daß eine erhöhte Vorsicht zu beachten sei‘. Dem Brief an Schreiber war ein Brief an Hagelin (Mitglied der Nasjonal Sämling) beigefügt. Scheidt schrieb darin: Stelle Deine gesamte Korrespondenz mit meinem hiesigen Freund (Sehickedanz) und mir bei Sorenskribern (Schreiber) sicher oder vernichte sie ...” Die verworrenen Verhältnisse zwischen dem Reichskommissar Terboven und seinen norwegischen Partnern lassen den von Martin Bormann abgeordneten Gauschatzmeister Eck als „Bormanns Hand in Norwegen” glaubhaft erscheinen. Terbovens Besatzungspolitik in Norwegen ähnelte derjenigen Erich Kochs im Osten, da sie durch Verhaftungen, Verschleppungen von Studenten in ein Lager im Elsaß, Ausbeutung der Bodenschätze und Energien des Landes gekennzeichnet war. Auch aus diesen Gründen entstand der Zwiespalt zwischen Quisling und Terboven, von dem Peter Kleist lapidar feststellte: „Norwegen wurde von Terboven mit sicherer Hand in den Widerstand gesteuert.” (87) Da das Bild Vidkun Quislings seit 1945 verzerrt dargestellt wird, ist es im Interesse der geschichtlichen Wahrheit notwendig, die Beurteilung von Seiten eines integeren Mannes, Hans F. K. Günther, wiederzugeben, dem Quisling persönlich gut bekannt war: „Eben diesem würdigen und untadeligen Manne hat Hitler einen von ihm ausgewählten Unwürdigen” (Terboven) „als seinen und des Reiches Vertreter gesandt, einen Unwürdigen und 142
Ränkevollen, der es anscheinend darauf angelegt hat, von Hitler zu einer Art Gauleiter von Norwegen befördert zu werden, der ,beraten‘ von Deutschfeinden, vielleicht auch Quisling bei Hitler verleumdend, diesen beiseite schob, bis er die eigentliche Macht in Norwegen ausübte. Nun erfolgten durch Hitlers Sendling zur Freude der Alliierten, die eben dies wünschten, Verfolgungen von Norwegern, auch Erschießungen, die Quisling nicht mehr verhindern konnte. Es erfolgte die unsinnige Verbannung der Osloer Studenten in ein Lager im Oberelsaß.” (22) Die Chronologie der Ereignisse verlangt, sich nun dem Jugoslawienfeldzug zuzuwenden, der am 6. April 1941 begann und sich auf Griechenland ausgedehnt hatte. Er endete mit der Besetzung von Kreta um den 1. Juni 1941, drei Wochen vor Beginn des Ostfeldzuges. Das „Divide et impera” begegnet dem Beobachter in der Spaltung Jugoslawiens in die Staaten Serbien und Kroatien. Während Serbien eine kommissarische „Regierung” erhielt, wurde schon am 10. April 1941 der „Unabhängige Staat Kroatien” ausgerufen. Die Begeisterung der Kroaten darüber war sehr groß und wurde noch gesteigert, als der Staatsführer, Dr. Ante Pavelic, aus dem Hauptquartier Adolf Hitlers die Nachricht von dem Einverständnis des Anschlusses folgender Gebiete an Kroatien mitbrachte: Bosnien, Dalmatien, Herzegowina, Küstenland, Syrmien, Slawonien und Zagorien. Allerdings wandelten sich die Sympathien für Deutschland in Enttäuschung, als schon am 13. Juni 1941 durch Bekanntgabe der „Römischen Protokolle” der Plan von einer Teilung Kroatiens in eine deutsche und eine italienische Besatzungszone veröffentlicht wurde. Die italienische Zone wurde nochmals unterteilt, worin die Kroaten die Absicht erkannten, das Küstengebiet Dalmatiens unter italienische Oberhoheit zu bringen. Der fernere Plan, einen italienischen Prinzen zum König von Dalmatien auszurufen, drückte die Stimmung noch mehr. Inzwischen war die „Ustascha” gegründet worden, eine militante Truppe junger Kroaten, die großen Zulauf hatte und radikal juden- und serbenfeindlich eingestellt war. Im Sommer 1941 kam es zu einer großangelegten Verfolgungswelle der „Ustascha” 143
gegen Juden und Serben, Massenmorde fanden statt, die Überlebenden wurden nach Serbien vertrieben. (48) In Serbien bildete sich nach der Kapitulation der serbischen Armee eine Freischärler-Organisation, die „Cetnici” unter General Mihailovici, die den Kampf gegen die deutsche Besatzung aufnahm. Mihailovici bekannte sich zu dem in britischem Exil lebenden König Peter von Jugoslawien. Die in der Zeit zwischen dem Ende des Jugoslawienfeldzuges und Beginn des Rußlandfeldzuges eingeleiteten Maßnahmen volkspolitischer Art durch Aussiedlung der Slowenen aus der Untersteiermark, Umsiedlung deutscher und serbischer Volksteile in verschiedene Räume des deutschen Herrschaftsbereiches haben erheblich dazu beigetragen, daß in der Steiermark die Widerstands- und Partisanentätigkeit besonders stark werden konnte. Diese Vorgänge hat Stefan Karner anhand zahlreicher Quellen untersucht (l20): „Mitte April 1941 betraute Adolf Hitler den Gauleiter von Steiermark, Dr. Siegfried Uiberreither, und den stellvertretenden Gauleiter von Kärnten, Franz Kutschera, mit der zivilen Verwaltung der besetzten Gebiete und machte ihnen die ,Eindeutschung‘ des Landes zur unbedingten Pflicht... Die Wichtigkeit und Vordringlichkeit des Führerbefehls zur ,Eindeutschung der besetzten Gebiete‘ kommt auch in einem Brief des Reichsleiters Martin Bormann an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, zum Ausdruck. Darin heißt es: ,Damit Gauleiter Dr. Uiberreither und stellvertretender Gauleiter Kutschera die neuen deutschen Gebiete mit der notwendigen Gründlichkeit und Schnelligkeit einzudeutschen vermögen, sollen für sie die gleichen Vollmachten gelten, die der Führer den Gauleitern Wagner (Baden) und Joseph Bürkel (Lothringen) einräumte.‘” An dieser Stelle ist zu bemerken, daß Martin Bormann die von Adolf Hitler angeordneten Umsiedlungen bzw. die „Eindeutschungen” mit der notwendigen Gründlichkeit und Schnelligkeit voranzutreiben bestrebt war. In der Praxis haben sich diese Methoden als ein verhängnisvoller Bumerang erwiesen, wie später noch ausgeführt werden wird. 144
Stefan Karner (120) teilt ferner mit: „Schon am 6. Oktober 1939 hatte Adolf Hitler eine aufsehenerregende Rede gehalten, in der er den zwischenstaatlich organisierten Bevölkerungsaustausch als Mittel einer Politik empfahl, die Nationalitätskonflikte beseitigen und eine ,neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse‘ in Europa herbeiführen sollte. Daher wurden Anfang Mai 1941 ... die ausgearbeiteten Pläne für die Aussiedlung von Slowenen aus der Untersteiermark, aus Oberkrain und dem Mießtal realisiert... Die beabsichtigten Maßnahmen wurden unter der Bevölkerung rasch publik und riefen sofort Angst und Widerstand hervor. Selbst Sympathisanten des NS-Systems und höhere Parteiangehörige wandten sich gegen die wirklichkeitsfremde Rassenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den slawischen Nationalitäten. In einer Denkschrift an Himmler und Göring schilderte am 9. Juli 1941 der ... SA-Sturmbannführer Dr. Kaltenegger offen und tatsachengetreu die Lage in Oberkrain, die ebenso auf die Untersteiermark zutrifft ... ,Mit Entsetzen sieht der Kenner die Entwicklung, wie die Stimmung, die beim Einmarsch unserer sehnsüchtig erwarteten Truppen zu 99 Prozent für uns war, infolge verkehrter Maßnahmen ins Gegenteil umgewandelt worden ist. Der Führer wäre entsetzt, wenn er wüßte, was auf Grund seines Auftrages, dieses Land wieder deutsch zu machen, hier geschieht, wie Härte, die notwendig ist, in Grausamkeit und — leider — auch in Willkür verwandelt wird... Jetzt ist eine Stimmung gegen uns da, die Serbien in 23 Jahren nicht hat erzeugen können. Wir haben es in knapp zwei Monaten geschafft! ... Ich bin nicht Anwalt der Slowenen, sondern Anwalt der Ehre des Deutschtums und unserer Bewegung...'” (Kursiv v. Verf.) Stefan Karner (120) fährt fort: „Viele Menschen, die eine Aussiedlung befürchteten, wandten sich in ihrer Verzweiflung an die offiziellen Parteistellen des Gaues, oder, wie das Beispiel der Bauern des Kreises Rann zeigt, sogar an Adolf Hitler. Freilich hatten solche Petitionen keine Aussicht auf Erfolg. 145
,Telegramm der Ranner Bauern vom 27. Oktober 1941: Telegramm aus Gurkfeld 101/99 W 27 12.00 An unseren Führer und Reichskanzler Adolf Hitler Führerhauptquartier Berlin Im Namen der ihre Heimatscholle liebenden bäuerlichen Bewohner des südlichen Savetales der Untersteiermark, die jetzt plötzlich ihre Heimat verlassen müssen und in andere Gegenden Deutschlands umgesiedelt werden, wenden wir uns flehentlich an Sie, lieber Führer, mit der Bitte, uns auf unserer Scholle weiterleben zu lassen, mit dem tiefsten Versprechen, ehrliche Deutsche werden zu wollen und unsere Kinder nur in Ihrem Sinne zu erziehen. Die plötzlich hereingebrochene Not zwingt uns, uns mit dieser Bitte an Sie als den einzigen Helfer zu wenden. Die Bauern des Kreises Rann an der Save Untersteiermark.‘ Trotz mehrerer ähnlicher Denkschriften und Petitionen wurde die Aussiedlung der slowenischen Bevölkerung weiter nach Plan betrieben. Sie erfolgte seit Mai 1941 hauptsächlich in drei Wellen ... Die Aussiedlung einer so großen Anzahl von Personen und die inzwischen verstärkte Partisanentätigkeit zeitigten naturgemäß schon sehr bald ihre Wirkung in den betroffenen Gebieten. Täglich liefen bei den Partei- und Rüstungsdienststellen Meldungen über Sabotage, Plünderungen und Morde ein. Nach dem Kriegsbeginn mit der Sowjetunion ließ auch die Arbeitsdisziplin in den Rüstungsbetrieben nach ... denen dadurch schwere Verluste erwuchsen — Aus zahlreichen Berichten von Umsiedlern ist außerdem zu ersehen, daß auch die umgesiedelten Volksdeutschen in zunehmendem Maße mit ihrer Lage unzufriedener wurden ... Beide volkspolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten, Um- und Aussiedlung, trugen jedenfalls wesentlich dazu bei, daß in der Steiermark die Widerstands- und Partisanentätigkeit in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges besonders stark werden konnte.” 146
Damit erhielt die Partisanenrekrutierung in Jugoslawien erneut Verstärkung; zunächst war es General Mihailovici, der sich dieser Verzweifelten und Heimatvertriebenen annahm, die er den „Cetnici” zuführte. Im Vergleich mit den, seit dem Beginn des Rußlandfeldzuges (22. Juni 1941) neu erschienenen, TitoBrigaden empfand Mihailovici die Deutschen als „das kleinere Übel”. Daraus erklärt sich offenbar seine Bereitschaft, den Kampf gegen die deutschen Truppen bald einzustellen. Sicher glaubte er, in dem im spanischen Bürgerkrieg geschulten Tito einem gefährlicheren Feind gegenüberzustehen. Seine Bereitschaft zu einem Waffenstillstand wurde aber von Adolf Hitler verworfen. Wie sich diese Ereignisse vollzogen, berichtet Paul Leverkuehn(88): „Der die Verhandlungen führende Kommandeur des 4. Regiments Brandenburg wurde vorübergehend dienstenthoben und die beiden Stabschefs von Mihailovici, Dyuresetsch und Pugowitsch, wurden unter Bruch gegebener Versprechungen durch SD-Einsatzkommandos verhaftet und verschleppt... Das Eingehen auf das Angebot Mihailovici's hätte den Schwerpunkt der Bekämpfung Tito's auf die deutsche Seite verlagert und mit großer Wahrscheinlichkeit zur Vernichtung der Tito-Brigaden geführt. Die nach der Verhaftung der beiden Stabschefs und dem Abbruch der Beziehung zu Mihailovici durchgeführten und zum Teil von der SS-Division ,Prinz Eugen‘ mit größter Brutalität veranlaßten Entwaffnungen der alt-serbischen und montenegrinischen Bergbevölkerung zerschlug zwar die Cetnici-Bewegung Mihailovici's, führte aber Tito im entscheidenden Augenblick zebntausende neuer Partisanen zu” (Kursiv v. Verf.) Bekanntlich wurden alle Gauleiter des Dritten Reiches, so auch Dr. Siegfried Uiberreither für die Steiermark, sowie Franz Kutschera und Friedrich Rainer für Kärnten, durch die Parteikanzlei Martin Bormanns straff geführt. Martin Bormann brachte durch seine zahlreichen und regelmäßigen Rundschreiben an die Gauleitungen diesen seine Anordnungen zur Kenntnis, die auf mündliche Äußerungen Adolf Hitlers gestützt waren und als „Parteibefehle des Führers” hinausgegangen sind. Hinzu kamen die „Vertraulichen Informationen”, die die Gauleiter über alle wis147
senswerten Fragen auf dem gesamten politischen Gebiet sowie über Maßnahmen auf dem staatlichen und wirtschaftlichen Sektor unterrichteten. Durch diese Mitteilungen und die anfallende Korrespondenz wurden die früher üblichen Vorsprachen der Gauleiter im Hauptquartier Adolf Hitlers überflüssig. Im Kriege war es für Martin Bormann leicht, Aussprachen dieser Art, auch als dringlich bezeichnete, zu verhindern, indem er „Überlastung” vorgab (89). Dabei kam es so weit, daß zwei Gauleiter General Guderian ersuchten, ihnen eine Vorsprache bei Adolf Hitler zu ermöglichen — so hoch war Bormanns „Sperrmauer” um das Staatsoberhaupt inzwischen geworden. Guderian schreibt (33): „Bormann verhinderte, daß Hitler über die innenpolitische Lage zutreffend unterrichtet wurde. Er verwehrte den Gauleitern sogar den Zutritt zu Hitler. So begegnete mir die Groteske, daß Gauleiter — vor allem Forster von Westpreußen und Greiser vom Warthegau — zu mir, dem mit Mißtrauen betrachteten Soldaten kamen und mich baten, ihnen zu einem Vortrag bei Hitler zu verhelfen, weil sie auf dem vorgeschriebenen Parteiweg über Bormann nicht an ihren Führer herankamen.” Martin Bormann maß einer ständigen und zuverlässigen Nachrichtenübermittlung zwischen der Parteikanzlei und den Gauleitern solche Bedeutung bei, daß er ein Fernschreibnetz — das sogenannte „Gauleiternetz” — errichten ließ und nach dem 20. Juli 1944 durch ein Funknetz erweiterte (5). Demnach erfolgte die Befehlsübermittlung aus Martin Bormanns Parteikanzlei an die Gauleiter mit Hilfe drahtgebundener bzw. drahtloser Nachrichtenmittel. Es ist jedoch schwer verständlich, wie es möglich war, daß die Gauleiter der beiden südlichen Grenzgaue, der Steiermark und Kärnten, diese Gebietserweiterung auf Kosten des jugoslawischen Landesteiles Slowenien vornehmen konnten. Walter Hagen (49) begründet diese Ausdehnung mit den alten Grenzen aus der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und erklärt die Vertreibung der Slowenen aus diesen Gebieten mit der „Sucht der zuständigen Gauleiter, ihren Gau möglichst schnell von völkischen Minderheiten zu entlasten ...” 148
Es ist undenkbar, daß die Gauleiter solche Gewaltmaßnahmen von sich aus angeordnet haben, viel eher sind diese Vertreibungen den Gauleitern aus der Parteikanzlei befohlen worden. Es ist auch undenkbar, daß diese Maßnahmen ohne Wissen oder gar gegen den Willen Martin Bormanns durchgeführt wurden. Wie weit Martin Bormann auch hier seine Hand im Spiele hatte, kann anhand der vorliegenden Quellen nicht eindeutig ermittelt werden. Die geschilderten Maßnahmen und Ereignisse im jugoslawischen Raum waren gut geeignet, wenige Wochen vor Beginn des Rußlandfeldzuges (22. Juni 1941) einen Unruheherd zu schaffen, in dem durch geschickte Führung militärische Kräfte gebunden wurden, die der Wehrmacht im Ostfeldzug bis Kriegsende fehlten. Im weiteren Verlauf der Partisanentätigkeit trat eine Machtverschiebung zugunsten Titos ein. Diese wird durch die Unterstützung Englands und Amerikas erklärt, die für Tito in dem Maße zunahm, in dem sie für General Mihailovici verringert wurde. Ohne die westliche Militärhilfe wäre Titos Partisanenkampf im Jahre 1943 zusammengebrochen. Noch in demselben Jahre nahm Tito auf dem Wege über einen Gefangenen- und Verwundetenaustausch Verbindung mit General Glaise v. Horstenau, dem deutschen General in Agram, auf. Dieser wurde eines Tages von einem Waffenstillstandsangebot Titos überrascht; darauf einzugehen, ging über die Befugnisse Glaise v. Horstenaus hinaus. Er wandte sich, in richtiger Einschätzung der Beurteilung solcher Angelegenheiten durch das Oberkommando der Wehrmacht bzw. durch das Auswärtige Amt, weder an Keitel oder v. Ribbentrop, sondern an Himmler, in der Hoffnung, daß dieser die Sachlage an Adolf Hitler heranbringen werde. Wenig später kam ein erweitertes Angebot Titos an Glaise v. Horstenau, der zu diesen Verhandlungen einen Vertreter des Auswärtigen Amtes hinzugezogen hatte. Darin unterbreitete Tito der deutschen Führung offiziell das Angebot, im Falle einer englisch-amerikanischen Landung an der jugoslawischen Westküste, mit den in Kroatien stehenden deutschen Divi149
sionen gemeinsam gegen die gelandeten Anglo-Amerikaner vorzugehen. Weil Himmler schon beim ersten Angebot Titos nicht in der Lage gewesen war, eine Entscheidung herbeizuführen, wandte sich General v. Horstenau mit dem Vertreter des Auswärtigen Amtes direkt an Ribbentrop, der bei Adolf Hitler vorstellig wurde. „Die Antwort war von lakonischer Kürze”, schreibt Walter Hagen (49), „Hitler ließ wörtlich mitteilen: ,Mit Rebellen wird nicht verhandelt. Rebellen werden erschossen.‘” Diese Bereitschaft Titos, seine Brigaden Schulter an Schulter mit deutschen Divisionen gegen seine Verbündeten, gegen Engländer und Amerikaner, kämpfen zu lassen, erscheint so absurd, daß es einer glaubhaften Erklärung dafür bedarf. Eine solche Erklärung gibt Walter Hagen (49) dafür, die als Primärquelle gewertet werden kann. Demnach hatten deutsche militärische Stellen mit dem Geheimdienst den Funkverkehr Titos abgehört und entschlüsselt. Unter den Funksprüchen Titos befanden sich auch solche, in denen ,von einer bevorstehenden Landung englisch-amerikanischer Streitkräfte an der jugoslawischen Adriaküste‘ die Rede war. Zu der gleichen Zeit nahm der ungarische Geheimdienst bei Fünfkirchen einen Kurier gefangen, der aussagte, „daß er Tito folgende Befehle Stalins zu überbringen habe: Der Kreml habe vertraulich in Erfahrung gebracht, daß es Churchill gelungen sei, Roosevelt zu überreden, gegen die bestehenden Abmachungen mit Moskau nun doch eine Landung an der Adriaküste zu unternehmen. Sollte es dazu kommen, so ermächtige er, Stalin, Tito ausdrücklich dazu, gemeinsam mit den deutschen Truppen gegen die englischen und amerikanischen Landungseinheiten militärisch vorzugehen; mit der Aufnahme einer Verbindung zu einer deutschen militärischen Stelle in Agram erklärte er sich einverstanden ...” Wenn Martin Bormann der Agent Stalins im Hauptquartier Adolf Hitlers gewesen war — so kann man jetzt fragen — warum hat er dann den Führer nicht dem Wunsche Stalins gemäß beeinflußt, mit Tito gemeinsame Sache gegen die Anglo-Amerikaner zu machen? Eine solche „Panne” kann durch fehlerhafte 150
Nachrichtenübermittlung entstanden sein. Anscheinend besteht hier eine Dunkelzone. Bekanntlich können geschichtliche Ereignisse nicht nur mit angemessenem Zeitabstand, sondern auch aus ihrer Zeit heraus betrachtet, später beurteilt werden. Die Rote Armee hatte seit Kriegsbeginn furchtbare Schläge erlitten. Die Materialverluste konnten, trotz der Entfernungen, durch die amerikanische Waffenhilfe weitgehend ausgeglichen werden, die Menschenverluste dagegen nicht. Generalissimus Stalin befand sich trotz der Einnahme Stalingrads im Februar 1943 immer noch in Bedrängnis. Daher seine ständigen Rufe nach der „Zweiten Front”, nach der Invasion der Anglo-Amerikaner an der französischen Atlantikküste. Es wäre dadurch die Verlegung deutscher Truppen aus Rußland an den Atlantik notwendig geworden und die sowjetrussische Westfront hätte eine fühlbare Entlastung erfahren. Aber die Invasion erfolgte noch nicht, sie begann erst am 6. Juni 1944. Ob Stalin ernsthaft an einen Waffenstillstand auf dem Nebenkriegsschauplatz Jugoslawien dachte, kann angenommen werden. Für seine politische Planung wäre eine Landung der Westalliierten auf der Balkanhalbinsel äußerst hinderlich gewesen. Daher mußte sie um jeden Preis, notfalls mit Waffengewalt, selbst mit Waffenhilfe der Partisanen Titos, verhindert werden. Stalin unterhielt gewiß mehrere Nachrichtenwege mit Tito. Auf einem dieser Wege begab sich der oben erwähnte Kurier zu Tito. Er wurde aber bei Fünfkirchen in Ungarn abgefangen. Der Darstellung Walter Hagens (49) kann nicht entnommen werden, ob er seine Angaben unter Zwang oder freiwillig gemacht hat. Laut dem umfassenden Werk über „Die Sowjetspionage” von David Dallin (18) ist dem „konspirativen Agenten” befohlen, sich eher zu Tode foltern zu lassen oder Gift zu nehmen, als eine Aussage zu machen. Der Kurier, der diese hochwichtigen politischen Nachrichten und Befehle zu überbringen hatte, kann kein unbedeutender Mann gewesen sein. Wenn trotzdem diese Informationen Stalins der ungarischen Abwehr in die Hände gefallen sind, dann kann angenommen werden, daß sie den Ungarn in die Hände fallen sollten, weil sie von dort mit Sicherheit und wunschgemäß an deutsche Stellen weitergelei151
tet wurden. Vielleicht sollten auf diesem Umweg auch die englischen und amerikanischen Geheimdienste von den möglichen Absichten eines im Stich gelassenen Stalin oder auch Tito unterrichtet werden, um so einen Druck auf die Westalliierten auszuüben, die Invasionsvorbereitungen zu beschleunigen. Das genaue Datum der Gefangennahme dieses Kuriers ist nicht bekannt. Am 10. Mai 1941 war Rudolf Heß nach England geflogen, um dort, wie von Stalin jahrelang irrtümlich angenommen wurde, einen Sonderfrieden zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien in die Wege zu leiten. Möglicherweise hat der späte Invasionsbeginn Stalin in dieser Ansicht bestärkt. Sicher ist, daß die Vernehmung des gefangenen Kuriers von einem ungarischen Hauptmann, Zoltán Gát, durchgeführt wurde, der schon früher so gute Aufklärungsarbeit geleistet hatte, daß diese jeder Überprüfung standhielten. Wenn er auch für die Gegenseite tätig war, dann kann es sich um „Spielmaterial‘ gehandelt haben, um ihn vertrauenswürdig zu machen. Diese Ansicht gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn in Betracht gezogen wird, daß dieser Hauptmann später zu Tito übertrat, Generalmajor und Leiter des Nachrichtendienstes der ungarischen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg wurde und ihm die weltanschauliche Ausbildung der jungen Offiziere der Budapester Kossuth-Akademie anvertraut war (49).
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ZWÖLFTES KAPITEL Rommels Denkschrift an Hitler — Bormanns Rolle — Funkspiel mit Moskau unter Gestapo-Müllers und Bormanns Mitwirkung — Funkabwehr wird stutzig — Gründe, die Canaris an Bormanns Verrat glauben ließen — „Frontwechsel” Gestapo-Müllers — Warum blieben Müller und Bormann im eingeschlossenen Berlin? Das Abklingen der Sondermeldungen, die mit Fanfarenklängen eingeleitet wurden und in denen von Siegen großen Stiles im Osten und in Afrika berichtet wurde, machte das deutsche Volk nachdenklich. Erst sickerten Gerüchte, dann immer mehr Nachrichten von deutschen Verlusten und Niederlagen in die Heimat ein. Besser unterrichtet waren die höheren Stellen der Wehrmacht. Die begreiflicherweise entstehenden Sorgen verantwortungsbewußter Offiziere fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Denkschriften, die im 9. Kapitel gestreift wurden. Auch Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der nach dem verlorenen Afrika-Feldzug als Oberbefehlshaber West nach Frankreich kommandiert worden war und nach der Landung der Alliierten gegen die feindliche Übermacht in schwerem Ringen stand, verfaßte ebenfalls eine Denkschrift an Adolf Hitler. Darüber schreibt Gert Buchheit (90): „In unzweideutiger, scharfer Form verfaßte der Feldmarschall am 14. Juli” (1944) „sein Schreiben an Hitler, ohne jede Rücksicht auf die Folgen, die solche Offenheit nach sich ziehen konnte. Er stellte in dieser letzten Mahnung fest, daß die Lage an der Front sich der entscheidenden Krise nähere ... Die Versorgung der Truppe mit Munition, Treibstoff und Material aller Art sei völlig unzureichend... Die wenigen neu eintreffenden Divisionen besäßen, abgesehen von ihrer mangelhaften Ausrüstung, keine Fronterfahrung... Unter diesen Umständen muß damit gerechnet werden, daß es dem Feind in absehbarer Zeit — 14 Tage bis drei Wochen — gelingt, die dünne eigene Front... zu durchbrechen und in die Weiten des französischen Raumes durchzustoßen. Die Folgen werden unabsehbar sein... Die Truppe 153
kämpft allerorten heldenmütig, jedoch der ungleiche Kampf neigt dem Ende zu. Der Feldmarschall schloß mit dem eigenhändigen Zusatz: ,lch muß Sie bitten, die politischen Folgerungen aus dieser Lage unverzüglich zu ziehen. Ich fühle mich verpflichtet, als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe dies klar auszusprechen. Rommel, Generalfeldmarschall.‘ Auf Speidels Rat hin wurde das Wort ,politisch' gestrichen, da die ,Folgerungen‘ nicht auf das Politische begrenzt bleiben, sondern alles in sich schließen sollten. Auch hätte das Wort ,politisch‘ auf den überempfindlichen Hitler zweifellos wie eine Herausforderung gewirkt... In früheren Zeiten war es eine verantwortungsbewußte Führung, die rechtzeitig die Folgerungen aus einer unabwendbaren Niederlage gezogen hat. Im Zweiten Weltkrieg blieb es dem Feldmarschall Rommel beschieden, den Führer des Großdeutschen Reiches daran zu erinnern, daß es ein Verbrechen war, einen Krieg mit einer Armee weiterzuführen, die aufgehört hatte, eine Armee zu sein, weil sie der gewaltigen materiellen und personellen Übermacht des Gegners nicht mehr gewachsen war ...” Drei Tage nachher, am 17. Juli 1944 wurde Rommel auf einer Frontfahrt bei einem Angriff britischer Jagdflieger schwer verwundet. Er wurde in einem Lazarett bei Paris behandelt. Nachdem er wieder einigermaßen hergestellt war, begab er sich in den Kreis seiner Familie nach Herrlingen bei Ulm. Darüber Gert Buchheit (90): „Eines Tages — es war Anfang Oktober —” (1944) „äußerte er zu einem alten Freund und Regimentskameraden mit ruhiger Bestimmtheit, daß seine Tage gezählt seien. Und als dieser es für unmöglich erklärte, daß Hitler sich auch an ihm vergreifen werde, bemerkte Rommel: ,Doch, er will mich beseitigen. Die Gründe sind mein Ultimatum vom 15. Juli” (1944, am 14. 7. 1944 verfaßt, am 15. 7. 1944 abgesandt) „meine offene, ehrliche Sprache, überhaupt die Vorgänge des 20. Juli und die Meldung von Partei und Sicherheitsdienst.” Über die Tage der Genesung Rommels in Herrlingen schreibt Eberhard Zeller in seinem Buch „Geist der Freiheit”, Ausgabe 1952: 154
„Nichts deutete in der ersten Zeit darauf hin, daß Rommel in die Verfolgung” (der Verschwörer des 20. Juli 1944) „einbezogen werde: es war nicht weiter auffällig, daß ihn Beauftragte Bormanns in seinem Albtal, wohin sich der Schwerverwundete hatte bringen lassen, dauernd zu beobachten hatten.” (91) Es überrascht, daß Eberhard Zeller in der dritten Auflage seines Buches „Geist der Freiheit” (1963) für denselben Sachverhalt eine neue Formulierung gewählt hat. Er schreibt: „Es schien nicht weiter auffällig, daß Beauftragte der Partei sein Ergehen zu beobachten hatten.” Die Gründe, die elf Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage des vorliegenden Buches von Eberhard Zeller maßgebend waren, in der dritten Auflage (1963) den Namen „Bormann” durch „Partei” zu ersetzen, sind nirgends vermerkt (92). Wenige Tage nach der vorstehend zitierten Äußerung Rommels zu seinem Freund und Regimentskameraden berichtete Martin Bormann — nach Gert Buchheit „Hitler der Feldherr” — „... wie seit dem Attentatstag üblich, dem Führer über den Verlauf der letzten Exekutionen. Dabei wurde zweifellos auch von Rommel gesprochen, denn unmittelbar nach Bormanns Vortrag fand eine Besprechung bei Hitler statt, an der auch Keitel, Himmler und General Burgdorf teilnahmen. Was damals besprochen wurde, wissen wir nicht, denn keiner der Beteiligten ist mehr am Leben. Es steht jedoch einwandfrei fest, daß Rommel am 7. Oktober” (1944) „durch Fernspruch auf den 10. Oktober nach Berlin befohlen wurde. Auf eine telefonische Rückfrage Rommels hin, teilte ihm General Burgdorf mit, Keitel wolle mit ihm über seine künftige Verwendung sprechen. Auf Anraten der Ärzte lehnte Rommel die Fahrt nach Berlin ab. Er mochte geahnt haben, daß man ihn in einem der üblichen Schauprozesse ‚verwenden‘ wollte.” (90) Der weitere Hergang ist oft geschildert worden: Am 14. Oktober 1944 erschienen auf Befehl Adolf Hitlers die Generäle Burgdorf und Meisel bei Rommel. Nach einstündiger Unterredung verließen sie das Haus und erwarteten Rommel im Garten. Rommel trat jetzt vor seine Frau und sagte zu ihr, daß er in 155
einer Viertelstunde tot sein werde. Er schilderte, daß er der Mitbeteiligung am 20. Juli beschuldigt werde. Hitler stelle ihn vor die Wahl, sich entweder zu vergiften oder vom Volksgerichtshof abgeurteilt zu werden. Er wählte das Gift, weil er überzeugt war, nie lebend in Berlin anzukommen und weil er seine Familie vor der üblichen Sippenhaft bewahren wollte. Dann verabschiedete er sich von seiner Frau und von seinem Sohn und von seinem Ordonnanzoffizier, der ihn zur Gegenwehr aufforderte. Rommel lehnte dieses ab, weil ihm bekannt war, daß die Ortsausgänge von Herrlingen und der Umgebung des Hauses von SS-Wachen mit Maschinenwaffen besetzt waren. Rommel fuhr um l Uhr mittags mit den beiden Abgesandten aus dem Hauptquartier Adolf Hitlers aus Herrlingen ab und eine halbe Stunde nachher übergaben sie den Vergifteten dem Chefarzt des Reservelazaretts Wagnerschule in Ulm, Dr. Mayer. Als Dr. Mayer eine Autopsie vornehmen wollte, untersagte ihm dieses General Burgdorf mit den Worten: „Berühren Sie den Leichnam nicht, alles ist von Berlin aus bereits geregelt.” Die Nachricht vom Ableben Generalfeldmarschalls Erwin Rommel hat Martin Bormann an Adolf Hitler während einer Besprechung überbracht. General Burgdorf, der ein Duzfreund Martin Bormanns war, überlebte diese Tat, zu der er sich hergegeben hatte, um sieben Monate. Er beging Selbstmord durch Gift, als die Spitzen der Roten Armee bereits in die unmittelbare Nähe des Bunkers der Reichskanzlei vorgestoßen waren. Wieder sind wir den Ereignissen vorausgeeilt, um Martin Bormanns Verhalten gegenüber den hohen Offizieren der Wehrmacht, die er gehaßt hat als „der ewige Widerpart des Heeres” (Guderian), deutlicher zu machen. Die meisten, die Martin Bormann näher kannten, schilderten ihn als nachtragend, besonders, wenn eine Meinungsverschiedenheit vorausgegangen war. Vielleicht hat Martin Bormann auch die vermeintliche Zurücksetzung zu Beginn des Polenfeldzuges General Rommel nachgetragen, über die im 7. Kapitel berichtet wurde. 156
Wir kommen jetzt auf ein Thema zu sprechen, über das verschiedenes geschrieben, aber wenig klares ausgesagt wurde. Es handelt sich um das sogenannte „Große Funkspiel” mit Moskau, auch „Aktion Bär” genannt, das zum Ziel hatte, Mißtrauen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zu säen, um auf diese Weise eine Entzweiung dieser Mächte zu bewirken. Der erste Verdacht Stalins, daß die Westmächte mit dem Dritten Reich zu einer Einigung kommen könnten, war durch die stark verzögerte anglo-amerikanische Invasion an der Atlantikküste rege geworden; auch der anfangs rätselhafte Flug von Rudolf Heß nach England bestärkte Stalin in dieser Auffassung. Der deutschen Funkabwehr gelang es 1942, des Personals mehrerer Sender der „Roten Kapelle” habhaft zu werden (13). Zunächst wurde mit einigen dieser Sender, deren Funker „umgedreht” worden waren, ein Funkspiel betrieben, mit dem Ziel, tiefer in die Organisation der „Roten Kapelle” einzudringen. Erst später ging man dazu über, durch Lieferung bestimmter Informationen — auch Spielmaterial genannt — für die Deutschen und zugleich gegen die Sowjets zu arbeiten. Dafür wurde mit Wissen Adolf Hitlers und auf Befehl Himmlers ein „Sonderkommando” aufgestellt, dessen Existenz nur einem ganz kleinen Kreis Eingeweihter bekannt war. Um die Glaubwürdigkeit der ausgestrahlten Informationen zu erhöhen, war „gutes Spielmaterial”, also den Tatsachen entsprechende Nachrichten, grundsätzlich erforderlich (13). Für das technische Gelingen dieses Funkspieles waren der Chef der Geheimen Staatspolizei, Heinrich Müller, und sein enger Mitarbeiter, Kriminalrat Scholz, von Anfang an verantwortlich. Die Beschaffung der zu sendenden Nachrichten, des „Spielmaterials”, erfolgte durch Himmler. Dabei kam es mit einzelnen Ministerien, vor allem mit dem Auswärtigen Amt v. Ribbentrops zu Meinungsverschiedenheiten, die nur von Adolf Hitler beigelegt werden konnten (13). Zur Beseitigung dieser Unstimmigkeiten beauftragte Adolf Hitler in der Folge Martin Bormann mit der Weiterführung des „Großen Spiels” („Aktion Bär”). Darüber Klaus Benzing (13): „Auf Hitlers ausdrücklichen Befehl kümmerte er” (Martin 157
Bormann) „sich persönlich darum, ohne sich von einem Mitarbeiter oder einer Sekretärin helfen zu lassen. Außer dem Gestapochef Heinrich Müller waren nur Ribbentrop und einige besonders ausgesuchte Fachleute eingeweiht. Die Akten wurden in einem riesigen Panzerschrank unter Verschluß gehalten; Kennwort: ,Aktion Bär‘. Kraft der Vollmacht an Bormann konnte also von diesem Zeitpunkt an niemand die Durchgabe irgendwelcher Informationen über die Sender der ,Roten Kapelle‘ bemängeln oder verhindern. Mit wachsendem Erstaunen beobachtete die Funkabwehr der militärischen Abwehr unter Admiral Canaris nun dieses ,Große Spiel‘. Natürlich konnte man die einzelnen Meldungen entschlüsseln und stellte fest, daß sie keinesfalls mehr nur ,Spielmaterial', sondern exakte Meldungen über das deutsche Rüstungspotential, über strategische Planungen der Wehrmacht, sogar Verlustzahlen und Truppenbewegungen beinhalteten. Parallel zu dem ,Großen Spiel‘ Bormanns und Müllers über die ”(„umgedrehten”) „Sender der ,Roten Kapelle‘ registrierte die Funkabwehr des Amtes Ausland/Abwehr einen immer reger werdenden völlig unkontrollierten Sender, über den nur Martin Bormann verfügte. Bald konnte auch festgestellt werden, daß dieser Sender mit einem Sender in der Schweiz im Funkverkehr stand. Zunächst konnte man sich kein rechtes Bild bei der Abwehr machen und glaubte, daß es sich dabei noch immer um das ,Große Spiel‘ auf Himmlers Befehl handelte. Unter strengster Geheimhaltung wurden auf persönlichen Befehl Admiral Canaris' alle diese entschlüsselten Funksprüche gesammelt und darüber hinaus wichtige Aktenvorgänge über Martin Bormann angelegt. In Anbetracht der Wichtigkeit wurde diese Akte völlig gesondert aufbewahrt und befand sich zuletzt in Zossen. Eine Kopie davon wurde schon frühzeitig, ähnlich wie die Heydrich-Akte, nach Spanien ausgelagert ...‘ (Kursiv v. Verf.) Über Fragen des unkontrollierbaren Funkverkehrs im Krieg läßt Wilhelm Franz Flicke in seinem Buch „Agenten funken nach Moskau” (93) zwei Offiziere der Abwehr im Jahre 1948 sprechen: „Warum wurde trotz der ungeheuren Erfahrung der deut158
sehen Organe gerade bei dieser Gruppe” (Rado in der Schweiz) „der wichtigsten im ganzen Krieg, nie ein Übermittlungsweg aus Deutschland nach der Schweiz aufgedeckt? Wie war es möglich, daß nie einer der wichtigsten Informatoren der Gruppe Lucie” (Rößler) „festgestellt werden konnte? Hier stimmt etwas nicht. Sie wissen, daß General Fellgiebel im Jahre 1944 einen alten, erfahrenen Fachmann einsetzte, um an Hand des Materials, der Feststellungen der Agenten in der Schweiz und der entzifferten Funksprüche diejenigen Personen ausfindig zu machen, die als Informatoren Lucies und Pakbos, d. h. der Gruppe Rado, in Frage kommen könnten .. . Noch bevor der Versetzungsbefehl jenen Spezialisten erreichte, wurde er nach Frankreich dirigiert, mitten in den Invasionskessel hinein. Aber er kam heil daraus zurück. Inzwischen hatte das Attentat vom 20. Juli stattgefunden, Fellgiebel wurde hingerichtet. Und der erwähnte Fachmann bekam den Befehl, vor seiner Versetzung noch rasch einen sechswöchigen Lehrgang für Funkerinnen abzuhalten. Erst im November 1944 kam er an seinen Platz, der Versetzungsbefehl war ein halbes Jahr hinter ihm hergelaufen ... Nun wurden die längst abgelegten Rado-Akten plötzlich lebendig. Verschiedene Dienststellen brauchten sie plötzlich äußerst dringend. Kreuz und quer sausten sie herum, von einer Dienststelle zur anderen. Und die Zahl der entzifferten Funksprüche wurde immer kleiner. Die Pabko-Telegramme verschwanden, ebenso die Werther-Funksprüche, diejenigen von Olga, Anna usw. Zurück blieb unwesentliches Zeug... Als der Spezialist endlich im Januar 1945 die Reste der Akten beisammen hatte, begannen die Russen ihre letzte Offensive. Und als er sich eines Morgens die Akten wieder vornehmen wollte, waren sie fort; man hatte sie in der Nacht verbrannt, ,damit sie den Russen nicht in die Hände fallen‘.” Eine Antwort auf die vorliegenden Fragen gibt Klaus Benzing (13): „Müller als technischer Leiter des ,Großen Spiels‘, der ,Aktion Bär‘, und Bormann als derjenige, der die Funkmeldungen für die Spielsender besorgte, tendierten beide zum Bolschewismus. Zusammen mit den aufgefangenen Funksprüchen Bormanns über 159
den einzigen, nur von ihm kontrollierten Sender via Schweiz und anderen in der ,Akte Bormann‘ zusammengetragenen Tatsachen kam Admiral Canaris zu der Vermutung, daß Bormann ein Agent Moskaus gewesen sein könnte.” Die mit Verdachtsmomenten und Indizien begründeten Ansichten Klaus Benzings sind näherer Betrachtung wert, da sie durch die Memoiren Walter Hagens (49) und Walter Schellenbergs (16) gestützt werden; auch die Äußerungen Giles Perraults (36) sollen ergänzend verwendet werden. Walter Hagen (49) spricht von „Leuten, die Müller näher kannten und die behaupteten, daß er genau so, wie er einst der Bayerischen Volkspartei bis 1933 und dann dem NS-Regime bis 1945 gedient hatte, er genau so für irgend ein beliebiges anderes System zuverlässiger Polizeibüttel werden könnte”. Walter Hagen fährt fort: „Es wird von Bekannten Müllers sogar behauptet, daß dieser bereits seit Ende 1944 in Verbindung mit den Sowjets gestanden habe und daß es ihm gelungen sei, nach dem deutschen Zusammenbruch zu den Russen überzulaufen. Diese Version ist keineswegs phantastisch. Die Geheime Staatspolizei hatte eine eigene Abteilung, die sich damit befaßte, die Funkapparate von gefangengenommenen sowjetischen Agenten weiterzubedienen, so als ob der betreffende Funker noch in Freiheit wäre ... Es ist nun keineswegs ausgeschlossen, daß Müller durch vertraute Mitarbeiter in der betreffenden Abteilung seines Apparates eine dieser zahlreichen Funklinien benutzte, um schon vor dem Zusammenbruch Kontakt mit den Sowjets aufzunehmen, ja, um ihnen echte Nachrichten zu liefern. So wäre es denkbar, daß Müller wirklich die Front gewechselt und sich den Sowjets zur Verfügung gestellt hätte ... Müller konnten die Bolschewisten gebrauchen. Ein Mann, der viele Jahre lang an der Spitze der deutschen Geheimen Staatspolizei gestanden ist und der zur Zeit der größten deutschen Machtausdehnung mit seiner Polizei fast ganz Europa beherrschte, hat den Russen ein ungemein wertvolles Kapital zu bieten: sein enormes Wissen. Müller war immer schon wegen seines phänomenalen Gedächtnisses berühmt; er konnte aus dem 160
Kopf die Namen der kleinsten Agenten in irgendeiner fernen Stadt im Ausland hersagen. Es gibt gewiß keinen Polizeifachmann, ... der einen ähnlich tiefen Einblick in die politischen Affären hatte, deren Kenntnis auch heute noch von aktueller Bedeutung ist. So kann man es nicht von vorneherein als undenkbar erklären, daß Müller tatsächlich in russischen Diensten steht. Freilich gibt es keine Beweise dafür, zumindest zur Zeit noch nicht; was feststeht ist nur, daß er nach dem Tode Hitlers mit seinem vertrauten Freund Scholz aus der Reichskanzlei verschwand und seither nie mehr gesehen wurde. Dieser Scholz war aber jener Mann, der im Auftrag Müllers die besagten ,Funkspiele' leitete. Es bleibt der Beurteilung jedes einzelnen überlassen, ob darin ein Zufall oder eine Absicht zu erblicken ist.” (Hervorhebung v. Verf.) Während Walter Hagen — bezüglich der Funksprüche — Martin Bormann deckt, indem er ihn, trotz seines Wissens, in seinem Buch kaum erwähnt, etwa so, als ob er eine ganz bedeutungslose Rolle gespielt hätte, ist ein anderer Zeuge aus dem höheren SS-Bereich, Walter Schellenberg, in dieser Hinsicht erheblich offener. Martin Bormanns Wirken um Heydrich hat Schellenberg eingehend behandelt, ebenso Martin Bormanns geschickte Taktik beim Vortrag von Sachverhalten. „Während Bormann und Himmler recht gegensätzliche Erscheinungen waren, kam Bormann nicht nur im Äußeren, sondern auch im Charakterbild einem anderen schon geschilderten Typ sehr nahe. Ich meine Müller. Wegen der erstaunlichen Kehrtwendung, die dieser Mann machte, muß ich noch einmal ausführlicher auf ihn zurückkommen.” Schellenberg schreibt, daß Müller sich während der Enttarnung der „Roten Kapelle” immer mehr von der Arbeit gegen den sowjetischen Geheimdienst distanzierte. Im Jahre 1943 sprach Müller in angeheitertem Zustand mit Schellenberg, wobei er ausführte, daß ihn die Verratsfälle der »Roten Kapelle” zu der Erkenntnis geführt hätten, daß der sowjetische Einfluß in Westeuropa nicht nur die kommunistisch eingestellten Arbeiterkreise, sondern auch die geistig-intellektuelle Schicht der Völker erfaßt habe, was zwangsläufig aus der Situation des Zeitalters erwachse. 161
„Unsere intellektuelle Oberschicht”, fuhr Müller fort, „mit ihrer unklaren Geisteshaltung hat der Nationalsozialismus nicht umzuformen vermocht und in dieses Vakuum stößt nun der kommunistische Osten. Wenn wir den Krieg verlieren, so ist dies nicht so sehr eine Frage der militärischen Stärke der Russen, wie vielmehr eine Frage des geistigen Potentials unserer Führungsschicht ... Ich kann mir nicht helfen, doch ich neige immer mehr zu der Überzeugung, daß Stalin auf dem richtigen Weg ist. Er ist der westlichen Staatsführung haushoch überlegen und wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würden wir uns schleunigst mit ihm arrangieren —” „Es war mir jetzt klar”, berichtet Schellenberg weiter, „daß Müller einen totalen Frontwechsel vollzogen hatte und nicht mehr an den Sieg Deutschlands glaubte. Seitdem hatte ich verstärkte Anhaltspunkte dafür, daß er mit dem sowjetischen Geheimdienst in Verbindung stand. Es überraschte mich deshalb auch nicht, als mir im Jahre 1950 ein aus russischer Gefangenschaft zurückkehrender Offizier berichtete, Müller sei 1945 zu den Sowjets übergewechselt. Er habe ihn 1948 in Moskau gesehen und später gehört, daß er kurze Zeit darauf gestorben sei.” Der französische Rechtsanwalt Giles Perrault (36) baut auf Walter Hagen und Walter Schellenberg auf, wobei er neue Erkenntnisse hinzufügt. Er schreibt: „Müller und Bormann hatten vieles gemeinsam. Sie waren beide Machtmenschen, hatten beide das gleiche Ziel vor Augen und wandten beide die gleichen Mittel an, um es zu erreichen; sie waren beide beseelt von der Leidenschaft für die Macht an sich, nicht für die Macht als Mittel zum Zweck... zwei Apparatschiks, wie die Russen sagen, geschickt in der Kunst, auf unauffällige aber geschickte Weise, wirksam die Hebel der Macht in die Hand zu bekommen —” Giles Perrault schreibt weiter: „Gestapo-Müller hat sich nicht im Bunker der Reichskanzlei installiert. Er kommt regelmäßig zum Rapport, kehrt dann aber spfort in die Kurfürstenstraße zurück, wohin die Gestapo gezogen ist, nachdem ihr Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße ausgebombt wurde. Der unterirdische Bunker dort ist ebenso 162
bombensicher wie der in der Reichskanzlei, ja, er bietet darüber hinaus noch einige weitere, nicht zu unterschätzende Vorteile: Die Geheimräume, in die man durch geschickt verborgene Türen gelangt, sind für einen langen Aufenthalt mit elektrischem Licht und mit fließendem Wasser ausgestattet worden. LebensrnittelVorräte und Medikamente sind vorhanden. Mehrere Gänge — einer davon ist anderthalb Kilometer lang — führen in verschiedenen Richtungen zu Notausstiegen auf Trümmergrundstücken ... Seit Berlin eingeschlossen ist, lebt Müller hier zusammen mit seinem getreuen Mitarbeiter Scholz, der unter Müllers Führung die Verantwortung für das technische Funktionieren des Funkspiels übernommen hatte.” Schellenberg versicherte — so teilt Giles Perrault weiter mit —, „Müller habe noch von seinem ,Fuchsbau‘ aus der Kurfürstenstraße mit den Russen in Funkverbindung gestanden. Sollte Müller wirklich seine Sendungen vom ,Fuchsbau‘ aus noch weitergeführt haben, gewinnen Schellenbergs Behauptungen erheblich an Gewicht, denn welcher Mann mit gesundem Menschenverstand — und Müller war ein kühl denkender Realist — würde noch einige Tage vor dem endgültigen Zusammenbruch versuchen, mit einem ungeheuer komplizierten System einen Feind irrezuführen, der nur noch ein oder zwei Kilometer weit entfernt ist? Wenn also Müller seinen Sender noch benutzt hat, dann stand er zweifellos, wie Schellenberg behauptet, in ehrlichem Funkkontakt mit den Russen.” Ferner berichtet Giles Perrault über einen Fund in Berlin, der leider keine exakten Angaben über Zeit und Ort enthält. Er schreibt: „Müllers Namen fand man, nachdem er mit seinem getreuen Scholz verschwunden war, auf einem Grab, mitten unter den Trümmern von Berlin, und er galt offiziell für tot. Als man sich später aber dazu entschloß, das Grab zu öffnen, um die Leiche zu identifizieren, fand man darin die Reste von drei Männern, die alle zur Zeit ihres Todes jünger gewesen waren als Müller ... Haben Bormann und Müller (Bormann oder Müller) das Funkspiel etwa dazu verwendet, ihre eigene Zukunft abzusichern, indem sie der Zentrale authentisches Material zuleiteten? ... Ha163
ben die beiden hinter den Kulissen des ,Großen Spiels‘ ihr kleines, persönliches Spielchen getrieben? Man könnte es nur erfahren, wenn man die Archive der Zentrale einsehen dürfte, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Fest steht, daß Bormann das Funkspiel großzügig mit Material versehen hat, zum Entsetzen der betroffenen Ministerien, die zusehen mußten, wie dem Feind erstklassige Informationen übermittelt wurden. Das ist ein Hinweis, aber kein Beweis. Wir wissen auch, daß Gestapo-Müller nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 freie Hand hatte. Auf Befehl Hitlers wurde die ,Aktion Bär‘ gestoppt, die Spezialisten wurden mit anderen Aufgaben betraut. Die Gestapo konnte das Spiel auf eigene Rechnung weiterführen, ohne den obersten Dienststellen Rechenschaft über die nach Moskau geschickten Funksprüche abzulegen: das gab ihrem Chef die Möglichkeit, eine ehrliche Verbindung mit der Zentrale herzustellen. Aber das Vorhandensein einer solchen Möglichkeit beweist noch nicht, daß er sie wahrgenommen hat.” Weitere Überlegungen von Giles Perrault, die zum Denken anregen: „Kein Detail des Freskos ist völlig überzeugend. Von nahem betrachtet wird alles unscharf, es läßt sich mehrfach, mitunter auf widersprechende Art deuten. Ist das verwunderlich? Wenn Bormann und Müller ihr verräterisches Treiben vor ihren Landsleuten, Schellenberg vielleicht ausgenommen, geheimhalten konnten, dann müßten die Historiker schon ein unglaubliches Glück haben, um einen Beweis für diesen Verrat zu finden. Beide verstanden es meisterhaft, im Halbdunkel zu agieren, und sie wußten, wie man Spuren verwischt. Also Freispruch aus Mangel an Beweisen? Das Bild im ganzen stimmt doch recht nachdenklich. Da stehen zwei Apparatschiks, die mit dem Apparat, der ihnen anvertraut ist, umzugehen wissen, die aber bereit sind, ihn zu zerschlagen, wenn er versagt (das ist kein Verrat; man verrät eine Idee, ein Land, eine Partei, einen Menschen — nicht einen Apparat); beide sind fasziniert vom stalinistischen Rußland: Müllers Ideal ist die sowjetische GPU und Bormann hat 1944 angeregt, daß die Wehrmacht nach dem Muster der politischen Kommissare in 164
der Roten Armee die nationalsozialistischen Führungsoffiziere ausbildet; beide werden als einzige von der ganzen Naziclique der Zusammenarbeit mit Moskau verdächtigt, und zwar von zwei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Canaris und Schellenberg, die ihre Informationen nicht aus denselben Quellen schöpften; beide konnten aufgrund ihrer hohen Positionen schon 1943 die ersten Anzeichen der unvermeidlichen Niederlage erkennen; beide waren klarblickend genug, diese Anzeichen richtig zu deuten, da sie nicht wie viele andere die Scheuklappen des Fanatismus trugen; beide hatten, weiß Gott, Grund genug, diese Niederlage zu fürchten, hatten zufälligerweise” (wirklich nur Zufall?) „aber gleichzeitig auch das rechte Mittel zur Hand, um zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit dem realistischsten der Feinde Verbindung aufzunehmen; beide blieben im eingeschlossenen Berlin, obwohl Hitler seinen Mitarbeitern erlaubt hatte, sich nach Süden abzusetzen; obwohl nur alle wünschenswerten falschen Papiere, alle von langer Hand vorbereiteten Fluchtwege dem Chef der Gestapo zur Verfügung standen; sie hielten zusammen mit einem letzten Haufen Fanatiker und Romantiker in der verlorenen Stadt aus, obwohl sie weder zu den einen noch zu den anderen gehörten; beide verschwanden im letzten Augenblick und wurden als einzige aus der Führungsschicht nie wieder gefunden — alle anderen führenden Nazis sind gefaßt oder ihre Leichen sind gefunden worden. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die beiden einzigen Würdenträger, die der gerechten Strafe entgingen, mehr als zwei Jahre lang zusammen das ,Große Spiel‘ geleitet haben.” Die Ausführungen von Giles Perrault sollten genau nachgelesen werden, da er zahlreiche Fragen stellt und viele Überlegungen anstellt, die bisher in keiner Arbeit der historischen Forschung der Gegenwart zu finden sind. Er geht in seiner Genauigkeit so weit, daß er Schellenbergs Aussagen analysiert und sagt: „Vergessen wir nicht, daß Schellenberg z.B. ‚wiederhergestellte Dialoge‘ bringt. Er hat seine Erinnerungen erst Jahre später aufgezeichnet, kann also nicht jedes von Müller gesprochene Wort genau im Kopf behalten haben. Er gibt sie wenigstens sinngemäß wieder? Gut. Aber wenn es darum geht, anhand einer Unterhal165
tung zu beweisen, daß der Chef der deutschen Polizei für den Feind gearbeitet hat, ist jeder Satz wichtig, dann zählt jedes Wort, ja wir müßten eigentlich auch die Betonung kennen. Daß der vorsichtige, verschlossene Müller sich einem Rivalen gegenüber derartig bloßstellt, scheint doch sehr merkwürdig... schließlich lenkt er ihn geradewegs auf die eigene Spur... er fordert ihn nahezu auf, die ‚umgedrehten‘ Sender zu überwachen ... Ausgerechnet die Sender? —” Bei dieser Aussprache, die zwischen Müller und Schellenberg auf Müllers höfliches Ansuchen stattgefunden hatte und die Schellenberg so überraschte, sollte nicht außer acht gelassen werden, daß Müller in enthemmtem Zustande sprach; er hatte Wein getrunken und „lehnte sich mit vom Wein geröteten Augen in seinem Sessel zurück”. Weiter unten sagt Schellenberg: „Er trank hastig sein Glas aus und starrte verbissen vor sich hin.” Der sonst so reservierte Müller hatte, nachdem er zu den geschilderten Erkenntnissen gekommen war, offenbar seine zwiespältige Lage erkannt, beim Alkohol Zuflucht gefunden und gemeint, jetzt in Schellenberg den passenden Gesprächspartner gefunden zu haben. Ob er Schellenbergs Ansicht über das weltanschauliche Versagen des Nationalsozialismus und die vermeintliche Bewährung stalinistischer Methoden erkunden wollte, evtl. für das Nachher — das kann nur vermutet werden.
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DREIZEHNTES KAPITEL General Fellgiebels Erschießung aus neuer Sicht — v. Schramm: Dr. Scheidt oder Bormann? — Keitel unterdrückt Nachrichten von Canaris an Hitler — Wohin verschwanden Bormann und Müller? — Wollte Müller überhaupt Selbstmord begehen?
Regierungsrat Wilhelm Franz Flicke, Funk- und Dechiffrierfachmann in der Abwehr, berichtet — wie schon im 12. Kapitel erwähnt — in seinem Buch „Agenten funken nach Moskau” (93), daß General Fellgiebel im Jahre 1944 einen erfahrenen Fachmann einsetzte mit der Aufgabe, „anhand des Materials, der Feststellungen der Agenten in der Schweiz und der entzifferten Funksprüche, diejenigen Personen ausfindig zu machen, die als Informanten Lucies und Pakbos, d. h. der Gruppe Rado infrage kommen könnten ...” Ferner berichtet Flicke, daß a) der von General Fellgiebel beauftragte Fachmann durch Versetzungsbefehle an der Lösung der ihm gestellten Aufgabe gehindert wurde, b) die Anzahl der zu bearbeitenden Funksprüdie laufend abnahm, c) der Rest dieser Funksprüche über Nacht verbrannt wurde. General Fellgiebel selbst, der gemeinsam mit Admiral Canaris diesen Auftrag erteilt hatte, wurde wegen seiner Teilnahme an den Ereignissen des 20. Juli 1944 hingerichtet — Admiral Canaris folgte General Fellgiebel am 9. April 1945 in den Tod. (Ermordung im Konzentrationslager Flossenbürg.) Anscheinend waren Canaris, Fellgiebel und nach dem Krieg auch Flicke den Verrätern im engsten Kreise um das Staatsoberhaupt dicht auf den Fersen. Schließlich hat nicht nur Flicke (93) die Nachrichtenquelle „Pakbo” als „Parteikanzlei Bormann” bezeichnet. Wilhelm v. Schramm dagegen meint, daß Flicke damit auf dem Holzwege war, denn „Pakbo” (der Schweizer Journalist Dr. Otto Pünter) selbst hatte im Jahre 1967 erklärt, der Deck167
name seiner Arbeitsgruppe sei aus den Anfangsbuchstaben der Wohnsitze seiner wichtigsten Mitarbeiter entstanden: Pontresina - Arth-Goldau - Kreuzungen - Bern - Orselina (94). Sándor Radó, der sowjetische Residenturleiter in der Schweiz erklärt die Bezeichnung „Pakbo” wie folgt: „Diesen merkwürdigen Decknamen deutet der phantasiebegabte nazistische Agent Flicke als Abkürzung für die Parteikanzlei Bormann, womit er sagen will, daß Pünter seine Informationen von keinem anderen als einem der obersten Führer der Nazipartei bekommen hätte, also von Bormann persönlich. Ohne Zweifel ist dies eine phantastische Erfindung und eine gemeine Lüge. Pünter selbst leitet seinen Decknamen aus den fünf Anfangsbuchstaben der Treffpunkte ab, die er mit den Mitgliedern seiner fragwürdigen Verschwörergruppe vor dem Kriege vereinbart hatte. (Pontresina/Poschiavo — Arth-Goldau — Kreuzungen — Bern/Basel — Orselina = Pakbo.) Kollja” (ein Mitverschwörer Radós) „der es nun wirklich wissen mußte, gab eine viel prosaischere Erklärung. Pünter mit seinen schlingernden Bewegungen ,ruderte‘ beim Gehen, was Kolja immer an ein Schiff denken ließ; Schiff, französisch paquebot, wird in der Transkription gemäß der russischen Aussprache zu pakbo.” (95) Sándor Radó, der jetzt wieder in seiner Heimatstadt Budapest lebt, nachdem er „rehabilitiert” wurde, gibt dem flüchtigen Leser in seiner Erläuterung für den Decknamen „Pakbo” mehreres mit, was überdacht werden sollte, da sicherlich im Ostblock nichts gegen den Willen des Direktors der Zentrale in Moskau öffentlich geäußert werden kann: 1. Flickes Erklärung von „Pakbo” als „Parteikanzlei Bormann” wird empört zurückgewiesen, 2. es folgt die Erklärung Pünters für „Pakbo”, die, wie er betont, 3. „vor dem Kriege” vereinbart wurde. Aber auch 4. „Kolja, der es nun wirklich wissen mußte, gab eine viel prosaischere Erklärung”, indem er Pünters Bewegungen mit einem Schiff vergleicht, das französisch „paquebot” heiße und wobei der Russe Kolja dieses französische Wort russisch ausspricht, wodurch es zu „Pakbo” wird. 168
Man fragt sich, was Radó veranlaßt haben mag, zu der Erklärung Pünters für „Pakbo” noch eine zweite Erklärung durch Kolja abzugeben, „der es nun wirklich wissen mußte”. Hier kann man stutzig werden. Warum die Einflechtung Radós „vor dem Kriege”? Soll damit die Glaubwürdigkeit der Erklärung Pünters für „Pakbo” erhöht werden? Es ist doch logisch, daß das Spionagenetz Pünters vorsorglich vor dem Kriege aufgebaut wurde. Warum überhaupt eine zweite Erläuterung für die Deckbezeichnung „Pakbo”? War Pünter, der Leiter dieser Gruppe, nicht glaubwürdig? Oder, damit sich der Leser die ihm am glaubwürdigsten erscheinende Erklärung zu eigen macht, also aussuchen kann, was am besten paßt? Wir meinen, daß doch nur eine Erklärung für „Pakbo” die richtige sein kann. Im übrigen ist der Nachsatz bei Radó „Schiff, französisch paquebot, wird in der Transkription gemäß der russischen Aussprache für ,Pakbo‘” nicht richtig. Der große Larousse (Paris, 1963) gibt an für: a) „Schiff: navire, bateau, vaisseau”, aber nicht „paquebot”, wie Radó behauptet, und b) „paquebot (pakbo): Passagierdampfer, Schiff, Postdampfer, Überseeschiff, Dampfer.” Im Larousse ist in Klammern „Pakbo” eingefügt, was sich aber auf die französische Aussprache bezieht und nicht auf die russische Aussprache, wie Radó behauptet. Bemerkenswert ist ferner, daß Wilhelm v. Schramm Dr. Otto Pünter aufs Wort glaubt,wenn er sagt, „denn ,Pakbo‘ selbst hatte erklärt, der Deckname seiner Arbeitsgruppe sei aus den Anfangsbuchstaben der Wohnsitze seiner wichtigsten Mitarbeiter entstanden...” und damit von der Erklärung Radós abweicht, der diesen Decknamen aus den fünf Anfangsbuchstaben der Treffpunkte seiner Leute erklärt. Wohnsitze und Treffpunkte können nicht dieselben gewesen sein; in der Konspiration ist es für Agenten nicht üblich, sich am Wohnsitz zu treffen. Die Ungenauigkeit zwischen v. Schramms und Radós Angaben bleibt bestehen, bei beiden begleitet von dem entschieden zurückgewiesenen Gedanken, daß „Pakbo” die Parteikanzlei Bormanns ge169
wesen sein könne. Radós widerspricht der Auslegung Flickes scharf und leidenschaftlich, v. Schramm etwas milder, womit aber die Richtigkeit der Erklärung Dr. Otto Pünters nicht bewiesen ist. Über Dr. Otto Pünter erfahren wir von Dr. Gert Sudholt (96): „Geboren am 4. 4. 1900, Schweizer, Rechtsanwalt und Journalist, Eigentümer der INSA Presse und Agentur, sehr wohlhabend ... Pünter ist akkreditierter Parlamentsberichter für den linken Flügel der sozialistischen Partei, er schreibt Berichte vom Bundeshaus für , Volksrecht‘ und a. Zeitungen. Seine Version der Vorgänge über die sowjetische Kriegsspionage in der Schweiz verstärkt seine eigene Rolle und entstellt die Wahrheit erheblich. Er hat nicht einmal die Wahrheit über seinen eigenen CodeNamen gesagt. Er hat dessen Ursprung als ein Anagramm der ersten Buchstaben von Städten erklärt, in denen er Netze und Quellen hatte, wohingegen Radó ,Pakbo‘ als phonetische Form von ,paquebot‘ (Dampfschiff) erklärt, den Pünter erhielt, weil er fett war. Pünters ständiges Fischen im Trüben scheint sowjetischen Zwecken ebenso dienlich zu sein wie seinen eigenen.” Das Gesamtbild ändert sich, wenn wir uns wieder Flicke zuwenden und lesen, aus welcher Sicht Prof. Dr. Buchheit (97) diese Vorgänge beurteilt: „Man darf mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Dechiffrierungen des sowjetischen Agentenfunkdienstes nicht alle und jedenfalls vom Juni 1942 an nicht regelmäßig an die militärische Abwehr weitergegeben worden sind. Sie verschwanden einfach auf dem Weg über Bormann, der von seinem GestapoParteikollegen Müller dabei unterstützt worden ist. Diese Behauptung findet in den Äußerungen eines Mannes Stütze, den man als zuständig bezeichnen kann. Der Regierungsrat a. D. in der Funkabwehr des OKW, F. W. Flicke, berichtet in seinem Buch ,Agenten funken nach Moskau‘, wie man nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 eifrig nach dem Verbleib der vermutlich bereits ausgelagerten ,Radó-Meldungen‘ gesucht habe. Sie waren in der Tat längst abgelegt worden, da das sowjetische Spionagenetz ,Rote Drei‘ infolge des Zugriffs der Schweizer Sicherheitspolizei inzwischen zerschlagen worden war. Radós 170
Organisation hatte ihre Tätigkeit einstellen müssen. Bei der Suche nach Radó-Meldungen wurde die Zahl der angeblich entzifferten Telegramme immer kleiner. Flicke, der Hauptzeuge dieser Fahndungsaktion, ist übrigens 1957 unter bisher nicht aufgeklärten Umständen in Lauf bei Nürnberg plötzlich gestorben. Angesichts der in so vielen Fällen einwandfrei nachgewiesenen Fähigkeit des russischen Geheimdienstes — mag er seine Bezeichnung auch noch so oft wechseln — ist es durchaus möglich, daß selbst in diesem Falle ein Mitwisser beseitigt werden sollte, sobald er sich anschickte, seine Kenntnisse zu veröffentlichen. Die nicht von der Hand zu weisende Vermutung Flickes könnte, wenn wir sie als richtig unterstellen, auf eine Verschleierungstaktik Bormanns hinweisen, dem es darum zu tun war, durch Aussonderung gewisser Dechiffrierungsergebnisse sich selbst abzusichern. Ein derartiges Verhalten wurde ihm — immer angenommen, er sei der Verräter im Führerhauptquartier gewesen — dadurch erleichtert, daß, wie wir heute wissen, die sowjetische Nachrichtenorganisation während des Krieges bis zu 280 Sender unterhielt, mit denen sie mit ihren Agentenfunkern in aller Welt in Verbindung stand. Je umfangreicher der tägliche Eingang von abgehörten und dechiffrierten Meldungen war, desto unauffälliger konnten bestimmte Meldungen vor ihrer Weitergabe an das Amt Ausland/Abwehr ausgesondert werden und verschwinden.” Um das Bild von Flicke abzurunden ist es unerläßlich, eine weitere Stimme dazu zu hören. Dr. Gert Sudholt (96) berichtet in seinen „Personalangaben zur Roten Kapelle” folgendes: „Wilhelm Franz Flicke ist in Odessa am 22. Januar 1897 geboren; seine Eltern waren Deutsche. Im Jahre 1915 hat er sich freiwillig zum deutschen Heer gemeldet. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er in der Entzifferung gegen die Rote Kapelle, hauptsächlich gegen die Rote Drei. Obwohl Flicke Sachverständiger war und ein Buch zum Thema (Die Rote Kapelle, Kreuzungen, 1949) geschrieben hat, sind seine Informationen manchmal ungenau. Nach dem Krieg erhoben sich Zweifel gegen ihn, hauptsächlich, weil seine Schwester und seine ihm davongelaufene Frau in der Sowjetzone lebten. Flicke starb am 11. Oktober 1957.” 171
Wir wollen die Begründung der Zweifel gegen Flicke nicht weiter kommentieren, da entsprechende Unterlagen nicht vorliegen, und zu den detaillierten Untersuchungen v. Schramms übergehen, der dienstlich im Hauptquartier Adolf Hitlers tätig war. Wilhelm v. Schramm stellt folgende Überlegungen an (94): „Stimmte es denn, daß Moskau alles gewußt, durch Verrat hat erfahren können? Hatte es wirklich ein Ohr im Hauptquartier Hitlers? Eine Reihe von Funksprüchen schien zu beweisen, was Foote und Flicke behaupteten ... Vielleicht war es dann Martin Bormann, Reichsleiter der NSDAP, Chef der Parteikanzlei und brauner Schatten Hitlers? Bereits in Flickes Buch ,Agenten funken nach Moskau‘ konnte man lesen, daß der Deckname Pakbo mit Partei-KanzleiBormann interpretiert wurde ... Es gab viele Hinweise auf das Führerhauptquartier selbst... Also waren der Wehrmachtführungsstab und der Sperrkreis I, das eigentliche FHQu eingehend zu überprüfen. Dabei kam mir zugute, daß ich im Sommer 1943 und dann vom Oktober 1944 bis zum März 1945 zum Wehrmachtführungsstab kommandiert war und alle Personen kannte, die zum Sperrkreis I ... gehörten. Da war man in einem bekannten Bereich und konnte mit Leichtigkeit rekonstruieren: wer gehörte zum Sperrkreis I? Wer hatte das Recht und die Pflicht zur Teilnahme an den täglichen Führerlagebesprechungen? Wer konnte dort mithören, wo so ziemlich alles besprochen wurde, was die Kriegslage und Führung betraf, und die wichtigsten Entscheidungen Hitlers fielen? Wer daran teilnahm, wußte tatsächlich fast alles. Einen Teil dieser Allwissenheit schienen die Funksprüche nach Moskau widerzuspiegeln, soweit ich sie damals kannte. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich zunächst auf die Rekonstruktion der nächsten Umgebung Hitlers ...” Der als Zeuge im Hauptquartier Adolf Hitlers anzusehende Wilhelm v. Schramm läßt in seiner aus der Erinnerung erfolgten Untersuchung alle Kreise und sogar namentlich genannte Personen Revue passieren. Nur eine Person bleibt als verdächtig hän172
gen: der Adjutant des Generals Scherf, Beauftragter für die militärische Geschichtsschreibung, Oberstleutnant d. R. Dr. Wilhelm Scheidt. Dr. Scheidt war Geheimnisträger erster Ordnung, da er in die neuesten Protokolle jederzeit dienstlich Einblick nehmen konnte und dadurch einen Gesamtüberblick über die Kriegführung besaß, wie selbst keiner der Feldmarschälle, meint Dr. v. Schramm. Er genoß im Dienstbetrieb ungewöhnliche Freiheiten, von denen er großzügig Gebrauch machte. „Es gab immer dienstliche Gründe, dahin oder dorthin ... im Reich zu fahren. Von Frontfahrten Scheidts ist nirgends die Rede ...” (94) Dann geht Dr. v. Schramm dazu über, Leben und Charakter Dr. Scheidts zu untersuchen. „Scheidt war außerordentlich kontaktfreudig ... Er kannte jeden und alle. Dank seiner ungewöhnlichen Stellung wußte er immer Brücken zu schlagen. Er war zudem der einzige unter den Offizieren der Wehrmacht im FHQu, der gleichzeitig der allgemeinen SS (Reiter-SS) angehörte ... Scheidt interessierte sich auch besonders für Beck und Goerdeler und suchte ihre Bekanntschaft... Darin stimmen alle überein, die ihn in Kriegs- und Nachkriegszeiten näher kennenlernten: Er war undurchsichtig und trug gerne auf beiden Schultern. So mußte er nahezu zwangsläufig in den dringenden Verdacht geraten: Scheidt ist Werther, Scheidt ist der lange gesuchte Verräter aus der nächsten Umgebung Hitlers. Den Decknamen habe er deshalb bekommen, weil er mit einer Arbeit über Goethe promovierte. Seit Jahren, praktisch seit Kriegsende, gingen diese Gerüchte um. Scheidt hatte ihnen bereits durch sein Verhalten vor dem Nürnberger Tribunal Nahrung gegeben, wo er sich auf die Seite der Ankläger schlug und als ihr Zeuge auftrat.” (Brief des Adjutanten des GFM Keitels, der dies im Nürnberger Gefängnis miterlebte, an Dr. v. Schramm.) Ein weiterer Verdacht fiel auf Dr. Scheidt durch eine Notiz v. Hammersteins vom 30. März 1944, nach Dr. v. Schramm (94): „Am 30. März 1944 ging ich ins Luftfahrtministerium, wo seit Herbst 1943 eine von drei Ausfertigungen meiner Schriften im Panzerschrank beim Leiter der Fahrbereitschaft war ... Die 173
Schriften hatte ich vorher eine Weile im Panzerschrank von Scheidt, aber der fürchtete dann wegen heikler eigener Studien an auffallend lang in seinem Büro festgehaltenen Dokumenten aus dem Führerhauptquartier eine Kontrolle, die nicht kam ...” (Hervorgehoben v. Dr. v. Schramm) Auch einen Funkspruch vom 20. April 1943 zitiert Dr. v. Schramm, der schon von Flicke publiziert worden war, der mit „Dora”, also Radó unterzeichnet wurde und der, nach Schramm, einen weiteren Verdacht auf Scheidt lenkte. „Und wie stand es im Führerhauptquartier (1943) selbst”, fragt abschließend der Zeuge Dr. v. Schramm: „Es hätte doch dort bekannt sein müssen, was die Funkabwehr laufend entschlüsselte. War der Funkverkehr zwischen der Schweiz und Moskau nicht in höchstem Grad alarmierend? Die entschlüsselten Klartexte lagen der Gestapo vor; trotzdem wurde das FHQu nicht alarmiert, im Gegenteil: Hitler und Keitel wiegten sich in Sicherheit, denn sie hielten die eigenen Abwehr- und Sicherheitsorgane für weit überlegen ...” Das geht aus dem Protokoll einer „Führerlagebesprechung” hervor, die Dr. v. Schramm zitiert und die erkennen läßt, daß Keitel an Adolf Hitler möglichst gute Nachrichten meldete. Gegenteiliges wollte Keitel einfach nicht zur Kenntnis nehmen, offenbar, weil er Wutausbrüche Adolf Hitlers fürchtete, heute kann man sagen, mehr noch, als einen verlorenen Krieg. Als Beweis zitieren wir Klaus Benzing (13): „Obwohl ... Admiral Canaris nicht unmittelbar gegen Bormann vorgehen konnte (einfach weil Bormann nur einen einzigen Vorgesetzten, nämlich Hitler selbst hatte, und dieser Bormann blind vertraute, daß jeder geäußerte Verdacht sofort die Liquidierung des Verdächtigenden ausgelöst hätte), versuchte Canaris mehrmals, Generalfeldmarschall Keitel indirekt auf die Verrätertätigkeit Bormanns zu bringen. Er legte beispielsweise die entschlüsselten Funksprüche, welche die militärische Abwehr entziffert hatte und die nachgewiesenermaßen von dem allein von Bormann kontrollierten Sender via Schweiz nach Moskau gegangen waren, Keitel vor. Gleichzeitig bewies Canaris Keitel, daß die in diesen Funksprüchen genannten Zahlen über Truppenteile, Verluste und Truppenbewegungen mit den Tatsachen 174
übereinstimmten, also kein sogenanntes ,Spielmaterial‘ waren. Nach dem eigenen Bericht von Canaris erschrak Keitel, sah Canaris verständnislos an und stotterte dann förmlich, daß man sich bei der Entzifferung der Funksprüche geirrt haben müsse. Er ließ sich auf keinerlei Diskussion darüber ein, sondern gab den Aktenvorgang, selbst ohne einen Sichtvermerk zu machen, an Canaris zurück und befahl ihm streng, er wolle dergleichen nicht wieder vorgelegt bekommen.” Über die Ungeheuerlichkeit, die allein in diesem Satz niedergelegt ist, kann Benzing nicht mehr befragt werden, da er, ebenso wie W. F. Flicke, plötzlich verstorben ist. Jedenfalls wurde in diesem Falle Martin Bormann von Keitel eindeutig gedeckt. Aber auch Dr. v. Schramm deckt — sicherlich unbewußt — Martin Bormann, wenn er ihm eine unbedeutende Rolle im Hauptquartier Adolf Hitlers zuweist, indem er schreibt (94): „Die Partei selbst war im FHQu 1943 — denn um dieses Jahr geht es im wesentlichen — nur durch den Reichsleiter Bormann und einen kleinen Hauptstab vertreten, von dem aber niemand an der täglichen Lagebesprechung teilnahm. Politische und militärische Konferenzen fanden getrennt statt.” „Wer war der große Unbekannte? Und wo hat man ihn zu suchen? Wie konnte es dazu kommen,” — fragt Dr. v. Schramm in seinem oft zitierten Buch immer wieder — „daß er in einem totalitären Polizeistaat wie im Dritten Reich so lange sein Unwesen treiben konnte, ohne daß man ihn faßte? Waren nicht harmlose ,Plauderer‘ erbarmungslos der Todesstrafe verfallen, wenn einer sie denunzierte? Dabei war hier der Landesverrat schlimmster Sorte durch die Funksprüche belegt, die Meister der Dechiffrierkunst entschlüsselten. Immer mehr Klartexte wurden im Laufe der letzten Jahre bekannt und ihr Inhalt erschreckte vor allem die alten Soldaten, die im Krieg mit Geheimsachen zu tun hatten und die strengen Geheimhaltungsvorschriften kannten. Manchen hatte eine einzige Fahrlässigkeit auf diesem Gebiet das Leben gekostet. Der hundertfache, bewußte Verräter aber war der Gestapo einfach durch die Lappen gegangen.” In einem solchen Falle kann man den gesunden Menschenverstand zu Hilfe nehmen: Der „große Unbekannte” agierte nicht 175
nur äußerst geschickt, sondern wurde auch von höchster Stelle geschont. Aus den Kapiteln 12 und 13 geht hervor, daß Martin Bormann mit Heinrich Müller, deren politische Heimat eher im Osten als im Westen zu finden war, im eingeschlossenen Berlin blieb, obwohl Adolf Hitler in der letzten Phase der Kämpfe es jedermann seiner engeren Begleitung freigestellt hatte, den Bunker der Reichskanzlei zu verlassen und nach Bayern oder Tirol auszufliegen. Davon wurde auch Gebrauch gemacht, z. B. von seinem langjährigen Leibarzt, Professor Dr. Morell, der sich am 22. April 1945 auf dem Luftwege nach Bayern begab. Die Vortäuschung von dem Tode des Chefs der Geheimen Staatspolizei, Heinrich Müller, durch ein fingiertes Grab in Berlin erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß seine Spuren verwischt werden sollten, weil er sich nur zu den Sowjets abgesetzt haben kann. Hans Baur berichtet in seinen Erinnerungen in dem Kapitel „Grausige Stunden im Reichskanzleibunker” über ein Gespräch mit Heinrich Müller („Gestapo-Müller”) (129): „General Müller, der Leiter der Gestapo-Abteilung, antwortete mir auf meine Frage, ob er mitmarschiere: ,Baur, ich kenne die russischen Methoden zu genau, als daß ich mich noch der Gefahr aussetze, ihnen in die Hände zu fallen. Die Russen würden mich sowieso erschießen. Die Vernehmungsqualen und Schlägereien vorher erspare ich mir, wenn ich selbst Schluß mache.‘” Seine enge Zusammenarbeit mit Martin Bormann beim „großen Funkspiel” mit Moskau kann außer der Übermittlung des Spielmaterials auch persönliche Vorteile für das „Nachher” versprochen haben. Schließlich wurden beide nach ihrem Verschwinden nie mehr gesehen, als einzige aus der Führungsschicht des Dritten Reiches. Es erschienen nach Kriegsende zahlreiche Zeitungsberichte, daß Müller in Albanien und in Südamerika gesehen worden sein soll. Aber die Kolportagen darüber verklangen bald und wurden von der Unzahl der „Berichte von Augenzeugen” übertönt, die Martin Bormann in allen Breiten der westlichen Hemisphäre unseres Planeten begegnet sein wollen. 176
VIERZEHNTES KAPITEL Bormanns Intrigen gegen Luftwaffe — General Koller durchschaut Bormann — Kollers Argwohn durch General Greim bestätigt — Bormann bricht Brücken zu Westalliierten ab — General v. Saucken widerspricht Hitler scharf — Bräutigams Ahnungen über GPU-Mord an Gauleiter Kube
Lenken wir unsere Betrachtungen zurück in das von der Roten Armee eingeschlossene Berlin und in den Bunker unter der Reichskanzlei. Die dort Zurückgebliebenen waren Zeugen eines Dramas, wie es die Geschichte bisher nicht kannte. Nach den Angaben eines dieser Zeugen berichtete der amerikanische Historiker, Hauptmann Michael A. Musmanno (39), die folgende Szene: „Etwa Anfang März 1945 legte Bormann Hitler bei einer Führer-Lagebesprechung eine Notiz aus der alliierten Presse vor.. Diese Notiz lautete dem Sinne nach etwa so: ,Eine kurz vorher über Deutschland abgeschossene amerikanische Bomberbesatzung war von den vorrückenden amerikanischen Truppen wieder aufgenommen worden. Sie habe ausgesagt, daß sie von der empörten deutschen Bevölkerung mißhandelt worden sei, mit dem Tode bedroht und getötet worden wäre, wenn nicht deutsche Soldaten sie befreit und in Schutz genommen hätten. Die Frauen seien fast bösartiger und gefährlicher gewesen als die Männer.‘ Bei der Vorlage dieser Notiz wies Bormann den Führer mit einigen Worten darauf hin, daß damit bestätigt sei, daß die Soldaten in solchen Fällen gegen die Bevölkerung einschreiten. Er sagte wörtlich: ,Da sehen Sie, mein Führer, wie Ihre Befehle ausgeführt werden.‘ Hitler, sofort sehr erregt, rief: ,Wo ist die Luftwaffe?‘, wandte sich zu dem anwesenden General Koller und sagte sehr laut und empört: ,Warum werden meine Befehle nicht ausgeführt? Ich habe schon einmal befohlen, daß die abspringenden Bombermannschaften und Terrorflieger nicht gegen den berechtigten Zorn der Bevölkerung in Schutz genommen werden dürfen! Es 177
ist unerhört von deutschen Soldaten, zum Schutz dieser Mörder gegen die im berechtigten Haß handelnde Bevölkerung vorzugehen.‘ Überrascht von dieser Zurechtweisung, antwortete General Koller: ,lch kenne keinen solchen Befehl; außerdem ist das praktisch unmöglich.‘ Hitler, sehr laut und sehr scharf: ,Der Grund, daß meine Befehle nicht ausgeführt werden, ist nur die Feigheit der Luftwaffe! Weil die Herren von der Luftwaffe feige sind und Angst haben, es könne ihnen auch mal was passieren, deshalb führen sie meine Befehle nicht aus. Das Ganze ist nichts als ein Feigheitsabkommen zwischen der Luftwaffe und der englisch-amerikanischen Air-Force.” Der Chef des Stabes der Luftwaffe, General Karl Koller (37), hat vom 14. April 1945 bis zum 27. Mai 1945 ein stenographisches Tagebuch geführt, dem dokumentarischer Wert nicht abgesprochen werden kann, da er sich in diesen Tagen zum Teil im Hauptquartier Adolf Hitlers aufhielt. Koller berichtet hier von der Entlassung eines Ministerialdirigenten Knipfer, der auf Hitlers ausdrücklichen Befehl entlassen worden war, weil er sich mit höheren Parteifunktionären zerstritten hatte und laufend falschen Beschuldigungen aus diesen Kreisen ausgesetzt war. Adolf Hitler will Knipfer in die Strafeinheit der SS versetzen lassen, die von dem berüchtigten SS-Generalleutnant Dirlewanger befehligt wird. Nach Beendigung dieser Debatte setzt Koller seine Aufzeichnungen fort: „Hitler tobt weiter. Ein dringender Befehl sei vom 20. 12. bis 19. 1. im Luftfahrtministerium liegen geblieben, das zeige, was für eine Schlamperei bei der Luftwaffenführung herrsche. Er habe selbst das betreffende Papier gestern in Händen gehabt. ,lch bitte‘, sage ich, ,um die Nummer des Befehls, damit ich der Sache nachgehen kann.‘ — ,Die Nummer können Sie haben‘, erwidert er, ,aber es geschieht ja doch nichts. Bei der Luftwaffe müssen endlich ein paar erschossen werden, dann wird es gleich anders.‘ — ,Wenn‘, entgegne ich, ,meinen Dienstbereich dieser Vorfall angeht, wird die Angelegenheit untersucht. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll, wenn man mir nicht sagt, 178
von welcher Stelle der Befehl ausging, welche Nummer er hat und an wen er gerichtet gewesen ist.‘ Ich bin davon durchdrungen, daß das Ganze wieder eine Hetze von Bormann ist. Daß der Vorgang sich wirklich so abgespielt hat, ist ausgeschlossen. Das Luftfahrtministerium hat mit der Geschichte vermutlich nicht das geringste zu tun. (Ich habe denn auch weder den Befehl, noch seine Nummer, noch sonstige präzise Angaben erhalten.) Hitler wütet seit langem gegen die Luftwaffe, und er zielt nicht bloß auf ihren Oberbefehlshaber. Meine Einwände gegen seine unsachlichen Argumente sind ihm offenbar lästig. Sein Zorn wird durch Lügen aus Kreisen der Parteiführung immer weiter geschürt.” Inzwischen ist General Koller nach Berchtesgaden zu Reichsmarschall Göring geflogen. Hier berät sich Göring mit Koller und anderen über die durch den raschen Vormarsch der Alliierten entstandene neue Lage. „Göring ist voller Bedenken”, stenographiert Koller, „seine größte Sorge ist dabei, daß Hitler bei ihrem schon lange bestehenden gespannten Verhältnis, Bormann zu seinem Stellvertreter oder Nachfolger erklärt haben könnte. ,Bormann ist mein Todfeind‘, sagt Göring. ,Der wartet nur darauf, mich umzulegen. Handle ich jetzt, stempelt man mich zum Verräter, handle ich nicht, macht man mir den Vorwurf, daß ich in den schwersten Stunden versagt habe.‘” „Die Zeit drängt, es muß etwas geschehen”, berichtet General Koller weiter. „Ich schlage daher Göring folgendes vor: ,Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, schicken Sie Hitler einen Funkspruch und stellen Sie ihm die klare Frage. Eine Frage kann er nicht übelnehmen, er hat Sie ja selbst in diese Situation gebracht.‘ Göring greift das sofort auf; auch die Anwesenden sind dafür. Göring diktiert daraufhin selbst einen langen Funkspruch, etwas schwülstig und mit vielen Beteuerungen. Um abgesetzt werden zu können, wird er zu umfangreich. Nach einigen erforderlichen Kürzungen und Änderungen wird der Spruch durch die Funkstellen des OKL, die eigens dazu mit einem Generalstabsmajor besetzt wurden, an den Bunker der Reichskanzlei abgesetzt.” 179
Nachdem General Koller — angeblich auf Befehl Adolf Hitlers — von der Gestapo vorübergehend festgenommen worden war, notiert er folgendes: „Kurz vor 19 Uhr tolle Nachrichten aus dem Gau Oberdonau. Der Kreisleiter von Vöklabruck hat auf Weisung des Gauleiters Oberdonau den Volkssturm ,gegen inneren Feind‘ alarmiert. Jeder, der gegen Hitler sei, wäre sofort zu erschießen. Er will das ,im engen Zusammenwirken mit der Luftwaffe‘ durchführen. Ich bin überzeugt, daß die Maßnahmen von Bormann angeordnet sind und sich gegen die Luftwaffe richten. Der Kreisleiter hat sich wohl getäuscht.” Einige Stunden nachher wird General Koller nach Berlin befohlen: „Wieder Anruf wegen Berlin. Diesmal Admiral v. Puttkamer, der mir von Senatspräsident Müller, persönlicher Referent Bormanns, ausrichten soll, ich möge laut Weisung aus dem Führerbunker, wenn irgend möglich, noch in der Nacht fliegen. Ich lehne aus technischen und gesundheitlichen Gründen ab. Für morgen ist Kaltenbrunner angesagt. Überdies wäre es Torheit, ins Aschgraue zu fliegen, ohne zu wissen, wo und wann ich dort oben landen kann. Anfragen, welche Plätze noch benutzbar sind, wurden nicht beantwortet.” Am 26. April 1945,14 Uhr 30 notiert General Koller: „Anruf von Dr. Hummel, Obersalzberg” (gehört zu dem Vertreterkreis des Reichsleiters Bormann-Dr. Frank auf dem Obersalzberg), „er teilt mit: ,Auf einen Funkspruch von uns, vom Obersalzberg, daß Sie‘” (General Koller) „,letzte Nacht nicht starten konnten, haben wir als Antwort einen Funkspruch von Reichsleiter Bormann im Auftrage des Führers. Herr General, Sie müssen in der kommenden Nacht trotzdem starten und sich beim Führer melden. Es kommt jemand von uns hinunter zu Ihnen, um Ihnen den Befehl noch mündlich zu überbringen.‘ Vom Obersalzberg kommt aber keiner. Ich rufe zurück. Hummel bestätigt den Befehl noch mal und erklärt jetzt, daß der Befehl von Hitler unterschrieben sei und daß ich nach diesem Befehl ohne jede Rücksicht auf andere Dinge zu fliegen hätte. 180
Wer sieht einem eingehenden Funkspruch an, wer diesen wirklich unterschrieben hat? Warum läßt Hitler nur über die Stelle Bormann funken, warum nicht unmittelbar an meine Dienststelle? Die Funkunterlagen dazu sind im Bunker. Warum wird der Befehl nicht über meinen Verbindungsstab beim OKW an mich abgesetzt? Dieser militärische Befehlsweg wäre der richtige! Merkwürdiges Verfahren! Die Sache riecht arg hinterhältig! Immerhin ist es möglich, daß der Befehl von Hitler direkt kommt. Er bedient sich nicht immer der richtigen Stellen für seine Befehlsausgabe und wirft oft dem nächstbesten einen Befehl zu, immer häufiger Bormann, weil er keinem anderen traut.” Auf Seite 60 seines Tagebuches, ohne Datumsangabe, berichtet General Koller: „Im Vorbeigehen sagt” (General) „Jodl zu mir lächelnd und mit zwinkernden Augen: ,Fliegen Sie bloß nicht nach Berlin.‘ Ich gestehe, daß das in mir böse Ahnungen bestätigt.” In der Mittagszeit desselben Tages gelang es General Koller, aus Fürstenberg, wohin er sich inzwischen begeben hatte, eine Verbindung mit dem Bunker der Reichskanzlei zu bekommen. Sein Versuch, sich bei Adolf Hitler fernmündlich zu melden, blieb erfolglos; er erhielt lediglich zur Antwort: „Führer hat sich zurückgezogen, ist jetzt nicht zu sprechen, darf nicht gestört werden.” Dafür kam ein Gespräch mit dem als Nachfolger Görings zum Feldmarschall ernannten Ritter v. Greim zustande. Kollers Bericht: „Ich berichte, daß ich beim OKW in einem Walde bei Fürstenberg bin, nachdem ich dauernd über die Bormannschen Stellen Befehle erhalten habe, mich in Berlin bei Hitler einzufinden. Diese Anordnungen sollen nach dem mir Mitgeteilten von Hitler persönlich gegeben worden sein. Ich hätte die Absicht, heute Nachmittag unter irgendeinem Jagdschutz oder in der Nacht nach Berlin hineinzufliegen und auf der Achse zu landen. ,Daß Sie sich beim Führer melden sollen‘, sagt Greim, ,davon weiß ich nichts. Er hätte mir das bestimmt erzählt. Das scheint mir doch eine sehr dunkle Geschichte — die muß ich klären. Ich habe Hitler Ihre Meldung übergeben, er hat sie in meinem Beisein gelesen, sogar langsam zweimal gelesen — sich aber nicht da181
zu geäußert. Auf keinen Fall fliegen Sie nach Berlin herein! Erstens ist der Flug überflüssig, zweitens kommen Sie nicht mehr durch, und wenn Sie durchkommen, ist es die Frage, ob Sie wieder hinauskommen. Ich rechne nicht mehr damit, daß ich selbst noch hinauskomme, ich muß hier beim Führer bleiben und dann sitzen wir beide im Bunker, das ist ganz unmöglich ... Warten Sie es ab’, erwidert mir Greim, ,nur nicht den Glauben verlieren, es gedeiht noch alles zu einem guten Schluß. Mich haben das Zusammensein mit dem Führer und seine Kraft außerordentlich gestärkt, das ist hier für mich wie ein Jungbad.'” An dem Wort „Jungbad” nahm der in dieser Lage normal denkende General Koller Anstoß. Er kommentiert dieses Wort in seinem Tagebuch: „,Jungbad’ — mein Gott, das ist wie im Narrenhaus! Bin ich denn so beschränkt, daß ich dem hohen Flug dieser Herren nicht folgen und den ,erlösenden Weg’ nicht zu erkennen vermag?” General Koller flog aus Rechlin zurück nach Berchtesgaden und schreibt unter dem 29. April (1945): „Meine Untergebenen freuen sich, daß ich aus dem Rachen herausschlüpfen konnte. General Schulz sagt mir: ,Wir haben für Ihr Leben keinen Pfennig mehr gegeben und damit gerechnet, daß Bormann Sie in Berlin würde beseitigen lassen.’ Das wäre ganz leicht möglich gewesen, erwidere ich und kein Mensch hätte etwas davon bemerkt. Aber eure Bedenken hättet ihr mir auch früher sagen können ... Der nächste Besucher ist um 12 Uhr der Chef des Kommandostabes des Reichsführers SS in Salzburg. Ich habe diesen Brigadeführer nur einmal gesehen und von ihm nichts Ungünstiges gehört. Dennoch Vorsicht! (Ich schreibe das, während er mir am Tische gegenübersitzt.) Es ist weniger ein Gespräch als ein Abtasten mit halben Sätzen. Wir tauschen allgemeine Redensarten. Allmählich wird unsere Unterredung flüssiger. Das dadurch, daß mein Gast sich nicht mit Kaltenbrunner verträgt. Er sagt außerdem: ,Bormann schickt nur Haßgesänge durch die Luft.‘ Wir sprechen über den Fall der Offiziere des Stabsamtes. Mein Besucher erwähnt, er habe deren Bewachung in Salzburg auf 182
eigene Faust dem SD abgenommen und der Waffen-SS übergeben, und zwar, um das Leben der Verhafteten zu schützen. Als Begründung gibt er wörtlich an (ich stenographiere mit): Bormann hat gestern, am 30. 4., an seine Leute auf dem Obersalzberg einen Funkspruch etwa folgenden Inhalts gerichtet: ,Lage in Berlin verschärft sich. Falls Berlin fällt und wir fallen, haftet Ihr mit Eurer Ehre, Eurem Leben und Eurer Sippe dafür, daß die Verräter vom 23. April samt und sonders sofort liquidiert werden. Männer, tut Eure Pflicht!’... Ich frage: Welches ist der Personenkreis, der unter den Verrätern vom 23. 4. gemeint ist? Bin ich auch dabei? Man muß verflucht auf der Hut sein, die Kerls um Bormann zählen mich sicher zu dieser Verschwörung, die nur in ihrer Einbildung existiert. Aber das ist ihnen in ihrer Gemeinheit wohl gleichgültig. Mein Gegenüber kann mir die Frage nicht beantworten. Aber er sagt, er glaube nicht, daß noch etwas geschähe. Die SS sträube sich gegen Bormann, der überall verhaßt sei ... Um 14 Uhr erhalte ich die Nachricht, daß Dönitz mit der obersten Führung beauftragt sei; unterzeichnet ist der Funkspruch von Bormann. Mir geht er vom OKW-Stab Süd zu, an das OKL ist er nicht abgesetzt worden ... Um 18 Uhr langt bei mir im ,Haus Geiger‘ ein verstaubter und übermüdeter Mann an. Er stellt sich vor, Standartenführer Brause, Führer der SS-Bewachung Görings ... Wir kennen uns nicht und fühlen uns daher zunächst einmal ab. Wer ist Brause? Ein gefährlicher Agent von Bormann? Aufrichtiger, anständiger Kerl?” Das Gespräch bezieht sich auf den festgehaltenen Göring, der erklärt haben soll, sich für Verhandlungen mit den Westalliierten zur Verfügung zu stellen und eine Aussprache „von Mann zu Mann” mit General Eisenhower anstrebt. Nach General Koller „behauptet Göring, seine Festnahme sei von Bormann veranlaßt worden, er sei nach dem Gesetz der Nachfolger Hitlers. Dieses Gesetz könne auch von Bormann nicht abgeändert werden.” Wenn Trevor Roper in seinem Buch „Hitlers letzte Tage” von einer „geistigen Verwirrung” General Kollers spricht, als dieser die Reichskanzlei anrief und mit Feldmarschall v. Greim telefo183
nierte, dann kann er nicht Anspruch darauf erheben, ein ernsthafter Historiker zu sein, da offenbar Emotionen eine sachliche Beurteilung der Vorgänge nicht zuließen (98). Anhand des vorliegenden Tagebuches von General Koller ist ersichtlich, daß Martin Bormanns subversiv anmutende Tätigkeit selbst in den letzten Phasen des Zusammenbruchs unverändert wirkte. Heute kann man sich fragen, was Martin Bormann bewegt haben mag, selbst in den letzten Tagen, ja Stunden im Bunker seinen Haß an der Wehrmacht bzw. an der Luftwaffe auszulassen, zu einer Zeit, als die meisten Bewohner des Bunkers an das Wichtigste, an den Ausbruch und an das Überleben dachten. Oder ist etwa Görings erklärte Absicht, mit General Eisenhower, also mit dem Westen zu verhandeln, Bormanns Plänen im Wege gewesen? Wollte Martin Bormann seine Zukunft noch besser absichern, indem er den mit dem Westen Verhandlungsbereiten, persönlich Gehaßten durch ein SS-Kommando liquidieren wollte, um seine eigenen Pläne ungehindert fortsetzen zu können? Hier sei nur an sein mit Gestapo-Müller geführtes „Großes Spiel” („Aktion Bär”) erinnert, das mit Moskau lief. Der sowjetische Zeithistoriker Lew Besymenski ist einem grundlegenden Irrtum zum Opfer gefallen, wenn er sich auf Günsche (Adjutant im Hauptquartier) bezieht, der Martin Bormann prowestliche Tendenzen zuschreibt: „Martin Bormann gab auf einer Beratung im Januar oder Februar 1945 die Anweisung, daß eine Gruppe seiner Leute in Westdeutschland in die Illegalität gehen, sich aber den amerikanischen Besatzungsbehörden gegenüber loyal verhalten solle, um ungestört die spätere Wiedergeburt der Nationalsozialistischen Partei vorbereiten zu können. Einer von den Beratungsteilnehmern notierte sich folgende Äußerung Bormanns: ,Unsere Rettung liegt im Westen. Nur dort werden wir imstande sein, unsere Partei zu erhalten. Die Parole des Kampfes gegen den Bolschewismus wird dafür Gewähr leisten.‘” (100) Bedauerlicherweise ist der Name des Versammlungsteilnehmers nicht erhalten geblieben, der diese Äußerung Martin Bormanns notiert hat. 184
Lew Besymenski hat sich diese abwegige Mitteilung über Martin Bormanns angebliche Ansichten anscheinend zu eigen gemacht, da er schon drei Jahre vor Veröffentlichung des obigen Zitats in seinem Buch „Auf den Spuren Martin Bormanns” (9) schreibt: „Wir wissen, daß Martin Bormann um jeden Preis nach Flensburg zu Dönitz gelangen wollte ... In einigen, während der Nacht vom 1. zum 2. Mai (1945) geführten Gesprächen bestätigte Bormann mehrmals, daß er diesen Versuch unternehmen wolle ... Sich seiner nächtlichen Unterhaltungen mit dem Führer erinnernd, wollte Bormann unbedingt von Flensburg aus die Versuche, mit den Westalliierten Kontakte herzustellen, fortsetzen.” Dazu einige Feststellungen: Das Wissen Lew Besymenskis, daß Martin Bormann „um jeden Preis nach Flensburg zu Dönitz gelangen wollte”, entbehrt der Beweise. Die von Martin Bormann in der Nacht vom l. zum 2. Mai ausgestreuten Informationen, daß er „diesen Versuch unternehmen wolle”, können — beim heutigen Stand des Wissens in der Bormann-Forschung — eher als „Desinformation”, d. h. als Irreführung gewertet werden, um seine Spuren zu verwischen. Darauf werden wir ausführlich zurückkommen. Der Vollständigkeit halber seien die wesentlichen Teile der eidesstattlichen Erklärung Eise Krügers, einer ehemaligen Sekretärin aus Martin Bormanns Parteikanzlei, wiedergegeben: „Am 1. Mai 1945 habe ich Bormann im Bunker der Reichskanzlei das letztemal gesehen und gesprochen. Zu dieser Zeit habe ich für ihn schon nicht mehr gearbeitet, weil er damals seine eigenen Anordnungen und Funksprüche selbst mit der Hand geschrieben hat... Seine letzten Worte zu mir, die er bei einer zufälligen Begegnung im Bunker aussprach, waren: ,Also, denn auf Wiedersehen. Viel Sinn hat es ja doch nicht mehr, ich werde es mal versuchen, aber durchkommen werde ich doch nicht.‘” (101) Auch die Mitteilung von Flugkapitän Baur geht in diese Richtung, daß Martin Bormann sich noch im Bunker das Sternbild des Großen Bären mit dem Polarstern aufgezeichnet habe, um mit dieser Orientierungshilfe den Weg zu Dönitz nach Flensburg zu finden, wenn er nachts durch Brandenburg und Mecklenburg 185
wandere (68). Da das Sternbild doch jedem Kinde schon bekannt ist, sieht der Vorfall ganz nach Irreführung aus. Schließlich ist auch der zweite Satz aus dem obigen Besymenski-Zitat abwegig, daß Martin Bormann unbedingt von Flensburg aus die Versuche zur Kontaktaufnahme mit den Westalliierten fortsetzen wollte. Diese Absichten Martin Bormanns führt Besymenski auf die Erinnerung an frühere Führergespräche zurück. Martin Bormann hat die Brücken zu den Westalliierten abgebrochen, als er befahl, gelandete alliierte Flieger zu erschießen. Im übrigen hat er schon in seinem Rundschreiben vom 30. September 1944 schärfere Behandlung der alliierten Kriegsgefangenen gefordert, die Befehlsgewalt über alle Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht entziehen und auf Himmler übertragen lassen. Ferner sollen — laut der Anklagerede von Leutnant Lambert vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg am 16. Januar 1946 (Nachmittagssitzung) — Lynchmorde, die durch Martin Bormann organisiert, veranlaßt und gutgeheißen wurden, auch begangen worden sein. Die in der Beweisführung Leutnant Lamberts herangezogenen beiden Todesurteile über Deutsche dürfen in ihrem Zustandekommen füglich angezweifelt werden, da die amerikanischen Militärgerichte im Siegesrausch jener Tage meist nicht gerade fair verhandelt haben (102). Ins Leere gehen die Vermutungen Lew Besymenskis (100), nach denen an einen Wiederaufbau einer aktiven nationalsozialistischen Organisation gedacht worden sein soll. Darüber äußert sich der ehemalige Gauleiter Rudolf Jordan (30) ganz klar: „Bormanns Parole hieß nicht: ,Die NSDAP geht nach der militärischen Niederlage in den Untergrund und kämpft dort weiter‘, sondern sie lautete dem Sinne nach: ,Fallen ist die letzte Pflicht.‘” Über die Ereignisse der letzten Tage im Bunker der Reichskanzlei liegen zahlreiche Berichte vor: von deutschen Augenzeugen, von westalliierten Berichterstattern, die die in ihre Hände gefallenen Deutschen vernahmen, und die Berichte von sowjetischer Seite, die ihre Gefangenen befragte. Da es die wesentliche Aufgabe dieser Arbeit ist, das Verhalten 186
und Wirken Martin Bormanns darzulegen, sollen die Ereignisse im Bunker möglichst nur im Zusammenhang mit ihm betrachtet werden. Wir folgen hier zunächst dem Bericht des Rittmeisters Gerhard Boldt (99), der aus der Abteilung Fremde Heere Ost, wo noch nüchternes Denken den Alltag beherrschte, in die Abteilung Chef Generalstab zu General Guderian befohlen worden war. Über seine Eindrücke von der ersten Begegnung mit Martin Bormann und Adolf Hitler im Februar 1945 in der Reichskanzlei berichteter: „Bald darauf wird die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet, und Martin Bormann erscheint. Das also, fährt es mir durch den Kopf, ist der Mann, der jetzt einen so entscheidenden Einfluß auf Hitler ausüben soll, der böse Geist hinter den Kulissen. Der Mann, der jetzt das Vorzimmer betritt, ist 45 bis 50 Jahre alt, knapp mittelgroß, vierschrötig, untersetzt und stiernackig. Das rundliche Gesicht vermittelt durch die kräftigen Backenknochen und breitgezogenen Nasenflügel einen energischen, fast brutalen Ausdruck. Das etwas schüttere, glatte Haar trägt er nach hinten gescheitelt. Augen und Mienenspiel zeigen Verschlagenheit... Hitler steht allein in der Mitte des großen Raumes, dem Vorzimmer zugewandt... Ich bleibe in der Nähe der Türe stehen und harre der Dinge, die da kommen sollen. Es ist für mich zweifellos ein außergewöhnlicher Augenblick, und ich bin schrecklich aufgeregt. Generaloberst Guderian spricht mit Hitler anscheinend über mich, denn dieser blickt zu mir hin. Guderian gibt mir ein Zeichen, ich gehe auf Hitler zu. Langsam, stark vorübergeneigt, kommt er schlurfenden Schrittes auf mich zu. Er streckt mir die rechte Hand entgegen und sieht mich mit einem seltsam durchdringenden Blick an. Sein Händedruck ist schlaff und weich, ohne jede Kraft und ohne jeden Ausdruck. Sein Kopf wackelt leicht, was mir später noch stärker auffallen sollte. Sein linker Arm hängt schlaff herunter, die linke Hand zittert stark. In seinen Augen liegt ein unbeschreiblich flackernder Glanz, der geradezu erschreckend und vollkommen unnatürlich wirkt. Sein Gesicht und die Partie um die Augen machen einen völlig abgespannten und verbrauchten Eindruck. Alle seine Bewegungen sind die eines kranken, senilen Mannes. Er wirkt auf mich wie 187
ein ausgeglühtes Stück Eisen ... Langsam schlurfend, von Bormann begleitet, geht er an seinen Kartentisch und setzt sich.” Ferner erinnert sich Gerhard Boldt an die Episode vom 12. März 1945, die es verdient, festgehalten zu werden. An diesem Tage erwartete Adolf Hitler den General der Panzertruppen Dietrich v. Saucken, der bereits Träger der Schwerter zum Eichenlaub des Ritterkreuzes war. Gerhard Boldt: „Wir standen neben dem am Kartentisch sitzenden Hitler, als Saucken eintrat. Schlank, elegant, die linke Hand ungezwungen an seinem Kavalleristensäbel, das Einglas im Auge, grüßte Saucken mit einer leichten Verbeugung. Das waren drei ,Ungeheuerlichkeiten‘ auf einmal. Saucken hatte nicht mit erhobenem Arm und ,Heil Hitler‘, wie es seit dem 20. Juli 1944 Vorschrift war, gegrüßt, er hatte sich nicht seine Waffe beim Betreten des Arbeitszimmers abnehmen lassen und er hatte bei der Begrüßung das Einglas im Auge behalten. Ich blickte abwechselnd Hitler und von Saucken an und glaubte, etwas Schreckliches müsse passieren. Auch Guderian und Bormann standen wie versteinert da. Aber es passierte nichts, gar nichts! Hitler forderte Guderian nur kurz auf, Saucken in die militärische Lage in Ostpreußen und im Danziger Raum ... einzuführen. Als Guderian geendet hatte, ergriff Hitler das Wort... Von Saucken hatte die bisherigen Ausführungen Guderians und Hitlers schweigend angehört, ohne Fragen zu stellen. Er stand unmittelbar neben Hitler am Kartentisch. Nach einer kurzen Pause, gleichsam nur um tief Luft zu holen, fuhr Hitler fort. Er bedeutete dem General von Saucken, daß er sich im Kampfraum in und um Danzig dem Gauleiter Forster zu unterstellen habe und ihm, von Saucken, nur die rein militärischen Dinge oblägen. Die letztliche Verantwortung und Befehlsgewalt aber für diesen ganzen Raum sollte der Gauleiter Forster übernehmen. Hitler hielt inne und blickte von Saucken von unten herauf auffordernd an. Dieser straffte sich, erwiderte den Blick Hitlers, das Monokel im Auge, und antwortete, indem er gleichzeitig, wohl um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, mit der flachen Hand auf die Marmorplatte des Kartentisches schlug: ,lch denke nicht daran, Herr Hitler, mich unter den Befehl eines Gauleiters 188
zu stellen.‘ Man hätte eine Stecknadel auf den Teppich fallen hören können. Mir schien, Hitler wäre bei den Worten des Generals von Saucken noch tiefer in sich zusammengesunken. Sein Gesicht wirkte noch wächserner. Guderian war der erste, der die bleierne Stille unterbrach und von Saucken in mahnendem, kameradschaftlichem Ton aufforderte, vernünftig zu sein. Selbst Bormann schloß sich an. Aber der General von Saucken hatte dagegen nur ein ,lch denke nicht daran.‘ Guderian und Bormann schwiegen ratlos. Die Stille, die jetzt folgte, wollte nicht enden. Dann antwortete Hitler mit kraftloser, tonloser Stimme: ,Also gut, dann führen Sie eben allein, Saucken.‘ Es folgten noch einige belanglose Dinge. Hitler verabschiedete den General, ohne ihm die Hand zu geben, und Saucken verließ mit einer angedeuteten, grüßenden Verbeugung das Arbeitszimmer.” Über den damaligen Gauleiter von Ostpreußen, Erich Koch, sei Gerhard Boldt ebenfalls gehört, da er sich in der kurzen Zeit, die er im Bunker bzw. in der Reichskanzlei zubrachte, ein treffendes Bild von diesem Manne gemacht hatte: „Der Gauleiter Erich Koch, der ebenfalls viel bei Hitler einund ausging, hatte viel Ähnlichkeit mit Bormann. Er war schwerfälliger und ungeschlachter, und seine Gesichtszüge waren noch gröber und brutaler. An Ehrgeiz, Egoismus und Arroganz stand er Bormann jedoch nicht nach. Nach der Eroberung Königsbergs im April 1945 führte die eingeschlossene 3. und 4. Armee in Ostpreußen einen aussichtslosen Verzweiflungskampf, während noch Hunderttausende ostpreußischer Flüchtlinge auf der schmalen Nehrung beiderseits Pillau und im Samland auf ihren Abtransport nach dem Westen warteten; damals erschien dieser ,König des Reiches, in dem die Sonne nie untergeht‘, wie er sich selbst zu nennen pflegte, da sein Verwaltungsbezirk von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichte, in der Reichskanzlei, als ob nichts geschehen wäre, und Hitler ließ ihn nicht aufhängen, wie Tausende von Soldaten und Offizieren, die aus irgendeinem Kessel ihr nacktes Leben zu retten versuchten. Er hatte lediglich seine Parteiuniform mit einer Windjacke vertauscht, wohl weil er befürchten mußte, daß die 189
Berliner Bevölkerung ihn, hätte sie ihn erkannt, sofort totgeschlagen hätte.” Es fällt auf, daß der von Martin Bormann unterstützte Erich Koch, der sich durch seine brutalen Methoden in der Ukraine zahllose Feinde gemacht hatte, während des Zusammenbruches unangefochten aus Königsberg bis Berlin gelangte, während, wie der Diplomat und Rußlandexperte Bräutigam (103) schreibt, der maßvolle Generalkommissar von Weißruthenien, Kube, einem Mordanschlag der GPU zum Opfer fiel; auch sein Nachfolger, v. Gottberg, sollte im Auftrag der GPU ermordet werden, aber dieser Anschlag mißlang. Der weißruthenische Arzt Jermatschenko, der gute Verbindungen mit dem Generalkommissar und den Körperschaften der weißruthenischen Selbstverwaltung unterhielt, wurde eliminiert. Dazu der Bericht Bräutigams: „Zunächst fiel Jermatschenko einer Intrige zum Opfer und mußte nach Prag abgeschoben werden. Wer hierbei seine Hand im Spiel hatte, ist nie geklärt worden. Aber Moskau hatte es offenbar auch auf Kube” (und v. Gottberg) „selbst abgesehen; denn es konnte besser Leute vom Schlage Kochs gebrauchen, die das Deutschtum derart verhaßt machten, daß man annehmen konnte, sie ständen im Dienste der Bolschewisten.” Mit diesen Worten war Bräutigam nahe an die großen Zusammenhänge herangekommen.
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FÜNFZEHNTES KAPITEL Bormann prophezeit Rittmeister Boldt „Rittergut nach siegreichem Ende” — Scharfe Kontroverse zwischen General Burgdorf und Bormann — Resignierende Worte Bormanns an Else Krüger Irreführung? — Deutung von Bormanns Prophezeiung „Rittergüter nach dem siegreichen Ende”
Am 27. April 1945 hatte der Rittmeister Gerhard Boldt ein Erlebnis, das er in seinen Erinnerungen festgehalten hat. Nachdem Adolf Hitler einem kleinen Jungen, der sich durch Tapferkeit ausgezeichnet hatte, mit viel Pathos ein Eisernes Kreuz an die Brust geheftet hatte, schickte er ihn wieder hinaus in den aussichtslosen Kampf in den Straßen Berlins. Weiter berichtet Gerhard Boldt: „Freytag, Weiß” (Major v. Freytag-Loringhofen, Oberstleutnant Weiß) „und ich gingen zusammen zu unseren Bunkerräumen zurück und sprachen über das Unwirkliche dieser Szene. Wir waren Offiziere, die lange bei der Feldtruppe gewesen und es nicht gewohnt waren, uns zu verkriechen, während draußen gekämpft wurde. Für uns war das ein unerträglicher Zustand. Wir bemerkten nicht, daß Bormann gekommen war und uns zuhörte. Plötzlich legte er Freytag und mir mit Gönnermiene seine Hände auf die Schultern und trat zwischen uns. Er kam auf die Truppen Wencks zu sprechen, auf die Entsetzung Berlins und das baldige siegreiche Kriegsende. Dann fügte er in seinem unnatürlich gewollten Tonfall hinzu: ,Ihr, die Ihr hier in Treue unserem Führer gemeinsam mit ihm seine schwersten Stunden aushaltet, werdet, wenn dieser Kampf bald siegreich beendet sein wird, hohe Stellungen im Staat bekleiden und als Dank für Eure treuen Dienste Rittergüter bekommen.' Dann lächelte er uns huldvoll zu und ging selbstbewußt weiter. Zuerst war ich so verdutzt, daß ich kein Wort sagen konnte. Also um Rittergüter zu bekommen, taten wir unsere Pflicht. Ich fragte mich, ob das mit dem ,siegreichen Ende‘ heute, am 27. Ap191
ril, wirklich sein Ernst sein konnte? Wie schon so oft, wenn ich ihn oder Goebbels oder die anderen Männer um Hitler gehört und beobachtet hatte, stellte ich mir die Frage, ob sie wirklich glaubten, was sie sagten! Oder war es eine diabolische Mischung von Verstellung, Größenwahn und fanatischer Dummheit?” Die Frage Boldts „Ob sie wirklich glaubten, was sie sagten?” ist berechtigt. Angesichts des Zusammenbruches, der unaufhaltsam war, noch von einem Sieg zu sprechen, nach dem hohe Belohnungen verteilt werden sollten, war einfach absurd. Aber so naiv war Martin Bormann nicht. Wenn er von „Sieg” sprach, so kann er keinen deutschen, viel eher einen sowjetischen Sieg gemeint haben. Vielleicht wollte er, bevor er sich zu den Sowjets begab, die jungen Offiziere, die er innerlich so sehr gehaßt hat, verhöhnen. Eine weitere, aufschlußreiche Beobachtung machte Gerhard Boldt in der Nacht vom 27. zum 28. April 1945: „Gegen 2 Uhr morgens legte ich mich, völlig übermüdet und überarbeitet, hin, um noch einige Stunden Schlaf zu finden. Aus dem Nachbarraum schallte Lärm herüber. Dort saßen Bormann, (General) Krebs und (General) Burgdorf, in angeregter Zecherrunde. Ich hatte wohl zweieinhalb Stunden fest geschlafen, als mich Bernd” (v. Freytag-Loringhofen), „der unter mir in seinem Bett lag, mit den Worten weckte: ,Du versäumst etwas, mein Lieber, hör dir das mal an. Das geht schon eine ganze Weile in dieser Lautstärke.‘ Ich richtete mich auf und lauschte zum Nachbarraum hinüber. Burgdorf schrie gerade auf Bormann ein: ,Vor einem dreiviertel Jahr bin ich mit meiner ganzen Kraft und mit grenzenlosem Idealismus an meine jetzige Aufgabe herangegangen. Ich habe mir immer wieder das Ziel gesetzt, Partei und Wehrmacht aufeinander abzustimmen. Ich bin dabei so weit gegangen, daß ich von meinen Wehrmachtskameraden geschnitten und teilweise sogar verachtet worden bin. Ich habe wirklich mein möglichstes getan, um das Mißtrauen Hitlers und der Parteileitung gegen die Wehrmacht zu beseitigen. Man hat mich schließlich in der Wehrmacht einen Verräter am deutschen Offiziersstand gescholten. Heute muß ich einsehen, daß diese Vorwürfe zu Recht bestehen, 192
daß meine Arbeit umsonst, mein Idealismus falsch, ja nicht nur das, daß er naiv und dumm war.‘ Schwer atmend hielt er einen Augenblick inne. Krebs versuchte ihn zu beschwichtigen und bat ihn, doch auf Bormann Rücksicht zu nehmen. Aber Burgdorf fuhr fort: ,Laß mich man, Hans, einmal muß das doch alles gesagt werden. Vielleicht ist es in achtundvierzig Stunden schon zu spät. Unsere jungen Offiziere sind mit großem Glauben und Idealismus losgezogen. Zu Hunderttausenden sind sie in den Tod gegangen. Aber wofür denn? Für das Vaterland? Für unsere Größe und Zukunft? Für ein anständiges, sauberes Deutschland? In ihrem Herzen, ja, aber sonst nein. Für euch sind sie gestorben, für euer Wohlleben, für euren Machthunger. Im Glauben an die gute Sache ist die Jugend eines Achtzig-Millionen-Volkes auf den Schlachtfeldern Europas verblutet, sind Millionen unschuldiger Menschen geopfert worden, während ihr, die Führer der Partei, euch am Volksvermögen bereichert habt. Gepraßt habt ihr, ungeheure Reichtümer zusammengerafft, Rittergüter gestohlen, Schlösser gebaut, im Überfluß geschwelgt, das Volk betrogen und unterdrückt. Unsere Ideale, unsere Moral, unseren Glauben, unsere Seele habt ihr in den Schmutz getreten. Der Mensch war für euch nur noch das Werkzeug eurer unersättlichen Machtgier. Unsere jahrhundertealte Kultur, das deutsche Volk habt ihr vernichtet. Das ist eure furchtbare Schuld!‘ Die letzten Sätze hatte der General fast beschwörend geschrien. Es war ganz still im Bunker geworden. Man konnte sein keuchendes Atmen hören. Kühl, überlegt und ölig kam die Stimme Bormanns, und das war alles, was er zu erwidern wußte: ,Aber, mein Lieber, du mußt doch nicht gleich persönlich werden. Wenn sich die anderen auch alle bereichert haben, ich bin doch frei von Schuld. Das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist. — Prost, mein Lieber!‘ Bei allem, was mir heilig ist! Wußte ich doch, daß er einen großen Besitz in Mecklenburg und einen weiteren in Oberbayern erworben hatte, und daß er sich am Chiemsee eine feudale Villa bauen ließ. Hatte er uns nicht wenige Stunden vorher auch Rit193
tergüter in Aussicht gestellt? Das war der heilige Schwur des nach Adolf Hitler höchsten Führers der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.” Gerhard Boldt hat in seinem Bericht auch Bilder über die Verhältnisse im Bunker, wie sie in beengten Räumen auch natürlich sind, überliefert: „Als ich in den Mittagsstunden” (des 28. April 1945) „mit den Vortragsunterlagen nach unten ging, bot sich mir ein seltsames, fast komisches Bild: Burgdorf, Krebs und Bormann waren im Anschluß an ihre leidenschaftliche nächtliche Auseinandersetzung von ihren bisherigen Wohn- und Arbeitsräumen in den kleinen Vorraum von Hitlers Wohnung im ,Führerbunker‘ übergesiedelt. Laut schnarchend, in wollene Decken gehüllt, die Beine von sich gestreckt, so lagen die drei in tiefen Sesseln, die man vor die rechte Wandbank gestellt hatte, einträchtig nebeneinander. Nur wenige Schritte davon entfernt, am gegenüberstehenden Tisch, saßen Hitler und Goebbels, auf der Bank links an der Wand Eva Braun.” Über eine der letzten Begegnungen mit Adolf Hitler berichtet Gerhard Boldt am 29. April 1945: „Mit einem undurchdringlichen, maskenhaften Gesichtsausdruck, ohne ein Wort an seine Umgebung zu richten, zog er sich gebeugten Rückens resigniert in seine Wohnräume zurück. Nicht so der vitale, impulsive und geistig sehr rege Martin Bormann. Er schickte Dönitz noch am gleichen Abend einen Funkspruch in dessen Stabsquartier ,Forelle‘ bei Plön, in dem er unumwunden jetzt auch die verantwortlichen militärischen Führer des OKW — also Keitel und Jodl — der Untreue bezichtigte, weil sie die Truppen nicht so vorangetrieben hätten, daß Berlin entsetzt wurde... Ob nun Bormann, Hitler, Goebbels oder all die anderen, keiner wollte es wahrhaben, daß die deutsche Armee restlos am Ende ihrer Kräfte war ... Und sie wollten es sich und ihrer Umwelt nicht eingestehen, daß unsere Gegner uns um ein Vielfaches überlegen waren. Ein Mißerfolg konnte in ihrer Vorstellungswelt nur auf Verrat beruhen...” Adolf Hitler heiratete noch am 28. April 1945 Eva Braun. 194
Nachher diktierte er seiner Privatsekretärin, Frau Gertrud Junge, sein politisches und privates Testament. Als Testamentsvollstrecker bestimmte er Martin Bormann. Ferner beabsichtigte er, diese Testamente bzw. Abschriften davon Großadmiral Dönitz nach Plön (Schleswig-Holstein) und Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, der sich mit seiner Heeresgruppe in Böhmen befand, überbringen zu lassen. Als Überbringer einer Abschrift des politischen Testaments Adolf Hitlers wurde von General Burgdorf der Major Willi Johannmeier bestimmt, der sich zu Generalfeldmarschall Schörner nach Böhmen durchschlagen sollte. Gemeinsam mit ihm ging mit ähnlichen Dokumenten der SS-Standartenführer Wilhelm Zander, Berater Martin Bormanns, sowie Heinz Lorenz, ein Mitarbeiter des Deutschen Nachrichtenbüros. Zanders Auftrag war, Johannmeier nur eine Wegstrecke zu begleiten und sich dann nach Plön zu Großadmiral Dönitz zu begeben, während Lorenz seinen Auftrag, sich ebenfalls bei Dönitz zu melden, von Martin Bormann und Goebbels erhielt. Er führte außer den beiden Testamenten einen ,Anhang‘ aus der Feder von Goebbels mit sich. Sie nahmen den Weg durch drei russische Belagerungsringe und erreichten den Havelbrückenkopf bei Pichelsdorf, wo sie auf ein Bataillon der Hitlerjugend stießen. Die Aufgabe dieses Bataillons war, eine Brücke für die dort erwartete Armee des Generals Wenck zu halten (98). Diese kleine Gruppe wurde hier von Rittmeister Gerhard Boldt eingeholt, der mit Oberstleutnant Weiß und Major v. Freytag-Loringhoven von Adolf Hitler den Auftrag erhalten hatte, auf schnellstem Wege zu General Wenck zu eilen, von dem im Bunker — vergeblich — Entsatz und Rettung erhofft wurde. Im Bunker griff Weltuntergangsstimmung um sich, als bekannt wurde, daß Adolf Hitler aus dem Leben scheiden wolle. „Mochte Hitler sich auch auf den Tod vorbereiten”, schreibt Trevor Roper, „so gab es immer noch wenigstens einen Mann im Bunker, der an Leben dachte: Martin Bormann. Wenn Bormann die deutschen Armeen nicht überreden konnte, zu kommen und Hitler und ihn zu befreien, so würde er wenigstens auf Rache bestehen ... um drei Uhr 15 morgens am 30. April, sandte er ein 195
weiteres jener Telegramme ab, in denen die Neurose des Bunkers so anschaulich erhalten geblieben ist. Es war an Dönitz in Plön gerichtet, aber Bormann traute der üblichen Nachrichtenübermittlung nicht mehr und sandte es durch den Gauleiter von Mecklenburg. Es lautete: ,Dönitz! Nach unseren immer klareren Eindrücken treten die Divisionen vom Kampfraum Berlin seit Tagen auf der Stelle, statt Führer herauszuhauen. Wir bekommen nur Nachrichten, die von Teilhaus‘” (Keitel) „,kontrolliert, unterdrückt und gefärbt werden. Wir können im allgemeinen nur über Teilhaus senden. Führer befiehlt, daß Sie schnellstens und rücksichtslos gegen alle Verräter vorgehen. Bormann‘ Eine Nachschrift enthielt die Worte: ,Führer lebt und leitet Abwehr Berlin.‘ Diese Worte, die keinerlei Andeutung des kommenden Endes enthalten — eigentlich sein Bevorstehen abzustreiten scheinen —, erwecken den Eindruck, daß es Bormann sogar jetzt widerstrebe, zuzugeben, daß seine Macht bald vorüber sein werde oder von einer anderen, weniger berechenbaren Quelle erneuert werden müsse .. .” Worte und Taten Martin Bormanns deckten sich nicht immer; so ist auch widersprüchliches festzustellen: Bei einer zufälligen Begegnung im Bunker sagte er, resignierend, zu Else Krüger: „... viel Sinn hat es ja doch nicht mehr, ich werde es mal versuchen, aber durchkommen werde ich doch nicht”. (101) Professor Speer bat er, Adolf Hitler zu bewegen, doch nach Berchtesgaden abzufliegen, denn „es sind die letzten Stunden, wo das noch möglich ist”. (32) Er hatte doch schon früher von Adolf Hitler die Erlaubnis erhalten, gemeinsam mit Dr. Morell und anderen Berlin zu verlassen; warum machte er davon nicht Gebrauch? Aus welchem Grunde wollte sich der Realist Martin Bormann von Adolf Hitler nicht trennen, angesichts des unaufhaltsamen Vordringens der Roten Armee? Henning Fikentscher versucht in seiner Studie über den Leibarzt Dr. Morell (1) eine Erklärung zu geben: „Bei der Vernehmung” (durch US-Beamte) „gab Morell an, daß er Hitler noch unter Morphium habe setzen wollen. Hitler muß etwas gemerkt haben, denn mit Morphium konnte Morell 196
Hitlers Entschluß, sich zu entleiben, durchkreuzen und ihn entweder den Sowjets lebend in die Hände spielen oder ihn in der Euphorie des Morphiumrausches zu einem brüderlichen Ausgleich mit Stalin bewegen. Von diesem Marschziel aus betrachtet, bekam Bormanns letzte Ansprache an die Besatzung des Führerbunkers erst Sinn, den die Hörer damals nicht verstehen konnten: ,Alle, die bis zuletzt ausharren, werden in Kürze mit Rittergütern belohnt.‘ Selbst wenn die Rittergüter nur Datschen waren, hätten die meisten in der allgemeinen Betrunkenheit und dem Trieb zu überleben, solche Kehrtwendung ohne weiteres mitgemacht ... Martin Bormann konnte” (unter russischer Herrschaft) „bleiben, was er war: Der heimliche Kanzler eines sowjetischen Deutschlands. Er war unerschrocken genug, seine Aufgabe im Granatfeuer bis zur letzten Sekunde zu erfüllen. Morell nahm die Gelegenheit wahr, um sein Leben zu retten ...” Am 30. April 1945, nachmittags, nahm sich Adolf Hitler das Leben. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1945 verhandelte General Krebs mit dem sowjetischen General Tschuikow über einen Waffenstillstand, der aber nicht zustande kam, weil die Sowjets auf bedingungsloser Kapitulation beharrten. Am 1. Mai 1945 begingen die Generäle Burgdorf und Krebs sowie Dr. Goebbels Selbstmord.
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SECHZEHNTES KAPITEL Ausbruch in Gruppen aus der Reichskanzlei — Bormann in der zweiten Gruppe — Bormann gefallen? — Tiburtius sah als Letzter Bormann — Bormann trug schon Zivilkleidung — Faragó‘s Liste — Ergänzungen aus westlichen und sowjetischen Quellen — Radio Moskau am 16. Juni 1945: Bormann festgenommen — Legendenbildungen um Bormann Die Persönlichkeit Adolf Hitlers wirkte selbst in diesen Tagen auf die im Bunker der Reichskanzlei Eingeschlossenen wie eine starke Klammer, deren Zusammenhalt erst durch seinen Freitod erlahmte. Es wurde beschlossen, aus dem Bunker in mehreren Gruppen auszubrechen und sich nach dem Westen durchzuschlagen, was aber nur sehr wenigen gelang. Trevor Roper (98) stützt sich in seinem nachstehend zitierten Bericht auf die Aussagen der Zeugen Schwägermann (Adjutant von Goebbels), Axmann (Reichsjugendführer) und Kempka (Hitlers Fahrer): „Im Bunker der Neuen Reichskanzlei war eine gemischte Gruppe von Parteifunktionären, Soldaten und Frauen versammelt. Sie unterstand dem Befehl Bormanns, jedoch, wie einer der Teilnehmer sagte, ,gab es nie ein richtiges Kommando; alle liefen wie kopflose Hühner herum‘. Als alle versammelt waren, wurde ihnen die Reihenfolge ihres Auszuges erklärt. Sie sollten in aufeinanderfolgenden kompakten Gruppen durch die Keller und Tunnels zur Untergrundbahnstation Wilhelmsplatz gehen. Von dort würden sie entlang den Untergrundbahngeleisen zur Station Friedrichsstraße marschieren, wo sie wieder zur Erdoberfläche hinaufsteigen sollten. In der Friedrichstraße würden sie sich den Resten von Mohnkes Kampfgruppe” (SS-Brigadeführer und Kommandant der Reichskanzlei) „die die Reichskanzlei verteidigt hatte, anschließen und mit deren Hilfe versuchen, sich einen Weg über die Spree und durch die russischen Linien nach Nordwesten zu erzwingen ... Es wurde elf Uhr, bis die Gesellschaft zum Aufbruch bereit 198
war. Sie gingen, wie abgemacht, in Gruppen ... Bormann war in einer der mittleren Gruppen; in seiner Tasche hatte er das letzte Exemplar von Hitlers privatem Testament (laut Mitteilung Bormanns an Axmann, von diesem berichtet) —” Weiter berichtet Trevor Roper, daß die Gruppen, die am Ausgang des Bahnhofs Friedrichstraße ins Freie gekommen waren, sich einzeln zur Weidendamm-Brücke durchschlugen, hinter der eine Panzersperre errichtet worden war, die unter russischem Feuer lag. „Sie zogen sich daher zum alten Admiralspalast am Südende der Brücke zurück”, schreibt Trevor Roper (98) weiter, „und warteten, bis die Ankunft einiger deutscher Panzer ihnen Hoffnung bot, die Sperre zu durchbrechen. Sie sammelten sich um die Panzer und gingen wieder vorwärts: eine gemischte Gruppe, bestehend aus Bormann, Stumpfegger (Hitlers letztem Arzt), Axmann, Kempka, Hitlers zweitem Flugzeugführer Beetz, Naumann (Staatssekretär), Schwägermann und Räch (Fahrer). Einige von ihnen passierten die Sperre mit den vordersten Panzern und erreichten, etwa dreihundert Meter weiter, die Ziegelstraße, aber dort wurde der Panzer von einer Panzerfaust getroffen, die eine heftige Explosion verursachte. Beetz und Axmann wurden verwundet; Kempka wurde betäubt und geblendet; Bormann und Stumpfegger wurden zu Boden geworfen und verloren vielleicht das Bewußtsein, kamen aber unverwundet davon .. .” Kempka geriet vorübergehend in russische Gefangenschaft und kam schließlich in amerikanischen Gewahrsam. Axmann fand „beide” (Bormann und Stumpfegger) „hinter der Brücke, wo die Invalidenstraße die Eisenbahnlinie überquert, auf dem Rücken ausgestreckt liegen, die Gesichter vom Mondlicht beschienen. Für einen Augenblick innehaltend, sah er, daß beide tot waren, aber russisches Feuer verhinderte eine genauere Untersuchung. Es waren weder auffällige Wunden zu sehen, noch auch Zeichen einer zerschmetternden Explosion. Vermutlich waren sie in den Rücken geschossen worden.” (Trevor Roper, 98) In der Verhandlung vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg machte Kempka am 3. Juli 1946 auf Befragen des Verteidigers von Martin Bormann, Dr. Friedrich Bergold, folgende detaillierte Aussagen: 199
„Dr. Bergold: Herr Zeuge! An welchem Tage haben Sie den Angeklagten Martin Bormann zum letzten Male gesehen? Kempka: Ich habe den Reichsleiter, den damaligen Reichsleiter Martin Bormann in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1945 am Bahnhof Friedrichstraße, Weidendammer Brücke gesehen. Reichsleiter Bormann, der damalige Reichsleiter Bormann frug mich, wie die allgemeine Lage am Bahnhof Friedrichstraße wäre. Ich sagte ihm, daß es kaum möglich wäre, dort am Bahnhof ... Vorsitzender: Sie sprechen zu schnell; was hat er Sie gefragt? Kempka: Er frug, wie die Lage wäre, ob man dort am Bahnhof Friedrichstraße durchkommen könnte. Ich sagte ihm, daß es fast unmöglich wäre, da ein zu starker Abwehrkampf wäre. Ich sagte ihm, daß es nur auf einen Versuch ankäme. Es kamen dann auch einige Panzer und einige PSW-Wagen. An diesen wurden dann kleine Trauben gebildet, an den Panzern. Die Panzer schoben sich dann bis in die Panzersperre durch, nachdem der Spitzenpanzer, wo der Martin Bormann ungefähr Mitte des Panzers ging, auf der linken Seite plötzlich einen Treffer bekam. Ich nehme an mit einer Panzerfaust aus einem Fenster heraus, und dieser Panzer in die Luft flog. Gerade an der Seite, wo der Martin Bormann ging, stieg plötzlich eine Stichflamme heraus, und ich sah noch ... Vorsitzender: Sie sprechen immer noch zu schnell. Das letzte, was ich hörte war, daß Bormann in der Mitte der Kolonne ging; ist das richtig? Kempka: Jawohl, in der Mitte des Panzers, auf der linken Seite, Martin ... Dieser Panzer bekam, nachdem der Panzer 40 bis 50 Meter durch die Panzersperre hindurch war, einen Treffer, ich nehme an, mit einer Panzerfaust aus einem Fenster heraus. Der Panzer flog auseinander in der Höhe, gerade dort, wo Martin ... Reichsleiter Bormann ging. Ich selber wurde von der Explosion und durch das Entgegenfliegen einer Person, die vor mir ging — ich nehme an, daß es der damalige Standartenführer Dr. Stumpfegger war —, wurde ich auf die Seite geschleudert und wurde besinnungslos. Als ich wieder zu mir kam, konnte ich auch nichts sehen, ich war von der Stichflamme geblendet. Ich kroch 200
dann wieder zurück bis zur Panzersperre und habe seitdem von Martin Bormann nichts mehr gesehen. Dr. Bergold: Zeuge! Haben Sie Martin Bormann bei dieser Gelegenheit in der sich entwickelnden Stichflamme zusammenbrechen sehen? Kempka: Jawohl. Ich sah noch eine Bewegung, die eine Art Zusammenbrechen, man kann auch sagen, ein Wegfliegen war. Dr. Bergold: War diese Explosion so stark, daß nach Ihrer Beobachtung Martin Borman dabei ums Leben gekommen sein müßte? Kempka: Jawohl. Ich nehme bestimmt an, daß er von der Stärke dieser Explosion ums Leben gekommen ist. Dr. Bergold: Wie war Martin Bormann damals bekleidet? Kempka: Martin Bormann trug einen Ledermantel, eine SSFührermütze und die Abzeichen eines SS-Obergruppenführers. Dr. Bergold: Glauben Sie also, daß er, wenn er damals verwundet gefunden worden wäre, an dieser Bekleidung ohne weiteres als einer der führenden Männer der Bewegung erkannt worden wäre? Kempka: Jawohl. Dr. Bergold: Sie sagten, es ging neben Bormann oder vor ihm noch ein anderer Herr, nämlich ein Herr Naumann vom Propagandaministerium? Kempka: Jawohl. Das war der ehemalige Staatssekretär Dr. Naumann. Dr. Bergold: War der ungefähr in der gleichen Höhe der Explosion? Kempka: Nein, er war vielleicht ein bis zwei Meter vor Martin Bormann. Dr. Bergold: Haben Sie in der Folgezeit von diesem Staatssekretär Naumann noch etwas gesehen? Kempka: Habe ich auch nichts mehr davon gesehen, ebenso von dem Standartenführer Dr. Stumpfegger nicht. Dr. Bergold: Sind Sie damals zurückgekrochen? Kempka: Jawohl. Dr. Bergold: Ist Ihnen niemand anderes gefolgt? Kempka: Doch. Es war immer so, wenn man nach... hinter 201
dieser Panzersperre durchging, man immer ein starkes Abwehrfeuer bekam. Es blieben nun jeweilig einige liegen, und der Rest ging immer wieder zurück. Die an dem Panzer gewesen sind, von denen habe ich nichts mehr gesehen. Dr. Bergold: Hohes Gericht! Ich habe an diesen Zeugen keine weiteren Fragen. Mr. Dodd: Ich habe keine Fragen, Herr Präsident! Vorsitzender: Wollen die Verteidiger des Zeugen noch Fragen stellen? (Zum Zeugen gewandt:) Wie viele Panzer waren in dieser Kolonne? Kempka: Das kann ich im Augenblick nicht sagen, es waren vielleicht zwei oder drei, es können auch vier gewesen sein, aber mehr PSW-Wagen waren da, Panzerschützenwagen. Vorsitzender: Wie viele waren es? Kempka: Es kamen immer mehrere und fuhren auch wieder welche weg. Die versuchten dort durchzubrechen, das waren vielleicht einer oder zwei, die anderen haben sich dann wieder abgesetzt, nachdem der Panzer in die Luft geflogen war..” (Die nächsten drei Fragen des Vorsitzenden an Kempka sind unerheblich.) „Vorsitzender: Wo hat Bormann Sie zum erstenmal gefragt, ob es möglich sei, durchzukommen? Kempka: Das war an der Panzersperre hinter dem Bahnhof Friedrichstraße an der Weidendammer Brücke. Vorsitzender: Wollen Sie sagen, daß Sie ihn auf der Straße trafen? Kempka: Jawohl. Beim Auszug aus der Reichskanzlei war der Martin Bormann nicht anwesend, er erschien erst dort an der Brücke nachts zwischen zwei oder drei Uhr. Vorsitzender: Sie haben ihn dort zufällig getroffen, meinen Sie? Kempka: Ich habe ihn dort nur zufällig getroffen, jawohl. Vorsitzender: War irgend jemand mit ihm? Kempka: Es war der Staatssekretär Dr. Naumann vom Propagandaministerium bei ihm, ebenso Dr. Stumpfegger, der als letzter Arzt beim Führer mit anwesend war. 202
Vorsitzender: Wie weit waren Sie von der Reichskanzlei entfernt? Kempka: Das ist... sind ... bis zum ... von der Reichskanzlei bis Bahnhof Friedrichstraße vielleicht ein Weg von einer Viertelstunde bei normalen Verhältnissen.” „Vorsitzender: Und wo waren Sie mit Bezug auf Bormann? Kempka: Ich war hinter dem Panzer, ungefähr auf der linken Seite hinter dem Panzer. Vorsitzender: Wie weit von Bormann? Kempka: Das waren vielleicht drei bis vier Meter. Vorsitzender: Und dann traf ein Geschoß den Panzer, stimmt das? Kempka: Nein, ich glaube, von einer Panzerfaust aus einem Fenster heraus ist der Tank getroffen worden. Vorsitzender: Und dann sahen Sie eine Stichflamme und wurden ohnmächtig? Kempka: Jawohl. Ich sah dann plötzlich eine Stichflamme und im Bruchteil einer Sekunde sah ich auch, wie der Reichsleiter Bormann und der Staatssekretär Naumann eine zusammenbrechende und wegfliegende Bewegung machten. Ich selbst wurde auch im gleichen Moment mit weggeschleudert und verlor anschließend die Besinnung. Vorsitzender: Und dann sind Sie weggekrochen? Kempka: Als ich wieder zu mir kam, konnte ich nichts sehen und bin dann weggekrochen und bin so weit gekrochen, bis ich mit dem Kopf gegen die Panzersperre stieß. Vorsitzender: Und wo sind Sie in dieser Nacht hingegangen? Kempka: Ich habe dann eine Zeitlang dort erst gewartet, hatte mich dann noch bei meinen Fahrern verabschiedet, die noch, einige, da waren, und bin dann ... in den Trümmern von Berlin habe ich mich dann aufgehalten und bin dann am nächsten Tag aus Berlin raus. Vorsitzender: Wo wurden Sie gefangengenommen? Kempka: Ich wurde in Berchtesgaden gefangengenommen. Mr. Biddle: Wie weit waren Sie von dem Panzer entfernt, als er explodierte? Kempka: Ich schätze drei bis vier Meter. 203
Dr. Biddle: Und wie nahe war Bormann von dem Panzer entfernt, als er explodierte? Kempka: Ich nehme an, daß er sich mit einer Hand daran festgehalten hatte. Mr. Biddle: Gut, Sie sagen, Sie nehmen das an. Haben Sie ihn gesehen oder haben Sie ihn nicht gesehen? Kempka: Ich habe ihn nicht am Panzer selbst gesehen. Um mit dem Panzer mitzukommen, hatte ich dasselbe gemacht und hatte mich hinten am Panzer angehalten. Mr. Biddle: Hatten Sie gesehen, daß Bormann versuchte, auf den Panzer aufzusteigen, bevor er explodierte? Kempka: Nein, das habe ich nicht gesehen, ich habe keine Bemühung von Bormann gesehen, die andeutete, daß er auf den Panzer aufsteigen wollte. Mr. Biddle: Wie lange vor der Explosion haben Sie Bormann gesehen? Kempka: Das alles hatte sich sehr kurz abgewickelt. Noch währenddem ich mit Bormann mich unterhielt, kamen die Panzer an, und wir sind dann anschließend sofort durch die Panzersperre durch und nach 30 bis 40 Metern bekam der Panzer den Treffer. Mr. Biddle: Was meinen Sie mit ,sehr kurz‘? Kempka: Ja ... während der Unterhaltung, es waren nur einige Minuten vielleicht. Mr. Biddle: Und wie lange zwischen der Unterhaltung und der Explosion? Kempka: Das kann ich zeitlich nicht angeben, es war aber sicherlich keine ... zeitlich keine Viertelstunde, vielleicht auch keine halbe Stunde, besser gesagt. Mr. Biddle: Waren Sie kurz vorher in der Reichskanzlei? Kempka: Ich bin abends gegen 9 Uhr aus der Reichskanzlei heraus.” (Weitere Fragen Mr. Biddles an Kempka beziehen sich auf frühere Vernehmungen zur selben Sache durch US-Offiziere usw.) „Mr. Dodd: Als Ergebnis des Verhörs durch den Gerichtshof haben sich eine oder zwei Fragen ergeben, die, wie ich glaube, an den Zeugen gestellt werden sollten. 204
Vorsitzender: Gewiß. Mr. Dodd: Sie waren doch um 9 Uhr an jenem Abend mit Bormann im Bunker der Reichskanzlei? Kempka: Jawohl, gegen 9 Uhr abends habe ich ihn zum letztenmal gesehen. Als ich mich von Dr. Goebbels verabschiedete, sah ich auch Martin Bormann unten im Keller, und dann sah ich ihn nachts, als nächstes, nachts gegen 2 oder 3 Uhr. Mr. Dodd: Nun, vielleicht haben Sie es bereits gesagt, aber ich habe es nicht verstanden? Wo haben Sie ihn um 2 oder 3 Uhr nachts gesehen, bevor Sie mit ihm zusammen mit den Panzern mitgegangen sind? Kempka: Ich habe ihn vordem gesehen am Bahnhof Friedrichstraße zwischen zwei und drei Uhr nachts und vor dem habe ich ihn zum letztenmal gesehen um 21 Uhr in der Reichskanzlei. Mr. Dodd: Das weiß ich. Haben Sie sich nicht mit Bormann darüber unterhalten, wie Sie aus Berlin entkommen könnten, als Sie gegen 9 Uhr abends den Bunker in der Reichskanzlei verließen? Kempka: Ich bekam meine Befehle von dem damaligen Brigadeführer Milunke, ich bekam keine direkten Befehle mehr von Reichsleiter Bormann. Mr. Dodd: Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie einen Befehl von ihm bekommen haben. Ich fragte Sie, ob Sie und Bormann nicht ... und wer noch dabei war, darüber gesprochen haben, wie man aus Berlin herauskommen könnte. Es war 9 Uhr abends und die Lage war schon ziemlich verzweifelt. Haben Sie in jener Nacht nicht darüber gesprochen, wie Sie entfliehen könnten? Es waren nicht viele von Ihnen dort. Kempka: Doch, es sind zirka 400 bis 500 Personen insgesamt noch in der Reichskanzlei gewesen, und diese 400 bis 500 Personen waren aufgeteilt in einzelne Gruppen, und diese Gruppen gingen dann einzeln aus der Reichskanzlei heraus ... Mr. Dodd: Gut, was ich herausfinden will: Haben Sie und Bormann und wer sonst noch im Bunker war, bevor Sie den Bunker verließen, davon gesprochen, an jenem Abend aus Berlin herauszukommen? 205
Kempka: Mit Reichsleiter Martin Bormann habe ich damals nicht weiter darüber gesprochen. Wir hatten nur einen Marschbefehl dahingehend, wenn es uns gelingen sollte, uns in Fehrbellin zu melden, dort wäre eine Kampftruppe, der wir uns anschließen sollten. Mr. Dodd: Sie sind der einzige Mann, der aussagen könnte, daß Hitler tot ist, daß Bormann tot ist. Ist das so, so weit Sie wissen?” (Weitere Fragen beziehen sich auf die Umstände um Adolf Hitlers Tod.) „Mr. Dodd: Ich glaube, ich werde keine Fragen mehr stellen, Herr Präsident. Dr. Bergold: Ich habe auch keine weiteren Fragen zu stellen. Vorsitzender: Der Zeuge kann sich zurückziehen. (Der Zeuge verläßt den Zeugenstand).” (104) Der, in der oben zitierten Verhandlung vom 3. Juli 1946 erwähnte Staatssekretär Dr. Naumann, der sich bei der Explosion in unmittelbarer Nähe Martin Bormanns befand und dem die Flucht in den Westen glückte, sagte am 18. Dezember 1963 auf der Frankfurter Staatsanwaltschaft über Martin Bormann folgendes aus: „Die letzten Eindrücke, die ich von Bormann hatte, waren nicht so sehr, daß er erschöpft oder verzweifelt schien. Verwundet war Bormann auch nicht... Ich weiß nicht, wer mit Bormann zusammenging. Ich weiß aber, daß Herr Bormann zu diesem Augenblick noch gelebt hat. Es wird gegen drei oder vier Uhr morgens gewesen sein.” (9) Der ehemalige SS-Sturmbannführer (Major) Joachim Tiburtius, von Lew Besymenski (9) erwähnt, war ebenfalls Zeuge der vorstehend geschilderten Ereignisse. Seinem Bericht (105) entnehmen wir die schweizerischen Eingangs- und Schlußkommentare und vor allem die Stellen, in denen er sich auf Martin Bormann bezieht. Die einleitenden Worte der Redaktion der Zeitung „Der Bund”, Bern, die den Bericht von Tiburtius veröffentlicht hat, lauten: „Die Enthüllungen des Tiburtius sind die ersten dieser Art, die 206
einen Aufschluß darüber geben, wie Bormann der Feuerhölle des Reichskanzleibunkers hätte entkommen können. Tiburtius hat drei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zugebracht. Seine Identität ist durch den amerikanischen Intelligence-Service bestätigt worden. Er sprach ruhig, als er die letzten Stunden der Reichshauptstadt schilderte, malte aber ein eindrückliches Bild von dieser Feuerhölle. Der Rest seiner Einheit, der SS-Division ,Nordland‘, deren Nachschuboffizier er war, hätte weitergekämpft, als sie schon von den Russen eingeschlossen war. Am zweiten Mai, um zwei Uhr, hätten sich 400 Leute zusammengetan, um aus dem russischen Ring auszubrechen. Neben den Leuten seiner Division, von denen viele verwundet gewesen seien, hätten sich Leute der spanischen ,Blauen Division‘, Leute der Luftwaffe, des Kampfverbandes ,Bärenfänger‘ und die Überlebenden von Hitlers unterirdischem Hauptquartier darunter befunden, einschließlich Bormann und einige Sekretärinnen des Führers. Tiburtius sagte: ,Das ganze Gebiet war vom Feuer der brennenden Stadt taghell erleuchtet... So verließen wir die kleine Schutzzone des Bunkers”‘ (der Reichskanzlei) „,und gingen auf die Weidendammer Brücke zu. Aber als wir die Brücke überquerten, eröffneten die Russen das Feuer aus einer Baracke, in welche sie sich eingeschlichen hatten, ohne daß wir es bemerkt hatten. Ich rannte auf die linke Seite eines Tanks in Deckung. Bormann, den ich in den letzten Tagen oft gesehen hatte, war dicht hinter mir. SS-General Ziegler, der Kommandant der ,Nordland-Division‘ und ebenfalls der Führer der Ausbrechergruppe, rannte auf die rechte Seite des Tanks. Einige Sekunden später explodierte eine ,Panzerfaust‘ auf seiner Seite und riß ihm den Kopf und ein Bein weg. Ich übernahm nun das Kommando der Ausbrechergruppe, aber es war nicht viel zu kommandieren übriggeblieben. Denn, sobald die Tanks merkten, daß sie unter Feuer genommen wurden, rollten sie davon und ließen uns schutzlos zurück. Die Gruppe war auf etwa vierzig Leute reduziert und Bormann war immer noch an meiner Seite. Ich verlor ihn dann eine Weile aus den Augen, als ich ihn dann aber später beim Hotel ,Atlas‘ erblickte, hatte er schon Zivilkleider angezogen. Wir stießen gegen den Schiffbauer207
damm vor, dann verlor ich Bormann endgültig aus den Augen. Aber er hatte zur Flucht eine genau gleich große Chance wie ich. Ich ging im Juli 1945 mit sechs Leuten nach München. Die Frage, ob Bormann noch am Leben sein könnte, ist immer noch eine der meist diskutieren Fragen im Nachkriegsdeutschland.”’ Der Schlußkommentar der Schweizer Zeitung zu dieser Meldung lautet u. a.: „Sollte Bormann tatsächlich noch am Leben sein, dann ist sein Aufenthaltsort ein gut gehütetes Geheimnis geblieben, obwohl die deutschen Illustrierten sich ein Vergnügen daraus machen, abwechslungsweise zu berichten, er befinde sich in Nordafrika, Spanien, einem italienischen Kloster oder an Bord eines geheimnisvollen U-Bootes.” (105) Eine Liste der durch die Presse bekanntgewordenen Augenzeugen, die Martin Bormann begegnet sein wollen, hat Lew Besymenski in seinem Buch „Auf den Spuren Martin Bormanns” in den Jahren 1964/65 zusammengestellt: Jahr Zeuge oder Veröffentlichung Ort --------------------------------------------------------------------------------------------------1945 10.Mai Luigi Sivestri bei Bozen 17. Mai unbek. SS-Mann bei Komotau (CSSR) 26. oder Heinrich Lienau im Zug Ham27. Juli „Welt am Sonntag” burg-Flensburg 2.10.1960 1946 Zeitungen US-Zone (Deutschland) 1947 Joseph Kleemann Australien Schiffspassagiere Ägypten „Münchner Illustrierte” Spanien 1950 „Kristeligt Dagblad” Südwest-Afrika Kopenhagen, 24.4.1950 „Reynolds News” Südspanien Karl-Heinz Kaerner SpanischMarokko 208
1951
1956 1960
„Figaro” (Paris) westdeutsche und österreichische Zeitungen (Paul Hesslein) „Die Furche” 21.6.1951 „Essener Kurier” 9.6.1952 „Volksstimme” 15.7.1962 „Münchner Illustrierte” 7.11.1957 „Heilbronner Stimme” 8.9.1951 „Freiheit” 15.7.1951 „Münchner Illustrierte” 7.11.1957 „Kurier” 30.4.1956 „Telegraf” 9.6.1960
Nahe des Rio Negro (Chile)
Italien oder Spanien Argentinien (U-Boot 29) Argentinien Argentinien Brasilien Bormann von einem Arzt getötet
Obige Zusammenstellung aus den Jahren 1964/65 hat Lew Besymenski laufend ergänzt und in seinem Buch „Die letzten Notizen von Martin Bormann” (4) im Jahre 1974 der Öffentlichkeit übergeben. Es erübrigt sich, die zahlreichen Pressemeldungen über Martin Bormanns Auftauchen, vornehmlich in der südlichen Hemisphäre, insbesondere im ,Naziparadies Südamerika’ (Besymenski) näher zu betrachten. Die Reihe dieser Meldungen wird unterbrochen durch die Erklärung des ehemaligen Adjutanten von Goebbels, Prinz zu Schaumburg-Lippe, der Martin Bormann im Jahre 1950 — nach Besymenski in Buchloe, nach anderen Veröffentlichungen in Ulm — gesehen haben will. Diesbezügliche Anfragen nach Einzelheiten blieben unbeantwortet. Am Ende dieser Liste aus dem Buch „Die letzten Notizen von Martin Bormann” (4) setzt der Verfasser fort wie folgt: „1971: Dieses war ebenfalls wieder ein ,Bormann-Jahr’: Der OKH209
General und spätere Chef des Bundesnachrichtendienstes der BRD, Reinhard Gehlen, gibt in seinen Memoiren eine neue Version: Bormann lebt und hält sich in der Sowjetunion versteckt, da er ein ‚sowjetischer Agent’ war. Diese Version wurde unverzüglich von der Springer-Presse aufgegriffen. Aber die Sensation wurde schnell zunichte gemacht: Gehlen hatte keine Beweise für seine Angaben. Nach der Vernehmung Gehlens durch den Frankfurter Staatsanwalt wurde eine offizielle Erklärung veröffentlicht, daß die Version Gehlens jeder Grundlage entbehre. Mehr noch als das: In dem oben bezeichneten Buch von McGovern findet man Angaben, wonach derselbe Gehlen auf eine offizielle Anfrage seitens des CIA berichtet habe, daß ihm von einem angeblichen Aufenthalt Bormanns in der Sowjetunion nichts bekannt sei. Im Zusammenhang mit diesem Skandal erschienen verschiedene neue Veröffentlichungen, aus denen hervorgeht, daß Bormann im Juni 1945 in Berlin gesehen wurde, daß dieser über Südtirol nach Südamerika geflohen sei und daß er angeblich 1945 in Berlin begraben wurde, doch eine Öffnung der Gräber hat keine einzige Bestätigung dieser Behauptung ergeben (Meldung der Frankfurter Staatsanwaltschaft). Ende des Jahres erklärte dann der Untersuchungsrichter Horst von Glasenapp (Frankfurt), daß die Ermittlungen zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt hätten. Es gäbe weder Anhaltspunkte dafür, daß Bormann 1945 gestorben sei, noch einen Beweis für seine Flucht.” Auf diese Ausführungen Lew Besymenskis kommen wir später zurück. Die weitere Frage Lew Besymenskis, ob „durch die ‚Irrlichter’ der vielen Berichte über das Nachkriegsschicksal Martin Bormanns die wirklichen Wanderwege des fliehenden Reichsleiters oder seiner Kollegen in Rauch gehüllt werden”, ist verständlich. Denn „der kritische Leser hätte natürlich schon längst sagen können: ist der ,Fall Bormann’ nicht von einer sensationshungrigen Presse erdacht, und sind die Berichte über ihn nicht das Ergebnis der Phantasie verantwortungsloser Journalisten?” Ein solches Urteil wäre aber viel mehr verantwortungslos, denn die Nachrichten stammen ja nicht nur von Journalisten. Eine unter ihnen 210
stammte von dem SS-Obergruppenführer Gottlob Berger, der Bormann sehr gut kannte. In einem Rundfunkinterview soll General Berger am 20. April 1964 gesagt haben: „Ich bin sogar fest überzeugt, daß er (Bormann) in Berlin nicht gefallen ist. Er ging in den Teil der Welt, in dem es am leichtesten ist zu verschwinden, nach Südamerika.” (4) Diesen Aussagen General Bergers vom 20. April 1964 stehen seine schriftlichen Mitteilungen gegenüber, die er gemacht haben soll, wie dem Verfasser am 22. Oktober 1979 von glaubwürdiger Seite geschrieben wurde: „Er” (General Berger) „verstarb 1975. Er besaß die besten Informationsquellen, die man sich denken kann. Vor seinem Tode teilte er mir noch mit, daß Martin Bormann vor einigen Jahren in einer Datsche in Moskau verstorben wäre.” Vermutlich hat General Berger in den Jahren nach 1964 Weiteres erfahren, wodurch seine Aussagen über Bormanns Aufenthaltsort geändert wurden. Wenn der sowjetrussische Bormann-Forscher Lew Besymenski zahlreiche Meldungen gesammelt hat, die von Martin Bormanns Auftauchen in vielen Ländern der Erde, außer in der Sowjetunion, berichten, so ist in dieser Hinsicht der amerikanische Bormann-Forscher Ladislas Farago unabhängiger: Er hat in seine gesammelten Meldungen, die sich mit denen Lew Besymenskis weitgehend decken, zusätzlich aufgenommen (12): 1. „Am 12. Juni” (1945) „berichtete die ,New York Times’ aufgrund einer Meldung des sowjetisch kontrollierten Berliner Rundfunks, Martin Bormann sei verhaftet worden, wahrscheinlich von den Russen.” 2. „Am 2. August” (1945) „wurde aus London bekannt, Untersuchungsbeamte hätten ,geheime Beweise’ zusammengetragen, nach denen Martin Bormann vielleicht noch am Leben sei und ein Gefangener der Russen sein könnte.” 3. „Am 1. September” (1945) „meldete die ,New York Times’ Bormanns Verhaftung durch die Russen.” Diese drei Meldungen aus dem Buch des Amerikaners Ladislas Farago werden ergänzt durch: a) „Kärntner Nachrichten” Klagenfurt vom 13. Juni 1945: „Der Prager Rundfunk meldet die Festnahme des Chefs der 211
Reichskanzlei, Martin Bormann, der auf der Kriegsverbrecherliste steht...” b) „Kölnischer Kurier” Köln vom 16. Juni 1945: „Auch Bormann Der Berliner Sender meldet die Verhaftung des ehemaligen Leiters der Parteikanzlei, Martin Bormann ...” c) „Neue Zürcher Zeitung” Zürich vom 17. Juni 1945 „Verhaftung Bormanns Moskau, 16. Juni ag (AFP) Radio Moskau meldet die Festnahme Martin Bormanns, des früheren Chefs der Parteikanzlei. Der sowjetische Sender bezeichnet Bormann als den Organisator der Anschläge gegen alliierte Militärpersonen und gegen die Vertreter der neuen deutschen Verwaltung.” d) „National-Zeitung” Basel vom 18. Juni 1945: „Martin Bormann von den Russen gefangen” Moskau, 17. Juni, ag (APF) Radio Moskau meldet die Festnahme Martin Bormanns, des ehemaligen Chefs der Reichskanzlei. Dieser hat das gegenwärtig in Deutschland bestehende Terroristennetz persönlich organisiert. Der russische Sender bezeichnet Bormann als verantwortlich für die Anschläge gegen alliierte Militärpersonen und gegen die Vertreter der neuen deutschen Verwaltung.” e) „Aachener Nachrichten” Aachen vom 31. August 1945: „Martin Bormann ist 45 Jahre alt, er war Reichsleiter der NSDAP und Leiter der Parteikanzlei, sowie Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung. In der SS und der SA hatte er den Rang eines Obergruppenführers. Martin Borman war bis kurz vor dem Fall von Berlin im Führerbunker der Reichskanzlei. Nach der Einnahme Berlins durch die Russen wurde ein Gerücht verbreitet, daß Bormann tot sei. Später meldeten Auslandszeitungen, daß er von den Russen gefangengenommen wurde.” Die vorliegenden Pressemeldungen sind insoweit unvollständig, als außer der Sendung des Moskauer Rundfunks vom 16. Juni 1945 bzw. vom 17. Juni 1945, der übrigens der 45. Geburtstag Martin Bormanns war, sowie der Sendung des Prager 212
Rundfunks vom 12. oder 13. Juni 1945 keine weitere öffentlich zugängliche Meldung über den damaligen Aufenthaltsort Martin Bormanns aus Osteuropa bisher bekannt wurde. Es ist durchaus vorstellbar, daß in der Siegesfreude jener Wochen jede Festnahme von als Kriegsverbrecher Anzuklagenden, gerade wenn sie vom staatlichen Moskauer Rundfunk gemeldet worden war, auch in der Presse der Sowjetunion in entsprechender Aufmachung wiederholt worden ist. Bemerkenswert ist, daß die vorliegenden drei Meldungen aus New York und London und deren Ergänzung aus Klagenfurt, Köln, Zürich, Basel und Aachen ihre Information 1. aus dem sowjetischen Machtbereich zogen, und daß sie 2. zeitlich begrenzt ist auf die Zeit zwischen dem 12. 6. 1945 und dem 1.9.1945. Die später einsetzende und jahrelang fortgeführte Flut der Berichte vom Erscheinen Martin Bormanns in allen Teilen der Welt — außer Osteuropa — hat der vom Verteidiger Martin Bormanns im Nürnberger Prozeß vorausgesehenen Legendenbildung Vorschub geleistet. Dieser Legendenbildung ist das folgende Kapitel gewidmet.
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SIEBZEHNTES KAPITEL Dr. Bergold beantragt, Bormann für tot zu erklären — Gericht lehnt ab — Großes Plädoyer Dr. Bergolds — Er beugt sich Belehrungen des Gerichts — Orakelhafte Worte Sowjet-Generals Rudenko über Bormann — Sowjets wissen noch nichtt ob sie ihn haben — Lahme Bormann-Fahndung in Ostdeutschland In der Verhandlung vor dem Internationalen Militärtribunal zu Nürnberg am 29. Juni 1946 hat der Verteidiger Martin Bormanns, Dr. Bergold, versucht, den Tod seines Mandanten durch Augenzeugen zu beweisen, in der Annahme, daß ein Verstorbener nicht mehr verurteilt werden kann (106). In dieser Verhandlung wurde im einzelnen ausgeführt: Dr. Bergold: „Hohes Gericht! Es ist nur so, die letzten Lebensumstände des Angeklagten Bormann sind nicht sehr klar, und es ist sehr notwendig, alle darüber erreichbaren Zeugen zu hören, weil man nur aus der Gesamtheit der Zeugenaussagen den Eindruck und die Sicherheit gewinnen kann, die ich anstrebe, nämlich, daß der Angeklagte Bormann bereits gestorben ist.” Vorsitzender: „Das scheint nicht sehr erheblich zu sein; es ist ganz unerheblich, ob er tot ist oder lebendig. Die Frage ist, ob er schuldig oder unschuldig ist.” Dr. Bergold: „Hohes Gericht! Ich stehe auf dem Standpunkt, daß gegen einen Toten ein Urteilsspruch nicht mehr gefällt werden kann. Das ist auch im Statut nicht vorgesehen. Im Statut darf das Gericht nur judizieren gegen einen Abwesenden. Man kann aber gegen den juristischen Begriff ,abwesend’ nicht einen Toten subsummieren. Wenn der Angeklagte tot ist, dann gibt das Statut keine Möglichkeit, im Verfahren gegen ihn fortzufahren.” (Es folgte eine Diskussion über Verfahrensfragen und über die Zulassung bzw. Ablehnung der von der Verteidigung vorgelegten Dokumente. [Insbesondere Seite 642 und 643 des IMT-Bandes XIV.]) Dr. Bergold: „Ich bedauere dies außerordentlich” (gemeint ist die Beweisnot des Verteidigers), „daß dieser Beweis nicht klar 214
geführt werden kann und daß mich auch die Hohe Anklagebehörde nicht mehr unterstützen konnte, denn auf solche Weise wird die Legendenbildung außerordentlich gefördert. Es traten nämlich bereits eine Art falscher Demetrius, falsche Martin Bormanns auf, die an mich Briefe richten unter dem Namen Martin Bormann, die aber gar nicht von ihm herstammen können. Ich glaube, es wäre der gesamten Öffentlichkeit und auch dem deutschen Volk und den Alliierten damit gedient gewesen, wenn ich diesen Beweis, wie ich ihn erbeten hatte, hätte führen können...” (107) Über den Inhalt dieser Briefe, über deren Zweck und mutmaßlichen Verfasser und/oder Absender niemals diskutiert wurde, im Jahre 1975 befragt, erklärte Dr. Bergold, daß es sich um zwei bis drei Briefe handeln dürfte mit derart plumpen Auslassungen, daß er darauf keinen weiteren Gedanken verwendet hatte. Daß es sich dabei um Falsifikate gehandelt haben soll, habe der ehemalige Reichsleiter Buch bestätigt, aufgrund seiner familiären Beziehungen (Schwiegervater Martin Bormanns). Dr. Bergold kann sich nicht erinnern, ob er diese Briefe aufbewahrte oder dem Staatsarchiv übergab. Wenn Dr. Bergold in seinem Plädoyer vom 29. Juni 1946 ferner ausführte, daß Briefe, die ihn unter dem Namen von Martin Bormann erreichten, aber gar nicht von ihm herstammen könnten, da „diese Brief Schreiber geltungsbedürftige und schwindelhafte Personen seien”, so dürfte er sich über diese Zusammenhänge doch mehr Gedanken gemacht haben, als er heute mitzuteilen bereit ist. Wenn man schließlich in Betracht zieht, daß diese Briefe vor Ende Juni 1946 geschrieben wurden, also innerhalb des ersten Nachkriegsjahres, in einer Zeit, in der Millionen Deutsche sich in alliiertem Gewahrsam befanden, wodurch sie als Briefschreiber in Sachen Bormann ausschieden, während die nicht in Gewahrsam befindlichen Deutschen sich ihren Lebensunterhalt meist mühevoll erwerben mußten — die Schwarzmärkte seien nur erwähnt, die Nöte um Unterkunft und Bekleidung gehörten dazu, so fragt man sich, wer aus diesem Personenkreis kann unter derartigen Lebensumständen noch die Muße gehabt haben, den Verlauf der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg zu ver215
folgen, den in der Presse nicht genannten Namen des Verteidigers Dr. Bergold zu ermitteln und an diesen Briefe zu richten? Die damals wegen Papiermangels dürftigen und nur sporadisch erscheinenden Tageszeitungen erhielten vom Militärtribunal spärliche Informationen, in denen die Namen der Verteidiger der Angeklagten nicht genannt waren. Wie ist es diesen Briefschreibern gelungen, trotzdem den Namen von Martin Bormanns Verteidiger zu erfahren? Wer kann überhaupt daran interessiert gewesen sein, sich gerade für den meistgehaßten Mann in der NSDAP*) zu verwenden? Seine Frau, Hildegard Bormann, geb. Buch, lag schwerkrank und operiert in einem USLazarett in Meran, wo sie an dem Tag starb, als Dr. Bergold sie zur Befragung aufsuchen wollte. Ihre neun Kinder waren damals noch minderjährig. Die Spur zu diesen Briefschreibern bleibt somit im Dunkeln. Im Plädoyer, das Dr. Bergold am 22. Juli 1946 für Martin Bormann gehalten hat, führte er u. a. aus: „Euer Lordschaft, meine hohen Herren Richter! Der Fall des Angeklagten Martin Bormann, den zu verteidigen mir vom Hohen Gericht aufgegeben ist, ist ein ungewöhnlicher. Der Angeklagte lebte, als das nationalsozialistische Reich noch glänzte, im Schatten, er blieb in diesem Prozeß schattenhaft und weilt, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch jetzt unter den Schatten, wie in der Antike die Toten genannt worden sind. Er ist der einzige der Angeklagten, der nicht anwesend ist, gegen den der Paragraph 12 des Statuts angewandt wird. Es ist, als hätte die Geschichte die Kontinuität des genii loci wahren und gerade in Nürnberg das Problem erörtert sehen wollen, ob und inwieweit die höchste Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Angeklagter um das Leben gekommen ist, einem Verfahren in contumaciam — in absentia — gegen einen solchen Mann im Wege steht. Es ist nämlich in Nürnberg aus dem Mittelalter bis auf unsere Zeit ein Sprichwort herübergekommen, das dahin lautet, es würden ,die Nürnberger niemand hängen, sie hätten ihn denn zuvor’.” *
Zudem war der Name Bormanns außerhalb der NSDAP recht wenig bekannt, ja den meisten Deutschen ganz unbekannt, v. Bebenburg
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An dieser Stelle unterbrach der Gerichtsvorsitzende das Plädoyer Dr. Bergolds mit den Worten: „Es scheint dem Gerichtshof, als wollten Sie zunächst darlegen, daß dieser Gerichtshof nicht berechtigt ist, gegen den Angeklagten Bormann in Abwesenheit zu verhandeln, und zweitens, daß dies selbst im Falle, daß ein solches Recht bestünde, nicht angebracht sei...” (Es folgte die Begründung des Vorsitzenden darüber, daß trotzdem über Bormann verhandelt werden solle. Ferner sei der Gerichtshof nicht bereit, jetzt eine Erörterung über die Revision seiner Entscheidung anzuhören und sei auch nicht geneigt, seine Entscheidung zu revidieren. Es beklagte sich Dr. Bergold über die mangelhafte Übersetzung, worauf der Vorsitzende langsamer sprach. Zu einer weiteren Kontroverse zwischen dem Vorsitzenden und Dr. Bergold kam es, als Dr. Bergold darauf beharrte, daß durch Kempkas Aussage die Todeswahrscheinlichkeit Bormanns evident gemacht worden sei und er darüber plädieren wolle. Das wurde ihm vom Vorsitzenden untersagt: „Ich sagte, daß der Gerichtshof den Text von Seite l bis 10 nicht hören will... Wenn Sie auf Seite 10 mit den Worten: ,lch kann nicht’ — es ist der letzte Absatz auf Seite 10 — beginnen wollen, so wird Sie der Gerichtshof anhören.) Dr. Bergold: „Ich muß mich wohl dieser Entschließung fügen ... Es ist meines Erachtens nun in keiner Weise bewiesen, daß der Angeklagte sich absichtlich dem Verfahren fernhält. Durch die Vernehmung des Zeugen Kempka ist nach meiner Ansicht sogar mit höchster Wahrscheinlichkeit geklärt, daß der Angeklagte Bormann tot ist... Selbst wenn Bormann nicht bei dieser Gelegenheit getötet worden wäre, wäre er wohl mit Sicherheit so erheblich verletzt worden, daß ihm die Flucht nicht mehr möglich gewesen wäre. Er wäre aber dann unbedingt in die Hände der Truppen der UdSSR gefallen, die nach dem Affidavit der Zeugin Krüger der Reichskanzlei schon ganz nahe waren und sie wegen der Flucht der Besatzung am 2. Mai 1945 schon besetzt haben. Die UdSSR aber hätte Bormann selbstverständlich bei der 217
Loyalität, mit der sie an diesem Verfahren teilnimmt, dem Hohen Gericht zur Verantwortung überstellt. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, wenigstens nach meiner Beurteilung, von denen die erste, nämlich die, daß Bormann verwundet in die Hände der UdSSR gefallen ist, erwiesenermaßen nicht eingetreten ist, so kann nur die zweite Möglichkeit sich ereignet haben, daß nämlich Bormann um das Leben gekommen ist... Die Gestalt Bormanns und seine Tätigkeit sind auch in diesem langen Verfahren nach wie vor in dem Dunkel geblieben, in dem der Angeklagte sich aus Charakterveranlagung schon bei Lebzeiten gehalten hat ... Niemand aber weiß, was der Angeklagte Bormann diesen Männern hätte erwidern können, wenn er anwesend gewesen wäre. Er hätte vielleicht dartun können, daß seine gesamte Tätigkeit für die Geschehnisse, die die Anklage behandelt, nicht verursachend gewesen ist, daß er auch den Einfluß nicht besessen hat, der ihm als dem Sekretär des Führers und der Partei angedichtet wird. Es ist eine in aller Welt bekannte Erfahrung, daß Sekretären und Leitern von Zentralkanzleien, ähnlich wie den fürstlichen Kammerdienern des Absolutismus, immer ein erheblicher Einfluß auf ihre Vorgesetzten und Herren zugeschrieben wurde, weil eben nach der Natur der Sache durch die Hände eines solchen Sekretärs alles laufen muß, was nur büromäßig erledigt werden kann. Was aber kann in einem modernen Staat sich dem Moloch des Bürokratismus entziehen? ...” Vorsitzender: „Der Gerichtshof vertagt sich.” (Das Gericht vertagt sich bis 14 Uhr) Dr. Bergold: „Diese Mitarbeiter und Untergebenen, wie hoch sie auch immer im Range gestanden haben mögen, die zum Teil sogar den Leiter der Parteikanzlei gefürchtet haben mögen, vielleicht aus Gründen, die nur in ihrer Person und ihren Mißgriffen gelegen haben, diese Menschen sind nicht geeignet, uns darüber aufzuklären, welche beider Alternativen die richtige ist. Solange nicht Bormann selbst erscheint und gehört werden kann, ist daher die wahre Rolle Bormanns immer von Zwielicht umwittert. Niemand, auch das Hohe Gericht nicht, wird ein sicheres Urteil fällen können. Der Gesamtsachverhalt bleibt zweifelhaft... 218
Es ist bezeichnend für den Fall Bormann, daß ihm selbst Maßnahmen gegen die Juden nicht nachgewiesen sind. Immer nur hat er solche Anordnungen weitergegeben, zur Kenntnis gebracht oder sonst veröffentlicht, wie dies durch die Gesetze vorgeschrieben war und wie sich dies aus seiner Stellung als Parteisekretär büromäßig ergeben hat. Selbst die große Besprechung vom 12. November 1938, die unter dem Vorsitz Herrn Görings stattgefunden hat und aus der eine Reihe von Gesetzen gegen die Juden hervorgegangen ist, ist mit Bormanns Person nur soweit verknüpft, daß eben Bormann an Herrn Göring die Hitlersche Anordnung zur Abhaltung einer solchen Besprechung weitergegeben hat. Welchen Einfluß Bormann in diesen Fragen selbst genommen hat, ist jedenfalls überhaupt nicht geklärt. Wie aber soll ein gerechtes Gericht zu einem Urteil über die Höhe einer angemessenen Strafe kommen, wenn der Anteil, wenn die Mitwirkung eines einzelnen Angeklagten an einer Tat nicht geklärt ist? Niemand kann dann sagen, daß der Sachverhalt keinem Zweifel unterliegt ... Es ist sicherlich richtig, daß Bormann philosophisch und haltungsmäßig ein heftiger Gegner der christlichen Lehre gewesen ist. Allein eine solche geistige Haltung ist weder eine Schuld noch gar ein Verbrechen vor der Gesamtheit der Menschheit, die so vielen verschiedenen Anschauungen über die Welt und die höheren Verknüpfungen huldigt und vielleicht noch viele erzeugen wird. In der modernen Zeit leben zahlreiche überzeugte Atheisten. Auch in anderen Staaten des Erdkreises gibt es erlaubte Organisationen, die gegen die christliche Form der Weltdeutung ankämpfen, und es hat an der Wende unseres Jahrhunderts große Vereine in vielen Ländern gegeben, die den reinen Materialismus als philosophisches System und die Verneinung seelischer Tatbestände offen auf ihr Panier geschrieben hatten. Es wird niemand deswegen dafür bestraft werden können, weil er die Lehrsätze seiner Weltanschauung Dritten beibringen und Dritte zu seinem Standpunkt bekehren möchte. D i e m o d e r n e W e l t kennt noch den Schauder vor der Inquisit i o n . (Gesp. v. Verf.) Bormann könnte daher nur bestraft werden, wenn ihm die Teilnahme an einer echten religiösen Ver219
folgung und nicht nur an einem weltanschaulichen Kampfe nachgewiesen wäre... Die Quintessenz des Dokuments D-75 findet sich in dem Satz: Es sei aus der Unvereinbarkeit nationalsozialistischer und christlicher Anschauungen zu folgern, daß eine Stärkung bestehender und jede Förderung entstehender christlicher Konfessionen von der Partei abzulehnen sei. Unerheblich ist es, aus welchen zwingenden Begründungen heraus Bormann zu einer solchen Schlußtendenz seines Schreibens kommt. Daß die Unterlassung einer Stärkung einer philosophisch bekämpften religiösen Anschauung keine religiöse Verfolgung darstellt, braucht nicht erörtert zu werden. Niemand ist verpflichtet, eine religiöse Anschauung zu bestärken ... Dabei ist weiter wichtig, daß dieses Dokument nur in einer Kopie zu uns gekommen ist, die ein protestantischer Priester, namens Eichholz, sich selbst angefertigt hat. Ob daher der Inhalt der Bormannschen Ausführungen durch das Dokument völlig richtig wiedergegeben ist, ist überhaupt nicht erwiesen. In dieser Form stellt das Dokument jedenfalls keinen echten Beweis dar ... Auch die übrigen Beweisdokumente offenbaren keine wirklichen Verfolgungsmaßnahmen. Daß Bormann die Aufnahme von Priestern oder von Mitgliedern gewisser religiöser Vereine in die Partei auf einen Befehl Hitlers hin untersagt hat, daß er auf Befehl Hitlers es verboten hat, Priester in leitende Stellungen der Partei, zum Zwecke der Verhütung von Zwistigkeiten, zu berufen, ist keine Religionsverfolgung ... Daß er im Kriege verlangt hat, die Kirche müsse die gleichen geldlichen Opfer bringen, wie die übrigen staatlichen Institutionen, stellt keine verbrecherische Maßnahme aus religiösen Gründen dar. Daß er im Rahmen der Schließung vieler weltlicher Lehrinstitute, die erfolgen sollte, um die Menschenreserve der Nation besser auszunützen, auch die Schließung kirchlicher Institute betrieben hat, daß er im Rahmen der Beschränkung der Auflageziffern und des Seitenumfangs weltlicher Zeitschriften auch kirchliche Zeitschriften beschränkt sehen wollte, fällt nicht unter Paragraph 6c des Statuts ... Alle Dokumente ergeben, daß Bormann sich immer an die Be220
Stimmungen, die rechtswirksam waren, gehalten hat, so daß sicherlich er, der so eifrig auf die Einhaltung Hitlerscher Befehle bedacht war, den Stopperlaß Hitlers auf das bestimmteste beachtet hat, der zu Anfang des Krieges angeordnet hatte, daß alle Maßnahmen gegen die Kirchen einzustellen seien. Es kann also abschließend gesagt werden, daß auf diesem Gebiete, trotz der vielen vorgelegten Dokumente, eine wirkliche Klarheit nicht gewonnen werden konnte. Dokumente allein sind nicht ausreichend, den Sachverhalt jedem Zweifel zu entziehen. Insbesondere in Bezug auf die Bedeutung und das Schwergewicht der Bormannschen Beteiligung an kirchenverfolgerischen Maßnahmen erscheint die persönliche Verantwortung Bormanns als notwendig. So bleibt auch dieser Tatbestand in ein gewisses Dunkel gehüllt. Die Grundlage für eine gerechte Beurteilung der Strafhöhe kann nicht gewonnen werden ... Ich glaube, die Hinweise, die ich jetzt gegeben habe, sind genügend, um zu beleuchten, daß selbst die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Dokumente jedenfalls nur das eine mit Sicherheit beweisen, daß Bormann, ,wie das Gesetz es befahl‘, als Leiter der Parteikanzlei in den büromäßigen, sekretärmäßigen Verkehr zwischen der Spitze des Reiches und den untergeordneten Stellen und in den Verkehr zwischen diesen untergeordneten Stellen eingeschaltet war. Alles andere sind Vermutungen, die nicht völlig klar erwiesen sind... Um die Gestalt Bormanns, sein Wirken und sein Fortleben, hat sich leider schon die Legende gesponnen. Legenden aber sind für den nüchternen Blick des Juristen keine vollgültigen Grundlagen für ein sicheres, zweifelsfreies Urteil. Angesichts des vom Statut in der Rechtsgeschichte aller Zeiten und Völker geschaffenen Novums, über einen abwesenden Angeklagten ein endgültiges und irreversibles Urteil fällen zu lassen, bitte ich daher das Hohe Gericht, jetzt noch einmal sein Recht, ein solches Verfahren durchzuführen, nur unter Beachtung der bisherigen Rechtsanschauungen wahrzunehmen und insbesondere bei der Prüfung die Voraussetzungen zu erwägen, die das russische Recht in einer besonders exakten Weise ausgedrückt hat. 221
Ich beantrage daher ausdrücklich, das Hohe Gericht möge beschließen, entweder das Verfahren gegen Bormann wegen erwiesenen Todes einzustellen oder das Verfahren gegen den Angeklagten Bormann bis zur Ermöglichung seiner persönlichen Einvernahme und seiner persönlichen Rechtfertigung abzusetzen und von der Ausübung seines Rechts nach Paragraph 12 abzusehen.” (108) Dieses Plädoyer ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Es läßt die Atmosphäre spüren, in der Sieger und Richter in Personalunion „Recht” sprachen, wobei sie mehr als ein juristisches Novum schufen, gegen das es keine Berufung gab und dem sich auch Martin Bormanns Verteidiger Dr. Bergold zu beugen hatte. Dr. Bergold irrte jedoch, als er meinte, daß Martin Bormann, dem Sekretär des Führers und der Partei, ein Einfluß angedichtet werde, den er nicht besessen hat. Allerdings war der Umfang dieses Einflusses damals erheblich weniger bekannt als heute. Die Äußerungen Dr. Bergolds, daß die UdSSR „bei der Loyalität, mit der sie an diesem Verfahren teilnimmt”, Martin Bormann dem Hohen Gericht zur Verantwortung überstellt hätte, wenn er in ihre Hände gefallen wäre, waren überflüssig. Im übrigen sei auf das Erste Kapitel verwiesen, in dem laut „Daily Telegraph” und „Die Welt” aufgeführt ist, daß Stalin selbst dem ehemaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Dr. Eduard Benesch, mitgeteilt habe, daß Martin Bormann für die Sowjetunion spioniert habe. Ferner soll Dr. Benesch einmal zu dem tschechischen General Bartik gesagt haben: „Wenn Bormann noch lebt, wird er niemals hingerichtet werden. Er war einer von Stalins Spionen. Stalin selbst hat mir das gesagt.” (17) Ein großer Teil des Plädoyers befaßt sich mit Martin Bormanns Stellung zur Kirche, die rechtlich und sachlich einwandfrei beurteilt ist. Seine unmenschlichen Anordnungen zur Behandlung der Kriegsgefangenen werden verniedlicht. Der Hauptankläger für die Sowjetunion, General Rudenko, hat zusammenfassend Martin Bormanns Wirken, das in den vorhergehenden Kapiteln erörtert wurde, am 29. Juli 1946 noch einmal dargestellt. Der Satz: „Unter seiner Führung verwandelte sich die NSDAP in eine Polizeiorganisation, wobei sie auf das allerengste mit der 222
deutschen Geheimpolizei und der SS zusammenarbeitete”, verdient, hervorgehoben zu werden. Außer den amtlichen Nürnberger Prozeßberichten liegen auch die „Nürnberger Tagebuchnotizen” von Dr. v. d. Lippe vor (109). Der Verfasser berichtet unter dem 29. Juni 1946: „Vermutlich im Anschluß an eine Bemerkung des russischen Hauptanklägers” (General Rudenko) „,man wisse ja noch nicht, ob Bormann tot ist, man wisse nur, daß er von der Anklagebank abwesend sei‘, entstand heute das Gerücht, die Russen würden den lebenden Bormann vor Gericht bringen!” Diese Ausführungen des sowjetischen Hauptanklägers, General Rudenko, werden ergänzt durch den Bericht der Amerikaner Dennet und Johnson: „Mit den Russen am Verhandlungstisch”: „Vor allem schienen sie” (die Sowjets) „an der Aufnahme wichtiger, in ihren Händen befindlicher Nazis in die Anklageliste interessiert. Doch wußte die Sowjetdelegation lange Zeit nicht, welche wichtigen Nazis in russischer Hand waren. So wurde allgemein angenommen, daß sich Bormann, den alle Delegationen zur Verantwortung gezogen sehen wollten, unter ihren Gefangenen befinde. Schließlich erfuhren die Russen (richtiger: die Sowjetdelegation), „daß das nicht der Fall war. Man fand ihn auch sonst nicht. Er wurde in die endgültige Liste aufgenommen, da er aber nicht gefunden wurde, ist er in absentia verurteilt worden.” (110) Einem weiteren Bericht von Joe J. Heydecker und Johannes Leeb: „Der Nürnberger Prozeß” entnehmen wir: „Noch während der Londoner Konferenz zur Vorbereitung des Nürnberger Prozesses (1945) sagt (Untersuchungsrichter) Jackson am Verhandlungstisch: ,Es fehlt uns nur noch Bormann, aber wir körten, daß ihn die Russen haben.‘ General Nikitschenko antwortet: ‚Wir haben ihn leider im Augenblick noch nicht.‘ Der Gerichtshof sieht sich deshalb später veranlaßt, Martin Bormann in öffentlichen Bekanntmachungen aufzufordern, sich zu melden. Vier Wochen lang wird der Aufruf über alle Rundfunksender in den vier Besatzungszonen Deutschlands verlesen. 200000 Plakate mit Bormanns Namen werden angeschlagen, alle Zeitungen veröffentlichen den Aufruf mehrmals, in der bri223
tischen Zone allein wird die Bekanntmachung in fast fünf Millionen Exemplaren verbreitet. Es ist vergebliche Mühe. Bormann meldet sich nicht. Sein Platz auf der Nürnberger Anklagebank bleibt leer.” (111) In seinem Buch über „Die deutsche Sowjetzone bis heute” von J. Peter Nettl (112) äußert sich der Verfasser über die Verfolgung von Kriegsverbrechern wie folgt: „So wurden beispielsweise Kriegsverbrecher, Nationalsozialisten und Militaristen nicht wie im Westen anhand von Suchlisten systematisch aufgespürt. Die Tätigkeit der ,Zentralen Registrierungsstelle für Kriegsverbrecher und Sicherheitsverdächtige‘ (CROWCASS) erstreckte sich nicht auf die Sowjetzone, obwohl die Russen die Namen der von ihnen gesuchten Personen auch in den Listen des Westens erscheinen ließen ...” Nach Dennet und Johnson „Mit den Russen am Verhandlungstisch” „wurde allgemein angenommen, daß sich Bormann unter ihren Gefangenen befinde”, demnach also in sowjetischem Gewahrsam sei, während unter „allgemein angenommen” nur die drei westlichen Verhandlungspartner gemeint sein konnten. Diese wiederum konnten aber ihre Informationen über Martin Bormanns Aufenthaltsort ihrer Presse entnommen haben, die die Meldung des Moskauer Rundfunks über die Verhaftung Martin Bormanns am 16. Juni 1945 bekanntgegeben hatte. Diese Moskauer Rundfunkmeldung ging um die Welt, wurde in fast der gesamten Weltpresse wiedergegeben und nie dementiert. In jenen Tagen und Wochen überstürzten sich die Nachrichten; diese Meldung geriet anscheinend in Vergessenheit. Außer Ladislas Farago hat kein Bormann-Forscher darüber berichtet. Ebenso, wie Farago diese wichtige Zeitungsmeldung ermittelte und in seinem Buch „Scheintot” (12) veröffentlichte, hätten auch andere Bormann-Forscher entsprechend handeln können. Warum taten sie es nicht? Diese allgemeine Annahme der drei Westalliierten über Martin Bormanns Aufenthalt bei den Sowjetrussen wird erhärtet durch die Worte des Untersuchungsrichters Jackson in London (1945): „Es fehlt uns nur noch Martin Bormann, aber wir hörten, daß ihn die Russen haben.” Woher dieses Wissen Jacksons 224
stammte, ist nicht aufgezeichnet, aber es ist naheliegend, daß auch hier die Moskauer Rundfunknachricht vom 16. Juni 1945 als Quelle vorlag. Die Worte: „Man wisse ja noch nicht, ob Bormann tot ist, man wisse nur, daß er von der Anklagebank abwesend sei” (General Rudenko) oder: „Wir haben ihn leider im Augenblick noch nicht.” (General Nikitschenko) und später die endgültige Erklärung, daß man Martin Bormann doch nicht „habe”, waren keine klaren Dementis, die gerade diesen Fall auffällig gemacht hätten, sondern dienten eher einem langsamen Versickernlassen einer „Panne”, wie man es heute gelegentlich hört. Die Fahndung nach Martin Bormann wurde nur lendenlahm betrieben. Albert Bormann, sein Bruder, einst Adjutant Adolf Hitlers, war der Ansicht, daß sein Bruder Martin noch am Leben sei: „Er habe zwar kein Lebenszeichen vom Bruder erhalten, glaube jedoch, dieser befinde sich in den Händen der Sowjets, weil diese eifrig nach allen Nazi-Größen, nur seltsamerweise niemals nach (Martin) Bormann suchten.” (10) Hand in Hand mit der laschen Fahndung nach Martin Bormann geht auch ein Bericht über das Desinteresse der Sowjets an dem verschwundenen Martin Bormann. Harry Wilde zitiert in einem Aufsatz: „Martin Bormann — Stalins Gauleiter” (113) im Münchner „Echo der Woche” die Angaben, die Hans Fritzsche, der bekannte frühere NS-Rundfunkkommentator in sowjetischem Gewahrsam gemacht hat: „Von allen Nachrichten über den Tod bekannter Personen beim Zusammenbruch in Berlin scheint mir die Meldung vom Tode Bormanns am wenigsten bewiesen zu sein. Ich habe von all diesen Dingen erst viel später erfahren. Sie reichten aber nicht aus, den Eindruck zu verwischen, den im Mai 1945 eine überraschende Tatsache auf mich machte: Niemals wurde ich von den Russen nach Bormanns Schicksal gefragt. In zahlreichen Verhören wurden mir Fragen über Fragen nach dem Verbleib führender Männer des Dritten Reiches vorgelegt. Selbst wenn ich betonte, daß ich diesen oder jenen nicht persönlich gekannt oder ihn nie gesehen hätte, forschte man hartnäckig nach meinem vermeintlichen Wissen um sein Schicksal. Nur Fra225
gen nach Bormanns Weg aus der Reichskanzlei beim Herannahen der Russen wurden mir nie gestellt. Diese Lücke in der sonst vollständigen Befragung fiel mir schon in der Erregung und Erschütterung der ersten Woche meiner Gefangenschaft auf. Ich lenkte deshalb die Kette von Frage und Antwort auf meine letzte Begegnung mit Bormann. Sie fand statt am Abend des 1. Mai 1945 in der zerstörten Reichskanzlei, kurz vor dem Start zu seinem Ausbruchsversuch. Die Russen hörten sich das an, aber stellten keine weiteren Fragen, ich erwähnte, daß Bormann mir zunächst durch Staatssekretär Dr. Naumann vom Propagandaministerium und dann direkt die Auflösung des ,Wehrwolf‘ zusagte, die ich erbeten hatte. Man reagierte nicht darauf. Ich ließ einfließen, daß Bormann, der in jenem Augenblick noch die SS-Uniform mit allen Rangabzeichen trug... alle für den ,Wehrwolf‘ ausgegebenen Befehle ausdrücklich annullierte. Man fragte nicht einmal, wer dabei gewesen wäre. Das Thema Bormann schien so auffallend uninteressant, daß ich mir in der damaligen Situation sagte, die Russen wüßten über alles für sie Wissenswerte dieses Falles Bescheid. Es ergab sich zwangsläufig die Vermutung, daß sie ihre Fragen an Bormann selbst hatten stellen können. Aber das ist eine Vermutung.” (113) Zu diesen Worten Fritzsches bemerkt Harry Wilde im „Echo der Woche”: „Diese Aussage Fritzsches ist als entscheidendes Indiz dafür zu werten, daß Bormann noch lebt.”
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ACHTZEHNTES KAPITEL US-Richter: Bormann war Sowjetagent — Sowjetoffizier Wassilewsky sah Bormann und berichtet — Kurt Singer-USA: Bormann Leiter des Roten Orchesters
Im Jahre 1948 erschien eine kurze Mitteilung des amerikanischen Leiters der Untersuchungsabteilung des Internationalen Militärgerichtes in Nürnberg, Walter Rapp, der auch die Anklageschrift gegen Generaloberst Dr. Lothar Rendulic verfaßt hatte. Walter Rapp teilte mit, „er habe Beweise dafür, daß Bormann, der nach dem Englandflug von Rudolf Heß der unumschränkte Herrscher in der Parteikanzlei geworden war, lange Zeit mit den Sowjets zusammengearbeitet und Hitler getäuscht habe. Die deutsche Armee und die deutsche Verwaltung hätten deshalb im Rußlandfeldzug so viele Fehler gemacht, weil Bormann an Hitler laufend falsche Informationen gegeben habe”. (114) Damit lag auch eine amtliche amerikanische Stimme vor, die Martin Bormann als Sowjetagent bezeichnete, allerdings ohne die Beweise dafür vorzulegen. Wo befand sich aber Martin Bormann jetzt, falls er wirklich noch am Leben war? Die „Encyclopaedia Judaica” schreibt nur: „His exact whereabouts after the war remained unknown ...” (Sein genauer Aufenthaltsort nach dem Kriege blieb unbekannt.) (115) Die Antwort gibt Wassilij Wassilewsky, ein sowjetischer Überläufer, in der „Marburger Presse” vom 12. März 1949 mit den folgenden einführenden Worten der Redaktion: „Nachfolgender Bericht stammt aus der Feder eines höheren sowjetischen Offiziers aus der Heeresgruppe Schukow, der vor kurzem in den Westen flüchtete. Der Verfasser hat Bormann hinter den sowjetischen Linien gesehen und versichert, daß seine Ge227
samtdarstellung auf authentischem Material beruht, das ihm lediglich in seiner Eigenschaft als politischer Offizier der Roten Armee zugänglich wurde. Wir sind daher in der Lage, erstmals genaue Einzelheiten über das Geheimnis Martin Bormanns zu bringen.” Wassilij Wassilewsky berichtet: „In den letzten Wochen werden in westeuropäischen Zeitungen und Nachrichtenagenturen Vermutungen und Gerüchte über den ehemaligen deutschen Reichsleiter Martin Bormann veröffentlicht. Bormann soll in Spanien, in Argentinien, ja in Moskau gesehen worden sein. Eine deutsche Zeitung will sogar einen Brief von ihm erhalten haben. Seit dem Nürnberger Prozeß, in welchem Bormann als Hauptschuldiger in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden ist, hören die Gerüchte über sein vermutliches Schicksal nicht mehr auf; mit der Zeit bildeten sich förmlich Legenden um den nach Hitler höchsten Führer der NSDAP. Es ist daher an der Zeit, den Schleier des Geheimnisses um Martin Bormann endlich herunterzureißen. Im Februar 1947 legte der Chef der politischen Abteilung einer sowjetischen Gardedivision, Oberst Korsakow, in einer Rede vor höheren Offizieren der Roten Armee die Gründe des russischen Sieges über Deutschland dar. Korsakow, der durch seinen Bruder über ausgezeichnete Informationen aus dem Kreml verfügt, erklärte im Verlaufe seiner Ausführungen, ,ein führender Politiker der NSDAP und persönlicher Freund Hitlers‘ habe den Kampf der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland ,bis zum siegreichen Ende‘ unterstützt. Dieser Hinweis findet eine merkwürdige Erklärung in der Handhabung der russischen Kriegspropaganda. Seit dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion liefen Presse und Rundfunk des Politbüros nicht nur gegen die Größen des Dritten Reiches Sturm, sondern auch gegen Persönlichkeiten wie Axmann, Dr. Todt usw., die zur zweiten Garnitur gehörten. Um so mehr mußte es dem unbefangenen Beobachter auffallen, daß der Name des deutschen Reichsleiters Martin Bormann weder erwähnt noch angegriffen, ja förmlich totgeschwiegen wurde. Es erhebt sich daher die Frage: Wer war Martin Bormann, 228
und welche Rolle spielte er in der entscheidenden Phase des Krieges zwischen Hitler und Stalin? Es ist bekannt, daß Bormann schon vor dem Kriege zu den Extremisten der Partei und Gegnern von Kirche und Christentum gehörte. Er stand indessen lange im Schatten Heß', dessen Stabsleiter er war, bis er Anfang des Krieges zum Verbindungsmann zwischen Partei und Führerhauptquartier ernannt wurde. Nach dem Flug von Rudolf Heß nach England im Jahre 1941 war die Bahn frei für Bormann. Als Chef der Parteikanzlei wurde er der höchste Führer der NSDAP nächst Hitler. Durch geschicktes Antichambrieren, gepaart mit Rücksichtslosigkeit und beträchtlichem politischen Ehrgeiz, verstand es Bormann, auch in der Reichskanzlei und Präsidialkanzlei maßgebende Schlüsselstellungen zu erringen. Aber er wollte mehr. Dank seiner Vitalität und seines psychologischen Einfühlungsvermögens wurde er in kurzer Zeit der intime Vertraute und Berater Hitlers. Schnell rückte er auf in die Reihe der ,Großen Fünf‘, die um die Gunst Hitlers buhlten. Während aber Ribbentrop, Göring und Goebbels gegen Ende des Jahres 1944 in diesem Rennen zurückfielen, Himmler zum Führer der Heeresgruppe ‚Weichsel‘ ernannt wurde, konnte Bormann seine Machtposition in Berlin und seinen Einfluß auf Hitler weiter festigen: Er wurde die ,graue Eminenz‘ des deutschen Diktators. Dieser Mann war das As im Kartenspiel des Kreml, jener ,führende Politiker der NSDAP und persönlicher Freund Hitlers‘ in Berlin, der den Kampf der Sowjetunion ,bis zum siegreichen Ende‘ unterstützte. Es bleibt ein Geheimnis, wann und wie Bormann mit dem Kreml in Verbindung getreten ist. Vielleicht begünstigte seine betont antikirchliche Einstellung in der Partei bereits vor dem Kriege eine Annäherung an Moskau. Vielleicht haben ihn die Agenten des Politbüros erst während des Krieges auf ihre Seite gezogen. Es bleibt weiter ein Geheimnis, wie Bormann den Kontakt mit Moskau nach Abberufung des sowjetischen Botschafters in Berlin im Jahre 1941 aufrechterhalten hat, welcher Mittelspersonen er sich bediente und welche Aufträge er von der sowjetischen Regierung erhalten hat. 229
Fest steht jedoch, daß der X-Tag zur Auslösung des Planes ,Barbarossa‘ (Angriffsplan des deutschen Generalstabs auf die Sowjetunion), der von Hitler auf den 22. Juni festgesetzt wurde, bereits am 15. Juni 1941 in Moskau bekannt war. Fest steht, daß gewisse operative Pläne der deutschen 6. Armee im Räume von Stalingrad dem sowjetischen Oberkommando in die Hände gespielt worden sind. Fest steht weiter, daß Bormann auf Weisung des Kreml als Berater Hitlers einen maßgebenden Einfluß auf die deutsche Kriegführung, insbesondere die Operationen der Kurland-Front ausgeübt hat. Ende Juli 1944 wurde die Heeresgruppe Nord, bestehend aus 23 Divisionen der 16. und 18. Armee, durch eine Zangenoperation der russischen Heeresgruppen Rokossowsky und Bagramjan von den rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten. Nach mehreren vergeblichen Durchbruchs versuchen dieser Armeen nach Ostpreußen schlug der Chef des deutschen Generalstabes, Generaloberst Guderian, Anfang 1945 vor, die deutschen Truppen auf dem Wasserwege zu evakuieren, um die in Pommern stehende 3. und 9. Armee zu verstärken und in einer schwungvollen Gegenoffensive die Rote Armee wieder aus Deutschland zu vertreiben. Admiral Dönitz unterstützte die Vorschläge Guderians und erbot sich, die fast 500 000 Mann starke Heeresgruppe über die kurländischen Häfen Windau und Libau inneralb von 4 Wochen zurückzuführen. Hitler war aber trotz Drängens des OKW von der strategischen Notwendigkeit dieser Evakuierung nicht zu überzeugen und befahl lediglich die Rückführung einer Division. Er glaubte, daß die verbleibenden 22 Divisionen ebensoviele russische Divisionen binden würden und die (schwache) 3. und 9. Armee ihrerseits stark genug seien, um an der Oder eine Großoffensive vorzutragen. Hitler wurde in diesen Überlegungen stärkstens von Bormann beeinflußt, der seinerseits schon längere Zeit in scharfer Opposition zu Guderian stand. Das Duell Guderian—Bormann hinter den Kulissen des Führerhauptquartiers endete mit einem vollen Siege Bormanns. Guderian wurde Ende März 1945 als Chef des Generalstabes abgelöst und durch General Krebs, einen Freund Bormanns, er230
setzt. Die 16. und 18. Armee blieben in Kurland; Bormann hatte dem sowjetischen Oberkommando einen ganz großen Trumpf in die Hände gespielt. Denn jetzt kam, was kommen mußte: Die schwache Pommern- und Oderfront brach zusammen, die Kurlandarmeen gerieten in Gefangenschaft, und die russischen Heeresgruppen Shukow und Konjew drangen rasch auf Berlin vor. Das Ende des Krieges war in greifbare Nähe gerückt. In einer Besprechung am 22. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei gab Hitler den Krieg verloren. Neben Goebbels und General Krebs erklärte sich Bormann bereit, bis zuletzt bei Hitler auszuharren. Während aber bei allen anderen Persönlichkeiten eine ausgesprochene Weltuntergangsstimmung herrschte, trug Bormann bis zum Schluß die gleiche selbstbewußte, arrogante Haltung zur Schau. Er erklärte noch am 27. April 1945, ,daß der Krieg bald siegreich beendet‘ sein würde. Auf den Doppelsinn dieser Worte achtete damals niemand.” (Vgl. auch 15. Kapitel, Rittmeister Boldt.) „Dann kam das Ende. Am 30. April 1945 begingen Hitler und Eva Braun im Bunker der Reichskanzlei Selbstmord; einen Tag später, kurz vor dem Eindringen russischer Sturmtruppen, folgten ihnen Goebbels, Krebs und andere in den Tod. Wo aber blieb Bormann? Kurze Zeit nach dem Tod Hitlers verließ Bormann die Reichskanzlei und begab sich hinter die russischen Linien. Der Verfasser dieses Artikels sah Bormann am Nachmittag des 30. April im Pkw eines russischen Offiziers, nachdem er in rasender Fahrt von Berlin nach Potsdam gebracht worden war. Der Wagen stieß jedoch in der Nähe Potsdams mit einem deutschen Kraftfahrzeug zusammen. Bormann wurde leicht verletzt. Als eine Gruppe sowjetischer Offiziere — unter ihnen der Verfasser des Artikels — in dem verletzten Zivilisten den Stabsleiter Hitlers erkannte, wurde den Offizieren strengstes Stillschweigen zur Pflicht gemacht. Bormann wurde nach dem Unfall in ein sowjetisches Militärlazarett überführt. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Am 30. April 1945, dem Tage der Flucht Bormanns aus Ber231
lin, traf der Chef des sowjetischen Geheimdienstes, Berija, aus Moskau kommend, in Potsdam ein. Er wird Antwort geben können, wo Bormann geblieben ist.” (116 und 117) An diesem Bericht Wassilewskys fällt die Datumsangabe — 30. April 1945 — auf, die sich nicht mit dem allgemein bekannten und bezeugten Datum des Ausbruchs aus dem Bunker der Reichskanzlei, der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1945, deckt. Am 30. April 1945, nachmittags, nahm sich Adolf Hitler gemeinsam mit Eva Braun das Leben. Anschließend fand die Verbrennung der Leichen statt. Daher kann Martin Bormann zu dieser Zeit nicht von Wassilewsky im Pkw eines russischen Offiziers gesehen worden sein. In diesem Punkt muß ein Irrtum des Verfassers oder der Redaktion vorliegen, da die zahlreichen und wesentlichen Fakten des Berichtes Sachkenntnis erkennen lassen. Für den Berichterstatter offene Fragen, wie die erste Kontaktaufnahme Martin Bormanns mit den Sowjets zustande kam u. a., lassen sich nach heutigen Kenntnissen mit großem Wahrscheinlichkeitsgrad beantworten. Wenige Jahre nach Walter Rapps Angaben über Martin Bormann (1948), dem Bericht Wassilij Wassilewskys (1949) erschien die Schweizer Ausgabe des Buches von Kurt Singer: „Die größten Spioninnen der Welt”, im Jahre 1954. Hier schreibt Singer: „In ganz Europa funktionierte während des Krieges und vor dem Krieg eine Organisation, genannt das ,Rote Orchester‘. Das Prinzip dieser Organisation war, hochgestellte Nazis für die Sowjetunion arbeiten zu lassen. Es ist kein Zweifel, daß es den Russen gelang, Personen innerhalb von Hitlers Stab ihren Zwekken dienstbar zu machen. Heute gibt es in Deutschland Millionen, die davon überzeugt sind, daß der wirkliche Leiter des sogenannten ,Roten Orchesters‘ Hitlers Intimus, Martin Bormann, gewesen ist, der einzige hohe Naziführer, der noch nicht gefunden wurde ...” (118) Es ist dem Leser überlassen, sich ein Bild über das so dargestellte Leben und Wirken Martin Bormanns in seiner Epoche zu machen. Seine „politische Heimat” lag eher im Osten als im „dekadenten Westen”. „Bormann war Sachse, wie es Walter Ulbricht ist”, schrieb die 232
„Südost-Tagespost”. „Die verschlagene Zielstrebigkeit dieses hochintelligenten deutschen Volksstammes soll man nicht unterschätzen.” (119) Diese sporadischen Berichte, daß Martin Bormann bei der Flucht aus dem Bunker der Reichskanzlei doch nicht umgekommen, sondern am Leben sei und sich in den Händen der Sowjets befinde, lebten auf, als der frühere Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), General Reinhard Gehlen, seine Memoiren aus der Kriegs- und Nachkriegszeit („Der Dienst”) veröffentlichte. Damit war den zahlreichen „Irrlichtern um Bormann” ein sachliches Ende gesetzt.
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NEUNZEHNTES KAPITEL General Gehlens Memoiren erregen rechte und linke Öffentlichkeit — Israelischer Geheimdienstchef ist sachlich — Die Aussage Gehlens über Bormann — General Praun stützt Gehlens Angaben über Bormanns Sender — Bernd Rulands anonyme Nachrichtenhelferinnen — Angelika v. Parchims eigenartiger Name
Die Aussagen General Gehlens, die er in seinen Memoiren „Der Dienst” (21) über Martin Bormann gemacht hat, sind durch zurückhaltende Sachlichkeit gekennzeichnet. Ihrem Inhalt scheint erhebliche Bedeutung zuzukommen, da ein auffallend großer Propagandaapparat in Bewegung gesetzt wurde, um „den Mythos Gehlen zu knacken”. Die deutsche Ausgabe des Buches „Der Dienst” war noch nicht erschienen und schon wurden im Bereiche westdeutscher Universitäten primitive Anti-Gehlen-Plakate aufgestellt, denen die Studierenden meist mit Gleichgültigkeit, gelegentlich auch mit Interesse begegneten. Es wurde kaum versucht, dieses Buch sachlich zu beurteilen. Im wesentlichen waren Linkstendenzen der rote Faden, der sich durch solche öffentlichen Besprechungen zog. Diese Tendenzen wurden auch vom Funk und vor allem vom Fernsehen übernommen. Darüber schrieb W. Hertz-Eichenrode in „Die Welt” (121): „Schon die Reaktionen auf die Ankündigung der Memoiren Reinhard Gehlens haben erkennen lassen, daß der Name des Generals a. D. für manche Kommentatoren ein Reizwort ist. Es scheint sich mehr um eine Reizung des politischen Glaubens als des Verstandes zu handeln. Das ist leicht zu erklären: Gehlen war nicht nur ein ungewöhnlich erfolgreicher Geheimdienstchef, er hat obendrein in Osteuropa und in der Sowjetunion aufgeklärt. Das ist es, was jeden auf die Barrikaden bringt, der sich Frieden nicht anders vorstellen kann denn als Wandel durch Annäherung an die Kommunisten. Die Wirkung des Reizwortes ,Gehlen‘ muß intensiv sein, wenn intelligente Leute plötzlich anfangen, von Dingen zu schwätzen, 234
die sie gar nicht kennen. Z.B. gab am Montag abend im ARDMagazin ,Report‘ der britische Journalist Sefton Delmer treuherzig zu, er habe ,keine Ahnung über die Gehlenorganisation in Rußland‘. Dennoch glaubt er zu wissen, daß nach dem Zweiten Weltkrieg Gehlens Informanten nur schlecht gewesen sein können. Wer das vor dem Bildschirm angehört hat, interessierte sich nicht mehr für das Urteil Sefton Delmers über die Mitteilung Gehlens, Reichsleiter Martin Bormann sei sowjetischer Spion im Führerhauptquartier gewesen und vor wenigen Jahren in Rußland gestorben. Vielleicht hätte es aber das Fernsehpublikum interessiert zu erfahren, daß es im Jahre 1952 Sefton Delmer gewesen war, der mit seinem Artikel ,Hitlers General spioniert jetzt für Dollars‘ im ,Daily Express‘ eine Flut von mißgünstigen Veröffentlichungen über die ,Organisation Gehlen‘ ausgelöst hatte. Ein weiteres Beispiel. Ehe noch eine einzige Zeile der Memoiren Gehlens veröffentlicht war, kommentierte Dieter Gütt am 7. 8. 1971 im Ersten Fernsehprogramm munter drauflos. Er befaßte sich mit dem ,General im Zwielicht‘ und bezog sich dabei auf die Memoiren: allerdings kannte er seinen Gegenstand so vortrefflich, daß er nicht einmal den Titel des Buches richtig zu zitieren wußte. Schnell hatte er eine Dolchstoßlegende parat. Denn was konnte Gehlens Aussage über den Spion Bormann anderes bedeuten als ,Verrat an Führer und Reich haben Deutschland in die Niederlage geführt‘. So herrlich läßt sichs kommentieren, wenn man über etwas redet, das man nicht kennt. Kenntnisreichere und erfahrenere Leute, etwa der ehemalige israelische Geheimdienstchef Isser-Harel, bewahren kühleren Verstand. Isser-Harel Montag abend im ,Report‘ zu Gehlens Mitteilung über Bormann: ,lch gehe von der Ansicht aus, daß Gehlen kompetent ist.‘ Gleichwohl unterschied er zwischen Informationen und erwiesenen Tatsachen. Seine Schlußfolgerung: Gehlens Enthüllung über Bormann sei sehr wichtig: man müsse sich nur bemühen, sie nachzuprüfen. So klar liegt der Fall für jeden, dem das Reizwort ,Gehlen‘ nicht den Verstand unter die Emotion zwingt.” Der Grund für diese einseitige und tendenziöse Berichterstat235
tun g lag sicher in der antikommunistischen Einstellung des Abwehrchefs, die er klar und sehr sachlich zum Ausdruck brachte, sowie in den Enthüllungen über Martin Bormann, denen wir uns nun zuwenden wollen. Selbst Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches werden Teile dieser Enthüllungen entstellt oder aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben, wodurch ein verzerrtes, unwahres Bild vor dem flüchtigen Leser entsteht. Dieser Absicht liegen auch die zahlreichen Falschmeldungen über Martin Bormann seit dem Ausbruch aus der Reichskanzlei zugrunde. Im Prinzip enthielt die Aussage General Gehlens über Martin Bormann wenig Neues. Im Kapitel 18 und an anderen Stellen dieser Arbeit sind Quellen genannt worden, die schon vor Gehlens Aussagen bekannt waren und nach denen Martin Bormann in sowjetischem Gewahrsam bzw. Sowjetagent war. Diese Informationen waren nur kleineren Kreisen bekannt und gerieten ebenso in Vergessenheit wie die wiederholt zitierte Meldung des Moskauer Rundfunks vom 16. Juni 1945 (Kapitel 16). Gegen diese Berichte hatte niemand die Stimme erhoben. Als dann aber der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes, General Gehlen, sein Schweigen brach und gar über das bisher über Martin Bormann Bekannte hinaus auch die Agententätigkeit des ehemaligen Reichsleiters und Intimus Adolf Hitlers enthüllte — soweit das einem Geheimdienstchef überhaupt möglich ist —, da brach unisono ein Proteststurm los, der von sowjetischer Seite sachte eingeleitet, von der linken und liberalen Presse und sogar von früheren Nationalsozialisten im Stile der Goebbels-Propaganda fortgeführt wurde. Hier sei die Randbemerkung angebracht: sie marschierten wieder gemeinsam, die Roten und die Braunen, wie bei der Teilung Polens im September 1939. Zur Ausräumung von Unklarheiten wird nun der Wortlaut der Aussagen General Gehlens in Zusammenhang mit Martin Bormann ungekürzt wiedergegeben: „In einem längeren Gespräch kamen Canaris und ich zu der Überzeugung, daß die Sowjets in der deutschen obersten Führung über eine gut orientierte Nachrichtenquelle verfügen mußten. Wiederholt stellten wir unabhängig voneinander fest, daß 236
der Feind in kürzester Zeit über Vorgänge und Erwägungen, die auf deutscher Seite an der Spitze angestellt wurden, bis ins einzelne unterrichtet war. Ich will an dieser Stelle mein langes Schweigen um ein Geheimnis brechen, das — von sowjetischer Seite aufs sorgfältigste behütet — den Schlüssel zu einem der rätselhaftesten Fälle unseres Jahrhunderts in sich birgt. Es ist die verhängnisvolle Rolle, die Hitlers engster Vertrauter, Martin Bormann, in den letzten Kriegsjahren und danach gespielt hat. Als prominentester Informant und Berater der Sowjets arbeitete er für den Gegner schon zu Beginn des Rußlandfeldzuges. Unabhängig voneinander ermittelten wir die Tatsache, daß Bormann über die einzige unkontrollierte Funkstation verfügte. Wir waren uns darüber einig, daß ein gezielter Ansatz zur Überwachung des neben Hitlers mächtigsten Mannes in der nationalsozialistischen Hierarchie zu diesem Zeitpunkt so gut wie ausgeschlossen war. Jede Unvorsichtigkeit hätte das Ende der Nachforschungen und auch unser Ende bedeutet. Canaris hat mir seine Verdachtsmomente, Vermutungen und Feststellungen über die Motive der Verrätertätigkeit Bormanns geschildert. Er schloß Möglichkeiten zur Erpressung Bormanns nicht aus, sah aber die wahrscheinlichen Beweggründe eher in den von maßlosem Ehrgeiz und Komplexen gegenüber seiner Umgebung begründeten und letztlich nicht befriedigten Ambitionen des Reichsleiters, eines Tages Hitlers Position einzunehmen. Wie geschickt Bormann seine großen Rivalen Göring und Goebbels abwechselnd bei Hitler in Mißkredit brachte, ist inzwischen bekannt. Meine eigenen Feststellungen konnten erst einsetzen, als nach 1946 für mich Möglichkeiten bestanden, die mysteriösen Umstände der Flucht Bormanns aus Hitlers Bunker in Berlin und sein Verschwinden zu untersuchen. Die wiederholt in der internationalen Presse aufgetauchten Behauptungen, Bormann lebe im undurchdringlichen Urwaldgebiet zwischen Paraguay und Argentinien, umgeben von schwerbewaffneten Leibwächtern, entbehren jeder Grundlage. Zwei zuverlässige Informationen gaben mir in den 50er Jahren die Gewißheit, daß Martin Bor237
mann perfekt abgeschirmt in der Sowjetunion lebte. Der ehemalige Reichsleiter war bei der Besetzung Berlins durch die Rote Armee zu den Sowjets übergetreten und ist inzwischen in Rußland gestorben.” („Der Dienst”, Seite 47—49) Lew Besymenski stellt die klaren Aussagen General Gehlens anders dar. Er behauptet, wie im 16. Kapitel bereits zitiert, im einzelnen, 1. „daß Gehlen eine neue Version in seinen Memoiren gegeben habe”, 2. wonach „Bormann lebt” und 3. „hält sich in der Sowjetunion versteckt, da er ein ,Sowjetagent‘ war”, 4. „Gehlen habe keine Beweise für seine Angaben”, 5. „Nach der Vernehmung Gehlens durch die Frankfurter Staatsanwaltschaft wurde eine Erklärung veröffentlicht, daß die Version Gehlens jeder Grundlage entbehre”, 6. „in dem ... Buch von McGovern findet man Angaben, wonach derselbe Gehlen auf eine offizielle Anfrage seitens des CIA berichtet habe, daß ihm von einem angeblichen Aufenthalt Bormanns in der Sowjetunion nichts bekannt sei”. Diesen Behauptungen Besymenskis ist folgendes entgegenzuhalten: 1. Eine neue Version hat General Gehlen nicht gegeben, da schon vor dem Erscheinen seiner Memoiren öffentlich geäußert wurde, daß Martin Bormann Sowjetagent gewesen ist. Man vergleiche im 18. Kapitel die Mitteilung des US-Untersuchungsrichters Walter Rapp aus dem Jahre 1948, wonach Martin Bormann Sowjetagent war, und in demselben Kapitel die weitere Mitteilung des Amerikaners Kurt Singer aus dem Jahre 1954 über Martin Bormann in demselben Sinne. 2. Gehlen schrieb in seinen Memoiren nicht, daß „Bormann lebt”, sondern „daß der ehemalige Reichsleiter inzwischen in Rußland verstorben ist”. 3. Besymenski: „Bormann hält sich in der Sowjetunion versteckt”; Gehlen: „daß er perfekt abgeschirmt in der Sowjetunion lebte”, d. h., daß er abgeschirmt wurde und sich nicht 238
4.
5.
„versteckt” hat. Besymenskis Darstellung sieht nach mißglückter Glossierung aus. Wenn Besymenski als ehemaliger sowjetischer Abwehroffizier schreibt, daß „Gehlen keine Beweise für seine Angaben habe”, dann ist dieser Satz wissentlich provozierend formuliert, sowie für Unkundige und Eintagsfliegen gedacht. Prompt wurde dieser Ball auch von der Presse seiner Richtung aufgenommen; höhnisch wurde dort geschrieben: „Gehlen kann seine Quellen nicht nennen”, verbunden mit hämischen Bemerkungen subjektiver Art, da sachlich nichts entgegenzuhalten war. Schon eine einfache Überlegung führt zu der Erkenntnis, daß ein Geheimdienstchef niemals solche Quellen bzw. Informanten preisgeben würde; nicht etwa, weil er nicht kann, sondern weil er nicht darf. Wir wissen ja nicht, aus welchen Kanälen Gehlen seine „zwei zuverlässigen Informationen” damals bezog. Dergleichen öffentlich, in diesem Falle sogar amtlich, zu nennen, die womöglich noch weitere Informationen zu liefern in der Lage waren, es vielleicht noch sind, wäre absurd und ihr Todesurteil zugleich. Die Vernehmung General Gehlens ist nur verbal durchgeführt worden; es fand keine Aussage unter Eid statt. Daher war es für die Frankfurter Staatsanwaltschaft leicht, „eine offizielle Erklärung zu veröffentlichen, daß die Version Gehlens jeder Grundlage entbehre”. Durch den Wortlaut dieser Erklärung konnte nur der Kreml gewinnen, sein Staatsgeheimnis um Martin Bormann weiter zu bewahren. Hätte General Gehlen seine Informanten bzw. Informationsquellen enttarnt und Martin Bormann dadurch mit schlüssigen Beweisen als den Sowjetagent im engsten Kreise um Adolf Hitler der Weltöffentlichkeit preisgegeben, dann wäre der Glorienschein der als unbesiegbar dargestellten Roten Armee verlöscht. Wenn Intimus und rechte Hand Adolf Hitlers als Sowjetagent im Führerhauptquartier umfassende Verratshandlungen nachweislich begangen hat, dann war es Stalin leicht gemacht, den Endsieg zu erringen. Um dieses Geheimnis um Martin Bormann zu bewahren bzw. zu kummulieren, sind sympathisierende Literaten enga239
giert tätig geworden. Ein anschauliches Beispiel für Desinformation in dieser Sache liefert Bernd Ruland, ehemaliger Wachtmeister im Oberkommando des Heeres, Abt. Heeresnachrichtenverbindungen, in seinem Buch „Die Augen Moskaus” (122): „Die abenteuerlichste Antwort auf die Frage, wer der große Verräter in Berlin gewesen ist, gibt Reinhard Gehlen, von 1942 bis 1945 Chef der Abteilung ,Fremde Heere Ostf, in seinen Memoiren.” Mit den Worten Gehlens „Ich will an dieser Stelle mein langes Schweigen ...”, läßt Ruland General Gehlen zu Wort kommen bis „... daß Bormann über die einzige unkontrollierte Funkstation verfügte.” Die Begründung Gehlens, warum keine Überwachung der Funkstation Bormanns durchgeführt wurde, sowie die Verdachtsmomente, Vermutungen und Feststellungen von Admiral Canaris, die General Gehlen aufzählt, daß darüber hinaus Gehlen gemeinsam mit Canaris diesen zur Sache gehörenden Fragenkomplex durchgesprochen hat, zitiert Ruland nicht. Vor allem den in diese Sache einführenden ersten Absatz in den Memoiren Gehlens (S. 47, unten), aus dem die Zusammenarbeit mit Admiral Canaris beleuchtet wird, zitiert Ruland ebenfalls nicht. Der Bedeutung wegen seien die Worte nochmals angeführt: „In einem längeren Gespräch kamen Canaris und ich zu der Überzeugung, daß die Sowjets in der deutschen obersten Führung über eine gut orientierte Nachrichtenquelle verfügen mußten. Wiederholt stellten wir unabhängig voneinander fest, daß der Feind in kürzester Zeit über Vorgänge und Erwägungen, die auf deutscher Seite an der Spitze angestellt wurden, bis ins einzelne unterichtet war.” Die beiden letzten Sätze in den Memoiren Gehlens gibt Ruland ungekürzt wieder. Zu dem Satz Gehlens: „Unabhängig voneinander ermittelten wir die Tatsache, daß Bormann über die einzige unkontrollierte Funkstation verfügte”, bemerkt Ruland (122): „Anzunehmen, Bormann habe andere Informationskanäle zum Kreml — etwa über einen Sender im Führerhauptquar240
tier oder gar durch Kuriere gehabt — ist absurd. Es gibt nicht nur nicht den geringsten Hinweis auf eine solche Möglichkeit; sie gehört auch deshalb in den Bereich der Spekulation, weil es in Hitlers Hauptquartier einen Sender, der dem ,Sekretär des Führers’ zur Verfügung stand, überhaupt nicht gab. Bormann besaß lediglich eigene Fernsprech- und Fernschreibleitungen ins ,Gauleiternetz’ der NSDAP im gesamten Reichsgebiet. Verbindungen für seinen Geheim-Fernschreiber konnten nur über die Fernschreibvermittlung ,Wolfschanze’ (Führerhauptquartier) hergestellt werden.” Es soll hier nicht weiter erörtert werden, ob der Chef der Abwehr, Admiral Canaris und General Gehlen besser orientiert waren als — Bernd Ruland. Ein Jahr nach dem Erscheinen von Rulands Buch erschien „Der Geheimdienst in Europa ... ” (5). Der Verfasser bezieht sich auf die Erinnerungen des Generals der Nachrichtentruppe, General Albert Praun, des Nachfolgers von General Fellgiebel. Dem „Geheimdienst in Europa ...” entnehmen wir über Bormanns Sender folgendes: „Ein weiterer Hinweis ist Praun zu verdanken, der nachdenklich stimmen muß: Reichsleiter Bormann behauptete 1944, seine Fernschreibverbindungen zu den Gauleitern genügten nicht, er verlange ein eigenes Funknetz. Aber gerade das wollte General Praun Zivilisten nicht zur Verfügung stellen, weil die Gefahr des Mißbrauchs nahelag. Außerdem verfügte das Heer damals bereits weder über die nötigen Funkgeräte noch Funker, die es zu diesem Zweck hätte freimachen können. Da sprang die Kriegsmarine ein, sehr gegen den Willen des Chefs der Wehrmachtnachrichtenverbindungen, und stellte dem Reichsleiter Bormann das Funknetz zur Verfügung, das er verlangte. Die Kriegsmarine hatte Funkgeräte für U-Boote gehortet und stellte sie nun zur freien Verfügung, da diese ja nicht mehr gebaut wurden. Sie hatte auch noch Funker, die sie nun zu der Parteikanzlei abkommandierte und nicht zum Heer, wo sie dringender gebraucht wurden. Es ist nicht bekannt, ob und wie eine Kontrolle oder Beobachtung des für Reichsleiter Bormann neu geschaffenen 241
Funknetzes erfolgt ist. Hier ist sicher eine Dunkelzone entstanden.” (5) 6. Zu den Angaben aus dem Buche von McGovern, wonach General Gehlen dem CIA auf Anfrage berichtet habe, daß ihm von einem Aufenthalt Bormanns in der Sowjetunion nichts bekannt sei, kann nicht Stellung genommen werden, da diese Literaturstelle bis zur Drucklegung dieser Arbeit nicht beschafft werden konnte. Es lohnt sich, noch bei Bernd Ruland zu verweilen. In seinem oben mehrfach zitierten Buch (122) schreibt er (1973): „Seit 1972 steht es mit absoluter Sicherheit, für die Bormanns einwandfrei identifizierter Schädel unumstößlicher Beweis ist, fest: Hitlers Sekretär hat am 2. Mai 1945 in Berlin den Tod gefunden. ” „Auf diese Sache kommen wir später zurück. Wir setzen die Zitate aus dem Buch von Bernd Ruland fort: Längst bevor das Bormann-Rätsel und die abenteuerliche Jagd auf ihn in allen Erdteilen abgeblasen wurde, hat Reinhard Gehlen sich in peinlicher Weise blamiert. Seine ,zwei zuverlässigen Informationen’ waren — ein Kinobesucher. Vor dem Frankfurter Untersuchungsrichter Horst von Glasenapp sagte der Gründer und langjährige Chef des Bundesnachrichtendienstes bereits Ende September 1971 im Amtsgericht Starnberg als Zeuge aus: ,Einer seiner Kontaktmänner' habe 1946 oder 1947 einen Filmbericht der DDR-Wochenschau, Augenzeuge' über eine spektakuläre Sportveranstaltung in Moskau gesehen und dabei, während eines Kameraschwenks in das Publikum, den einstigen NSReichsleiter entdeckt. Gehlen war nicht bereit, seine Aussage zu beschwören. Die Chefs der großen Geheimdienste in aller Welt konnten sich der Schadenfreude nicht erwehren.” (Leider zählt Ruland die Namen dieser Chefs nicht auf.) „Die Schweizer ,Weltwoche’ reagierte mit einer treffenden Karikatur auf die geheimdienstliche Gehlen-Bombe.” (Es folgt eine Beschreibung dieser Karikatur.) 242
Der „Spiegel” schreibt dazu in seiner Folge 47/1971 auf S. 24: „Gehlens ,Augenzeuge’ BND-Memoirensdireiber Reinhard Gehlen (,Der Dienst’) hat seine ‚zuverlässigen Informationen’ über den angeblichen SowjetAgenten Bormann aus dem Kino. Vor dem Frankfurter Untersuchungsrichter Horst von Glasenapp sagte der Gründer und langjährige Chef des Bundesnachrichtendienstes bereits Ende September im Amtsgericht Starnberg als Zeuge aus: Einer seiner Kontaktmänner habe 1946 oder 1947 einen Bericht der Ostberliner Wochenschau ,Augenzeuge’ über eine spektakuläre Sportveranstaltung in Moskau gesehen und bei einem Kameraschwenk ins Publikum den einstigen NS-Reichsleiter entdeckt. ,Dienst’Mann Gehlen war allerdings nicht bereit, seine Aussage — Länge: vier DIN A 4-Seiten — zu beschwören.” (123) Wir setzen die Zitate aus dem Buch von Bernd Ruland fort: „Gehlens Vermutung, Reichsleiter Martin Bormann sei der große Verräter und Informant der Sowjets gewesen, ist schon deshalb absurd, weil bis zum 20. Juli 1944 keinerlei militärische Papiere über den Schreibtisch des Hitler-Sekretärs gingen. Otto Pünter (,Pakbo’) trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er feststellt: ,So viel, wie Roessler melden konnte, wußte selbst Bormann nicht.’ Er wußte militärisch in Wirklichkeit so gut wie nichts. Bormann war zwar während des Zweiten Weltkrieges der engste Mitarbeiter Hitlers im Führerhauptquartier, aber als Leiter der Parteikanzlei (seit 1941) hauptsächlich in Angelegenheiten der NSDAP. Er war auch Mitglied des Ministerrats für Reichsverteidigung, doch er nahm an keinen militärischen Besprechungen teil. Politische oder parteipolitische und WehrmachtKonferenzen traten grundsätzlich getrennt zusammen. Erst nach dem mißglückten Attentat auf Hitler, als Bormann als ,Sekretär des Führers’ immer größeres Vertrauen bei Hitler genoß, gingen in Einzelfällen auch militärische Papiere durch seine Hände. Als Martin Bormann schließlich der einzige war, dem Hitler bedingungslos vertraute, als dann schließlich auch geheimste Anordnungen, die für die Wehrmacht bestimmt waren, zu ihm ge243
langten und er buchstäblich ,alles’ erfuhr: da hatte Roessler in der Schweiz seine Arbeit schon längst eingestellt. ,Lucy’ war — wie schon erwähnt — vom 19. Mai bis zum 6. September 1944 verhaftet. Sein ,großes Spiel’ mit Nachrichten war ohnehin aus. Nach dem Ende der ,Roten Drei’ erfuhr Moskau nichts mehr von ihm.” Seit dem Erscheinen der Memoiren Reinhard Gehlens (Herbst 1971) ist vieles über seine Mitteilungen über Martin Bormann veröffentlicht worden. Kein Verfasser bezieht jedoch derart engagiert Stellung wie Bernd Ruland kaum zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Memoiren Reinhard Gehlens. „Dieses Buch beginnt mit einer Provokation” überschreibt Ruland die Einleitung seines Buches und setzt fort: „Ich widme es jenen Offizieren der sonst so tüchtigen ehemaligen deutschen Abwehr, die während des Krieges offenbar geschlafen haben. Mit dieser Publikation werde ich keine Freunde in der Fachwelt der Spionage finden. Ehemalige deutsche Abwehr-Offiziere werden mich anfeinden: den Außenseiter, der es wagt, in ihre ,Zuständigkeit’ einzudringen. Außerdem werden Sie nur zögernd akzeptieren, daß die Lösung des bisher größten Rätsels der Spionagegeschichte so einfach ist. Das Geschäft der Abwehr- und Spionage-Profis bestand (und besteht noch heute) darin, den Verrat von Staats- und ArmeeGeheimnissen in ein mysteriöses Dunkel zu hüllen und jeden Fall zusätzlich so kompliziert wie möglich darzustellen. Nur dann gilt ihre Leistung als groß und bewundernswert. Die alten Geheimdienstler werden mich auch deshalb angreifen, weil ich sie daran erinnere, wie fahrlässig sie selber gehandelt haben: ...” Den Kern seiner Enthüllungen schildert der Verfasser so: Während seines Nachtdienstes am 14. Juni 1941 in der Fernschreibzentrale der Deutschen Wehrmacht in der Berliner Bendlerstraße entdeckte er, daß die Nachrichtenhelferin Angelika von Parchim (Pseudonym) eine Abschrift eines GKdos-Fernschreibens, das an General Fromm (Ersatzheer) gerichtet war, angefertigt hatte. Bernd Ruland unterließ die vorgeschriebene Meldung darüber, 244
forderte aber eine Erklärung von der Nachrichtenhelferin. Sie sagte, sie sei die Tochter eines Offiziers aus preußischem Kleinadel. Ihr Vater sei anfangs 1938 aus der Wehrmacht entlassen worden, weil er Hitlers Kriegspolitik ablehnte. Seither unterhalte er Kontakt mit Offizieren, die Hitler stürzen wollten. In diesem Bestreben wolle sie ihren Vater unterstützen. Die Abschriften der geheimen Fernschreiben habe sie einem deutschen Offizier zur Weiterbeförderung übergeben. Nach dem Kriege, am 14. Juni 1947 (man vergleiche dieses Datum mit dem Datum des Nachtdienstes!) begegnete Bernd Ruland in Köln einer weiteren Nachrichtenhelferin aus der Fernschreibzentrale der Wehrmacht, die eine ähnliche Tätigkeit entfaltet hatte, wie Angelika von Parchim. Der Vater dieser zweiten Nachrichtenhelferin, die der Verfasser Maria Kalussy nennt, sei profilierter und überzeugter Kommunist gewesen, der im März 1933 in ein Konzentrationslager gebracht und 1934 entlassen worden war. Er flüchtete in die Sowjetunion und ist im spanischen Bürgerkrieg 1937 als Offizier einer internationalen Brigade gefallen. In seinem Bericht hat Bernd Ruland nicht nur Decknamen für diese beiden Nachrichtenhelferinnen verwendet, sondern auch für ehemalige Offiziere bzw. Beamte, die an Verratshandlungen beteiligt waren. Er begründet diese Anonymität damit, „daß die beiden Nachrichtenhelferinnen noch leben. Deshalb können ihre richtigen Namen nicht genannt werden. Es ist aber sichergestellt, daß sie und andere Roessler-Helfer... nach ihrem Tode nicht mehr anonym bleiben.” Dazu schreibt Bernd Ruland weiter: „Dieses Buch sollte unter dem Titel ,Zwei Mädchen gegen Hitler — Woher Moskau alles wußte’ schon vor zehn Jahren geschrieben werden. Aber die beiden Nachrichtenhelferinnen von einst, Angelika von Parchim und Maria Kalussy, baten mich immer wieder um Aufschub, aus Sorge, sie könnten plötzlich als die großen Verräterinnen angeprangert werden.” Mit derselben Erklärung begründen auch Pierre Accoce und Pierre Quet in ihrer Arbeit „Moskau wußte alles” (124) die Vervon Decknamen: „Niemand kennt ihre Namen. Sie 245
öffentlich zu nennen, würde bedeuten, diese Familien dem Haß des heutigen Deutschland und schwerwiegenden Verfolgungen(!) auszusetzen. Zu viele Bürger der Bonner Republik könnten gegen diese Männer ”(Offiziere), „die aus Abscheu vor dem Nazitum die Operationen der Wehrmacht sabotierten, indem sie deren Pläne verrieten, den Vorwurf erheben, damit den deutschen Frontkämpfern einen Dolchstoß in den Rücken versetzt... zu haben. Darum werden wir diese Todfeinde der braunen Revolution nur durch frei erfundene Namen kennzeichnen und nur ihren Chef namentlich anführen ..., der es wagte, mit offenem Visier und während seines ganzen Lebens diese finstere Mystik zu bekämpfen. Ein Held...” Gemeint ist Rudolf Roessler, der aus der Schweiz durch Funk Moskau informierte. Diese beiden Erklärungen für die Verwendung fingierter Namen in obigem Zusammenhang können 35 Jahre nach Kriegsende nicht mehr aufrechterhalten werden. Wenn Accoce und Quet im Jahre 1966, also über 20 Jahre nach Kriegsende befürchteten, daß Informanten der Roessler-Gruppe und deren Familien „dem Haß des heutigen Deutschland und schwerwiegenden Verfolgungen” bei richtiger Namensnennung ausgesetzt würden, so ist heute, nach über 35 Jahren davon noch weniger die Rede als damals. Als Beispiel möge der Vorsitzende einer großen politischen Partei Westdeutschlands genannt werden, dem M i l l i o n e n D e u t s c h e ihre Stimme geben, obwohl seit über 15 Jahren bekannt ist, daß dieser Mann von dem Königlich-Schwedischen Oberlandgericht in Stockholm am 6. November 1942 zu einem Jahr Gefängnis und Strafarbeit verurteilt wurde, mit der folgenden Begründung: Unterlassene polizeiliche Anmeldung nach dem Übertritt aus Norwegen nach Värmland in Schweden, Aufenthalt in Stockholm ohne gehörige Erlaubnis, ferner Beschaffung von Nachrichten über die militärischen und politischen Verhältnisse in Deutschland zum Vorteil einer fremden Macht. Diese Informationen bezogen sich auf: Die deutsche Kriegsindustrie, die Volksstimmung in Deutschland, die durch Luftangriffe in gewissen Gebieten Deutschlands entstandenen Schäden und die deutschen 246
Besatzungstruppen in Frankreich (125). Es handelt sich um Herbert Richard Wehner. Bernd Ruland hat in seinem Buch für die beiden Nachrichtenhelferinnen die Decknamen „Angelika von Parchim” und „Maria Kalussy” gewählt. Ob er damit Adelskreise und Bürgerliche symbolisch gemeinsam gegen den Nationalsozialismus in eine Front bringen will, sei dahingestellt. Wesentlicher erscheint die Wahl einer „Angelika von Parchim”. Im Gotha ist dieser Adelsname nicht enthalten. Bekannt ist nur, daß es in Mecklenburg ein Rittergut gab, das Hermann von Treuenfels gehörte, das sich nahe Herzberg bei P a r c h i m befand und daß M a r t i n B o r m a n n d o r t V e r w a l t e r w a r . (Vgl. 1. Kapitel.) Diese Tatsachen lassen schwer daran glauben, daß die Wahl des Namens „Angelika von Parchim” einem reinen Zufall zuzuschreiben sei. Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß nach Bernd Ruland 1. Martin Bormann am 2. Mai 1945 verstarb, 2. durch den zu diesem Zeitpunkt erfolgten Tod Martin Bormanns die These General Gehlens, daß Martin Bormann a) der Verräter im Hauptquartier war und b) in der Sowjetunion lebte und starb, widerlegt wird, 3. fast alle bisherigen Vermutungen über die Informanten Roesslers falsch seien und 4. es an der Zeit sei, die vielen Spekulationen über diesen Fragenkomplex zu beenden. Wenn Bernd Ruland meint, „Gehlens Vermutung, Reichsleiter Martin Bormann sei der große Verräter und Informant der Sowjets gewesen, ist schon deshalb absurd, weil bis zum 20. Juli 1944 keinerlei m i l i t ä r i s c h e Papiere über den Schreibtisch des Hitler-Sekretärs gingen”, dann sei an den Wortlaut der Aussage Reinhard Gehlens erinnert, in dem er sagte, „daß der Feind in kürzester Zeit über V o r g ä n g e u n d E r w ä g u n g e n , die auf deutscher Seite an der Spitze angestellt wurden, bis ins einzelne unterrichtet war”. Welcher Art diese „Vorgänge und Erwägungen” gewesen sind, hat General Gehlen im einzelnen nicht mitgeteilt. Dadurch ist 247
offen geblieben, ob sie z. B. politischer, kriegswirtschaftlicher, militärischer oder anderer Art gewesen sind. Bei den zahlreichen Besprechungen in den Hauptquartieren sind alle Bereiche der Staatsführung besprochen worden, wobei den militärischen Problemen, um deren Substanz es hier geht, durch den Krieg bedingt, sicher breitester Raum eingeräumt war. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß unter der amtlichen Bezeichnung „Führerhauptquartier” nicht nur der Name der obersten militärischen Befehlsstelle Deutschlands, sondern darüber hinaus die allgemeine Bezeichnung für Adolf Hitlers Aufenthaltsort gemeint war (83). Bernd Ruland lenkt durch Entlastung Martin Bormanns den Verdacht, ja die Gewißheit über Verratshandlungen auf die beiden mit Decknamen bezeichneten Nachrichten-Helferinnen Angelika von Parchim und Maria Kalussy, ferner auf mehrere nicht genannte Offiziere und Beamte. Nach seiner Darstellung wurde der Krieg — für die Sowjets — in der Berliner Bendlerstraße gewonnen, ebenso wie der Krieg nach Pierre Accoce und Pierre Quet „In der Schweiz gewonnen wurde”. So lautet der Titel der französischen Ausgabe des oben behandelten Buches „Moskau wußte alles”. Über die Entlastung Martin Bormanns auch durch andere soll im folgenden Kapitel berichtet werden.
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ZWANZIGSTES KAPITEL Überraschende Funde am Lehrter Bahnhof (Berlin) — Erich Kern pro Besymenski und contra Gehlen — Gert Buchheit nahe am Wesentlichen — Fargó’s sachliche Recherchen — Verzerrte Darstellung über Gehlen — Abgleiten ins Romanhafte — v. Langs Zweifel
Zur Zeit liegen elf biographische Veröffentlichungen über Martin Bormann vor. Es erscheint zweckmäßig, ihre Beurteilung chronologisch vor dem Erscheinen der Memoiren Gehlens im Jahre 1971 zu treffen und nachher, hinsichtlich der Meinungen über Bormanns Tod sowie weitere charakteristische Einzelheiten. a) Für Trevor Roper (11) gilt Martin Bormann noch als „verschollen”, laut seinem Beitrag in „Der Monat”, 1954. b) Joseph Wulf (10) stellt am Ende seines Buches „Martin Bormann — Hitlers Schatten” 1962 die Frage, ob Bormann nicht unter falschem Namen lebt, nachdem Wulf zahlreiche Presseund andere Meldungen über das angebliche Auftauchen des Gesuchten zitiert hat. c) Lew Besymenski (9) führt in seinem Buch „Auf den Spuren Martin Bormanns” 1965 aus, daß dieser sich „im Nazi-Paradies Südamerika” befinden dürfte. d) Werner Brockdorff (126) will nach seiner sehr ausführlichen Schilderung „Flucht vor Nürnberg” (1969) die Fluchtwege Martin Bormanns und anderer genauestens erforscht haben und ist überzeugt, daß das „Finanzgenie Bormann” in Südamerika leben soll, worüber er erstaunlich viel zu berichten weiß. Seit 1971, dem Erscheinungsjahr der Memoiren General Gehlens ist eine erkennbare Wende in der Berichterstattung rund um Martin Bormann eingetreten. Der kritische Leser möge dies selbst beurteilen. 249
e)
Bernd Ruland (1973): „Seit Dezember 1972 steht mit absoluter Sicherheit, für die Bormanns einwandfrei identifizierter Schädel unumstößlicher Beweis ist, fest: Hitlers Sekretär hat am 2. Mai 1945 in Berlin den Tod gefunden.” Anschließend folgen Auslassungen Rulands über eine „Blamage Gehlens”, die im 19. Kapitel zitiert sind. f) Klaus Benzing schließt sich in seinem 1973 erschienenen Buch „Der Admiral” den Ansichten Gehlens nicht nur an, sondern geht in biographischen Angaben zur Person Martin Bormanns über diese erheblich hinaus; vergleiche dazu das 1. Kapitel dieser Arbeit. g) Lew Besymenski, der noch im Jahre 1965 in seinem Buch „Auf den Spuren Martin Bormanns” für dessen Aufenthalt in Südamerika plädiert hatte, wendet sich nach einigen Seitenhieben gegen General Gehlen plötzlich von der Südamerika-Theorie ab und vertritt in seinem neuen Buch „Die letzten Notizen von Martin Bormann” (4) die Ansicht, daß Bormann nun doch am 2. Mai 1945 in Berlin ums Leben gekommen sei. Diese Meinungsäußerung begründet Besymenski wortreich damit, daß „im Dezember 1972 der Öffentlichkeit ein unverhoffter Fund zuteil wurde: Bei Bauarbeiten in der Gegend des ehemaligen Lehrter Bahnhofs (heute WestBerlin) wurde ein Skelett gefunden, das das Skelett Martin Bormanns sein konnte”. „Auf Bitten des ,Stern’-Mitarbeiters Jochen von Lang” — so berichtet Besymenski weiter — „wurde an dieser Stelle schon 1965 gegraben, weil nach Aussage des Postbeamten Krumow hier schon 1945 eine Beerdigung stattgefunden habe. Es fand sich aber nichts.” Auf derselben Seite seines Buches (207) schreibt Besymenski, „entdeckten jedoch im Jahre 1972 Arbeiter, die Wasserleitungen verlegten, plötzlich zwei Skelette auf dem West-Berliner Territorium. Die Polizei erschien unverzüglich und natürlich die Redaktion des ,Stern‘. Die Beschreibung der Skelette paßte zu dem, was die Zeitschrift 1965 berichtet hatte. Die Westberliner Staatsanwaltschaft nahm eine genaue Untersuchung in die Hand ... 250
Die Identität Dr. Stumpfeggers konnte leicht nachgewiesen werden, weil Röntgenaufnahmen seines Gebisses vorlagen. Für Martin Bormanns Zahnbild gab es nur die Zeichnungen, die Professor Blaschke in der Gefangenschaft angefertigt hatte. Dafür wurden die Spuren eines Schlüsselbeinbruches überprüft und bestätigt, ferner die Überreste einer ZyankaliKapsel. Es fehlte aber ein wichtiger Teil: Die Zahnbrücke ... Das war die Lage Anfang März 1973”, schreibt Besymenski weiter. „Plötzlich änderte sich das Bild: Die Gegend um den Lehrter Bahnhof erwies sich als sehr produktiv, hier wurde am 11. — andere Berichte behaupten am 13. — März eine Zahnbrücke gefunden, die ganz zu Bormanns Skelett paßte. Außerdem wurde ein Münchner Fachmann beauftragt, eine Plastikmaske vom Schädel zu rekonstruieren. Die Maske sah den Photos von Bormann sehr ähnlich.” Weiter Besymenski: „Auf einer Pressekonferenz des leitenden Staatsanwalts Joachim Richter erklärte dieser offiziell, daß die Identität Bormanns mit absoluter Sicherheit festgestellt worden sei. Richter erklärte den Fall Bormann als abgeschlossen und bat das Auswärtige Amt, die 100 000 DM Belohnung zurückzuziehen. Der Tod Bormanns wurde schließlich im Januar 1974 in das Sterbebuch im Standesamt Tiergarten (West-Berlin) eingetragen.” Den Fund dieser Zahnbrücke „zur rechten Zeit” kommentiert A. Strobel in der „Deutschen National-Zeitung”, München, am 30. März 1973, Seite 10, wie folgt: „Die letzte Brücke Nach Meldungen bundesdeutscher Gazetten hat man plötzlich — Ende 1972 — in Berlin ein Skelett gefunden, das die sterblichen Überreste des Sowjetagenten Bormann darstellen soll. Und siehe da: Jetzt haben Arbeiter sogar die aus drei Zähnen bestehende ,Brücke Bormanns’ im Berliner Tiergarten gefunden! Da sind ja geradezu sagenhafte ,Finder’ am Werk. Es grenzt ans Wunderbare: Mit einem Mal wird alles in Berlin gefunden, nachdem die Südamerika-Story geplatzt ist. Mit 251
der ,3-Zahn-Brücke’ hat man ein Kunststück fertiggebracht und die Stecknadel im Heuhaufen gefunden. Leider ist der Zahnarzt, der diese 3-Zähne-Brücke hergestellt haben soll, inzwischen verstorben. So ist die Staatsanwaltschaft Frankfurt — schreiben die Gazetten — noch immer im Zweifel. Ich bin mit der ganzen Story im Zweifel — denn bekanntlich sind die Sowjets — um es vornehm auszudrücken — nicht gerade die Allerglaubwürdigsten. Wenn es sich tatsächlich um das Skelett des in der Sowjetunion verstorbenen Sowjetagenten Bormann handeln sollte, so liegt der Verdacht nahe, daß es samt 3-Zähne-Brücke inzwischen nach Berlin gebracht worden ist, um dort ‚gefunden zu werden’. Sowjetagenten, die das ausgeführt haben könnten, gibt es genug ...” Lew Besymenski ist durch seine langjährige und intensive Beschäftigung mit dem Fall Bormann ein echter Kenner dieses „rätselhaften Jahrhundertfalles” geworden. Er ist den „Spuren Martin Bormanns”, d. h. dem „Geist des Nazismus” durch den ganzen deutschen Sprachraum nachgegangen. Er soll in Bonn akkreditierter Auslandsjournalist sein und erhält daher seine Bezüge aus der Sowjetunion. Folglich kann er nur im Sinne seiner Regierung schreiben. Und das tut er auch. Vermutlich, um sich gegen solche Schlüsse abzusichern, schreibt er auf Seite 206 der „Letzten Notizen von Martin Bormann”: „Der Autor dieses Buches verfügte weder früher noch verfügt er heute über eigene Mittel, um das Schicksal des aus unseren Blicken verschwundenen Bormann aufzuklären: er begründet sein Urteil auf Publikationen, die im Verlauf der letzten Jahre in der Presse erschienen sind.” (4) In der elften Studie der „Letzten Notizen...” geht der Verfasser sehr detailliert auf „Die Sache mit den Zahnprothesen” ein, wobei er sich auf die präzisen Untersuchungen des amerikanischen Professors der Gerichtsmedizin, Reidar F. Sognnaes, stützt. Auf den geringsten, in diesem Gutachten geäußerten Zweifel, der in die Worte gekleidet ist: „Vom Gesichtspunkt der zahnärztlichen Gerichtsmedizin gibt es 252
mehrere verwirrende und fehlende Punkte, die eine weitere Forschung im Laufe der Jahre 1973 und 1974 notwendig machen, um den Tod von Martin Bormann, wenn er tatsächlich tot ist, mit gleicher Sicherheit wie den von Hitler feststellen können”, reagiert Besymenski scharf, indem er den kanadischen Autor William Stevenson zitiert: „Aber die heimliche Nazi-Bruderschaft, die er” (Bormann) „plante und leitete, lebt und gedeiht und ist gefährlicher denn je.” („The Bormann-Brotherhood”) Schließlich meint Besymenski, daß der Fall Bormann nicht als Einzelfall betrachtet werden sollte, hier sei es notwendig, mit der „nazistischen Gefahr”(!) fertig zu werden. Diese haltlose Verallgemeinerung deckt sich mit den Worten des Verfassers, „daß für uns das Schicksal der Persönlichkeit Bormanns nicht so wichtig ist, wie das Schicksal seines politischen Vermächtnisses ”. Warum dann überhaupt die dreißig Jahre langen Bormann-Aktivitäten ? h) Erich Kern (127) hat seine kleine Schrift „So wurde Deutschland verraten” anscheinend unter dem Schock der Aussagen General Gehlens verfaßt, da er einleitend schreibt: „Das ganze Bormann-Spektakel des Herrn General Gehlen hatte auch sein Gutes”, und seine Genugtuung darüber äußert, daß jetzt endlich auch von den Massenmedien Verrat an der Politik und Kriegführung des Dritten Reiches offen zugegeben wird, was bisher geleugnet worden war. Daß sich aber dieser Verrat auch auf einen Prominenten der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei, nämlich Martin Bormann, erstreckt, findet der Verfasser makaber: „... man glaubte, durch die nun endgültig widerlegte Bormann-Legende auch den Verrat am Dritten Reich dem Nationalsozialismus beziehungsweise einem seiner prominenten Vertreter ankreiden zu können. Das ist zweifellos eine der makabersten Grotesken unserer Zeit.” Am Ende seiner Ausführungen über die „Rote Kapelle” und den „Militärischen Widerstand” schreibt der Verfasser: „Reinhard Gehlen hat in seiner Reklame für seine Memoiren 253
die Bormann-Legende neu aufgewärmt und ihr durch die Autorität des Amtes, die er als früherer Chef des Bundesnachrichtendienstes besaß, neuen Glanz verliehen. Allerdings sind seine Angaben mehr als dürftig, um nicht zu sagen kläglich ...” Anschließend zitiert Kern die Ausführungen General Gehlens aus „Der Dienst” (21) Seite 47 vollinhaltlich und kommentiert: „Was Gehlen hier zum Besten gab (!) war gar nicht neu. Schon im Oktober 1947 erklärte SS-Obergruppenführer Otto Ohlendorf... Bormann wäre seiner Überzeugung nach ein sowjetischer Agent gewesen. Allerdings meinte Ohlendorf, Bormann habe erst kurz vor der Kapitulation in Telefongesprächen Kontakte mit Kommandeuren der Roten Armee gesucht... Im Mai 1948 erklärt im Wilhelmstraßen-Prozeß SS-Obergruppenführer Gottlob Berger: Martin Bormann sei ,nach Ansicht der SS’ ein Sowjetagent gewesen. Bevor er nach Moskau r e i s t e (!) sei Bormann von den Sowjets noch aufgetragen worden, alle westeuropäischen Kriegsgefangenen in Deutschland, einschließlich der amerikanischen, zu erschießen. Natürlich blieb jeder der ,Zeugen’ jeden Beweis der abenteuerlichen Behauptung schuldig. Ein Fräulein Gertrud von Heimerdinger” (auf die noch zurückzukommen ist) „behauptete, am 13. Juni 1945 in Berlin auf dem NKWD-Kommando Bormann gesehen zu haben (,Die Welt’, 12. September 1971). Im ZDF-Magazin des Herrn Löwenthal verriet am 15. September 1971 ein Rudolf Ströbinger, er habe von einem verstorbenen tschechischen Geheimagenten schon 1946 erfahren, daß Bormann Sowjetagent gewesen sei. Alle diese Phantasien wurden einige Zeit für bare Münze genommen.” Erich Kern erklärt „alle diese Phantasien” aus nationalsozialistischer Sicht: „Die Aussagen Ohlendorf s und Bergers erklären sich aus der Tatsache, daß Martin Bormann in seinem hemmungslosen Machtstreben nicht nur bei Gering, Goebbels und Rosenberg aneckte, sondern auch die SS wiederholt in ihre Schranken 254
wies. Kein Mensch war im Dritten Reich innerhalb der NSHierarchie nach dem Sturze Ernst Röhms so verhaßt wie Martin Bormann. Sein Einfluß auf Adolf Hitler in den Fragen der kleinen Dinge des Lebens war durch die Unentbehrlichkeit, die er geschaffen hatte, dominierend. Bormann glaubte, daß Adolf Hitler seherische Kräfte verliehen worden wären und er seine ganze Kraft für den Sieg benötige. Deshalb war Bormann der Meinung, man müsse von Hitler alles Negative fernhalten, damit diese Kraft erhalten bleibe.” (In einer Fußnote bezieht sich Erich Kern auf die „Aussage von Hermann Buch, mit dessen Schwester Gerda Martin Bormann verheiratet war”.) Weiter im Zitat Erich Kern: „In diesem Bestreben schirmte er Hitler nicht nur gegen jede Kritik ab, sondern auch gegen alle Mitarbeiter, von denen er annahm, daß sie Hitler ihre Befürchtungen und Sorgen mitteilen würden. Martin Bormann schuf um Hitler den luftleeren Raum und ist damit der Hauptschuldige an jenem Zustand, in dem Hitler, von den Realitäten abgeschnitten, seinen Wunschträumen lebte und mit diesen ohne Rücksicht auf die Realitäten operierte. Deshalb der Haß zahlreicher NS-Funktionäre und vor allem der SS, die nicht mehr so recht an Hitler herankamen. Diese Abneigung überlebte 1945 und ist auch der Grund dafür, warum viele ehemalige Nationalsozialisten die Martin-Bormann-Legende begierig ergriffen, ohne zu bedenken, daß diese Legende nur deshalb planmäßig gefördert und verbreitet wird, weil man durch sie den nicht mehr zu leugnenden Verrat am Deutschen Reich und an der Deutschen Wehrmacht einem hohen NS-Funktionär in die Schuhe schieben konnte.” Ohne auf die mystisch-okkulten „seherischen Kräfte”, die zur Ehrenrettung des Nationalsozialismus ihrem Führer, Adolf Hitler, zugeschrieben werden, näher einzugehen, empfehlen wir dem Leser, im 2. Kapitel den Bericht Gauleiter Jordans „Sperrmauer” um Adolf Hitler, ferner im 3. Kapitel den Anfang und im 6. Kapitel über die Abgrenzung Adolf Hitlers von der Bevölkerung nachzulesen. 255
i)
„Nachdem lange geglaubt wurde, daß Martin Bormann in Südamerika lebe”, fährt Erich Kern in seiner Schrift fort, „erfuhren wir dann, daß er im Kreml zur Rechten Stalins saß, während man ihn in der ganzen Welt suchte. Die so schön aufgebaute Bormann-Legende starb dann im September 1972 sang- und klanglos, als aufgrund eines Zahnvergleiches eines in Berlin gefundenen Totenkopfes einwandfrei festgestellt wurde, daß Martin Bormann zusammen mit dem Hitler-Arzt Dr. Stumpfegger am 2. Mai 1945 den Tod gefunden hatte. Eine geradezu klägliche Rolle spielte in der Affäre am Schluß Herr General Reinhard Gehlen, denn erst durch ihn bekam der ganze Bormann-Schwindel Gewicht.” Abschließend folgt, entsprechend glossiert, die schon im 19. Kapitel angezogene Aussage General Gehlens vor dem Starnberger Amtsgericht laut „Spiegel”, Folge 47/1971. Zum Schluß bemerkt Erich Kern siegessicher: „Damit war der Versuch, die Rolle des Großverräters ,Werther’ dem Nationalsozialismus zuzuschieben, endgültig gescheitert.” Gert Buchheit (97) hat in seinem 1975 erschienenen Buch „Spionage in zwei Weltkriegen” das Kapitel „Ein Gespenst, das nicht zur Ruhe kommt — Martin Bormann ein Verräter?” dem ehemaligen Reichsleiter gewidmet. Der Verfasser geht in seiner Arbeit anhand uns bereits bekannter Quellen dem Lebensweg Martin Bormanns gewissenhaft und sachlich nach, frei von subjektiven und ablenkenden Bemerkungen. Buchheit hat auch eine Quelle ermittelt und verwendet, die uns nicht vorliegt und weder im Buchhandel noch im Leihverkehr der öffentlichen Bibliotheken besorgt werden kann. Wir zitieren Gert Buchheit: „In diesem Zusammenhang müssen wir allerdings auf eine Publikation des Nachrichtendienstes der russischen Emigranten aufmerksam machen, die — aus dem Russischen übersetzt von Dietrich von Kuehnheim — 1955 in einem kleinen Verlag in Oberreuthe im Allgäu erschienen ist und kaum Beachtung gefunden hat. ,ln der Person Martin Bormanns’, so liest man dort, ,fanden die sowjetischen Agenten jenen Mann, 256
den sie als Provokateur in die engste Umgebung Adolf Hitlers zu dirigieren vermochten. Ganz habe Bormann seine kommunistische Grundeinstellung nie verbergen können. Er galt innerhalb der Parteihierarchie stets als der am weitesten links eingestellte Reichsleiter, der wegen seiner oft an den Kommunismus grenzenden Auffassungen heftig von den Reichsleitern Buhler und Himmler bekämpft wurde. Aber er war ein überaus wichtiger Mann, der Hitler viel Geld vermittelte und Hitler brauchte für seine Partei viel Geld.” An späterer Stelle schreibt Buchheit: „In der bereits erwähnten Veröffentlichung des Nachrichtendienstes der russischen Emigranten ,Sowjetagenten überall’ wird behauptet, Bormann sei nicht der einzige Agent Stalins innerhalb der NSDAP gewesen. Nicht nur in der Gestapo sei er wirkungsvoll unterstützt worden, womit auf den Chef der Gestapo, Müller, angespielt worden sein könnte, mit dem Bormann seit seiner Münchner Zeit befreundet war. Auch im Außenpolitischen Amt Rosenbergs habe er ,Helfer’ besessen, so u. a. den ehemaligen Methodistenprediger Dr. G. Leibbrandt, der im späteren Ostministerium Rosenbergs für die Verwaltung der besetzten Ostgebiete tätig gewesen ist. Es werden ferner als Mitarbeiter Bormanns in seiner Tätigkeit als Informant der Sowjets der astrologische Berater des Führers, Berger, und Hitlers Leibarzt Dr. Morell genannt.” Am Ende seiner Ausführungen meint Gert Buchheit zu der Reaktion der „TASS” (Sowjetische Nachrichtenagentur) auf die Angaben General Gehlens in „Der Dienst” (21) über Martin Bormann: „Die ,TASS’ hat Gehlens Hinweis auf einen Verrat Bormanns als ,Witz’ abgetan. Sie übersah dabei allerdings eine ,große Kleinigkeit’. In der umfangreichen, sehr detaillierten sowjetischen historischen Encyclopädie (,Sovetzkaja istoriceskaja encycloedinja’), die unter der Gesamtredaktion von E. M. Schukov in elf Bänden (bis zum Artikel ,Slawen’) erschienen ist, sind fast alle wichtigen Figuren der nationalsozialistischen Zeit mit biographischen Artikeln bedacht, so die Parteigrößen Hitler, Gering, Goebbels, Heß, Ribbentrop, 257
Rosenberg, Himmler, die Admiräle Raeder und Dönitz, die Feldmarschälle von Leeb, von Manstein, von Reichenau, Rommel, Generaloberst Rendulic usw. Nur einer fehlt: Martin Bormann.” Als Quelle nennt Buchheit den Leserbrief Professor Stadtmüllers aus „Die Welt” vom 22. Oktober 1971. Weiter bei Gert Buchheit: „Man könnte aus diesem auffälligen Versäumnis — der Nichterwähnung der ,grauen Eminenz’ Hitlers — gewisse Schlüsse ziehen.” Diese, von Gert Buchheit nicht ausgesprochenen, im Räume stehengelassenen Schlüsse hat Henning Fikentscher (1) gezogen und Namen genannt. Henning Fikentscher: „1945 wurde der Sowjetagent Richard Sorge von den Japanern hingerichtet. Zwanzig Jahre lang verleugnete ihn die Sowjetunion, ehe sie ihn als ihren Agenten öffentlich anerkannte und zum Helden der Sowjetunion erklärte... Bormann wird voraussichtlich auf die Ehrung eines Helden der Sowjetunion so lange verzichten müssen, bis die Sowjettruppen am Rhein oder Atlantik stehen. Dr. med. Morell wird dieser Ehre kaum teilhaftig werden. Er scheint nur ein Handlanger gewesen zu sein.” „Aber”, setzt Gert Buchheit (97) fort, „seitdem einwandfrei feststeht, daß Bormann nach seinem Ausbruch aus der Reichskanzlei am 2. Mai 1945 auf der Eisenbahnbrücke der Invalidenstraße in Berlin-Tiergarten ums Leben gekommen ist, muß man sich fragen, warum Bormann — wenn er schon Kontakt mit dem sowjetischen Geheimdienst hatte — nicht zu den Russen übergelaufen ist? Vielleicht leitete ihn bei seinem Ausbruch aus dem Bunker tatsächlich diese Absicht, immer vorausgesetzt, daß er für Moskau gearbeitet hat. Das Schicksal wollte es anders. Bormann ist, wie die medizinische Untersuchung eines gefundenen Schädels mit ziemlicher Sicherheit bewiesen hat, damals gefallen. So glaubt man eben oft, ein Rätsel gelöst zu haben, und 258
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am Ende muß man erkennen, daß daraus wieder neue Rätsel entstehen und alles Bemühen dem Kampf um eine Hydra gleicht.” Anderer Ansicht ist Eberhard Engelhardt (128), der in seinem Aufsatz „War Bormann ein Sowjetagent” u. a. schreibt: „Auffällig ist, daß das angebliche Skelett Bormanns mit der durch den Zahntechniker identifizierten Prothese und mit den Glassplittern gerade zur rechten Zeit aufgefunden worden ist, nämlich etwa ein Jahr nach den Enthüllungen General Gehlens und wenige Wochen nach der Veröffentlichung meiner Glosse. Unterstellt man dagegen einmal, Gehlens Bericht sei richtig, Bormann sei in der Sowjetunion gestorben, dann wird die UdSSR alles versuchen, die Enthüllungen Gehlens zu widerlegen. Ist Gehlens Bericht richtig, dann befand sich Bormanns Leiche samt Skelett und Zahnprothese in Händen der Sowjets. Dann ist es aber nicht ausgeschlossen, daß das Skelett samt Prothese zur rechten Zeit nach Berlin-Moabit geschafft und dort vergraben worden ist, damit es dort bei Bauarbeiten gefunden werden konnte... Glassplitter können auch nachträglich in das Gebiß eines Skeletts praktiziert werden ...” Ladislas Farago (12) teilt dem Leser in seiner im Jahre 1975 erschienenen Reportage „Scheintot” mit, daß Martin Bormann den Zweiten Weltkrieg überlebte und im Jahre 1948 mit Hilfe des Peronregimes nach Argentinien entkam. Farago will mit Martin Bormann im Februar 1973 in einem Redemptoristen-Kloster in der Nähe von Tupiza, in der Andenprovinz Potosi, gesprochen haben. In dem ersten Kapitel seines Buches „Die Knochen des Anstoßes” meint der Verfasser: „Noch tragischer könnte es eines Tages werden, wenn sich der gesamte Schädelfund als Hokuspokus herausstellen sollte. Davon aber bin ich überzeugt. Denn Martin Bormann kann unmöglich nach Kriegsende unter Hinterlassung seines Schädels und seiner Knochen nach Südamerika geflohen sein und heute in einer Luxusvilla in Buenos Aires seinen Lebensabend verbringen.” 259
In seinem Recherchenbericht ist Faragó seriöser: „Am 10. Mai (1945) gab ein Sprecher der Alliierten Kriegsverbrecher-Kommission die Verhaftung von Reichsmarschall Göring bekannt und fügte hinzu, die Russen hätten festgestellt, daß eine der in Berlin gefundenen Leichen ,mit einem vernünftigen Grad von Wahrscheinlichkeit’ als die Bormanns anzusehen sei. Am 12. Juni (1945) berichtete die ,New York Times’ auf Grund einer Meldung des sowjetisch kontrollierten Berliner Rundfunks, Martin Bormann sei verhaftet worden, wahrscheinlich von den Russen. Am 2. August (1945) wurde aus London bekannt, Untersuchungsbeamte hätten ,geheime Beweise’ zusammengetragen, nach denen Martin Bormann vielleicht noch am Leben sei und ein Gefangener der Russen sein könnte. Am 1. September (1945) meldete die ,New York Times’ Bormanns Verhaftung durch die Russen. Zur gleichen Zeit behauptete ein Korrespondent der ,Associates Press’, der beim Hauptquartier von Feldmarschall Sir Bernard Montgomery akkreditiert war, Martin Bormann, ,der an Hitlers Seite in den Ruinen der Reichskanzlei umgekommen sein soll’, sei in der Nacht des l. Mai ,von einem Anti-Nazi, einem Arzt, der ihn gut kannte’, in einem Hamburger Vorort gesichtet worden. Der Korrespondent berief sich dabei auf Material des britischen Geheimdienstes.” (12) Es folgen die bekannten Gerüchte vom Auftauchen Bormanns in Neumünster, in München und später in Spanien. Aber noch einmal zitiert Faragó: „Eine Meldung vom 10. November 1947 erklärte jedoch, der allgegenwärtige Martin Bormann, der sich bis jetzt in Berlin versteckt gehalten habe, sei nun in der Sowjetunion.” Bedauerlicherweise hat Faragó diese Quelle nicht namentlich genannt. Er geht aber auch auf die bereits abgehandelte Fahndung nach Martin Bormann ein: „Die Unterlagen über die Suche beweisen, daß die Anstrengungen der Alliierten, Bormann zu finden, halbherzig und amateurhaft waren. Systemlosigkeit führte dazu, daß Bormanns Spur verlorenging.” 260
An anderer Stelle schreibt Faragó: „Alle Welt war der Meinung, mehrere Regierungen veranstalten eine weltweite Jagd auf den ehemaligen Reichsleiter. Die Wahrheit sah anders aus. Niemand hielt ernstlich nach ihm Ausschau. Die früheren Verbündeten, die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich, deren gemeinsamer Gerichtshof Bormann zum Tode verurteilt hatte, krümmten keinen Finger, um seiner habhaft zu werden. ,Das hätte nur Komplikationen gegeben’, sagte mir ein amerikanischer Diplomat in Asunción.” (Vgl. Kapitel 17, „Lahme Fahndung nach Bormann im Osten Deutschlands”, „Wenig Interesse der Russen an Bormann wird immer deutlicher”.) Auf General Gehlen ist Faragó schlecht zu sprechen, er schreibt: „Dann enthüllte Henry Raymont im September 1971 in der ,New York Times’, General Reinh. Gehlen, der frühere Chef des deutschen Nachrichtendienstes, werde das Geheimnis Bormann in seinen kommenden Memoiren endgültig lösen. Laut Gehlen war Bormann ein Verräter und Spion, der die Sowjetunion über einen geheimen Sender mit wichtigen Informationen versorgt hatte. In einem einzigen Absatz auf Seite 48 der deutschen Ausgabe seiner Memoiren fügte Gehlen hinzu, er sei nicht imstande gewesen, selbst Nachforschungen anzustellen, jedoch hätten ihm zwei anonyme Informanten gesagt, Bormann habe bis zu seinem Tode Ende der sechziger Jahre unter falschem Namen in der Sowjetunion gelebt. Ich war der Gehlen-Behauptung gegenüber skeptisch. Zuverlässige Freunde im Bundesnachrichtendienst(!) versicherten mir, Gehlen habe Anfang der sechziger Jahre eine Fahndung nach dem ehemaligen Reichsleiter autorisiert und einen BND-Angehörigen namens Horst von Westernhagen nach Brasilien entsandt. Dieser Agent starb unter ungeklärten Umständen kurz nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro. Er wurde nach Gangstermethode ermordet. Andere Agenten, die mehr Glück hatten als von Westernhagen, brachten dann soviel Material herbei, daß Bormanns Flucht nach Südamerika einwandfrei bewiesen werden konnte.” 261
Anscheinend ist Ladislas Faragó der Meinung, daß sich keiner seiner Leser die Mühe macht, seine Angaben über Gehlens Memoiren mit dem Wortlaut aus „Der Dienst” zu vergleichen. In der Folge geht Faragó — auf seine Weise — auf die in dieser Arbeit schon geschilderte Aussage General Gehlens vor dem Amtsgericht Starnberg ein, die er „auf seinen (Gehlens) Alterssitz in Berg am Starnberger See” verlegt usw. Es erübrigt sich, die zahlreichen Fehler Faragós besonders hervorzuheben. In dem Kapitel „Die Geburt der Bormann-Legende” berichtet Faragó sachlich: „Endlich, am 10. Juni (1946), war der Anwalt” (Verteidiger Bormanns) „bereit. Am Morgen dieses Tages versetzte der sowjetische Chefankläger, General R. A. Rudenko, die anwesenden Pressevertreter in Aufregung, als er die Bemerkung fallen ließ: ,Soweit wir wissen, ist Bormann nicht tot; er sitzt nur nicht auf der Anklagebank.’ Dieser Satz wurde dahin ausgelegt, daß die Russen Bormann geschnappt hätten und ihn jeden Augenblick präsentieren würden.” Viele Seiten seines Buches „Scheintot” füllt Ladislas Faragó mit dem fiktiven Alltag Martin Bormanns in verschiedenen Staaten Südamerikas aus. Sogar aus dem 800 Seiten starken Manuskript der Memoiren Bormanns zitiert er einiges. Für dieses Manuskript will Faragó 500 000,— Dollar Vorschuß gezahlt haben. Geldgeber sei eine amerikanische Filmgesellschaft. An die Zahlung dieses Betrages knüpfte Faragó die Bedingung, mit Martin Bormann sprechen zu können. Das wurde bewilligt. Nachdem Faragó mittels Lufttaxi, Auto und zu Fuß das „winzige Hospital”, in dem Bormann angeblich lag, erreicht hatte, wurde er in ein Einzelzimmer geführt, in dem der „Patient” lag. Beim Eintreten sagte Martin Bormann zu Faragó mit leiser, aber ziemlich barscher Stimme: „Warum machen Sie nicht, daß Sie rauskommen. Sehen Sie nicht, daß ich ein alter Mann bin? Lassen Sie mich in Frieden sterben.” Bemerkenswert ist noch, daß Ladislas Faragó an die Spitze seiner langen Liste der Helfer zu diesem Buch „Scheintot” 262
k)
außer zwei früheren Mitarbeitern aus dem Stabe Martin Bormanns, Dr. Ludwig Wemmer und Ministerialdirektor a. D. Heim, auch die aus den 70er Jahren bekannte Terroristin Beate Klarsfeld erwähnt, „deren Arbeiten auf diesem Gebiet ich benutzte”, wie er schreibt. Jochen von Lang (8) ist nach den Ausführungen in seinem 1977 erschienenen Buch „Der Sekretär” ebenfalls der Ansicht, daß durch die „Schädel- und Knochenfunde auf dem Gelände”, wie er es formuliert, der Tod Martin Bormanns bewiesen sei. v. Lang schreibt ferner, daß der Münchner Kriminalhauptmeister Moritz Furtmayr anhand der Schädel Bormanns und Dr. Stumpfeggers die Köpfe und Gesichter der beiden Toten rekonstruiert habe. „Wir verglichen sein Werk mit Fotos von Bormann und Stumpfegger. Es gab keinen Zweifel mehr. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft stellte die Gebeine von Martin Bormann nach Abschluß der Strafsache seinen Angehörigen zur Verfügung, mit der Einschränkung, daß sie nur begraben und nicht eingeäschert werden dürfen. Schließlich ist nicht ganz auszuschließen, daß sie noch einmal als Beweisstücke benötigt werden. Bormanns Kinder sind bis jetzt nicht auf diese Bedingung eingegangen. Der ,Sekretär des Führers’ ruht deshalb für absehbare Zeiten in einem Pappkarton in der Asservatenkammer der Frankfurter Staatsanwaltschaft.” Im Anhang seines Buches „Der Sekretär” (8) zitiert Jochen von Lang unter „3. Hinweis auf Gehlen” einen Teil der Aussagen, die General Gehlen am Starnberger Amtsgericht in seiner Vernehmung am 21. 9.1971 gemacht hat. Jochen von Lang macht im Anschluß an dieses Zitat folgende Ausführungen: „Die beiden Informationsquellen hat der Zeuge Gehlen aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgegeben. Ihn hierzu zu zwingen, bestand im Hinblick auf die offensichtliche Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit der beiden Hinweise keine Notwendigkeit. Der bereits mehrfach erwähnte sowjetische Journalist Besymenski, als sowjetischer Korrespondent der sowjetischen Zeitung ,Neue Zeit’ nunmehr in Bonn akkreditiert, 263
brachte anläßlich einer Besprechung in Bonn am 11. 9. 1971 mit dem Untersuchungsrichter, an der ich teilnahm, zu den angekündigten Veröffentlichungen Gehlens ,nur zum Ausdruck, daß man dies allenfalls satirisch kommentieren könne’ (Vermerk des Untersuchungsrichters vom 13. 9. 1971 in Band VIII Bl. 1276 d. A.). In meinen Handakten habe ich am 12.—20. 9.1971 vermerkt, daß Besymenski die angekündigte Version Gehlens über Bormann für absolut unrichtig hält und daß er uns im übrigen keinerlei Hinweise auf die Existenz des Angeschuldigten geben konnte, wonach insbesondere ich genau und gezielt gefragt hatte.” (8) Die nach dem Erscheinen der Memoiren Gehlens verzeichnete „Wende in der Berichterstattung rund um Martin Bormann”, von der am Anfang dieses Kapitels gesprochen wurde, ist aus den Auszügen der Veröffentlichungen a) bis k) ersichtlich. Die Annahme vom Überleben des einstigen Reichsleiters, der sich in Südamerika aufgehalten haben soll, schwenkte um in die Ansicht, daß er doch bei der Flucht aus dem Bunker der Reichskanzlei am 2. Mai 1945 umgekommen sei. Gefestigt wurde diese Ansicht durch die Skelett- und Schädelfunde an der Stelle, an der er umgekommen sein konnte. Seltener wird vermerkt, daß an derselben Stelle schon 1965 — erfolglos — gegraben wurde. Noch seltener werden Gedanken darüber laut, daß diese Skelettund Schädelfunde nicht in den langen Jahren, ja Jahrzehnten nach Kriegsende erfolgten, sondern in der relativ kurzen Zeitspanne von fünfzehn Monaten nach den Enthüllungen General Gehlens über Martin Bormann. Nach dem Erscheinen der Memoiren General Gehlens (21) sind nicht nur Bücher über Martin Bormann erschienen, auf deren Inhalt im 20. Kapitel eingegangen wurde. Auch Berichte von Augenzeugen und Leserbriefe, die sich mit der kritischen Phase nach dem 1. Mai 1945 im Lebenslauf Martin Bormanns befassen, erreichten die Redaktionen der Presse und wurden — teilweise — veröffentlicht. Diese Memoiren brachten auch insoweit einen Wendepunkt in der Bormann-Literatur hervor, als die Zahl der bisher erschienenen Veröffentlichungen von vier auf elf anstieg. Wenn man 264
berücksichtigt, daß die ersten vier dieser Arbeiten zwischen den Jahren 1954 und 1969 erfolgten, also innerhalb von 15 Jahren, d. h. etwa in jedem vierten Jahre eine Bormann-Biographie, so ist das bescheiden bei dem Vergleich mit den sieben Veröffentlichungen, die zwischen den Jahren 1973 und 1977 erschienen, d. h. etwa zwei Veröffentlichungen pro Jahr. Die ersten vier Arbeiten enthielten biographische Daten, das Wirken Martin Bormanns in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), seinen Einfluß auf Adolf Hitler und Mutmaßungen über sein spurloses Verschwinden, da die Frage seines Ablebens ungeklärt war. Insbesondere sein Einfluß auf Adolf Hitler wird von der überwiegenden Anzahl der Augenzeugen als erheblich bezeichnet; lediglich sein Verteidiger im Nürnberger Prozeß, Dr. Bergold, hat diesen Einfluß bagatellisiert, ebenso die heutigen Träger nationalsozialistischen Gedankengutes. Durch Gehlens Enthüllungen über seine Verratstätigkeit ist eine weitere — vor allem unerwünschte — Komponente im bisherigen Bormann-Bild hinzugekommen. Die Gründe, warum Martin Bormann sowohl für den Kreml als auch für die Nationalsozialisten kein Verräter gewesen sein darf, wurden an anderer Stelle bereits erläutert. Hier münden die Interessen der ehemaligen Feinde zusammen. Daher auch der gemeinsame Kampf gegen Gehlen, meist auf subjektiver Ebene. Solcher Zielsetzung dienen die Arbeiten Bernd Rulands „Die Augen Moskaus”, Lew Besymenskis „Die letzten Notizen Martin Bormanns” und Jochen v. Langs „Der Sekretär”, die „wie auf Bestellung” in kurzen Abständen erschienen. Der Verfasser des Buches „Der Admiral”, Klaus Benzing, der einst unter Admiral Canaris in der Abwehr diente, schließt sich aufgrund seines Wissens den Enthüllungen General Gehlens in erweitertem Umfang an, wie wir noch sehen werden. Erich Kern vertritt den Nationalsozialismus, Gerd Buchheit neigt zu Gehlens Aussagen hin, schwenkt aber, durch die Schädel- und Knodienfunde sofort überzeugt, zur gegenteiligen Meinung um. Ladislas Faragó scheint ein Einzelgänger zu sein. Der Anfang seines Buches „Scheintot” ist gut fundiert, gleitet dann aber in das Romanhafte ab. 265
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL Die Veröffentlichungen vor und nach Gehlens Memoiren — Zeugen nach dem 1. Mai 1945 — Ein nichtveröffentlichter Leserbrief — Nel~ lessens und ]ohes „Nachruf” auf Bormann
Wir wenden uns nun dem weiteren Lebenslauf Martin Bormanns zu, soweit das mit den spärlichen Unterlagen möglich ist. Der letzte Deutsche, der Martin Bormann innerhalb der deutschen Linien, beim Hotel „Atlas” in Berlin, lebend gesehen hat, war Major Joachim Tiburtius. In seinem Bericht teilt Tiburtius mit, daß Bormann damals, am 2. Mai 1945, nach zwei Uhr früh bereits Zivilkleidung angezogen hatte. Einzelheiten bitten wir im 16. Kapitel nachzulesen. Die ehemalige Angestellte des Auswärtigen Amtes, Gertrud von Heimerdinger, sah, nach ihren Angaben, Martin Bormann am 13. Juni 1945 im Kreise sowjetrussischer Soldaten. Hier der Bericht (130): „Eine Zeugin gibt beim Notar zu Protokoll: ,Ich sah Martin Bormann Juni 1945 bei den Russen' Berlin, 12. September (ASD) ,Ich habe lange geschwiegen, aber die Behauptung General Gehlens, Martin Bormann sei schon im Kriege ein Agent Moskaus gewesen, läßt mich mein Schweigen brechen. Ich möchte, daß endlich Klarheit besteht. Denn ich habe Martin Bormann während meiner Verhöre durch den sowjetischen Geheimdienst im ehemaligen Gefängnis Moabit selbst gesehen. Das kann ich beeiden.’ Mit dieser Aussage meldete sich eine ehemalige Angestellte des Auswärtigen Amtes am 8. September” (1971) „in Stuttgart beim Axel-Springer-Inland-Dienst. Gertrud von Heimerdinger, Tochter eines Generals, von 1921 bis 1945 Angestellte des Auswärtigen Amtes, zuletzt praktisch 266
Leiterin der Kurierabteilung, war im deutschen Widerstand gegen Hitler aktiv. Sie gehörte zu der Widerstandsgruppe um den ehemaligen Freikorpsführer Joseph (Beppo) Roemer, der sein Eintreten gegen Hitler am 25. September 1944 mit dem Leben bezahlen mußte. In seinem Buch ‚Deutscher Widerstand’ erwähnt Rudolf Pechel besonders ,eine tapfere Frau’: ,Beppo Roemer und seine Kameraden waren sich frühzeitig darüber klar, daß eine Beseitigung des verhaßten Regimes nur durch den Tod Hitlers sich ermöglichen lassen würde. Ein kleiner, innerer Kreis der Gruppe hat alles darangesetzt, die Beseitigung Hitlers durchzuführen. Dazu war es notwendig, immer auf dem laufenden zu sein, wann Hitler in Berlin weilte und vor allem, wann er auf Reisen ging. Hier hat Oberstleutnant Erttel, damals Adjutant der Berliner Stadtkommandanten General von Seifert und später General von Hase, der zu dem Kreise der Männer des 20. Juli gehörte, wesentliche Dienste geleistet. Er unterrichtete ständig eine tapfere Frau, deren noch besonders gedacht werden soll, Gertrud von Heimerdinger, über die jeweiligen Reisepläne Hitlers ... Von Gertrud von Heimerdinger erhielt Roemer auch stets wichtiges Nachrichtenmaterial über geheime Depeschen des Auswärtigen Amtes.’ Tagelang Vernehmungen Gertrud von Heimerdinger erlebte das Ende des Hitler-Reiches in Berlin. Ausgerechnet ihre Tätigkeit im Widerstand brachte ihr im Juni 1945 tagelang Vernehmungen durch den sowjetischen Geheimdienst ein. Felicitas von Reznicek, Tochter des berühmten Komponisten und Dirigenten Emil Nikolaus von Reznicek, berief sich bei Verhören durch den sowjetischen Geheimdienst auf ihre Freundin Gertrud von Heimerdinger: sie könne ihre Tätigkeit im Widerstand bezeugen. Lebhaft schildert die Zeugin dem ASD am Wochenende die Ereignisse, die zu ihrer Begegnung mit Bormann im Gefängnis Moabit führten. ,Nach der Kapitulation haben an einem Sonntagmorgen — meiner Erinnerung nach am 10. Mai 1945 — morgens um sieben zwei russische Offiziere an meine Wohnungstür in der Schlüterstraße 48 geklopft. Unten vor der Haustür stand 267
ein Wagen mit Chauffeur. Zusammen mit einem deutschen Dolmetscher fuhren wir zum heutigen Kriminalgericht nach Moabit. Dort bin ich dann an diesem und den folgenden Tagen verhört worden.’ Da die Widerstandstätigkeit Frau von Heimerdingers bekannt war, konnte sie nach jedem Verhör in ihre Wohnung zurückkehren. Auch ihr Vernehmer, ein Offizier namens Kiwritzky, behandelte sie nicht wie eine Gefangene. Bei einer dieser Vernehmungen in Moabit — ,ich glaube es war am 13. Juni’ (1945), erinnert sich Gertrud von Heimerdinger — geschah folgendes: ,Plötzlich wurde die Tür des Verhandlungszimmers aufgerissen, es war außer Kiwritzky, einem Dolmetscher und mir niemand anwesend. Zwei Soldaten stürmten herein und berichteten ganz aufgeregt dem Offizier etwas auf russisch. Der Dolmetscher wandte sich zu mir und sagte: „Hören Sie mal, die beiden erzählen, sie hätten soeben den Bormann gefunden. In den Ruinen zwischen den S-Bahn-Stationen Lehrter Bahnhof und Bellevue.” Ich habe daraufhin zu den beiden Russen gesagt: „Na, da gratuliere ich Ihnen, da haben Sie ja einen großen Fang gemacht.” Denn Bormann, die graue Eminenz, war ja für meine Begriffe noch schlimmer als Hitler selbst. Der Dolmetscher übersetzte das für Kiwritzky, und der sagte dann: „Herr von Ribbentrop wäre uns lieber gewesen!” Ich antwortete: „Der Ribbentrop ist ja unbedeutend gegen den Bormann.”’ Es gibt keinen Zweifel Ehe Kiwritzky antworten konnte, gingen die beiden Soldaten aus dem Zimmer. ,Durch die geöffnete Tür’, so Schilden Gertrud von Heimerdinger die Szene, ,sah ich Martin Bormann im Gang stehen, umringt von vielen sowjetischen Soldaten. Ich hatte den „Sekretär des Führers” vorher zwar nie persönlich gesehen, kannte aber sein Gesicht und seine Figur natürlich von vielen Bildern her. Bormann machte einen heruntergekommenen Eindruck. Ich kann nicht mehr sagen, ob er Uniform oder Zivil trug. Aber es gibt für mich keinen Zweifel, daß es sich um Bormann gehandelt haben muß.’ Eine Bestätigung ihres Erlebnisses erhielt die Zeugin noch am 268
Abend desselben Tages. Ihre Freundin Felicitas von Reznicek erzählte ihr, der sie vernehmende Major habe ihr ganz stolz erzählt, daß Bormann gefunden worden sei und daß die Sowjets ihn in Gewahrsam hätten. Bei einer späteren Vernehmung kam Kiwritzky noch einmal auf Martin Bormann zu sprechen. Er erzählte Gertrud von Heimerdinger: ,Den Bormann haben wir jetzt nach Rußland geschafft.’ Lange Jahre hindurch schwieg Gertrud von Heimerdinger über ihre Erlebnisse im Juni 1945. Sie fürchtete, bei den Russen auf einer ,schwarzen Liste’ zu stehen. Sie hatte die sowjetische Aufforderung zur Zusammenarbeit abgelehnt. Statt dessen stellte sie sich den Amerikanern zur Verfügung; denn Allan Dulles, amerikanischer Kontaktmann des deutschen Widerstandes in der Schweiz, kannte die ,tapfere Frau’ aus dem Auswärtigen Amt. Erst die Enthüllungen Gehlens veranlaßten sie, vor einem Notar an Eides Statt zu erklären, daß sie Martin Bormann 1945 lebend in den Händen der Sowjets gesehen hat.” (130) Die bisher bekannten Bormann-Forscher vor, aber insbesondere nach Gehlens Enthüllungen im Jahre 1971 sind in ihren Arbeiten recht genau vielen Einzelheiten im Lebenslauf Bormanns nachgegangen. Am gewissenhaftesten hat hier Jochen von Lang gearbeitet. Aber Bormanns Freikorpszugehörigkeit und Tätigkeit im Baltikum, über die in jedem größeren Zeitungsinstitut Westdeutschlands nachgelesen werden kann, ist allen, anscheinend auch Jochen von Lang, entgangen. Ebenso auch die wiederholt zitierte Meldung des Moskauer Rundfunks vom 16. Juni 1945, die Gefangennahme Martin Bormanns durch die Sowjets betreffend. In der eidesstattlichen Erklärung Gertrud von Heimerdingers liegt eine weitere, Martin Bormann belastende und Gehlen bestätigende Aussage vor. Das Verschweigen solcher Informationen müßte auch dem Gutgläubigen auffallen und stutzig machen. Gemeinsame Marschrichtung? Erich Kern ist der einzige Schriftsteller, der den Heimerdinger-Bericht nicht totschweigt, der in der „Welt” in großer Aufmachung gebracht worden war (130). Allerdings tut er diesen Bericht mit den Worten ab: „Ein Fräulein Gertrud von Heimerdinger behauptete, am 269
13. Juni 1945 in Berlin auf dem NKWD-Kommando Bormann gesehen zu haben. (,Die Welt’, 12. September 1971)” Auch die Aussagen des SS-Generals Gottlob Berger und Rudolf Ströbingers (alias Pavel Havelka, s. auch 1. Kapitel) verschweigt Erich Kern nicht. Am Ende urteilt er pauschal: „Alle diese Phantasien wurden einige Zeit für bare Münze genommen.” Damit stuft er etwas, das er nicht glauben kann, nämlich, daß seines Führers Sekretär und engster Mitarbeiter im Dienste der Sowjets gewesen sei, ganz einfach als „Phantasie” ein, ohne sich der Mühe zu unterziehen, diesen Bericht näher zu betrachten. Darin steht er einer persönlichen Meinungsäußerung erheblich näher, als einer sachlichen Widerlegung, worauf es viel eher angekommen wäre. Es folgen zwei Leserbriefe an „Die Welt” (131) zu dem Buch Gehlens „Der Dienst”: l. „Fragwürdige Spekulationen Ich war als Kriminologe und Schriftexperte Jahre hindurch engster Mitarbeiter der Dienststellen Canaris und Gehlen, bis zum Schluß. Ich habe an heikelsten Besprechungen der Generäle teilgenommen, die uns allen Kopf und Kragen hätten kosten können, nur weil ‚Vermutungen’ ausgesprochen wurden. Ich halte die jetzt fröhlich zu Papier gebrachten Spekulationen Gehlens — Reichsleiter Bormann sei — man denke — seit Beginn des Ostfeldzuges ,Informator und Berater’ der Sowjets gewesen, für höchst fragwürdig. Ich weiß definitiv, daß auch Bormann, wie jeder andere, jederzeit schärfstens überwacht wurde, denn Hitler traute keinem einzigen. Ich bin sehr, sehr skeptisch und kann das auch sachlich begründen. Dr. Walter Hemsing, Fachpsychologe, Mitglied der deutschen kriminologischen Gesellschaft, 51 Aachen, Dachsbau 7” 2. Nur drei oder vier Personen kennen den Aufenthaltsort In der BRD kennen nur drei oder vier Personen den jetzigen Aufenthaltsort des ehemaligen Reichsleiters Martin Bormann. Nach der Kapitulation im Jahre 1945 mußten etwa fünfzig Personen mit dem von ihnen unerkannten Martin Bormann zu270
sammen leben. Ich selbst bezweifle, daß Herrn Gehlen der Aufenthaltsort des ehemaligen Reichsleiters bekannt ist. Nach der damaligen Situation zu urteilen, wird kaum eine der überlebenden Personen bereit sein, über den seinerzeitigen Zustand auszusagen. Bruno Richter, 405 Mönchengladbach” (131) Im ersten Leserbrief „Fragwürdige Spekulationen” kommt berechtigter Unglauben zum Ausdruck, weil etwas ausgesprochen wird, was im Dritten Reich ausgeschlossen war. Es gab einfach nur eine Meinung. Selbständiges Denken war nicht notwendig. Äußerungen solchen Denkens konnten Folgen haben. GestapoAgenten und ihre Helfer überwachten die Bevölkerung pausenund lückenlos. Und da soll die rechte Hand des Führers Adolf Hitler ein Feindagent gewesen sein? Das klingt so ungeheuerlich, daß die Enthüllung Gehlens über Bormann ohne Diskussion, ja ohne überhaupt nachzudenken, als absurd abgetan wird. Auch eine Nachwirkung des seelischen Zwanges, der damals herrschte. Gewiß gab es auch eine Überwachung des Hauptquartiers Adolf Hitlers, die natürlich alle Mitarbeiter einschließlich Martin Bormann umfaßte. Hier handelte es sich jedoch um eine Sicherheitsmaßnahme zum persönlichen Schutz und nicht um eine politische Überwachung, wie Dr. Walter Hemsing irrig meint. Aufschlußreicher ist ein Leserbrief an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” von Klaus Benzing (132), der nicht veröffentlicht wurde. Hier der Wortlaut (gekürzt): „Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter Wenn in Ihrer Ausgabe vom 3. 12. 1971 in einer Meldung unter der Überschrift ,Gehlens Memoiren geben keine Geheimnisse preis’ von einer ,Groteske' gesprochen wird, und von einer angeblich ,bombastischen Enthüllung Gehlens’, daß Hitlers Intimus Bormann Spion der Sowjets gewesen sei, so muß man sich einfach fragen, wann die letzten Dummen begreifen, daß die Abwehrtätigkeit und vor allem deren Ergebnisse in keinem Land der Erde veröffentlicht werden. Der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes, General Gehlen, hätte sehr wohl noch andere Beweise anführen können, 271
daß der ehemalige Chef der ehemaligen Parteikanzlei der Nazis tatsächlich ein Spion der Sowjets gewesen ist. Kein geringerer als der verstorbene ehemalige Präsident des Europarates, Paul Leverkuehn, schreibt auf Seite 186 seines Buches ,Der geheime Nachrichtendienst der Wehrmacht im Kriege’, daß nach Ansicht des ehemaligen Chefs des Amtes Ausland/Abwehr, Admiral Canaris, die Fäden der sowjetischen Spionageorganisation ,Rote Kapelle’ bis zu Bormann liefen. Einige wenige noch lebende Abwehrangehörige könnten bestätigen, daß Canaris sogar wußte, daß Bormann für die Sowjets arbeitete ... Wer die damaligen Verhältnisse kennt, weiß auch, daß jeder, der es gewagt hätte, selbst mit Beweisen, Bormann der Spionage für die Sowjets zu bezichtigen, unverzüglich ohne jede Untersuchung auf Befehl Hitlers liquidiert worden wäre. Aber nicht nur der, der es gewagt hätte, dies zu sagen, sondern die SS als immerwährende neidische Konkurrentin der ,Abwehr’ hätte eine solche Verdachtsäußerung zum Anlaß genommen, die ,Abwehr’ zu liquidieren. So erschreckend und phantastisch dies klingt, so ist es doch damalige Realität gewesen. Canaris also wußte, daß Bormann ein Sowjetspion war. Er hat es auch in seinen Tagebüchern an gesonderter Stelle niedergelegt gehabt, was ebenfalls noch ein oder zwei lebende Abwehrangehörige wissen ... Es gibt aber noch andere Beweise dafür, daß Bormann tatsächlich ein Spion der Sowjets war, Beweise, von denen vielleicht sogar General Gehlen bisher nichts weiß. Als zum Beispiel die Sowjets nach der Besetzung Deutschlands ab 1945 das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin für gleiche Zwecke, nur mit neuen Bewachungsmannschaften, weiterführten ... befand sich in dem besonders bewachten Teil des Lagers im Jahre 1947/48 im sogenannten ,Schuschnigg-Haus’ neben einem Sohn Stalins auch ein sowjetischer Offizier namens Juschko. Er wartete auf seinen Abtransport in die Sowjetunion. Er war von der sowjetischen Geheimpolizei in der von den Sowjets besetzten Zone Deutschlands verhaftet worden, weil er im betrunkenen Zustand in einem Lokal damit geprahlt hatte, kurz vor der Kapitulation Deutschlands unmittelbar in der Nähe des ehemaligen sogenannten ,Führerbunkers’ auf den Reichsleiter 272
Bormann gewartet und ihn in Empfang genommen zu haben. Noch in Sachsenhausen empörte sich der Oberst der Roten Armee Juschko über seine Verhaftung, weil — wie er sagte — es ja wahr gewesen sei, daß er auf Bormann gewartet habe und ihn in einem Sonderflugzeug nach Moskau gebracht habe. Viele der ehemaligen Sachsenhausen-Häftlinge wußten von diesen Äußerungen Juschkos ... Verwundern muß es allerdings, wenn ein so vorzüglicher Geheimdienstkenner wie der jetzige Leiter der Sicherheitsabteilung im Bundesinnenministerium, Ministerialdirektor N o l l a u , General Gehlens Bemerkung über die Spionagetätigkeit Bormanns als eine ,Ente’ bezeichnet. Herrn Nollau gerade sollte es bekannt sein, wie sorgsam der ehemalige Chef der Abwehr, Admiral Canaris, gearbeitet hat und daß Gehlen, als der seinerzeitige Chef von ,Fremde Heere Ost’ ganz sicher an dem Wissen von Canaris über Bormann teilgehabt hat. Wenn er darüber von einer ,Zweckentfremdung’ des BND unter General Gehlen spricht, weil die Bundesrepublik angeblich von einem Netz von Agenten und V-Leuten” (des BND) „überzogen worden sei, so muß man Herrn Nollau schlicht fragen, ob er sich aus seiner Ausbildungszeit nicht mehr erinnern kann, daß einer wirksamen Abwehrtätigkeit des eigenen Landes keine Grenzen gesetzt sein dürfen. Es wäre absurd, wenn nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die vielleicht in einem gegnerischen oder auswärtigen Land gesammelt wurden und bis in die Bundesrepublik führen, dort nicht weiter verfolgt werden dürften. Alles in allem, Unberufene sollten endlich aufhören, über Nachrichtendienst und Abwehrtätigkeit zu reden oder zu schreiben, wenn sie keine Ahnung davon haben. General Gehlen jedenfalls, und darüber sind sich viele Menschen einig, wird in die Nachkriegsgeschichte eingehen als der Mann, der mit seiner Organisation der westlichen Welt die besten und zutreffendsten Nachrichten vermittelt hat über einen Gegner, der nicht aufhört, die Freiheit zu bedrohen.” (132) An dieser Stelle sei eingeflochten, daß der vorstehend erwähnte Dr. Günther Nollau, der spätere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, von der SPD mehrfach als Kandidat für den 273
vakanten Posten des Vizepräsidenten im Bundesnachrichtendienst (BND) angekündigt und angeboten wurde. Nollau wurde aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Dazu General Gehlen in seiner letzten Schrift „Verschlußsache” (133): „In erster Linie waren die niemals aufgeklärten Umstände seiner 1950 erfolgten ,Flucht’ aus der damaligen SBZ, die eine Verwendung im Dienst unmöglich machten. Es war zweifellos hilfreich, daß sich seinerzeit ein großer Teil der Presse zu dieser Ablehnung verständnisvoll und zustimmend äußerte, darunter auch ,Die Zeit’ mit einem beachtenswerten Beitrag aus der Feder der Gräfin Dönhoff.” (133) Am Schluß dieses Kapitels mögen die Worte stehen, die Bernd Nellessen und Werner Johe in „Die Welt” (134) zum Thema „Gehlen kann seine Quellen nicht nennen” veröffentlichten: „Reinhard Gehlen meldet den physischen Tod eines Mannes, der, schon möglich, etliche Jahre noch das Gnadenbrot Stalins fraß, der aber politisch längst verscharrt ist. Sollte er Stalins Agent gewesen sein — er machte uns die Perfidie der Führerclique im Tausendjährigen Reich um so deutlicher, doch dieses Beweises bedürfen wir nicht.” (134)
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ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL Sowjetische Agenten in hohen US-Regierungsstellen — Präsidentenberater Harry Dexter White und Harry Hopkins auch Sowjetagenten — Bormanns Befehle über Behandlung notgelandeter Feindflieger — US-Major Jordans Begegnungen mit Sowjetagenten — Seine Enthüllungen — Harry Hopkins Verbot, Uranlieferungen an die Sowjets aktenkundig zu machen — Roosevelts Krankheit und Handlungsunfähigkeit In den vorhergehenden Kapiteln wurde versucht, den Lebenslauf des unauffälligen Begleiters von Adolf Hitler, des Reichsleiters Martin Bormann, kritisch zu schildern, der mit einem der tragischsten Abschnitte der deutschen Geschichte untrennbar verbunden ist. Das Wirken Martin Bormanns in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), bis er engster Mitarbeiter und Vertrauter Adolf Hitlers geworden war, ist inzwischen auch in der Öffentlichkeit des In- und Auslandes weitgehend bekanntgeworden. Weniger bekannt dagegen ist, was sich um ihn seit seinem Verschwinden ins Nichts, zugetragen hat, seit ihn Joachim Tiburtius am 2. Mai 1945, etwa 2 Uhr früh beim „Hotel Atlas” in BerlinFriedrichstraße zum letzten Male gesehen hat. Martin Bormann war zu diesem Zeitpunkt weder verwundet noch handlungsunfähig. Außer den Augenzeugen- und Zeitungsberichten liegen keine weiteren Unterlagen vor, die exakt Aufschluß geben könnten. Aufgrund der vorliegenden Informationen kann aber mit hohem Wahrscheinlichkeitsgrad, ja mit Gewißheit auf sein Überleben geschlossen werden: 1. Die „New York Times” berichtete am 12. Juni 1945 aufgrund einer Meldung des sowjetisch kontrollierten Berliner Rundfunks, daß Martin Bormann verhaftet worden sei, wahrscheinlich von den Russen. 2. „Kärntner Nachrichten”, Klagenfurt, am 13. Juni 1945: Der sowjetisch kontrollierte Prager Rundfunk meldet die Festnahme von Martin Bormann. 3. Gertrud von Heimerdinger sah während eines Verhörs in Berlin-Moabit, etwa am 13. Juni 1945, Martin Bormann le275
bend im Kreise sowjetischer Soldaten. Der sowjetische Vernehmungsoffizier Kriwitzki bestätigte gegenüber Gertrud von Heimerdinger die Festnahme Bormanns. 4. „Kölnischer Kurier” meldet lt. Berliner Sender (unter sowjetischer Verwaltung) am 16. Juni 1945 die Verhaftung Martin Bormanns. 5. „Neue Zürcher Zeitung” meldet am 17. Juni 1945 unter Bezugnahme auf Radio Moskau die Verhaftung Martin Bormanns. 6. „New York Times” meldet am 1. September 1945 die Verhaftung Martin Bormanns durch die Russen. 7. Wassilij Wassilewsky, ehemaliger höherer Offizier aus der Armeegruppe des Sowjetmarschalls Schukow berichtet nach seiner Flucht in den Westen, in der „Marburger Presse” Nr. 60/1949 vom 12. März 1949, daß er Martin Bormann am 30. April (?) 1945, nachmittags im PKW eines russischen Offiziers gesehen hat und ihm strengstes Stillschweigen darüber zur Pflicht gemacht wurde. 8. Sowjetoffizier Juschko, von den Sowjets im Lager Sachsenhausen inhaftiert, hat nach seinen Angaben kurz vor der Kapitulation in unmittelbarer Nähe des Bunkers der Reichskanzlei Martin Bormann erwartet und in einem Sonderflugzeug nach Moskau gebracht. Wir wenden unser Augenmerk noch einmal dem sehr aufschlußreichen Bericht Wassilewskys zu, der höherer Polit-Offizier im Stabe der Heeresgruppe Schukow gewesen war. Wassilewsky schreibt eingangs, daß die sowjetische Kriegspropaganda seit Beginn des Rußlandfeldzuges nicht nur die Größen des Dritten Reiches angegriffen habe, sondern auch Persönlichkeiten der „zweiten Garnitur”, wie Reichsjugendführer Axmann, Dr. Todt u. a. Wassilewsky berichtet weiter: „Um so mehr mußte es dem unbefangenen Beobachter auffallen, daß der Name des deutschen Reichsleiters Martin Bormann weder erwähnt, noch angegriffen, ja förmlich totgeschwiegen wurde.’ Diese Feststellung über das Fehlen des Namens von Martin Bormann in der sowjetischen Kriegspropaganda deckt sich mit der Feststellung des Fehlens von Martin Bormanns Namen auch 276
in der neuen sowjetrussischen Enzyklopädie, wie Prof. Dr. Stadtmüller mitteilt: „In der umfassenden, umfangreichen und sehr detaillierten ,Sowjetischen historischen Enzyklopädie’, die unter der Gesamtredaktion von E. M. Schukow bisher in 12 Bänden erschienen ist (Moskau 1961—1969), sind zahlreiche wichtige Figuren der nationalsozialistischen Zeit mit biographischen Artikeln bedacht. So die Parteigrößen Hitler, Göring, Goebbels, Heß, Himmler, Rosenberg, Ribbentrop, Dönitz, Raeder, die Feldmarschälle Rommel, Reichenau, Manstein, List, die Generäle Rendulic, Leeb u. a. Der allmächtige Bormann fehlt. Es ist schwer, diese auffällige Tatsache mit einer redaktionellen Schlamperei erklären zu wollen.” (134a) Unsere bisherigen Betrachtungen bezogen sich auf das Wirken Martin Bormanns bei bestimmten Ereignissen im Dritten Reich und erstreckten sich auch auf den Kriegsschauplatz im Osten und Südosten sowie auf Norwegen. Bormanns Einfluß bzw. seine Zusammenarbeit mit Adolf Hitler haben dem deutschen Volk und Reich unermeßlichen Schaden zugefügt und gleichzeitig dem Gegner im Osten Nutzen gebracht, daß es berechtigt ist, ihn auch an dieser Stelle mit den Worten Beneschs als „Agent Stalins” zu bezeichnen. Um diese Vorgänge in ihrer Gesamtheit erfassen zu können, ist es notwendig, den Blick über das nachrichtendienstliche Geschehen zu erweitern. Von David Dallin (18) wissen wir, daß „im Bereich der sowjetischen Außenpolitik der Spionage mehr Bedeutung zukommt, als der nachrichtendienstlichen Tätigkeit im Ausland, wie sie auch von anderen Mächten betrieben wird ... Niemals in der Geschichte hat eine Regierung mehr Vertrauen in den geheimen Nachrichtendienst gesetzt und ihm größere Bedeutung beigemessen. Ebensowenig hat es je einen solchen unstillbaren, maßlosen Hunger nach Informationen aus anderen Ländern gegeben. Dieses Phänomen wurzelt im Glauben der Sowjets an das Bevorstehen großer internationaler Konflikte trotz Atempausen ,friedlidier Koexistenz'; dieses Phänomen wurzelt ferner in dem tiefsitzenden und tatsächlich vorhandenen, wenn auch verhüllten 277
und krampfhaft zurückgedrängten Minderwertigkeitsgefühl, das sich auf mehr als ein Gebiet erstreckt und aus den lauten Worten über die Größe der eigenen Erfolge herauszuhören ist. Die sowjetische Führung blickt auf den Westen mit Haß und ehrfürchtiger Scheu; der Westen stößt sie ab und sie bewundert ihn dennoch; sie lebt in einem fast mystischen Empfinden seiner Macht und schafft sich zugleich ein übertriebenes Bild seiner häßlichen Züge. Da sich der Gegensatz zwischen ,Kapitalismus’ und ,Sozialismus’ unausweichlich vertiefen wird, erscheint die gegenwärtige Zeit als Teil einer großen Weltrevolution ... Hier liegt der Grund, warum die Sowjetführung der Nachrichtenarbeit jeder Art eine ständig wachsende Bedeutung zumißt und warum sie mit solch treibender Kraft ein Netz von Auslandsagenten aufrechterhält, das nicht seinesgleichen hat... In der Sicht des Historikers ist die Leistung des Gesamtapparates ... bemerkenswert und fast einzigartig. Dutzende von sowjetischen ND-Stellen (Nachrichtendienst), die über ganz Westeuropa verteilt und mit Männern und Frauen der verschiedensten Nationalitäten besetzt waren, hatten lange Zeit in Wartestellung verharrt. Ihre Funkgeräte hatten geschwiegen, begannen aber jetzt, als an der fernen Ostfront der erste Schuß fiel, in fast perfektem unisono zu ticken. Von überall in Europa lief ein Strom wichtigster Informationen nach Moskau. Nie in der Geschichte der Kriegführung hat die Spionage eine solch entscheidende Rolle gespielt wie für die Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1944.” An anderer Stelle schreibt Dallin: „Das Auslandsnetz des sowjetischen ND ist heute das größte ND-Netz der Welt” (1956), „vermutlich größer, als die Summe der ND-Organisationen aller anderen Länder. Das sowjetische ND-System stützt sich einerseits auf 46 Botschaften, Gesandtschaften und Diplomatische Vertretungen im Ausland, andererseits auf 53 kommunistische Parteien in der Freien Welt, darüber hinaus auf eine Anzahl von Apparaten, die von Sowjetbotschaften und kommunistischen Parteien abhängig sind — eines der bemerkenswertesten Phänomene unserer Zeit.” Igor Gusenko, Dechiffrierbeamter einer sowjetischen Botschaft 278
in Amerika, der Verfasser des Buches „Ich wählte die Freiheit”, schrieb nach Dallin: „Tausende, tatsächlich Tausende von Agenten arbeiteten in den Vereinigten Staaten, Tausende in Großbritannien und viele andere Tausende überall in der Welt.” Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in der Zentrale des militärischen Nachrichtendienstes erklärt Gusenko, „daß von Tausenden von Agenten... ständig ein Strom von Informationseinzelheiten einlief”. Erst nach dem Kriege begann sich ein Bild des Umfanges der Sowjetspionage in den Vereinigten Staaten abzuzeichnen. In einem streng geheimen Bericht an das Weiße Haus teilte der Direktor des Bundeskriminalamtes (FBI), Edgar Hoover, die Namen der folgenden amerikanischen Beamten mit, die Informationen über Mittelsmänner an Nachrichtendienstagenten der sowjetischen Regierung weitergeleitet hatten (18): 1. Dr. Gregory Silvermaster, langjähriger Beamter des Landwirtschaftsministeriums. 2. Harry Dexter White, führender Mitarbeiter des Finanzministers. 3. George Silverman, früher Pensionsamt der Eisenbahnen, jetzt Kriegsministerium. 4. Lauchlin Currie, früher Verwaltungsgehilfe des verstorbenen Präsidenten Roosevelt. 5. Victor Perlo, früher Amt für Kriegsproduktion und Amt für Auslandshilfe. 6. Donald Wheeler, früher Office of Strategie Services (OSS). 7. Major Duncan, OSS. 8. Julius Joseph, OSS. 9. Helen Tenney, OSS. 10. Matinee Halperin, OSS. 11. Charles Kramer, früherer Mitarbeiter des Senators Kilgore. 12. Captain William Ludwig Ullmann, Heereslufteinheiten (US Army Air Corps). 13. Oberstleutnant John H. Reynolds, Armee. Keiner der Genannten wurde verhaftet. Aber Nummer 2, Harry Dexter White, wurde in eine sehr einflußreiche Stellung im Internationalen Währungsfond befördert. Am 1. Februar 279
1946 warnte FBI-Direktor Edgar Hoover das Weiße Haus über General Harry H. Vaughan zum zweiten Male davor, Harry Dexter White als amerikanischen Delegierten beim Internationalen Währungsfond einzusetzen. Hoover schrieb u. a.: „Wie ersichtlich, ist das Büro” (FBI) „in den Besitz von Informationen gelangt, nach denen White beschuldigt wird, ein wesentliches Mitglied einer unterirdischen sowjetischen Spionageorganisation zu sein, die in Washington, D. C., operiert. Material, das ihm auf Grund seiner dienstlichen Stellung zugänglich war, wurde nach den vorliegenden Informationen durch Zwischenträger an Nathan Gregory Silvermaster und William Ludwig Ullmann weitergeleitet. Sowohl Silvermaster wie Ullmann sind im Schatzamt der Vereinigten Staaten angestellt und stehen, wie gemeldet wird, unmittelbar unter der dienstlichen Aufsicht des White. Die aus dem Schatzamt stammenden Informationen und Schriftstücke wurden entweder direkt weitergeleitet oder von Ullmann in einem gut ausgestatteten Photolabor im Souterrain des Hauses der Silvermasters photokopiert. Das Material ging daraufhin durch Kurier nach New York und wurde dem Jakob M. Golos ... ausgehändigt... Dieses gesamte Netz ist seit November 1945 eingehend durchleuchtet worden. Auf Grund dieser Ermittlungen bin ich heute in der Lage, Ihnen diesen Bericht zu übersenden ...” Die Warnungen des FBI wurden ignoriert. Harry Dexter White trat die neue Stellung an unter Mitnahme von Mitgliedern des Spionageringes, die namentlich im FBI-Bericht genannt worden waren. Es dauerte noch drei Jahre, bis die amerikanische Öffentlichkeit, durch den Umfang der sowjetischen Spionage wachgerüttelt, ihre bisherige Gleichgültigkeit in offene Empörung verwandelte. Am Anfang der fünfziger Jahre wurden — nach Dallin — siebenundachtzig Fälle untersucht, in die fremde Diplomaten oder Personen mit quasi-diplomatischem Status verwickelt waren. Von diesen Personen gehörten achtundvierzig verschiedenen Botschaften und Konsulaten an, während siebenunddreißig im Dienst „internationaler Organisationen” standen. Unter den Botschaften und Konsulaten fremder Mächte stachen die 280
Vertretungen Polens und der Tschechoslowakei als Stützpunkte der prosowjetischen Spionage hervor. Wir kommen noch einmal auf Harry Dexter White zurück. Von Bailey und Freidin: „Die Experten. Baumeister und Zerstörer der US-Außenpolitik” (136), erfahren wir, daß White „der wichtigste, weil mächtigste amerikanische Agent der Sowjetunion war. Bereits zu Beginn der zwanziger Jahre, noch als Student, wurde er von der OGPU angeworben. Er war daher kein mehr oder weniger unbewußter Kontaktmann, kein Zwischenträger, kein ,Einflußagent’, sondern ein regelrechter gedungener, geschulter Sowjetspion mit eindeutigen Bindungen an russische Funktionäre. Als er 1937 ins US-Finanzministerium eintrat, gelang es ihm durch sein Betreiben sehr bald, kommunistische Genossen in solcher Anzahl und in solche Positionen einzuschleusen, daß dieses Ministerium zu einem kommunistischen Stützpunkt in der Regierung wurde... Whites Terminkalender und Gästelisten war zu entnehmen, daß er Zusammenkünfte ,einer Anzahl ausgewählter, hoher Beamter aus verschiedenen Ministerien’ arrangierte, ,zu dem Zweck des Meinungsaustausches und der Beeinflussung politischer Entscheidungen ... Mit White als Initiator und aktivstem Partner konnten durch solche Besprechungen weitreichende Veränderungen in unserer Regierung bewirkt werden’... Von 1941 bis 1945 war White Assistant Secretary des Finanzministeriums und Repräsentant bei einer Reihe kriegswichtiger großer Organisationen. Er hatte damit eine Position von solcher Bedeutung, daß sie ihm den Zugang zu buchstäblich allen Bereichen der amerikanischen Außenpolitik bot... Bei Ausbruch des Krieges erreichte er, daß die geltenden kriegswirtschaftlichen Bestimmungen außer Kraft gesetzt wurden und deutsches Eigentum sofort konfisziert und liquidiert werden konnte... Bei der internationalen Währungsfonds-Konferenz von Bretton-Woods (1944) war White amerikanischer Chefdelegierter und gab den Verhandlungen die ihm erwünschte Richtung ... Gegen Ende des Jahres 1953 wurde ermittelt, daß auch die Übergabe zweier Garnituren Druckplatten zum Druck von Be281
satzungsmark an die Sowjets auf Whites Schuldkonto ging. Das Nachsehen und einen enormen Schaden hatten die USA ... Bevor die Nachforschungen abgeschlossen waren, stand ferner fest, daß Harry Dexter White seine Minierarbeit gegen die freie Welt mit einer der folgenschwersten finanzpolitischen Operationen der Zeitgeschichte gekrönt hatte: Mit der katastrophalen Inflation des chinesischen Yen. Dies war eine Entwicklung, die entscheidend zum wirtschaftlichen Chaos während der Endphase von Tschiang Kai-scheks Kampf gegen den Kommunismus auf dem Festland beitrug... Der Aufstieg von Harry Dexter White, dessen Eltern sich bei ihrer Einwanderung aus Rußland noch Weiß nannten, hatte auch den Plan entworfen, der später unter dem Namen ,Morgenthauplan’ in die Geschichte der Nachkriegszeit eingehen sollte. White wurde bei der gerichtlichen Untersuchung von den früheren Kurieren des sowjetischen Nachrichtendienstes, Elizabeth Bentley und Whittaker Chambers, als einer ihrer Verbindungsleute entlarvt. Während sein Fall noch untersucht wurde, starb er unter geheimnisvollen Begleitumständen” (nach Bailey und Freidin hat White im August 1948 durch einen Sprung aus dem 14. Stockwerk eines Hauses in Washington Selbstmord begangen). „Nachträgliche Enthüllungen bestätigten jedoch den von ihm begangenen Landesverrat. Harry Dexter White setzte sich selbstverständlich im Sinne seiner sowjetischen Auftraggeber für den Morgenthau-Plan ein, weil er die Wirtschaft Westeuropas vernichtet hätte. Denn das gehörte zum Programm des kämpferischen Kommunismus. Dem Vorschlag (,Morgenthau-Plan’) lag aber noch ein anderer machiavellistischer Gedanke der Kommunisten zu Grunde. Indem sie die Amerikaner und Engländer dazu verleiteten, sich als Väter dieses ,katastrophalen Planes für Deutschland’, wie Hull ihn nennt, zu bekennen, konnten diese Verschwörer dem deutschen Volk auf Jahre hinaus Haß und Abscheu gegen die westlichen Demokratien einimpfen. Moskau erhoffte sich dann eine Massenbekehrung der Deutschen zum Kommunismus, weil er ihnen angesichts dieses Planes als das kleinere von zwei Übeln 282
erscheinen mußte. Aus welcher Richtung man die Sache auch ansah, der Morgenthau-Plan konnte den Vereinigten Staaten nur Nachteile bringen ... Harry Dexter White hatte seine Weisungen von Jakob Golos bekommen, einem hohen russischen Beamten in Amerika, der eine Anzahl kommunistischer Zellen in der amerikanischen Regierung leitete und einer der geheimnisvollen Dirigenten von zwei Spionageringen war, die das Weiße Haus umgaben. Den Kommunisten, die zu dieser Organisation gehörten, war natürlich bekannt, daß Henry Morgenthau das schwache Rohr war, das sie für ihre Zwecke benutzen konnten, und daß sein ,Stellvertreter’ White der richtige Mann für diese Aufgabe war.” (136) An dieser Stelle erachten wir es für notwendig, im Zusammenhang mit dem sogenannten Morgenthau-Plan des Sowjetagenten Harry Dexter White, an weitere Maßnahmen der damals kommunistisch infiltrierten US-Armee und amerikanischen Militärregierung in Deutschland zu erinnern. Wir zitieren aus Bailey und Freidin (136): 1. „In der frühen Phase der Besatzungszeit hatten die Kommunisten rasch ihre Chancen erkannt und dementsprechend gehandelt, um sich Schlüsselpositionen zu sichern. Das traf besonders auf die Gewerkschaften zu ...” 2. „Im Dezember 1946 wurde Stephan Heym... Offizier in der Abteilung für psychologische Kriegsführung der U.S. Army und Mitbegründer der von der Militärregierung herausgegebenen ,Neuen Zeitung’ wegen seiner kommunistischen Verbindungen demobilisiert... 1950 gab Heym seine amerikanische Staatsbürgerschaft zurück und übersiedelte aus Protest gegen die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Koreakrieg nach Ostdeutschland.” 3. „Im Frühjahr 1947 wurde vom Officers’ Review Board die Entlassung eines gewissen Captain George Wheeler beantragt, der in der Wirtschaftsabteilung der Militärregierung Gewerkschaftsfragen bearbeitet hatte... Begründung: kommunistische Verbindungen. Später quittierte er den Dienst auf eigenen Wunsch, obwohl er von General Clay pardoniert worden war. Nicht lange danach teilte die US-Botschaft 283
in Prag General Clay telefonisch mit, Wheeler habe in der Tschechoslowakei um Asyl angesucht und sei aufgenommen worden. Er unterrichte bereits an einer Prager Mittelschule kommunistische Dogmatik.” 4. „Im Jahre 1948 zog der Repräsentant George Dondero aus Michigan den Kriegsminister Patterson zur Verantwortung, weil dieser es unterlassen hatte, ,Personen, die mit den Kommunisten sympathisieren und sich in hohe Schlüsselpositionen der Armee einschlichen’, ihrer Posten zu entheben. Unter den zehn Kryptokommunisten, die Dondero namentlich anführte, war auch Josiah E. Dubois, der Hauptanklagevertreter im Nürnberger IG-Farbenprozeß, der damals gerade lief. Dondero bezeichnete Dubois als einen »wohlbekannten Linken aus dem Finanzministerium’, der sich eingehend mit kommunistischen Theorien beschäftigt habe.” 5. „1949 wurde Delbert Clark, Leiter der Deutschland-Redaktion der ,New-York-Times’, als eingeschriebenes Mitglied der amerikanischen KP entlarvt, und zwar von keinem geringeren als dem verstorbenen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher.” 6. „Ein hoher amerikanischer Abwehroffizier sagte: ,Die amerikanische Deutschlandpolitik wurde am Dserschinskyplatz’ (Sitz der KGB-Zentrale Moskau) ,geplant und formuliert.’ Hier übertreibt der Fachmann: die Deutschlandpolitik der USA wurde im Kreml geplant und formuliert. Am Dserschinskyplatz bereitete man dann die Realisierung vor.” Wenn schließlich die zahlreichen Folterungen deutscher Kriegsgefangener durch amerikanische Vernehmer zwecks Erpressung von Geständnissen erfolgten wie z. B. im Malmedy-Prozeß, wie von Friedrich Oskar u. a. überliefert ist („Über Galgen wächst kein Gras”), dann kommt den Worten George N. Crockers (137) in seinem Buch „Schrittmacher der Sowjets” erhebliche Bedeutung zu, da er auf Seite 193 schreibt, daß durch den MorgenthauPlan „dem deutschen Volk auf Jahre hinaus Haß und Abscheu gegen die westlichen Demokratien eingeimpft werden sollte”. Wir blenden zurück: Gefühle wie Haß und Abscheu gegen das deutsche Volk konn284
ten jedoch auch durch Maßnahmen und Anordnungen Martin Bormanns hervorgerufen worden sein, als es sich um die Behandlung abgeschossener alliierter Flieger gehandelt hatte. „In einer Bekanntgabe vom 22. März 1944 bezüglich der ‚Behandlung von notgelandeten britischen und amerikanischen Flugzeugbesatzungen durch die deutsche Bevölkerung’ teilte Martin Bormann den Gauleitern mit, daß die Bevölkerung zwar die alliierten Flieger festnehme, aber ,nicht den der Härte des Krieges entsprechenden Abstand’ wahre. Sie sei also dementsprechend aufzuklären. ,Wer sich in böser Absicht oder aus falsch verstandenem Mitleid gegenüber den notgelandeten Flugzeugbesatzungen würdelos verhält, wird rücksichtslos zur Rechenschaft gezogen. In krassen Fällen erfolgt Einweisung in ein Konzentrationslager und Bekanntgabe in den Zeitungen des Bezirks. In leichteren Fällen erfolgt Schutzhaft nicht unter 14 Tagen bei den zuständigen Staatspolizeileitstellen, welche diese Volksgenossen bevorzugt zu Aufräumungsarbeiten heranziehen werden.”’ (41) Schon am 30. Mai 1944 erging eine Anweisung Martin Bormanns an die Amtsträger der Partei, „in der er das Eingreifen der Polizei oder die Einleitung von Strafverfahren gegen Personen verbot, die am Lynchen alliierter Flieger teilgenommen hatten”. (111) Am 30. September 1944 erging seine Anordnung, nach der Bormann die Rechtsprechung über die Kriegsgefangenen der Wehrmacht entzog und Himmler übergab (111). Demnach war durch Martin Bormann das Lynchen notgelandeter alliierter Flieger straffrei gemacht worden, womit die Rachejustiz der Alliierten begünstigt wurde. Nach dieser Abschweifung wenden wir unsere Aufmerksamkeit einem weiteren Präsidentenberater, Harry Hopkins, zu. Nach Bailey und Freidin (136) schreibt General Mark Clark, „Roosevelt habe anfänglich reges Interesse an dem Plan einer Invasion von der Adria her bekundet, sei dann aber von Harry Hopkins davon abgebracht worden. Den hatten die Sowjets entsprechend präpariert. Von seinem Botschafterposten in Moskau war er als Sprachrohr des Kremls zurückgekehrt und verbreitete ‚Desinformationen’”. (136) Von Harry Hopkins liegt uns keine Biographie vor. Er soll 285
kränklich gewesen sein und starb Anfang 1946. Die folgenden Zitate entnehmen wir George N. Croker (137): „Hopkins Ansicht über das Ursprungsland des Kommunismus war ein wirres Durcheinander unsinniger Ideen. Ihm fehlte jede Sachlichkeit, seine Worte machten einen kindlichen Eindruck. Bis zu seinem Tode ... hielt er seine Fata Morgana von Rußland für strahlende Wirklichkeit. Man sollte es nicht für möglich halten, daß noch im August 1945 ein Mensch, der auch nur einigermaßen im Bilde war, folgendes schrieb: ,Wir wissen oder glauben, daß Rußlands Interessen, soweit wir sie vorhersehen können, keine Gelegenheit zu größeren Meinungsverschiedenheiten mit uns in der Außenpolitik bieten.’ Deutschland hatte im Mai kapituliert, Stalin hatte, noch ehe die Tinte trocken war, seine in Jalta gegebenen Versprechen gebrochen; und der finstere Schatten einer neuen, schrecklichen Tyrannei hatte sich über Osteuropa ausgebreitet. Trotzdem diktierte der Mann, der jahrelang der vertrauteste Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen war, diesen handgreiflichen Unsinn seiner Stenotypistin. Und von den russischen Menschen, die seit 28 Jahren von den Bolschewisten narkotisiert, in ihrer ganzen Geschichte keine freiheitlichen Überlieferungen und keine Erfahrungen mit Demokratie besaßen, sagte er, ,sie denken und handeln ganz so wie wir’. Von jedem Studenten im ersten Semester hätte man mehr Einsicht verlangt!” (137) An anderer Stelle schreibt Croker: „Die Russophilie des Harry-Hopkins-Klüngels der Günstlinge des Weißen Hauses war tatsächlich schon fast pathologisch. Diese Männer ließen sich davon nicht einmal mehr durch die Rücksicht auf die Folgen für die Sicherheit der Vereinigten Staaten in den kommenden Jahren abbringen. General Deane, der von seinem günstigen Ausguckposten in Moskau” (US-Verbindungsoffizier) „aus die Flut der amerikanischen Hilfsmittel für Rußland beobachtete und an den diesbezüglichen Konferenzen teilnahm, schreibt in seinem Buch, daß Harry Hopkins das Rußland-HilfsProgramm ,mit einem Eifer durchführte, der an Fanatismus grenzte’. Die Begeisterung dafür ,ging ihm so in Fleisch und Blut über, daß er überhaupt kein Maß mehr halten konnte’.” 286
Präsident Roosevelt nahm Harry Hopkins zu allen großen internationalen Konferenzen mit, wie Jalta, Kairo, Teheran, Casablanca und Quebec, wo weltweite Beschlüsse gefaßt wurden. Präsident Roosevelt sandte Harry Hopkins auch zu vertraulichen Gesprächen mit Winston Churchill und Stalin. „Während die großen Männer um den runden Verhandlungstisch saßen”, berichtet Croker, „kritzelte Hopkins im Hintergrund irgendetwas Wichtiges oder auch nur albernen Klatsch auf einen Zettel und schob ihn dem Präsidenten zu.” Einer der Experten des US-Außenministeriums, Alger Hiss, übergab während der Konferenzen in Jalta von ihm geschriebene Zettel an Präsident Roosevelt. Alger Hiss saß während den Plenarsitzungen mit Harry Hopkins hinter Präsident Roosevelt. Alger Hiss wurde wegen Übergabe geheimer Papiere aus dem State Departement bzw. wegen Meineides angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. (Gunzenhäuser, „Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes”, 1968) „Inzwischen war die heimliche Durchsetzung der Bundesbehörden mit Mitgliedern der kommunistischen Partei schon weit fortgeschritten”, berichtet Croker weiter, indem er sich auf Borkenau beruft: „Von 1941 an wurden den Kommunisten Aufgaben zugewiesen wie: in Amerika und England bis an maßgebende Stellen der politischen Behörden und der Nachrichtendienste einzudringen ... Lauchlin Currie unterstützte den Präsidenten unter der Hand bei gewissen Regierungsgeschäften; das ging so weit, daß er seine Briefe auf Briefpapier des Weißen Hauses schrieb. Kommunistische Zellen waren im Außen-, Finanz-, Handels- und anderen Ministerien entstanden. Durch die anwachsende Kriegsbürokratie kamen neben loyalen Amerikanern Scharen verkappter Abtrünniger und Ränkeschmiede nach Washington, die im Grunde ihres Herzens einer ausländischen Macht und fremden Ideologien ergeben waren. Glieder eines dem Umsturz dienenden Verschwörernetzes befanden sie sich in Stellungen, die es ihnen ermöglichten, Kabinettsmitglieder zu beraten und ihre Reden zu verfassen, sich in wichtigen Kongreßausschüssen einzunisten, Kongreßprotokolle zu führen und Nachrichten zur Veröffentlichung aufzusetzen. Schon damals waren die Spionage287
ringe tätig, die erst durch die Enthüllungen späterer Jahre aufgedeckt wurden. Harry Hopkins hatte daher nicht so unrecht mit seiner Prophezeiung, daß ,die Schwierigkeiten mit unserer öffentlichen Meinung hinsichtlich Rußlands allmählich schon in Ordnung kommen’ würden. Amerika war nicht auf der Hut!” (137) Weitere Details über Lauchlin Currie (s. o.) erfahren wir von Croker: „An einem Schreibtisch im Weißen Haus saß Lauchlin Currie als vertraulicher Bearbeiter des Präsidenten für Fernostfragen. Er war kein geborener Amerikaner, und wir dürfen wohl annehmen, daß er nicht allzu großen Wert auf seinen amerikanischen Bürgerbrief legte, denn nach dem Krieg schüttelte er den Staub Amerikas von seinen Schuhen, verlegte Wohnsitz und Tätigkeitsfeld nach Kolumbien und ließ sein Bürgerrecht nach fünf Jahren verfallen; als nämlich bei der Aufdeckung verschiedener Spionagefälle im Jahre 1948 Zeugen aussagten, daß auch er zu der Spionagegruppe um Silvermaster gehörte, hielt Lauchlin Currie es wohl für ratsamer, nach Südamerika abzureisen und dort zu bleiben. Doch während seiner Gastrolle im Weißen Haus unter den schützenden Fittichen von Mr. Roosevelt, dem gütigen Lächeln der ersten Dame des Landes und in enger Fühlung mit Harry Hopkins — was ihn mit jedem Tag dreister machte — war ,Lauch’, wie der Präsident ihn nannte, so gut placiert, daß er wirklich anderen Leuten helfen konnte. Doch Lauchlin Curries Auffassung von Unterstützung seiner Mitmenschen war ganz besonderer Art. Ihm machte es Freude, mit Harry Dexter White und Nathan Witt zusammen Nathan G. Silvermaster zu empfehlen; und als der militärische Nachrichtendienst empört darüber war, daß Silvermaster einen Regierungsposten bekommen hatte, in dem er mancherlei zu sehen und zu hören bekam, und einen Geheimbericht vorlegte, in dem er darauf hinwies, daß dieser bei den Polizeidirektionen von Seattle und San Franisco, dem 13. Marinedistrikt, der Amerikanischen Legion und dem FBI als Mitglied und Führer der kommunistischen Partei bekannt war und in der Kartei als solcher geführt wurde, und als dieser Bericht damit schloß, daß ,der überwältigende Beweis zahlreicher 288
Zeugenaussagen verschiedenster Art und sonstiger Quellen ohne jeden Zweifel zeigt, daß Nathan G. Silvermaster jetzt und seit Jahren ein Mitglied und Führer der kommunistischen Partei und sehr wahrscheinlich ein Geheimagent der GPU ist’, da war es Lauchlin Currie, der sich mit Erfolg für Silvermaster verwendete und dafür sorgte, daß er in der Regierung blieb. Zu seiner Unterstützung suchte sich Lauchlin Currie einen gewissen Michael Greenberg aus, der englischer Herkunft war. Tatsächlich konnte dieser für sich in Anspruch nehmen, daß er ein Kenner des Fernen Ostens war, aber zufällig war er außerdem seit vielen Jahren ein geschulter Kommunist. Auch er fühlte sich in seiner neuen Umgebung bald so zu Hause, daß er seine Briefe auf Briefpapier des Weißen Hauses schrieb ...” (Wie Lauchlin Currie, s.o.) (137) Wir kommen noch einmal auf den Mitarbeiter und Berater des Präsidenten Roosevelt, Harry Hopkins, zurück. Mit Hopkins hatte Major Racey Jordan dienstlich Verbindung, als er von Mai 1942 bis Juni 1944 auf dem Flughafen Newark und Great Falls (Montana) im Rahmen der Leih- und Pachtlieferungen der Vereinigten Staaten an die Sowjetunion als Verbindungsoffizier und Expeditor eines Teiles dieser Lieferungen eingesetzt war. Die gewaltige Masse des Lend-Lease-Materials, das unter „Diplomatischer Immunität” auf dem Luftwege aus den Vereinigten Staaten in die Sowjetunion transportiert wurde, umfaßte Kriegsmaterial und Hilfsgüter verschiedenster Art, auch Bergbau- und Erzverhüttungsanlagen, ganze Fabrikeinrichtungen usw. im Werte von 9,5 Milliarden Dollar. Damit war eingetreten, was General Ludendorff vorausgesehen hatte, als er am 30. März 1937 im Münchner Generalkommando Adolf Hitler sehr ernst vor einem Krieg bzw. kriegerischen Verwicklungen warnte: „Die Vereinigten Staaten werden diesmal in noch ganz anderem Ausmaße eingreifen und Deutschland wird schließlich vernichtet.” (52) Major Jordan war kein Berufssoldat, wie er in dem Vorwort seines Buches schreibt, dem er den Titel gab „Sowjets siegen durch Spione” (138). Er hatte sich im Interesse seines Vaterlandes freiwillig gemeldet. „Es gibt für mich glücklicherweise keine Gründe 289
zu kneifen, weil irgendein Druck auf mich ausgeübt werden könnte. Ich stelle das Spiel so dar, wie ich es gesehen habe ...” Die in der Sowjetunion entladenen Flugzeuge kehrten mit zahlreichen Agenten und Spionen bemannt in die Vereinigten Staaten zurück, wo sie die wichtigsten Industrien, ihre Technologien, ihre Patente, ja Rüstungsgeheimnisse erforschten und tonnenweise eingeheimstes politisches und militärisches Material als „diplomatisches Gepäck” über Sibirien nach Moskau verfrachteten. Roosevelt und seine Hopkins, White und Morgenthau haben Stalins Spionen ein exaktes Bild von der amerikanischen Atomforschung übermittelt. Zugleich wurden ihnen die zur Konstruktion einer Atombombe erforderlichen Bestandteile geliefert, wie: Uran, Kadmium, Schweres Wasser, Kobalt. Tonnenweise wurde seit dem Jahre 1943 atomares Material auf diesem Wege in die Sowjetunion geflogen. Major Jordan deckte dieses alles persönlich auf, so daß er als glaubwürdiger Augenzeuge gelten kann. Er schreibt: „Das war mehr, als ich verdauen konnte. Schließlich protestierte ich auf dem Dienstwege, zuerst in Great Falls und dann in Washington. Nichts erfolgte.” Es sollte noch lange dauern, bis es Major Jordan gelang, durch Hilfe von Vorgesetzten, Abgeordneten, Rundfunkkommentatoren, schließlich des Bundeskriminalamtes (FBI), diesen Komplex vor die amerikanische Öffentlichkeit zu bringen. Nach Major Jordan schrieb der amerikanische Autor William Henry Chamberlain über Harry Hopkins: „Hopkins war während des Krieges nach dem Präsidenten der mächtigste Mann in Amerika. Er war der Administrator des Lend-Lease. Das Gesetz, mit dem er operierte, war zu keiner Zeit irgendeinem Gerichtshof zur Kommentierung oder Prüfung unterbreitet worden; und darum war er es, der das Gesetz auslegte; er allein entschied, was wir an Rußland unter Lend-Lease lieferten, und er selbst erzählte, an Stalin direkt gerichtet, daß er das Gesetz liberal ausgedeutet habe, wenn er zur Unterstützung Stalins (auch) nichtmilitärisches Material versenden ließ.” Major Jordan zitiert aus einer Ansprache, die Harry Hopkins in New York im Madison Square Garden anläßlich einer Kundgebung zur Rußland-Hilfe gehalten hat, die folgenden Worte: 290
„‚Wir wissen, im vergangenen Jahr habt Ihr (Russen) in einem heroischen Kampfe gegen unseren gemeinsamen Feind allen von uns und der gesamten Menschheit einen unbezahlbaren Dienst erwiesen. Wir sind entschlossen, uns durch nichts daran hindern zu lassen, in diesem Konflikt, alles, was wir haben und sind, mit Euch zu teilen; und wir blicken vorwärts, um mit Euch die Früchte des Sieges und Friedens zu teilen ...’ Mr. Hopkins schloß: ,Noch ungeborene Generationen werden einen Großteil ihrer Freiheit der unbesiegbaren Macht des Sowjetvolkes verdanken.’” Auf Seite 154 seines Buches „Sowjets siegen durch Spione” (138) berichtet Major Jordan über ein Interview, das Fulton Lewis mit dem ehemaligen Vorgesetzten von Major Jordan, Colonel Gardner, hatte. „Zu jener Zeit”, teilte Fulton Lewis mit, „seien die Russen über die Art und Weise, in der ihre Dinge abgewickelt wurden, unzufrieden gewesen, was sie häufig veranlaßte, ihre Botschaft in Washington anzurufen, die mit Mr. Hopkins Verbindung aufnehmen mußte. Alle Schwierigkeiten seien dann sofort beseitigt worden. Ich fragte Colonel Gardner, wieso ihm bekannt wäre, daß Mr. Hopkins diese Aufgabe erledigte. Er antwortete, dies habe man dort allgemein gewußt; die Russen bezogen sich auf ihn, und so machte es jedermann. Das sei generelles Routine-Wissen gewesen, erklärte er.” Ein direktes Ferngespräch, das zwischen Major Jordan und Harry Hopkins im April 1943 stattfand, verdient es, festgehalten zu werden. Oberst Kotikow, der sowjetische Verbindungsoffizier, der bei diesen Lend-Lease-Sendungen eng mit Major Jordan zusammenarbeitete, wollte trotz Rückstandes einer Viertelmillion lbs. eine äußerst wichtige Sendung („experimental chemicals”) nach Rußland durchschleusen. Als Major Jordan dieses aus obigem Grunde verweigerte, sprach Oberst Kotikow mit einer Dienststelle in Washington. „Dann gab es eine Unterbrechung mit slawischen Gutturallauten. Darauf wandte er sich wiederum an mich. ,Mr. Hopkins — erscheint jetzt’, meldete er. Dann bot er mir die Überraschung meines Lebens. Er gab mir den Hörer und verkün291
dete: ,Der große Boß Mr. Hopkins wünscht Sie.’ Für einen Augenblick schwieg ich. Ich war dabei, zum erstenmal mit einer legendären Figur unserer Tage zu sprechen, mit dem ersten Mann in der Welt des Lend-Lease, in der ich lebte. Den folgenden Bericht hielt ich so gewissenhaft wie nur möglich fest, sowohl in der Sache wie in der Formulierung. Mein schon normalerweise gutes Gedächtnis wurde durch das aufwühlende Geschehen geschärft. Der Vorfall hat sich in meiner Erinnerung so stark eingeprägt, weil er unter den Erlebnissen von nahezu fünfundzwanzig Monaten in Newark und Great Falls einzigartig war. Ein wenig beklommen stammelte ich: ,Hier spricht Major Jordan.’ Eine männliche Stimme begann sofort: ,Hier ist Hopkins. Sind Sie mein dortiger Expedient?’ Ich antwortete, ich sei der Beauftragte der Vereinigten Staaten in Great Falls, in Zusammenarbeit mit Oberst Kotikow. Unter solchen Umständen, wer hätte da daran zweifeln können, daß der Sprechende Harry Hopkins war? Freunde haben mich seither öfter gefragt, ob es nicht ein Sowjetagent gewesen sein könnte, der Amerikaner war. Ich bezweifle dies, denn seine nächste Bemerkung betraf eine Sache, von der nur er selbst und ich wissen konnten. Er fragte: ,Haben Sie die Piloten bekommen, die ich Ihnen sandte?’ — ,Oh ja’, antwortete ich, ,sie waren sehr willkommen und halfen mir den Bremsklotz in der Pipeline zu beseitigen. Wir wurden allerdings beschuldigt, den Dienstweg umgangen zu haben und auf mich wurde die Hölle losgelassen.’ Mr. Hopkins ging darauf nicht ein und kam auf den Kern der Sache: ,Nun, Jordan’, sagte er, ,dort läuft eine gewisse Sendung Chemikalien durch. Ich wünsche, daß Sie diese beschleunigen. Das ist etwas ganz Besonderes.’ ,Soll ich es mit dem kommandierenden Colonel besprechen?' ,Ich wünsche nicht, daß Sie das mit irgendjemand besprechen’, befahl Mr. Hopkins. ,Es ist auch nichts in die Aufzeichnungen einzutragen. Machen Sie keine große Affäre daraus, senden Sie es nur schnell weiter, mit größter Beschleunigung!'’ Ich fragte, wie ich diese Sendung identifizieren könnte, wenn sie ankäme. Er wandte sich vom Telefon ab, und ich konnte seine 292
Stimme sagen hören: ,Wie kann Jordan diese Lieferung unterscheiden, wenn sie ankommt?’ Er kam an die Strippe zurück und antwortete: ,Der dortige russische Oberst wird sie Ihnen bezeichnen. Nun, senden Sie die Lieferung so schnell wie möglich weiter, und achten Sie darauf, daß nichts davon in die Akten gerät!’ Dann unterbrach eine russische Stimme mit einem Auftrag an Oberst Kotikow. Ich war voller Neugier, als Kotikow geendet hatte, und hoffte zu erfahren, um was es sich handele und woher die Lieferung käme. Er sagte, es gäbe noch mehr ,Chemikalien’ und sie kämen aus Kanada, ,Ich zeige sie Ihnen’, kündigte er an ... Von seinem Aktenbündel über Kriegs-Chemikalien nahm der Oberst dann eine Mappe mit der Aufschrift ,Bombenpulver’. Er zog ein beschriebenes Blatt heraus und setzte seinen Finger auf einen Eintrag. Zum zweitenmal begegnet meinen Augen das Wort ,Uranium’. (Ich wiederhole, 1943 bedeutete es für mich soviel wie für die meisten Amerikaner, nämlich nichts.)... Fünfzehn Holzkisten wurden für einen der Transporte verladen, die über Alaska nach Moskau starteten. In Fairbanks, so hat Lieutenant Brown berichtet, fiel eine Kiste aus dem Flugzeug; eine Ecke brach auf und verschüttete eine kleine Menge schokoladebraunes Pulver. Aus Neugier nahm Brown eine Handvoll der fremdartigen Körnchen, mit der Absicht, jemanden zu fragen, was denn das wäre. Ein sowjetischer Offizier klatschte ihm diese Kristalle aus der hohlen Hand und schrie aufgeregt: ,Nein, nicht — verbrennt Hände!’” Wir beenden die Zitate aus den Aufzeichnungen Major Jordans über die Uranlieferungen an die Sowjetunion: „Erst Ende 1949 war es endgültig erwiesen, aus unbedingt zuverlässigen Aufzeichnungen, daß Bundesämter während des Krieges mindestens drei Sendungen von Uranchemikalien nach Rußland geschickt hatten, insgesamt 1465 lbs., also fast eine dreiviertel Tonne. Bestätigt wurde ebenso die Lieferung von einem Kilo oder 2,2 lbs. Uran-Metall, zu einer Zeit, als die gesamten amerikanischen Vorräte 4,5 lbs. betrugen ... Die ersten zwei Uran-Lieferungen wanderten über den Luftweg durch Great Falls. Der dritte wurde mit Lastwagen und Eisenbahn befördert, von Rochester, New York, nach Portland, 293
Oregon, und dann auf dem Schiff nach Wladiwostok: März und Juni 1943 und Juli 1944. Kein Zweifel besteht darüber, daß jene Transaktion, die zwischen Mr. Hopkins und mir besprochen worden war, im Juni 1943 stattfand.” Dieses Kapitel soll mit einer kurzen Betrachtung des gesundheitlichen Zustandes von Präsident Roosevelt und Harry Hopkins abgeschlossen werden, soweit George N. Croker (137) darüber berichtet. Als Arzt des Weißen Hauses gibt er lediglich Dr. McIntire an, der der Chefarzt gewesen sein dürfte, da die Zahl der Mitarbeiter im Weißen Haus, dem Amtssitz des Präsidenten, im Kriege erheblich war. Ein Leibarzt des kränklichen Präsidenten, der gewiß ständiger Pflege bedurfte, ist nicht genannt. Über Roosevelts Gesundheitszustand und Aussehen berichtet Croker: „Tatsächlich war er bereits ein kranker Mann. Sherwood, der ihm kurz nach der Konferenz von Quebec im Weißen Haus begegnete, nachdem er ihn monatelang nicht gesehen hatte, war ,erschrocken über sein Aussehen. Ich hatte schon gehört, daß er erheblich magerer geworden sei, doch hatte ich dieses fast verwüstete Gesicht nicht erwartet’. Auch Minister Stimson machte sich Sorgen wegen des körperlichen und geistigen Zustandes des Präsidenten ... Am 11. September 1944, dem Tage, an dem die Konferenz begann, schrieb er in sein Tagebuch: ,Ich bin in großer Unruhe wegen des Gesundheitszustandes des Präsidenten ... Ich fürchte die Auswirkungen dieser anstrengenden Konferenz auf ihn ... Ich bin in ernster Sorge, daß er dorthin fährt ohne jede wirkliche Vorbereitung auf eine Lösung der schwierigen Frage, wie Deutschland behandelt werden soll. Soweit er es bei seinen Besprechungen mit uns hat erkennen lassen, hat er absolut keine Kenntnisse oder Erfahrungen über das außerordentlich schwierige Problem, das wir entscheiden sollen.’ Roosevelt ... fuhr nach Jalta, als ginge es auf Urlaub. Tatsächlich schreibt Hopkins ganz offen in seinen Ausführungen: ,Ich war überzeugt, der Präsident werde wieder in Form kommen, wenn er zur Krim fuhr, einmal, weil er die Gegend noch 294
nicht kannte... und zweitens, weil er sich, nachdem die Wahl vorüber war, nicht mehr ihretwegen aus politischen Gründen Sorgen zu machen brauchte.’ Während die ,Quincy’ über den Atlantik fuhr, ruhte er die meiste Zeit. James F. Burnes, der auch an Bord war, wunderte sich, daß er sich überhaupt nicht auf die bevorstehende Konferenz vorbereitete, obwohl stapelweise Akten und Unterlagen an Bord waren. Das beunruhigte Burnes. Vielleicht hat seine Krankheit dabei eine Rolle gespielt. Nach Stettinius befand sich der Präsident bereits in schlechtem Gesundheitszustand, als er am 20. Januar von der Freitreppe des Weißen Hauses aus seine Antrittsrede hielt. ,An diesem Tage zitterten ihm nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper.’ (Stettinius) Dagegen fand ihn Stettinius, als das Schiff am 2. Februar in Malta einlief, ,heiter, ruhig und gut erholt’, oder er sagt es wenigstens in seinem Buch. Admiral King sagte später zu Harry Hopkins, er habe eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes seit seinem Amtsantritt bemerkt, was ihn sehr beunruhigt habe (Sherwood). Gleichwohl versichert uns Sherwood, daß Mr. Roosevelt ,heiter wie immer und freudig erregt ob der Aussicht auf neue Abenteuer war, als er von der „Quincy” an Land ging, um die weitere Reise im Flugzeug zurückzulegen’. Ein Angehöriger der Dolmetschergruppe der US-Marine in Jalta, der Roosevelt auf der Konferenz beobachten konnte und ihm bei einer Gelegenheit sogar selbst als russischer Dolmetscher diente, gehörte zu den Amerikanern, die ihren Unwillen nur mit Mühe unterdrückten. Er hatte das Empfinden, wie er uns erzählt, daß Präsident Roosevelt ,nicht auf diese Konferenz gehörte’. Seine laienhafte Diagnose war ganz einfach: ,Er sah krank aus, und handelte und sprach wie ein Kranker.’ (Erklärung von Andrew Sawchuk gegenüber ,International News Service’ am 20. 3. 1955).” In dem Kapitel „Jalta” seines Buches schreibt Croker ferner: „Von Anfang an wie durch einen Magneten zur Gegenpartei hingezogen, bot Roosevelt ein Bild, das man nur als kläglich bezeichnen kann. Dieser dahinwelkende Präsident, der langsam aus dem irdischen Leben entschwebte, der in allen Fragen überspielt und überlistet wurde, der bedeutungslose, stereotype Wendungen 295
im Munde führte und von Komplimenten vor dem Diktator (Stalin) geradezu triefte... Nach Washington zurückgekehrt, sprach der Präsident im Rollstuhl sitzend vor beiden Häusern des Kongresses in gemeinsamer Sitzung. Er sei seit seiner Abreise aus Washington, prahlte er, ,nicht einen einzigen Tag krank gewesen’, es sei nur sehr viel bequemer für ihn, im Rollstuhl zu sitzen, weil die Schienen an seinen Beinen zehn Pfund wögen. Ungläubig lauschten die Senatoren und Abgeordneten in den vorderen Reihen seinen Worten, denn sie sahen einen Mann vor sich, mit dem es augenscheinlich zu Ende ging. Doch sicher hat jeder Mensch das Recht, über seine Gesundheit selbst zu urteilen, und vielleicht ist ein gewisser Optimismus sogar heilsam. Man konnte schließlich nicht erwarten, daß Mr. Roosevelt dasselbe berichtete wie einer von denen, die ihn in Jalta beobachtet hatten: ,Er sah krank aus und handelte und sprach wie ein Kranker.’ Auch kann man ihn nicht darum tadeln, daß seine Erklärung vor dem Kongreß nicht mit Churchills Beobachtungen übereinstimmte, der berichtet, daß der Präsident in Jalta ,leidend war’, daß ,sein Gesicht durchscheinend aussah... und oft ein geistesabwesender Ausdruck in seinen Augen lag’ und daß ,bei der Verabschiedung am Ende der Konferenz der Präsident einen stillen, gebrechlichen Eindruck machte. Ich hatte das Gefühl, daß sein Leben nur noch an einem dünnen Faden hing.’ (Churchill ,Triumph and Tragedy’) Jedenfalls war bei der sorgfältig inszenierten Vorstellung im Kapitol alles hervorragend zurechtgemacht und organisiert; so wurden alle Fotos überprüft, und nur die brauchbar befundenen durften veröffentlicht werden. Fernsehen gab es damals noch nicht. ...”
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SCHLUSSBETRACHTUNG „Sowjets siegen durch Spione” — Sowjetische Außenpolitik durch Spionage — US-Präsidentenberater Harry Hopkins zur gleichen Zeit im Amt wie Martin Bormann — „Kundschafter des Friedens” — Vergleich zwischen Richard Sorge — Martin Bormann — Prof. Morell
Mit den vier Worten „Sowjets siegen durch Spione” hat der amerikanische Major George Racey Jordan sein Buch (138) betitelt. Wenn in Betracht gezogen wird, daß die sowjetrussische Außenpolitik die Ergebnisse der geheimdienstlichen Tätigkeit ihrer weltweiten Auslandsspionage als Grundlage ihrer Politik benutzt, dann sind die zahlreichen sowjetischen Erfolge bei Verhandlungen mit „kapitalistischen” und anderen Vertretern der westlichen Welt verständlicher. Auf ihrem seit 1917 eingeschlagenen und konsequent verfolgten Wege zum „Siege des Sozialismus” in aller Welt sind zahllose „Kundschafter des Friedens” eingesetzt, wie im sowjetischen Sprachgebrauch Spione genannt werden. Nationalsozialismus und Internationaler Sozialismus haben einander bedroht und bekämpft. Der Nationalsozialismus hatte zwar große militärische Anfangserfolge zu verzeichnen, jedoch keine Aussicht auf einen umfassenden Endsieg. Die Gründe wurden erläutert. Mit dem Fall des Nationalsozialismus ist die Bedrohung der Sowjetunion ausgeschaltet. Nach dem Fall Adolf Hitlers wurde ein Zeitalter des Friedens vorausgesagt und erhofft. Das war vergeblich. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen befanden sich noch in sowjetrussischem Gewahrsam, als die ersten Kriege der Nachkriegszeit in Korea und Indochina ausbrachen. Diplomatisches Spiel und Kriegführung sind häufig auf geheime, nachrichtendienstliche Erkundungen angewiesen. Wir haben von der Existenz und Tätigkeit sowjetisch-kommunistischer Spionageringe im Weißen Haus, den obskuren engeren Mitarbei297
tern und den Beratern des Präsidenten Roosevelt erfahren. Sein ständiger Begleiter und engster Berater Harry Hopkins scheint Einflußagent gewesen zu sein, wie es zur gleichen Zeit Martin Bormann bei Hitler auch gewesen ist. Aufgabe solcher „Kundschafter des Friedens” ist es, in der Regierungsspitze der Zielgebiete zu operieren. Guillaume, der Ostagent im Bundeskanzleramt in Bonn, über den der damalige Kanzler Willy Brandt stürzte, war einer. Weitere Beispiele sind der „Diener der Königin und Spion Moskaus”, Anthony Blunt, der vierte nach Burgess, McLean und Philby (FAZ, 17. 11. 1979), ferner der sowjetische Diplomat Wiktor Lessiowski, der einer der engsten Mitarbeiter des UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim war („Neue Zeit”, 12. 10. 1979). Audi Christel Broszey, die Sekretärin des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Kurt Biedenkopf, ferner Inge Goliath, Sekretärin des außenpolitischen Experten der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Werner Marx, und die Sekretärin des Bonner Staatssekretärs Manfred Lahnstein, Helga Rödinger, wurden als Ostagentinnen entlarvt bzw. setzten sich in die DDR ab. Entlarvt wurde der SPDBundestagsabgeordnete Frenzel. Der SPD-Landtagsabgeordnete Friedrich Cremer wurde wegen Spionage für die DDR zu einer Freiheitsstrafe verurteilt („Neue Zürcher Zeitung”, 18./19. Mai 1980). Die enge Mitarbeiterin des Chefs der NATO, Terence Moran, Frau Ursel Lorenzen, war elf Jahre in der NATO tätig, ehe sie sich in die DDR absetzte, von wo sie im Fernsehen massive Aussagen über Aggressionsabsichten der NATO machte (10. 3. 1979). Nach 16 Monaten intensiver Beobachtung durch die Polizei wurde der stellvertretende Militärattache der Sowjetbotschaft in Kanada, Oberstleutnant Valeri Smirnow, wegen technischer Spionage zum Verlassen des Landes aufgefordert (22. 7. 1977). Knapp einen Monat, nachdem ein hoher Sowjetdiplomat im Generalkonsulat der UdSSR in Marseille wegen Militärspionage ausgewiesen worden war, mußte auch der Presseattache des Konsulats Frankreich verlassen (6. 3. 1980). „Die DDR dankt ihren Spionen”, überschreibt die „FAZ” (9. 2.1980) einen Aufsatz. Wir zitieren daraus: „SED-Generalsekretär Honecker hat allen Spionen und Agen298
ten der DDR Dank und Anerkennung ausgesprochen.’ In einer Grußadresse des Zentralkomitees der SED anläßlich des dreißigsten Jahrestages der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR heißt es wörtlich: ,Das ZK der SED spricht allen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit und des Wachregiments Feliks Dzierzynski sowie den mutigen Kundschaftern und Kämpfern an der unsichtbaren Front Dank und Anerkennung aus.’ Dieser Aufruf endet mit folgenden Worten: ,Auch künftig bleiben die Aufklärung und Vereitelung der Pläne und Absichten des Imperialismus, der Kräfte der Aggression, des Revanchismus, des Großmachtchauvinismus sowie die Gewährleistung des zuverlässigen Schutzes unseres Landes für den Staatssicherheitsdienst entscheidende Aufgaben. Das Zentralkomitee sei gewiß, daß die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit auch weiterhin in Treue und Ergebenheit gegenüber der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei als sozialistische Patrioten(!) und proletarische Internationalisten unter allen Bedingungen jeden Kampfauftrag ehrenvoll erfüllen werden.”’ „1945 wurde der Sowjetagent Dr. Richard Sorge von den Japanern hingerichtet. Zwanzig Jahre lang verleugnete ihn die Sowjetunion, ehe sie ihn als ihren Agenten öffentlich anerkannte und zum Helden der Sowjetunion erklärte. Bormann wird voraussichtlich auf die Ehrung als Helden der Sowjetunion solange verzichten müssen, bis die Sowjettruppen am Rhein oder Atlantik stehen. Dr. med. Morell wird dieser Ehre kaum teilhaftig werden. Er scheint nur ein Handlanger gewesen zu sein.” (1)
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NACHTRÄGE ZUR ZWEITEN AUFLAGE ZUM NEUNTEN KAPITEL Hans Kehrl, Chef des Rohstoffamtes im Ministerium Speer, berichtet in seinen Erinnerungen (139) von einer erregten Aussprache im Wirtschaftsministerium: „Ich polterte los: ,Bormann ist unser böser Geist. Alles, was richtig und notwendig ist, sucht er zu verhindern, und alles, was verhindert werden müßte, fördert er. Er handelt, als sei er vom Feind bestochen.’ Ich stutzte über meine eigene Äußerung: ,Und wenn es nun wirklich so wäre?’ Dieser Verdacht wollte mich seither nicht mehr verlassen. Immer wieder mußte ich daran denken. Vor allem auch, als ich nach dem Attentat auf Hitler von meinem Schweizer Gewährsmann hörte: ,Die Nachrichten aus dem Hauptquartier kommen noch immer.’ Was ich damals für möglich gehalten habe, halte ich auch jetzt noch für durchaus möglich: Vielleicht stand Bormann mit einer fremden Macht, zum Beispiel der Sowjet-Union, irgendwie in Fühlung. Sein mysteriöses Untertauchen in Berlin in den letzten Tagen April oder Anfang Mai 1945 hat ja auch einer solchen Deutung Nahrung gegeben. Die verbreitete Theorie, daß Bormann vielleicht noch am Leben sein könnte, verdankt wahrscheinlich gleichfalls solchen Gedankengängen ihre Entstehung. Auch Gehlen glaubte, ihn in der Sowjetunion suchen zu müssen. Ob die vor kurzem gefundene angebliche Leiche Bormanns in Berlin wirklich des Rätsels Lösung ist, wird wohl immer ungeklärt bleiben.” Den Umgangston des Duzfreundes Martin Bormanns, Erich Kochs, gibt Hans Kehrl auf S. 228 seiner Erinnerungen wieder: „Kehrl, das kann ich Ihnen sagen, wenn Sie mir irgendwie in die Quere kommen, die Richtlinien meiner Verwaltung stören oder die Ukraine-Ostfaser GmbH meinen Weisungen nicht nachkommt, dann können Sie etwas erleben. Sie selbst haben in der Ukraine, da Sie dem Reichswirtschaftsministerium angehören, nach den allgemeinen Vorschriften nichts zu suchen. Wenn ich Sie 300
unbefugterweise dort treffen sollte, werden Ihre letzten Schreie in den Pripjetsümpfen meines Gebietes verhallen.” Ein weiteres Beispiel bringt Otto Bräutigam auf Seite 367 seines Buches: „Die Bekanntschaft mit Koch blieb mir nicht lange erspart. Bei meinem nächsten Besuch in Berlin traf ich ihn im Zimmer von Dr. Leibbrandt. Er war ein kleiner, untersetzter, sehr lebhafter Mann, der Typ des Menschen, der infolge seiner unscheinbaren Gestalt Minderwertigkeitskomplexe besitzt und diese durch ein möglichst lautes und aufdringliches Wesen zu beschwichtigen sucht. In der Unterredung versuchte er Leibbrandt und mir klarzumachen, daß er der Exponent Görings in der Ukraine sei ... Das Ostministerium interessiere ihn gar nicht. ,Glaubt ihr etwa, daß ich von Euch Weisungen entgegennehme? Ich habe mir schon in Ostpreußen von Berlin nichts hereinreden lassen. Als dies Herr Frick als Reichsminister versuchte, bin ich ihm saugrob gekommen. In der Folgezeit hat er es dann auch unterlassen. Wenn ich etwas will, wende ich mich stets unmittelbar an den Führer.” (103) Erstaunliche Offenheit zeigte der ehemalige Wiener Gauleiter Frauenfeld (140) in seiner Denkschrift vom 10. 2. 1944, als er Generalkommissar der Krim (Taurien) war. Wegen ihres ungewöhnlichen Umfanges können nur die folgenden Passagen wiedergegeben werden: „Es gehört schon eine an Beschränktheit grenzende Naivität dazu, zu glauben, daß sich im 20. Jahrhundert ein Volk ... unablässig herabsetzen und beschimpfen lassen und dabei freudig und womöglich freiwillig seine Arbeitskraft und seine Leistungen in den Dienst des Zwingherrn stellen wird ... Jedes Volk, aber insbesondere naive und etwas primitive Naturmenschen, die sich trotz eines Vierteljahrhunderts bolschewistischer Heimsuchung außerordentlich gesunde sittliche Kräfte bewahrt haben, besitzen das starke Unterscheidungsvermögen zwischen Härte und Unrecht, zwischen Strafe und Willkür, das auch dem Kinde eigen ist... Da aber schließlich jeder Hund einen Sinn dafür hat, zu erkennen, ob man ihm wohl oder übel will, darf es nicht wunderneh301
men, daß auch der Ukrainer es merkt und seine Einstellung danach richtet... Es gehört schon ein ausgiebiges Maß von Torheit und Kurzsichtigkeit dazu, wenn man glaubt, ein besetztes Gebiet am besten ausbeuten zu können, wenn man die Bevölkerung verrecken und verblöden läßt... Es wäre zweifellos richtig, wenn man durch Krieg und seine Härte gezwungen ist, zahlreiche unpopuläre und die Bevölkerung bedrückende Maßnahmen zu ergreifen, daß man zum Ausgleich dafür das harmlose Ventil der Vergnügungsveranstaltungen wählt, um den Menschen wenigstens etwas zu bieten, insbesondere wenn es sich um ein derart unverbildetes Volk handelt wie die Ukrainer, die für Spiel und Tanz sogar bereit sind, Hunger auf sich zu nehmen. So zum Beispiel hat es sich vorzüglich bewährt, der Landbevölkerung bei den großen Arbeitseinsätzen der Herbst- und Frühjahrsbestellung und Ernte als Abschluß ein Fest zu versprechen mit Tanz, Gesang und den unerläßlichen leiblichen Genüssen, was zur Folge hat, daß erstaunliche Leistungssteigerungen erzielt wurden ... Ich habe diese Leistungen erzielt, weil ich nach dem — eigentlich selbstverständlichen — Grundsatz handelte, daß Leute, die anständig arbeiten, auch anständig behandelt werden sollen, und weil ich mit Erfolg allen meinen Mitarbeitern immer wieder einschärfte, daß der Grundsatz des Bauern, der seine Pferde und Zugochsen und sein Milchkühe im eigenen Interesse anständig behandelt, damit er Höchstleistungen aus ihnen herausholen kann, auch für unser Verhalten dem Ukrainer und Russen gegenüber maßgebend sein muß, wenn es keine ändern Gründe für ein solches Verhalten geben sollte ... Die Bewohner des Ostens haben in ihrer Erdverbundenheit und Naturnähe die Instinktsicherheit des primitiven Naturmenschen und empfinden, auch ohne daß man viele Worte macht, ob ihnen jemand wohlwollend gegenübersteht, oder ob er gegen sie nur Verachtung empfindet. Aus diesen Imponderabilien setzt sich dann die Stimmung eines Gebietes zusammen und beeinflußt die Haltung der Leute und ihre Arbeitsleistungen ... Wenn ich in Taurien (Krim) durch über ein Jahr meiner Tätig302
keit, obwohl die Sowjets immer wieder Abteilungen von Fallschirmspringern als Saboteure und Aufwiegler absetzten, aus den Kreisen der Bevölkerung heraus nicht einen einzigen Fall von Sabotage oder einer Verwundung oder gar Ermordung eines Deutschen aufzuweisen hatte, liegt das nicht etwa daran — wie man wieder einmal in Unkenntnis der Verhältnisse behauptete — weil zur Partisanenbildung Wald und Sumpf notwendig seien, die beide in der Steppe fehlten, sondern es liegt vielmehr an der grundsätzlich ändern Behandlung, die ich der Bevölkerung zuteil werden ließ ... Ich konnte es mir leisten, wenn ich 200 km über die Steppe fuhr, nicht nur kein Begleitkommando mitzunehmen, sondern nicht einmal eine Pistole einzustecken, während zur selben Zeit in Rowno, wo der Sitz des Reichskommissars der Ukraine, Erich Koch, war, auf der Hauptstraße am hellichten Tag Deutsche von ukrainischen Nationalpartisanen und sowjetischen Partisanen ermordet wurden.” Schließlich schrieb Frauenfeld in seiner Denkschrift an Adolf Hitler: „Das in allen Ländern mißtrauische Bauernvolk fand bei den Deutschen nur verstärkt, was es schon bei den Sowjets in zweieinhalb Jahrzehnten erfahren hatte: Daß man einem gegebenen Versprechen nicht glauben darf, daß ein gegebenes Wort immer wieder gebrochen wurde, und sie gebrauchten für deutsche Zusagen von nun an dasselbe Wort, das bei ihnen schon zur Zeit des Bolschewismus zu einem Schimpfwort geworden war, durch das sie ihre Ungläubigkeit und ihre Verachtung ausdrückten, sie bezeichneten unsere Maßnahmen als Propaganda ... Daß der Herr Reichskommissar persönlich beleidigt und erzürnt war, wenn jemand außer auf den Mittelmeerweg auf das Vorhandensein des zweiten großen Wasserweges in diesem Raum — die Donau — hinwies, erscheint durchaus verständlich. Denn wenn man im Landweg die Produkte des Landes nach Königsberg schaffen will, würde es sich in erster Linie empfehlen, die Dardanellen sowie die Donau zuzuschütten, deren Vorhandensein der Herr Reichskommissar (Erich Koch) als eine ihm persönlich angetane Tücke der Natur betrachtete.” 303
Soviel aus der umfangreichen Denkschrift Frauenfelds, die nachweislich von Adolf Hitler auch gelesen worden war. Aber nichts änderte sich. Erich Koch blieb Reichskommissar der Ukraine. Martin Bormann war emsig bemüht, überall, wo es ihm möglich war, den deutschen Interessen zu schaden. Dafür ein Beispiel, das der Augenzeuge Speer (32) selbst miterlebt hat: „Bormann hatte auch erreicht, daß Sauckel durch Hitler ernannt und ihm unmittelbar unterstellt werden sollte. Göring protestierte mit Recht, denn es handelte sich um eine Aufgabe, die bis dahin im Vierjahresplan bearbeitet worden war ... Die Versprechungen Sauckels wurden, kurz gesagt, nicht erfüllt. Die Erwartungen Hitlers, aus einer Bevölkerung von nahezu 250 Millionen mühelos die in Deutschland fehlenden Arbeiter herauszuholen, scheiterten ebenso an der Schwäche der deutschen Exekutive in den besetzten Gebieten, wie an der Neigung der Betroffenen, lieber zu den Partisanen in die Wälder zu flüchten, als sich zum Arbeitseinsatz nach Deutschland verschleppen zu lassen.” (32) Wie diese Verschleppungen durchgeführt wurden, hat Frauenfeld (HO) in seiner Denkschrift vom 10. 2. 1944 an Adolf Hitler deutlich gemacht: „Durch die Methoden, die man anwandte und die in der Lektüre exotischer Romane für die reifere Jugend ihre Quelle gehabt haben dürften, wurden diese (schlechten) Eindrücke nur noch verstärkt. Vom Drahtverhau umgebene Lager, vom vergitterten Transportwagen bis zur überfallartigen Umstellung und Durchkämmung von Dörfern und zur nächtlichen Aushebung, bei der man nach GPU-Art die Leute aus den Betten holte, wurde das ganze Register des arabischen Sklavenfangs unter den Negern Afrikas in früheren Jahrhunderten in Anwendung gebracht. Aushebung der Besucher von Kinos oder Theatervorstellungen, von Marktbesuchern waren dabei ebenso beliebt wie das Zusammentreiben der ,freiwilligen’ Arbeitskräfte mit Kolbenstößen und Gewehr im Anschlag ... Oft transportierte man die Leute ab, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, sich von den Angehörigen zu verabschieden oder ihr nötigstes Gepäck mitzunehmen. Dazu kamen noch die in der Heimat” (Deutschland) „gegenüber den ‚Freiwilligen Arbeitskräften’ in 304
Anwendung gebrachten Methoden, daß die Leute unter keinen Umständen mit dem Arbeitgeber an einem Tisch essen durften..., daß man ein Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen und auf Märkten einzukaufen, erließ ... Dazu kam die als schmachvoll und dem Judenfleck gleich empfundene Verpflichtung, die Bezeichnung ,Ost’ am Kleid aufgenäht zu tragen ... Als man nachher daranging, diese dilettantischen und verrückten Maßnahmen abzubauen, war es bereits zu spät!”
ZUM ZEHNTEN KAPITEL Mit der Präambel zum Ostfeldzug, die Adolf Hitler am 30. 3. 1941 der Generalität vorgetragen hatte, sollte „mit drakonischen Maßnahmen ... bei den Ostvölkern derjenige Schrecken verbreitet werden, der allein geeignet ist, ihnen jede Lust zum Widerstand zu nehmen”. Dazu schrieb uns ein Teilnehmer des Ostfeldzuges: „Damit war jede ehrbare und menschliche Lösung unmöglich gemacht... Im ersten Halbjahr des Rußlandfeldzuges folgte eine Anordnung Hitlers nach der ändern, die den Sinn der Präambel in die Tat umsetzten: Der Kommissarbefehl, der Geiselerlaß, der Nacht- und Nebelbefehl, der Bandenerlaß, der Erlaß zum Abbrennen der Dörfer vor Moskau (bei 30 bis 50 Grad Kälte), die Weisung zum Verhungernlassen der russischen Kriegsgefangenen (die an den Folgen zu sehen war) und als Krone der Befehl zum Sprengen des ukrainischen Nationalheiligtums, der ,Lawra’ in Kiew. Die geradezu sowjetischen Hitlerbefehle wurden von der Wehrmacht kaum oder nicht befolgt. Auch die Sprengung der ,Lawra’ durch SS-Einheit nicht, nur der Eingang wurde zerstört, um den Anschein der Ausführung des Befehles zu erwecken ...” Schließlich teilt uns dieser Augenzeuge noch mit: „Zugleich mit den mörderischen Befehlen zum Russenkrieg erfolgte das Verbot der Deutschen Schrift und die Ermordung des Ministers Fritz Todt im Führerhauptquartier durch vorgetäusch305
tes Flugzeugunglück, dessen kriminalistische Untersuchung durch Führerbefehl verboten wurde.” Am Ende des Krieges folgten diesen Terrorbefehlen im Osten auch solche für den Westen: notgelandete alliierte Flieger, ja kriegsgefangene Franzosen und Engländer sollten erschossen werden — Befehle, denen die Wehrmacht nicht nachkam. General Dietrich v. Choltitz, der Kommandant von Groß-Paris, erhielt, als die Alliierten Paris schon eingeschlossen hatten, aus dem Hauptquartier Hitlers den Befehl: „Paris ist in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Der kommandierende General hat es bis zum letzten Mann zu verteidigen und geht, wenn nötig, unter den Trümmern unter.” „Worauf man im Hauptquartier jetzt wirklich hinauswollte, sah ich bald an einem Befehl, der mich beauftragte, die gesamte Industrie in Paris durch Sprengungen zu lähmen”, berichtet General v. Choltitz (142) und fährt fort: „Ein Spezialstab von Sprengfachleuten erschien. Ich stellte folgende Erwägung an: Sprenge ich die Industrie, so nehme ich dem Arbeiter, der die ganzen Jahre über ordentlich und fleißig gearbeitet und der sich noch völlig ruhig verhält, die Möglichkeit zu leben und treibe ihn sehenden Auges auf die Straße und in die Untergrundbewegung. Ich mache ihn zum Kämpfer aus Not und Verzweiflung ...” General v. Choltitz ist diesem barbarischen Befehl nicht nachgekommen und hat dadurch viel vom deutschen Ansehen in Frankreich für die Zukunft gerettet.
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ZUM SIEBZEHNTEN KAPITEL Die Fahndung nach Martin Bormann Zu einer Fahndung gehört eine Personalbeschreibung und ein Lichtbild in Vorder- und Seitenansicht. Das war bei Bormann besonders notwendig, weil er dem deutschen Volk unbekannt geblieben war. Der Engländer Trevor Roper schrieb: „Mit Vorbedacht vermied er jegliche Publizität, er verschmähte Orden und öffentliche Auszeichnungen und das deutsche Volk hat ihn kaum je zu Gesicht bekommen.” Die Gestalten der Führungsspitze des III. Reiches hatten sich immer gezeigt und wurden in unzähligen Aufnahmen abgebildet, während Hitlers engste Begleiter, Dr. Morell und Martin Bormann, nie wiedergegeben wurden. Die Angehörigen der Führungsspitze, die Bormann gekannt hatten, waren entweder tot oder saßen hinter Gittern. Es gab eine Menge guter Lichtbilder von Bormann aus der Kamera von Eva Braun-Hitler, deren Lichtbildsammlung nach Kriegsende gefunden und in Ablichtung den Alliierten zugestellt worden war. Auf diesen Aufnahmen aus dem engeren Führungskreis erschien Bormann mitunter in Zivil, fast nie mit Kopfbedeckung und dann selten mit Dienstmütze. Trotzdem fehlte der Fahndung ein Bild. Das Fahndungsbild erschien dann neunzehn Jahre nachher im Werk Lew Besymenskis „Posledam Martina Bormanna”. Es zeigt den Reichsleiter in Uniform mit tief in die Stirne gedrückter Dienstmütze. Obwohl die Aufnahme in 45 Grad von rechts vorne aufgenommen wurde, ist das Hakenkreuz auf dem linken Ärmel wie zum Blickfang nach vorne gedreht, so daß sich jeder Unbefangene sagen mußte: „Welch ein Scheusal — natürlich ein Nazi!” Martin Bormann war wirklich keine Schönheit und sah dem in Besymenskis Werk Abgebildeten ähnlich. Beide gehörten zu einer der ostisch-slawischen Typen. Der Dargestellte paßte nicht schlecht zu Besymenskis Beschreibung: finster und verschlagen. Auf den Lebendaufnahmen Bormanns spielt der Ausdruck eher zwischen gönnerhafter Genußfreude, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, aber stets aufmerksam mit offen Augen, denen 307
nichts entging. Auf Besymenskis Bild müßte Bormann besonders schlechter Laune gewesen sein. Lichtbilder können täuschen. Augenblicksaufnahmen zeigen mitunter Mienen, die für den Träger sonst nicht bezeichnend sind. Deswegen wurde das Fahndungsbild einem anthropologischen Vergleich einer Reihe von Bormannbildern unterzogen. Dabei ergaben sich Unterschiede, die weder an der Beleuchtung, noch an der Aufnahmeentfernung, noch am Aufnahmewinkel gelegen haben können. Entweder war eine ausgefallene Aufnahme von Bormann retuschiert worden oder man hatte einen echten Russen in Reichsleiteruniform gesteckt und dann noch retuschiert. Durch die Rasterung des Bildes ist das nicht sicher zu erkennen. Auf eineinhalb Seiten faßt der phrenologische Vergleich zwischen den Bormann-Lichtbildern von Eva Braun und dem Bormann-Bild bei Besymenski das Ergebnis in dem Allgemeineindruck zusammen: Verschlossen/genießerisch (Eva Braun) und kraftvoll/männlich/finster (Besymenski). Dazu wird weiter ausgeführt: Die Hauptunterschiede von Besymenskis Fahndungsbild gegenüber den Bormann-Lichtbildern (Eva Braun) sind die aveolare Prognatie, das breite, fliehende Kinn, die starken Augenbrauen und der kräftigere Unterkiefer mit den Kaumuskeln. Das Fahndungsbild ist eine Fälschung. Es ist nicht zu entscheiden, ob es durch geschickte Auswahl eines fremden Vorbildes oder durch Retuschierung eines Bormannbildes zustande kam. Dies ist unwesentlich. Die Fahndung nach dem Hauptkriegsverbrecher Martin Bormann war keine Fahndung, sondern ein Täuschungsverfahren, um die Erkennung dieses Sowjetagenten in der Führungsspitze des Deutschen Reiches zu verhüten. (Vorstehende Ausführungen mit freundlicher Genehmigung von Herrn Henning Fikentscher auszugsweise wiedergegeben)
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ZUM ZWANZIGSTEN KAPITEL Eben erreichte uns die umfangreiche Arbeit von Bahnsen und O'Donnell „Die Katakombe. Das Ende in d. Reichskanzlei” (141). Die Verfasser unterzogen sich fast dreißig Jahre nach Kriegsende der mühevollen Aufgabe, die noch Überlebenden auszuforschen und geschickt zu befragen. Dieses ist ihnen in der Rekordzeit von nur zwei Jahren gelungen. Aus dem Personenkreis der in den letzten Tagen des April 1945 gewesenen Augenzeugen: Generälen, Politikern, Ärzten, Adjutanten, Ordonnanzen, Krankenschwestern, Telefonisten, Kellnern, Kraftfahrern und dem Chefmechaniker erfuhren sie so vieles, daß daraus ihr lesenswertes Buch geschrieben werden konnte. Es vermittelt einen Hauch der Atmosphäre, die in jenen Wochen und Tagen im Bunker der Reichskanzlei herrschte. Eingebettet in diesen Stoff ist die unbewiesene Annahme vermerkt, daß Martin Bormann am 2. Mai 1945 durch Zyankali den Tod gefunden haben soll. Von dem inzwischen verstorbenen Professor Speer wollen die Verfasser erfahren haben, daß „Martin Bormann ein Säufer war, aber nicht nur im Sinne des Gewohnheitstrinkers; er befand sich schon im fortgeschrittenen Stadium des Alkoholismus(!). Selbst wenn es ihm gelungen wäre, aus Berlin herauszukommen und irgendwie unterzutauchen — ich bin sicher — er hätte nicht mehr allzulange gelebt. Bormann war schon 1944 dabei, sich zu Tode zu saufen.” In einer Fußnote dazu meinen die Verfasser noch: „Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung Bormanns durch Albert Speer, die von ändern Augenzeugen der letzten Monate des Führers-Sekretärs bestätigt wird, erhärtet sich die Unwahrscheinlichkeit der von General a. D. Reinhart Gehlen vorgetragenen These, Hitlers ,braune Eminenz’ habe als Agent für die Sowjets gearbeitet. Warum hätte z. B. ein Spion Bormann seinen Intimfeind Speer bitten sollen, er möge Hitler überreden, mit dem Rest des ,Hofes’, also auch mit Bormann, nach Berchtesgaden zu fliegen? Bayern stand am 23. April 1945 vor der Besetzung durch amerikanische, nicht durch sowjetische Truppen.” Dem ist entgegenzuhalten, daß der Abstinenzler Adolf Hitler 309
niemals einen Trunkenbold in seinem engsten Kreis geduldet hätte, auch ab 1944 nicht. Ein „Säufer”, wie Martin Bormann hier geschildert wird, hätte keinesfalls jederzeit seinem Führer abrufbereit zur Verfügung stehen können und das zu leisten vermocht, was er in emsiger Büroarbeit — ausnahmslos anerkannt — vollbrachte. Darüber hinaus hat Professor Speer (32) an keiner der neunzig Stellen seiner „Erinnerungen”, in denen er Martin Bormann erwähnt, diesen als Alkoholiker bezeichnet. Dieses Argument ist zu neu, um glaubhaft zu sein. Am 21. April 1945 hatte Adolf Hitler es jedem der Bunkerinsassen freigestellt, nach Süddeutschland auszufliegen. Dr. Morell machte mit anderen davon Gebrauch; Martin Bormann blieb, da er sich von Adolf Hitler nicht trennen wollte, wie er sagte. Er wußte genau, daß sein Führer fest entschlossen war, in Berlin zu bleiben. So konnte er, Bormann, Speer leicht bitten, Hitler zum Verlassen des Bunkers zu bewegen. Damit war Martin Bormanns Verbleib in Berlin gesichert. Mit den Argumenten, „Bormann sei ein Säufer im fortgeschrittenen Stadium gewesen” und „Bormann habe Speer gebeten, Hitler zum Verlassen Berlins zu bewegen”, ist die These General Gehlens über Bormann jedenfalls nicht zu widerlegen. Ferner erfuhren die Verfasser Bahnsen und O'Donnell (141) von dem ehemaligen SS-General Mohnke: „Nach der Rückkehr von General Krebs, der Goebbels über die Verhandlungen mit Generaloberst Tschuikow Bericht erstattete, verlangte Bormann von mir ziemlich kategorisch, ich müsse ihm unverzüglich eine direkte Telefonleitung zu den Russen, mit ändern Worten, ins Hauptquartier Tschuikows legen lassen; er benötige diese Verbindung sofort. Ich erklärte ihm, angesichts der Lage ringsum sei das erstens nicht innerhalb von fünf Minuten zu machen und zweitens hätte ich im Augenblick andere Dinge zu tun ... Er wurde grob; als ich mir diesen Ton verbat, setzte er sehr schnell eine freundliche Miene auf und schwieg dann. Ich will bei dieser Gelegenheit anmerken, daß es einige Männer gab, die entschlossen waren, nicht tatenlos zuzusehen, wenn Bormann versucht hätte, auf eigene Faust das Weite zu suchen. Dazu gehörten Otto Günsche, einige andere und ich.” 310
Bahnsen und O'Donnell kommentieren dazu: „Insbesondere nach dieser Schilderung Wilhelm Mohnkes kann es keinen Zweifel mehr daran geben, daß Martin Bormann am 1. Mai 1945 nur ein Ziel hatte: nach Plön zu Dönitz zu gelangen, und zwar möglichst mit Billigung der Russen(?!), das heißt als Ergebnis von Verhandlungen mit dem sowjetischen Oberkommando. Hitler hatte Bormann zum Parteiminister bestimmt, und nur Dönitz konnte nun, nach dem Tod des Führers, diese Ernennung bestätigen und wirksam werden lassen.” Diesen Kommentar zu überdenken, sei dem Leser überlassen. Von Johannes Hentschel, der den Betrieb der technischen Anlagen im Bunker zu überwachen hatte, kam den Verfassern zur Kenntnis, daß Martin Bormann, Dr. Stumpfegger und SS-General Rattenhuber ,Zivilsachen’ im Maschinenraum verwahrt hatten, ,Bormann zog schließlich seine Zivilsachen unter der Uniform an’. (S. 354) Dadurch wissen wir jetzt mit Sicherheit, daß sich Major Joachim Tiburtius nicht geirrt hat, als er Martin Bormann beim Hotel ,Atlas’ in Zivilkleidung am 2. Mai 1945 nach 2 Uhr früh sah. (Siehe Kap. 16)
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ZUM ZWANZIGSTEN KAPITEL Martin Bormanns Gerippe Die sagenhafte Glückfundreihe von Bormanns Resten wurde von Presse und Zeitschriften aufgegriffen und den Lesern glaubhaft gemacht, indem Aufnahmen des Bormannschädels abgedruckt wurden, z. T. sogar mit echten Aufnahmen von Bormanns Gesicht daneben. Die Aufnahmen zeigen den Schädel mal mit, mal ohne Zahnersatz, teils mit, teils ohne das abgeschlagene linke Stirnbein. Keine einzige der Schädelaufnahmen wurde fachgerecht in der Frankfurter Horizontalen gemacht und keine in genauer Vorderoder Seitenansicht (Saggital- und Transversalaufnahme), geschweige von oben. Als Nahaufnahmen sind sie sowieso verzeichnet und schräg von unten aufgenommen, so daß nur ein erfahrener Anthropologe daraus gewisse Schlüsse auf die Form- und Maß Verhältnisse des Schädels ziehen kann. Nach Entzerrung der Schädelaufnahmen ergibt sich ein Gesichts-Höhen-Breitenindex von etwa 95 Prozent, während Bormanns Lebendaufnahmen einen Index von rund 85 Prozent zeigen. Diese Schädelaufnahmen zeigen eine messerschmale knöcherne Nase mit angedeutetem Höcker von ziemlicher Höhe in gerader Richtung. Bormanns Nase war aber im knöchernen Teil nach links verbogen und etwas breit. Bei Aufnahmen von rechts täuschte das einen Nasenhöcker vor, während bei Aufnahmen von links die unverkennbare Sattelnase zu sehen ist. Die Orbitae des Schädels sind sehr niedrig, der Höhen-Breitenindex um 75 Prozent, rechteckig mit stark nach außen abhängenden oberen Orbitalrändern. Das paßt schlecht zu Bormanns Augengegend der Lebendaufnahmen. Ganz allgemein ist der schmalgesichtige Gesichtsschädel nicht gut in Bormanns breitem Praßkopf unterzubringen. Bei den anthropologisch fast unbrauchbaren Schädelaufnahmen ist ein einwandfreies Urteil natürlich nicht zu fällen. Nun pflegen Zeitungsreporter nicht über die entsprechenden anthropologischen Kenntnisse zu verfügen, die zur Schädelbeurteilung und zu Aufnahmen erforderlich sind. Man muß ihnen dar312
um mildernde Umstände zubilligen, selbst wenn Sven Simon und seine Kollegen aus Versehen einen falschen Schädel auf den Film bekommen haben. Eine solche Verwechslung war nicht tragisch. Die Entdeckerfreude der Finder und Beurteiler des Schädels hatte sich am Kopf eines unbekannten Berliners entzündet, zu dem die Sowjets unschwer den Zahnersatz des 1968(?) verstorbenen Martin Bormann nachgeliefert haben konnten. So wenig Gewicht den bebilderten Zeitungsaufsätzen und Buchbesprechungen zukam, um so sinnvoller war der Auftrag der Staatsanwaltschaft an den Kriminalhauptmeister Moritz Furtmayr, der über den fraglichen Schädel aus Berlin nach anthropometrischen Grundsätzen eine Lebendbüste kneten mußte. Leider ist weder Furtmayrs Werk, noch sind die Maßzahlen des Schädels veröffentlicht worden. Nur das Urteil der Staatsanwaltschaft wurde bekannt: daß die Büste „verblüffend ähnlich” gewesen sei. So bleibt die unbestimmte Hoffnung, daß die Staatsanwaltschaft größere anthropologisch-portraitfachliche Gaben besaß als der Direktor des Museums für Ur- und Frühgeschichte (Weimar), Prof. Dr. Behm-Blanke, seine Mitarbeiter und Assistenten, sowie der Biologe Dr. Herbert Ullrich. Die Entdecker der Bormanngebeine hatten es zu eilig, General Gehlens Erklärung zu widerlegen. Mit einiger Geduld hätte sich unter den Berliner Knochenresten gewiß ein ostisch-slawischer Schädel finden lassen, der zu Bormanns Gesicht gepaßt hätte. Die zweifelhafte Beweisführung der Echtheit der Bormannknochen war zu offensichtlich. Der berühmte Eichmann-Jäger, Simon Wiesental, forderte die Verbrennung der fraglichen Bormannknochen, aber nicht als Fehlgriff, sondern damit sie nicht zu einer Wallfahrtstätte unverbesserlicher Nazis werden könnten. Die Begründung war so falsch wie die Knochen selber, denn Bormann war schon zu Lebzeiten die verhaßteste aller NS-Führungskräfte und durch Gehlens Veröffentlichung von Martin Bormann als sowjetischen Agenten war Bormanns Ansehen restlos dahin. Staatsanwalt Dr. Richter untersagte die Verbrennung der Gebeine mit der Begründung: „Ich will nicht, daß mir irgendein Fanatiker einmal vorwirft, ich hätte Beweismaterial vernichtet.” Obwohl nicht alle Wahrheitssucher Fanatiker zu sein brauchen, war das eine ver313
nünftige Entscheidung für eine künftige, sachliche Forschung und Geschichtsschreibung. Die Auffindung von Bormanns Gerippe und Schädel im Schutt von Berlin, siebenundzwanzig Jahre nach Kriegsende, anderthalb Jahre nach General Reinhart Gehlens Veröffentlichung über Bormann als Sowjetagenten in der Führungsspitze des Großdeutschen Reiches, war ein Täuschungsverfahren, das durch die Anhäufung sechsfacher Glückstreffer der Fundumstände glaubhaft gemacht werden sollte. Es war nur einer der vergeblichen Versuche, Gehlen zu widerlegen. (Mit freundlicher Erlaubnis von Herrn Henning Fikentscher auszugsweise wiedergegeben)
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SCHLUSSWORT Am Ende unserer Betrachtungen über Leben und Streben Martin Bormanns angelangt, erscheint uns dieser Fall so einzigartig in seiner Abgründigkeit, daß er nur mit Abstand von den klassischen Verratshandlungen der Vergangenheit betrachtet und beurteilt werden kann. Spionage und Verrat sind — nach Oberst Walter Nicolai — so alt wie der Krieg, daher militärischen Ursprungs. Was tut, was plant der Nachbar? Diese Fragen mußten sich verantwortungsbewußte Staatsmänner immer stellen, um vor Überraschungen gesichert zu sein. Das Wort „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt” ist nicht von ungefähr entstanden, sondern ein Ausdruck schlechter Erfahrungen. Es haben sich auch immer wieder intelligente Menschen gefunden, für Geld, aus Abenteuerlust, Arglosigkeit, Erpressung oder andern Gründen Spionage zu betreiben. Die Höhe des Wagnisses richtet sich dabei nach den geltenden Gesetzen im Zielgebiet und nach dem Schaden, den sie durch ihre Tätigkeit dem betreffenden Staat zugefügt haben. Es kann auch nicht jeder Spion damit rechnen, ausgetauscht zu werden. Ganz anders verhält es sich mit dem Hoch- und Landesverrat, wenn er von einem der Höchsten in der Regierung oder aus dem engsten Kreis um das Staatsoberhaupt begangen wird. Martin Bormann, von dem hier die Rede ist, hatte sich das vollste Vertrauen des Staatsoberhauptes Adolf Hitler planvoll durch Fleiß und Umsicht, gepaart mit Rachsucht, erschlichen. Sein Wissen und seine Macht mißbrauchte er in vollem Umfang, indem er sowohl seinen Führer, als auch seine Partei, sein Volk und Vaterland an den damaligen Feind verriet. Er war ein Beispiel aus den Lehren des Chinesen Sun Tsu (500 v. d. Zt.) der sagte: „Nutzt die Arbeit der niedrigsten und abscheulichsten Menschen!” Darin übertraf Martin Bormann einen Joseph Fouché, der als Polizeiminister Napoleons in heimlicher Verbindung mit der Gegenseite stand. Graz, den 1.Mai 1984 Hugo Manfred Beer 315
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