Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 548 All‐Mohandot
Kampf im Ysterioon von Hans Kneifel
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Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 548 All‐Mohandot
Kampf im Ysterioon von Hans Kneifel
Atlans Flucht nach vorn
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Anfang des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Atlan, der sich gegenwärtig mit der abgekoppelten SZ‐2 in Flatterfeld aufhält, ist bestrebt, der unbekannten Macht, die die Ysteronen zu ihren verheerenden Nickelraubzügen verleitet, Einhalt zu gebieten. Er tritt die Flucht nach vorn an, sobald er Chart Deccon, den High Sideryt, in der Hand des Gegners weiß – und es kommt zum KAMPF IM YSTERIOON …
Die Hauptpersonen des Romans: Chart Deccon, Lyta Kunduran und Hage Nockemann ‐ Sie erreichen das Ysterioon. Girgeltjoff ‐ Ein Freund der Solaner. Atlan ‐ Der Arkonide tritt die Flucht nach vorn an. Breckcrown Hayes und Bjo Breiskoll ‐ Atlans Begleiter. Ferserʹlt und BonelovʹVert ‐ Zwei Roxharen an Bord der SZ‐2.
1. Noch vor einem Jahrtausend hätten Terraner dieses Sonnensystem enthusiastisch bestaunt und jede Einzelheit untersucht, kommentiert und schließlich vielleicht als »Wunder« bezeichnet. Heute jedoch, nach langen und intensiven Erfahrungen mit den scheinbaren Wundern des Kosmos, nahmen die Solaner jene Bilder, die sich auf den Panoramabildschirmen zeigten, als alltäglich hin. Jetzt und hier waren es Photozellen und Linsen von höchstorganisierten Maschinen, die alle Bilder in sämtlichen Einzelheiten registrierten, speicherten und verarbeiteten. Aber in den Robots stellte sich zweifellos das Gefühl nicht ein, etwas Ungewöhnliches vor sich zu haben. Das Nickelmaul‐System war eine phantastische Facette des Weltalls. Ein faszinierendes Sonnensystem! Die riesige Sonne Kores – von den Solanern war sie zunächst aus verständlichen Gründen Nickelmaul genannt worden –, ein blauer Stern des O‐Typs, beleuchtete ein leeres Stück Weltraum. Das Gestirn, dessen Durchmesser das Zwanzigfache der terranischen Sonne betrug, stand im Mittelpunkt eines vergleichsweise haarfeinen Ringes. Er kennzeichnete zugleich den äußersten Rand des Sonnensystems. Einst hatte das Kores‐System aus zwanzig unterschiedlich großen und verschiedenartigen Planeten bestanden. Bis auf einen einzigen Planeten, der die Sonne auf einer
lebensfeindlich nahen Bahnellipse umkreiste, waren sämtliche Planeten zertrümmert und zerstört worden. Kosmische Gravitationskräfte und der Strahlungsdruck des Sterns hatten Staub, kleine und große Bruchstücke und Wolken aus Trümmern auseinandergetrieben. Im Laufe der vielen Jahrtausende hatte sich der Ring gebildet. Er stellte sich völlig symmetrisch dar; ein Schlauch von nicht mehr als 880 Kilometern Durchmesser umgab die kreisnahe Ekliptikebene wie eine seltsame Mauer. Das ferne blauweiße Sonnenlicht vermochte die Staubwolken nur in der Außenzone halbwegs zu durchdringen. Im Innern des Staubschlauchs herrschte Dunkelheit, und nur wenige Kilometer tief erfüllte ein diffuses Glühen den Nebel. Ein seltsames, in den Bezügen kosmischer Größenordnungen ebenfalls kleines Kunstgebilde schwebte innerhalb des so merkwürdig umgrenzten Weltraums. Der übriggebliebene Planet jedoch, noch vor wenigen Tagen eine heiße Welt des solaren Merkur‐Typs, spielte im Kores‐System keine Rolle mehr. Pryttar war gestorben. Eine planetare Masse von rund 4000 Kilometern Durchmesser hatte sich im lautlosen, glühenden Inferno aufgelöst und trieb als unregelmäßig geformte Wolke aus kaltem Nebel und magmatischer Schlacke in riesiger Ausdehnung dem fernen Grenzring entgegen. Das Kunstgebilde aber existierte noch. Auf einer elliptischen Bahn umrundete ein Kugeloktogon die Sonne. Perihel und Aphel waren mit 2,7 beziehungsweise 4,8 Milliarden Kilometern errechnet worden. Jenes kalt schimmernde Ding, auf dessen siebenundzwanzig Kugelelementen die Vorsprünge und technischen Einrichtungen scharfe, gekrümmte Schlagschatten warfen, stellte eine würfelförmige Konstruktion von nur 650 Kilometern Kantenlänge dar. Die Kugelelemente waren mathematisch perfekt und miteinander durch dreißig Kilometer dicke Röhrenstücke verbunden. Ein Gitterwürfel, den zwei Besonderheiten auszeichneten. Mindestens zwei – mehr wußten die
Fremden noch nicht. Nur Wesen mit besonderen Spitzenbegabungen konnten die mentale Strahlung auf der Basis des schwingenden Nickels bereits weit außerhalb der Grenzen dieses Sternensystems spüren. Eine andere Strahlung des Kugeloktogons, das wie eines der Schulmodelle einer Molekülstruktur aussah, bewirkte einen anderen, weitaus handfesteren Effekt. Innerhalb einer Reichweite von rund fünf Lichtjahren wurden künstliche Metallkörper, also sämtliche Raumschiffe beispielsweise, beim Ansteuern des Oktogons abgebremst. Andererseits zog das Kugeloktogon das Metall Nickel mit geradezu magischer Kraft an, wenn dieses Metall in chemisch reiner Form existierte. Warum ausgerechnet Nickel? Das Metall Nickel, terranische Ordnungszahl 28, Atomgewicht 58.71, war schon im Jahr 1751 von Cronstedt und Bergmann »entdeckt«, genauer: klassifiziert worden. Keiner der Solaner, auch Atlan nicht, vermochte zu erklären, aus welchen Gründen gerade Nickel diese wichtige Rolle spielte. Das Kugeloktogon wurde YSTERIOON genannt. Es schien ein Heiligtum, ein Machtzentrum oder ein Relikt aus fernen Zeiten oder alles zusammen zu sein. Die Ysteronen, vom Nickel abhängig, hatten bisher den Solanern keine hundertprozentig stichhaltige Erklärung liefern können, jedenfalls keine, mit der sich Atlan zufriedengeben konnte. Dennoch schien es, als würde sich in der Galaxis Flatterfeld und speziell im Kores‐System eine außerordentlich wichtige Entwicklung vollziehen. Das Bild des Systems war auf den Schirmen der SEARCHER zu erkennen. Die Korvette, von etwa fünfzig Robotern verschiedener Typen besetzt, näherte sich dem Zentrum des ehemaligen Sonnensystems. Auch dieses Raumschiff wurde abgebremst und trieb, immer langsamer werdend, auf das Ysterioon zu.
Die Roboter hatten keine Augen, um die wirkliche Exotik des Systems zu bemerken. Aber die Informationen wurden blitzschnell, lückenlos und richtig verarbeitet. Aber auch Roboter waren keineswegs unfehlbar. * Der elfte Tag des Wartens brach an. Die Nerven der drei Solaner waren zermürbt, ihre Stimmung befand sich am tiefsten Punkt. »Ich glaube nicht, daß ich das Warten noch lange ertragen kann. Alles hat sich in mir aufgestaut. Ich fühle, daß ich kurz vor der Explosion stehe!« Chart Deccon stand ächzend auf und reckte seine mächtige Gestalt. Zu seinem Zustand kam noch die Scham; spätestens seit dem Augenblick, als sie sich an Bord der Korvette geschlichen hatten, gab es für ihn endlose Stunden, in denen er seine Situation immer klarer erkennen mußte. Das Thema, um das sich seine Gedanken bewegten, hieß, auf einen einzigen Nenner gebracht: Alpha und die Erben des High Sideryt. »Du wirst es ebenso aushalten können wie wir«, gab Lyta Kunduran kalt zurück. »Außerdem …« Sie hob kurz die Hand, um anzudeuten, daß sie irgend etwas bemerkte. »Was ist los?« »Ruhe!« Ungeduldig öffnete Chart Deccon seine Pranken, schloß sie wieder und bewegte sich in der engen Vierer‐Kabine hin und her. Zwar belastete ihn das Eingeschlossensein in einer engen Raumschiffskabine nicht im mindesten – nicht mehr nach einem Leben von mehr als achteinhalb Jahrzehnten in der SOL, trotzdem fühlte er sich beengt. »Die SEARCHER verringert ihre Geschwindigkeit«, flüsterte Lyta
schließlich. Die Ungewißheit und das Fehler von Informationen bedeutete für die drei Eingeschlossenen in der Korvette eine fast unerträgliche Nervenspannung. Nicht alle Informationen fehlten, wie die Magnidin soeben bewiesen hatte. »Richtig. Die Korvette bremst ab. Oder sie wird abgebremst«, murmelte Lyta. Es war ihr gelungen, von den Robotern unbemerkt einige Kommunikationsleitungen der SEARCHER anzuzapfen. In einigen Regalfächern standen kleine, flimmernde und zirpende Geräte. Hage Nockemann rührte sich auf seiner Liege, öffnete ein Auge und biß auf das Ende seines Schnurrbarts. Sein faltiges Gesicht zuckte. »Wo sind wir jetzt?« »Wir werden es gleich erfahren«, entgegnete Lyta. Mit Hilfe der technischen Ausrüstung, die »Bit« Kunduran buchstäblich zusammengestohlen hatte, konnten die drei Solaner im Versteck sehr viel von dem mitverfolgen, was in der Zentrale der Korvette vor sich ging. Mit ihrer einmaligen Fähigkeit war es für Lyta nicht schwer gewesen, die Spiongeräte anzuschließen. »Die SEARCHER ist, nachdem die verdammten Maschinen den Sperrgürtel der Pluuh durchstoßen durften, relativ schnell geflogen. Nun haben wir einen Trümmerring unterflogen, der etwa sechs Milliarden Kilometer von einer blauen Sonne entfernt ist.« »Sonst keine Informationen?« wollte Chart Deccon knurrend wissen. »Folgt uns jemand?« »Ich konnte nichts feststellen«, antwortete Lyta kurz. »Nichts von Atlan?« »Nein. Nicht die kleinste Informationseinheit!« Die winzige Ringuhr am Finger Lyta Kundurans zeigte das Datum, abgestimmt auf die Einteilung in der SOL, ebenso die Stunden und deren Unterteilung. Eben hatte die Tagesperiode angefangen; pünktlich war der Galakto‐Genetiker aufgewacht. Auch sein Schnarchen hatte die zwei Kabinengenossen ernsthaft gestört.
Noch konnten sie sich beherrschen, bald würde dieser Punkt überschritten sein. Zweiundzwanzigster Februar also. Die von Robotern besetzte, von Robotern bis hierher absolut perfekt gesteuerte, vom falschen High Sideryt nicht nur aus taktischen Gründen ausgeschickte Korvette hatte ein Ziel dieses Fluges fast erreicht. Zumindest befand sie sich in einem Gebiet, in dem möglicherweise tatsächlich die SOL‐Zelle‐2 gefunden oder ein Kontakt mit ihr hergestellt werden konnte. Aber es mochte auch ganz anders kommen. »Und was tun unsere blechernen Lieblinge?« brummte Hage schläfrig, gähnte und deutete zur Decke. Lytas Antwort war eine direkte Schilderung von Vorgängen, die sie nicht auf gewohntem Weg, sondern als dekodierbare Informationen von den Robotern, Bildschirmen und einer größeren Anzahl anderer Geräte erfahren und umgesetzt hatte. »Die Roboter suchen den Weltraum ab. Sie haben entweder etwas gefunden und steuern darauf zu, oder die Korvette wird angezogen, High Sideryt«, entgegnete die Magnidin. Deccon stieß ein leises, gefährlich klingendes Lachen aus. »Weder Sideryt noch High! Bit – das ist vorbei.« »Die Roboter erfassen ein Objekt, das wie das Kugeloktogon aus Bumerang aussieht, nur viel größer. Sie empfangen Funksignale, die sie zu diesem Objekt locken, das sie das Ysterioon, die Heimat der Ysteronen, nennen. Das ist unser Ziel.« Erst Lytas fast unglaublich große Fähigkeit, die an paranormale Begabung grenzte, hatte überhaupt erst ermöglicht, daß die Flüchtenden aus der SOL nicht völlig blind, taub und ahnungslos geblieben waren. Ihre großen, grauen Augen richteten sich in stummem Vorwurf auf Chart Deccon, als sie fragte: »Wie überlisten wir die Robots? Sonst sind wir auch weiterhin zur völligen Passivität verurteilt.« »Mir ist auch nichts anderes eingefallen«, gab Chart unruhig zurück, »als hinauszustürmen und wild um mich zu schießen.«
»Eine Lösung, die den Vorteil absoluter Sinnlosigkeit hat!« bekräftigte Hage Nockemann grimmig. Sie hatten in den zurückliegenden Tagen buchstäblich ihren Verstand zermartert, alle drei Solaner. Sie versuchten, eine Methode zu finden, die Maschinen zu überwältigen oder auszuschalten. Aber nicht einmal Lyta hatte eine Idee. Nicht einmal ihr Verstand, kalt und beherrscht, von ihrem brennenden Ehrgeiz gesteuert, zusammen mit ihrem Verständnis für Positroniken, schaffte es, die Maschinen teilweise umzuprogrammieren. Wer sonst hätte es unternehmen können? Nach einigem Zögern pflichtete Deccon bei: »Order‐7‐B hat die Roboter mit größter Sicherheit derart perfekt programmiert, daß sie weder meinen Befehlen noch denen anderer, dritter Personen gehorchen werden. Das ist meine sichere Meinung.« Ihre Unterhaltung jetzt war nur eine neuerliche Wiederholung der langen Diskussionen, die sie bisher geführt hatten. Solange sich die Lage nicht drastisch änderte, würden sie in ihrem Versteck bleiben müssen. Diese Kabine stellte das vierte Versteck dar, und zugleich schien es das sicherste zu sein. Das Schiff war auf gespenstische Weise leer, denn die Maschinen befanden sich nur in der Zentrale und den Unterzentralen. Aber ihr Programm schrieb ihnen vor, in unregelmäßigen und daher unberechenbaren Abständen die Korvette zu kontrollieren. Diese Kontrollen hatten die drei Solaner fürchten gelernt. »Es ist auch meine Meinung«, fügte Lyta verdrossen hinzu. Hage zwirbelte nervös die ausgefransten Enden des traurig hängenden Schnurrbarts und sagte schnarrend: »Ich will eure Meinungen nicht mehr hören; ich kenne sie bis zum Überdruß. Macht endlich konstruktive Vorschläge!« Aus seinem Ton sprach Gereiztheit, die leicht in Hysterie umschlagen konnte. Allzu fern von einem durch Klaustrophobie hervorgerufenen Tobsuchtsanfall schien Nockemann heute nicht
mehr zu sein. Dies würde allerdings sicher zu ihrer Entdeckung führen. »Was können wir tun? Nichts!« beharrte Lyta. »Verdammt wenig.« Hage machte eine schroffe, wegwerfende Bewegung, dann schwang er sich von seiner Pritsche und stapfte gereizt in die Versorgungszelle der Kabine. Er kam mit drei Kunststoffbechern zurück, in denen ein Getränk dampfte, das völlig unzutreffenderweise den Namen Kaffee innehatte. Schweigend verteilte er die Becher und starrte dann auf die winzigen Monitoren, die Impulsanzeiger, die ebenso winzigen Oszillographen und die Analogschreiber, die im Regal standen. Nur Lyta war in der Lage, aus der Vielzahl der Anzeigen so etwas wie eine stichhaltige Information herauszulesen. »Aber jetzt scheint sich die Situation zu ändern!« meinte Lyta nach einer Weile. »Die Korvette schwebt genau auf das Ysterioon zu.« Ihr schmaler, schlanker Finger deutete auf den kleinen Schirm des Monitors. »Was bedeutet das für uns und unsere reichlich beschämende Lage?« wollte Chart Deccon wissen. »Das kann ich noch nicht sagen. Die Robots wissen es auch nicht«, lautete die unwirsche Auskunft. Die Notlage hatte drei ausnehmend verschiedene Personen in diesem Versteck zusammengeführt. Der Gegensatz konnte nicht größer sein. Aber eben diese Notlage war es gewesen, die bis zu diesem Zeitpunkt verhindert hatte, daß sie sich gegenseitig an die Gurgel gesprungen wären. Chart, Lyta und der Galakto‐Gentiker hatten seit dem Start mehrmals das Versteck wechseln müssen. In völlig unterschiedlichen Intervallen glitten die Roboter, gleich welchen Typs, durch die Schiffskorridore und öffneten sämtliche Türen und Schotten, die nicht durch ein bestimmtes Signal gekennzeichnet waren. Ihre Kommunikation verlief lautlos und abhörsicher. Immer
wieder wurden die Solaner durch die Geräusche näherkommender Maschinen aufgeschreckt und mußten flüchten. Zunächst waren sie unterhalb der Hauptzentrale in drei Einmann‐ Kabinen versteckt gewesen. Kaum hatte Lyta die wichtigen Leitungen entdeckt und ihre Geräte angeschlossen, mußten sie die Kabinen räumen. Dabei galt es, verräterische Spuren zu verwischen. Auch jetzt konnte beispielsweise der Energieverbrauch, der bei einer heißen Dusche entstand, einen Robot auf die bisher unsichtbaren »Gäste« aufmerksam machen. Sie wechselten in zwei Kabinen, die ein Deck tiefer lagen. Hier hatten sie wenigstens drei Tage Ruhe, bis auch hier die Maschinen jeden Winkel einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und sogar Säuberungs‐ und Reparaturarbeiten ausgeführt hatten. Seit zwei Tagen befanden sie sich in der Viermann‐Kabine nahe dem Teil der Korvette, in dem sich Hangars und leere Laderäume erstreckten. Nur dreimal waren Roboter an der Kabine vorbeigekommen. Lyta hatte die Positronik der Schottautomatik so eingestellt, daß sie den prüfenden Maschinen eine leere Kabine signalisierte. Die drei Menschen in einem Schiff voll arbeitender Technik konnten sich nun einigermaßen sicher fühlen. Lyta schnippte plötzlich mit den Fingern. »Aha!« sagte sie. »Deine Auskünfte glänzen durch uferlose Klarheit«, knurrte Deccon. »Was soll dieses ›Aha!‹?« »Die Maschinen haben eben eine Ortung durchgeführt.« Ihre schlanken Finger hantierten an Reglern und Schaltern ihrer primitiv erscheinenden Detektoranlage. Schwer deutbare Zeichen flimmerten über die Felder, und winzige Bilder auf ebensolchen Schirmen zeichneten sich deutlich ab. »Hier. Darauf fliegt die SEARCHER zu!« Deccon und Nockemann, der wütend seinen Plastikbecher in eine Ek‐ke feuerte, sahen das seltsame Gebilde, das sie nun als
»Kugeloktogon« oder als »Ysterioon« kannten. Die erstaunliche Konstruktion aus Röhren und Kugelelementen schwebte deutlich sichtbar im harten Licht des blauen Riesensterns. »Hier: die ermittelten Werte«, sagte Lyta und deutete mit spitzem Zeigefinger auf flimmernde Zahlenreihen. Es würde deutlich erkennbar, daß das Ysterioon die Sonne umkreiste und daß die Korvette auf das Gebilde aus Kugeln und Röhren zuschwebte – oder darauf hingesteuert .wurde. Chart Deccon fragte grollend: »Gibt es irgendwelchen Funkverkehr? Denke daran, Bit, wir sind hier, um Atlan zu finden – und die SZ‐2!« »Keine Funkimpulse!« erwiderte Lyta. Regungslos und erfüllt von innerer Spannung starrten die Solaner auf die Anzeigen und versuchten, die winzigen Bilder auf den Monitoren richtig zu deuten. Auf dem Schirm der Analogprojektion erschienen zwei Punkte, die sich der SEARCHER näherten. Einige Zeit später gab es klare Vergrößerungen. Keuchend brachte Chart Deccon hervor: »Das sind zwei Raumschiffe, meine Freunde! Sogenannte Zellen der Roxharen. Ihr Kurs führt sie direkt auf die Korvette zu.« »Mehr oder weniger war das zu erwarten.« Lyta Kunduran straffte ihre Schultern und antwortete scharf: »Die Schiffe schleusen Sonden aus. Vielleicht bekommen wir jetzt die Chance, uns mit Atlan in Verbindung zu setzen.« Dies würde bedeuten, daß die drei Solaner sich der Funkeinrichtungen der Korvette bemächtigen mußten. Die Roboter würden dies verhindern. Das Auftauchen der elliptischen Raumschiffe, deren Schutzschirme in allen Spektralfarben schillerten, konnte die Sachlage binnen kurzer Zeit ändern. »Wir drei, trotz der Thermostrahler und deines Blasters, Chart … gegen ein halbes Hundert Roboter? Ich weiß nicht, ob das gutgehen kann!« meinte Hage düster. »Dazu ist mir schon etwas eingefallen!« sagte Lyta und stellte das
Bild wieder scharf ein. »Seht! Sie haben etwas vor.« Das Ysterioon auf dem kleinen Bildschirm wuchs an und füllte das Bild aus. Der Abstand der SEAR‐CHER zum Kugeloktogon schrumpfte zusammen. Ebenso kamen die beiden ovalen Zellen näher; ihre Sonden umkreisten die Korvette in immer enger werdenden Kurven. Ein harter Ruck ging durch die Korvette und ließ die Teile der Einrichtung schwanken. Verdächtige Geräusche ertönten im Schiff. »Was war das?« fragte Nockemann ungeduldig. Seit einigen Tagen langweilte er sich bis zum äußersten. Immer wieder zwirbelte er mit je drei Fingern an den Enden seines ausgefransten Bartes. Seine Gesichtshaut war grau geworden, und die Falten schienen von Tag zu Tag mehr zu werden. »Die Zellen der Roxharen scheinen die Korvette abschleppen zu wollen. Oder zumindest soll verhindert werden, daß die SEARCHER unkontrolliert durch das System fliegt.« Eine schnelle Folge von zwitschernden und summenden Geräuschen kam aus den Lautsprechern der Spiongeräte. »Unsere Chancen werden größer«, meinte Lyta nach einer Weile. »Das Schiff wird in Richtung auf die Kugelkonstruktion abgeschleppt.« »Die Roboter wehren sich nicht!« »Die Maschinen haben keine eindeutigen Befehle!« erklärte die Magnidin. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir einen Funkspruch an die SZ‐Zwei absetzen wollen.« Irgendwo in dieser kosmischen Umgebung befand sich, allen Informationen zufolge, die SZ‐2 mit Atlan. Die Gründe, mit Atlan zusammenzutreffen, lagen für Chart Deccon seit den letzten Ereignissen mit seinem Doppelgänger auf der Hand. Atlan war die letzte Hoffnung des ehemaligen High Sideryt. Überdies – er war ganz sicher – stellte Atlan die einzige Garantie für eine solide Zukunft der SOL dar. Zwischen Atlan und den drei Flüchtigen aber befanden sich rund fünfzig Robots.
Nicht alle Maschinen waren schwerbewaffnete, hochleistungsfähige Kampfrobots. Aber auch einfache Service‐ Maschinen waren in der Lage, die Solaner in eine hoffnungslose Lage zu bringen. Lyta stand auf, richtete ihren gekrümmten Rücken gerade und blickte die Männer aus ihren großen, grauen Augen auffordernd an. »Reparaturroboter sind dazu da, Schäden zu reparieren. Reinigungsmaschinen erfüllen einen anderen Zweck. Wir müssen dafür sorgen, daß möglichst viele Robots möglichst lange an Stellen des Schiffes beschäftigt sind, die weit von der Zentrale entfernt sind!« »Aber wenn wir zu handeln anfangen, ist es vorbei mit unserem Versteckspiel!« brummte Nockemann. »Versteht sich«, erwiderte Deccon. »Wann greifen wir an?« »Am besten sofort«, meinte Lyta. »Nicht ohne einigermaßen klares Konzept«, schränkte Deccon ein. »Auf alle Fälle wirst du den Funkspruch absetzen, Lyta.« »Einverstanden. Also … die positronische Art des ›Denkens‹ zwingt die Roter zu folgendem Handlungsschema …« Leise sprachen sie ihren Plan durch. Während sie sprachen, flüchtige Zeichnungen anfertigten und wieder änderten, nahm die Korvette wieder Fahrt auf. Aber sie befand sich in der Fessel der Traktorstrahlen. Die‐ Roboter wehrten sich noch immer nicht gegen die Umklammerung. Deccon entsicherte seine beiden Waffen und lehnte sich gegen das Schott. »Bereit?« »Endlich kommt etwas Leben in die Szene«, sagte Hage. Lyta beseitigte die positronische Sperre, Deccon drehte mit seinen riesigen Armen die Hebel auf. Das Schott schwang nach außen auf, und sofort huschten die Solaner in drei verschiedene Richtungen auseinander. Die Thermostrahler in ihren Händen waren feuerbereit.
Chart Deccon stürmte einen Korridor entlang, schwang sich in einen abwärts führenden Antigravschacht und lief mit riesigen Schritten, seinen hünenhaften Körper weit nach vorn gebeugt, auf eine technische Nebenzentrale zu. Innerhalb weniger Sekunden hatte er das Druckschott entriegelt und geöffnet, dann flammte das Licht auf. Deccon sah sich Maschinen, Leitungen und Aggregaten gegenüber – er erkannte die meisten Funktionen, aber nicht jede Einzelheit. Er wollte keinerlei wichtige Funktionen der Korvette hoffnungslos beschädigen. Dennoch: die Zeit drängte. Es kam auf jede Sekunde an. Langsam hob er die Waffe, zielte und feuerte dann überlegt. Der fauchende, röhrende Strahl des Blasters zerfetzte Trennwände und zerschnitt Leitungen, energieführende Röhren und Kanäle der Klimaanlage. Dann zischte die vernichtende Kraft über Schaltpulte und Kontrollelemente, zerschmolz die Schalter und Regler zu unförmigen, kochenden und blasenwerfenden Klumpen und löste den ersten Alarm aus. Sofort warf sich der kahlköpfige Riese mit dem auffallend roten Gesicht herum, lachte kurz auf und rannte nach rechts. Einzelne Schüsse dröhnten auf und ließen die Beleuchtungskörper in der Deckenverkleidung splittern und zerbersten. Zweimal blickte Deccon über seine massigen Schultern zurück. Es war noch kein Roboter zu sehen. Aber das Heulen der Sirenen und das dröhnende Plärren der Warnhörner schallte durch die Gänge und Korridore. Wieder feuerte Deccon. Er ließ den Bodenbelag hinter sich aufkochen und schnitt in ihn breite Schneisen hinein, von Wand zu Wand. Er rannte weiter, warf sich in den nächsten Aufwärtsschacht und verschwand geduckt in einem leeren Laderaum. Wieder feuerte seine Waffe. Der riesige Mann versuchte, sich von der Erregung nicht mitreißen zu lassen. Er überlegte kühl, welche Art von Zerstörung die Maschinen am längsten beschäftigen würde – allein deshalb, weil davon die Sicherheit des Schiffes abhing. Planmäßig feuerte er auf dicke,
vielfarbige Kabelbänder, ließ einzelne Teile der Wandverkleidung aufflammen und sah mit einer grimmigen Zufriedenheit, daß sich im Licht der Strahlerschüsse dicke Rauchwolken auf die Ansaugschächte der Luftumwälzungsanlage zubewegten. Ein langer Feuerstoß zerstörte die Verriegelung des Schottes, dann zog sich Deccon zurück, schloß das Innenschott und verschweißte die Verriegelung, indem er die metallenen Teile so lange beschoß, bis sie nicht mehr zu bewegen waren. Er rannte weiter – und trotz des gellenden Alarms war hier noch immer kein Robot aufgetaucht. Ein langer Korridor, leicht gerundet, erstreckte sich vor ihm. Chart Deccon schoß auf die Beleuchtungsfelder, riß ein Kabinenschott auf und öffnete, nachdem er alle Abflüsse verstopft hatte, sämtliche Hähne. Zusätzlich durchtrennte seine Waffe offenliegende Röhren, die kaltes und heißes Wasser führten. Binnen Sekunden waren einige Kabinen überschwemmt, und aufgeregt blinkten die Warnlampen. »Und in der Zentrale erscheint auf den Pulten ein wahres Feuerwerk«, murmelte er und rannte weiter. Deccon konnte sicher sein, daß sein Teil der Zerstörung eine Menge Maschinen beschäftigen würde. Die Schäden waren nicht bedrohlich, aber nur schwer zu beseitigen. Also schwang er sich diesmal in einen aufwärts führenden Antigravschacht. Er verließ die Röhre ein Deck unterhalb der Hauptzentrale der Korvette. Die akustischen Signale waren hier nicht mehr so laut und eindringlich wie einige Decks weiter unten. Ehe er sich weiter in die Richtung der Zentrale vorwagte, blickte Deccon in alle Richtungen. An keiner Stelle vermochte er Roboter zu erkennen – wie gut waren die Maschinen von seinem verdammten Doppelgänger programmiert worden? –, die zu den verschiedenen Punkten der Zerstörung unterwegs waren. »Machen wir weiter«, brummte er im Selbstgespräch. Chart Deccon kauerte sich in die Nische zwischen zwei
säulenartigen Vorsprüngen des Korridors. Unschlüssig hob er die Waffe, zielte und feuerte auf einen Bildschirm, der. etwa dreißig Meter von ihm entfernt war und das Bild des Ysterioons zeigte. Mit einem krachenden Schlag zerbarst der Interkom. Riesige Funken sprühten aus den Leitungen und schlugen in die gegenüberliegende Wand des Korridors ein. Wieder heulte ein Alarm auf. Als ein Robot wie ein Blitz von rechts nach links durch den Ausschnitt schwebte, löste sich erneut ein Schuß aus dem Blaster und zerstörte die Maschine. Deccon stieß abermals ein lautes, dröhnendes Lachen aus. Dann stürmte er vorwärts und verbarg sich einige Schritte vor der Kreuzung wieder in einer kleinen Kabine. »Wenn ich in der Zentrale auftauche«, sagte er sich, »werden mich die Robots als Imitation oder als Widersacher definieren. Je weniger Maschinen es dort gibt, desto geringer ist der Widerstand.« Ein zweiter Robot raste heran und bremste vor dem schmelzenden, explodierenden, brennenden und rauchenden Wrack der ersten Maschine ab. Löschschaum wurde zischend verströmt. Signalflächen flammten aufgeregt in verschiedenen Farben unter der Kopfplatte des Robots auf. Zweifellos verständigte er sich mit Funkverbindungen mit den anderen Maschinen der Zentrale. Deccon wartete einige Sekunden und sah zu, wie der Robot versuchte, seinen Artgenossen zu löschen. Dann heulte die Waffe wieder auf und verwandelte auch den zweiten Robot in ein flammendes Etwas. »Nur noch achtundvierzig«, knurrte Deccon. »Und was haben die anderen geschafft?« Er war sicher, sich auf Lyta und Hage verlassen zu können. Auf die Magnidin deswegen, weil sie wie keine andere die positronische Psyche der Maschinen verstand, und auf Hage Nockemann, weil er es begrüßte, sich endlich wieder bewegen zu dürfen. Die beiden Mitstreiter wußten genau, worum es ging. Er, Deccon, rechnete mit fünfzig Maschinen, die zu besiegen oder
zumindest abzulenken waren. Als beide Roboter sich in flammende und rauchende Klumpen verwandelt hatten, stürmte Deccon weiter. Er wußte definitiv: Nur noch etwa zweihundert Schritte trennten ihn von der Hauptzentrale der SEARCHER. Für ihn bahnte sich jetzt und hier die Entscheidung an – und sie würde weitreichende Folgen haben. Als er über die nächste Kreuzung rannte und sich umdrehte, sah er dort, woher er gekommen war, dicke Rauchwolken. Deccon identifizierte ein Hydraulikrohr und zerschoß es an einer Abzweigung. Sofort entwich mit grellem Fauchen die dunkle Flüssigkeit, die sich fast augenblicklich in kochenden Dampf verwandelte. Deccon hatte den Eindruck, für die erste Aufregung gesorgt und genügend Roboter an die Ausbesserungsarbeiten gebunden zu haben. Die Stellen, an denen er widerwillig, aber gezielt Zerstörungen angerichtet hatte, lagen weit auseinander und waren genügend weit von der Zentrale entfernt. Vorsichtig und allen Interkomen ausweichend, pirschte sich Deccon weiter und versteckte sich schließlich in einer Kammer, in der sich eben noch ein Reparaturrobot befunden hatte. Er wartete ungeduldig auf das abgesprochene Signal. * Lyta Kunduran versuchte, die Roboter auf ihre Weise zu irritieren, abzulenken und zu beschäftigen. Sie schaltete auf ihrem Zickzackweg einen Interkom nach dem anderen ein, veränderte die Einstellung der beweglichen Multilinsen und tippte in rasender Geschwindigkeit Ziffern und Kennzahlen ein. Sie rannte weiter, als die Kontrollichter zu flackern begannen. In den .verschiedenen Zentralen schalteten sich Bildschirme ein. Auf
den Schirmen erschienen Bilder, die unaufhörlich wechselten. Durch die Schaltungen »Bits« wurden höchst unterschiedliche Eindrücke hervorgerufen. Bits Bild erschien auf den Schirmen, gleichzeitig ertönten die Signale, die den. Robotern – oder jedem anderen möglichen Beobachter und auch der positronischen Einrichtung – ein sich ständig veränderndes Bild Lyta Kundurans vorspielten. Nur jemand, der höchste Meisterschaft in der Behandlung von Positroniken erreicht hatte, konnte diese Schaltungen durchführen. Ein anderes Stück eines Schiffskorridors – Lyta führte dasselbe Verfahren aus. Nun flackerten an noch mehr Gegengeräten die Zeichen auf, meldeten sich knarrend die Summer, schlugen glockenartige Töne an. Die Maschinen reagierten mit der gewohnten Schnelligkeit. Sie identifizierten die Signale als Informationen darüber, daß sich mehrere weibliche Solaner an Bord der SEARCHER befanden. Daß es sich stets um die ein‐ und dieselbe, Person handelte, merkten sie nicht. Noch nicht. Einige von ihnen verließen die Plätze, schwebten zu den Ausgängen und Antigravschächten und rasten auf den kürzesten Wegen durch das Schiff. Sie suchten mit schußbereiten Paralysatoren und entsicherten Energiestrahlern die bisher versteckten Eindringlinge. Lyta hastete weiter und schlug sozusagen dreidimensionale Haken. Auch ihr Ziel war die Hauptzentrale. Ein mittelgroßer Robot, eine Maschine, die sowohl Sicherungsarbeiten als auch Reparaturen übernahmen und durchführen konnte, raste von rechts einen Gang heran, richtete die Sehzellen auf Lyta, die das Geräusch hörte und herumwirbelte. Mit einem blitzschnellen Griff wechselte sie den Thermostrahler aus der linken in die rechte Hand, zielte kurz und feuerte. Das Instrumentenbord der Maschine mit allen Linsen, Mikrophonen, Lautsprechern und Antennen detonierte, nachdem sich der Glutstrahl ins Innere des Robots gefressen hatte. Lyta
sprang geduckt auf den nächsten Interkomanschluß zu und schaltete ihn mit einem einzigen Handgriff ein. Lyta richtete die Linsen auf den rauchenden und funkensprühenden Mechanismus und arretierte die Steuerelemente. Dann tippte sie wieder blitzschnell eine rätselhafte Folge von Ziffern und Symbolen in die Tastatur. Eine neue Reihe von Monitoren schaltete sich in der Zentrale ein und vermittelte den verbliebenen, regungslos dastehenden Robots den Eindruck, als ob das Geschehen an mehreren Stellen gleichzeitig stattfand. Wieder drehten sich drei Roboter herum und schwebten mit knackenden Waffenarmen aus der Hauptzentrale hinaus. Sie rasten an jene Stellen, die sie als Gefährdungspunkte ihres Auftrags erkannten. Ihre Programmierung gebot ihnen, an dieser Stelle, die sie als Brennpunkt.definierten, zu erscheinen und die Gefahr zu beseitigen. Die Gefahr war ebenfalls eindeutig programmiert worden: es waren Chart Deccon und andere Solaner. Lyta blickte den Korridor hinauf und hinunter. Ihr fiel nichts mehr ein. Wenn auch Hage Nockemann in der Lage war, seinen Teil der Aktion zufriedenstellend zu erledigen, würden sich nicht mehr allzu viele Maschinen in der Nähe der Funkpulte aufhalten. Auf ihrem Weg in die Richtung auf die Zentrale gelang es der Magnidin, noch drei Maschinen bewegungsunfähig zu schießen. Das positronische Chaos, das Lyta hinter sich ließ, beschäftigte von Minute zu Minute mehr robotische Kapazität. Ebenso versuchten die Maschinen, die Zerstörung zu beseitigen, die Deccon verursacht hatte. In fast allen Bezirken der SEARCHER blinkten Alarmlampen, wimmerten die Warnanlagen und breiteten sich Rauchschwaden aus. Noch waren die Effekte größer als der wirkliche Schaden – ausgerechnet Chart Deccon war bemüht gewesen, nicht auch in der Korvette ein solches Maß an Zerstörung zu hinterlassen, wie er es von der SOL her kannte.
Mit größter Vorsicht, jede nur erdenkliche Möglichkeit zur Deckung ausnützend, arbeitete sich Lyta Kunduran vorbei an den letzten Rauchwolken auf die Hauptzentrale zu. Wo waren Deccon und Nockemann? * Kauziger Einzelgänger, der er war, vergleichsweise desinteressiert an den meisten Vorfällen des Bordlebens, in die Überlegungen seiner Wissenschaftler vertieft – das alles galt für Nockemann in diesen aufregenden Minuten nicht mehr. Er hatte sich nicht geändert, aber sein aufgestauter Bewegungsdrang entlud sich jetzt. Hages Weg führte vom Versteck aus nach unten und dann entlang der inneren Wandung des Schiffes bis ins obere Drittel. Schnell und geschickt wechselte er von gekrümmten Korridoren auf Treppen, Rampen und in kurze Abschnitte aufwärts führender Antigravlifts. Auch der Galakto‐Genetiker hielt die Thermowaffe in der Hand und erzeugte planmäßige Zerstörungen. Bildschirme implodierten mit peitschendem Klirren. Ein Roboter tauchte von links auf und verfolgte Nockemann einige Dutzend Meter. Der gebückt laufende Mann mit dem langen grauen Haar drehte sich um und zerschoß die Sensoren der mittelgroßen Maschine. Der Robot drehte sich kreiselnd, beschrieb einen Zickzackkurs und stürzte flammensprühend und rauchend in einen Antigravschacht. Nachdem er mehr als ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatte, stolperte Hage, rammte mit der Schulter eine Kante und löste, diesmal unbeabsichtigt, die Waffe aus. Der gleißende Strahl fauchte aus der Projektoröffnung und zerschnitt hinter einer abblätternden Verkleidung eine Anzahl verschiedenfarbiger, dick isolierter Kabelstränge und mehrere Röhren. Durch einen wilden Hagel von Funken und Überschlagsblitzen
rannte Hage eine Rampe aufwärts und befand sich nach weiteren zwanzig Schritten keuchend in einer Sackgasse. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus, wirbelte herum und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Als er dicht vor dem Feuer und der Rauchwolke abbog, hörte er ein helles, eindringliches Summen. »Ein Roboter!« stieß er hervor. Wer oder was sollte sich sonst durch die halb abgedunkelten Gänge der Korvette auf ihn zubewegen? Er duckte sich, hob die Waffe und schob sich an die Wand gepreßt dem Geräusch entgegen. Nicht eine Sekunde lang dachte er daran, daß der Robot für ihn eine tödliche Gefahr darstellen konnte. »Wir schaffen es noch!« knurrte Hage und zielte, als der Schatten der großen Maschine an der gegenüberliegenden Wand und auf dem Boden riesengroß auftauchte und dann immer kleiner wurde. Die Maschine änderte, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, ihre Richtung um neunzig Grad. Als sie mit feuerbereiten Projektoren vor Hage erschien, feuerte er ohne zu überlegen. Mit drei langen Feuerstößen zerstörte Hage den Robot. Für ihn war es gleichbedeutend mit einem Sieg über die Hälfte aller Robots an Bord. Er grinste, versuchte sich zu orientieren und hastete weiter. Mit einer fast spielerischen Bewegung drehte er den Thermostrahler und zerschoß einen Interkom, jagte mehrere Schüsse in die Öffnungen der leise fauchenden Klimaanlage und schlich weiter. Einmal wurden die Signale lauter, dann wieder undeutlicher, abermals deutlicher – es war wie ein Marsch durch einen seltsamen, gegenständlicher werdenden Traum. Als Treffpunkt hatten die drei von der SOL das Ende eines Radialkorridors festgelegt, der sie ohne Umwege in die Zentrale bringen würde. Aber auf dieser Ebene schien es von Robots zu wimmeln. Und es waren keine untergeordneten Maschinen, sondern die schweren, großen Kampfrobots, die Hage schon oft in der SOL
gesehen hatte, als Eskorte des High Sideryt oder als Helfer der SOLAG‐Leute. Hage erreichte, nachdem er noch drei Magazine voller Abfälle, Kleinteile und seltsamer Lumpen in Brand gesetzt und gewaltige Rauchwolken erzeugt hatte, den leeren Laderaum. Mit fliegenden Fingern riß er das Schott auf, schlüpfte in den dunklen Raum und preßte sich gegen die Wand. Das Schott klemmte; er ließ es einen Spalt weit offen. Wie aus einer anderen Welt drangen die Geräusche, mehrfach verzerrt, herein. »He! Deccon! Lyta!« flüsterte Hage zischend. Schwach wurden seine Worte von den stählernen Wänden zurückgeworfen. Er erhielt keine Antwort und spähte nach einigem Warten durch den Spalt nach draußen. Ätzende Rauchschwaden wälzten sich durch den breiten Korridor. Das wuchtige Sicherheitsschott, das die Zentrale vom Korridor trennte, stand weit offen und gestattete den Blick auf einige Bildschirme, Roboter und Instrumentenblöcke. Immer wieder glitten, hinter dem Rauch undeutlich als Silhouetten auftauchend, die schweren Roboter vorbei. Auf welche Art sie reagierten, als sie erkannten, daß die SEARCHER abgeschleppt wurde, war für Nockemann nicht feststellbar. »Verdammt. Wo bleiben sie?« fragte er sich mürrisch und zupfte mit der Linken an seinem Walroßbart. Irgendwo zischte die Hochdrucksprühanlage eines Löschrobots auf. Aus der anderen Richtung kamen klappernde, metallische Geräusche und das Kreischen eines Schneidewerkzeugs. Ein Reparaturrobot oder mehrere waren an der Arbeit, um Schäden zu beseitigen. Die Beleuchtung flackerte und zuckte. Dann schob sich die wuchtige, breitschultrige Gestalt Deccons ins Bild. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Auf dem metallenen Schuppen seiner rüstungsähnlichen Kleidung zeichneten sich Asche
und dunkler, schmieriger Belag ab. Mit einem kurzen Stoß der muskelbepackten Schulter, die er nach vorn stemmte, schob der Riese das Schott noch weiter auf und schwang sich keuchend in den Laderaum. »Endlich!« sagte Hage, um eine Spur erleichtert. »Wir haben die Robots ganz schön beschäftigt, nicht wahr?« »Allerdings«, gab Deccon grollend zurück und betrachtete seinen Strahler, der in seiner Pranke wie ein Spielzeug wirkte. »Aber die Zentrale ist noch voll von ihnen. Weißt du, wie viele es sind?« »Keine Ahnung.« Hage schüttelte den Kopf und sagte sich dann, daß Deccon in der Dunkelheit die Bewegung nicht sehen konnte. »Wir sollten es vorher wissen. Wir warten auf Lyta.« In der Korvette schienen Kämpfe ausgebrochen zu sein. Rauch, Geräusche und die flackernde Beleuchtung riefen diesen Eindruck hervor. Je mehr Unruhe und Verwirrung unter den Robotern, desto besser war es für die drei Solaner. Deccon hielt sich mit einer Hand am Rand des Schottes fest und hob langsam seinen Blaster. Dicker Rauch zog vor dem Spalt vorbei und wirbelte auf die Abzugsschächte zu. Chart spähte entlang des Waffenlaufes und versuchte, ein Ziel lange genug und deutlich zu erkennen. Die Zeit drängte die Solaner; noch immer war Lyta nicht bei ihnen. Als es in den Schwaden ein Loch gab, feuerte Deccon durch die gesamte Länge des Korridors und traf in der Zentrale tatsächlich einen schweren Kampfroboter. Ein Teil der Schußenergie wurde abgelenkt und richtete Zerstörungen an. Chart sah nicht, was sein Versuch bewirkt hatte, aber aus dem Raum ertönten prasselndes Krachen und ein lautes, langanhaltendes Klirren. Mitten durch diesen Geräuschorkan ertönte ein spitzer Schrei. Geduckt, nach Luft schnappend und hustend, rannte Lyta im Zickzack durch den Rauch. Sie schlüpfte neben Deccon in den dunklen Laderaum.
»Hier … bin ich«, keuchte sie und krümmte sich. »Wie ich sehe, wartet ihr … auf den letzten Angriff.« »Genau darauf.« Chart Deccons Stimme dröhnte laut. »Bist du bereit?« Langsam schob sich vor dem zu einem Viertel geöffneten Schott ein Reparaturrobot vorbei. Er versprühte feuchten, dampfartigen Schaum auf den Boden und an die Wände der qualmenden Korridorabschnitte. »Einen Augenblick noch. Ich habe … zuviel Rauch erwischt«, stieß Lyta hustend hervor und versuchte, sich zu beruhigen. Hage klopfte ihr helfend auf den Rücken. Aus der Zentrale kamen krachende, ungewöhnlich laute Geräusche. Die Maschinen versuchten möglicherweise, die Zerstörungen zu beseitigen. »Du gehst an das Funkgerät und nimmst so schnell wie möglich alle Schaltungen vor«, ermahnte Deccon und schüttelte Lyta leicht an der Schulter. »Es genügt, wenn Atlan nur die wichtigsten Informationen bekommt.« »Alles klar!« stöhnte Lyta. »Los!« Sie stürmten nacheinander los, die Waffen schußbereit. Deccon warf sich förmlich in die Zentrale hinein, feuerte nach rechts und links und traf zwei Maschinen. Durch den Qualm sprang Lyta, rannte schräg durch die Zentrale und erreichte das Funkpult. Sie hantierte mit verblüffender Schnelligkeit und Sicherheit. Ein erster Blick zeigte Deccon und Hage, daß die Korvette das Ysterioon fast erreicht hatte – unübersehbar groß schwebte das Kugeloktogon auf den Schirmen der Panoramagalerie. Es waren mehr als zehn Robots in der Zentrale. Zwei von ihnen waren von den Schüssen aus Deccons Blaster außer Funktion gesetzt worden. Wieder dröhnten die Waffen Hages und Deccons auf. Hitzeschwaden waberten durch den Raum. Die Maschinen drehten sich herum und versuchten, die beiden Eindringlinge einzukreisen. Zunächst beachteten sie Lyta Kunduran
nicht, die noch immer am Funkpult hantierte. Deccon brüllte donnernd auf: »Laßt mich ans Funkgerät, Roboter! Verdammte Maschinen! Ihr habt zu gehorchen!« Die Solaner wichen den zupackenden Armen und Greifern aus, duckten sich unter den blitzenden Gelenken der Maschinen hinweg und vermieden es, von den schnellen Maschinen gepackt zu werden. Aber der Kreis wurde enger, und es war nur eine Frage der nächsten Sekunden, wann die Paralysatoren treffen würden. Als Deccon zur Seite sprang, packte eine Maschine seine Hüfte. »Gehorcht endlich! Ich bin der echte High Sideryt!« schrie Deccon. »Ich muß einen Funkspruch absetzen!« Eine Maschine fegte heran und schob Lyta vom Funkgerät weg. Deccons nächster Schuß verfehlte die Sensorengruppe des Robots, wurde zu einem Teil abgelenkt und fuhr in das wuchtige Funkpult. Lyta schrie entsetzt auf. Wieder flackerte die Beleuchtung, und sekundenlang wurden die Bildschirme dunkel. »Ich will mit Atlan sprechen!« schrie Deccon. Seine Schreie und Befehle bewirkten nichts. Die Roboter glitten hin und her; zwei von ihnen verfolgten Lyta, die aus der Nähe des funkensprühenden Funkgeräts flüchtete. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Das Innere des Pultes löste sich in einer krachenden Explosion auf. »Die Funkanlage ist zerstört!« schrie Lyta. »Die Maschinen sind stärker.« Feuernd und immer wieder ausweichend zogen sich die Solaner aus der Zentrale zurück. Die Roboter bildeten eine Kette, die nicht durchbrochen werden konnte. Aber die Schüsse der Solaner trafen einen Robot nach dem anderen. Eine Maschine begann sich zu drehen, wirbelte schneller und schneller um seine Achse und feuerte ununterbrochen in alle Richtungen aus sämtlichen Waffensystemen. Nacheinander sprangen die Solaner durch den Rahmen des Schottes und flohen den Korridor entlang. Deccon fragte stockend:
»Hast du das Funkgerät einschalten können?« »Du kannst sicher sein, daß die Verbindung für wenige Sekunden stand. Ob Atlan uns gehört hat …?« Sie liefen geradeaus und dann durch eine Reihe enger Schächte und über leere Rampen in den oberen Teil des Raumschiffs. Hier blieben sie schwitzend und schwer atmend stehen. »Verdammte Roboter!« brummte Nockemann. »Sie sehen in mir nur eine Imitation ihres Herrn«, sagte Deccon. »Und die Anlage ist zerstört.« »Jedenfalls hat Atlan, wenn er unseren Kampf dort unten beobachtet haben sollte, keine Antwort gegeben.« »Was können wir tun?« fragte Hage und schob die entsicherte Waffe in den Gürtel. »Vorläufig müssen wir wohl abwarten, was die Roxharen vorhaben«, entschied Lyta. »Das Schiff ist allerdings ziemlich demoliert.« Wie um ihre Behauptung zu unterstreichen, flackerte die Beleuchtung noch einige Male auf und erlosch dann. Im selben Moment aktivierte sich die Notbeleuchtung. Das Raumschiff fing zu schwanken an, dann setzten sich kurze, harte Vibrationen durch die Schiffszelle fort. Verwirrt sahen die Solaner sich um und gingen dann auf den nächsten Antigravschacht zu. »Das kann bedeuten, daß die SEARCHER an das Ysterioon andockt.« »Für uns bedeutet das«, fügte Deccon hinzu, »daß wir das Schiff weder übernehmen noch fliegen können.« »Erst einmal sehen wir zu, was jetzt vorgefallen ist«, meinte Nockemann. Langsam schlichen sie wieder abwärts. Wieder gab es Erschütterungen und laute Geräusche. Als sie unmittelbar vor dem breiten Korridor standen, der zur Zentrale führte, erkannten sie am aufgeregten Summen der Maschinen, daß auch die Roboter reagierten. Nacheinander schwebten alle unzerstörten Roboter in
größter Schnelligkeit an ihnen vorbei und auf den Antigravlift zu. Die Maschinen waren von einem Ereignis alarmiert worden, das an anderer Stelle der Korvette stattfand. Unterhalb dieser Ebene auf jeden Fall. Deccon zuckte zusammen und blickte den Robots entgeistert nach. »Für mich ist alles klar«, sagte Lyta. »Die Roxharen haben soeben die Korvette geentert.« »Dann gibt es für uns Probleme ganz anderer Art – und zwar bald«, stellte Chart fest. »Ich bin in kurzer Zeit wieder da. Wartet in der Zentrale auf mich. Beobachtet so genau wie möglich, was hier vor sich geht!« »Verstanden.« Als Deccon losrannte, drang aus den Öffnungen der Antigravlifts wieder lauter Lärm. Dröhnend donnerte das Echo von Schüssen, die in schneller Folge abgegeben wurde. Aber noch immer arbeiteten an mindestens dreißig verschiedenen Stellen der Korvette irgendwelche Robots unverändert daran, die Schäden zu beseitigen und die schwelenden Brände zu löschen. Deccon merkte nach wenigen Schritten, daß eine zusätzliche Versorgungseinheit sich aktiviert hatte. Die Notbeleuchtung schaltete sich ab, die normal funktionierenden Leuchtkörper überschütteten ihn mit kaltem Licht, als er die Pfeile und Beschriftungen las und in die Richtung auf eine der Waffenkammern weiterrannte. Hundert Schritt weiter, als er gerade das Schott zu der Kammer aufriß, schaltete sich ein Interkom ein. Lyta Kunduran sagte kurz: »Deccon! Roxharen dringen ins Schiff ein. Sie haben die Robots außer Gefecht gesetzt und nähern sich der Zentrale.« »Bleibt, wo ihr seid!« rief Deccon und rüstete sich aus. Er wußte nicht genau, was er brauchte, aber er ging überlegt vor. Aus den Vorräten in den eingebauten Schränken suchte er kleine Explosivkörper verschiedener Art zusammen und verbarg sie unter
seiner Kleidung, so gut es ging. Er arbeitete schnell und mit meistens sicheren Griffen. Während er kleine und zusammensetzbare Waffen mit Klebeband an der Haut befestigte, suchte er nach einem tragbaren Funkgerät. Aber auch diese Korvette kam aus der SOL und hatte unter der langen Zeit gelitten. Die Umstände waren daran schuld, daß wichtige Teile der Ausrüstung fehlten. Der Gedanke, sich den Roxharen zu einem Kampf zu stellen, kam Deccon nicht – sie würden in der Übermacht sein. Vielleicht gab es dennoch eine Möglichkeit, zu entkommen und mit Atlan in Verbindung zu treten. Deccon jedenfalls war für den nächsten Abschnitt dieser seltsamen Mission gerüstet, als er die Waffenkammer verließ und im langsamen Trab in die Zentrale zurücklief. Lyta deutete mit traurigem Gesicht auf die Pulte, die schwerste Spuren der Verwüstung trugen. »Wir waren es«, sagte sie, »und auch die Maschinen, die wir nicht schnell genug zerstörten.« Einige große Monitoren zeigten die übergroßen, schlanken Gestalten der Eindringlinge. Die Roxharen trugen Raumanzüge und Waffen und drangen schnell vor. Der Boden der Schleuse war von Trümmern zerfetzter Kampfmaschinen übersät. Hinter den Helmscheiben sahen die Solaner die Gesichter mit dem struppigen Fell, den spitz zulaufenden Nasen und den kleinen, schwarzen Augen. Die Roxharen bewegten sich schnell und entschlossen. »Sie kommen!« brummte Deccon und deutete mit einer schweren Zweihandwaffe auf die Bildschirme. »Mit einiger Wahrscheinlichkeit«, erklärte Hage ruhig, »werden wir ins Ysterioon gebracht.« Er betrachtete staunend die ungewöhnliche Form des gigantischen Gebildes aus Kugeln und zylindrischen Abschnitten. Das Raumschiff war auf der Oberfläche einer der Eckkugeln abgesetzt
worden. Auf den Schirmen wölbten sich acht weitere Kugelelemente, in Reihen zu je drei Elementen angeordnet. Die letzte, äußerste Kugel war weiter als fünfhundert oder mehr Kilometer entfernt. Die Rundungen und die unzähligen technischen Anlagen auf den gewölbten Flächen lagen im Licht der blauen Sonne. Schließlich sagte Hage kopfschüttelnd: »Erstaunlich. Kaum habe ich einmal die SOL verlassen, werde ich in einen Strudel sich überstürzender, exotischer Vorgänge hineingerissen.« »Alles, was wir unternehmen und was mit uns geschieht, dient dem Wohl der SOL«, sagte Deccon humorlos. »Da sind sie!« unterbrach ihn Lyta. Sie standen nebeneinander und blickten den Fremden entgegen. Einer der ersten Roxharen trug einen Translator, der so aussah, als stamme er von einem Solaner. Die Eindringlinge näherten sich mit feuerbereiten Waffen. Erst als sie sahen, daß sich die Solaner nicht zu wehren beabsichtigten, senkten die meisten die Mündungen. Aus dem Translator drang, nachdem die Solaner eine schnelle Folge tiefer und sozusagen zwitschernder Laute gehört hatten, mit wenig Verzögerung die erste Aufforderung: »Gebt die Waffen ab. Wir bringen euch ins Ysterioon. Seid ihr die einzigen Lebewesen an Bord?« Deccon gab einem nähereilenden Roxharen mit auffallend rötlichem Fell zwischen den Ohren und über der schwarz glänzenden Nase den Zweihandstrahler, den er noch nicht benutzt hatte. Der Roxhare im Raumanzug nahm ihm auch den Blaster ab. Den Paralysator hatte Deccon im Ärmel versteckt. »Außer uns befinden sich nur Roboter im Schiff«, gab Deccon zur Auskunft. Etwa zwanzig Roxharen umringten die Solaner. Schweigend sahen sich die großen Fremdwesen in der verwüsteten Zentrale um. »Habt ihr Raumanzüge?« lautete die nächste Frage.
»Wir werden einige Raumanzüge im unteren Schleusenraum finden«, entgegnete Nockemann. Er stellte fest, daß einzelne Roxharen größer als zweieinhalb Meter waren. Die Raumanzüge dieser Riesen ließen sie noch größer und länger gestreckt erscheinen. »Was habt ihr mit uns vor?« fragte Lyta, während auch sie entwaffnet wurde. Die Roxharen beschränkten sich auf eine oberflächliche Kontrolle. Deccon hoffte, daß auch Lyta und Hage wenigstens eine Waffe behielten. Er konnte nichts erkennen, weil ihn die Wesen umgaben. Unter den Helmscheiben drehten sich die kleinen, runden Ohren der Roxharen unruhig hin und her, klappten nach vorn oder legten sich flach an den fellbedeckten Schädel an. Fast jeder der Raumfahrer hatte eine andere Tonung des struppigen Fells; ein Anführer besaß ein fast silbergraues Fell. »Ihr werdet befragt. Eure Antworten und die ihnen innewohnende Wahrheit entscheiden über euer Schicksal«, lautete die Antwort aus dem Translator. Seltsamerweise wirkten die Roxharen für alle drei Solaner deutlich, als ob sie Erfahrungen mit Menschen hätten sammeln können. Einer der Anführer winkte und deutete auf den Ausgang. »Bringt sie dorthin, wo sie erwartet werden. Wir haben im Schiff zu tun.« Die roxharischen Raumfahrer gehorchten und bewegten sich schnell und diszipliniert. Je drei eskortierten die Solaner auf dem schnellsten und direkten Weg durch das teilweise verwüstete Schiff und blieben in der Polschleuse stehen. »Sucht eure Raumanzüge!« kam es von einem der Wartenden. Zwischen den ausgeglühten Bruchstücken von Kampfrobots und den Spuren eines schnellen, siegreichen Kampfes bewegten sich die Solaner zu den Vorratsfächern und entdeckten nach kurzer Suche drei Raumanzüge. Selbst Chart Deccon fand ein Modell, das ihm paßte und mit den notwendigen Energievorräten versehen war. Schweigend halfen sich die Menschen gegenseitig und schalteten die Innenversorgung ein. Flüsternd wechselten sie einige Worte.
Lyta erkundigte sich schließlich laut: »Sollen wir die Helme schließen?« »Wir warten darauf.« Sie gingen auf die Schleusentür zu, schlossen den Helmteil und schalteten gleichzeitig die Funkgeräte ein. Deccon, und nicht nur er, hoffte, daß sie Gelegenheit haben würden, im freien Weltall einen Funkspruch an Atlan absetzen zu können. Innerhalb des Schiffes konnten nur sie sich selbst unterhalten – die Metallmasse verhinderte einen Kontakt mit einem Schiff, das sich jenseits der Wände befand. »Dorthin!« Sicherheitshalber hatten sie auch die Außenmikrophone eingeschaltet und hörten den Befehl der Roxharen. Schnell wechselten sie noch einige Sätze. Lyta sagte: »Wir verhalten uns am besten wie drei ahnungslose Solaner, die Atlan und die SOL suchen. Auf diese Art können wir uns kaum widersprechen, selbst wenn wir getrennt verhört werden.« »Einverstanden«, antwortete Deccon. »Hat jeder von euch wenigstens noch eine Waffe verstecken können?« »Ich habe den Paralysator«, meldete sich Hage. »Und Lyta besitzt den Thermostrahler noch.« »Das Schiff sieht schlimm, aus.« »Und sonderlich redselig sind die Roxharen auch nicht«, stellte Lyta fest. »Ich habe das Funkgerät justiert und sende, sobald wir im freien Weltraum sind.« »Gut!« entschied Deccon. Roxharen und Solaner zwängten sich in die Nebenschleuse. Das innere Portal schloß sich, das äußere öffnete sich – und im Schleusenhangar schwebte, mehrere Handbreiten über dem Boden, ein windschlüpfrig gebautes Gefährt; ein Gleiter, der gleichermaßen als Raumfähre und Transportmittel in luftgefüllten Räumen, also innerhalb des Ysterioons zu gebrauchen war. Die Türen waren
offen. Zwei Roxharen standen mit feuerbereiten Waffen daneben, einen dritten erkannten die Solaner hinter der Steuerung. Sie wurden schnell zum Gleiter geführt, und man bedeutete ihnen, einzusteigen. Sie nahmen auf Sitzen Platz, die für körperlich größere und gleichzeitig schmalere Wesen entworfen worden waren. Unterdrückt fluchte Deccon: »Du kannst es versuchen, aber Atlan wird deinen Sender nicht empfangen können.« »Wahrscheinlich nicht«, gab Lyta zurück. Die Türen schlossen sich, und die schweigsamen Roxharen umgaben die Solaner, während der Gleiter sich summend hob. Das äußere Schleusentor glitt auf. Die Maschine, mehr als fünfzehn Meter lang und etwa vier Meter an der dicksten Stelle breit, schwebte nach vorn und kippte. Sie steuerte in etwa fünfhundert Metern Entfernung eine hell erleuchtete Öffnung in der kaum wahrnehmbaren Rundung der riesigen Kugel an. Die Sendetürme, Antennen oder Geschütze, oder worum es sich sonst handeln mochte, wirkten wie kleine, aus gezacktem Metall bestehende Berge. Der Gleiter setzte seine Geschwindigkeit herauf. Die Solaner blickten fasziniert aus den langgezogenen, schmalen Sichtluken und staunten. Minuten später senkte sich der Gleiter in eine Schleuse. Die Portale glitten lautlos zu. Die Maschine drehte sich, schwebte auf ein Innenportal zu und hindurch, als sich die Türen wieder öffneten. Ein Korridor, der vergleichsweise riesige Dimensionen hatte und kalt, technisch eingerichtet und scheinbar endlos wirkte, öffnete sich vor den erstaunten Solanern und den schweigenden Roxharen. Der Gleiter wurde schneller und jagte diesen Korridor entlang. »Eines ist sicher«, sagte Chart Deccon finster, während er die Innenversorgung des Raumanzugs abschaltete und den Helm zurückklappte, »Atlan finden wir hier nicht. Wir müßten Jahrhunderte lang suchen.«
Schon die SOL war ein gigantischer Raumkörper. Aber das Ysterioon war um ein Vielfaches größer – und sicher ebenso verwirrend ausgestattet. Die Roxharen schwiegen und betrachteten aus winzigen, blitzschnell huschenden Augen den großen Solaner mit den wulstigen Lippen und den aufgedunsenen Gesichtszügen. 2. Der Gleiter schien einige Stunden lang unterwegs gewesen zu sein. Mindestens zehnmal war er auf ein anderes Deck, höher oder tiefer als der helle riesige Korridor übergewechselt. Die Roxharen hatten ebenso wie die Solaner ihre Raumanzüge geöffnet, zeigten aber keinerlei Entspannung. Keiner von ihnen sprach. Die Solaner bemerkten jedoch, daß die Roxharen miteinander kommunizierten: sie fletschten die Schneidezähne, öffneten den Mund, der demjenigen einer riesigen, etwas vermenschlichten Ratte entsprach, drehten die Ohren nach vorn und spielten auch mit den winzigen Muskeln der Fellhaare, die sich flach anlegten oder teilweise sträubten. Deccon hatte keinen zweiten Translator sehen können – was nicht bedeutete, daß es keine eingebaute oder versteckte Übersetzungsanlage gab! – und riskierte einen Einwurf. »Ich bin der Meinung, daß die Roxharen nicht wollen, daß man uns sieht. Deswegen die große Eile.« »Überdies scheinen sie auch nicht zu wollen, daß wir von ihnen Informationen aufschnappen. Sonst würden sie wohl mit uns plaudern«, antwortete Lyta Kunduran. »Abwarten«, brummte Hage und lehnte sich zurück. Chart Deccon schwieg und verarbeitete zahllose neue Beobachtungen. Was sie bisher vom Ysterioon hatten sehen können, drängte ihm
eine klare Meinung auf. Dieses riesige Bauwerk war sicher grundsätzlich nicht dafür gebaut worden, daß es Intelligenzwesen als Heimat oder als Aufenthaltsort für längere Zeit dienen sollte. Wenn dies trotzdem zutraf, dann kannten die Roxharen und die Ysteronen nichts anderes als kalte, wesenlose Technik. Die gesamte Inneneinrichtung war zweckmäßige, aus geometrischen Elementen zusammengesetzte Großtechnik. Alle Korridore, die Rampen und die riesigen Schotte, Beleuchtungseinrichtungen, Abzweigungen und alle anderen Teile innerhalb des Ysterioons – sie wirkten, als wären sie für Roboter entworfen worden. Verglichen mit diesem Ort hier war die SOL geradezu ein gemütliches Heim für gemütvolle Wesen. Der Gleiter verringerte seine Geschwindigkeit, sank um eine Ebene tiefer und hielt vor einem kantigen, glatten Schott. Die Roxharen brachten die Terraner in einen Raum hinter dem Schott. Dort wurden sie allein gelassen. »Richtig gemütlich hier«, stellte Hage Nockemann fest und schaute sich um. Lyta begann, den Raumanzug abzustreifen. »Roxharen, Ysteronen …«, murmelte sie und versuchte ebenfalls, Ordnung in ihre Beobachtungen und Gedanken zu bringen, »mir scheint, daß die Roxharen hier im Ysterioon die Rolle von versteckten Eindringlingen spielen.« »Das würde manches erklären«, brummte Hage. »Ich rechne damit, daß wir hier einige Zeit verbringen werden.« Er nahm den Translator vom Handgelenk, ehe er seinen Raumanzug auszuziehen begann. Nach einigen Minuten standen die Solaner wartend und abermals verunsichert da. Der Raum hatte vier Wände aus hellem Metall, nur von Leuchtelementen, Lüftungsöffnungen und wenigen Schaltelementen unterbrochen. Die Schalter befanden sich, wie auch die Bedienungsgriffe der Schleuse, in auffallend großer Höhe – sie waren für Ysteronen eingerichtet worden. Aber bei genauem Hinsehen sahen die Solaner
an einigen Stellen einen zweiten Satz von Schaltern. Es mußten Einrichtungen sein, die von Robotern oder anderen, kleinwüchsigeren Helfern benutzt wurden. »Wir haben keinen einzigen Ysteronen gesehen!« meinte Deccon nachdenklich. »Noch nicht.« Deccon war ziemlich sicher, daß es in diesem riesigen Raum ohne jedes Möbelstück keine Linsen, Kameras oder andere Überwachungsgeräte gab: Seine tiefliegenden grauen Augen suchten Wände und Decken ab. Es gab auch keine eingelassenen Bildschirme. Nur ein Schott, etwas kleiner als der Eingang vom Korridor her, unterbrach mit mehreren Sätzen von Bedienungselementen die gegenüberliegende Wand. »Unhöflich«, knurrte Deccon, »uns so lange warten zu lassen.« Sie hatten seit dem Angriff der Roxharen‐Raumschiffe genügend Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Seltsame Dinge liefen hier ab. Keiner der Solaner erschrak, als ein leiser Gongschlag zu hören war und das Schott sich öffnete. Der Spalt ließ im angrenzenden Raum zwei Gestalten erkennen. Die Solaner bückten sich, befestigten die Translatoren an den Handgelenken und gingen auf einen einzelnen Roxharen zu. Er stand hinter einem Tisch, den ein halbes Dutzend Sessel umgab. Abseits des Tisches schwebte ein kegelförmiger Robot mit vier Armen. Als die Solaner den Roxharen erreichten, schwebte die Maschine davon und räumte die Raumanzüge weg. »Ich bin WyltʹRong«, kam es aus den Translatoren. Der Roxhare, mehr als eineinhalb Köpfe größer, aber viel hagerer als Deccon, zwitscherte und trillerte in dunklen Baßtönen. Die Ohren bewegten sich ruckhaft; offensichtlich ein Zeichen für Aufregung und Unentschlossenheit. »Deine Leute haben unser Schiff gekapert und uns hierher verschleppt«, grollte Deccon. »Was wollt ihr von uns?« »Bist du der Anführer?« wollte WyltʹRong wissen. Aufmerksam
studierten Deccon und seine Schicksalsgenossin den ersten Roxharen, den sie ohne Raumanzug sahen. Er trug keinerlei Kleidung. Sein struppiges, graues Fell war an den Körperseiten bräunlich abgesetzt. Über Hüften, Schenkel und Schultern zogen sich verschieden breite Gürtel aus einem lederartigen Material. Unzählige Taschen, Kammern und Futterale an und in den sich mehrfach kreuzenden Gürteln enthielten eine Vielzahl von Ausrüstungsgegenständen, von denen die Solaner nur einige zu erkennen vermochten. In einer eindeutigen Geste deutete WyltʹRong auf die Sitzgelegenheiten. »Nehmt Platz«, forderte er mit blitzenden Schneidezähnen seines weit aufgerissenen Mundes auf. »Schon gut«, gab Hage zurück. »Euer Schiff ist in dieses System eingedrungen und hat sich dem Ysterioon genähert. Was sucht ihr hier?« wollte der Roxhare wissen. Das Fell des Fremden war an vielen Stellen des Körpers gesträubt, die Fäuste lagen geballt auf der Tischplatte. Die Ohren drehten sich nach hinten und zitterten leicht. »Wir suchen unser Mutterschiff und dessen Kommandanten, einen Mann, der sich Atlan nennt und auffallend weißes Haar hat.« »Es scheint uns, als ob ihr tatsächlich zusammengehören könntet«, wich der Roxhare aus und bewies durch die Antwort, daß er Atlan kannte. »Das riesige Schiff, die SOL‐Zelle‐Zwei, ist kaum zu übersehen!« rief Lyta. »Nichts anderes suchen wir. Ehe wir etwas tun konnten, habt ihr uns gefangengenommen.« Sie waren sicher, daß das roxharische Kommando sich längst wieder irgendwo im Ysterioon versteckte. WyltʹRong riß den Rachen auf und entblößte seine Schneidezahn. »Ich kenne kein riesiges Schiff. Das Raumfahrzeug, das uns bekannt ist, ist nicht größer als jenes, in dem ihr kamt. Die Maschinen sind fast alle ausgeschaltet worden – sie werden euch
nicht mehr helfen können. Sie griffen uns an!« Hage gestattete sich ein kurzes Gelächter. Der Roxhare war der Auffassung, daß jeder Roboter stets einem Intelligenzwesen zu gehorchen hätte. »Du kennst den Chef der Roboter nicht«, sagte Lyta kurz. »Also habt ihr die Roboter nicht angewiesen, mit Waffengewalt gegen uns vorzugehen?« erkundigte sich der Roxhare offenbar verblüfft. »Nein!« Hage Nockemann beugte sich vor, starrte in die kleinen schwarzen Augen des Fremden und fragte scharf betont: »Wo sind Atlan und die Besatzung des Schiffes?« »Ich kann nichts darüber sagen.« »Warum verweigerst du die Auskunft, WyltʹRong? Was ist der Grund dafür, daß ihr die Korvette gekapert und auf der Außenseite einer von siebenundzwanzig Kugeln verankert habt?« »Ich darf euch darüber keine Auskunft erteilen.« Die Roxharen kannten also Atlan. Der Arkonide war offensichtlich nur mit einer Korvette in die unmittelbare Nähe der Roxharen vorgestoßen. Die drei Solaner würden auch nichts über den Verbleib des Schiffes erfahren. »Welche Aufgaben haben die Roxharen im Ysterioon?« wollte Deccon wissen. Der. Rattenköpfige zeigte sich kaum beeindruckt von dem Koloß mit der dunklen, polternden Stimme. »Es sind Arbeiten von größter Wichtigkeit«, lautete die ausweichende Auskunft. »Das zweifeln wir nicht an – wir erteilen Auskünfte ebenso gern wie du. Da von dir nichts sonderlich Aufschlußreiches zu hören war, ziehen wir es vor, ebenfalls …« Deccon unterbrach sich und starrte zuerst den Roxharen an, dann warf er funkelnde Blicke in Lytas wächsernes Gesicht. »Was ist das?« Lyta und Hage schüttelten kurz die Köpfe. Sie spürten und
merkten es auch. Plötzlich, wie ein jäher Kopfschmerz, waren sie von einem starken mentalen Druck überfallen worden. Es war kein Schmerz, aber in den Köpfen schien sich ein dumpfes Dröhnen auszubreiten wie eine seltsame Musik. War es eine Stimme? Keinem der drei Solaner kam der Gedanke, daß es ein gegen sie gerichteter Angriff sein konnte. Sie hörten weder Worte, noch spürten sie unerklärliche Zwänge. Einige Minuten lang schwoll der Druck an, ließ nach . und kam wieder. War es eine Botschaft, die von den Solanern weder empfangen noch richtig geahnt werden konnte? Der Roxhare stand abrupt auf. Er senkte den Kopf, legte die Ohren fest an, und kleine Schauer liefen über das Körperfell zwischen den gekreuzten Gurten. »Vorläufig unterbreche ich die Befragung«, sagte der Translatorlautsprecher, nachdem das murmelnde Zirpen aufgehört hatte. »Roboter werden euch ein ruhiges Quartier anweisen.« »Wir danken herzlich«, sagte der Galakto‐Genetiker. Die dünnen Finger der zierlichen Hände bewegten sich unter der Haut und dem Haarpelz, der auf dem Handrücken hellgrau, fast silbergrau war. Die Fingerkuppen spielten auf winzigen Knöpfen einer Schaltbox. Sekunden später glitt das Schott wieder auf. Drei Robots kamen herein. Ihre Konstruktion war keineswegs ungewöhnlich und schien, falls es echte roxharische Maschinen waren, typisch für ein Sternenvolk zu sein, dessen Individuen größer waren als zweihundertfünfzig Zentimeter. Die Maschinen waren nichts anderes als schwebende Kugeln mit vier nischenähnlichen Vertiefungen, in denen sich metallene Tentakel zusammengerollt hatten. Um das obere Drittel der Kugel, unterhalb der Kalottenschnittlinie, saßen Linsen, Mikrophone, Lautsprecher und dicke Kabelstücke, die aussahen wie verschiedenfarbige Adern oder Nerven. »Bringt sie zu Punkt vier«, sagte der Roxhare, zu den Maschinen gewandt. »Sie dürfen sich innerhalb der von mir festgelegten
Grenzen frei bewegen.« Die Maschinen stießen synchron ein bestätigendes Summen aus. Je zwei Tentakel rollten sich auf, faßten nach den Solanern und zogen sie in den Raum, den die Gefangenen zuerst betreten hatten. Im Boden senkte sich eine Platte, schätzungsweise vier mal acht Meter groß. Fast geräuschlos kippte sie an einem Ende abwärts, und als der Zwischenraum mehr als zwei Meter zwischen dem Boden und der Oberkante der kippenden Fläche betrug, hielt die Bewegung an, und der Raum unterhalb des zuerst betretenen Raumes erhellte sich. »Ein neuer Abschnitt unseres Abenteuers!« sagte Lyta zögernd. »Ganz etwas anderes als im Innern der SOL.« »Möglicherweise ebenso gefährlich«, pflichtete ihr Deccon bei und dachte in einem plötzlichen Aufruhr entsetzter Erinnerung an die Frauen, an die Zeit seiner in die Irre geführten Verliebtheit – und an die schauerlichen Ergebnisse dieser Zeit. Er würde am liebsten alles vergessen und vermochte es nicht. »Etwas ganz anderes«, meinte Hage und ließ sich von der Maschine abwärts ziehen. Die Solaner gelangten in einem Raum, der rund dreißig Meter hoch und nicht breiter als acht, zehn Meter war. Dieser merkwürdige Korridor begann am anderen, unteren Ende der schrägen Rampe und führte … irgendwohin. Es ging etwa zweihundertfünfzig Meter weit durch den hohen Schacht. Der Tunnel führte geradeaus. Dann, als die Solaner sich angesichts der völlig glatten Wände und des hellen, leicht federnden Bodens zu fragen begannen, wohin der Weg führte, öffnete sich abermals eines der Schotte. »Wohin bringen uns die Kugeln?« fragte sich laut Chart Deccon. »Zweifellos in ein Gefängnis. Selbst wenn es komfortabel sein sollte, bleibt es eine Gefangenenzelle«, antwortete Hage. Hinter dem Schott erwartete sie eine Überraschung. Die Roboter zogen sie weiter vorwärts. Sie befanden sich auf einer Kanzel oder Terrasse, die sich über einem bunten, verwirrenden
Bild erhob. Atemlos stieß Lyta hervor: »Ein riesiger Park! Das sieht aus wie eine natürliche Landschaft.« Deccon spürte, wie der Robot seinen Unterarm losließ und den Tentakel einrollte. Die Maschine hielt an und schwebte regungslos in der Luft. Die drei Solaner betrachteten faszinierend das gewaltige Panorama, das sich vor ihnen ausbreitete. Sie merkten nicht, und hätten sie es bemerkt, würde es sie kaum interessiert haben, daß die Maschinen sich leise summend zurückzogen und sich das Schott wieder schloß. »So ähnlich muß einmal«, sagte Deccon und blickte über die grüne, hügelige Landschaft hinweg, »der Erholungsbezirk in der SOL ausgesehen haben.« »Nur viel kleiner!« schränkte Lyta ein. Der »Himmel« über den Hügeln, kleinen Seen, Flüssen und Felsen, Wäldern und Weideflächen schien das Innere einer der siebenundzwanzig Kugeln zu sein. Sie war kalt blau gefärbt, ähnlich dem Licht der Sonne dieses Systems. Der volle Durchmesser einer der siebenundzwanzig Kugeln betrug hundertfünfzig Kilometer. Von der Stelle aus, an der sich die Gefangenen befanden, bis zum gegenüberliegenden, nicht mehr sichtbaren Punkt der Polkalotte betrug die Entfernung in Luftlinie rund hundert Kilometer! Deccon zeigte auf eine schmale Treppe, die von der weit vorspringenden Terrasse abwärts führte. Die untersten Stufen mündeten in eine Sandfläche. Im Sand waren die Spuren kleiner Tiere zu sehen. »Das Ysterioon ist für Ysteronen gebaut worden, möglicherweise auch von Ysteronen. Es liegt nahe«, sagte Deccon nach einer Weile, in der er die Landschaft und das grelle Pseudo‐sonnenlicht der Decke studiert hatte, »daß diese Landschaft eine Art Traum darstellt, einen Spiegel des Planeten, von dem die Ur‐Ysteronen stammen. Oder sie ernten hier, falls sie Pflanzen zur Ernährung brauchen.«
»Auch das ist möglich«, sagte Lyta. Sie waren Gefangene, selbst wenn unzählige Quadratkilometer leerer, grüner Landschaft unter grellem Sonnenlicht sich vor ihnen erstreckten. Irgendwo gab es eine Windmaschine oder eine Turbine, denn die Zweige und Äste der Bäume bewegten sich einmal an dieser Stelle, dann wieder an der anderen. »Es muß einen bestimmten Grund haben, das alles«, meinte Lyta etwa fünf Minuten später. »Dort hinten sind Zimmer. Zimmer, keine Hallen für Ysteronen. Ich habe Möbel darinnen gesehen, die für Roxharen gebaut wurden und auch uns reichen werden.« »Diese Roxharen haben sich überall dort eingenistet, wo sie nicht gesehen werden können«, gab Hage zurück. »Die kleineren Räume sind umgebaut worden. Ohne viel Aufwand. Du hast recht – wir sind Gefangene.« »Wie lange?« »Ich denke, das wissen nicht einmal die Rattengesichter.« Die Lage war verwirrend und ließ sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht klären. Schweigend und nachdenklich betrachteten die Solaner die Kunstlandschaft. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren noch zuviele Fragen offen. Was hatten die Roxharen‐Kommandos hier zu suchen? Warum war die SEARCHER hierher geschleppt worden? Wo waren Atlan, die andere Korvette und die SZ‐2? Was hatte jene mentale, überaus deutliche Aufforderung bedeutet? Chart Deccon wandte sich ab und streckte seinen Arm aus. Er dachte an die Ausrüstung, die er versteckt an seinem Körper trug. Er deutete auf die offenen Räume, die mit Rox‐haren‐Möbeln ausgestattet waren. »Erholen wir uns ein wenig«, schlug er vor. »Wenn es die Roxharen für richtig halten, werden sie uns sicherlich zu finden wissen. Der Versuch, Atlan zu finden, können wir hier im Ysterioon vorübergehend vergessen.« Sie versuchten nicht einmal, aus den vier kleinen Zellen zu
entkommen. Auch die Möglichkeit, zu flüchten und sich in der Kunstlandschaft zu verstecken, führte zu nichts. Sonst hätte WyltʹRong sie nicht hierher bringen lassen. Kontrollierten die wenigen Roxharen etwa das Innere des Ysterioons? 3. Die weichen Sohlen der vier Säulenbeine, die an den Ecken eines Quadrats angeordnet waren, erzeugten auf dem glatten Bodenbelag des Ganges leise, schmatzend‐schlurfende Geräusche. Das riesige Wesen war unglücklich, unzufrieden, fast verzweifelt. Aus dem Oberteil des Rumpfes, aus dem die beiden ungewöhnlich kurzen Arme hervorwuchsen, wuchs auf dem stämmigen Hals auch der Kopf. Er wirkte verblüffend menschenähnlich. Humanoid war auch der Blick der großen, traurigen Augen. Girgeltjoff, der Ysterone, tappte durch den leeren Korridor und versuchte, seine innere Unruhe zu betäuben. Zwanzig Meter vom glatten Boden entfernt suchten die Augen im Korridor herum. Girgeltjoff wußte selbst nicht was er suchte. Der wuchtige Oberkörper des Ysteronen pendelte in den Bewegungen der riesigen Beinsäulen hin und her. Girgeltjoff, der Abtrünnige, war ratlos. »Ich muß mit Atlan sprechen«, sagte er zu sich und wußte, daß alle anderen Ysteronen ihn nach Möglichkeit mieden. Sie bezeichneten ihn als Überläufer. Aber sie wußten, daß sein in ihren Augen merkwürdiges Verhalten nichts anderes war als ein ganz individueller Ausdruck der Scham. Dieser Zustand beherrschte sein Volk, und deshalb brauchte er keine weiteren Einschränkungen oder gar Angriffe der anderen zu fürchten. Um mit Atlan sprechen zu können, brauchte er ein Funkgerät. Er wußte, daß es innerhalb des Ysterioons mehrere Geräte und Stationen für den Funkverkehr gab. Also mußte er ein solches Gerät finden. Seit langer Zeit wanderte er in einsamer Isolation durch das Ysterioon.
Die ungeheure Ausdehnung der Anlage machte ihn mutlos, obwohl die Geschwindigkeit, mit der er durch die Korridore, jene unzähligen Säle und leeren Räume wanderte, keineswegs gering war. In Schlangenlinien bewegte sich Girgeltjoff um die Grenzen der Tabuzone. Er näherte sich ihr, entfernte sich auf seiner Suche wieder, sah einmal einen anderen Ysteronen und verzichtete darauf, ihn zu fragen. Außerdem war der andere Ysterone ein Nickel‐ Abhängiger. Er selbst hielt sich zwar nicht für einen besonders klugen oder tüchtigen Vertreter seines Volkes. Aber der Umstand, daß er das Nickel nicht brauchte, hob ihn zweifellos aus der Masse der anderen heraus. Nur – auf welche Weise war er … anders? Girgeltjoff stapfte weiter durch die Korridore. Etwa zwei Stunden später kam er wieder an die Grenze der Tabuzone. Er hielt an und drehte suchend den Kopf. Dann streckte er die Hand aus und drückte einen Kontakt. Ein schmales Schott glitt geräuschlos zur Seite. Girgeltjoff hatte einen Alarm erwartet oder ein scharfes Signal, denn irgendwo in dieser Tabuzone waren Sanny und Argan U gefangen. »Falls sie überhaupt noch am Leben sind«, murmelte Girgeltjoff. Er erkannte, daß er sich in einem Magazin befand, in einer mit selbständig funktionierender Technik ausgestatteten Anlage. Durch die hundert unterschiedlichen Arbeitsgeräusche des Raumes hörte Girgeltjoff eine leise, aber unüberhörbare Stimme. Seine Augen musterten die Fronten der eingebauten Geräte. Kleine Bildschirme zeigten Ansichten von anderen Räumen der Tabuzone, die er ebenso wenig kannte. Dann tauchte auf einem Monitor das Bild einer Korvette auf, eines Raumschiffs, wie es Atlan benutzt hatte. Der Kommentator sagte einem weit entfernten Teilnehmer, daß eine zweite Raumschiff‐Einheit das Ysterioon erreicht hatte. Helfer aus der Tabuzone, vermutlich waren dies Roboter, führte der Sprecher aus, haben drei Wesen aus dem Schiff geholt und ins Ysterioon gebracht. Sie sollten verhört werden und wurden daher gefangengehalten – bis auf weiteres. »Vermutlich hält man sie in der Tabuzone fest«, sagte Girgeltjoff im Selbstgespräch. Er versuchte,
noch mehr Informationen zu bekommen. Aber alle Geräte zeigten nur Einzelheiten, die in diesem Zusammenhang für Girgeltjoff unwichtig waren. Unruhig bewegte er seine Beine und hütete sich, einen Schalter oder Regler zu berühren. Es war gefährlich, sobald er sich der Tabuzone näherte. In diesem Raum gab es kein Gerät, mit dem er Atlan anfunken konnte. Trotzdem mußte er in die Tabuzone eindringen und mit den Ysteronen, die sich dort aufhielten, Verbindung aufnehmen. Er blieb noch eine Weile in dem kleinen Saal voller Nachrichtentechnik, aber dann entschloß er sich, ihn zu verlassen. Als er sich wieder auf dem Korridor befand und darüber nachdachte, wie er am schnellsten und unbeobachtet in die Tabuzone eindringen konnte, sah er an beiden Enden des Ganges die Gestalten anderer Ysteronen. Sie starrten über die gesamte Länge des Verbindungsganges mißtrauisch zu ihm her. Girgeltjoff reagierte schnell. Er orientierte sich an den Ziffern und Symbolen an den Wänden, warf seinen Körper herum und lief eine schräge Rampe hinunter. Sie führte geradeaus und endete schließlich vor einem gläsernen, durchsichtigen Schott. Er stieß das Schott auf und befand sich am Rand des Erholungsgebiets. Ebenso plötzlich fiel ihm ein, daß er Hunger hatte. An den Bäumen dort vorn würde er zweifellos Früchte finden, mit denen er seinen Hunger stillen konnte. Er setzte sich in Bewegung und rannte auf das erste Wäldchen zu, einen Abhang schräg hinunter und durch einen flachen Bach, dessen Wasser bis zu seinen Knien hochspritzte. Das riesige Lebewesen rannte durch ein Stück Natur, dessen Anblick Girgeltjoff seltsam berührte. Er sagte sich, daß bei der Anlage des Ysterioons die Erbauer daran gedacht haben mochten, Pflanzen und Oberflächengestaltung des Heimatplaneten zu verwenden. Diejenigen Ysteronen, die sich hier aufhielten, sollten einerseits wohl an die Heimat erinnert werden, andererseits gestaltete sich durch die fruchttragenden Bäume die Versorgung mit Nahrungsmitteln weniger problematisch. Girgeltjoff wußte nicht, ob diese Grünzone im Ysterioon einzigartig war, oder ob es mehrere
davon gab. Er vermochte sich aber auszurechnen, daß sich dieses Stück falsche, aber wirkungsvolle Natur unter dem Licht von Sonnenlampen in der Zentrumskugel des Oktogons befand. Also unmittelbar an der Grenze der Tabuzone. Girgeltjoff versuchte, sich ungesehen auf einen anderen Ausgang zuzubewegen. Die Anlage war von gigantischer Ausdehnung. Mühelos konnte er sich hier verirren. Und er hatte keineswegs die Absicht, aufzugeben. Er pflückte die Früchte von den mehr als dreißig Meter hohen Bäumen, rieb die gelben, ballartigen Schalen an der rauhen Kleidung seiner Ärmel glatt und aß sie. Seit Girgeltjoff Atlan kennengelernt hatte und die anderen Wesen in seiner Begleitung, hatte sich für den Ysteronen das Spektrum seiner Probleme stark verändert. Trotzdem vermochte er noch nicht, ein Ziel seines Handelns deutlich zu erkennen. Er bewegte sich von Teilziel zu Teilziel. Er wußte, daß seine Motivation nicht ausreichte. Auch er besaß viel zuwenig Informationen. Anderen Ysteronen erging es nicht anders, aber sie waren vom Metall abhängig. Jetzt, nachdem er die Verfolger oder Beobachter abgeschüttelt hatte, faßte er zögernd den Entschluß, in die Tabuzone einzudringen. Versteckt im dichten Grün der Anpflanzung erholte sich Girgeltjoff, schlief ein paar Stunden und war, als er wesentlich zielbewußter wieder aufbrach, erholt und gleichermaßen voller Entschlossenheit. Er mußte versuchen, mit den drei Gefangenen Verbindung aufzunehmen. Sie gehörten mit größter Sicherheit zu Allans Freunden. Sie würden ihm helfen können – aber zuerst mußte er ihnen helfen. Girgeltjoff machte sich auf den Weg in die Tabuzone. *
An einer anderen Stelle und unbeobachtet, wie er hoffte, verließ der Ysterone die lichtdurchflutete Grünzone. Er öffnete ohne Schwierigkeiten die große gläserne Tür und tauchte wieder ein in die kühle, klimatisierte Luft der unzähligen Korridore im Innern des Kugeloktogons. Immer wieder blieb Girgeltjoff stehen und schaltete die Kommunikationsgeräte ein. Einige Kombinationen dieses Sektors hatte er inzwischen kennengelernt. Er schaltete sich in zahllose Unterhaltungen ein, die im Bereich des Ysterioons geführt wurden – an welchen Stellen sich die Gesprächspartner befanden, vermochte er nicht einmal zu ahnen. Einmal sah er einen Gleiter, dessen Scheiben undurchsichtig waren. Das Gefährt jagte leise summend durch einen Korridor und verschwand hinter einem Schott, das die Zeichen der Tabuzone trug. Ein anderesmal sah Girgeltjoff die Korvette, mit der die drei Gefangenen gekommen waren. Das Raumschiff hing in einem Fesselfeld an der Außenseite einer der Kugeln. Welches Kugelelement es war, vermochte der Ysterone nicht zu sagen – aber es war auf keinen Fall die Zentralkugel mit ihrem weitaus größeren Durchmesser. Nur akustisch erfuhr er, daß es sich tatsächlich um drei Wesen handelte, die sich »Solaner« nannten. Die Gewißheit, daß es sich um Freunde Atlans handelte, wurde stärker. Girgeltjoff versuchte unbeirrbar, dem Zentrum näher zu kommen. Er vermied offene Korridore und schlich durch verlassene Räume, tastete sich durch riesige Materialstapel in verschiedenen, oftmals dunklen Magazinen und las jeden einzelnen Hinweis an den Korridorwänden. Nur noch eine geringe Distanz trennte ihn von dem Rand der Tabuzone. Als Girgeltjoff weiter vordrang, dachte er nicht nur an die drei neuen Gefangenen, sondern auch an die beiden zwergenhaften Fremden Sanny und Argan U. Der nächste Raum war voller Roboter.
Noch ehe die Maschinen ihn bemerken und ihre Konsequenzen gegenüber einem Eindringling in die verbotene Zone fassen konnten, schloß er das Schott wieder und flüchtete auf ein tiefer gelegenes Deck. Raumschiffe und Raumstationen, sagte er sich, bestanden aus einer Aneinanderreihung von Hohlkörpern: von eckigen oder runden, geraden oder gekrümmten Korridoren, von kleinen oder großen würfelförmigen Kabinen, von Kugeln, Hohlkugeln und anderen geometrischen Formen, die den Konturen der Raumkörper angeglichen waren. Ausgerechnet hier im Ysterioon, dem wichtigsten stellaren Bauwerk der Ysteronen, ähnelte ein Abschnitt dem anderen so stark, daß es Schwierigkeiten gab, sich zurechtzufinden. Vielleicht war dies an den anderen Stellen der Konstruktion ganz anders – hier jedenfalls herrschten kühle, technische Formen und ein Minimum an Farben vor. Wieder las er einige Beschriftungen und drang durch einen schnurgeraden Korridor vor. Er öffnete ein Schott der rechten Wand. Durch einen leeren Raum blickte er auf eine transparente Scheibe und sah dahinter wieder den Erholungsbezirk, jene hügelige, wasserreiche Landschaft im grellen Sonnenlicht. »Wie komme ich hierher?« fragte er sich und versuchte, seinen Weg zu rekonstruieren. Er sah ein, daß er entlang der Krümmung gesucht hatte, wobei sein Weg dreidimensional verlaufen war; geradeaus, abwärts und aufwärts und immer wieder in rechten Winkeln zur Geraden. Er wußte jetzt, wo er war. Ein nächstes Schott schob sich auf. Zu seiner Verwunderung blickte er in abgeteilte Räume, die zwar aus Wänden und Türen bestanden, aber keine Decke besaßen. Räume für weitaus kleinere Lebewesen. Kaum hatte er diesen Gedanken gefaßt, sah er auch schon in den abgedunkelten Räumen kleine Möbelstücke stehen. Sie wirkten auf ihn wie Kinderspielzeug.
Hier war das Gefängnis der Solaner! Er tappte näher heran, beugte seinen breiten Oberkörper und, blickte aus der Höhe seiner knapp zwanzig Meter hinunter auf die drei Gestalten, die auf den ausgeklappten Liegen zu schlafen schienen. In einer schnellen Bewegung schaltete Girgeltjoff den Translator ein, den er schon oft benutzt hatte. »Erschreckt nicht«, sagte er langsam und horchte auf den Klang der Übersetzung, die aus dem Lautsprecher auf die Gefangenen hinunterdröhnte. »Ich bin ein Freund Atlans. Nun, vielleicht nicht gerade ein Freund, aber einer, auf den er sich verlassen kann. Seid ihr von der SOL?« Die Gefangenen bewegten sich schnell, sprangen auf den Boden und griffen nach ihren Waffen. Einer der drei war ein riesenhafter »Zwerg«, die anderen waren kleiner. Ihre Körper und ihre Bewegungen entsprachen denen Atlans und denen seiner solanischen Partner. »Keine Angst, ich bin Girgeltjoff. Ich bin gekommen, um euch zu befreien. Es eilt – folgt mir. Ich bringe euch an einen sicheren Platz.« Der größte, dunkel gekleidete Mann rief zu ihm hinauf: »Wir sind von der SOL. Wo ist Atlan? Wir suchen ihn auch.« Girgeltjoff wartete die Übersetzung ab und betrachtete ununterbrochen die drei Gefangenen. Dann gab er zögernd zurück: »Ich weiß es nicht. Wir befinden uns in der Tabuzone. Folgt mir – ich bringe euch an einen sicheren Platz.« Inzwischen hatten seine langen Wanderungen und die Suche einen deutlichen Erfolg gezeitigt. Der Ysterone vermochte, nahezu jeden Raum an dieser Tabuzonen‐Grenze eindeutig zu identifizieren und in das System rund um die Tabuzone einzugliedern. Schweigend und verblüfft versuchten die Gefangenen ihm zu folgen. Der Ysterone rannte durch die abzweigenden Korridore und stob in seinem seltsamen Galopp eine spiralig abwärtsführende Rampe abwärts. Er wußte jetzt, welches Versteck für ihn und die
Solaner sicher war. Schließlich öffnete Girgeltjoff ein schmales Schott, das in die Versorgungsanlagen der Erholungszone führte. Wärme und dumpfe Luft schlugen den Gefangenen entgegen. Der Ysterone verriegelte den Zugang hinter sich und zeigte mit seinem winzigen Arm zwischen die Röhren und Maschinenblöcke. An einigen Stellen gab es genügend Platz und bessere Beleuchtung. Um die Solaner nicht zu erschrecken, ließ sich Girgeltjoff auf die Knie nieder und hob das Übersetzungsgerät hoch. »Ihr seid aus der SZ‐Zwei?« begann er und verdrängte vorläufig eine Reihe anderer Fragen. »Ja und nein. Wir suchen selbst die SZ‐Zwei«, sagte die junge Frau mit der wächsernen Haut im Gesicht und an den Händen. »Wir suchen Atlan.« »Auch ich will ihn finden«, beteuerte Girgeltjoff. »Seit langer Zeit streife ich hier umher und suche ein Funkgerät.« Girgeltjoff berichtete auf die drängenden Fragen, daß er selbst mit der Korvette DUSTY QUEEN hierher gelangt sei. »Ich habe gehört, daß diese Korvette fliehen konnte«, sagte er schließlich. »Sanny und Argan U müssen nach allem, was ich weiß, in der Tabuzone gefangen sein. Oder sie sind tatsächlich tot.« »Was weißt du von der SZ‐Zwei?« wollte Hage Nockemann wissen. Die traurigen Augen des Ysteronen richteten sich auf sein faltiges Gesicht. »Als ich zuletzt von ihr hörte, befand sie sich auf der Welt Break‐ Zwei.« »Wir kamen mit der Korvette, die man SEARCHER genannt hat. Es ist möglich«, unterbrach Chart Deccon und nannte seinen Namen und seine ehemalige Funktion auf der SOL, »daß sich das Schiff bereits an anderer Stelle befindet. Es waren Roxharen, die uns überfielen, hierher brachten, verhörten und im Gefängnis zurückließen. Was lauft hier eigentlich im Ysterioon?« »Hier herrscht eine ungewöhnliche Aufregung«, gab Girgeltjoff
zu. »Ich kann es nicht glauben. Roxharen? Wie sehen sie aus? Ich frage, um sicher sein zu können. Warum die Besatzung des Ysterioons so aufgeregt reagiert, kann ich euch nicht sagen. Ich bin in gewisser Hinsicht ein Ausgestoßener. Atlan kennt mein Problem.« Lyta schilderte das Aussehen der Roxharen und nannte den Namen WyltʹRongs, der sie erstmals verhört hatte. Daraufhin schilderte Girgeltjoff, was er seit dem ersten Kontakt mit Atlan erlebt und erfahren hatte. »Das alles bedeutet wohl«, sagte nach einem langen Schweigen der Galakto‐Genetiker, »daß ausgerechnet wir vier in die Tabuzone eindringen müssen. Oder sehe ich es falsch?« »Auf alle Fälle müssen wir zuerst ein Funkgerät finden und mit Atlan in Verbindung treten!« erklärte Lyta. Girgeltjoff wußte nichts zu erwidern. Noch während Hage die nächste Frage überlegte, spürten sie wieder diesen starken, ausschließlichen Mentaldruck. Eine ferne Stimme schien zu dröhnen. Was sie sagte oder befahl, vermochten die Solaner nicht zu erkennen. »Die Stimme!« stöhnte Girgeltjoff auf. Deccon griff mit beiden Pranken an seine Schläfen und stöhnte: »Was sagt die Stimme? Wem gehört sie?« Die Antwort des Ysteronen klang ausweichend, aber vielleicht wußte er wirklich nicht mehr. Die drei Solaner hatten ohnehin schon längst erkennen müssen, daß sie sich hier im Zentrum einander widersprechender Entwicklungen und, wenigstens für sie zu diesem Zeitpunkt noch, mitten in zahllosen Geheimnissen befanden. »Es ist der Herrscher über das Ysterioon, so könnte ich die Stimme bezeichnen. Es ist die Wesenheit in der Statue – möglicherweise. Einige von uns sagen, es ist die Stimme unseres schlechten Gewissens, weil wir so viele Welten verwüstet haben. Mich haben die anderen Ysterionen aufgenommen, obwohl ich nicht wie sie abhängig bin. Aber jetzt werden sie mich suchen und verfolgen –
und euch auch.« Die lautlos in den Gehirnen der Solaner donnernde Stimme schien den klaren Ausdruck eines Befehls zu haben, einer dringenden Aufforderung. Ein Befehl an wen? Wer sollte gehorchen? Deccon murmelte: »Wir dürfen getrost annehmen, daß die unverständlichen Befehle lauten: sucht die drei befreiten Gefangenen und haltet sie wieder fest.« »Das ist wahrscheinlich!« Hage nickte mehrmals. »Was sagt die Stimme, Girgeltjoff?« Der Ysterone entgegnete kurz: »Du hast recht, Solaner. Wir sind hier vorläufig in Sicherheit.« »Wie tröstlich«, warf Lyta Kunduran ein. »Also sind wir Verbündete. Die Entwicklung zwingt uns dazu. Unser erster Versuch muß eindeutig das Ziel haben, mit Atlan in Verbindung zu treten. Du mußt uns führen, Girgeltjoff. Wir suchen ein Funkgerät, eine Funkanlage.« »Wenn ich wüßte, an welcher Stelle wir ohne die Gefahr, entdeckt zu werden, ein solches Gerät finden können, wäre das Vorhaben schnell zu lösen.« Hage stieß ein humorloses Lachen aus und rief: »Wir Solaner sind kleiner als die Ysteronen. Wir kommen an Stellen durch, vor denen du zurückbleiben mußt.« »An die Befreiung von U und Sanny brauchen wir im Moment gar nicht zu denken. Noch nicht. Das andere ist vordringlich«, ordnete Deccon ein. »Ich rechne damit, daß Atlan auch auf einen Kontakt mit dir wartet, nach allem, was du uns berichtet hast.« »Damit rechne ich auch!« pflichtete ihm Girgeltjoff bei. Nach einer Weile richtete sich das riesige Lebewesen auf, ächzte und sagte dann stockend: »Bisher ist es mir stets gelungen, die Überwachung durch andere Ysteronen abzuschütteln. Das soll nicht heißen, daß es uns auch weiterhin glückt. Wir müssen noch tiefer in die Tabuzone
vorstoßen.« »Finden wir dort Fungeräte?« »Mit größter Wahrscheinlichkeit. Ich habe unendlich lange Zeit rund um die Tabuzone und an zahllosen anderen Stellen gesucht. Ohne Ergebnis.« »Ich verstehe«, sagte Deccon und schaute sich prüfend in dem großen, tiefgestaffelten Raum um. Hier wurden gewaltige Mengen Energie verbraucht, von der Pumpen betrieben und Leitungen versorgt wurden. Im Hintergrund schienen gigantische Lüfter zu arbeiten. Überall zogen sich Stege und Durchgänge hin, die für Ysteronen gebaut worden waren. In dieser Versorgungszentrale konnten sich die Gefangenen sicher verbergen, aber ein Funkgerät würden sie nicht finden. »Wir sollten aufbrechen«, schlug Lyta drängend vor. »Je eher wir Erfolg haben, desto besser ist es für alle.« »Das ist ein Argument, dem ich nicht widersprechen kann!« Chart Deccon griff nach seiner Waffe und wagte sich ein Dutzend Schritte tiefer inʹ das farbige Labyrinth hinein. Langsam folgten ihm Lyta und Hage. Auch Girgeltjoff setzte sich in Bewegung und registrierte, daß die mentale Stimme wieder schwieg und keine Befehle mehr herausschrie. Aber das würde sich bald wieder ändern. Er wußte es ganz genau. 4. Der Bildschirm flimmerte einmal auf, dann stabilisierte sich das Bild wieder. In dieser Stunde beschäftigten sich nur wenige Insassen der Zentrale mit der Beobachtung der unmittelbaren kosmischen Umgebung. Atlan saß schweigend im Kontursessel. Er beugte sich vor, stützte den Kopf in beide Fäuste und beobachtete eine Gruppe Buhrlos, die sich außerhalb der SZ‐2 bewegten. Sie schwebten zwischen den
größeren Trümmern, dem hauchfeinen, von der fernen Sonne fahl beleuchteten Staubnebel und der Schiffswandung und bewegten sich wie immer entspannt und offensichtlich zufrieden. Sie sind mit größter Wahrscheinlichkeit außer Gefahr, flüsterte der Logiksektor. Atlan hob den Kopf und lächelte versonnen. Obwohl sich die SZ‐2 noch immer im Trümmerring‐Versteck befand, hatte sich die Lage an Bord einigermaßen stabilisiert. Die Buhrlos waren nicht mehr gefährdet, und selbst die Welle von Heimweh nach den beiden anderen Teilen des riesigen Schiffes schien eingedämmt zu sein. Aber dieses Problem war noch nicht völlig aufgearbeitet. Atlan nahm einen Schluck aus dem Kunststoffbecher und streckte die Hand aus. Seine Finger berührten einen Kontakt. Eine Reihe großer Monitoren schaltete sich leise klickend ein. Sieben unterschiedliche Bilder bauten sich auf. »Ortungszentrale!« meldete sich jemand aus den Lautsprechern. Atlan fragte sachlich: »Was gibt es Neues vom Ysterioon?« Mit sämtlichen technischen Möglichkeiten der Fernbeobachtung versuchten die Frauen und Männer der SOLAG – dieser Begriff galt mittlerweile in der SZ‐2 und ganz besonders in Atlans unmittelbarer Umgebung weniger als je zuvor –, das Ysterioon zu durchleuchten, festzustellen, was dort vor sich ging. »Geringe Bewegungen. Bild Eins«, lautete die Antwort aus der Ortungszentrale. »Die Korvette.« Die optische Beobachtung zeigte trotz der großen Entfernung in ausreichender und scharfer Vergrößerung eine der an den Ecken angebrachten Kugeln. Die unzähligen Luken und Schotte, Antennen, Türme, Kanzeln und Vorsprünge lagen im scharfen Licht der Sonne und in abgrundtiefen Schatten. Schweigend und scheinbar voll drohender Überraschungen schwebte das Kugeloktogon dreidimensional vor Atlan, ebenso deutlich war die
Korvette zu erkennen. Auf der Oberfläche der riesigen Kugel bewegte sich nun jenes kleine Objekt, schien abgestoßen zu werden oder von einer Mannschaft gestartet. Langsam schwebte die Korvette radial vom Mittelpunkt weg. »Wurde Energieausstoß angemessen?« fragte Atlan und wandte sich dem Bildschirm der entsprechenden Spektrumsbeobachtung zu. »Nein. Antrieb wurde nicht aktiviert.« Atlan hätte in diesem Fall die Partikelströme aus den Antriebsöffnungen in Falschfarbendarstellung sehen müssen. Tatsächlich! Die Korvette, die von der SOL beziehungsweise der SZ‐ 1 stammte, trieb antriebslos davon. Nacheinander rief Atlan alle verfügbaren Informationen ab. Die Situation wurde nicht klarer. »Was passiert dort drüben?« fragte sich der Arkonide halblaut. In einem ausgeschalteten Schirm, der als Spiegel wirkte, sah er, wie sich die Zentrale zu füllen begann. Breckcrown Hayes blieb dicht hinter Atlans Sessel stehen und legte seine Hände auf die Rückenlehne. Er deutete auf den Schirm der optischen Beobachtung. »Warum versuchst du nicht einen Funkanruf?« »Ich dachte bereits daran«, schloß sich der Arkonide an. »Richtfunkruf. mit überschmaler Bündelung und Kurzkodierung!« »So etwas stellte ich mir vor«, meinte Hayes. »Und falls wir damit keinen Erfolg haben sollten, könnten wir eine Jet ausschleusen und das Schiff kurz untersuchen.« »Einverstanden.« Alles, was Atlan und seine Mannschaft definitiv wußten, trug dazu bei, die Angelegenheit noch schleierhafter zu machen: Eine Zentrale, in der sich der wütende Chart Deccon mit Robotern herumstritt und ihnen vergeblich befahl, ihn ans Funkpult heranzulassen. Und dann das endlose Warten auf Girgeltjoff oder eine Änderung der angespannten Lage.
»Funkzentrale«, sagte Atlan und ordnete an, was zu geschehen hatte. »Führt den Funkspruch sofort aus.« »Wir senden und bleiben auf Empfang.« Es dauerte nur einige Minuten, in denen sich die Korvette weiter vom Kugeloktogon entfernte. Das Raumschiff hatte bereits schwache Eigenrotation angefangen und taumelte, sich drehend, durch das leere All. Dann zuckte der scharf gebündelte Funkanruf hinüber. Der Text war bewußt kurz gehalten. Hier Atlan. Sofort melden! Schweigend und konzentriert warteten die Solaner in der Zentrale. Die Empfänger waren auf höchste Empfindlichkeit geschaltet. Aber selbst nach einer Wartezeit von einer Viertelstunde erfolgte weder eine Antwort noch eine andere Reaktion von der Korvette oder aus dem Ysterioon. »Ich nehme einige Freiwillige«, sagte Hayes schließlich, »und untersuche die Korvette. Einverstanden?« »Ja. Nur unter einigen Bedingungen«, sagte Atlan. »Es muß schnell gehen, und ihr solltet übermäßig vorsichtig sein. Die Besatzung des Ysterioons mag uns nicht, denkt daran.« »Die Untertreibung dieses Fluges!« bemerkte Hayes grimmig. »Kommst du mit in die Jet?« »Nein«, sagte Atlan und schüttelte den Kopf. »Ich sichere euch nötigenfalls den Rückweg.« »In Ordnung.« Der großgewachsene Mann mit dem kurzen grauen Haar winkte und stürmte aus der Zentrale. Seine Bewegungen waren schnell und zielbewußt und straften sein Aussehen Lügen. Atlan warf ihm einen Blick nach und kümmerte sich wieder um die Bildschirme. Nach wie vor stand die SZ‐2 unbeweglich in der Deckung der Trümmermassen und war bis heute von den eigentlichen Machthabern des Ysterioons nicht bemerkt worden. Die Space‐Jet startete aus dem dunklen Schleusenhangar und bahnte sich mit eingeschalteten Schutzschirmen langsam einen Weg
durch Staub und Trümmer. Breckcrown verzichtete auf Funkverkehr, aber die Geräte waren aktiviert. Atlan wandte sich um und sagte zu den Wartenden: »Ich kann mir nicht helfen, aber da stimmt etwas nicht. Mit Sicherheit ist kein Solaner in der Korvette – darauf halte ich jede Wette.« Niemand wettete dagegen. Die Ortungsabteilung schaffte es fast mühelos, trotz der hinderlichen Staubmassen zwischen Schiff und den beobachteten Raumschiffen, klare Bilder zu liefern. Auf dem kürzesten Weg und mit hoher Geschwindigkeit raste die Space‐Jet auf die langsame Korvette zu, umkreiste sie zweimal und flog dann ein kurzes Manöver, das sie in die Nähe der unteren Polschleuse brachte. Atlan lehnte sich zurück und biß auf seine Lippen. Er wartete Ungeduldig. Ein Funkkontakt, so war es abgesprochen worden, erfolgte von Hayes aus nur dann, wenn sich die Männer in unmittelbarer Gefahr befanden oder eine überraschende, für die Sicherheit der SZ‐2 wichtige Entdeckung machten. Zwei Gestalten in Raumanzügen schwebten von der Jet hinüber in die Korvette und verschwanden von den Ortungsschirmen. * »Scheinwerfer an!« sagte Hayes wortkarg. Er riskierte es, im Schutz der Schiffshülle das Funksprechgerät des Raumanzugs zu benutzen. Drei Meter neben ihm ging Zarc Larness, ein Pyrride, die entsicherte Waffe in der rechten Hand. Die Helmscheinwerfer schalteten sich ein und warfen breite Lichtkegel auf den Schleusenboden. Je mehr Luft in den Raum flutete, desto mehr brachen sich die Lichtstrahlen an den Staubpartikeln. An einem der Antigravschächte aktivierte Hayes, nachdem er fluchend über metallene Trümmer gestolpert war, die Beleuchtung.
»Sieht aus, als hätte ein Kampf stattgefunden«, kommentierte Larness. »Bruchstücke von Robotern. Von SOL‐Robotern.« »Wer hat sie deiner Meinung nach zerstört?« »Die Kameraden aus dem Siebenundzwanzig‐Kugel‐Ding dort drüben«, knurrte Zarc. »Überall sind Einschüsse zu sehen. Hier. Und dort!« Die Schleuse bot ein Bild der Verwüstung. Aus einigen Abzugsschächten kam jetzt, als ein Teil der Versorgungseinrichtungen wieder eingeschaltet wurde, dunkelgrauer Qualm. Die beiden Männer schwangen sich in den Aufwärtsschacht und registrierten auch hier erhebliche Verwüstungen. »Hier hat ein wütender Kampf stattgefunden!« stellte Breckcrown fest, als sie den Schacht auf dem Deck der Hauptzentrale verließen. Die künstliche Schwerkraft funktionierte noch immer. Schweigend sahen sie die Verwüstungen an, die sich über die meisten Pulte, die Bildschirme und die übrige Einrichtung des Steuerzentrums hinzogen. Zarc zeigte mit dem Lauf seiner Waffe auf das Funkpult. »Aus dieser Korvette kann niemand mehr funken. Das ist wohl klar.« Hayes brummte zustimmend und inspizierte die Anzeigen unter den geschmolzenen und zersplitterten Abdeckungen und meinte schließlich: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie man dieses Schiff noch steuern könnte. Alles ist kaputt. Keinerlei Funktionen werden mehr angezeigt.« »Immerhin: die Luftumwälzung, Schwerkraft und Energieversorgung funktionieren tatsächlich noch. Wir könnten die Korvette abschleppen.« Hayes zog den anderen aus der Zentrale hinaus und über einen Teil der Korridore, Abzweigungen und Rampen. Stumm zeigte er zunächst noch auf die schweren Kampfspuren, auf zerfetzte Roboter, auf Trümmer von verschiedenen Maschinen und auf einige
kleine Reparaturrobots, die in sinnloser Arbeitswut versuchten, zweitrangig wichtige Schäden zu beseitigen. »Wieviele Robots mögen in dem Schiff gewesen sein? Das ist untypisch, denn in der SOL wird so gut wie jeder Robot gebraucht – jeder Reparaturservo zumindest.« »Etwa dreißig ausgeglühte oder detonierte Maschinen habe allein ich mit Sicherheit gesehen«, erwiderte Zarc unschlüssig. »Also waren es mehr.« »Abschleppen kommt nicht in Frage«, erklärte Hayes nach einigen Minuten, in denen sie noch mehr Zerstörungen sahen. Sie waren jetzt beide davon überzeugt, daß es völlig sinnlos war, die Korvette zur SZ‐2 zurückfliegen zu wollen. »Warum nicht?« »Weil wir mit der Jet dazu einige Tage brauchen würden. In der Zwischenzeit merken selbst blinde Roxharen, daß sich wieder Fremde in ihrem System herumtreiben.« »Du sagst es.« Hayes machte eine eindeutige Bewegung. Sie sagte aus, daß sie sich aus dem Schiff entfernen würden. Kurz blickten sich die beiden Solaner in die Augen. Larness nickte und drehte sich herum. Sie orientierten sich an den Hinweispfeilen und schwangen sich in den Antigravschacht. »Das kann unmöglich Deccon allein geschafft haben«, sagte Hayes nachdenklich. »Es ist denkbar, daß sich die Roboter mit Roxharen herumgeschlagen haben.« Breckcrowns Blick fiel auf einen kanisterähnlichen Gegenstand, der ihm seltsam fremd vorkam. Form und Farbe – so etwas hatte er noch niemals in einem Schiff der Solaner gesehen. Zuerst war er nicht einmal mißtrauisch; als er die Schleif spuren sah und eine weitere Beobachtung machte, nämlich daß zwischen der Schleusentür und dem Kanister mehrere geschwärzte Bruchstücke von Robotern offensichtlich zur Seite geschoben worden waren, stieß er Larness hart an und sagte nur:
»Raus! Aber schnell!« Mit ein paar schnellen Schritten waren sie an der Schleuse, ließen die innere Tür aufgleiten und sprangen in den dunklen Raum hinein, noch ehe sich die Platte ganz geöffnet hatte. Hayes schlug mit der Faust auf den Knopf, der die Notschaltung betätigte. »Was ist los?« »Nur eine Ahnung. Dieser würfelförmige Kanister paßt nicht ins Bild. Er stand genau auf einer Schußbahn und war unversehrt, nicht einmal geschwärzt. Wir können nicht vorsichtig genug sein.« »Einverstandenʹ.« Die Jet wartete auf sie. Larness machte Hayes ein Signal und legte den Zeigefinger vor die Helmscheibe. Hayes begriff und nickte. Sie stießen sich ab und schwebten mit ausgebreiteten Armen auf die Schleuse der Jet zu, die sich gerade in die richtige Position drehte. In diesen Sekunden verzichteten sie aus Sicherheitsgründen darauf, sich über Funk zu unterhalten und gaben sich gegenseitig nur kurze Zeichen. Larness schwang sich in die Personenschleuse und streckte den Arm aus. Seine Finger schlossen sich um den Unterarm Breckcrowns. Dann packte er den Gürtel und riß den Mann zu sich heran. Die äußere Schleusentür glitt langsam zu. Noch bevor sie sich ganz geschlossen hatte, erkannten die beiden Raumfahrer, daß ihre Ahnungen richtig gewesen waren. Die Korvette wurde von einer gewaltigen lautlosen Explosion erschüttert. Aus sämtlichen aufgerissenen Luken und Schotten, die in Trümmern und zerfetzten Bruchstücken davongeschleudert wurden, schlugen wie aus kleinen Vulkanschlünden dicke Feuersäulen. Dampf und Rauch wurden an Dutzenden Stellen mit großer Gewalt in den Weltraum hinausgeblasen. Der Pilot der Jet hatte, als die Signale der Personenschleuse auf seinem Pult aufleuchteten, gerade wieder die Projektoren der Schutzschirme hochfahren wollen. Die Folgen der Detonation in der Korvette trafen die Jet unvorbereitet; das Raumfahrzeug war ungeschützt.
Die Jet wurde von Flammen, Blitzen und Rauch eingehüllt. Ein Hagel zackiger und teilweise glühender Trümmerstücke prasselte gegen die Außenhülle. Während sich einzelne Sektoren der Schutzschirme aufbauten, ging eine Anzahl harter Vibrationen durch die Jet. Der Pilot startete mit hohen Beschleunigungswerten, stieß die Jet durch die Wolke aus Dampf und Trümmerstücken und zuckte fluchend zusammen, als das diskusförmige Raumfahrzeug mit weiteren Bruchstücken der Korvette zusammenstieß. Dann kam die Jet frei und flog mit unregelmäßig feuernden Triebwerken in die Richtung des Trümmerrings. Breckcrown lehnte sich an das Innenschott und riß den Helm des Raumanzugs herunter. »Dieser angebliche Kanister … er war eine Bombe!« fluchte er. Larness war bereits unterwegs in die Zentrale der Jet. »Stell dir vor«, rief er über die Schulter zurück, »wir hätten die Korvette abgeschleppt. Zeitzünderautomatik. Wir sind gerade noch davongekommen.« »Und mit einigen Schäden, wie mir scheint«, knurrte Hayes und folgte Larness in die Zentralkuppel. Die Jet wurde mit voll hochgefahrenen Triebwerken geflogen. Hayes warf einen langen Blick in die Richtung der Korvette. »Ein Wrack!« murmelte er und las die unvollständigen Buchstaben SEARCHER. Die Korvette sah aus wie eine Hohlkugel voller unregelmäßiger Löcher, in der verschiedenfarbiges Feuer zuckte und loderte. Immer wieder gab es kleinere Explosionen, die an der einen oder anderen Stelle Funkengarben und aufflammende Gase aus den Luken preßten. Hayes wollte gerade zum Piloten etwas sagen, als aus den Lautsprechern des Funkgeräts ein scharfes Knistern drang. Dann ertönte unverkennbar Atlans Stimme. »Wir haben alles gesehen. Offensichtlich hat Hidden‐X seine Untergebenen auf einen harten Kurs gebracht. Soeben starten aus dem Ysterioon vier roxharische Zellen. Sie verfolgen euch.
Achtung! Bleibt auf Kurs. Wir gehen mit dem großen Schiff aus dem Trümmerring hinaus, helfen euch und vertreiben die* Verfolger. Haltet euch zum Einschleusen bereit. Und versucht erst gar nicht, euch zu wehren. Verstanden, Jet?« Der Pilot sagte in die Richtung der Mikrophone: »Verstanden. Ich befolge deine Anweisungen.« Langsam zogen Hayes und Larness die Raumanzüge aus und desaktivierten die Versorgungseinrichtungen. »Ich bin sicher«, sagte Breckcrown Hayes und schien sich jedes Wort mehrmals zu überlegen, »daß Atlan die richtigen Schlußfolgerungen gezogen hat. Hidden‐X ging eindeutig auf Kollisionskurs. Haben wir Chancen, den Roxharen‐Zellen zu entkommen?« »Wenn sie nicht sehr viel schneller werden und nicht feuern, schaffen wir es«, antwortete der Pilot zuversichtlich. »Gibt es Ortungen?« »Ja. Es sind nacheinander vier Zellen aus dem Kugeloktogon gestartet«, sagte der Ortungsfachmann und hob den Kopf von seinem Schirm. In rasendem Unterlichtflug versuchte die Jet, deren Triebwerke teilweise immer wieder für Sekundenbruchteile aussetzten, aus der Reichweite des Ysterioons und der Verfolger zu entkommen. Hinter dem Diskus blieb die ausgeglühte und rauchende Kugel des Raumschiffs zurück. Die vier Zellen, die in einer Kette nacheinander aus Hangars der riesigen Kugel gestartet waren, zogen sich zu einer anderen Formation auseinander. Sie bildeten eine Reihe und holten auf. Hayes kontrollierte sorgfältig alle Anzeigen und sämtliche Schirme. Auf dem Ortungsbild zeichnete sich zwar als winziger Impuls, aber deutlich und unverkennbar* die SZ‐2 ab. Das riesige Raumschiff schob sich aus dem Trümmerring hervor, nahm auffallend schnell Fahrt auf und verließ somit das Versteck. Bisher war es sicher gewesen – ab jetzt taugte es nicht mehr viel und war
bestenfalls für einige taktische Zwecke zu benutzen. »Was hat Atlan vor – strategisch gesehen?« fragte sich Larness laut. »Wir werden es gleich miterleben können!« Der Pilot spähte über den Rand der Pulte durch die Kuppel. »Unsere Rolle wird so oder so klein sein.« »Du wirst einen komplizierten Andockkurs fliegen müssen!« Wieder nickte der Pilot. Die Jet flog ein erstes Ausweichmanöver, als die ovalen Schiffe mit den schillernden Schutzschirmen zu nahe gekommen waren. Die SZ‐2 raste auf den Punkt zu, an dem die Zellen die Jet überholt oder eingeholt haben würden. Hayes überlegte, ob es nicht sicherer wäre, die Raumanzüge wieder anzuziehen. Im selben Augenblick sagte Atlans Stimme laut und hart: »Achtung!« Gleichzeitig blitzten unmittelbar vor den verfolgenden Schiffen fast im gleichen Sekundenbruchteil vier kalkweiße, riesige Explosionen auf. Die Schüsse waren ausgezeichnet gezielt und schufen zwischen der Jet und den Verfolgern eine lodernde Wand gewaltiger Helligkeit. Die Solaner in der Jet hatten die Arme hochgerissen und versuchten jetzt, durch die dichten Filter etwas zu erkennen. Die roxharischen Zellen waren in den Glutorkan hineingerast, und in den Schutzschirmen der Schiffe entfesselten sich grelle Überschlagseffekte. Aus der Schwärze des Weltraums wuchs der winzige Punkt an. Aus einem winzigen Ortungsecho wurde, mit dem bloßen Auge sichtbar, eine von der fernen Sonne Nickelmaul ausgeleuchtete Kugel. Drei der ovalen Schiffe tauchten aus den auseinanderwehenden Gaswolken mit farbensprühenden Schirmen wieder auf. Das vierte Schiff war aus dem Kurs gebracht worden und fegte, sich überschlagend, schräg aus der Linie hinaus. »Atlan will offensichtlich die Schiffe nicht vernichten«, meinte
Hayes. Seine Aufregung wuchs, als er sehen mußte, daß die drei anderen Zellen unbeirrbar die Verfolgung fortsetzten. Wieder feuerten die Geschütze der mächtigen SZ‐2. Diesmal waren die Energieentladungen noch präziser eingesetzt. Die Strahlen schlugen direkt und mit voller Kapazität in die Schutzschirme der verfolgenden Zellen ein. Wieder schien es, als ob knapp hinter der Space‐Jet vier kleine Sonnen aufflammten. Die roxharische Zelle, die schon beim ersten Feuerschlag unsichtbare Schäden davongetragen zu haben schien, wurde ein zweitesmal getroffen und aus der Bahn geschleudert. In einem gewaltigen Lichtblitz löste sich der schillernde Schutzschirm auf. Das Raumschiff, das am äußersten Ende der Kette flog, drehte ab und raste in einer weiten Kurve, einen Streifen rotglühenden Gases hinter sich herziehend, in die Richtung des Ysterioons davon. »Ich bin fertig zum Andockmanöver«, sagte der Pilot durch das Knistern und Prasseln der Störungen. »Atlan hier. Verstanden.« Die SZ‐2 verringerte ihre Geschwindigkeit. Einige knappe Kommandos wurden gewechselt. Die Jet kippte seitwärts ab, setzte ihr Tempo herauf und bremste scharf ab, als die gewaltige Rundung der Bordwand auftauchte. Wieder lösten sich lange Glutstrahlen aus den Projektoren des Schiffes und erzeugten abermals einen Sperriegel vor den Ovalschiffen. Auch die zweite Zelle drehte ab. Als Hayes und die anderen Männer in die Richtung der Verfolger starrten, sahen sie durch die Schleier, die ausglühenden Gaswolken und die letzten Spuren der Waffenstrahlen, wie die roxharische Zelle an einer Stelle ihrer Hülle zu glühen begann. Beide Schiffe, die bisher keine Anstalten gemacht hatten, zu feuern, rasten an der SZ‐2 vorbei, nachdem sie nahezu einen Haken geschlagen hatten. »Einschleusen!« rief Breckcrown erleichtert. Die Jet und auch das große Schiff hatten fast keine Eigenbewegung mehr. Mit einem schnellen, fast lässigen Manöver brachte der Pilot die Jet in den Hangar. Kaum schlossen sich die Halterungen um die
Landestützen spürten die Insassen der Jet, daß die SZ‐2 wieder beschleunigte. Aus dem Heck der getroffenen roxharischen Zelle lösten sich brennende Gase und kleine Bruchstücke. Das Schiff drehte sich und überschlug sich in zeitlupenhafter Langsamkeit. Noch mehr Trümmer wirbelten davon, und eine kleine Explosion zuckte im Innern des Schiffes auf. Die SZ‐2 schwebte in majestätischer Größe auf das beschädigte Schiff der Roxharen zu. Ein Traktorstrahl wurde aufgebaut und nach zwei unsicheren Versuchen ins Ziel gelenkt. Er ergriff das Ovalschiff und hielt dessen Bewegung an. In den Schirmen der SZ‐2 öffneten sich mehrere Strukturschleusen, als der Traktorstrahl langsam und mit unwiderstehlicher Kraft das Wrack auf die Bordwand des Riesenschiffs heranzog. Sämtliche Interkome der SZ‐2 übertrugen die Vorgänge, die zudem im hellen Licht der Bordscheinwerfer deutlich erkennbar waren. Einige Luken des Schiffes waren geöffnet oder durch den Druck der Detonationen aufgesprengt worden. Aus einigen Öffnungen zuckten Blitze. Einige kantige Teile des Schiffs‐innern wirbelten davon, prallten nach einiger Zeit gegen die Schirme der SZ‐2 und wurden in den Raum zurückgefedert. Dann entdeckten die Solaner einige Gestalten in Raumanzügen. Buhrlo‐Kommandos, die bereits auf diesen Einsatz gewartet hatten, schwärmten aus und schwangen sich durch die Strukturschleusen. Wieder zuckten schnell nacheinander einige Detonationen auf und ließen als Silhouette vor der roten und weißen Glut skeletthaft die Gerüste, die Spanten und massigen Umrahmungen erkennen. Die Buhrlos wichen geschickt den langsam rotierenden Trümmern aus und schafften es, vier Gestalten zu packen und mit sich zum Schiff zu ziehen. Noch bevor die letzten Gläsernen den Schutz der Schirme erreicht hatten, verwandelte sich der Rest des Wracks in
eine Hölle aus Flammen und Rauch. Der Traktorstrahl wurde abgeschaltet. Die Strukturöffnungen schlossen sich, während die SZ‐2 wieder ihre Triebwerke zündete und in einer weiten Kurve Kurs nahm auf den fernen Ring aus Staub und Trümmern. Als die Teams sich um die vier geborgenen Raumfahrer kümmerten, mußten sie feststellen, daß zwei von ihnen halb zerfetzte Leichname waren – von den Explosionen im eigenen Schiff getötet. Roboter eskortierten die Buhrlos, von denen die überlebenden Roxha‐ren in die Zentrale des Schiffes gebracht wurden. Schweigend und abwartend sah ihnen Atlan entgegen. * Die Roxharen trugen zwar noch ihre Raumanzüge, hatten aber die Helme und die Handschuhe abgelegt. Die Anzüge trugen deutliche Spuren, aus denen hervorging, daß die rattengesichtigen Lebewesen der Vernichtung nur knapp entgangen waren. Jetzt hast du eine Art Pfand, das du Hidden‐X gegenüber benutzen kannst, sagte der Logiksektor treffend. Atlan griff dankend nach einem Translator, der ihm von der Magnidin gereicht wurde. Er hielt das Gerät in der Hand und schaltete es ein, als die Roxharen in der Mitte der Zentrale stehenblieben. »Ihr seid die einzigen Überlebenden eurer Zelle«, sagte Atlan deutlich. »Wir haben euch gerettet. Wollen wir an Bord unsere Auseinandersetzungen weiter fortführen?« Zunächst verständnislos, soweit die Solaner die Mimik der Roxharen richtig deuten konnten, dann niedergeschlagen oder resignierend, blickten die beiden Roxharen sich in der Zentrale um. Sie hefteten ihre kleinen Augen auf Atlan, auf Brooklyn und auf
Palo Bow, dann hefteten sie den Blick auf Breckcrown. Der wuchtige, kantige Mann kreuzte die Arme über der Brust und schwieg. Es schien, als habe er während der Jet‐Mission schon viel zuviel gesprochen. »Ich bin FerserʹIt«, sagte der Roxhare mit dem helleren, bräunlichgelben Fell an den Wangen, zwischen den Ohren und am Hals. »Der geistige Faktor hat uns die Befehle gegeben.« »Wir sind friedlich und haben nicht vor, euch zu Aussagen zu zwingen«, schaltete sich Atlan ein. »Hat euch der geistige Faktor, den wir Hidden‐X nennen, auch verboten, uns Auskünfte zu geben?« »Da er kaum ahnen konnte, daß wir in eure Gewalt geraten«, sagte der andere, dessen Fell dunkler war, »dachte er wohl nicht daran, uns solche Verbote zu erteilen. Ich verstehe, daß ihr viele Fragen habt.« »So verhält es sich!« brummte Bow und machte ein verschlossenes Gesicht. »Was wißt ihr über das kleine Schiff, das vor kurzer Zeit explodiert ist?« »Es wurde von euch gesprengt!« sagte Hayes hart und hob die Hand. »Leugnet es nicht ab. Ich wäre beinahe dabei gestorben!« Zögernd setzten sich die beiden Roxharen auf herbeigeschaffte Sessel. Sie sahen sich, waffenlos und im Schock der letzten Ereignisse, einem Halbkreis von schweigenden Solanern gegenüber, die nichts anderes als finstere und wütende Blicke für sie übrig hatten. Dies war für die Roxharen ohne jede Schwierigkeiten deutlich zu erkennen. »Ein Befehl des geistigen Faktors!« sagte der Roxhare mit dem dunkelbraunen, schweißgetränkten Fell. »Ich bin BonelovʹVert, der Pilot unserer Zelle.« »Ihr macht einen niedergeschlagenen Eindruck«, sagte Atlan. »Habe ich recht?« Es dauerte mehr als eine Minute, bis FerserʹIt antwortete. Bedächtig sagte er: »Einiges hat sich geändert. Ich will mich bei euch bedanken. Denn
e
s gab für euch keine Notwendigkeit, eure Gegner aus dem Weltraum zu retten. Ohne euch hätten wir unser Leben verloren.« »Das vermag euch vielleicht zu zeigen«, wandte die Magnidin Brooklyn ein. und stocherte mit dem abgespreizten kleinen Finger in ihrer grauen Frisur, »daß wir weitaus weniger schlimm sind, als ihr es euch vorgestellt habt. Ich gebe zu, daß euch Hidden‐X zu dieser Ansicht gedrängt hat. Wie stark werdet ihr von ihm – oder wer es immer sein mag ‐beeinflußt?« »Es ist die Macht in der Tabuzone des Ysterioons«, erwiderte BonelovʹVert. »Hidden‐X, wie ihr den Faktor nennt, hat uns zu seinen Dienern gemacht. Wir besitzen nicht einmal unsere Erinnerung an unsere Heimat. Wir wissen nur noch, daß sie Roxha heißt.« Die finsteren Mienen der Solaner entspannten sich ein wenig. Die meisten von ihnen sahen ein, daß auch die Roxharen abhängig waren. Hier, in der Zentrale, gaben sie sich friedlich und niedergeschlagen. Noch hatten die Solaner viele Fragen. Palo Bow schob die Unterlippe vor und erkundigte sich aggressiv: »Was habt ihr in der Tabuzone mit Sanny und Argan U gemacht? Und mit den Insassen der Korvette?« »Die Korvette wurde zur Zerstörung vorbereitet. Auf Befehl von Hidden‐X!« bestätigte BonelovʹVert. »Wir sind seit unendlich langer Zeit von unserer Heimat weg.« Verwirrt schüttelte Atlan den Kopf. Die beiden Roxharen standen entweder noch immer unter dem Eindruck eines schweren Schocks – oder sie waren unter dem Einfluß des geistigen Faktors ernsthaft verwirrt worden. »FerserʹIt«, sagte der Arkonide nachdrücklich, »wie stark ist der Druck des geistigen Faktors auf die Wesen, die in der Tabuzone leben und arbeiten?« »Der Einfluß ist ausschließlich. Wir gehorchten bedingungslos.« »Aber …?« »Aber in den letzten zwanzig Tagen scheint der Einfluß des
geistigen Faktors mehr und mehr abgenommen zu haben. Dadurch gibt es für uns Phasen scheinbarer Freiheit.« »Sie ruft aber auch Unsicherheit hervor, weil die Anordnungen nicht klar sind oder ganz ausbleiben«, fügte BonelovʹVert hinzu. Breckcrown Hayes sagte knapp: »Pryttar!« »Du hast recht«, sagte Atlan. »Mit einiger Sicherheit liegt das Nachlassen der autoritären Stimme an der Zerstörung des Planeten Pryttar und daran, daß Argan und Sanny in der Tabuzone eine Menge Geräte und Installationen verwüstet haben. Eine andere Frage: leben die beiden Kleinen noch?« »Sie leben und befinden sich nach wie vor in der Tabuzone. Ich denke, sie sind, von eurer Warte aus gesehen, in Sicherheit«, antwortete FerserʹIt ruhig. Die Diskussion oder besser Befragung wurde aus der Zentrale über das Interkom‐Netz übertragen. Alle Insassen konnten sich über die letzten Ereignisse, wie sie aus der Sicht innerhalb des Ysterioons sich darstellten, informieren. Aber noch lange gab es keine endgültige Antwort auf die wichtigsten Fragen. »Diese zerstörte Korvette«, fragte Brooklyn, »wieviel Solaner befanden sich darin? Sie sind eure Gefangenen?« »Es waren drei Solaner!« »Also Deccon mit zwei Begleitern«, meinte Atlan. »Kennt ihr die anderen Namen?« »Nein.« »Könnt ihr uns sagen, wie sie aussahen?« wollte ein anderer Solaner wissen. Wieder sagte BonelovʹVert: »Wir haben sie nicht gesehen.« »Sie sind am Leben?« »Ich habe gehört«, sagte BonelovʹVert, »daß man sie gefangengesetzt hat und befragen will. Mehr weiß ich nicht.« Er blickte sich, als ob er Unterstützung brauchte, nach FerserʹIt um, aber auch der andere Roxhare machte die Geste der
Verneinung. »Sie sind nicht mehr gefangen. Oder möglicherweise sind sie schon wieder gefaßt worden. Man hat den Ysteronen Girgeltjoff gesehen, wie er die drei Solaner befreite und mit ihnen flüchtete. Er verschwand irgendwo nahe der Tabuzone. Aber fragt uns nicht, ob wir etwas über die wahren Absichten des geistigen Faktors wissen! Wir wissen nichts. Kein Roxhare kennt das Ziel dieser Stimme. Jeder Einblick ist uns verwehrt. Wir gehorchen nur notgedrungen den Befehlen.« »Erstaunlich!« brummte Hayes. »Und ihr steht auch jetzt noch unter dem Einfluß des geistigen Faktors?« »Sonst wären wir nicht mit unseren Zellen zur Verfolgung des kleinen Raumschiffs gestartet. Aber hier spüren wir zum erstenmal so etwas wie echte Gedankenfreiheit.« »Ich schlage vor«, sagte Atlan undʹ stand auf, »daß ihr euch einer hypnotischen Behandlung unterzieht. Sie wird euch mit einigem Glück vom Einfluß des geistigen Faktors befreien. Vorläufig müßt ihr euch als unsere Gefangenen betrachten. Gibt es irgend etwas, womit wir euch helfen können?« BonelovʹVert senkte den Kopf und drehte seine Ohren. Er und sein Partner hoben ihre Hände; zwei eindringliche Gesten, die absolute Ratlosigkeit bedeuteten. Schließlich kam seine übersetzte Antwort aus dem Translator. »Wir wollen zurück nach Roxha! Niemals wieder betreten wir, freiwillig oder als Gefangene, das Ysterioon.« »Wir werden euch dazu nicht zwingen«, antwortete Atlan. Es war ein ernsthaftes Versprechen. »Aber ob wir euch nach Roxha zurückbringen können, das steht buchstäblich in den Sternen.« Palo Bow blieb zwischen den Roxharen stehen und versicherte: »Ich kümmere mich um sie. Ich werde auch die Hypnosebehandlung organisieren. Solltest du vorhaben, etwas gegen das Ysterioon zu unternehmen, Atlan, warte bitte auf mich.«
»Einverstanden!« Atlans Extrahirn meldete sich. Du solltest daran denken, deine Freunde und Verbündeten aus dem Ysterioon zu befreien. Atlan blickte auf die Bildschirme. Die SZ‐2 befand sich unmittelbar vor dem Trümmerring. Auf seine Anordnung hin und mit Zustimmung Brooklyns und Bows versteckte sich das große Schiff abermals zwischen Gasen, Staub und Trümmern, diesmal aber an einer ganz anderen Stelle. Atlan wandte sich an Brooklyn und teilte ihr seine Vermutungen mit. »Wir wissen noch immer nicht, warum uns Deccon mit der Korvette gesucht hat. Verblüffend ist, daß nur drei Solaner die Korvette gesteuert haben. Das ist einigermaßen rätselhaft.« »Der High Sideryt … Deccon … wird es uns sagen können!« »Aber erst, wenn wir mit ihm oder Girgeltjoff zusammentreffen. Und wir können nicht erwarten, daß sie aus dem Ysterioon fliehen können. Aber für mich ist es erwiesen, daß unsere Freunde dort gefährdet sind.« Die Magnidin seufzte und meinte schließlich: »Chart Deccon. Gefangen im Ysterioon. Nach allem, was das Schicksal für ihn bereithielt … Ich bin sicher, daß er in Gefahr ist. Auch Palo wird dir raten einzugreifen.« »Wir werden dieses Problem diskutieren, wenn er wieder hier ist«, schloß Atlan. »Überdies können wir noch den Rat der zwei Roxharen einholen.« Die SZ‐2 im Schutz der Schirmfelder schwebte jetzt ohne Fahrt im Zentrum des Trümmerringes. Zwei Sonden waren in der Randzone beziehungsweise tiefer zwischen den Trümmern zurückgelassen worden. Sie dienten als Beobachtungsgerät und als Relaisstation für die Ortungszentrale, denn im Mittelpunkt der Trümmer war die SZ‐ 2 nahezu blind. Die Solaner hielten nichts davon, sich überraschen zu lassen.
5. Etwa eineinhalb Tage solanischer Rechnung bewegten sie sich durch die Stollen und Kavernen des Ysterioons. Noch immer hatten die drei Solaner und Girgeltjoff keine Funkanlage gefunden. Chart Deccon blieb stehen, zeigte nach rechts auf die glühenden Energiegitter und rief zu Girgeltjoff hinauf: »Wir müssen durchbrechen! Sonst finden wir niemals, was wir suchen!« »Ich bin ebenso verzweifelt wieʹ du«, gab der Ysterone mit den traurigen Augen zurück. »Noch einen Versuch?« »Meinetwegen«, murmelte Hage Nockemann. »Seine Qualitäten als Fachmann … ich weiß nicht!« Er zeigte auf das riesige Lebewesen. Hagens Füße brannten. Seine Muskeln schmerzten; nicht nur die der Beine, sondern weit bis zu den Schultern hinauf. Lytas Gesicht zeigte ihre Empfindungen: sie schwieg hartnäckig, preßte die Lippen aufeinander und folgte den drei Leidensgenossen. Vor ihr bewegten sich auf Hages Schultern die Strähnen seines ungepflegten grauen Haares. Sie war mindestens ein dutzendmal während dieser Wanderung versucht gewesen, dieses Zeichen der Verwahrlosung mit einem blitzschnellen Schnitt abzutrennen. Aber noch funktionierte ihre Fähigkeit, sich eisern zu beherrschen. »In dieser riesigen Anlage«, meinte Deccon, »muß es etwas geben. Denkt daran, was wir schon alles gesehen haben. Hier können sich Millionen Ysteronen verstecken. Und Millionen anderer Wesen, Roxharen eingeschlossen.« »Richtig.« In diesem Moment befanden sich die Flüchtlinge auf einem vergleichsweise niedrigen und schmalen Steg, der sich kilometerlang über wuchtigen Blöcken, Rohrelementen und anderen, automatisch arbeitenden Großgeräten spannte. Ein
Dauergeräusch, das aus hellem Summen, Knistern, Winseln und Fauchen zusammengesetzt war, brach sich an der zerklüfteten Decke, die zum Teil aus durchsichtigen Rastern bestand, zum anderen aus Leuchtelementen, von denen die meisten nicht eingeschaltet waren. Links befanden sich breite, langgezogene Schlitze, durch die deutlich glimmende Absperrungen, Gitter und Schranken zu sehen waren. Sie kennzeichneten die absolut innerste Grenze der Tabuzone. »Aber kein Funkgerät«, brummte nach einigen hundert Schritten Nockemann. »Es versteckt sich hartnäckig seit den ersten Stunden unserer Gefangenschaft.« Nicht einmal Lyta mit ihrem feinen Gespür für Positroniken hatte es geschafft, einen Ausweg aus der bedrückenden Situation zu finden oder auch nur zu ahnen. Girgeltjoff verließ den Steg, drehte seinen Oberkörper herum und sagte: »Ich bin sicher, daß wir nach ein paar Schritten auf das Kommunikationszentrum stoßen. Ich erkenne die Umgebung wieder.« Deccon deutete grinsend auf die mächtigen Beinsäulen des Ysteronen und entgegnete: »Selbst wenn es ein paar Schritte deiner Beine sein sollten – hoffentlich hast du endlich einmal recht.« Girgeltjoff tappte, einem Elefanten mit überlang gestreckten Beinen nicht unähnlich, von dem gerasterten Boden des Steges hinunter. Wieder einmal öffnete sich ein Schott; eines von sicherlich mehr als dreihundert in den letzten Tagen. Immer wieder war es Girgeltjoff gelungen, die zunehmend mutlos werdenden Solaner aufzumuntern, sie mit Essen zu versorgen und für die Gruppe vergleichsweise ruhige Plätze zu finden, an denen sie sich ausruhen konnten. Sie waren eindeutig verfolgt worden; der Effekt bisher war gering geblieben. Jedesmal hatten sie es geschafft, dank Girgeltjoffs halbwegs unbewußter Fähigkeit, den Verfolgern zu entkommen.
Selbst Lyta, die sich darüber wunderte, daß die zahlreichen Linsen sie nicht erfaßten, mußte zugeben, daß der Ysterone ein beachtliches Geschick entwickelt hatte, sich und seiine drei Schützlinge zu verstecken. Hinter ihnen schloß sich summend das Schott. Die Geräusche der Maschinenhalle hörten auf. Eine Ruhe, die sie aufschreckte, umgab plötzlich die Flüchtlinge. Dann näherte sich ein neues Geräusch. Lyta Kunduran brauchte einige Sekunden, bis sie den Laut richtig identifizierte. Es war das Tapp‐Tapp‐Tapp der weichen Sohlen von Ysteronenfüßen. Ein anderer Ysterone kam aus einem Korridor, der von rechts einmündete. Noch sahen ihn die Solaner nicht, aber die Schrittgeräusche wurden lauter. Girgeltjoff machte eine Drehung um neunzig Grad und streckte seine Arme aus. »Wir sind entdeckt!« stieß er hervor. »Versteckt euch!« Die Gefangenen schienen tatsächlich an ihrem Ziel angelangt zu sein. Von einem würfelförmigen Raum zweigten vier Korridore ab. Darüber hinaus führten an vielen Stellen schräge Rampen, keineswegs für Ysteronen gebaut, in kleinere Räume. Überall befanden sich an den Wänden wahre Kaskaden von Geräten, leuchtenden und aufblitzenden Instrumenten, überall hingen Kabel, es gab Tausende von Schaltern, Knöpfen und Reglern, teilweise in »menschlicher« Größe, zum größten Teil für die riesigen Lebewesen hergestellt und eingerichtet. Lyta rannte zwischen den Beinen Girgeltjoffs auf einen Sektor zu, in dem sie ein Funkgerät vermutete. »Hier bist du, Abtrünniger!« schrie der Ysterone, der in einem rasenden Trab in den kleinen Saal hereinstürzte. »Girgeltjoff! Ich sehe dich!« Der wütende Schrei klang seltsam verloren angesichts der riesigen Körpergröße. Girgeltjoff hob beide Arme und winkelte den linken Vorderfuß an. Er duckte sich und rief zurück:
»Versteckt euch! Und du, Namenloser – nimm dich in acht. Meine Freunde sind mächtiger, als du denkst.« Er stemmte sich nach vorn und senkte den Kopf. Er hatte erkannt, daß der andere Ysterone ihnen aufgelauert hatte und nun seine Chance sah, die Flüchtlinge wieder einzufangen. Deccon und Hage wichen schnell zurück und blieben stehen, als sie hinter sich Metall und andere Bauelemente spürten. Zwischen ihnen und den beiden Giganten betrug die Distanz nicht mehr als dreißig Meter. Wieder mußten sie an die Bildschirmberichte aus der SOL denken, durch die sie jene vergessenen Tiere kennengelernt hatten. Wie zwei wütende Elefantenbullen donnerten Girgeltjoff und der andere, dunkelbraune Riese gegeneinander. Es gab ein lautes, klatschendes Geräusch, als Girgeltjoff mit seinem Bein versuchte, einen fürchterlichen Tritt auszuteilen und den anderen zu Fall zu bringen. Wütend bearbeiteten sich die beiden Riesen mit den Beinen, traten zu, wirbelten die Knie und die Unterschenkel herum, während ihre Oberkörper und Arme einander umschlangen. Die Fäuste der Giganten prasselten auf den Gegner herunter, wirbelten umher, trafen oder wurden abgewehrt. »Du hast die Fremden befreit! Du hast gegen den Befehl gehandelt!« ächzte der Fremde. »Du bist ein Sklave der Stimme. Eine Kreatur des geistigen Faktors«, keuchte Girgeltjoff und rammte eine Instrumentenwand. Der andere strauchelte und sank in die Knie. Wieder trennten sich die Riesen, nahmen einen neuen Anlauf und krachten wieder zusammen. Hage Nockemann griff in den Gürtel und zog den Paralysator heraus. Fragend blickte er Deccon an. »Noch nicht. Du könntest Girgeltjoff treffen!« fauchte Chart. »Was tut Lyta dort drüben?« »Sie versucht, das Funkgerät zu finden und in Gang zu setzen«, gab Nockemann zurück, entsicherte die Waffe und zielte entlang ihres Laufes auf den anderen Ysteronen. Die beiden Kämpfer
lieferten sich einen schnellen, erbarmungslosen Kampf und versuchten, mit den Läufen und dem Körper den anderen so zu treffen, daß er kampfunfähig wurde. Acht gewaltige Beine wirbelten umher, schlugen gegen den Boden und die Wände, wurden vom Gegner abgewehrt oder trafen die kleinen Körper. Die Hände griffen umher, packten zu und trennten sich voneinander. Die beiden Kämpfer stießen lange, fauchende Schreie aus und tiefe Grunzlaute, als sie wieder aufeinanderprallten. Hage schwenkte den Paralysator, zielte genau und feuerte. Der Strahl der aufdonnernden Waffe traf die Kniegelenke von zweien der riesigen Beine. Der Fremde stieß einen stöhnenden Schrei aus und kippte zur Seite. Wieder feuerte Nockemann und lähmte die beiden anderen Kniegelenke. Der riesige Körper erbebte, der Gesichtsausdruck des Ysteronen wechselte in tödliches Erschrecken, dann kippte der Körper und kam für einige Sekunden an einer Wand zur Ruhe. Langsam rutschte der Körper an der Wand herunter. Die vier Gliedmaßen spreizten sich nach allen vier Seiten und erzeugten, als sie haltlos schlenkernd auf dem Boden rutschten, merkwürdige Geräusche. Girgeltjoff holte keuchend Luft, wirbelte herum und stellte einen seiner mächtigen Füße auf den Brustkorb des anderen. »Du hast mich überwältigt!« gab der Ysterone gurgelnd zu. »Bringe mich nicht um. Der geistige Faktor hat mich hinter euch … hergeschickt.« Girgeltjoff betrachtete den ausgestreckten Körper, holte mehrmals tief Luft und wischte den Schweiß von seinem Gesicht. »Wer bist du?« fragte Girgeltjoff. »Barlod‐Traug‐Tul«, röchelte der andere Ysterone. »Nur die Waffen deiner Freunde haben mich besiegt. Ich suche meinen Vater. Überall suche ich ihn.« »Was hat es auf sich mit deinem Vater?«
»Traug‐Tul‐Traug … auch er, mein Vater, ist von der Strahlung des Metalls unabhängig. Ich bin ebenfalls unabhängig.« »Unabhängig?« fragte Deccon entgeistert. »Auch ich gehöre zu den wenigen Ysteronen, die von der Nickelstrahlung unabhängig sind!« erklärte Girgeltjoff deutlich. »Hast du begriffen, was das bedeutet, Barlod‐Traug‐Tul.« »Ja.« »Dann höre gut zu, was ich dir berichte. Ich kenne deinen Vater.« Aber Girgeltjoff nahm seinen Fuß nicht vom Körper des anderen Ysteronen. Die beiden Wesen starrten einander einige Sekunden lang an, dann begann Girgeltjoff stockend: »Dein Vater Traug‐Tul‐Traug sprach mit mir. Wir haben uns vor einiger Zeit getroffen. Die SZ‐2, das riesige Schiff der Solaner, hat uns zusammentreffen lassen. Dein Vater lebte auf einem fernen Planeten. Er verschwand eines Tages. Wir suchten lange nach ihm, und als wir ihn fanden, war er friedlich an Altersschwäche gestorben. Mir hinterließ er eine Botschaft, wie wir es schaffen konnten, uns aus dem Bannkreis des Planeten zu befreien. Dein Vater war ein Geschichtenerzähler von beträchtlichem Können; innerhalb des Schiffes und bei anderen Wesen erwarb er sich viel Sympathie durch diese Fähigkeit. Er starb in Frieden, Barlod‐Traug‐Tul. Für uns kann das bedeuten, daß wir dich als neuen Verbündeten gewonnen haben. Oder willst du weiter gegen uns kämpfen?« Girgeltjoff lockerte seinen Griff und trat schwer atmend zur Seite. Nockemann blieb an der Wand stehen und senkte die Waffe. Mühsam machte Barlod‐Traug‐Tul einen ersten Versuch, sich in die Höhe zu stemmen. »Die Lähmung wird in kurzer Zeit vergangen sein«, erhob Deccon grollend seine Stimme. »Keine Aufregung! Eine Frage. Wir suchen dringend nach einem Funkgerät, um mit den letzten Freunden deines Vaters in Verbindung treten zu können.«
Mit dem rechten Arm stützte sich Barlod‐Traug‐Tul schwer auf dem Boden ab, mit der anderen Hand zeigte er auf die Stelle, an der eben noch Lyta Kunduran hantiert hatte. »Dort. Das blauschimmernde Gerät neben dem gelben Schirm«, kam es aus den Translatoren. »Schon begriffen«, rief Lyta. »Fragt ihn, wieviel Zeit wir haben!« Die Muskeln der ausgestreckten Beine fingen zu zucken an. Girgeltjoff bückte sich und versuchte, Barlod aufzuheben. Hilflos sackte der Ysterone wieder auf die Knie zurück. Er starrte Lyta an und sagte gepreßt: »Viel Zeit bleibt nicht. Überall suchen Roboter und Ysteronen nach euch. Ihr wollt die Freunde meines Vaters zur Hilfe rufen?« »Nichts anderes beabsichtige ich«, gab Lyta zurück und hantierte bereits an der fremden Technik der Funkanlage. Sie schien wieder einmal die Arbeitsweise und die Schaltungen des Geräts schneller zu begreifen als jeder andere. Sie kletterte halbswegs hinauf zu den Mikrophonen und Lautsprechern, und die Bildschirme fingen zu flimmern an. »Hier Lyta Kunduran. Ich rufe die SZ‐2. Atlan, hörst du uns?« rief drängend die Magnidin. »Deccon, Nockemann und ich, dazu Girgeltjoff und ein anderer Ysterone, der nickelunabhängige Sohn von Traug‐Tul‐Traug, sind unmittelbar am Rand der Tabuzone. Helft uns! Holt uns heraus. Deccon läßt sagen, daß er Atlan in allen Vorhaben bedingungslos unterstützt.« Aus den Lautsprechern kam zuerst ein tiefes Atemholen, dann eine überraschte Stimme. »Funkzentrale SZ‐2 spricht. Wir haben die Botschaft verstanden. Könnt ihr uns mehr Informationen geben?« »Argan U und Sanny sind ebenfalls in der Tabuzone. Gefangen. Wahrscheinlich leben sie noch«, rief Girgeltjoff. »Wir müssen abbrechen. Schnell!« »Ihr habt verstanden«, rief Lyta. »Die Verfolger rücken wieder näher. Wir setzen unsere Flucht fort. Ende.«
»Verstanden!« kam es aus den Lautsprechern. Deccon half Girgeltjoff, Barlod hochzustemmen. Lyta kam vom Funkgerät herunter und rannte auf Nockemann zu. Deccon stöhnte unter der Last des schweren Körpers auf. »Wohin, Girgeltjoff?« »Durch das weiße Schott«, rief Barlod. »Schnell!« Über den geschlossenen Schotten leuchteten und flackerten Lichtzeichen, die für die Solaner keine Bedeutung hatten. Girgeltjoff schleppte den anderen Ysteronen auf das Schott zu und öffnete es. Durch den großen, mit Technik vollgestopften Raum dröhnte ein Summen, dessen Lautstärke zunahm. »Ich bringe euch an einen Platz, an dem wir unbeobachtet sind!« versprach Barlod‐Traug‐Tul, dessen Bewegungen immer sicherer wurden. Die Lähmung wich aus seihen Gelenken. Das Schott schob sich langsam wieder in den Rahmen zurück und schuf die kurzfristige Illusion, daß die Flüchtenden in Sicherheit wären.. Ihre Flucht durch die verwirrenden Korridore und Stationen des Ysterioons ging weiter. Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als auf die Ortskenntnis von Barlod‐Traug‐Tul zu vertrauen und darauf zu warten, daß Atlan ihnen helfen würde. 6. Atlan ließ keinen Zweifel daran, daß er sein Vorgehen gründlich durchdacht hatte. In der Zentrale hatte sich ein kleiner Kreis zusammengefunden. Jedem der Anwesenden war klar, daß etwas geschehen mußte. Nur über die Ausführung und den Zeitpunkt herrschten unterschiedliche Meinungen vor. »Wir haben übereinstimmend festgestellt«, sagte der Arkonide und musterte die Gesichter seiner Gesprächspartner, »daß unsere Freunde und Chart Deccon innerhalb des Ysterioons sind und sich als gefährdet betrachten. Wir haben uns dieser Überlegung
angeschlossen. Ich schlage vor, wir handeln schnellstens.« »Ich denke an eine Stoßtruppaktion«, wandte Bjo Breiskoll ein. »Ein wohlüberlegtes Kommandounternehmen.« »Ich warne davor!« erklärte Fer‐serʹIt nachdrücklich. »Es ist sehr gefährlich. Das Ysterioon ist eine so gewaltige Anlage, daß es schon ein unglaublicher Zufall wäre, wenn ihr die Gefangenen finden würdet.« Die beiden Roxharen wirkten völlig verändert. Die hypnotische Behandlung hatte sie von den letzten Einflüssen des fremden Willens befreit. In ihrer seltsamen Ausrüstung, den vielen verschieden breiten und unterschiedlich gefärbten Gurten und Gürteln über dem Fell, bewegten sie sich innerhalb des Schiffes frei und voller Neugierde. Die zwei Fremden überragten jeden Solaner an Bord um mehr als einen halben Meter. »Dein Einwand in allen Ehren, Ferser«, sagte Atlan, »aber wir müssen es trotzdem riskieren.« »Palo und ich sind auch dafür«, meinte Brooklyn entschieden. »Wir unterstützen Atlans Plan, den wir allerdings noch nicht in allen Einzelheiten kennen, völlig.« »Danke!« antwortete Atlan. Sein Logiksektor wisperte: Ganz langsam ändern sich die Verhältnisse in der SZ‐2, und zwar in deinem Sinn, Arkonide! »Ich und Bjo, entsprechend ausgerüstet, sollten zusammen mit Atlan und einigen Robotern vorstoßen«, meldete sich Breckcrown Hayes. »Klar?« »Einverstanden!« meinte Palo Bow und wischte den Schweiß von seiner schwarzen Stirn. »Und die SZ‐2 fliegt einen ablenkenden, massierten Scheinangriff.« »So ähnlich hatte ich es mir vorgestellt«, meinte Atlan. »Wir müssen jedoch damit rechnen, daß sich das Ysterioon mit einer unbekannt großen Anzahl roxharischer Zellen und mit seinen eigenen Abwehrwaffen wehrt.« »Dazu wird die Funkverbindung, sind wir einmal innerhalb des
Ysterioons, schnell gestört sein oder wieder ganz abbrechen«, sagte Bjo. »Eine Einschränkung, die aber nicht sehr wichtig ist.« »Ich kann trotzdem nichts anderes tun, als euch zu warnen«, meldete sich BonelovʹVert zu Wort. »Der geistige Faktor beherrscht das Ysterioon noch immer. Denkt daran. Ihr seid die Fremden. Ihr besitzt keine Ortskenntnis. Und wir haben den feierlichen Schwur angelegt, niemals wieder ins Ysterioon zurückzugehen.« »Niemand zwingt euch dazu«, beschwichtigte Brooklyn. »Aber wir standen schon öfters vor angeblich aussichtslosen Vorhaben. Auch diesmal werden wir wohl das bißchen Glück haben, das uns entscheidend hilft. Denkt daran, daß wir uns bereits im Ysterioon befanden.« »Das kann nur hilfreich sein!« bestätigte FerserʹIt, senkte den schmalen Schädel und riß den Rachen auf. Diese Bewegung bedeutete eine bekräftigende Bejahung. Bjo Breiskoll richtete seinen Blick auf das Bordchronometer. »Ich schlage als Starttermin den Beginn des ersten März vor.« »Akzeptiert«, erwiderte Atlan. »Gibt es irgendwelche Einwände? Ich schlage vor, wir planen den Einsatz hier und sofort.« Es gab keine Einwände. Die SZ‐2, noch immer innerhalb des Trümmerrings verborgen, begann sich auf den Einsatz vorzubereiten. Korvetten und Space‐ Jets wurden bemannt, ihre Technik wurde durchgecheckt. Die Sonden, von denen auch der letzte Funkkontakt mit Lyta übertragen worden war, übermittelten das unverändert ereignislose Bild. Vor der Sonne Nickelmaul schwebte das Ysterioon, und außerhalb des Kugeloktogons gab es keinerlei Aktivitäten. Zwischen der Zentrale der SZ‐2 und den Hangars wurden detailliert die einzelnen Phasen der Mission besprochen. Buhrlos kehrten aus dem Raum zurück und schlossen sämtliche Luken. Atlan, Bjo Breiskoll und Hayes testeten die Funktionen ihrer schweren Kampfanzüge. Der Pilot der Space‐Jet wurde eingewiesen.
Zwei Kampfroboter wurden entsprechend vorbereitet und ausgerüstet und in den Laderaum der Jet gebracht. Der geistige Faktor, sagte sich Breckcrown Hayes, würde in Kürze beweisen müssen, wie groß sein Einfluß noch war. * Die SZ‐2, im Schutz der hintereinander gestaffelten Schirme, nahm Fahrt auf. Sie holte die Sonden ein und schob sich langsam aus dem Trümmerring hervor, zerteilte die Massen von Staub und Trümmern und erschien lautlos und unübersehbar am Rand des verlassenen Sonnensystems. Sekunden später beschleunigte das Raumschiff mit hohen Werten. Die SZ‐2 raste, von Minute zu Minute schneller werdend, direkt auf die riesige Konstruktion zu. Sie lag, aus dem Anflugwinkel des Schiffes aus gesehen, abseits der Sonne. Die Besatzung des Schiffes starrte voller Spannung auf die Schirme der Interkome. So sicher es war, daß die Mannschaft des Ysterioons den drohenden Anflug bemerkt hatte, so rätselhaft blieb es, daß sich bis jetzt noch nicht das geringste Zeichen einer Abwehr oder eines Versuchs dazu zeigte. Die Entfernung schrumpfte binnen kurzer Zeit zusammen. Dann heulten die Signale durch das Raumschiff. Luken glitten auf, Strukturschleusen öffneten sich in den Schutzschirmen. Kreuzer schoben sich im Schnellstart aus den Hangars hervor, bauten die Schirme auf und zogen sich, während sich die Zieloptiken auf das Ysterioon und bestimmte Teile der Anlage ausrichteten, zu langen Ketten auseinander. Korvetten schleusten sich aus, Schwärme von kleineren Schiffen schwirrten aus dem riesigen Körper hervor und drifteten blitzschnell nach allen Seiten. Die Geschwindigkeiten des SZ‐2 und der mehr als hundertzehn Beiboote blieben angeglichen, und ein
riesiger Pulk stürzte sich auf das Ysterioon. In der Masse der Schiffe, die bisher noch keinen einzigen Schuß abgegeben hatten, fiel die einzelne Jet nicht auf. Sie hielt sich im Ortungsschatten des Schiffsgiganten und befand sich in einer Linie mit dem Kugeloktogon und der SZ‐2. Dann, auf einen anderen Funkbefehl, fing die letzte Phase des Scheinangriffs statt. Der Schiffsverband setzte gezielt unzählige Geschütze ein. Atlan hatte den Befehl ausgegeben, nach Möglichkeiten keinerlei Einrichtungen des Ysterioons zu zerstören. An diese Anordnung hielten sich die Frauen und Männer der SOLAG in den Feuerleitzentralen. Es war nicht zu unterscheiden, ob es sich um einen echten Angriff oder einen Scheinangriff handelte. Hunderte und aber Hunderte Geschütze feuerten. Rund um die siebenundzwanzig Kugeln des Ysterioons kreuzten sich Strahlen, detonierten lautlos kleine Sonnen, wurde ein energetisches Gewitter von einem Ausmaß entfesselt, das diese Station noch niemals erlebt hatte. Mitten aus der Masse der kleineren Schiffe schwebte in einem freigehaltenen Korridor der Energie die Jet. Die Schutzschirmprojektoren arbeiteten mit höchster Kapazität. Auch die SZ‐2 feuerte ganze Breitseiten ab und verwirrte sämtliche Beobachtungseinrichtungen des Kugeloktogons. »Los!« sagte Atlan und schlug dem Piloten auf die Schulter. »Du kennst das Ziel. Die Schnelligkeit ist unser großer Vorteil.« »Alles klar, Atlan!« murmelte der Pyrride. Die Jet flog langsamer, beschleunigte wieder, kippte nach links und rechts und wand sich zwischen glühenden Gaswolken hindurch, schwang sich an einer Ansammlung von stählernen Türmen einer Eckkugel vorbei und startete schräg nach »oben«, auf die Zentrumskugel der Würfelseite zu. Die Korvetten, die der Jet in achtungsvollem Abstand folgten, markierten die Flugbahn des winzigen Raumflugkörpers mit ihren präzise gezielten Schüssen. Die Kuppel der Jet hatte sämtliche Filter eingeschaltet.
»Bereit, Bjo – Breckcrown?« fragte Atlan. Er schloß seinen Kampf anzug, als er die zustimmenden Blicke registrierte. Noch immer wehrte sich das Ysterioon nicht! Die Jet erreichte die Antennen, Kugeln und nadelartigen Bauwerke aus Stahl, die sich aus der Oberfläche der mittleren Kugel erhoben. Im schnellen Zickzackflug steuerte die Jet hindurch und sank dabei dem Boden zu, der Oberfläche der Kugel. Dort zeichneten sich im grellen und zuckenden Licht der Schiffswaffenstrahlen Luken ab, kleine und große kantige Formen, kugelige Bullaugen und eine Anzahl anderer technischer Markierungen. Die Jet fuhr die Landebeine aus, verankerte sich mit einem Zugstrahl an der metallenen Oberfläche und setzte weich auf. Atlan deutete nach unten. Die beiden Kampfroboter, von denen einer einen kantigen Kasten schleppte, schwebten aus dem Laderaum und befanden sich nach einigen Sekunden im Bereich der Schwerkraft des Ysterioons. Die einheitliche Gravitation war von Atlan einkalkuliert worden. Er und seine beiden Begleiter sanken durch den Antigravschacht nach unten und blieben kurz auf dem Metall unterhalb der Jet stehen. »Bjo. Nimm den ersten Robot und suche eine Luke … sofort öffnen«, sagte Atlan gepreßt. Breiskoll antwortete nicht, hob aber den Arm und lief mit weiten Schritten auf den Robot zu. Beide Gestalten entfernten sich aus dem fragwürdigen Schutz der Jet. Um Atlan nicht zu beunruhigen, funkte die Zentrale der SZ‐2 ihre letzten Beobachtungen nicht an die Jet. Aus einigen Hangars rasten roxharische Zellen hervor und griffen unkoordiniert die Korvetten und Kreuzer an. »Ich suche dort drüben«, erklärte Atlan. »Ich an anderer Stelle«, knurrte Breckcrown knapp. »Es gibt Zeichen, wo sich eine Schleuse befindet.« »Ich sehe keines.« Atlan rannte neben dem zweiten Kampfrobot zwischen zwei
Landebeinen hindurch und auf eine kantige, an den Ecken gerundete Konstruktion zu. Sie ließ in Vertiefungen lange Griffe oder Hebel erkennen. Atlan blieb stehen, bückte sich und versuchte, einen Griff zu bewegen. Das Metall bewegte sich nur um wenige Fingerbreit. Atlan winkte dem Roboter, deutete auf die vertieft angebrachte Platte und sah zu, wie die Maschine mühelos drei Hebel bewegte und dann die wuchtige Platte senkrecht hochklappte. Die Öffnung war etwa dreimal drei Meter groß. »Bjo! Hayes! Hierher!« sagte der Arkonide drängend. »Verstanden. Larness! Sofort starten – und den Angriff einstellen«, rief Breckcrown in sein Helmfunkgerät. »Ich gehe nach Plan vor.« Die Jet startete schnell und mit hohen Werten. Noch war der erste Kampfroboter nicht in der Schleuse verschwunden, zogen sich die Landebeine in die Öffnungen der Unterschale zurück, raste der Diskus schräg durch die aufblitzenden Detonationen davon, um sich zu verstecken. Zu diesem Zeitpunkt waren die SZ‐2 und ihre Beiboote am Ysterioon vorbeigerast und entfernten sich in Richtung auf den riesigen Stern im Zentrum des Systems. Die ersten Kreuzer schleusten sich in komplizierten Manövern wieder ein. Das große Schiff feuerte seine Breitseite in die schillernden Schirme der roxharischen Zellen. Die Scheinattacke der Solaner schien den gewünschten Erfolg gehabt zu haben. Für Beobachter innerhalb des Kugeloktogons sah es mit einiger Sicherheit so aus, als ob die SZ‐2 zwar einen Angriff vorgetragen, sich aber wenig erfolgreich geschlagen habe. Die Probleme der SZ‐2 interessierten in diesem Moment weder Atlan noch seine beiden Begleiter. Sie befanden sich auf dem Boden der Schleuse. Als der Roboter die Luke herunterzog und verriegelte, flammten einige raumsichere Beleuchtungskörper auf. Die drei Solaner befanden sich im Innern der Zentralkugel. * Atlan ließ sich von dem
Roboter hochheben und schlug mit der Faust kurz und hart gegen eine Kontaktplatte. »Irgendwann werden wir vielleicht erfahren, aus welchem Grund an so vielen Stellen die Größenverhältnisse differieren«, brummte Atlan verdrossen. »Das war auch kein Schalter für Ysteronen.« Leise summend versank eine Wandplatte in einem Bodenspalt. Ein Kampfrobot schwebte mit erhobenen Waffenarmen im Schutz des Schirmfelds hinaus. Seine Sehzellen leuchteten, aber die Maschine identifizierte keinen Gegner und nichts, das sie zum Handeln aktiviert hätte. In lakonischer Kürze brummte Hayes: »Wo finden wir Deccon?« Brelskoll stieß ein heiseres Lachen aus und erwiderte: »Ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer weit entfernt.« Die zwei Kampfroboter bauten sich vor den Solanern auf und sicherten. Einer von ihnen trug einen kleinen, transportablen Transmitter mit den dazugehörigen Hochenergiezellen. Das Gerät hatte ebenso wie die beiden Maschinen einen deutlichen taktischen Zweck. Atlan, der sich so schnell wie möglich aus dem Kampfanzug schälte, dachte kurz an die SZ‐2 und ihre Beiboote. Das Schiff würde, nachdem es rasend schnell das Ysterioon passiert hatte, alle Kreuzer und Korvetten wieder einschleusen, ohne die Fluggeschwindigkeit zu verringern. Das Ziel des großen Raumschiffs war die diffuse Korona der Sonne Nickelmaul oder Kores. Dort waren das Schiff und alle Insassen vor den Verfolgungen der roxharischen Zellen und der Abwehrwaffen des Ysterioons sicher. Was Atlan, Bjo und Hayes nicht wußten: die Ysteronen und Roxharen – also die Besatzung des Ysterioons – wurden vom geistigen Faktor gelenkt … und sie hatten in den vergangenen Minuten das Kugeloktogon auf höchst ungeschickte, schlecht koordinierte Weise verteidigt. Selbst wenn die drei Solaner dies gewußt hätten, würde es sie und ihren Versuch nicht entscheidend beeinflussen.
Atlan schob als erster der drei seinen Kampfanzug unter eine Art Einbauschrank, griff an die Kolben der Waffen und blickte einen schräg nach unten führenden Korridor entlang. Langsam und konzentriert sagte er: »Es wird Orientierungsprobleme geben, meine Freunde. Unser Ziel ist nachweislich das Zentrum dieser zentralen Kugel.« Bjo warf ihm einen Blick zu, der Breiskolls Ansicht über das Problem deutlich zum Ausdruck brachte. »Hundertfünfzig oder mehr Kilometer in völlig unbekannter Umgebung, Atlan – wir haben uns einiges vorgenommen.« Die beiden Maschinen schwebten langsam die schräge Fläche abwärts. Sie hatten klare Befehle, denen sie gehorchten. In kurzer Zeit, das sagte sich der Arkonide, würde das Eindringen der kleinen Gruppe bemerkt werden. Mit steigender Ungeduld sah er zu, wie sich Bjo und Hayes der schweren Anzüge entledigten und sie dort verstauten, wo Atlans Anzug lag. Atlan sagte auffordernd: »Wir schaffen es. Ich werde gleich versuchen, Girgeltjoff und Deccon anzufunken. Ich weiß, daß ich kaum Erfolg damit haben werde.« Breckcrown hob seine Ausrüstung hoch und folgte den Maschinen. Er blickte über die Schulter zurück und stieß hervor: »Nicht reden – handeln!« »Wir kommen!« versicherte Atlan und rannte los. Sie liefen die schräge Fläche hinunter und folgten den beiden Maschinen. Dieser Korridor nach der Einstiegsluke war auf keinen Fall für Ysteronen entworfen worden. Er besaß das Format für Roxharen und Solaner und Wesen dieser Körpergröße. Nach etwa eintausend langen Schritten standen die fünf Eindringlinge vor einem riesigen Schott. »Verdammt«, sagte Bjo. »Ein Korridor für Zwerge. Hier mündet ein anderer, der von Ysteronen benutzt werden kann. Das Schott … wohin bringt es uns?«
Atlan nahm seine Finger von den Einstellknöpfen des Funkgeräts. Sein Verdacht hatte sich erwartungsgemäß bewahrheitet: es war sinnlos, im Innern des Ysterioons solanische Funktechnik benutzen zu wollen. »Auf jeden Fall weiter ins Ysterioon hinein«, konterte der Arkonide. »Mit jedem Schritt näher zu Deccon, Lyta und Hage, zu Girgeltjoff und dem anderen Ysteronen, zu Argan U und Sanny. Und, möglicherweise, auch näher zur Erkenntnis.« Er berührte einen Kontaktschalter. Das Schott schob sich in massiven Rahmenkonstruktionen zur Seite und ließ dahinter einen weiteren Korridor erkennen, dessen Ende offensichtlich in einen Liftschacht mündete. Die Gänge, die vor den Eindringlingen lagen, waren ebenso hell, ebenso klimatisiert und genauso leer wie diejenigen, die hinter Atlan und seinen Begleitern lagen. »Verdammt«, fauchte Breiskoll und rannte hinter den Kampfmaschinen her, »wenn uns doch irgend jemand helfen würde. Für jeden einzelnen Hinweis wäre ich dankbar.« Atlan lachte heiser, während Hayes mit verschlossenem Gesicht neben ihm rannte. »Das wäre zuviel verlangt. Bisher haben wir überlebt, nicht wahr?« »Das kann sich verdammt schnell ändern.« Die Solaner und die zwei Kampfroboter konnten den Lift benutzen. Dies schien eine Anlage zu sein, die offensichtlich nur für schwere Lasten vorgesehen war, die von der Außenseite der Kugel in deren Inneres hineintransportiert werden sollten. Schnell sank die riesige Kabine abwärts. Die fünf Fremden, selbst die Roboter mit dem Kleintransmitter, drängten sich zu einer Gruppe zusammen, die im Mittelpunkt der runden Fläche seltsam verloren und schutzbedürftig wirkte. Und trotzdem: sie sahen aus, als würden sie sich gegen alle denkbaren Gefahren schnell und wirkungsvoll wehren können.
Einige Minuten vergingen in tiefem Schweigen, in vollkommener Lautlosigkeit und ohne jedes Ereignis. Dann dröhnte die mentale Stimme auf. Der geistige Faktor hatte die Eindringlinge bemerkt. Die drei Solaner erstarrten und versuchten, den Sinn dessen, was der geistige Faktor durch das Ysterioon brüllte, zu erfassen und richtig zu deuten. Es war klar, daß das Eindringen von drei Intelligenzwesen und zwei Maschinen entdeckt worden war. Der geistige Faktor war entschlossen, sie zu vernichten, ehe sie in eine Zone vordrangen, in der sie noch mehr Unheil anrichten konnten. Atlan und Bjo starrten einander schweigend in die Augen. Dann murmelte der Arkonide: »Die Jet ist vielleicht noch auf der Oberfläche der Kugel. Vor uns liegt eine Wegstrecke, die tatsächlich halbwegs unendlich lang ist. Ich bleibe trotzdem einigermaßen optimistisch.« »Wir sollen vernichtet werden, laut unserem unsichtbaren Gegner!« wandte Breiskoll ein. »Hoffentlich irrt sich der geistige Faktor.« Lautlos sank der Lastenaufzug in beachtlicher Geschwindigkeit tiefer und tiefer, dem absoluten Mittelpunkt der Kugel zu. Bis zu diesem Moment waren die Eindringlinge allein und unbelästigt geblieben. Breckcrown Hayes faßte die Überlegungen der Solaner zusammen und sagte kurz, aber unnatürlich laut: »Noch leben wir. Und in dem Augenblick, an dem das Gegengerät des Transmitters aufgestellt und justiert worden ist, sind wir nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr.« Ein schwacher Trost, aber ein immerhin aufmunternder Ausblick. Atlan, Bjo und Hayes hofften, bald auf ihre Freunde zu stoßen. Mit jeder Minute, die sie auf dem Weg zur Tabuzone waren, gefährdeten sie sich selbst. Im Augenblick schien es, als wäre der
Lift mit den Solanern auf dem direkten Weg ins Verderben. ENDE Durch die gefangenen Roxharen weiß Atlan inzwischen einiges mehr über die Macht, die er »Hidden‐X« nennt und die identisch zu sein scheint mit dem, was die Roxharen als »geistigen Faktor« bezeichnen. Sein Wissen verhilft dem Arkoniden dazu, sich durchzusetzen und zu überleben IM REICH DER GIGANTEN … IM REICH DER GIGANTEN – so lautet auch der Titel des Atlan‐Bandes der nächsten Woche. Als Autor des Romans zeichnet Kurt Mahr.