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Reihe »Geschichte und Geschlechter« Herausgegeben von Claudia Opitz-Belakhal, Angelika Schaser und Beate Wagner-Hasel Band 49
lvlartin Dinges ist stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und <10. Professor für N euere Geschichte an der U niversität Mannheim.
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Martin Dinges (Hg.)
Männer - Macht - I<örper Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute
Campus Verlag Frankfurt / New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37859-0 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielf.-iltigungen, Übersetzungen, Mikroverftlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Unter Verwendung einer Lithographie von P. Deckers (um 1 846): Bonner Studentenleben: Landesvater (Abb. 78 aus der Sammlung Deutsche Gesellschaft für Hochschulkunde (DGfH) im 1fH, in Paulgerbard Gladen: Calld",,""IS igittlt: Die stlldmlischm Verbindnngell eins/llndjet'?!, unter Mitarbeit von Ulrich Becker, 2. Aufl., München 1988) Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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Inhalt
»Hegemoniale Männlichkeit« - ein Konzept auf dem Prüfstand Malt;n Dinges
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Dominante Männlichkeiten Der Mythos vom Kaiser Karl Die narrative Konstruktion europäischer Männlichkeit im Spätmittelalter am Beispiel von Kar! dem Großen Bea Ltll1dt
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»Der hät ainen weibischen muot ...« Männlichkeitskonstruktionen bei Konrad von Megenberg und Hildegard von Bingen Andrea Moshb)JeI
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Frühmoderne hegemoniale Männlichkeiten »Die Opfer des Herren« Das Ringen um Männlichkeiten im ersten täuferischen Martyrologium Nicole Groch01J!ina Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? Ü berlegungen zum Wandel akademischer Habitusformen vom Ancien Regime zur Nloderne Malian Fiissel
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INHALT
Moderne hegemoniale Männlichkeit Zur Relevanz des Connell'schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für »IvIilitär und Männlichkeit/ en in der Habsburgermonarchie (1 868-1 9 1 4/ 1 9 1 8)« ....... 1 03 Christa HäJJ/JJ/erie Koloniale Vaterschaft zwischen Marginalisierung und Hegemonie Männlichkeiten in der entstehenden imperialen Gesellschaft Frankreichs (1 870- 1 9 1 4) iVJare 5chil1dler-BOl1diguel
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Marginalisierte Männlichkeiten? Auf Kneipe und Fechtboden Inszenierung von Männlichkeit in jüdischen Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik ............................................................... 1 41 MiriClJJ/ &imp »Das ekle Geschmeiß« Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit im Kaiserreich . Martill Lücke
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1 57
Männerbund Fußball - Spielraum für Geschlechter im Stadion Ethnographische Anmerkungen in sieben Thesen .......................................... 1 73 AIJJltlt Süli/e Gewalt in Blau Zum Gewaltdiskurs in Blaubart-Texten des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Männlichkeitsforschung .......................................................... 192 Monika SifzepClJliak
Soziologische Perspektiven Hegemoniale Männlichkeit Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive ........................ 21 1 Aficbael MellSer, j)lka ScholZ Autorinnen und Autoren....................................................................................... 229
»Hegemoniale Männlichkeit« - Ein !(onzept auf dem Prüfstand Martin Dinges
1. Das Konzept und sein Hintergrund
Der australische Soziologe Robert William Connell hat 1 987 sein Konzept der »Hegemonialen Männlichkeit« zunächst in dem Buch Gender and Power, später in weiteren Fa;sungen vorgelegt.! Seither wurde sein Interpretament ins besondere in der englischsprachigen Literatur rezipiert, die in der Gender forschung die Rol!e des Trendsetters spielt. Insofern ist der weltweite Einfluß von Connel!'s Ü berlegungen schwerlich zu überschätzen, der noch durch Ü bersetzungen seiner Werke seit Mitte der 1 990er Jahre weiter stieg. Connells Versuch, der entstehenden Männerforschung einen theoretischen Rahmen zu bieten, entsprach also einem weit verbreiteten Bedürfnis. Wichtige Grundzüge des Konzepts »hegemoniale Männlichkeit« werde ich im Folgenden anhand der deutschen Ü bersetzung eines seiner späteren \X!erke, MasClIlinitieJ, darstel len.2 Im J ahre 1 999 unter dem Titel Dergemachte A1anJJ. KOI1Jtl7lktioll IIlJd KriJe von Maimlichkeiten publiziert, wurde diese Fassung des Ansatzes im deutschen Sprachraum am meisten rezipiert. Hintergrund für die Entstehung von Connells Konzept ist einerseits die feministische Kritik der 1 970er und 1 9 80er Jahre am Patriarchat in allen seinen Ausprägungen in Wirtschaft, Politik und »Privatleben«. In dieser Fassung des Patriarchatskonzepts war neben den konkreten Erscheinungsformen die stete Reproduktion von Männerherrschaft die zentrale Aussage. Gleichzeitig the matisierte die Kapitalismuskritik Herrschaft einer Minderheit über die Mehr heit als Legitimatiol1.rprobleme im SpätkapitaliJmtlJ (Habermas) und als Problem des »falschen Bewußtseins« der unterdrückten Arbeiterschaft. Der italienische marxistische Theoretiker Antonio Gramsci (1 89 1 -1 937) hatte während seiner Gefangniszeit im faschistischen Italien die Entstehung eines solchen »falschen« 1 Connell, 1987; eine freihere Fassung ist in einem gemeinsam mit Carrigan, 1985 gezeichneten Artikel publiziert; der Diskussiunsstand bei der Entstehung von Connell, 1 995 läßt sich gut an hand der von Connell herausgegebenen Zeitschriftensondernummer (Conncll, 1 993) nach vollziehen. 2 Connell, 1 995, Ü bersetzungen u.a. auch ins Italienische (1996) und Schwedische (1 999).
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Bewußtseins mit der kulturellen Hegemonie des Bürgertums zu erklären ver sucht.3 Seine Ü berlegungen wurden seit den 1 970er Jahren rezipiert. Schließ lich war eine gesellschaftskritische Fassung der Psychoanalyse - vom »auto ritären Charakter«, den die Frankfurter Schule als Begleiterscheinung des Kapitalismus diagnostizierte, bis zu Theorien der sexuellen Befreiung (Wilhelm Reich, 1 897-1957) in der sich selbst als »kritisch« bezeichnenden Soziologie und in der öffentlichen Diskussion damals sehr bedeutsam. Die genannten Werke lagen sämtlich in englischer Sprache vor und prägten auch Connells Ü berlegungen. Nach Connell »kann man hegemoniale Männlichkeit als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Do minanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)«4 (98). ivIit dieser Definition betont Connell erstens. die Praxis, also das Handeln, als den Kernpunkt seines Konzepts. Damit werden Interaktionen in den Vor dergrund gerückt. Connell grenzt sich von den damals dominanten funktionalistischen Theo rien kultureller Reproduktion - auch der Geschlechterordnung - ab. Es geht ihm demnach nicht um Rollen und Rollenerfüllung, weder in dem struktur funktionalistischen Sinn, daß Subjekte sich systemischen Vorgaben anpassen und damit das reproduzieren, was von Männern und Frauen erwartet wird, damit die Gesellschaft weiterfunktionieren kann; noch sind Rollen im Sinn eines offeneren Konzepts gemeint, das die Wahlfreilleit der Subjekte höher einschätzt und nicht von einer automatischen Rückbindung des Rollenverhal tens an die Reproduktion einer Gesellschaft ausgeht.5 »Hegemoniale Männlich keit« sei ein dynamisches Konzept - an anderer Stelle fällt auch der Begriff »dialektisch« (57). Interaktionen könnten Geschlechterarrangements verändern und nicht zuletzt andere Ergebnisse hervorbringen als von den Subjekten oder den »Institutionen« intendiert. Zweitens bezieht sich Connell in seiner Definition nur auf geschlechtsbe zogene Praktiken, die allerdings nicht näher definiert werden. Damit sollen wohl andere Verhaltensweisen ausgeschlossen werden. O ffen bleibt die wich tige Frage, ob es nicht geschlechtsbezogene Praktiken überhaupt gibt. Jeden falls verweist die Verwendung des Praxisbegriffs eher auf Gender als den für Connell konstitutiven Ansatz. Demgegenüber kann »Patriarchat« zumindest im
3 Erstmals Hoare, 1 97 1 . 4 Connell, 1 999, 98; ab hier wird clieses Werk nur mit der Seitenangabe im Text zitiert. 5 Connells Kritik am Rollenbegriff ist sehr explizit, s. 1 999, 39-46.
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Sinne einer sich selbst reproduzierenden systemischen Ordnung, die immer währende Männerherrschaft garantiert, nicht wirklich gemeint sein. Einerseits scheint Connell einen gewissen Voluntarismus der Praxis anzunehmen, denn nur dieser würde die Veränderbarkeit der Geschlechterordnung ermöglichen das ist sein emanzipatorischer Impetus - andererseits scheint »hegemoniale Männlichkeit« aber zur jeweiligen Reproduktion von Männerherrschaft zu dienen. Drittens steht eine Konfiguration solcher Praktiken im Vordergrund, also ein Ensemble von Praktiken, die sich in einem relativ stabilen, aber nicht stati schen Verhältnis zueinander befinden. Diese begriffliche Anleihe bei Norbert Elias verweist auf einen Reproduktionsmechanismus von Herrschaft, in dem wiederholte Praktiken den Status und die Stabilität von Institutionen erreichen können. Connell selbst würde vielleicht den strukturierenden Charakter von Praktiken für Institutionen und umgekehrt von Institutionen für Praktiken etwa im Sinn des Soziologen Anthony Giddens - beton�n.r) In dieser Fassung bedingen und stabilisieren sich Strukturen und Praktiken gegenseitig und kön nen sich beide ebenso modifzieren. Viertens werden diese Praktiken als defensive Verhaltensweise vorgestellt, denn sie werden als Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats charakterisiert. Herausforderungen sieht Connell in der Frauen- und in der Schwulenbewegung, die beide die Art patriarchalischer Männlichkeit, wie sie sich im 19. Jahrhundert umfassend herausgebildet habe, in Frage stellten. Da Connell die »Homophobie«, also die scharfe Ablehnung gleichgeschlechtlichen Begehrens und entsprechender Beziehungen unter Männern, für einen kon stitutiven Aspekt hegemonialer Männlichkeit hält, schätzt er das Destabilisie rungspotential der Schwulenbewegung als hoch ein. Drei andere Herausforde rungen an das Patriarchat begründet er modernisierungstheoretisch: die universalistischen Tendenzen des modernen Staates, der Marktgesellschaft und der Bildungssysteme, die letztlich alle auf eine Gleichstellung von Frauen und TvIännern hinwirkten. Zunehmende Gewalt im Geschlechterverhältnis be trachtet er dementsprechend als Krisensymptom einer unter Druck befindli chen Geschlechterordnung, die die Männer privilegiere (1 04 fV Fünftens charakterisiert Connell diese geschlechtsbezogenen Praktiken mit dem Begriff der Verkörperung. Connell unterstreicht die zentrale Rolle des Körpers als Bezugspunkt vergeschlechtlichter Praxis. Die Repräsentations funktionen des Körpers werden lediglich angedeutet. Wichtig ist Connell die
6 Giddens, 1 988. 7 Diese Gewalttätigkeit verweist m. E. gleichermallen auf eine steigende Unsicherheit männli cher Rollenperformanz wie auf eine höhere Konfliktbereitschaft von Frauen.
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Abgrenzung von diskurstheoretischen Ansätzen. Gegen diese besteht er auf der Bedeutung des physischen Auslebens und des körperlichen Ertragens von Geschlechterbeziehungen. Keineswegs sei alles Text. Sexualität und sexuelle Präferenzen spielen dementsprechend im 1'lännlichkeitskonzept von Connell eine große Rolle. »Hegemoniale Männlichkeit« sei - individualpsychologisch wie historisch - seit dem späten 1 8. Jahrhundert mit Homophobie verbunden. Die Ausgrenzung bestimmter Sexualpraktiken und Verhaltensformen unter Märmern 'werde betrieben, um sie als unmännlich bzw. weiblich abzuwerten. Der von der modernen hegemonialen Männlichkeit geforderte Standard sei »Zwangsheterosexualität«,8 Das mag auch als Beispiel dienen für die histori sche Veränderbarkeit der Formen von dominanter und damit noch nicht »he gemonialer« Männlichkeit im Sinne Connells. Verkörperung meint bei Connell keinesfalls, daß das Verhalten von Männern oder Frauen durch ihr biologi sches Geschlecht determiniert wäre, wie das in frühen Fassungen des Patriar chatskonzept angenommen wurde.9 Sechstens wird der Begriff Patriarchat von Connell trotzdem verwendet. Er bestimmt es doppelt als Dominanz der Männer und als Unterordnung der Frauen. Damit unterstreicht er - neben dem Herrschaftsverhalten von Män nern - die Bedeutung der Akzeptanz von Unterordnung durch Frauen als Teilbedingung patriarchaler Herrschaft. Connells Patriarchatsbegriff scheint einerseits eine immerwährende Herrschaftsrelation zwischen Männern und Frauen - etwa im Sinn von Hegels »Herr und Knecht«- zu beinhalten, anderer seits ist Patrian;hat historisch spezifisch und damit unterschiedlich stark ausge prägt. Connell wendet den Begriff Patriarchat herrschaftskritisch: Eine Redu zierung patriarchalischer Verhältnisse ist demnach besser und bedeutet Fortschritt. Allerdings geht er nicht von linearen historischen Prozessen - zum Ab- oder Aufbau von patriarchalen Strukturen - aus. Während der letzten Jahre thematisiert Connell aktuelle globale Tendenzen zur Durchsetzung okzi dentaler Modelle hegemonialer Männlichkeit, bei denen auch die Kategorie »Rasse« - besonders im Zusammenhang mit rvIigrationen - noch stärker in den Blick kommt.1o Der Patriarchatsbegriff ist bei ihm insgesamt wenig analytisch und hat im empirischen Teil seines Werks gegenüber dem zentraleren Praxis begriff eher die Position einer Hintergrundfolie. Siebtens wird mit der in Klammern gesetzten Formulierung am Ende der einleitend zitierten Definition, nämlich »gewährleisten soll«, der ambivalente Charakter des Konzepts angedeutet: Als Zielvorgabe beinhaltet »hegemoniale 8 Der Begriff ist aus der Frauenforschung übernommen. Dort wirke sich Zwangsheterosexuali· tiit insbesondere in der zwingenden Erwartung aus, sich ZlI verheiraten. 9 Meyer, 1993. 10 ConneU, 1998; s.a. Connell, 2000, 26 f.
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Männlichkeit« immer auch die Möglichkeit (teilweisen) Scheiterns. Einerseits ist sie kulturelle Orientierung, andererseits alltägliche Praxis. Connell verweist an dieser Stelle auf die Flexibilität des Hegemoniebegriffs, den er von Gramsei übernimmt: Hegemonie sei nie auf Dauer gesichert, sondern müsse immer wieder - bei Gramsei nota bene: in Klassenkämpfen - errungen werden. Be reits in einer früheren Publikation von 1977 unterschied Connell drei Ebenen, die nicht die Strenge einer Theorie, sondern eher den Status eines lockeren Rahmens (framework) hätten: Der soziopolitische Block, der durcH »personal politics, social attitudes, individual consciousness« charakterisiert sei; das Un bewußte, das regelmäßige Verhaltensweisen mit Hilfe von Ideologie steuere; schließlich Routineinteraktionen, die unabhängig von den beiden ersten Ebe nen analysiert werden könnten.11 Dies mag als Erläuterung dienen, wie Connell sich das Funktionieren von Hegemonie vorstellt. Das Konzept »Hegemoniale Männlichkeit« beschreibt demnach gleichzeitig eine Herrschaftsnorm und vielfaltige - bewußte und unbewußte sowie routinisierte Formen - ihrer Um setzung.12 Für die heuristische Nutzung führt diese Dopplung als Zielvorgabe und gelebte Realität zu erheblichen Problemen.13 Achtens nennt er als Dimensionen, innerhalb derer sich hegemoniale Prak tiken ausbilden, Macht, Arbeitsteilung und emotionale Bindungsmuster, die sich zu Geschlechterregimes zusammenfinden. Man erkennt hier die Trias von Herrschaft, Arbeit und Kultur wieder, die Max Weber gegen eine Tendenz zur Überbetonung der ökonomischen Basis im Werk von Kar! Marx entwickelte. Auch Connell reiht sich mit dem dritten Element in die Kritik an ökono mistischen und politischen Verkürzungen der Analyse von Herrschaft ein.14 Das legt der Untersuchungsgegenstand allerdings auch sehr nahe, denn emoti onale Bindungsmuster (107) sind für die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Guten wie zur Aufrechterhaltung von Herrschaftsbeziehungen - bis hin zur fatalen Bindung geschlagener Frauen an den Täter - besonders wich tig.15 Connell tendiert hier allerdings trotz seiner einleitenden Übersicht über die Beiträge der Psychoanalyse zur Männlichkeitsforschung (26-39) zu einer herr schaftssoziologischen Engführung. Der Verweis auf das Verbot von Gefühlen, Bindungen und Lust innerhalb der patriarchalen Ordnung und damit einher gehende Spannungen greift zu kurz. Auch die Fallstudien betreffen ganz überwiegend Sexualität und bieten wenig zu Gefühlen und emotionaler Bin11 12 13 14 15
Connell, 1 977, 207f. In seiner anthropologischen Studie unterstreicht Almeida, 1 996 diese Differen? immer wieder. Sie wurden insbesondere im Zusammenhang mit den Modernisierungsthe01'ien diskutiert. So schon 1977 explizit unter Bezugnahme auf die »Frauenbewegung«, Conncll. 1 977, 207. Dazu Bauer/Hiimmerle, 2005.
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dung zwischen Männern und Frauen (145-148, 160, 172, 195 ff.). Meines Erachtens sollte sich gerade eine differenzierte Analyse der Herrschaftsmecha nismen innerhalb von Geschlechterbeziehungen nicht einer doppelten theore tischen Fundierung in Soziologie und Psychologie bzw. Psychoanalyse berau ben.16 Eine Stärke von Connells Ansatz bleibt es demgegenüber, die Verankerung von Geschlechterbeziehungen in ökonomischen Lagen nicht aus dem Auge zu verlieren. Gleichzeitig konstatiert er unterschiedliche Funktionsweisen der Geschlechterverhältnisse in den drei genannten Dimensionen: Macht wird in Über- und Unterordnung, Arbeitsteilung in Trennung und Positionszuwei sung, emotionale Bindung über Sexualität und Gefühl konstitutiert. Er läßt m. E. nur scheinbar offen, ob diese Punkte gleichwertig sind. Da sein Ansatz herrschaftstheoretisch konstruiert ist, spielen Machrverhältnisse im Vergleich zu Arbeit und Emotion kategorial eine vorrangige Rolle. Neuntens sei darauf verwiesen, daß Connell die internen Differenzierun gen zwischen Männern innerhalb der üblichen Praktiken hegemonialer Männ lichkeit herausstellt (99-102): Auf das Muster, die Homosexuellen als un männlich auszugrenzen und in untergeordnete Positionen zu drängen, wurde bereits hingewiesen; ansonsten diene Komplizenschaft zwischen Männern generell der Stabilisierung ihrer Position. Dabei würden Probleme aus dem Bereich von Familie und Ehe eher nicht thematisiert. Ziel des Zusammenhalts unter Männern sei die Sicherung ihrer »Hegemonierente« gegenüber allen Frauen,17 Gemeint sind damit die Vermögens-, Macht- und emotionalen Vor teile, die Männer aus ihrer gemeinsam gehaltenen Position als Mann beziehen. Marginalisierung werde insbesondere gegenüber Männern aus untergeordneten Klassen oder ethnischen Gruppen praktiziert. Zehntens haben wir es, insgesamt betrachtet, mit einem recht locker ge strickten Ansatz zu tun - Connell selbst nennt sein Konzept einen »begriffli chen Rahmen« (111). Daß das Interpretament »hegemoniale Männlichkeit« theoretisch flexibel und inhaltlich ziemlich unbestimmt war, erhöhte m. E. seine Chancen, sich geradezu als Paradigma der entstehenden Männerfor schung weltweit durchzusetzen. Insotern kann man einerseits keine sehr de taillierten Vorgaben für empirische Validierungen erwarten, andererseits kann eine empirische Nutzung auf dem Weg der Falsifikation ggf. notwendige Erweiterungen voranbringen. 16 Als Histuriker f.illt es mir leichter, nicht den Vormng der Soziologie gegenüber der Psycholo gie behaupten zu müssen, wie das Connell für seine Disziplin tut, 39; auch Tosh, 1998, 1 96 f. unterstreicht die Norwendigkeit einer gleichgewichtigen Beachtung beider Komponenten; s. a. Arx/Gisin, 2003. 17 Differenzierend zur Hegemonierente in Gesellschaften der Gegenwart FarreU, 1 995.
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Der Status des Konzepts als flexibler Rahmen hat allerdings nicht daran gehindert, daß schon früher Präzisionen und Modifikationen angemahnt wur den.18 Als Weiterentwicklung des Konzepts wurde schon vor Jahren von Mi chael Meuser »geschlechtlicher Habitus« vorgeschlagen.19 Scholz mahnte an, nicht von einer, sondern von mehreren hegemonialen Männlichkeiten auszu gehen.20 Solche soziologischen Perspektiven werden im letzten Kapitel dieses Bandes - auch im Lichte der Beiträge - entwickelt.
2. Rezeptionen und Modifikationen Die Rezeption des Connellschen Ansatzes durch Historiker und Historikerin nen zeichnet sich durch die bei solchen Rezeptionsprozessen übliche Band breite aus, die vom wenig refel ktierten Gebrauch der Worthülse »hegemoniale Männlichkeit« bis zum konkreten Aufgreifen einzelner Komponenten des Konzepts als heuristische Anregung reicht.21 Fast ausschließlich in Großbritan nien, den U SA und Australien wurden auch an Connells Überlegungen orien tierte Einzelstudien vorgelegt. Sie betreffen vorwiegend das 1 9. und 20. Jahr hundert und unterstrichen nicht zuletzt die Entwicklung einer » Middleclass masculinity« sowie zunehmend die Kategorie Ehtnizität.22 Militärische Männlichkeit galt und gilt als beliebtes Beispiel für hegemoniale Männlich keit.23 Ausgrenzungsprozesse der als nicht hegemonial betrachteten Männlich keiten von Homosexuellen sowie von Juden im Kontext des Antisemitismus haben die Forschung besonders interessiert, wobei diese Formen der Margina lisierung auch ohne direkte Bezugnahme auf Connell diskutiert wurden.24 Der Wunsch, herrschende Männlichkeitsvorstellungen mit dominanten politischen Orientierungen ganzer Gesellschaften zu verknüpfen, führte zu einer vorrangi-
1 8 Donaidson, 1 993, mahnte wohl als einer der ersten Präzisierungen hinsichtlich der Felder, der Reichweite und der Ambivalenz von »hegemonialer Männlichkeit« als Norm und als empiri sche Größe an. 19 S. dazu den Beitrag von Meuser/Scholz in diesem Band. 20 Scholz: http://www.ruendal.de/aim/pdfs/Scholz.pdf. 21 Vgl. zum Umgang von Historikern mit Theorieangeboten erwa zum Fall FOllcault: Dinges, 1 994; zuletzt Brieler, 2003. 22 Literatur bei Tosh, 2004; leicht zugänglich im deutschen Sprachraum sind die Beiträge in Kühne, 1 996; S.a. Sinha, 1 999. 23 S. zuletzt Dudink, 2004. 24 Zum letzten Stand der Forschung zur Homosexualität s. Micheler, 2005; zu Männlichkeit und Judentum s. besonders Gilman, 1 994; Boyarin, 1 997.
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gen Beachtung normativer Männlichkeitsleitbilder, deren Verbreitung und tatsächliche Rezeption oft nur im Ansatz ausgearbeitet wurden.25 Insgesamt erfuhr man deshalb mehr über Repräsentationen von Männlich keiten als über alltägliche Praktiken. Ansonsten wurden die internen Differen zierungen von Männlichkeiten und die erheblichen Konkurrenzen zwischen Männlichkeitsmodellen und Männern sichtbar. Je nach Ansatz wurde hegemo niale Männlichkeit unterschiedlich stark hinsichtlich der sozialäkonomischen fundierung oder ihrer differenzierten kulturellen Codierung akzentuiert. Die Rezeption durch deutsche Historiker und Historikerinnen setzte spät ein und geht bisher nicht sehr weit.26 Schmale ist in seiner kürzlich erschiene nen » Geschichte der Männlichkeit« weniger an konzeptionellen Überlegungen als an empirischer füllung interessiert.27 für Historiker und Historikerinnen ist Connells Überlegung, daß »hege moniale Männlichkeit« erst seit ca. 1450 entstanden sein soll, eine gewisse Herausforderung, denn sie wirft sofort die frage auf, welche Art oder welche Arten von Männlichkeit in früheren Jahrhunderten als Leitbilder gewirkt haben könnten. Im Kern wird hier die Frage nach einem historisch und systematisch herzuleitenden Gegenbegriff zur »hegemonialen Männlichkeit« aufgeworfen. Damit werden auch die Konstitutionsbedingungen von Connells Konzept zum Thema. In seiner kurzen - und durchaus problematischen - historischen Skizze nennt Connell die Lutherische Ehelehre als ersten Schritt zu einer stärkeren normativen Betonung der Zwangsheterosexualität von Männern. Auch die Individualisierung der Gottesbeziehung sei eine Voraussetzung für moderne Männlichkeit, die offenbar als Individualität verstanden wird. Gleichzeitig hält Connell das »Vom üblichen Sozialgefüge in der Heimat befreite« unkontrol lierte Wüten der Konquistadoren für einen »vielleicht ersten kulturellen Typus von Männlichkeit im modernen Sinn«. Daneben seien die berechnende Ano25 S. etwa Mosse, 1997, der dies am stärksten noch in seinem letzten Kapitel. Für visuelle Leitbil der s. zuletzt Kessel, 2005; Fend/ Koos, 2004. 26 So kamen selbst so anregende und weiterführende Studien zum 19. Jahrhundert wie die von Welskopp, 2000, z. B. 596ff. oder Habermas, 2000, aber auch Eifert, 2003 oder der Soziologin Kurth, 2004 noch völlig ohne Connell aus, obwohl sich Kühne, 1 996 in seiner Einleitung mehrfach darauf bezieht. Die Bezugnahme auf ältere deutsche Forschungsparadigmen wie patriarchale Herrschaft (bei Eifert) oder Männerbünde O,ci Kurth) scheint den Blick auf an dere Deutungsangebotc zu erübrigen. Hagcmann, 2002, 64 f, 272, 305 nutzt das Konzept ex plizit. Das ),Leitbild patriotisch-wehrhafter )Männlichkeit«<, habe« in der damaligen Zeit [der Befreiungskriege, M.D.] erstmals hegemoniale Bedeutung im veröffentlichten Diskurs« ge wonnen, charakterisiert es auch inhaltlich und schreibt spilter (339) von einem »hegemonialen Leitbild«. Der Akzent liegt also auf hegemonial gewordenen Diskursen, nicht auf Praktiken. Gleixner, 2003, 268 nutzt »hegemoniale Männlichkeit« weitgehend identisch mit »Patriarchat('. 27 Schmale, 2003. S. dazu weiter umen; vgl. aber Schmale, 1 998.
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nymität von Kaufleuten mit ihren neuen Formen »geschlechtsbezogener Ar beit« (208) in den Handelsstädten sowie schließlich die militärische Tätigkeit in den Kriegen während der Frühen Neuzeit mit ihrer zunehmenden Stilisierung des Heldenmuts wichtig. Connells Bauplan für hegemoniale Männlichkeit umfaßt historisch genetisch somit die in der Ehe eingehegte männliche Sexua lität, geschlechterexklusive »Berufs«-Tätigkeiten - seien sie rechenhaft oder besonders gewalttiitig - sowie die Stilisierung von solchen Formen des männJj-. chen Heldentums, die sich mit Gemeinschaftsinteressen positiv verbinden lassen. In einer zweiten Phase seit dem 18. Jahrhundert hätten sich in den Metro polen Nordwesteuropas - gemeint sind immer lediglich die nördlichen Nie derlande und das Vereinigte Königreich - drei weitere entscheidende Ent wicklungen vollzogen: Seit ca. 1750 bildete sich in einigen westeuropäischen Metropolen eine öffentlich sichtbare gleichgeschlechtliche Kultur von Män nern heraus, die bestimmte Lokale ( Mollyhouses) und explizit >>unmännliche« Kleidung zur Darstellung ihrer Art von Männlichkeit nutzte. Diese demonst rativ inszenierte Homosozialität sei über frühere legitime Ausdrucksformen mannmännlicher Beziehungen während bestimmter Lebensphasen hinausge gangen und habe deshalb Grenzziehungen herausgefordert. Zweitens sei die Abgrenzung zur Weiblichkeit - in Wirtschaft und Staat nun stärker ausgeprägt und - nach der Französischen Revolution auch - poli tisch institutionalisiert worden. Schließlich sei keineswegs nur in den Städten sondern in der englischen Gentry, dem ländlichen Kleinadel, bereits im 18. Jahrhundert in der Kombination von ökonomischer Unabhängigkeit, kapitaJjs tischem Zinskalkül, männlicher Hausherrschaft, Herrschaft über die Landar beiter und Nutzung von Verwandtschaftsnetzen ein erster vollständiger Typus hegemonialer Männlichkeit entstanden. Diese Überlegungen zum 18. und frühen 19. Jahrhundert variieren die bereits für das 16. und 17. Jahrhundert angeführten Elemente. Sie nehmen nun zusätzJjch auch Lebensverhältnisse auf dem Land sowie die Abgrenzung von nicht heterosexuellen Männern in den Blick. Eine solche historische Skizze im Buch eines Soziologen zeugt vom Inte resse an der Geschichte, das von Max Weber und von Connells Lektüre des Werkes von Fernand BraudeI inspiriert ist. Für Historiker stellt sich unweiger lich die Frage, ob nicht auch vor 1450 bereits derartige Elemente hegemonialer Männlichkeit auszumachen sind. Schmale hat darauf hingewiesen, daß bereits seit der Renaissance zumin dest in bestimmten sozioprofessionellen Milieus Ansätze zur Ausbildung he gemonialer Männlichkeit entstanden seien, hält sich dann aber auch an 1450 als
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frühesten Zeitpunkt. Der Renaissancebegriff hätte es erlaubt, zumindest für Italien noch hundert Jahre weiter zurückzugehen. Theoretisch erscheint mir an Connells Konzept nicht geklärt, welche und ob jeweils alle aufgezählten Elemente für die Feststellung »hegemonialer Männlichkeit« notwendig bzw. hinreichend sind. Offenbar sollen allein die »Taten des Muots« von Rittern zu Zeiten Walthers von der Vogelweide oder der Akteure des Nibelungsliedes nicht ebenso »hegemoniale Miinnlichkeit« konstitutieren können wie diejenige der Landsknechte oder Rittmeister des 16. Jahrhunderts. 28 Vielleicht meint Connell hier, daß erst die lutherische Ehelehre erfunden sein mußte, vielleicht soll der Ausschluß aber auch gelten, weil noch eine andere Einstellung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen galt? Warum sollte ein Pisaner Kaufmann des 13. Jahrhunderts nicht schon viele der oben für spätere Jahrhunderte genannten Charakteristika aufweisen - allerdings ebensowenig Probleme mit engen homosozialen Beziehungen zu anderen Männern haben, wie noch manch Mailänder Kaufmann im 1 9. Jahrhundert? Wird hier nicht einer von mehreren Wegen in die Moderne - die nord westeuropäische, protestantische Variante - zum Maß aller Dinge stilisiert? War nicht der von Brunner beschriebene Landadelige in einer der englischen Gentry sehr ähnlichen Lebenssituation? Unterschied ihn neben einem noch wenig kapitalistisch geprägten Umfeld und einem sicherlich nicht gerade bür gerlichen Eheverständnis die andere Einschätzung gleichgeschlechtlicher Be ziehungen zu anderen Männern so entscheidend von den Gentrymännern, obwohl die Akzeptanz solcher Neigungen auch in seiner Situation nicht sehr hoch gewesen sein dürfte? An diesen Beispielen zeigt sich, daß Connell die Abgrenzung von »homo sexuellen« Verhalten - das als »Homosexualität« erst um 1900 auf den Begriff gebracht wird - für ein absolut konstitutives Element »moderner hegemonialer Männlichkeit« hält. Diese muß demnach begrifflich von »hegemonialer Männ lichkeit«, die anscheinend ab 1450 entstand, geschieden werden. Es kann hier dahingestellt bleiben, wie bedeutungsvoll die Entstehung einiger »Mollyhou ses« in einigen westeuropäischen Metropolen für die Geschichte der Männ lichkeiten vor einer weiteren Ausarbeitung medizinischer Normalitätsthesen im ausgehenden 19. Jahrhundert war. Wenn man sich die lange Geschichte männ licher Effeminierungsängste seit der Antike und die seit dem Spätmittelalter gut belegte Repression nicht heterosexueller Männer sowie die damit einherge hende Konstruktion von »Gegentypen« vergegenwärtigt, erscheint die Bedeu tung einer nicht heterosexuellen Subkultur weniger entscheidend.29 Offenbar 28 {jenen, 2003, 158; zur Körperlichkeit von Soldaten 29 Hergemöller, 1 998.
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a. Dinges, 1 996.
"HEGEMONIALE MANNI.ICHKEIT«
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EIN KONZEPT AUF DEM PRUFSTAND
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wurde ein nicht heterosexuelles Verhalten bereits wesentlich früher als erhebli che Herausforderung an das geltende Bild vom »richtigen Mann« einge schätzt.30 Jedenfalls schränkt Connell mit der zentralen Bezugnahme auf die »Homophobie« sein Verständnis »moderner hegemonialer l'vfännlichkeit« selbst zeitlich erheblich ein.31 Ähnlich wäre auch zu überprüfen, ob die Abgrenzung der Männer von den Frauen und - abstrakter - von »Männlichkeit« gegenüber » Weiblichkeit« - erst im 18. Jahrhundert bedeutsam zunahm. Misogynie ist beileibe keine neue »Er findung« der Frühen Neuzeit; die Querelle des femmes hat ebenfalls viel ältere \'Vurzeln; männliche Homosozialität als Praxis, sich dem Haushalt und seiner gemischten Geselligkeit zu entziehen, ist ebenfalls bereits in Antike und Mit telalter vieWiltig belegt. Mit der These einer stärkeren Abgrenzung seit dem 18. Jh. könnte sich Connell allenfalls auf die medizinische Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts und auf den Verlust politischer Rechte der Frauen mit der Abschaffung des dynastischen Prinzips im Umfeld der franzö sischen Revolution beziehen. Damit bliebe - etwas konventionell - die nicht nur sozialgeschichtlich bedeutsame Hausherrschaft der Frauen wegen einer Herrschaftsanalyse in ausschließlich modernen (anstaltsstaatlichen, öffentli chen) Rechtskategorien wieder außer Betracht. Insgesamt scheint mir hier eine gewisse Überschätzung der frühen Wirksamkeit spätaufklärerischer Ge schlechterdiskurse vorzuliegen, die sozialgeschichtlich teilweise unbefriedigend ist. Connell meint dann allerdings selbst, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts drei Kräfte die hegemoniale Männlichkeit entscheidend geprägt hätten: die »lnfragestellung der Geschlechterordnung durch die Frauen, die Logik des vergeschlechtlichten Akkumulationsprozesses und die imperialen Machtstruk turen.« Auch der Historiker Schmale bleibt in seinem Entwurf zur Männlichkeit in Europa hinsichtlich der Chronologie eher vage. Einerseits verweist er auf eine Reihe von Idealtypisierungen und Leitbildern von Männlichkeit, die jeweils einen »hegemonialen« Impetus gehabt hätten. Schon für die Zeit bis 18 15 fügt er den Connellschen konstitutiven Bausteinen hegemonialer Männlichkeit noch weitere hinzu, nämlich »die französische und englische Konsum- und höfsi che Gesellschaft, die Anthropologie der europäischen Aufklärung, die französische Militarisierung der männlichen Identität« und läßt - wie schon Tosh - hegemoniale Männlichkeit als in der Praxis geltendes Konzept erst um ca. 1860/80 beginnen. 32 Voraussetzung tur das hegemoniale Modell sei das 30 Vgl. dazu auch Schmale. 2003. 2 1 4 f. 3 1 Das dürfte nicht zuletzt aktueller Sympathie für die Kritik der Schwulenhewegung und politi schen Bündnisabsichten geschuldet sein. 32 Schmale, 2003, 1 52, das folgende 1 53; Tosh, 1 998, 1 85.
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»systemisc he Denken und die grenzübersc hrei tende, breit angelegte K ommu nikati on einsc hließlic h i hrer Medien wie die Druckerpresse und die za hll osen S ozietäten.« J\.1it »systemisc hem Denken« ist die Gesc hlec htert he orie der Spätaufklärung gemeint, die nunme hr v on zwei ganz eigenständigen Körpern (statt frü her v on zwei Ausprägungen eines gemeinsamen M odells) ausg ing und damit einen fundamentalen Untersc hied zwisc hen Männern und Frauen »wissensc haftlic h« erstmals in dieser F orm begründete.33 Zweitens unterstreic ht Sc hmale die V oraussetzungen der medialen P opularisierung eines s olc hen M odells und die da für n otwendige Zeitspanne. Diese kann man jed oc h je nac h der für n orwen dig erac hteten s ozialen Reic hweite eines hegem onialen M odells untersc hiedlic h einsc hätzen. Aus diesen Überlegungen läßt sic h ein dreistuf iges M odell für Leitbilder v on Männl ic hkeiten s owie der dadurc h angeleiteten Prak tiken enrwickeln : M odelle »d ominanter Männl ic hkei t«, die weder zwingende Bezüge auf Hetero sexualität ent halten, n oc h den Anspruc h er heben, daß sie auf Männer aller Stände oder Sc hic hten übertragbar sind .34 Zweitens M odelle » hegem onialer Männlic hkeit«, die Heter osexualität für a lle Lebensp hasen n ormativ v orgeben und zumindest für Obersc hic hten - ggf . auc h sc hon für obere Mittelsc hic hten - generalisierbar sind. Dies setzt als Möglic hkeitsbedingung » hegem onialer Männlic hkeit« zumindest s olc he strati fi zierten Gese llsc haften v oraus, in denen Standesuntersc hiede sc hon s o weitge hend abgesc hwäc ht sind, daß Gleic h heit der Sub jekte zumindest - z.B. inner halb aufklärerisc her S ozietäten denkbar ersc hein t, w od urc h die geburtsständisc he Fü hrungs rolle v on Eliten n oc h nic ht tangiert sein muß.35 Man würde damit gleic hzeitig der s ozialgesc hic htl ic hen Be obac htung Rec h nung tragen, d aß sic h die in der Li teratur diskutierten M odelle fast durc hge hend auf Ober - s owie allenfalls obere M ittelsc hic hten bezie hen. Zeitlic h l iegt der Sc hwerpunk t der disk utier ten M odelle in der F rü hen Ne uzeit oder im Spätmittelalte r, s o daß man diese M odelle auch - untec hnisc h - als »frü hm o derne hegem oniale Männlic hkeiten« bezeic hnen könnte.
33 S. zuletzt zur Debatte um Laqueu,.: Stolberg, 2003 sowie die Antworten von Schiebinger und Laqueuf. 34 Auch in dieser Hinsicht weist die europäische Geschichte allerdings erhebliche Interpretationsspielräume auf: Zumindest in der Beziehung zum Schöpfergott galt in christli· chem Verständnis immer die Vorstellung von Gleichheit, die allerdings problemlos mit Drei ständelehren und anderen Konzepten gesellschaftlicher Ungleichheit kompatibel erschien. 35 In diese Richtung ließe sich die Anregung von Meuser und Scholz im abschließenden Beitrag dieses Bandes interpretieren.
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Dav on ab zugren zen w äre »m ode rne hegem oniale M ännlichkeit« (im Sin gular) die zus ät zlich zu den oben genannten Bedingungen die »wissenschaftli che« Fundierung in der Bi ol ogie s owie die tats iichliche massive P opularisierung des M odel ls, nicht zulet zt in Instituti onen wie Schule und Milit är mit al lgemei ner Schul - und Wehrp flicht , beinhaltet , die » Hegem onie« erst im Sinne des Funkti onierens m oderner Gesellschaften erm öglichen. Jenseits eines s olchen Versuchs begrif flicher Differen zierung . entla ng der Zeitachse weist C onnells M ännlichkeitsk on zept erhebliche interne Spannun gen auf: Einerseits s ol lte nach seiner Ansicht die spe zifische Gewaltt ätigkeit der v on allen s ozialen Bindungen befreiten M änner in frühen K ol onialisie rungsphasen ein wesentlicher Strang der Entstehung hegem onialer M ännlich keit sein, andererseits s oll gerade die stark an den Haushalt gebundene M änn lichkeit des englischen Niederadels stilbildend gew orden sein. Diese K omp o nenten passen schwerl ich s o zusammen, daß sie ein einigermaßen k oh ärentes M ännlich keitsk on zept ergeben. Vie hnehr handelt es sich einerseits um eine bes onders radikale Auspr ägung der transkulturell zu be obachtenden h öheren Gewaltneigung v on M ännern, die hier zweitens mit dem Element einer gan z überwiegend geschlechtsspe zi fischen T ätigkeit v on Männern - Krieg führung k ombinie rt wird, andererseits um eine kulturell spezi fische F orm v on Haus herrschaft und » Privatheit« im Haushalt.36 Ohne hier auf die vielschichtigen Diskussi onen um Privatheit und Öffentlichkeit und ihre jewe iligen Gender effekte ein zugehen , l äßt sich feststellen, daß die P ositi on v on M ännern in Haushalten immer in eine rn Spannungsverh ältnis mit Ansprüchen der Frauen s owie mi t - in der Regel außerh äuslicher - H om os ozialit ät v on M ännern steht Y Deshalb müßte man fragen, wann dieser Aspekt hist orisch in s o bes onderer Weise ausgepr ägt ist, daß man ihn zu einem k onstitutiven De fi niti onselement hegem onialer M än nlichkeit machen kann. Auch die oben gege benen Beispiele dürften dies hinreichend verd eutl icht haben. Allenfalls b öte sich die - allerdings sp ätere und gerade n icht bei der Gentry geltende - Diss o ziati on v on Haushalt, Arbeits ort und R äumen e xklusiver m ännl icher Gesellig keit als »kritische« K onstellati on an, die allerdings ebenfalls l änder-, standes und schichtenspe zifisch v om Sp ätmittelalter bis in das frühe 20. Jh. zeitlich en orm streut. Daneben ist auch die Durchset zung der - fast - ausschließlichen Verfügung der m ännlichen Haushaltsv orst ände über die gemeinsamen Güter 36 Stellenweise hat man Mühe, sich des Eindrucks zu erwehren, dall hier relativ beliebig Bau steine aus dem Curriculutn von ))\"{lestern Civilizatioo« zusammengestellt \vurden. In ihrer gängigsten Form umfassen diese bekanntlich eine Geschichte der Entstehung moderner immer implizit männlicher - Individualität und globaler ökonomischer sowie politischer Do minanz des Okzidents. 37 S. dazu auch Dinges: Stand, 2004.
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M A R T I N D IN G ES
e in his torisch je nach de n Recntskreisen differe nzier ter Prozeß, der de n ge sam te n Zei tra um vo n der begi nne nde n Rezeptio n des römische n Rech ts im a usgehe nde n Ivli ttelalter bis z u de n Rigidi tä te n des noch i n der Nutte des 20. Jahrh underts gelte nde n b ürgerliche n Eheg üterr ech ts umfaßt: Es bleibt deshalb offe n, war um gerade z ur Zei t der e nglische n Ge ntry diese Ver füg ungsrech te eine Ar t »kri tischer Masse« gebildet hätte n, 'd i e z ur Hera usbildung der hege mo niale n Mä nnlichkeit gef ü hr t hätte n. Das mag ge nüge n, um ei ni ge der viele n Proble me bei der empirische n A n we ndbarkei t des K onze pts a n�ude llte n: Z umi ndest par tiell s tehen i nhäre nte mate riale Widersp rüchlichkei te n (Konq uistad ore n vs : Gentry) teilweise rigide n Abgre nz ung cn ( Zwa ngsheterosex ual itä t) g ege n über und kollidiere n mi t teil weise z u geri nger i nhal tlicher Bes timm thei t (»pa triarchale« Ha usherrschaft oh ne Ha ush erri nne n). All das geh t mit ei ner für His toriker irritierend la nge n E nts teh ungsgeschich te ei nher. So schei nt es mir si nnvoll, bei his torische n Disk ussio ne n über Modelle v o n Mä nnlichkei t zwische n »domi na nter«, fr üh mcider ner »hegemo nialer« oder »moder ner hegemo nialer Mä nnlichkei t« z u unterscheide n und a ußerdem a n z ugebe n, was und war um ma n jeweils bes timm te i nhal tliche Aspekte f ür ko n s ti tutiv häl t.38 Je nach d er explizierte n i nhaltliche n Bes timm thei t ergebe n sich da nn d urcha us unterschiedliche Phase n der Hera usbi ld ung »moder ner he ge mo nialer Mä nnlichkei t«. Gleichzei tig ließe n sich k ul tur spezifische U nterschiede besser hera usarbei te n und die A ndersar tigkeit fr üherer Ko ns tr uk tio ne n vo n Mä nnlichkei t schärfer ko nturiere n. Diese kö nnte n als prod uk tive Ko ntras te z ur moder ne n hegemo niale n Mä nnlichkeit g enutzt werde n, oh ne dem Verdik t ei ner moder nisier ungsgeschich tlich betrach tet rela tive n Bede ut ungslosigkei t z u verfalle n, die z u leich t alles trifft, was als »vormoder n« qualifizier t wird. Dabei w ürde sich da nn a uch hera uss telle n, daß selbst z u Zeite n der massivs te n Gel tung moder ner hegemo nialer Mä nnlichkeit vor und nach dem Ers te n Wel t krieg ,weiterhi n ei ne Vielzahl vo n Modelle n »domi na nter ]'vIä nnlichkei t« k ur sier te. Die pos tmoderne n »polymorphe n« Männlichkei ten erwiese n sich da nn vielleich t a uch als e twas we niger überrasche nd und ne u, als es der ge nderge schärf te Bli ck der Medie n und ma ncher K ul turforscher, die währe nd der l etz te n Jahre vielfäl tige Mä nnlichkei te n e ntdeck te n, ma nchmal s uggerier t. Schließlich soll noch a uf de n Aspek t des Ko nzepts hi ngewiese n werde n, der mei nes Erach te ns beso nders weiterer Ver tiefung bedarf . Die bereits er 38 Schmales Versuch, Anthropologie, Körperleitbild, Sexualität, Ehe, Homosozialität und Ver lll1sicherungen von Männlichkeit jeweils für zwei frühneuzeitliche Jahrhunderte - dann ab dem 18/ 19. Jh. zusätzlich Militarisierung, Vaterschaft und Alternativen zur Männlichkeit durchzumustern, zeigt die Probleme bei der Auswahl der zu bearbeitenden Felder sowie ggf. notwendige inhaltliche Akzentverschiebungen für die uns zeitlich näheren Jahrhunderte.
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wähn te unzureichende Beach tung psychosozialer Aspekte von Männlichkeit bei Conne ll bilde t die Diskussions lage Ende der 1 980er Jahre vie lleicht gut ab. Damals war die Vors te llung einer durchgehenden Dominanz von Gesellscha ft gegenüber Individuum verbrei te t, was auch dem Deutungsanspruch der \'fis senschaf tsdisziplin Sozio logie en tgegenkam. Eine Reduzierung des Analysein strumen tariums auf sozio logische Zugriffe erschwer t aber se lbst den Zugang zu einem adä quateren Verständnis der Funktionsweise der Herrschaf t von Männern . Es scheint spezi fische Sozia lisa tionsmodi und -prob leme von Jun gen zu Männern zu geben, die zu einer En tfremdung von ihrem K örper, zu r Abwehr von Emo tionen und zu fundamen ta len Ambiva lenzen von Männern gegenüber Frauen führen.39 Die doppelte Abhängigkeit der Männer von Frauen für den Nachwuchs sowie (bei den meis ten Männern) für die Chancen sexue ller Befriedigung wird dann im Erwachsenena lter wichtiger. Diese Ab hängigkei ten versuch ten und versuchen Männer tei ls durch Abwer tung, tei ls durch die gleichzei tige , in manchen Gesellschaften geradezu ritualisierte Hoch schä tzung von Frauen zu kompensieren . In diesen Zusammenhang gehört die bekannte Zweischneidigkeit von emotiona ler Bedürftigkeit und Gewa ltneigung vie ler Männern - gegenüber sich selbs t und gegenüber anderen Männern und Frauen. Da die Abwer tung von Frauen durch Männer sowie deren Herrsch sucht gegenüber Frauen en rwick lungspsycho logisch lokalisierbare Ursachen hat und nach Gilmore transku lturel l - wenn auch in unterschiedlichem Aus maß - zu beobachten ist, wird man sich genauer mi t den psychischen Aspek ten der Sozialisation in den jeweiligen sozia len und poli tischen Gesch lechter verhä ltnissen befassen müssen.40 Dabei kämen dann auch die spezifischen gesundhei tlichen und psychischen Kos ten der »modernen hegemonia len Männlichkei t« für die Männer se lbst in den Blick :41 Dieses Männlichkei tssyndrom dürfte nämlich mitursäch lich für den Befund sein, daß die Lebenserwar tung von Männern mit tlerwei le in a llen Industrieländern e rwa sechs Jahre geringer als d ie der Frauen ist .42 Daß sich dieser U lterschied erst in den letzten hundert fünfzig .Iahren so en twickelt hat , ) verweist auf historischen Wande l a ls die gegenüber genetischen Kons tanten " Ursache . Zu früheren Zeiten »dominanter« und frühmoderner »hewich tigere
39 Böhnisch, ZOOO; Hudson/J acot 1 993, s. a. Bosse, ZOOO. 40 Gilmore, ZOO ! ; ansonsten stütZt er sich auf die jüngere amerikanische Psychoanalyse (Chodo row, Dinnerstein), dazu auch Connell, 38f.; ein Beispiel dieses doppelten Zugriffs bietet Bosse, ZOOO. 41 Diese hat die jüngere Biographicforschung bereits vielfach herausgearbeitet: Kessel, ZOOI , bes. Kapitel IV, ZahImann/SchoIz, 2005; Asche, 2000; Martschukat, 2001 ; s.a. Ropcr, 2004. 42 Bründel/Hurrelmann, 1 999; Dinges: MiiflIIergestllldbeit, 200Z; ders.: 200 }(//I", 2005; Faltermaier, 2004; Sundin/Willner, 2004.
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MARTIN D INGES
gemonialer Männlic hkeiten« war da s Differential der Leben serwartung viel geringer. Eine herr sc haft ssoziologi sc h fundierte Ge sc hlec hterge sc hic hte tut jedenfall s gut da mn, beide Pe rspe ktiven - die Ko sten von Herr sc haft für Män ner und für Frauen - angeme ssen zu berück sic htigen .43
3 . Der Band und seine Beiträge Auc h o hne die se sy stemati sc he Erweiterung lädt Connell s Konzept zu einem genaueren Bl ick auf hi stori sc h unter sc hiedli che Au sprägungen von Männlic h keit ein. Da s i st da s Anliegen die se s Bande s, der gleic hzeitig die Arbeit am Begriff nic ht sc heut. Dabei ste ht die kon krete heuri sti sc he -Verwertbarkeit von Conne ll's Konzept im Vord ergrund. De ssen ho he s Anregung spotential zeigte sic h sc hon darin, da ss zu der Tagung, au s der die ser Band hervorgegangen i st, weit me hr Beiträge angeboten wurden, al s zu frü heren Treffen de s Arbeit skrei se s für interdi sziplinäre Männer- und Ge sc hlechterfor sc hung.44 Die hier au sge wä hlten Auf sätze bezie hen sic h unter sc hiedlic h umfa ssend auf da s Konzept. Dabei wurden ent sprec hend den Ziel set zungen einer interdi szip linären Männ l ic hkeit sfor sc hung neben den ge sc hic ht swi ssen sc haftlic hen Beiträgen auc h Auf sätze au s der Literaturwi ssen sc haft, der empiri sc hen Kultu fwi ssen sc haft und der Soziologie aufgenommen. Bea Lundt unter suc ht an hand einer Pro saerzä hlung von 1475/1554 eine un s zunäc hst wider sp lüc hlic h er sc heinende Reprä sentation Kai ser Kar ls de s Großen: Of fiziell ein erfolgreic her Kriegsheld und c hri stlic her Herr sc her, werden in die sem Text körperlic he Entglei sungen sowie inze stuö se und t ha nat op hile sexuelle Aktivitäten darge stellt, die sc hlec ht z u die sem Bild pa ssen. Lundt meint, daß kon krete Körperlic hkeit eine viel geringere Bedeutung al s später bei der Männlic hkeitskon stru ktion ge spielt habe.45 Un sere darauf zie len den Anforderungen an eine Ko härenz de s Männlic hkeit sbilde s hätten nic ht be standen. Die Er haben heit de s Amt sträger s konnte durc h leiblic he Ver stri c kungen nic ht tangiert werden. Al s Korrelat die ser unbe stimmteren Män.nlic h-
43 Weiterhin abwehrend gegen solche l\fodifikationen (»Psychologisierung«) Connell, 2000, 25, der »ein Abrücken von der Beschäftigung mit Institutionen, Machtbeziehungen und sozialen Ungleichheiten« befürchtet. 44 Informationen zum Arbeitskreis: http://\Vww.mendal.de/aim/gendcr.html; Tagungsbericht tmter: http://www.ruendal.de/aim/tagung04/pdfs/ AIl\CTagungsbericht2004.pdf. Die Ta gungen werden in Kooperation mit dem Referat Geschichte der Akademie der Diözese Rot tenburg-Stuttgart organisiert. Insbesondere Herrn Dieter Bauer sei hier ausdrücklich gedankt. 45 In Kantorowiczs Konzept der zwei Körper des Königs fehle diese Ebene.
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ke itsvorstell ung seien im M ittelalter a uch d ie Fra uenrollen we niger festgelegt gewesen : Le itmodell war n icht d ie der modernen Männl ichke it korrespond ie rende Ehefra u und M utter sondern d ie v irago. D ie besondere sex uelle Perm iss iv ität, d ie in d iesem Text dem m ittelalterl i chen Herrscher z ugeschr ieben w ird und a uch be im frühne uze itl ichen Fürsten akzeptiert w urde, wenn er se inen Ze ugungspfl ichten nachgekommen war, w ird he utz utage allenfalls noch Stars z ugestanden. Demgegenüber w ird das - öf fentl ich akzept ierte - Sex ualverhalten von Männern in polit ischen Sp itzenpo s it ionen spätestens im bürgerl ichen 1 9. Jahrh undert e inem höheren Moral is ie r ungsdr uck a usgesetzt. Insofe rn erwe ist s ich h ier e ine spez ifische D ifferenz z u moderner hegemo nialer Männl ichke it. Andrea Moshövel rekonstr uiert Typ is ier ungen von Männern in Werken von Hildegard von B ingen ( 1 098-1 1 79) und Konrad von Megenberg (1309 / 1 1-1 374). G rundlage der Katalog is ier ung ist der Körper im Verständn is der Humoralpath o.lQgie, also als Ergebn is best immter M isch ungs - und Domi nanzverh ältn isse der v ier Säfte. B e ide A utoren kommen z u zwei pos it iven und zwei weiteren Typen von Männern, d ie beze ichnenderwe ise jewe ils unter schiedliche Grade der Verm isch ung m it we ibl ichen Ante ilen a ufwe isen. Ent sprechend dem Denkansatz der V iersäftelehre gehen beide m it telalterl ichen A utoren von v ielen M ischtypen a us. Sex uelles Begehren sp ielt be i Hildegard e in e kons tit utive, be i Konrad demgegenüber keine Rolle für d ie Konstr uktion. Der männlichste Mann m uß dabe i weder der ideale noch der beste sein . Hier w ird zwar e in Verhaltensmodell erkennbar, das in K örperlichke it gründet. Es w ird dam it aber ke in Leitbild für v iele oder für alle Männer angeboten. A uch läßt s ich ke in e in igendes und e inz iges hegemon iales Modell a usmachen, son dern m indestens zwe i pos it iv bewertete Lebensformen - näml ich der R itter und der Kler iker. Das h ier zentral bede utsame Körperkonzept determ in iert beze ichnender weise d ie Männl ichke itsvorstell ung keineswegs so sehr wie d ies se it der str ikt d ichotom is ierenden späta ufklärer ischen Anthropolo gie der Fall ist. Mögli cherwe ise erla ubte solch e in offenerer Konstr ukt ionsmod us z usätzl ich e ine stärkere E inbez ieh ung beobachteter Alltagsprakt iken in Modelle dom inanter Männlichke iten. Anha nd e ines tä ufer ischen Martyr iolog iums, das ab 1 570 d urch ne ue E in träge mod if iz iert w urde, ze igt N icole Grochow ina d ie Bede ut ung der Fra uen und d ie gle ichzeit ige patr iarchalische Rezentr ier ung in d iesen für das Selbstver ständn is der Geme inden w icht igen Texten Y' Neben e iner d urcha us bemerk enswerten Beton ung weibl icher Märtyrer sowie der Fäh igke it aller Tä ufer,
46 Vgl. Scholz-Williams, 1 998; s. a. Burschel/ Conrad, 2003.
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MARTIN D I N G E S
Leiden zu ertragen, treten a b 1 570 die Männer als Bekenner und/oder Schriftgelehrte und/oder Ermahner der Gemeinden und/oder Tröster der Frauen und familien s tärker in den Vordergrund. Dies deutet Grochowina als Pluralisierung männlicher Handlungsmuster, die aber noch nicht zur Bildung fester Typen gerinne. Es verdeutliche, daß ausdifferenzierte Männlichkeiten lange vor 1 770 zu finden seien, ohne daß bereits - wie Connell es fordere - ein modernes Verständnis von Individualität und Geschlechterpolarität vorliege. Krisenphasen wie die Reformation reichten zur Konstitution hegemonialer Männlichkeit aus und entsprächen auch der Connellschen Idee, daß solche als Antwort auf Legitimationskrisen des Patriarchats entstünden. Folgt man Connells starker Betonung der Heterosexualität als konstitutiv für hegemoniale Männlichkeit, dann lassen sich diese Täuferbiographien gut in die von mir vorgeschlagene Phase noch nicht moderner hegemonialer Männ lichkeiten einordnen. Der Beitrag verweist darüber hinaus auf einen Aspekt, der bei Connell völlig unterschätzt wird, die Religion. Konfessionelle Krisen zeiten wie die Reformation werden bereits seit Jahrzehnten als heuristisch sehr interessante Phasen der Herausforderung an herrschende Geschlechterarran gements betrachtet. Bisher wurde demgegenüber noch weniger systematisch erforscht, wie sich die längerfristigen konfessionellen Veränderungen (z. B. katholische Reform und Gegenreformation, Pietismus) auf die Männlichkeits modelle auswirkten.47 Marian füssel skizziert die studentische Lebenswelt der Frühen Neuzeit. Er schlägt vor, die unterschiedlichen in der Literatur als lokaltypisch charakte risierten Verhaltensweisen der Jungakademiker als Habitusformen innerhalb eines Rahmens hegemonialer Männlichkeit zu fassen. Vorrangig sei für das Selbst- und Fremdverständnis der Studenten die Konstitution des Akademi kerstatus als ständische Sonderstellung gewesen, die allerdings lebensaltersmä ßig begrenzt war. Erst innerhalb dieser exklusiv männlich geprägten Welt seien geschlechtsspezifische Kodierungen entlang von Gewaltbereitschaft, Trinkfä higkeit und Lernbereitschaft zu beobachten.48 Diese ließen sich auch mit ständischen Qualitäten von Adeligen und Bürgern zu den vier Typen des Galans, gewaltbereiten Renommisten, fleißigen Kandidaten und Trinkers kombinieren. Ständisch spezifisch geprägte Studentenschaften bzw. Universi täten werden dabei als Feld im Sinne Bourdieus gedeutet. Im Außenverhältnis zu den Frauen schwankte man zwischen einer Bewertung als Sexual- und 47 Bei Connell, 1 999, 209 werden kurz die Quaker erwähnt. Vgl. zur Reformation z. B. Conrad, 1998; zu Wirkungen der Konfessionalisierung s. Ehrenpreis/Lotz-Heumann, 2U02, 95 ff.; Schmidt, 2003; Dürr, 1 998; Hinweise bei Chatellier, 1 987, 1 57 ff.; s. a. Gleixner, 2003. 48 Diese Differenzierung stand - allerdings bei Untersuchungen zum 1 6. und 1 7. Jh. bisher weniger im Vordergrund, s. Krug-Richter, 2004. -
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Sehnsuch tsob jekt. Als wichtigsten Unterschied zum ausgehenden 1 9. Jahrhun dert arbeitet Füssel heraus, daß Keuschheit noch kein Konstituens der satisfaktions Eihigen Burschenherrlichkeit gewesen sei. Christa Hämmerle überprüft den heuristischen Nutzen des Ansatzes für Militär und Männlichkeiten in der Habsburgermonarchie. Die weit verbreitete Annahme, die Einf ührung der allgemeinen Wehrpflicht habe bereits im 1 9. Jh. ein neues Modell hegemonialer (militärischer) Männlichkeit durchgesetzt, hält sie für zu undifferenziert. In dem sehr heterogenen Habsburgerreich traf der weitgehende Erziehungsanspruch (1) der Militärschriftsteller und Ausbilder auf ethnisch, konfessionel l und kulturell ganz unterschiedlich geprägte Rekruten. Auch Tauglichkeiten variierten regional stark. Die Orientierung an einem mi litärischen Männlichkeitsleitbild erlaubte während des akti ven Dienstes viel schichtige Hierarchisierungen nach formalen Kriterien wie Jahrgang und Her kunft sowie je nach Erfüllung der Anforderungen. Diese stark auf den K örper zielende Disziplinierung wurde indi viduell recht widersprüchlich angeeignet. Connell biete gerade für diesen wichtigen Aspekt der Internalisierung keine Heuristik. Gediente genossen zwar durchaus gewisse Vorteile auf dem Ar beitsmarkt , allerdings k önne vor 191 4 nicht von einer durchgehenden gesell schaftlichen Akzeptanz der militärischen Männlichkeit ausgegangen werden, was Hämmerle anhand der steigenden Zahlen nicht zum Militärdienst antre tender Stellungsp flichtiger eindrucksvoll demonstriert. Erst während des Ers ten Weltkrieges hätten die allgemeine Kriegsbegeisterung und die politisch auch mit Gewalt durchgesetzte Militarisierung für einige Jahre zur Dominanz einer einzigen Form hegemonialer Männlichkeit geführt : Die Ausnahmesitua tion des Krieges habe die Hegemonie eines Männlichkeitsmodells erbracht , auf das sich al le anderen beziehen mußten. Ansonsten tue man gut daran, für ganze Gesellschaften von mehr als einer hegemonialen Männlichkeit auszuge hen. Für die Analyse konkreter Felder sei Connells Konzept also anregend , zum Auf finden allgemeiner Normen für das männliche Geschlecht - »von der Heterosexuali tät bis zur Aggressionsbereitschaft« - bedürfe es aber keines speziellen Konzepts. Rasse als Konstituens von Männlichkeit ist zentral in Marc Schindler-Bon diguels A nalyse kolonialer Vaterschaft im franz ösischen Madagaskar und In dochina. Vaterschaft gilt generell als ein wichtiger zugeschriebener Aspekt von Männlichkeit. Das franz ösische Kolonialreich bot Männern zwar Felder für den Beweis von Mut, Ehre und Virilität. Die mit eingeborenen Müttern ge zeugten Kinder rüt telten aber am erwünschten Vaterbi ld : \'Vurden sie nicht angemessen von den europäischen Vätern versorgt, dann erstrahlte als Kon trast ein ethisch überlegenes indigenes Vaterbild. Eine Anerkennung der Va terschaft zeit lich nach der Mutter machte die Kinder recht lich aber nicht zu
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Fran zosen . Die Denkmöglichkeit der Er ziehung eines Mischlings zum Fran zo sen warf weitere Probleme auf. So regelte der Gesetzgeber im Umfeld des Ersten Weltkriegs das Staatsangehörigkeitsrecht schließlich neu und berück sichtigte - in dieser Reihenfolge - die Interessen des Kolonialreichs, der Väter, der Kinder und der Mütter . Diese Anal yse bietet ein anschauliches Beispiel für ein expli zites Aushandeln hegemonialer Männlichkeit im politischen Macht zentrum, wobei die Parameter Kla sse, Kultur, Politik und Ethnie in Überein stimmung gebracht werden sollten . In die fran zösische Gesetzgebung wird von 1 928 an neben fran zösischer Er ziehung expli zit der l'vIischlingss tatus als Voraussetzung für die mögliche Zugehörigkeit zur fran zösischen hegemonia len Männlichkeit einge fügt. Eine andere Seite der Ethnisierung von Poli tik und Männlichkeit führt Mi riam Rürup am Beispiel des Antisemitismus vor : Sie anal ysiert die Praktiken der jüdischen Studentenverbindungen, die Ende des 1 9. Jahrhunderts als Re aktion auf den Ausschluß von Juden aus den Korporationen entstanden . Lern ziel war hier, ein starker deutscher und zugleich stol zer jüdischer Mann zu werden, womit die Mitglieder der stereotypen Abwertung des Juden als weich lich, unmännlich und damit undeutsch entgegentraten. Ebenso wie in anderen Studentenverbindungen sollte durch Kneipe und Fechtboden ein männlicher Habitus erlernt werden - allerdings früh mit einer größeren Betonung des Turnens . Daß den jüdischen Studenten von den deutschnationalen und öster reichischen Verbänden die Satisfaktionsfahigkeit abgesprochen wurde, traf sie schwer . Während sie sich einerseits vollständig an den Formen der Produktion hegemonialer Männlichkeit orientierten, starteten sie bereits aus einer subhe gemonialen Position und wurden durch den Antisemitismus immer stärker marginalisiert. Die dominante wilhelminische und Weimarer Kultur der Ver bindungen schuf so eine neue Abgren zung, die konfessionell b zw . später ras sistisch begründet wurde. Insofern läßt sich die Geschich te der jüdischen Stu dentenverbindungen als Ausgren zungspro zeß aus der hegemonialen Männlich keit lesen, bei dem » Rasse« als neu gesetzte inhaltliche Bestimmung von Männlichkeit auch durch die perfekte Erfüllung der hegemonialen Formen männlicher Burschenherrlichkeit nicht auf zuwiegen war.49 Damit werden exemplarisch Gren zen einer ausschließlich performativen Betrachtung von Männlichkeit deutlich.so Martin Lücke untersucht die Diskussion um mann -männliche Prostitution im Kaiserreich . Mit männlichen Prostituierten und homosexuellen Freiern
49 Ü ber den Antisemitismus als Element hegemonialer Männlichkeitskonstruktion bereits im Frühliberalismlls: Hagemann, 2002, 298. SO Zu deren Möglichkeiten s. Benthien/Stephan, 2003; Steffen, 2002.
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treten zwei Antit ypen zur bürgerlic hen M ännlic hkeit ins Blickfeld, die die tiefgreife nde Wirkung des hegem onialen M ännlichkeitsm odells illustrieren. Str afrec htlich wurde der Pr ostituierte strenger als der Freier bestr aft , weil der Gesetzgeber - unterstützt v on Aut oren aus der Hom osexuellenbewegung der Zerst örung bürgerlic her Existenzen durc h Erpressung v orbeugen w ollte. In der Sexu alwissensc haft wurden den Hom osexuellen - seel isch oder k örper lich - teilweise weibliche Züge zugeschrieben. Der Pr ostitutierte wurde bes on ders unter Bezugn ahme auf seine Kleidung als weibisc h k ontr astiv abgewertet. Sich pr ostituierende S old aten deutete der Sexu alwissensc haftler Hirsc hfeld wegen des bes onders auff allenden Widerspruchs zum M ännerbild des Kriegers zu nur v orüberge hend und n otgedrungen v on der Heter osexu alit ät abwei c henden Pers onen um. Fin anziell seien die m ännlichen Pr ostituierten tr otz der st ärkeren Krimin alisierung ihres » W aren angeb ots«, die n orm alerweise zu h öhe ren Preisen führe, sc hlechter als weibliche Pr ostituierte bez ahlt w orden: Auch dieser, den M arktgesetzen zuwiderl aufende geringe Preis belege n oc h die Fernwirkung der Hegem onie heter osexueller M ännlichkeit. Zw ar t auge C on nells K onzept zur Eingrenzung eines Feldes - aber bereits die jeweilige K om bin ati on der Zuschreibungen v on M ännlichkeit, Weiblichkeit und Unm änn l ic hkeit in den Diskursen v on Rec hts- und Sexu alwissensch aft s owie der Ök on omie zeigten die Grenzen des Hegem oniek onzepts. Almut Sülzle greift mit dem Them a Fußb all einen gesellsch aftlic hen Be reich auf , der als inbegriff lic h m ännlic h d ominiert gilt, obw ohl sic h mittlerweile die Z ahl der Fr auen unter den Zuschauern und die gesellsc haftlic he W ahr nehmung ge ändert h aben. An hand v on Inter views mit Fußb allf ans (Fr auen wie M ännern) von Kickers Offenb ac h c har akterisiert sie diese Fankultur als m ännerbündisch, obw ohl sie mittlerweile zu einem Viertel aus Fr auen besteht. Ide ale m ilit ärischer K amer adsch aft k önnten v om »echten Fan« - M ann oder Fr au - gelebt werden. Der Sexismus inner halb der Fankultur wird von den Fr auen desh alb akzeptiert, weil er im Untersc hied zum ric htigen Leben wenigstens offen sei und d amit kl are Re akti onen erm ögliche. Gleic hzeitig biete er ihnen die M öglichkeit, fußb allerisc h ink ompetente Fr auen und »zickige \'Veiblichkeit« abzule hnen . M änner und Fr auen k önnten sich inner halb der Fankulrur jenseits strikter R ollen anf orde nll1gen »zwisc hen den Gesc hlechtern bewegen«. Bei den M ännern würden Schwule allerdings explizit nicht akzep tiert. M ännergew alt sei stimmungsf ärdernd. Insges amt empf inden Fr auen die M ännerd om äne Fußb all für sich als attr aktives Experimentierfeld für Durchset zungsstr ategien auch außerh alb des St adi ons in der M ännerwelt . Für die M änner sei n ach Sülzle die mediale Repr äsent ati on der im Fußb all »verk örperten tr aditionellen und an milit ärischen Werten orientierten M änn lichkeiten « eine M öglichkeit der » Erdung« derzeitig t ats ächlic h hegem oni aler
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MARTIN DINGES
Männlichkeiten de r » Finanzfachmänne r und Wissensmanage r«. Dies läßt s ich als symbolische r T ransfe r aus einem spezifischen Feld in die gesamte Gesell schaft deuten. Monika Szczepaniak unte rsucht eine ande re Fo rm, Männlichkeit zu rep rä sentie ren, das Blauba rtmotiv in de r zeitgen össischen Lite ratu r. Diese r Frauen ve rfüh re r und -m örde r ist kein »abge rundete r Held«. Mit seine r unatt raktiven K örpe rlichkeit und hohen Gewaltneigung ist e r vielmeh r de r Ve rt rete r eine r f rag ilen Nlännlichkeit, de r gleichwohl von de r » Rente« de r Zugeh örigkeit zum männlichen Geschlecht p rof itie rt. Seine äuße re Macht, die du rch das Blauba rt S ystem aus Familie, Institutionen, O rganisationen und f rauenabwe rtende r Symbolik gestützt wi rd, steht in k rassem Kont rast zu seine r jämme rlichen psychischen Innenausstattung. Du rch die letztlich imme r gewalttätige Abwe r tung von Frauen, vo rrangig im p rivaten Be reich, ve rsucht Blauba rt seine Defi zite zu kompensie ren. In diesen in dividuellen und st ruktu rellen Gewalt ve rhäl t nissen wi rd nicht zuletzt die Einwilligung de r Behe rrschten als wichtige r Aspekt des Konzepts hegemoniale r Männlichkeit lite ra risch thematisie rt. Ge gen die Gewalt des Blauba rt-Systems haben sie alle rdings recht eingesch ränkte Handlungsoptionen. Bezeichnende rweise we rden Fo rmen psychische r Gewalt in den jünge ren Te xten wichtige r. Blauba rt rep räsentie rt e xempla risch einen P rofiteu r de r hegemonialen Männlichkeit, de r individuell ge rade nicht alle Anfo rde rungen wie z. B. Virilität e rfüllt. Auch lassen sich seine Handlungswei sen nicht als gesellschaftliches Leitbild ve rallgemeine rn. Am Ende des Bandes ve rbinden Michael Meuse r und Sylka Scholz die ak tuelle Debatte um das Konzept de r hegemonialen Männlichkeit in ih re r Diszipl in, de r Soziologie, mit den hie r vo rgelegten übe rwiegend geschichts wissenschaftlichen Beit rägen. Sie regen insbesonde re eine Modifikation du rch eine Kombination mit dem Bou rdieuschen Habituskonzept an, die auch Füssel skizzie rt. Hegemoniale Männlichkeit deuten sie als gene ratives P rinzip, weil sie die Aneignung wenige r intentional und die Ve rände rungsm öglichkeiten weni ger optimistisch einschätzen als Connel l. Hinsichtlich de r histo rischen Ve r hältnisse, unte r denen hegemoniale Männlichkeit m öglich we rde, entwickeln Meuse r und Scholz diffe renzie rungstheo retische Minimalbedingungen. Hege moniale Männlichkeit sei nu r dann gegeben, wenn sie übe r das eigene Feld hinaus Gültigkeit beansp rucht. Ande renfalls handele es sich um unte rgeo rd nete ode r ma rginalisie rte Männlichkeit. Abe r auch fü r mode rne Gesellschaften halten sie meh r als nu r eine einzige hegemoniale Männlichkeit fü r m öglich, alle rdings nicht beliebig viele. Sie unte rst reichen, daß fü r die Konst ruktion hegemoniale r Männlichkeit neben dem Ve rhältnis zwischen Frauen und Männe rn mindestens ebenso die B �ziehungen zwischen Männe rn konstitutiv seien: Kompetitivität und ho mo-
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soziale Räume se ien dab e i besonders zu beachten. In Wettbewerb und Kame radschaft werde das M odell durch Gewöhnung , expl izite Unterweisung oder als » Strukturübung« angee ignet. Auch symb ol ische Gewalt als >>unm it telbare v orreflex ive Unterwerfung sozial isierter Körper« se i e ine der mögl ichen Lern we isen. Der Band w ird durch se ine heur ist ische Or ient ierung h offentl ich zu e iner begr ifflichen Präzisierung innerhalb der Männer - und Geschlechterf orschung beitragen: » M oderne hegem on iale Männl ichke it« ist h ist or isch präziser de fin iert als d ie v iel unspe zifs i chere »männl iche Hegem on ie«, und in be iden Var ianten patr iarchaler Verhältn isse k ommen e in zelne und Gruppen hegem onialer Män ner - und n icht hegem on iale Männer v or. H ist or iograph isch sche int m ir d ie Untersche idung zw ischen M odellen und Praxen »d om inanter Männl ichke it«, (im untechn ischen S inn »fr ühm oderner«) »hegem onialer Männl ichke it« und der »m odernen hegem onialen Männlichke it« nüt zl ich. Offen kann h ier n och bleiben, ob der emp ir ische Befund de fin it iv e ine Be schränku ng der Anwendbarke it des K on zeptes auf nur je spe zifs i che Felder nahelegt, w ie es F üssel, Hämmerle und L ücke v orschlagen, denn Transfers zw ischen d iesen - w ie z. B. l'vlil itär lind Z iv ilgesellschaft - be obachten sie selbst. Al lerd ings läßt sich in enger umgren zten Feldern d ie inhaltl iche Be stimmthe it des K on zeptes erhöhen. D ie Geltung nur e ines e in zigen M odells m oderner hegem on ialer Männl ichke it für gan ze Gesellschaften mag in der Tat emp ir isch n icht le icht zu belegen se in. Allerd ings könnte d ieser skept ische Befund auch auf e ine Stärke des Hegem on iebegr iffs h indeuten, der sow ohl k onkrete Unter ordnungsverhältn isse w ie auch d ie gesamtgesellschaftl iche Hegem on ie bedeuten kann, d ie fragl os immer mehr oder m inder labil ist.
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Dominante Männlichkeiten
Der Mythos vom K.aiser I(arl Die narrative Konstruktion europäischer Männlichkeit im Spätmittelalter am Beispiel von Karl dem Großen
Bea Lundt
Kar ! der Gr oße war jähz ornig, unbeherrs cht und uneinsi chtig . Er ers chlug seinen eigenen S ohn, verstieß häuf ig gegen das Geb ot der Keuschheit, zeugte mit seiner Schwester einen S ohn, verband si ch sexuell mit der Leiche seiner verstorbenen Frau und verf olgte auch einen Mann mi t seiner » Liebe«, sehr zu dessen Ärger. S o wird es dargestellt in zahlreichen Erzählungen, die bald na ch Karls T od zu kursieren begannen und einen eigenen umfassenden Myth os begründeten.' Wie paßt diese Charakterisierung Karls zu seinem legendären Ruf als Pr ototyp des christlichen Herrs chers überhaupt, als V orbild für m orali sche V ollk ommenheit, zu seiner sakralen Würde als Kan onisierter? Ist nicht Kar ! das Leitbild für herausragende, gelungene Männlichkeit überhaupt , das in der alten Welt exemplarisch f ormuliert wurde und über Jahrhunder te einfluß reich war ? R obert C onnell hat das K onzept der »Hegem onialen Männli chkeit« f ormu liert, das bes chreibt und erklärt, wie in einer Welt des grundsätzli chen Dualis mus ' der beiden Geschlechter das eine v on ihnen eine s olche gesells chaf tliche D ominanz entwickeln k onnte.2 Bis in das 1 8. Jahrhundert hinein, s o die These Laqueurs,3 galt dagegen ein Einges chle chter-l\fodell, das Männl ichkeit als » Basiskörper« ges chle chtli chter Existenz def inierte und Weibli chke it als Ab wei chung bzw. Varietät verstand.4 Diese V orstellung basiert auf dem Stand des bi ol ogis ch-medizinis chen Wissens und richtet sich damit nich t paus chal, s o stellt W olfgang S chmale klar, »gegen die V orstellung vers chiedener s ozialer Ges chle chter«.5 Was bedeutet dies nun aber für die »Hegem onie des Mannes«?
1 Zum KarIsmythos vgl. das sehr kluge und immer noch informative Kapitel in: Graus, 1 975; an neueren Titeln vgl. vor allem die materialreiche Habilitationsschrift von Geith, 1 977; knapp zusammengefasst ders. 1 996; weiter Wolfzettel, 1 993; als kommentierte Bibliographie vgl.: Parrier, 1 993; wenig ergiebig zuletzt: Fried, 2004. 2 Connell, 2000. 3 Laqueur, 1 992 4 Vgl. dazu den Ü berblick: Dinges, 2004, 72. 5 Schmale, 2003, 70.
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H at eine männliche Überlegenheit in der Eingeschlechterph ase n och nicht best anden, wie es in der T at beh auptet wird?6 Oder ist sie anderer Art und g ar n och allumf assender? Und welche F olgen h atte dies für die geschlechtsspezifi schen Lebensweisen? Am Beispiel K arls möc hte ich diesen Fr agen n achgehen. Die p olitische The ol ogie des Nlittel alters verst and den K aiser als Vertreter G ottes auf Erden. Diese Lehre f and ihren Ausdruck in der Met apher v on einer überirdischen und unsterblichen Körperlichkeit des christlichen K aisers. In seinem einflußreichen Werk The King's TJJ!o Bodies entwickelte K ant or owicz seine The orie explizit am Beispiel K arls des Gr oßen. Neben dem s akr alen Körper K arls, s o argumentiert er, ist der konkrete irdische Leib des Herrschers rein menschlicher N atur und existiert, untrennb ar mit dem anderen verbun den, als »zweiter Körper«.7 N ach dem Investiturstreit tritt diese tr anszendent fundierte V orstellung v om Königpriester zur ück; sie w ird säkul arisiert und erfahrt in der Fr ühen Neuzeit Tr ansf orm ati onen, die die Körper-Met apher zunächst auf neue ritualisierte F ormen des splendors, der Selbstinszenierung und Präsent ati on v on M acht, beziehen, sie d ann aber weiter entpers on alisieren und auf den abstr akten St aat übertr agen. Dieser stellt ja eine K ollektivmetapher für d as V olk d ar, dessen » Körper« er repräsentiert. Die Körper-Met apher innerh alb der The orie v on K ant or owicz B h at sch on IVIichel F ouc ault f asziniert. 9 Entwickelt v or allem am Beispiel Engl ands, wurde die These etw a auf Fr ankreich bez ogen.1O Innerh alb der » Körpergeschichte«,11 der »b ody p olitics«, ist sie m odi fiziert und kritisiert w orden.12 S o wurde d as Zweikörperk onzept auch an weiblichen Repräsent anten überpr üft .13 Beispiele wie d as der englischen König in Elis abeth 1. weisen aber auf andere Einsichten bei der Inszenierung der m on archischen Leiblichkeit. Als jung fräuliche Herr seherin symb olisiere sie »die spirituelle Reinheit der Einw ohner« ; s o h at es Sus anne Sch olz gezeigt.14
6 Schmale, 2003, 69. 7 Zur Auseinandersetzung mit Kantorowicz vgl. Strzelczk, 2000; Boureau, 1 992, versucht die Körpermetapher als Denkstfllknlr auf die Vita von Kantorowicz selber Zll libertragen. Ben son/Fried, 1 997; Ernst/Vismann, 1 998. 8 Zemon Davis hat 1 988 die Metapher von der Zweikörperlichkeit auf die Geschichtswissen schaft übertragen. 9 Foucault, 1995, 4 1 . 1 0 BOllreall, 1988; Melzer/Norberg, 1 998. 1 1 Vgl. den Fürschllngsliberblick über Körpergeschichte vün Lorenz, 2000, darin über Mittelalter llnd Frühe N euzeit 1 07-1 1 5. 12 Zll1' Auseinandersetzung mit seinem Werk: Ernst/Vismann, 1998. Vgl. auch Vogl, 1 996. 13 Die Ü bertragbarkeit hat behauptet: Axton, 1 977; bestritten hat sie Levin, 1994. 14 Schülz, 1 998, 76-106; dies. 2000, 76-106.
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Ein män nlic her Herrscher aber is t über seine zeugende Po tenz defn i ier t, die seiner Herrschaf t die Kon tinui tä t in der Zei t garan tier t. Die Gebur t eines leiblichen männlichen Erben zähl t daher, so Kan torowicz, wie ein » Go ttesur teil«ls, eine überirdische Bo tschaf t und Willenserklärung, die den Va ter als den rech tmäßigen Mach thaber legi timier t.16 Ein Aske t is t un tauglich auf dem Thron. His torische Beispiele bes tä tigen, daß es zu erns thaf ten familiären Kon flik ten, ja zur S taa tskrise führen konn te, wenn ein Herrscher keine Nachkom men hervorbrach te, etwa, weil er sich dem chris tlic hen Askesekonzep t ver bunden fühl te.17 Da her habe ic h 1 992 vorgeschlagen , von einem »dri tten Körper« des Kaisers zu sprechen, der seinen Genderaspek t als sexuel l ak tiver und sich for tzeugender Mann bezeichne t.18 In den le tz ten Jahren is t imme r wieder die Plurali tä t der leiblichen Funk tionen des Herrschers hervorgehoben worden, die mi t der Doppelme tapher nich t erschöpfend charak terisier t werde.19 Ähnlich sei auc h der Leib seines weiblichen Pendan ts nur als plurale Kons truk tion zu begreifen.20 Berei ts Kan torow icz selber ha t übrigens über Repräsen ta tionen von Mach t nachgedach t, die die Doppelme tapher mi t ihren nur zwei Polen erwei tern.21 E tymologisch heiß t » Kar!«, ähnlich wie Adam, e infach » Mann«, » Kerl«22. Wenn in vielen europäischen Sprachen der Begriff » Kaiser« mi t Karls Namen gleichse tz t wird , so geh t auch zugleich das Geschlech t für den Repräsen tan ten dieser obers ten Funk tion mi t in die Bezeichnung e in.23 Der Mythos von Kar! erfüll t innerhalb der ak tuellen Europadeba tten eine Schlüsselfunk tion, wie es e twa im Jub iläumsjahr 2000 zum Ausdruck kam. Als der sogenann te » Va ter 1S 16
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Kantorowicz, 332 f. Das Nacheinander von König und Nachfolger mache ),die zeitliche Tiefenstruktur yon The King's Two Bodies aus«. Gerade die Zeitreflexion werde die Gründungsfigur der modernen Staatstheorie. So betont Bredekamp, 1 998, 1 06. Ein Beispiel ist der böhmische Wenzel, der nach zahlreichen Kontroversen innerhalb seiner Familie wegen seiner » mönchischen Vorlieben(, von seinem Bruder ermordet und durch ihn ersetzt wurde. Lundt, 2002, 1 S6 f. Lunch, 1992. Auch Marin hat 1 9 8 1 ein Dreikörperkonzept empfohlen, ohne allerdings auf den Genderaspekt zu rekurrieren. Etwa Weil, 2002. Hunt, 1 99 1 . Darauf weist Boureau, 1 992, 4 1 , a m Beispiel der Studie über die »Fünff.-iltigkeit von Win cester" hin. Auch Benson, 1 997: Kantorowicz habe Herrschaft auf drei Ebenen thematisie1't: »a tri partite conception of rulership [ . . . ] a divine model, a regal model, and a priestly model", 202.
von Jacob und Wilhe1m Grimm 1 984, » K.1 r1" unter Hinweis auf Kar! den Großen, anf.ingliche Bedeutung siehe »Kerl", Sp. 2 1 8, s . V. » Kerl" Hinweis auf Kar! in der alten Bedeutung als ),Ehemann, Geliebten, sowie die Form Karlkyn für » männliches Ge schlecht«, SI" 570. Ebd.
22 Dell/sebes lf/odedJ/lch
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Eu ropas« wi rd e r quasi zum U rahn, zum kollektiven E rzeuge r e rnannt.24 Häu fig wi rd an He rrsche rgestalten eine bestimmte Na tion he rbei-e rzählt �>n a rra ting the nation«) ; um Ka r! st reiten die F ranzosen und die Deutschen. Abe r be reits diese r konku rrie rende Ansp ruch auf Kindschaft ve rweist da rauf, da ß Ka rl gerade nicht zum Nationalsymbol taugt. Wa r sein Reich doch weit davon entfe rnt, de r Vorläufe r eine r de r mode rnen Nationalstaaten zu sein. Die K ö r pe rmetaphe r e rweist ja ge rade die gedan kliche Basis seine r He rrschaf t, die unive rsal, religi ös und damit nicht an konk rete Räume und G renzen gebunden wa r. So steht auch bei de r Mythenbildung um Ka rl seine übe rnationale Viel deutigkeit und symbolische Aussage im Mittelpunkt.25 Jene na rrative Dynamik, die Aleida Assmann als » Mythomoto rik« bezeichnet hat,26 entfaltet sich nicht p rimä r in histo risch vorgehenden Viten mit biog raphischem Ansp ruch, son de rn in e rzä hlenden Texten ve rschiedene r A rt, in denen Phantasien übe r einen idealen He rrsche r an einem geeigneten Beispiel, eine r » K ris tallisationsfigu r«, kanalisie rt we rden.
Eine Vita Karls In eine r Handsch rift, die in Zü rich entstand, findet sich eine umfang reiche f rühneuhochdeutsche P rosae rzählung, Das Zürcher Blich /)0111 Heiligen Karl.27 Entstanden 1 475, einige Teile e rst 1 554, geht sie auf Quellen in lateini sche r, f ranz ösische r und mittelhochdeutsche r Sp rache aus dem Mittelalte r zu rück : ein Gedicht von Kon rad Fleck und St ricke rs » Ka r!« aus dem 1 3. Jah r hunde rt, die Kaise rch ronik, auch das Rolandslied sowie de r sogenannte >Pseudo-Tu rpin< gelten als Vorlagen, we rden f re ilich du rchaus eigenwillig zu sammengestellt und umgedeutet.28 Als Sch reibe r bezeichnet sich ein gewisse r Geo rgius Hochmuott, de r als einfache r Kaplan zu N ö rdlingen und am F rau enmünste r in Zü rich tätig wa r.29 P rodukt diese r Kompilation ist eine vollstän dige Vita Ka rls, die ch ronologisch zwei Gene rationen zu rück reicht. Ein heid 24 Zur Kritik am Karlskult als Konstruktion einer westeuropäischen Identität vgl. Borgolte. 2000. 25 Dies zeigt Neudeck, 2003, am Beispiel der Kaiserchronik. 26 Mokre/Weiss/Bauböck, 2003, in ihr�r Einleitung. Vgl. auch den Beitrag von Aleilla Assmann in diesem Band. 27 Ed. Bachmann/Singer, 1 ')73. Der erste Teil erscmen auch im Anhang zu Herzog 1 884; zu dieser Quelle vgl. Geith, 1 999. 28 " Die Leistung des Bearbeiters besteht in der Anordnung (Binnenverweise) sowie der gelegentlichen Kommentierung und Umdeutung des Materials.« Geith, 1 999, 1 600. 29 So Bachmann/Singer, 1 973, in ihrer EinleitLmg, VIII.
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nischer König, so der Anfang, bringt von einem Feldzug eine christliche Frau mit. Diese gebiert am selben Tag wie seine Ehefrau ein Kind. Eng verbunden gegen den Protest der Eltern finden die Kinder nach vielem Leiden und aben teuerlichen Reisen zusammen. Der junge Mann, Blancheflur, wird König, läßt sich taufen und das Paar wird christlich getraut: Der Text versichert ausdrück lich, daß sie erst jetzt eine sexuelle Beziehung eingehen, vorher aber »kein süntlich werck nie mit ein andern tattent« ( 1 5) Eine nächtliche Traumerschei nung sagt Flore, der Ehefrau, voraus, sie werde einen Enkel haben, »der wird der christenheit als nücz, daz vil landen durch in bekert werdent« (10). Die didaktische Botschaft dieser Anfangsepisode·'o stellt die »richtige« Minne und christliche Moral klar, die sich auf der Lebensreise mit Gottes Hilfe realisiert und die mit erfolgreichen Erben belohnt wird. Karl ist Produkt einer »Mischung« der verschiedenen Kulturen und Religionen, aus Heimat und Ferne, aus Freund und Feind, Krieg und Frieden, Herrschaft und Knecht schaft bzw. Kriegsgefangenschaft; er ist Symbolfigur dafür, daß alle diese Komponenten sich, entgegen den Traditionen, E rwartungen und Widerstän digkeiten aller Art, verbanden und fruchtbar wurden. Der geistliche Schreiber führt Karl bereits ein als Heiligen, als »sant kling Karlus« ( 1 5). Weite Passagen des Textes widmen sich seiner Eroberungspolitik und der Bekehrung der Heiden unter seiner Herrschaft. Es fließt viel Blut; Not und Gefahr werden von den Rechtgläubigen siegreich bewältigt. Erst ganz am Schluß wird Karls Körper beschrieben, entsprechend der Vita aus der Feder Einhards3 I . Karl war ein »hupsch man«, mit »Iöwen ougen«, die leuchteten wie »karfunckelstein« (1 1 2), also eine wahrhaft königliche Erscheinung. Hanno nisch war sein Familienleben und zu Recht wurde er kanonisiert, so wird bi lanziert. Eine Erzählung von dem gelungenen Leben eines Gründervaters also, die durch eine Art Rahmen gedanklich (vor)-strukturiert wird, der eine Sinn struktur enthält: Von einem ganz herausragenden Helden und Heiligen ist die Rede, dessen Leben sich entsprechend göttlicher Vorbestimmung realisiert.
30 Die »didaktische Intention«, so wird es über Konrad Flecks ,Flore und Blancheflur<, ein Gedicht aus dem 1 3. Jahrhundert gesagt, vermutlich die Vorlage für die vorliegende Quelle, ist »ganz deutlich", es geht darum, die !>rehte hohe minne" von der [alsehen Minne Zl1 unterschei den. So Ganz, 1980, 746. 31 Einhard, 1 996.
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Kar! - ein sündiger Mann?
Eingebettet aber ist eine umfangreiche Binnenerzählung, die eine andere Bot schaft enthält, eine Art Kontrastprogramm für ein Männerleben.32 Schrittweise führt sie von dem eingeführten vorbildlichen Lebensmodell fort: Schon Karls Eltern finden erst im zweiten Anlauf zueinander und führen keine höfische Ehe. Pippin, sein Vater, entspricht offenbar nicht der Ästhetik, die man von einem machtvollen Mann erwartete; vielmehr ist er »so grülich gschaffen« (16) , er sah s o grauenhaft aus, daß die i h m als Ehefrau zugeführte spätere Mutter Karls bei der ersten Begegnung zunächst davonläuft. Von ihrer Zofe läßt sie sich in seinem Bett vertreten. Zufällig trifft Pippin sie wieder und legt sich zu der Fremden auf einen Karren.33 Er nennt den Sprößling Karl, »\Vo er in u ff eynem karren gmacht hat« (1 7). Die zweite Etymologie des Namens Karl kennzeichnet also diesen ungewöhnlichen und unhöfischen Urspnmg. Kar! wird wie sein Vater ein »rechter held«, der »beste ritter«, der »so manlich rit« (1 8). Seine Männlichkeit erfüllt sich im Reiten und im ritterlichen Kampf. Er »bezwang .. vil lütten und landen« (1 9) und profiliert sich damit zum Herr scher. Die bedenklichen Elemente dieser Karriere werden also zunächst aufge fangen. Als Herrscher aber wird Kar! nun sogar zum Sünder: Ein »Wurm«, eine Schlange, bittet ihn um Hilfe. Als Dank erhält er einen Stein, der Wunderkräfte verleil1t: Man gewann durch ihn »semlichy liebi darczuo, das nieman davon gsagen kann« (24). Seine Ehefrau nimmt das Geschenk an sich. Daher kann Kar! sich auch nach il1fem Tode nicht von ihr trennen, und »man meint«, so wird vorsichtig versichert, »daz er sy beschlieff also rod« (24). Ein Ritter ent fernt schließlich den Zauberstein aus dem Mund der Leiche und die Kraft des Steines geht sofort auf ihn über (25) . Schließlich überträgt sich die Wirkung auch auf das Moos, in das der Stein geworfen wird. Dieses Exempel von Karls unvernünftiger, verirrter und weitgehend erfolgloser Liebe über drei Stufen, die sich in rascher Folge gegenüber dem Leichnam der Ehefrau, einem Mann und einem Ort entfaltet, gehört zum Repertoire des Karlsmythos und wird mit seiner vierten Ehefrau Fastrada in Verbindung gebracht.34 Seine Sexualität, der 32 Ahnlieh schon in der Kaiserchronik, in der neben der Überhöhung der Karlsfiguf Karl sich »abrupt« wandelt »vom dcmlitigfrommcn Gottesdiener zum empört-trotzigen Herausforderer transzendenter Macht [ . . . ] gleichsam quer zur Darstellungslogik der Kaiserchronik und ihrer Zeichnung der Gott-Mensch-Relation«, so Neudeck, 2003, 289. 33 Die Geschichte gehört zu dem umfangreichen Motivzyklus der »vertauschten und unschuldig vertriebenen Frau«. Vgl. dazu Lundt, 1 996. 34 Nach Angaben Geiths, 1 996, 97, stammt sie aus der Weltchronik von Jans Enikel aus dem Jahre 1 275, also 200 Jahre vor der vorliegenden Quelle; ähnlich aber auch schon 1 225 in der >Heimskringla< von Harald Schönhaar.
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e r durch Zaubereinfluß hilflos ausgeliefert ist, beschwört Konflikte herauf: sie entsetzt den ganzen Hof und bringt ihn ins Gerede. Doch sieht Kar! selber nicht ein, daß es sich um eine »groß sünd« (25) handelt, er fühlt sich als schuldloses Opfer eines Zaubers, und er will daher weder beichten noch bü ßen. Tatsächlich ist die so beschworene »Liebe« nicht nur verhängnisvoll ge zeichnet: Denn seiner Reaktion auf den als liebenswert gekennzeichneten Ort ist bleibender Erfolg beschieden: aus dem »Moos« erwächst eine Stadt, Aa chen, seine Residenz. Bauen und Gestalten von Räumen ist eine fmchtbare Tätigkeit des Herrschers. In dieser Episode fließen also verschieden bewertete Phänomene zusam men. Keineswegs handelt es sich um eine bloße Addition zwecks Steigemng. Zu dieser einen mit ihrer dreigeteilten Perspektive kommen noch zwei andere schwere Sünden: ohne Urteilsspmch, voreilig und jähzornig, tötet er seinen Sohn, der die Tochter einer Witwe verführt hat. Die dritte ist ein Inzest mit seiner Schwester. Diese Tat hält er selber nicht für schlimmer »den ein an der unkünsch werck« (27). Außereheliche sexuelle Ü bergriffe Karls sind offenbar keine Seltenheit und gelten ihm grundsätzlich nicht als schweres Vergehen. Während seine Großeltern kein »süntlich werck« begangen hatten, durch zieht nun die Frage nach den drei Sünden die Handlung als Substruktur bis zum Schluß. Kar! selber sieht im Traum voraus, daß er als Strafe für seine Sünden Ruoland, seinen besten Krieger, nicht wieder sehen werde, den Men schen, den er am meisten liebt.:l5 Ein Engel hatte Kar! ein Horn für Ruoland überreicht, dieses bläst der tüchtige Ritter nun in Kampfesnöten. Kar! eilt zu Hilfe. Ü berraschend eröffnet Kar! dem tödlich Verwundeten, daß er sein Vater sei. »0 min aller liebster sun, den ich lieber han gehan den alle mi ny kind, du bist min eigene kind gesin und von minem hel'Czen komen« (68). Ein wunder liches Licht vom Himmel und tobendes Wetter untermalen die Szene des Zusammenfindens. Ruoland ist als der heimliche Nachfolger Kar!s konnotiert, sein leiblicher Sohn, doch überwiegt die symbolische »Verwandtschaft« mit dem Neffen, in dem sich alle positiven Eigenschaften Karls als Kriegsheld bündeln. Das vom Himmel gereichte Horn stellt ein Ersatzsymbol dar, jenes »Gottesurteil«, wie Kantorowicz das nannte, das, angesichts der unklaren Umstände bei der Zeu gung, die Nachfolgeposition definiert. Es stellt die besondere überkörperliche Kommunikation über weite Entfernungen her. Die Episode weist auch darauf hin, daß die Sünden Karls sich nicht primär gegen Frauen richten - hier geht es um die irdische Entsprechung einer Vater-Sohn-Problematik: der Vater im
35 "Und kann nieman wolschrihen noch wolsagen die grossen liehe, die Karlus ze Ruoland hat" (84).
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Himmel ist gekränkt über seinen Sohn Kar!, der ihn auf Erden vertreten soll. Die Schuld liegt nicht nur in dem inzestuösen Akt, sondern in dem späten Bekenntnis zu der Vaterschaft. Der »Sohn« stirbt, als Karl sich zu seinen Emotionen für ihn bekennt - eine Tragik, in der die gescheiterte Beziehungs fähigkeit des Kaisers kulminiert. Die Vita erwähnt keinen Nachfolger Karls. Die einzige wahre Liebe ist die zwischen Vater und Lieblingssohn, jene, die vom Himmel und, wie Kar! es sagt, »von Herzen« kommt. Diese realisiert sich nicht - angesichts des schuldhaft ausgelebten Egoismus' Karls, so die didakti sche Botschaft. J\fjt diesem Opfer haben sich aber die Sünden Karls nicht erledigt. N ach seinem Tod erscheint dem alten Bischof Turpinus, so wird berichtet, im Traum der Teufel, der die bösen Werke Karls gegen die guten abwägt. Erst als der Heilige Jacobus als Gegengewicht viele Steine in der Waagschale anhäuft, wird die Seele Karls für das Paradies gerettet. Bereits zuvor war gesagt worden, daß Karl durch die Vermittlung von Heiligen Ver gebung erlangt.
Fazit
Zunächst einmal bestätigt die Vita zweifellos in mittelalterlicher Tradition die These von Kantorowicz und damit die Bedeutung Karls als eines Repräsen tanten göttlichen Willens, dessen H andeln ständig von himmlischen Akten begleitet wird. Kar!s irdischer Männerkörper aber entspricht nicht der religiös konnotierten Idealität. Seine »Liebe« wird durch ein Tier gelenkt, das biblisch als »Verführerin« gilt. Er versucht, seinen Trieb an ungeeigneten Objekten abzureagieren. Angesichts der sexuellen Willkür seines Sohnes reagiert er mit mörderischer Härte, während er seine eigene Sinnlichkeit ungehemmt auslebt. Mehrfach gerät Karl in Widerspruch zu dem geltenden Meinungs- und Werte system der Personen seines persönlichen Umfeldes, die sich durch ihn nicht repräsentiert fühlen: Er läßt Selbstbeherrschung vermissen, diese entschei dendste aller Tugenden eines Herrschers und eines Mannes, denn nach mittel alterlicher Anthropologie gilt die Frau als unfähig zur Beherrschung ihrer Triebe. Kar! lebt also »weibliche« Züge aus, wie umgekehrt seine Mutter sich »männlich« wehrte, indem sie sich dem ungewollten Gatten zunächst verwei gerte und ganz unhöfische neue Lebensmodelle realisierte. Wie ist diese Traditionsschiene von dem sündigen Karl innerhalb des Karlsmythos, die durchaus quer zur Darstellungslogik der Überhöhung des
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H elden und Heiligen z u verlaufen scheint, verstanden worden? 36 Es handele sich um eine N egativsicht auf Kad, die aus Frankreich stamme und Kritik und Anklage in einem durchaus historischen Sinne ausdrücke: klerikalen Protest gegen Kads SexuallebenY Auch auf den Unterhaltungswert der Schilderungen ist hingewiesen worden, die Karl jenseits der gelehrten Welt und ihrer spitzfin digen Konzepte menschlich und dadurch erst richtig populär gemacht hätten.38 Seine leiblichen Verstrickungen seien so aus führIich gestaltet worden, um seine Errettung zu überhöhen, ein hagiographischer Topos mit langer Tradition.39 U mgekehrt wurde behauptet, es gehe gerade nicht um die Botschaft von der Errettung des Sündigen durch die Gnade Gottes. Gegen Ende des Mittelalters habe vielmehr die säkulare Sicht auf den Herrscher dominiert, da »die Illusion von der H eiligkeit der Könige nicht mehr bestand«40. Alle diese Deutungen wollen mich nicht recht überzeugen: Es wird nicht Anklage erhoben, sondern mit einer gewissen Distanz ruhig erzählt. Es geht auch nicht um die Ausbreitung »politischer Pornographie«41 , ohnehin mißlin gen ja Karls sexuelle Aktivitäten. Er erfährt seine gerechte Strafe, ein großes Leid, freilich. Die Rettung seiner Seele aber gelingt. Die Episoden seiner Ent gleisungen auf dieser Erde gefährden daher nicht grundsätzlich seine Würde im Diesseits und seine Autorität im Jenseits. Eine unterhaltende Freude an der Vielfalt des menschlichen Lebens und seiner leiblichen Verstrickungen scheint vielmehr im Mittelpunkt zu stehen. In drei Generationen realisieren sich ganz unterschiedliche Lebenskonzepte. Anders als Großeltern und Eltern mißlingt Kar! die Weitergabe seines überirdischen Körpers, seines Amtes an einen Erben. Sie realisiert sich aber auf andere Weise: ein Spötter wird durch sein Standbild so erschreckt, daß er tot umfällt, so heißt es am Schluß. Durch die Tradierung und Verinnerlichung seiner Taten und \X'erke wirkt der Herrscher in späteren Generationen weiter, so wird gezeigt, nicht als leiblicher »Vater Europas«. Die Exkurse über sein »sündiges Leben« werden daher immer wie-
36 Die Geschichte von der Sünde oder den Sünden Kar!s im Karlsmythos ist insgesamt relativ wenig in der Forschung diskutiert worden, vermutlich wegen ihrer verwirrenden Komponen ten. Vgl. die BibJiogl'aphie von Farrier, 1993, 188-1 89, die nur acht Titel nennl, alle in engli scher oder französischer Sprache. 37 Etwa Geith, 1977, auch Graus, 1975, 1 89 u. ö. 38 Graus betont 1 975, 1 85, dass diese Sagen Kar! ),selbst in populären Schichten der Bevölke rung« bekannt machten. 39 So Geith, 1 977, 265. Die Darstellung der Sündhaftigkeit in deutschen Texten verfolge die »Absicht, seine besondere Frömmigkeit zu demonstrieren oder auf die von Gott selbst ausge sprochene Sündenvergebung zu verweisen«. 40 So referiert Roberto delle Donne, 1 992, 1 6 1 . 4 1 Weil berichtet 2002, 103, von der politischen Pornographie gegen Kar! 11. , die i m Rahmen eines ideologischen Royalismus blieb lind eher der Resakralisienmg seines Körpers diente.
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der aufgefangen durch das »offizielle« Karlsbild des erfolgreichen Kriegsherrn und christlichen Herrschers und die Präsenz der »richtigen Moral« bei anderen Figuren. Nicht alle müssen dasselbe Konzept verwirklichen. Die beiden Teile sind nicht als sich widersprechend konstruiert; die Er zählung ist keineswegs aufrührerisch, sondern sogar von einem tiefen Opti mismus durchdrungen: denn Karl richtet keinen bleibenden Schaden an (über die Gefühle der Menschen, die er besiegt, verletzt, düpiert, bloßstellt, bedroht, wird nichts ausgesagt) - insgesamt ist Karl erhaben über die, die über ihn re den. Für ihn gelten andere Regeln. Und ganz unerwartet wird er erlöst, unver dient auch, da er eigentlich nicht aus tiefem Herzen bereut: sofa gratia, ein re formatorischer Gedanke. Kantorowicz selber ging es darum, auf die theo logischen Ursprünge des Gedankens vom Staatskörper hinzuweisen. Vielleicht hat er dabei, so wurde bereits kritisch angemerkt,42 den Einfluß der Theologie überschätzt, ihre vielfältigen und durchaus widersprüchlichen S trömungen übersehen. Er hat einen Gelehrtendiskurs beschrieben, der sich nicht in populäre Literatur hinein fortsetzen muß. Seine These von den bewußt und gelehrt gedachten Kontinuitäten der Corpora negiert vor allem die konkrete Ebene des Körperlichen, die auch den Kaiser verstrickt.43 Die Substruktur der von mir vorgestellten Quelle berichtet, denke ich, gerade davon, daß die kon struierten Sinnstrukturen der wahren Minne und des höfischen Leibes des zum Herrschen Vorausbestimmten nicht ausreichen, um den Quellenbefunden gerecht zu werden. Neudeck spricht 2003 am Beispiel der Kaiserchronik von einer undogmatischen Art, die besondere »Exorbitanz eines Herrschers zu demonstrieren, der letztlich unvergleichbar ist«.44 Auch der »große« Mann setzt ein Beispiel für die Vielfalt des Lebens auf Erden innerhalb der Einheit des Mannseins in vormoderner Zeit. Es ist ein anarchischer Körper, der gezeigt wird, keiner, der nur Ordnungsfunktionen bündelt, Ü berirdisches repräsen tiert, irdische Pflichten erfüllt. Die Eindeutigkeit des Mannesbildes des He rausgehobenen wird gerade verweigert. Entsprechend kann und muß Karl auch nich t zum »Leitbild« werden. Dieses Ergebnis überrascht nicht. Denn die umfassende Kategorie des »Männlichen« bot, so der Forschungsstand in der Mediävistik, einen breiten Rahmen für vielfältige und ganz unterschiedliche Konzepte und Realisie rungsweisen des Maskulinen. In der Tat haben alle der seit 1 994, vor allem im angelsächsischen Sprachbereich erschienenen Sammelbände mit Fallstudien
42 So Kl'iegel, 1 998, 1 23. 43 Auch hier formuliert KriegeI, 1 998, 1 25, einen Einwand, der sich auf seinen Körperbegriff bezieht und seinen Wandel in der Moderne ignoriert. 44 Neudeck, 2003.
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über Männlichkeiten die Ambivalenz maskuliner Identitäten hervorgehoben.45 Das Interesse galt vor allem der Konstruktion eines zölibatären Ideals von Männlichkeit seit dem 1 2. Jahrhundert. Die Verbreitung solcher Modelle und der Umgang mit der symbolischen und spirituellen (Selbst)-Kastration zeigen, daß Männlichkeit gerade nicht primär über Zeugungskraft und sexuelle Akti vität definiert wurde, auch nicht über Rollen innerhalb der Familie.46 Das Leit bild des H ausvaters ist eine typisch neuzeitliche Konstruktion, die sich in Zu sammenhang mit den durch die Reformation vorangetriebenen Ehediskursen herausbildete.47 Auch das Ideal des kampfbereiten und wehrhaften Mannes, wie es etwa mit dem Ritter assoziiert wird, war von eher begrenzter Reich weite.48 Und was bedeutet dieser Befund für die Definition weiblicher Identität? Die grundsätzliche Ignoranz gegenüber der weiblichen körperlichen Eigen ständigkeit behinderte keineswegs die Entfaltung einer Vielzahl von Lebens modellen auch für Frauen: Denn gerade durch ihre mangelnde Integration in das von der Forschung für gesamtgesellschaftlich erklärte Genderkonzept erhielten Frauen Chancen, ihre »maskulinen« Aspekte auszuleben. In den mit telalterlichen Jahrhunderten stellte das Modell der Ehefrau und Mutter mit der entsprechenden neuzeitlichen Arbeitsteilung nicht die zentrale gesellschaftlich hochbewertete Definition von Weiblichkeit dar. Das entscheidende Leitbild war vielmehr die »Jungfrau«, IJirago, mannähnlich, die sich in einem gewissen Freiraum entfalten konnte, der Frauen außerordentliche Macht, Gelehrsam keit, spirituelle und visionäre Kraft und Einfluß, Mobilität, ja erotische Spiel räume zur Realisierung ihrer Körperlichkeit zugestand. Gerade an diesen Weiblichkeitsentwürfen, die sich in der historischen Realität und in der Imagi nation der literarischen Gedankenwelten fas sen lassen, hat sich die historische Frauenforschung abgearbeitet. Die besondere Faszination dieser Modelle aus den mittelalterlichen Jahrhunderten hängt mit ihrem kontrastiven Potential zusammen. Erst in einem langen historischen Verlauf und im Vergleich mit modernen Zeiten wird die Alterität weiblicher und männlicher Lebenswelten in der Moderne deutlich. Daß die dualistischen Geschlechterrollen nicht »na türlich« sind, sondern gesellschaftlich zugewiesen, war daher gerade in der mediävistischen Genderforschung schon früh offensichtlich.
45 Vgl. dazu die Sammelbände: Lees, 1 994; Cohen/Whecler, 1 997; Hadley, 1 999, ebenso die mediävistischen Beiträge in Dinges, 1 998. 46 Zu dem Wandel der Vorstellungen des Zusammenhanges von Männlichkeit und Weisheit sowie den entsprechenden Körperbildern vgl. Lundt, 2002. 47 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstandes in Burghartz, 1 999. 48 Vgl. dazu Lundt, 200 1 .
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Freilich enthält dasselbe Modell dialektisch auch sein Gegenteil. Nicht-Da zugehören bedeutet sowohl freiheit und spielerische Teilhabe am anderen, als auch Ausgeschlossensein, Submission. Daher geistert der Vorwurf, es sei ein seitig und verfälschend für die mittelalterlichen Jahrhunderte von einem grundlegend frauen feindlichen, einem »misogynen« Verständnis weiblicher Realität ausgegangen worden, durch die Forschungsberichte. So hat es 2003 die amerikanische Mediävistin Felice Lifshitz behauptet. Die »seriöse« For schung sei nur von wenigen männlichen forschern getragen worden und diese hätten die innigen Paarbeziehungen als ideales Lebensmodell des Mittelalters konturiert.49 Mithilfe des letzteren Konzeptes von der »harmonischen Ehe«, das im übrigen gerade innerhalb der Genderforschung keineswegs neu ist, wird ein »dualistischer Bruch« geleugnet und eine Kontinuität angenommen, die sich in der gelungenen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau realisiert habe. Bilder vom weiblichen Jammerdasein unter der Knute dominanter Män ner halten sich in der Tat in breiten Teilen der Ö ffentlichkeit: Das inzwischen oft kritisierte traditionelle Mittelalterbild ging ja davon aus, Individualität und damit auch persönliche Liebe habe es erst seit der Renaissance gegeben. In der Zeit davor habe mit großer Selbstverständlichkeit der Mann und nur er alle Lebensbereiche dominiert. Er repräsentiere das Modell für den Menschen überhaupt, er sei Herrscher, Heiliger, Held gewesen. Daher wird die Ge schichte als rein aufsteigende Fortschrittskurve für weibliche Emanzipation zurechtkonstruiert, ein lineares Sinnkonzept, das die Bedürfnisse nach Feind bildern erfüllt, gegen die man sich abgrenzen kann. Durch die verbreitete Re zeption der Thesen von Norbert Elias wird diese Sicht gefördert: im Mittelalter habe es keinerlei Triebkontrolle für den Mann gegeben, seine »Pazifizierung« sei ein entscheidendes Merkmal der Epochenschwelle zur Moderne. Innerhalb der kontinentalen mediävistischen Genderforschung sind solche Vorstellungen freilich niemals einflußreich gewesen. Sie war weniger »frauen bewegt« als die amerikanischen und neuzeitspezialisierten Kolleginnen. Fach interne Traditionen, etwa aus Frankreich, erfüllten orientierende Funktionen. Dabei konnte sie sich (durchaus auch kritisch) an den Werken einer ganzen Reihe von Gelehrten abarbeiten, die als mehr oder weniger »gute Väter« den Weg bereitet hatten. So lautete der Standardvorwurf gegen die mediävistischen Genderforschungen der achtziger und neunziger Jahre, sie enthielten keine eindeutige »feministische« Botschaft, die sich im politischen Tageskampf um setzen lasse. Die jetzt erneut aufgestellte Behauptung, die deutschen Mediävis tinnen leugneten die Existenz der » harmonischen Ehe«, die die mittelalterliche frau doch schon habe führen dürfen, vetweist denn auch eindrucksvoll auf die 49 Lifshitz, 2003, vor allem 303, unter Bezug auf Rüdiger Schnell. Vgl. dazu Lundt, 2005.
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Dialektik des Hegemonie-Konzeptes: Junge Nachwuchswissenschaftlerinnen regten eine Tagung an zu der Problemstellung, ob es nicht doch in verschiede nen Quellengenres so etwas wie eine »misogyne« Tradition gegeben habe, und wie man dieses Konzept neu kontextualisieren könne. 50 Belege fanden sich in der Tat genug, sie waren lange systematisch überlesen worden - vor allem im Rahmen des Ehediskurses. Vermutlich haben auch die mediävistischen Genderforschungen vor La queur bereits ganz richtig beschrieben, daß das vormoderne Eingeschlechter modell gerade nicht die Auslieferung von Frauen an eine sich willkürlich abre agierende Männlichkeit zur Folge hatte, sondern ihnen unterschiedliche Formen der Teilhabe am »Männlichen« bot, wie es auch den Männern unter schiedliche Angebote machte, weil ihre Aktionsbühne ja auch das »Weibliche« einschloß.51 Sogar für den Kaiser.
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B E A LUNDT
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»Der hat ainen weibischen muot
. . .
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Männlichkeitskonstruktionen bei Konrad von Megenberg und Hildegard von Bingen
Andrea Moshiivel
Das Konzept der »hegemonialen l\Iännlichkeit« des australischen Soziologen Robert Connell hat im Rahmen der Etablierung der Männerforschung eine breite internationale Rezeption erfahren und zielt auf eine Erhellung des Zu sammenhangs zwischen dem Patriarchat und den machtstrukturellen Un gleichheiten verschiedener Formen von Männlichkeit in ihrer Historizität und Dynamik. l Aus mediävistischer Perspektive ist allerdings Connells Reduktion einer »Idee von Männlichkeit überhaupt«2 auf die (westliche) moderne Männ lichkeit nicht unproblematisch: Denn Connell knüpft die Relationalität des Geschlechterverhältnisses, auf der sein Männlichkeitsbegriff basiert, an die unter Mediävisten und Mediävistinnen umstrittene Auffassung von der mut maßlichen Entstehung zweier grundsätzlich verschiedener Geschlechts charaktere im 1 8./ 1 9. Jahrhundert und blendet mit der Abkoppelung moder ner Männlichkeit von den Strukturen des vormodernen Geschlechterver hältnisses dessen Bedeutung und Auswirkungen für das moderne Geschlech terverhältnis aus.3 Einen Versuch, Connells aus heutigen Frage- und Problemstellungen her aus entwickeltes Konzept »hegemonialer Männlichkeit« nichtsdestotrotz für Analysen des vormodernen Geschlechterverhältnisses fruchtbar zu machen, unternimmt Wolfgang Schmale, der im Hinblick auf die Frühe Neuzeit von »Idealtypisierungen« spricht, die durchaus einen jeweiligen »hegemonialen 1 Vgl. Connell, 2000, 98: » Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration ge schlechtsbezogener Pra"is definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Le gitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Un terordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).« - ZlIt Rezeption Connells vgl. Männerforschungskolloquium Tübingen, 1 995; Armbruster 1 995; Walter, 2000, 99-- 1 02; Ste phan, 2003, 1 8-2 1 ; Dinges, 2004, bes. 74; 81-83. 2 Connell, 2000, 206. 3 Vgl. Connell, 2000, 88, 9 1 ; Connell bezieht sich vor allem auf die breit rezipierte medizinhisrorische Studie von Laqueur, 1 992; zur grundlegenden und ausführlichen mediä vistischen Kritik an Laqueur vgl. Schnell, 2002, 41-77; vgl. auch Cadden, 1 993; Spreitzer, 1 999; Bennewitz, 2002.
») D E R H A T A I N E N \XI E I B I S C H E N M tl O T
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Impetus« hätten; dieser reiche aber nicht aus, um sie mit einem hegemonialen Männlichkeitskonzept zu beschreiben, da es solchen »Idealtypisierungen« an globaler Durchsetzungskraft mangele.4 Allerdings stellt sich die Frage, ob, wie Ingrid Bennewitz aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vorgeschlagen hat, es nicht grundsätzlich sinnvoller ist, den Blick weniger auf mögliche ge schichtliche Abfolgen und Epochenumbrüche zu richten als vielmehr auf die spezifischen Mechanismen und Verfahrensweisen, über die Männlichkeit und Weiblichkeit »als hierarchische Binäroppositionen« in »ihren je spezifischen (historischen und gattungsgeschichtlichen) Kontexten« konstruiert werden.5 In diesem Sinn möchte ich zwei mittelalterliche medizinische Textauszüge aus dem Buch der Nattlr Konrads von Megenberg und aus dem Liber COll1poJitae medicinae Hildegards von Bingen (LCM CcmJae et ClIrcle) im dose reading Verfahren auf ihre Männlichkeitskonstruktionen hin befragen.6 Anders als wir es in der Moderne von medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften erwarten, sind diese beiden mittelalterlichen Texte nicht auf wissenschaftlichen Fortschritt und die Auflösung von Widersprüchen ausgerichtet, sondern auf die enzyklopädische Sammlung, Aufzeichnung und Interpretation des vorhan denen Wissens in ihrer Zeit.7 Die Männlichkeitskonstruktionen dieser Texte können einen guten Eindruck von der Art und Weise vermitteln, wie im medi zinischen Geschlechterdiskurs des 1 2 . bis 1 4 . Jahrhunderts die Differenzierung verschiedener Formen von Männlichkeit und die hierarchische Struktur des Geschlechterverhältnisses miteinander verschränkt sind. Zugleich verweisen sie in ihrer normativen Funktion als »Wahrnehmungsrückhalt« auf Korrespon denzen des medizinischen Geschlechterdiskurses mit anderen Diskursberei=
4 Vgl. Schmale, 2003, hier 1 2; 1 52. 5 Bennewitz, 2002, 3, formuliert ihren Vorschlag vor dem Hintergrund der mediävistischen Laqueur-Kririk. 6 Aus drucktechnischen Gründen zitiere ich nicht nach der neueren kritischen Ausgabe Konrad von Megenberg [Luff/Steer], 2()03, die sehr viele Sonder- und diakritische Zeichen verwendet, sondern nach der alten Pfeifferschen Ausgabe Konrad von Megenberg [pfeiffer], 1 97 1 , mit dem Kürzel » BdN« durch Seiten- und Zeilenangabe in Klammern. - Hildegard von Bingen zitiere ich im folgenden mit dem Kürze! » CC« nach der unkritischen Edition Hildegard von Bingen [Kaiser], 1 903, durch Seiten- und Zeilcnangabe in Klammern; Embach, 2002, 661, zu folge ist eine kritische N eLlausgabe von L. Moulinier in Vorbereitung; zur Kritik an der Kai ser-Ausgabe siehe ders., 2003, 386; eine vollständige Ü bersetzung der Edition Kaisers bietet Hildegard von Bingen [Schulz], 1 983, eine Teilübersetzung nach den Handschriften Hildegard von Bingen [Schipperges], 1 957, nach der ich im folgenden mit dem Kürzel »Hk« durch Sei tenangabe in Klammern zitiere. 7 Zum enzyklopädischen Charakter des Bilchs der Na/llr siehe Pasbender, 1 996; zu Hildegards LCM vgJ. Cadden, 1 993, 7 1 .
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ANDREA MOSHÖVEL
chen, für deren weiterführende Beschreibung e s durchaus sinnvoll sein könnte, Connells Konzept »hegemonialer Männlichkeit« fruchtbar zu machen.8
Vom küen man bis zu maiden und cappaun
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Physiognomische Portraits und die Implikationen ihrer Anordnung bei Konrad von Megenberg
Das zwischen 1 348 und 1 350 entstandene und in zwei Redaktionen sowie über 1 00 Handschriften und acht Drucken reich überlieferte Buch der Natut' Konrads von Megenberg gilt als das »erste systematisierte deutschsprachige Kom pendium des Wissens über die geschaffene Natur in ihrer Vielfalt« und nimmt eine Zwischenstellung zwischen naturkundlich-beschreibender und allegorisch deutender N aturbetrachtung ein.9 Im ersten von dem menschen in seinet' gemaitJell natur handelnden Kapitel bzw. »Buch« findet sich eine physiognomische Ab handlung, die sich an dem arabischen Gelehrten Rhazes orientiert.lO Die mittelalterliche Physiognomik erzeugt, wie ]oan Cadden konstatiert, durch den Glauben an eine Entsprechung von Physis und Moral die Annahme, daß Ver haltensweisen und Körper qua Natur miteinander verbunden wären." Da im Buch der Natflt' jedoch die »Gewohnheit« auch zu einer quasi »zweiten Natur« erklärt wird, die die (erste) »Natur« verwandeln oder gar ersetzen kann, stellen sich hier »Natur« und »Körper« als relative und veränderbare Kategorien dar.'2 Mit anderen Worten: Physiognomik fungiert bei Konrad offensichtlich nor mativ als eine Art »Wahrnehmungsrückhalt« für einen in der »Lesbarkeit des Körpers« begründeten Erkenntnisanspruch, der den Handlungsaufruf bein-
8 Den hilfreichen Begriff des »Wahrnehmungsrückhalts« habe ich von Reißer, 1 997, 5 1 , über nommen. VgI. zum Kontext weiter unten Anm. 1 3 . 9 Ruberg, 1 978, 3 1 0; vgI. auch Steer, 1 985, 231-234; Zllr Ü berlieferungsgeschichte siehe Buckl, 1 993; Hayer, 1 998. 10 Rhazes ist der latinisierte Name von AbC! Bakr Muhammad b. ZakarIya' ar-Razf (865-925). Zu Rhazes, dem nicht weniger als 237 naturphilosophische und medizinische Arbeiten zuge schrieben werden, vgl. Schipperges, 1 9 9 1 ; Rhazes' Physiognomik ist ediert bei Foerster, 1 893, H, 1 63-179; zu Konrads Rhazes-Rezeption vgl. Hecke/Schnell, 2003, 1 239. 1 1 Cadden, 1 993, 1 8M. - Wie die Wirkung physiognomischen Denkens von der Antike über das l\1ittelalter bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht, dokumentiert der Sammelband Campe/ Schneider, 1 996; einen guten Ü berblick über physiognomische Traditionen bis zur Frühen N euzeit bietet Reißer, 1 997, 1 9-97. 12 VgI. Dörrich/Friedrich, 2003, 36; Bezugsstelle ist BdN, 29,3-20.
» D E R H A T A I N E N W E I B I S C H E N M V OT " , «
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haltet, durch gute Gewohnheiten gute Anlagen zu bestätigen und schlechte Anlagen zu überwinden bzw. »abzuarbeiten«.1 3 A u f einen ersten Ausdeutungsdurchgang durch einzelne Körperteile nach dem a capite ad ca/mn-Muster, der gänzlich am »Mann« orientiert ist, denn es wird nicht gesagt, ob für Frauen dieselben Deutungen der Körperzeichen gelten oder nicht, folgt bei Konrad eine Typologie bzw. Reihung von elf phy siognomischen »Portraits« (vgl. BdN, 49,1 3-53,2).14 An erster Stelle stehen der küen man (vgl. BdN, 49,1 3-34) und sein Gegenstück, der »Furchtsame« (vgl. BdN, 50, 1-8). Daran schließen sich zwei durch korrespondierende Wiederho lungen und Verstärkungen verbundene Portraits an, nämlich das Portrait des jenigen, der guots ,ri,1tle,r ist (vgl. BdN, 50,9- 1 9) , und desjenigen, der ailJeIl JJJO! ge,rtalteJI /eip hat (vgl. BdN, 50,20-34). Diese beiden Portraits sind miteinander verschränkt und konstituieren mit ihren normativen Formulierungen in gewis ser Weise einen »Idealtypus« des mittleren Maßes im Hinblick auf die Entspre chung zwischen ,ril1 und /eip, zwischen tüchtigem Verstand und Körperschön heit. U nmittelbar darauf folgen die Portraits des »Weisheitsliebenden« (vgl. BdN, 5 1 , 1-13) und seines Gegenstücks, des »Stumpfsinnigen« (vgl. BdN, 5 1 , 1 4-24), wobei im Portrait des »Weisheitsliebenden«, das neben dem »Küh nen« und den beiden Idealtypen das einzige »positive« Portrait darstellt, Ele mente des Ideals des mittleren Maßes abermals aufgenommen und wiederholt werden. Die nächsten drei Portraits des »Schamlosen« (vgl. BdN, 5 1 ,25-34), des »Zornigen« (vgl. BdN, 52, 1-6) und des »Unkeuschen« (vgl. BdN, 52,7-1 1) weichen vom Ideal der rechten Mitte ab und enthalten jeweils eine dominie rende negative Eigenschaft. Den Abschluß der Portraitreihe bilden schließlich zwei Portraits »nicht vollwertiger Männer«, nämlich das Portrait dessen, der einen )JJeihi,rchel1 mtlot hat (vgl. BdN, 52,1 2-26), und das des »Kastraten«, der als maiden und cappatll1 bezeichnet wird (vgl. BdN, 52,27-53,2). Die Tatsache, daß der küel1 mal1 an erster Stelle steht und »nicht vollwertige Männer« das Ende der Reihung bilden, deutet auf eine hierarchische Anord nung, die sich an Idealen und Normen von »Männlichkeit« orientiert. Dabei fällt zweierlei auf:
13 Feistner, 1 999, 1 35. - Zum Begriff des »Wahrnehmungsrückhalts« vgl. gnmdsätzlich Reißer, 1997, 5 1 , der konstatiert, daß die physiognomischen Traditionen von mittelalterlichen Auto ren in der Regel nicht durch » authentische[...] Erfahrungswirklichkeit« korrigiert, sondern un verändert übernommen oder nur geringfügig abgewandelt werden, was im Hinblick auf ihre Funktion deutlich mache, dall » traditionelle physiognomische Lehrsätze noch immer als \'(1ahrnehmungsrückhalt dienen konnten.« - Zur »Lesbarkeit des Körpers« vgl. Konrads Ein leitung in den physiognomischen Abschnitt, BdN, 42,l CJ-20. 1 4 Cadden, 1993, 1 87f., zu folge ist die Orientierung an der Norm des Männlichen ein grundsätzliches Charakteristikum mittelalterlicher physiognomischer Quellen.
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A ND REA M O S H Ü V E L
Erstens scheint der kiim man zwar a m ehesten einem kämpferischen »Hel denideal« zu entsprechen und daher in gewisser Weise »männlicher« zu sein als der »Weisheitsliebende« und die Negativtypen. Dadurch jedoch, daß das Ideal der rechten Mitte von Verstand und Körper erst n a c h den Portraits des »Kühnen« und des »Furchtsamen« folgt, ist der »YVeisheitsliebende«, dessen Portrait Einzelzüge dieses Ideals wiederholend aufnimmt, dem Ideal der rech ten Mitte ebenso nah wie der »Kühne« und stellt sich damit in der hierarchi schen Reihung nicht unbedingt als »schlechter« dar. Im Gegenteil: Der impe rativisch formulierte Idealtypus von tüchtigem Verstand und körperlicher Vollkommenheit verschränkt gleichsam den »Kühnen« und den »Weisheitslie benden« in einer Art Triptychon miteinander und macht sie damit einander geradezu gleichwertig und komplementär. Als »Wahrnehmungsrückhalt« könnten die Portraits des »Kühnen« und des »Weisheitsliebenden« damit durchaus auf die beiden mächtigsten Gruppierungen mittelalterlicher »Männ lichkeiten«, Ritter und Kleriker, bezogen und entsprechend als deren anthro pologisierte Bestätigungen »gelesen« werden bzw. worden sein.15 Zweitens scheinen am unteren Ende der Reihe die Grenzen zwischen ei nem »verweiblichten Mann« und »wirklichen Frauen« im Portrait desjenigen mit dem i}leibischm lI/t/ot, das sich als zutiefst misogyn darstellt, zu verwischen (vgl. BdN, 52, 1 2-26) . 1 6 Als Inbegriff aller schlechten Eigenschaften rangiert jedoch an unterster Stelle der Portraitreihe nicht der »verweiblichte Mann« bzw. die »Natur der Frauen«, sondern der »Kastrat«, bei dem noch zwischen dem Verlust der männlichen Geschlechtsteile dm'ch kllt/st oder durch Geburt, was als das Schlechteste gilt, unterschieden wird (vgl. BdN, 52,27-53,2) .17 Mit der Abgrenzung des »Kastraten« vom »Mann mit dem iPeibischen tIIt/ot« bzw. von »Frauen« sowie der kollektivierenden Bezugnahme auf dill }}leib und ihre »Natur« im Portrait des »verweiblichten Mannes« werden »Kastrat« und »Frauen« auf verschiedene Art und Weise an einer »männlichen« Norm gemes sen und disqualifiziert.
1 5 Ritter und Kleriker sind als zwei einander ergänzende und konkurrierende Männlichkeitsmo delle auf den Hof, den »Kern der ritterlich-höfischen Kultu!« , bezogen. Zum Verhältnis von ",i/es und ele/yeliS am Hof siehe grundsätzlich Fleckenstein, 1990, 325, der u. a. auch heraus stellt, daß in Konrads Ökonomik der Hof der Inbegriff allen gesitteten Lebens ist. - Zum Begriff des "Wahrnehmungsrückhalts« vgl. Reißer, 1 997, 5 1 ; vgl. dazu auch oben Anm. 1 3 . 1 6 B e i Rhazes i s t d i e Darstellung m. E. eindeutiger a u f "Frauen« bezogen als bei Konrad; vgl. Foerster, 1 893, II, 1 78. 17 In einigen Handschriften ist das K�pitel entsprechend mir der Ü berschrift von dm poestell !!/almet! überschrieben.
» DE R H A T A I N E N W E I B I S C l f E N r-.f U O T . . . (
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Sexuelles Begehren als differenzierendes Kriterium unterschiedlicher Männlichkeiten Zur Geschlechtertypologie HHdegards von Bingen
Von dem wahrscheinlich erst zwischen 1 1 80 und 1 220 und damit erst nach Hildegards Tod in seiner überlieferten Form entstandenen Liber compo.rilae medicinae (LCM Cau.rae el mille) ist nur eine H andschrift aus dem 1 3 . und ein Fragment aus dem 1 3. / 1 4. Jahrhundert bekannt.1 B Der LCM, in dem Hildegard im Unterschied zu den Konventionen mittelalterlichen medizini schen Schrifttums auf j egliche Quellenangaben verzichtet, enthält j eweils eine Männer- und eine Frauentypologie, die weitgehend auf dem Viererschema der Elementen- und Temperamentenlehre zu basieren scheinen.19 Da jedoch Persönlichkeits- und Verhaltensmuster der verschiedenen »Männlichkeits- und Weiblichkeitstypen« nicht nur von der Blutbeschaffenheit, sondern auch von Körperkonstitution, Gesichtszügen und - im Vergleich zu Konrads Portrait reihe vielleicht am auffälligsten - vom Sexualverhalten abgeleitet werden, kön nen, wie Joan Cadden feststellt, H ildegards Typologien durchaus als Vorläufer der physiognomischen Blütezeit im 1 3 . und 1 4. Jahrhundert betrachtet wer den.20 In Hildegards Modellentwurf wird die Vergleichbarkeit von Männern und Frauen allerdings in mehrerer Hinsicht erschwert. So werden l'vlänner- und Frauentypologie nicht nur isoliert voneinander an verschiedenen Stellen des LCM behandelt (CC, 70, 1 2-76,8: Männertypologie; CC, 87,1 1 -89,37: Frau entypologie), sondern ihre Anordnung erfolgt auch nach unterschiedlichen Kriterien und weist eine jeweils andere Reihenfolge der Temperamente für die beiden Geschlechter auf. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wer den dabei in einer komplizierten Analogie- und Inversionsstruktur zu einer Art doppeltem Chiasmus verschränkt (siehe Abbildung) . =
1 8 Vgl. Meier, 1 98 1 , 1 258; zur Ü berlieferungsgeschichte der naturkundlichen Schriften vgl. ausführlich Embach, 2003, 287-393. Aufgrund des Mangels an einer autornahen Überliefe rung wird in der jüngsten Forschung Hildcgards Verfasserinnenschaft des LCM in Frage ge stellt; vgl. Embach, 2002, 659; 66 1 . Aus pragmatischen Gründen werde ich im folgenden je doch unter dem erwähnten Vorbehalt gegenüber ihrer Autorschaft den LCM der Ü berliefe rung entsprechend weiterhin Hildegard zuordnen. 19 Die Ü berschriften, die einen jeweiligen Typus einem Temperament zuordnen, wurden im einzigen Textzeugen des 1 3. Jahrhunderts erst nachträglich hinzugefügt; die Frage, ob unter diesen Umständen Hildegards Einteilung in Geschlechterrypen überhaupt nach der Tempe ramentenlehre konzipiert ist, behandelt ausführlich Cadden, 1 984, 1 60-166. - Mögliche Gründe für Hildegards Verzicht auf Quellenangaben diskutiert Cadden, 1 9 9 1 . 2 0 Vgl. Cadden, 1 993, 186; zu d e n traditionellen Verbindungen zwischen Physiognomik und Temperamentenlehre generell vgl. Reißer, 1 997, 32-35. -
58
A N D R E A M OSHöVEL
Die Anordnung der Temperamente in Hildegards Miirmer- Imd f"metJ!ypologie Männer
Frauen
cholerisches
sanguinisches
melancholisches
phlegmatisches
Temperament
Temperament
Temperament
Temperament
sanguinisches
phlegmatisches
cholerisches
melancholisches
Temperament
Temperament
Temperament
Temperament
J oan Cadden zufolge betrachtet Hildegard Frauen weder als schlichtes Gegen teil noch als blassen Abglanz von Männern; sie charakterisiere vielmehr die Geschlechter nach jeweils eigenen Bedingungen und interessiere sich weniger für Unterschiede zwischen Männern und Frauen als vielmehr für Differenzen zwischen Männern untereinander und zwischen Frauen untereinander.21 Pru dence AUen nimmt Hildegard sogar als erste »Differenztheoretikerin« in An spruch, die eine auf Verschiedenheit, aber Gleichwertigkeit der Geschlechter basierende Philosophie der »Geschlechterkomplementarität« vertrete.22 Ein Blick auf die Männertypologie bei Hildegard zeigt, daß anders als bei Konrad der Bereich der Sexualität nicht marginalisiert wird, sondern geradezu den Dreh- und Angelpunkt der Anordnung bildet, so daß man fast von einer »heteronormen Ordnung männlicher Begehrensmuster« sprechen möchte.23 Bei jedem Männertypus wird explizit erklärt, warum, wie und auf welche Weise er Frauen begehrt und welche Liebhaberqualitäten er hat. So heißt es bei spielsweise von den Cholerikern (vgl. CC, 70,1 2-72,7; Hk, 1 37-1 39), den »männlich(st)en Männern« (vgl. CC, 7 1 , 1 4: viriles vin), daß sie sexuellen Um gang mit Männern meiden, weil sie »die weibliche Form« in der Vereinigung
21 Cadden, 1 984, 1 60-172. 22 Allen, 1 997, 40f.; 292-31 S. Hildegards Modell stellt Allen zufolge die Herrscha ft des Mannes nicht in Frage, sondern fonnuli�rt sie lediglich »frcundlichen<, insofern sie nicht über die angebliche Schwäche und/oder negative Charaktercigenschaften "den< einer Lenkung be dürftigen Frau legitimiert wird, sondern Frauen den Männern freiwillig und gerne aufgrund der Erkenntnis ihrcr "milderen Natur« g�horchen. 23 Die Verwendung der Begriffe "Heteronormativität« und "Homosexualität« für die Beschrei bung von Aspekten mittelalterlicher Sexualität und/oder gleichgeschlechtlicher emotionaler Beziehungen stellt im Grunde einen Anachronismus dar, da der Begriff der Homoscxualität im 1 9. J ahrhundert als Neologismus für ein durch die Objektwahl definiertes Sexualverhalten als Teil der Identität einer Person geprägt wurde. lm 1\1ittelalter herrschten jedoch andere Kriterien der Klassifizierung von Sexualität vor, insofern nicht Personen und ihre Uebes objekte, sondern sexuelle Handlungen systematisiert wurden. Ich verwende hier die Begriffe »Homosexualität« und »Heteronormativität« heuristisch im Sinne einer jeweils uneinheitlichen und historisch noch näher zu bestimmenden Kategorie. Zu Homosexualität im Mittelalter vgl. LI. a. Spreitzer, 2002; Hergemäller, 1 999.
), D E R H A T A I N E N W E I B I S C H E N M LJ O T
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. . «
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(vgl. CC, 7 1 , 5 f. : femilleom formom ill eom/me/iolle) so sehr lieben. Frauen sind für sie allerdings derartige Sexualobjekte, daß sie sich allein schon bei ihrem blo ßen Anblick nicht mehr zurückhalten und kontrollieren können. Sexuelle Ab stinenz halten sie nur aus, wenn sie jeglichen Anblick von Frauen meiden. Da Triebkontrolle für sie eine kaum zu bewältigende Aufgabe darstellt, wenden sie sich im Zölibat häufig leblosen Sexualobjekten zu. Anders die Sanguiniker (vgl. CC, 72,8-7 3 , 1 9 ; H k, 1 3 9 f.): Sie begehren Frauen nicht aus einer Neigung, sondern aus einer Notwendigkeit heraus, weil »eine weibliche Natur sanfter und zärtlicher ist als die Art des Mannes« (Hk, 1 39; vgl. CC, 72,27f.: quotli017l IJmlieb/is /lolura movior el lel/ior est qtlam tJirilis nalllro) . Die Sanguiniker erscheinen moderater und kultivierter im U mgang mit Frauen als die Choleriker; sie sind in der Lage, mit Frauen freundschaftlich im Gespräch zu verkehren. Zwar leiden auch sie unter sexueller Zurückhaltung im Zölibat, doch sind sie zur Triebkontrolle fähig, was bemerkenswerterweise als ein »positiv« bewerteter »weiblicher« Charakterzug der Zurückhaltung in ihnen beschrieben wird, der von Klugheit und Erkenntnis zeugt (vgl. Hk, 1 40; vgl. ce, 73,1-3: sed in eis est te17lperata pmdentio, q1lamfemineo ars habeI, q"oe b011a17l eOl1tillel1tiam exfeminea noft/ra eontrahi!, et etiom intelligibilem intellectmJJ babnd).24 Gegenüber den Cholerikern als leidenschaftlichen, aber auch gewaltsamen und unkontrollierten Liebhabern erscheinen die Sanguiniker als »güldenels] Bauwerk in der geschlechtlichen Umarmung« (Hk, 1 39; vgl. ee, 72,24: Olfrell1ll oedificium ill recto olllplexiom) und als »einsichtsvolle Liebhaber in aller Ehrenhaftigkeit« (Hk, 1 40; "gI. CC, 72,36: pmdenles om% res in hOllorifieentio). Der Vergleich von Cholerikern und Sanguini kern anhand ihrer Liebhabergualitäten erinnert in gewisser Weise an die des öfteren in lateinischen Streitgedichten des 1 2. / 1 3 . Jahrhunderts geführte Dis kussion, ob der Ritter oder der Kleriker der bessere Frauenliebhaber sei.25 Ähnlich wie die beiden »positiv« bewerteten Portraits des »Kühnen« und des »Weisheitsliebenden« bei Konrad lassen sich also auch die H ildegardschen »Männlichkeitstypen« der Choleriker und der Sanguiniker als eine Art »Wahr-
24 Die Auffassung, daß Frauen besser als Miinner ihre Triebe kontrollieren können, hängt bei Hildegard mit einer spezifischen Qualität des weiblichen B egehrens zusammen, das sie auf die weibliche Anatomie zurückführt. Bei Frauen ist Hildegard zufolge das sexuelle Begehren aufgrund der Weite ihres Bauchraums weniger heftig, dafür aber länger anhaltend und häufi ger als bdm Mann; dadurch ist es besser komrollierbar und beherrsch bar (vgl. CC, 76,20-35; Hk, 143). 25 Zum literarischen Streit über die Liebhaberqualitäten von Ritter und Kleriker vgl. Flecken stein, 1 990, 303, und Zotz, 2(J()2, 220; Fleckenstein und Zotz rekurrieren besonders auf Nr. 82 und N r. 92 aus den Carmina Burana, wo es u. a. heißt: elems seit dili!!/I� / 1Ii1:gil/eltl pills milite (Nr. 82,I ,9f.); 11011 alJ/(/III ,.ele militeJ (Nr. 82,4,4.); jacllIJ esl pe,. rlnimlJl mi/es CyhmruJ (NI". 92,41 ,3); Je Clmdllm seimliam cl SCCl/lldlll?/ ltIomll / ad amom)} elCliCIIIll diCIIlI1 aptio,,1tI (Nr. 92, 78,3f.). Zit. nach: Carmina Burana [Vollmann], 1 987, 284-287; 3 1 6-343.
60
ANDREA MOS H Ö V E L
nehmungsrückhalt« auf die Stände von Ritter und Kleriker bzw. deren literari sche Typisierungen beziehen. Die Melancholiker (vgl. CC, 73,20-74,35; Hk, 1 40f.) werden als ähnlich leidenschaftlich wie die Choleriker beschrieben, nur daß sie dabei nicht wie diese aus einer liebenden Neigung zu Frauen heraus sexuelle Handlungen mit ihnen ausführen, sondern Frauen hassen und gewaltsam sind. Bei den Melan cholikern wird ein mit Frauen menschlich verkehrender und ein gänzlich Frauen meidender Untertyp unterschieden. Sie werden durch häufige Tierver gleiche gekennzeichnet und erscheinen geradezu als »biologische« Erklärung für Frauenhaß, obwohl nach Hildegard auch für sie der sexuelle Umgang mit Frauen heilsam ist. Die Phlegmatiker (vgl. CC, 74,36-76,8; Hk, 1 4 1 f.) hingegen sind zeu gungsunfähig, unfruchtbar und gelten körperlich »weder ihrem Bartwuchs nach noch in den anderen Geschlechtsmerkmalen als rechte Männer« (Hk, 1 42 ; vgl. CC, 75,27f. : ideo tlec itl barba tlec itl aliis ht/itwnodi cat/sis lJirorttm l!iriles e.rse lJClleIJ� . Sie haben eine »weibliche Gesichtsfarbe« (vgl. CC, 75, 2 f.: tIItdiebrelJl colorem in ./tIde) und »weiches Frauenfleiseh« am Körper (vgl. CC, 75,8: et tIIolles .rect/t/dlill/ " mles.femit/Clrttm) . Sexuell übernehmen die Phlegmatiker den pas siven
Part und verkehren sowohl mit Männern als auch mit Frauen (vgl. CC, 75,20f. : isti itl i/Ja alllpiexiolle amtlli posst/tlt, qliod e t viris e f .fettJitlis cohabitare
lJale
n� .
Zu
Frauen fühlen s i e sich nicht a u s sexueller Lust heraus, sondern a u s reiner Ge Eilligkeit und Gutmütigkeit hingezogen, weil die Schwäche »der Frau« sie ihnen ähnlich und knabengleich macht (vgl. CC, 75,29-3 1 ) . Wie deutlich geworden sein dürfte, stehen also ähnlich wie in Konrads Physiognomik auch in Hildegards Geschlechtertypologie ein äußerst »männli cher Männertypus« (die Choleriker) am Anfang und unfruchtbare »Kastraten« mit »verweiblichten« Körper- und Verhaltensmerkmalen (die Phlegmatiker) am Ende einer Reihe verschiedener Männlichkeitstypen. Anders als bei Konrad spielen bei Hildegard jedoch Frauen und Sexualität für die Differenzierung unterschiedlicher Männlichkeiten eine zentrale Rolle. Hierbei ist nicht zuletzt eine Parallelführung von Männer- und Frauentypologie bemerkenswert, die auf dem Verhältnis der heterosexuellen Geschlechterbeziehungen zum Grad der » Reinheit« und »Vermischung« von »männlichen« und »weiblichen« Eigen schaften innerhalb eines bestimmten Männer- oder Frauentypus basiert.26 So findet sich in der ersten Position jeweils ein geschlechtlicher Typus, der mit positivem Modellcharakter »Reinformen« eines »männlichen J'vfannes« (die
26 Vgl. zu dieser ParaUelführung auch Allen, 1 997, 308f.
» D E R H A T A I N E N W E I B I S C H E N l\l lI O T " , «
61
Choleriker) und einer »weiblichen Frau« (die Sanguinikerinnen) repräsentiert.27 Dieser Typus nimmt ohne eine erfüllte Sexualität mit dem jeweils anderen Geschlecht körperlichen Schaden. Die männlichen und weiblichen Typen der zweiten Position (die Sanguiniker und die Phlegmatikerinnen) besitzen hinge gen beide Attribute des jeweils anderen Geschlechts.28 Anders als Vertreter und Vertreterinnen des ersten »reinen« Geschlechtstypus leiden sie nicht kör perlich, sondern »nur« charakterlich unter sexueller Abstinenz. Die Intensität des heterosexuellen Begehrens nach dem anderen Geschlecht und die eigenen geschlechtlichen und gegengeschlechtlichen Merkmale stehen somit bei den ersten beiden Typen von Männlichkeit und Weiblichkeit in einem relational aufeinander bezogenen Wechselverhältnis, in dem quasi eine auf das jeweils andere Geschlecht ausgerichtete Sexualität dessen Fehlen im eigenen komple mentär ergänzt. Die dritte Position nehmen ein frauenhassender Männertypus (die Melancholiker) und ein Männern Furcht einflößender Frauentypus (die Cholerikerinnen) ein, die jeweils keine Züge des anderen Geschlechts tragen. Beide bedürfen sexueller Beziehungen zum anderen Geschlecht, um körperli che Schmerzen zu vermeiden. Den Phlegmatikern und den Melancholikerin nen auf der vierten und letzten Position ist wiedemm gemeinsam, daß sie unfruchtbar sind und kein oder nur ein geringes Begehren nach dem anderen Geschlecht haben. Entsprechend nehmen sie durch sexuelle Abstinenz kei nerlei Schaden, bzw. den Melancholikerinnen geht es ohne eine sexuelle Be ziehung zu einem Mann sogar körperlich und psychisch besser.
Resümee Für die Frage nach der heuristischen B rauchbarkeit von Connells Konzept »hegemonialer Männlichkeit« für mittelalterliche Geschlechterentwürfe fallt in Konrads und Hildegards Modellen bei aller Unterschiedlichkeit, die vor allem durch den Stellenwert der Sexualität bedingt ist, eine Gemeinsamkeit auf. Beide kennen nicht
einen
»positiven« Männlichkeitstypus, sondern
'?}/Jei,
und
beide implizieren zugleich, daß der Typus des »männlichsten Mannes« nicht unbedingt der Typus des »besten« oder des »idealen Mannes« ist: Konrad,
27 Die Weiblichkeit der Sanguinikerin wird zwar nicht so explizit herausgestellt wie die Männlichkeit des Cholerikers, doch ist die Sanguinikerin der » weiblichste« der » positiv« cha rakterisierten Typen, da der andere »positive« Typus, die Phlegmatikerin, im Unterschied zu ihr auch »männliche« Körper- und Charaktermerkmale besitzt. 28 Allen, 1 997, 309, meint, daß dieser zweite Typus jeweils den Idealtypus in »Hildegards Theorie der Geschlechterkomplementarität« darstelle.
A N D R EA M O S H Ö V E L
62
indem e r das Portrait des »Kühnen« m i t dem des »Weisheitsliebenden« über die Forderung nach der idealen Entsprechung von Körper und Verstand zu einer Art Triptychon verbindet; Hildegard, indem sie die Fähigkeiten zur Triebkontrolle, die heterosexuellen Beziehungen zu und den freundschaftli chen Umgang mit Frauen als wichtiges Qualifizierungsmerkmal von Männ lichkeit herausstellt. Die »positiven« Portraits des »Kühnen« und des »Weis heitsliebenden«
bei
Konrad
sowie
die
Choleriker
und
Sanguiniker
bei
Hildegard scheinen als ein quasi anthropologisierter »Wahrnehmungsrückhalt« mit »Ritter« und »Kleriker« als den beiden hegemonialen männlichen Lebens formen des
1 2.
bis
1 4.
J ahrhunderts zu korrespondieren. Wenn, wie Martin
Dinges schreibt, generell »von mehr als einer einzigen hegemonialen Männ lichkeit in einer gegebenen Gesellschaft auszugehen« ist,29 könnte es also durchaus sinnvoll sein, die bier skizzierten Modelle mit dem Konzept »hege monialer Männlichkeit« zu beschreiben. Um das Konkurrieren von »Ritter« und »Kleriker« um eine hegemoniale Position weiter auszuleuchten, wäre in einem nächsten Schritt nach den Diskursverschränkungen und den medialen Bedingungen zu fragen, in denen und über die sie als Männlichkeitsmodelle vermittelt werden. Im Rahmen einer möglichen Adaption des Connellschen Konzepts »hege monialer Männlichkeit« für die Analyse mittelalterlicher Geschlechterentwürfe zeigen die Modelle Konrads und Hildegards m. E . jedoch auch die Notwen digkeit auf, den Aspekt der Relationalität des Geschlechterverhältnisses aus seiner Beschränkung auf die unter Mediävisten und Mediävistinnen umstrit tene »These von der >Erfindung< der Geschlechtscharaktere im
18. Jahrhun
dert«30 zu lösen. Die physiognomischen Portraits Konrads von Megenberg sowie die Männlichkeits- und die Weiblichkeits typologie
Hildegards von
Bingen können in gewisser Weise exemplarisch für die Vielfältigkeit und die Differenziertheit normativer Geschlechtermodelle im Mittelalter stehen. Die Marginalisierung von Sexualität und »Frauen« in Konrads Modell und die zentrale Rolle, die beiden in Hildegards Typologie der Geschlechter zukommt, verweisen dabei zugleich darauf, daß, wie Judith Butler argumentiert hat, die Konstruktion eines heteronorm orientierten geschlechtsspezifischen Begeh rens der Konstruktion bestimmter Typen von »Männlichkeit« und »Weiblich keit«, von »männlichen« und »weiblichen« Körpern, nicht nach-, sondern quasi in einem gegenseitigen Produktions- und Bestätigungsverhältnis neben-, wenn nicht sogar vorgeordnet ist.31 Wie Joan Cadden vermutet, muß in der Tat die
29 Dinges, 2004, 74. 30 Zur Kritik siehe besonders Schnell, 2002, 41-77; Zitat hier 68. 3 1 Während bei Konrad Sexualität vor altem erwähnt wird, um bestimmte Männlichkeitstypen Zll disqualifizieren, qualifizieren und disqualifizieren sich in Hildegards Modell die einzelnen
» D E R HAT
A I N E N W E I B I S C H E N M li OT
...
63
«
Spannbreite mittelalterlicher Geschlech terentwürfe nicht unbedingt die Kon stru ktion der binären Struktur des Geschlechterverhältnisses schwächen; viel mehr kann die Flexibilität der Sprache und der Konzepte von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« im Gegenteil den Effekt haben, daß die Geschlechterhie rarchie in verschiedensten Kontexten abgerufen und in ihrer binären Struktur immer wieder neu reproduziert und bestätigt wird.32 Rüdiger Schnell zufolge sind die »recht unterschiedlichen Relationierungen von
sex
und
gender
in der
Vormoderne« sogar durch »das durchgehende Bemühen« gekennzeichnet, »alle gellde/cKonzepte - auch wenn diese sich gegenseitig widersprechen - im Ge schlechtskörper zu verankern.«33 Wenn Cadden und Schnell mit ihren Schluß folgerungen recht haben, könnten Einblicke in die Verschränkungen zwischen der Ausdifferenzierung verschiedener »Männlichkeiten« und der Geschlechter hierarchie im vormodernen Geschlechterverhältnis durchaus einen wichtigen Beitrag darstellen, gegenwärtige Probleme und Pragestellungen um »hegemo niale Männlichkeit(en)« und das Geschlechterverhältnis von ihrer historischen Dimension aus zu erhellen.
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Cambridge Femillistische
ShidiCII
M.ännlichkeitstypen über die Qualität ihres auf Frauen ausgerichteten Begehrens und damit auf der Basis einer bejahten heteronormen Sexualität als Männer. Hildegards Modellentwurf illustriert damit in gewisser Weise die These Judith Butlers, 1 9 9 1 , daß die Binarität des Ge schlechterverhältnisses über das (heterosexuelle) Begehren bzw. über ))Zwangsheteroscxuali tät« konstruiert wird. 32 Cadden, 1993, 226. 33 Schnell, 2002, 474.
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Heilkullde. Das Blich
) D E R H A T A I N E N W E I R 1 � C H E N l\·f ll O T
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Das B uch der NatNr. Die erste Naturgwhicbte in delltJcher Spracbe,
hg. von Franz Pfeiffer,
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Frühmoderne hegemoniale Männlichkeiten
»Die Opfer des Herren« Das Ringen um Männlichkeiten im ersten täuferischen Martyrologium
Nicole Groch01vina
••Es
ist so, liebe Leser, daß der barmherzige Gott und Vater durch seine unergründliche Gnade [... ) jetzt in diesen gef:1hrlichen Zeiten seinen gebenedeiten eigenen und einzigen Sohn Jesus Christus, der so viele hundert Jahre unbekannt war, nun einigen vor Augen und
in ihr Bewußtsein gegeben hat, und einige, die in allen Sünden und widergöttlichem Verhal ten verstorben lagen, aufgeweckt und in das neue, unbestrafte Leben gerufen hat: Und einige arme, elendige, verbiesterte [ ... ) magere und verhungerte Schafe durch die Predigt seines heilsamen Wortes und die Kraft seines heiligen Geistes aus den Händen der treulosen Hirten und aus den J<jrchen der reißenden Wölfe erlöst hat.« I
Der unbekannte Kompilator der täuferischen Märtyrerschri ft
•• Het
O ffer des
Herren« aus dem J ahr 1 562 zeichnet hier ein gewaltiges Bild der Exempel, welche er in seinem Buch vorzustellen gedenkt: Einige Menschen seien in gefährlichen Zeiten auserwählt worden, um nicht mehr auf den »verdorrten Weiden« unter der menschlichen Lehre zu leiden. Vielmehr hätten sie den direkten Kontakt zu Christus gefunden. Ihnen habe er die richtige, die wahre Lehre eingegeben, durch welche sie sich von der Kirche der »reißenden Wölfe« - also der katholischen - loslösen konnten, um das .>neue, unbestrafte Leben« zu führen. Wie dieses neue Leben auszusehen und welche Einflüsse es auf neu zu schaffende O rdnungen hatte, fassen nicht zuletzt die nachfolgenden Bekennt nisschriften der Auserwählten in dem Band zusammen. Dabei nehmen Erwä gungen zum Verhältnis zwischen Männern und Frauen einen wesentlichen Raum ein. Dies ist in der Forschung bereits insbesondere für die unterschiedli chen Rollen der Frauen in der täuferischen Gemeinschaft thematisiert wor den.2 Eine dezidiert männergeschichtlich ausgerichtete Fokus sierung fehlt allerdings. Dabei hat die Männergeschichte bereits verschiedene Ausprägungen
1 eramer, J 904, 53, Ü bers. N.G. 2 Vgl. als Auswahl mit der entsprechenden Bibliographie Grochowina 1 999; Hiett Umble 1 990; Klausen, 1 986; MalT, 1 987. ,
N I C U L E G R Cl C H Cl W I N A
70
von Männlichkeiten untersucht.3 Eine wesentliche Bezugsgröße bildete hierbei das Modell der hegemonialen Männlichkeit von Robert Connell.4 Dieses soll im Folgenden die Leitperspektive sein, wenn das Martyrolo gium »Het O ffer des Herren« nach der Ausdifferenzierung von Männlichkei ten befragt wird. Hier zeigt sich, daß Männlichkeit nicht nur eine Idee einer individuellen Identität war,s sondern als umfassendes Konzept dazu diente, die Geschlechterhierarchie und damit die Dominanz der Männer zu sichern. Hier ist eine wesentliche Grundannahme des Modells von Connell heraus zufordern: So nimmt er an, daß die Ausbildung der hegemonialen Männlich keit nur dann erkennbar sei, wenn ein nachweisbares Verständnis von Indivi dualität vorläge. Dies müsse mit einer Kultur kombiniert werden, in der Männer und Frauen »als Träger und Trägerinnen polarisierter Charaktereigen schaften betrachtet« 6 würden. All dies sei allerdings erst im Europa des ausge henden
1 8. Jahrhunderts zu beobachten.7
Gezeigt werden soll dem gegenüber, daß es nicht der - in der Forschung auch bereits umstrittenen8 - polarisierenden Geschlechtscharaktere bedurfte, um die Ausdifferenzierung von Männlichkeiten zu initüeren. Entscheidender waren Umbruchsituationen, in denen zahlreiche Ordnungsvorstellungen er neut festzuschreiben waren. Die Reformation ist als eine solche Zeit anzuse hen, wurde hier doch insbesondere in der Phase der Bewegung9 die beste hende Ordnung auf zahlreichen Ebenen herausgefordert. Dies galt auch und gerade für die täuferischen Gruppen, welche in ihren Traktaten, aber auch in rVfartyrologien das »neue, unbestrafte Leben« postulierten und sich zu »Auser wählten« stilisierten. In einem ersten Schritt wird deshalb die erste täuferische Märtyrerschrift »Het O ffer des H erren« vorzustellen sein, bevor zweitens in der Analyse einzelner Selbstzeugnisse der Märtyrer die Ausdifferenzierung der Männlichkeiten erkennbar gemacht LInd an das Legitimitätsproblem m ännli cher Dominanz im Sinne Connells rückgebunden wird.
3 4 5 6 7 8
Vgl. Dinges, 2004. Vgl. Connell, 2000. Vgl. cbd., 48. Ebd., 88. Vgl. ebd. Unabhängig davon ist die Frage nach den polarisierenden Geschlechtscharakteren um 1 800 nicht mehr unumstritten. Vgl. hierzu die Auseinandersetzungen bei Hausen, 1 976. Diese These blieb nicht unwidersprochen. Vgl. Wunder, 1 992; dies. 1 998. Vgl. Dilcher, 1 997. Dar über hinaus haben Forschungen der eender sll/dies bereits gezeigt, daß der - für Connell eben falls leitende - Gedanke eines sozial konstruierten Geschlechts und der damit einher gehen den Dynamik innerhalb des Geschlechterverhiiltnisses ebenfalls auf die Frühe Neuzeit zu übertragen ist. Vgl. für einen Ü berblick aus miinnergeschichtlicher Perspektive Schmale, 2003. 9 Zu diesem Begriff vgl. Goertz, 1 993.
»DIE OPFER DES H ERREN«
71
»Die Opfer des Herren« - die Schrift Die zur »radikalen Reformation«10 zählenden Täufer sind im frühen 1 6. Jahrhundert aus den innerprotestantischen Auseinandersetzungen hervorge gangen. 1 562 erschien mit »Het Offer des H erren« ihr erstes Martyrologium. Bis 1 599 erlebte diese S ammlung täuferischer Briefe, Verhörprotokolle, Tes tamente und Lieder elf Auflagen. Die Fassung von 1 570 wurde 1 904 erneut gedruckt und ergänzte damit den Bestand täuferischer Martyrologien.1 1 »Het Offer des H erren« stand datüber hinaus in einer Traditionslinie von protestan tischen Martyrologien, welche ihren Ausgangspunkt in dem Werk von Ludwig Rabus hatte. 1 2 »Het Offer des H erren« fand vorzugsweise in den Niederlanden und nie derdeutschen Gebieten Verbreitung und umfaßt die Täufer, welche in den 1 550er J ahren hingerichtet wurden. Die Schrift ist in drei Teile untergliedert: Zunächst werden die Martyrien von vier Frauen und 1 9 Männern dargestellt. Anschließend folgt ein Extrateil, der die Lebenswege von zwei Frauen und sechs Männern nachzeichnet. Es folgt ein Liedteil, der insgesamt 1 3 1 Personen (4 1 Frauen, 90 Männer) einschließt. 1 3 Diese erste täuferische Märtyrerschrift sollte die Gemeinden nicht nur dar auf einschwören, daß gefährliche Zeiten herrschten, in denen die Wahl der falschen Lehre die ewige Verdammnis mit sich bringen könnte. Gleichzeitig sollten die beschriebenen Exempel die täuferische Lehre vorgeben und durch ihr Verhalten als Vorbild dienen, um etwa in Verhören bestehen zu können. Mit einem solchen Weg war durchaus das Leiden für die richtige Lehre ver bunden. Deswegen nimmt der Verweis auf den Charakter der »lijdsamkeit« wesentlichen Raum in der Märtyrerschrift ein. Gemeint ist damit das geduldige Ertragen des Leidens, die Unterordnung der eigenen Schmerzen unter ein größeres Ziel, welches als Wiederkehr des Reich Gottes auf Erden nach dem Endgericht begriffen wurde. 1 4 Grundsätzlich ging es im Martyrologium darum, innerhalb der täuferischen Gemeinschaften eine verbindliche Identität und Einheit zu stiften, die ihren
10 Williams, 1 992. 1 1 Vgl. Ouderman, 1 626; van Braght, 1 660. 12 Vgl. Rabus, 1 552-58. ZU!' - ebenfalls nach der Reformation auch protestantisch konnotierten - Bekennerhistorie vgl. Hieber, 1 970. 13 Dieses Liedbuch erschien 1 563 noch selbständig. 1 570 wurde es dann zusammen mit dem Haupttext herausgegeben. Aber beide zusammen umfassen nur einen Bfllchteil der täuferi sehen Märtyrer. Deshalb verweist J ean lI·feyhoffer noch auf weitere Quellen, um zu einer grö ßeren Zahl von Märtyrern zu gelangen. Vgl. Meyhoffer, 1907, 87- 1 82. 14 Vgl. Stauffcr, 1 933.
72
N ICOLE G ROCHOWINA
gemeinsamen Bezugspunkt i n den Exempeln der Märtyrerschrift fand. 1 5 Dies war dringend notwendig, führten doch die Reformation und die Ausdifferen zierung der tiiuferischen Lehre seit den 1 540er Jahren zumindest im N ord westen des Alten Reiches zu massiven Auseinandersetzungen, welche sich in den 1 560er J ahren deutlich zuspitzten. 16 Gesetzt werden mußten aber nicht nur verbindliche Eckpunkte einer täufe rischen Lehre, welche die divergierenden Auffassungen zu synchronisieren vermochten. Darüber hinaus war es auch erforderlich, das herausgeforderte Geschlechterverhältnis erneut zu ordnen. Dies diente nicht zuletzt auch dazu, täuferische Vorstellungen von i\'lännlichkeiten zu präzisieren.
Legitimierung des Patriarchats im Martyrologium »Hegemoniale Miinnlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbe zogener Praxis defInieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitiitsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Män ner sowie die Unterordnung der frauen gewiihrleistet (oder gewährleisten soll) .«17 Robert Connell verknüpft hier die Ausbildung der hegemonialen Männlichkeit mit dem Legitimitiitsproblem des Patriarchats. War die Domi nanz der Männer über die Frauen nicht mehr gewährleistet, da diese gesell schaftliche
Umbruchssituationen
nutzten,
um
bestehende
Ordnungen
herauszufordern, mußten Vors tellungen von Miinnlichkeit hinterfragt und den neuen Bedingungen angepaßt werden. Neue Vorbilder waren zu benennen, welche ihren Anspruch auf Autorität einzulösen hatten. Dieses Bemühen um eine erneute H ierarchisierung des Geschlechterver hältnisses spiegelte sich auch in »Het O ffer des Herren« wider. Es präsentiert zwar eine gewünschte Geschlechterhierarchie, welche das »Legitimitätsprob lem des Patriarchats« zu lösen versuchte, gleichzei tig jedoch wird darin auch und immer noch der bemerkenswerte Anteil reflektiert, welchen Frauen am Aufbau der täuferi schen Zirkel hatten. Damit kommt der Schrift ein transitori-
15 Thomas Fuchs spricht an dieser Stelle von einer protestantischen Erinnerungspolitik, welche nach der Reformation einsetzte. Vgl. Fuchs, 1 998, passim. 16 1 567 war es zu massive Auseinandersetwngen zwischen den Flamen und den Friesen gekom men, welche sich an der Frage nach der korrekten bzw. strikten N lltzung des Bannes fest machten. Allerdings mußte sich bereits in den 1 540er Jahren Menno Simons mit unterschied lichen Auslegungen in Ostfriesland und in den Niederlanden beschäftigen - und sprach hier ebenfalls Verbannungen aus. Vgl. Oosrerbaan, 1 980; Grochowina: Indifferenz, 2003, 259261 . 1 7 Connell, 2000, 98.
)) D I E O P F ER D E S H E RR E N «(
73
scher Charakter bei der Ausbildung der neuen Geschlechterordnung für täufe rische Gemeinden zu. In der Phase der reformatorischen Bewegung wurden in den täuferischen Zirkeln
bestehende
Geschlechterverhältnisse
und
-hierarchien
nivelliert.
Frauen übernahmen bei den geheimen Treffen wichtige Funktionen, predigten oder verfaßten S chriften. Während der Verfolgung des Täufertums leisteten sie unverzichtbare Dienste, um das Ü berleben der Gemeinschaft zu sichern. 1 8 Daß sich dieses fast paritätische Verhältnis in d e r Phase d e r Institutionali sierung der B ewegung aufllOb, läßt sich einerseits an ihrer Rolle beim Aufbau einzelner täuferischer Gemeinden, andererseits aber auch am Anteil der Frauen an den täuferischen Martyrologien festmachen. 19 »Het O ffer des Herren« gab. hier eine Richtung vor, da knapp 30 Prozent der aufgenommenen Zeugnisse Frauen betrafen oder von Frauen verfaßt worden sind. Der »Märtyrerspiegel« von 1 6602°, der bis heute die eigentliche Referenzschrift für täuferische Gemeinden ist, senkte diesen Frauenanteil noch einmal: In dem deutlich umfangreicheren Werk liegt er bei 28,6 Prozent.21 Insgesamt kommen die Männer im ersten täuferischen Martyrologium auf zwölf Bekenntnisse, 1 3 Briefe an die Familie (in erster Linie zur Ermahnung der Ehefrauen), neun Testamente und
1 3 Briefe an die Gemeinden. Dem stehen fünf Bekenntnisse,
vier Briefe an die Gemeinden und fünf Briefe an Familien gegenüber, welche von Frauen verfaßt wurden. In »Het O ffer des Herren« wurden Frauen aber auch auf qualitativer Ebene in der Bekennerhierarchie klar hinter den Männern eingeordnet. So dienten die Briefe der Frauen nicht der Ermahnung oder Erbauung ihrer Ehemänner. Vielmehr handelt es sich um Nachrichten etwa an die Eltern oder um Reaktio nen auf die Briefe, welche die Ehemänner geschickt hatten. Und auch in den Testamenten, welche von den Männer durchaus genutzt wurden, um ihre Familien im Glauben zu bestärken, stand es den Frauen prinzipiell nicht zu, es ihnen in dieser Deutlichkeit gleich zu tun. Außerdem verfaßten nur die Männer Vermahnungen oder detaillierte Be richte von Verhören, einen Brief an die Ratsherren, einen an einen »luterischen Papen«22 und - undenkbar für eine Frau - ein Bekenntnis an die Obrigkeit.
1 8 Vgl. Gruchowina, 1 999, passim. 19 Zur RoUe der Frauen im Täuferreich von !v[ ünster vgl. Kobelt-Groch, 1993, 7.\11' Beschnei dung weiblicher Handlungsspielräume in institutionalisierten Gemeinden vgl. Grochowina, 1 999. 20 Vgl. Van Braght, 1660. 2 1 Vgl. Klassen, 1 986, 549. Der Anteil von ca. 30% ist erst ab der zweiten Generation der Täufer ZlI beobachten. Zunächst waren die Männer fast ausschließlich Jltänner und Kleriker. Vgl. Gregory, 1 999, 1 42. 22 Gemeint war ein katholischer Geistlicher.
74
N I C O L E G R O C H OW I N A
Zwar wurden auch Frauen z u einzelnen Punkten der täuferischen Lehre oder zu den Umständen ihrer eigenen Taufe befragt, doch fielen ihre Antworten meist kurz aus. Daniber hinaus war die physische und psychische Konstitution der Frauen wichtiger als etwaige Bekenntnisse. Dabei ging es nicht darum, die besonderen Stärken der Täuferinnen zu preisen, sondern vielmehr wurden ihre Schwächen offenbart: Die Täuferin Mayken Boosers schrieb etwa in ihrem Bekenntnis, daß sie zwar gesund sei »nach dem Fleische, aber nach dem Geiste müßte es besser sein, denn ich befinde Schwachheit in mir«.23 Diese Beobachtungen lassen sich in der Aussage des Täufers Jeronimus S egersz bündeln, der in seinem Brief an seine Gemeinde die geschlechtsspezi fischen Aufgaben klar umriß: »Ihr jungen Frauen, seid eurem Mann untertan in der Gottesfurcht, und ihr Männer, habt eure Frauen lieb wie euch selbst und nehmt sie mit aller Demut und Lieblichkeit auf und vermahnt und unterweist sie mit dem Wort des H erren.«24 Frauen begreift Seghers als U ntertanen der Männer, in Gottesfurcht hätten sie ihren Unterweisungen zu folgen. Offen kundig ist hier Seghers Bemühen, die Geschlechterordnung wieder herzustel len, welche in der Phase der reformatorischen B ewegung herausgefordert worden war. Neu ist allerdings trotz der bestehenden Hierarchisierung zwi schen den Geschlechtern sein Verweis auf die nun wechselseitige Demut, denn auch die Männer sollten ihren Frauen mit entsprechender Liebe und Fürsorge begegnen. Der transitorische Charakter des Martyrologiums zeigt sich darin, daß die gesetzte Geschlechterordnung noch nicht zwingend als strikt verstanden wer den mußte:
1 570
wurden in einem Sonderteil Zeugnisse von Märtyrern aufge
nommen, welche bis dato noch nicht im Druck erschienen waren. An erster Stelle fügte der Kompilator das Bekenntnis der Witwe Weynken Claesdochter ein, die
1 527
in Den Haag verbrannt worden war.25 Die Fragen im Verhör
umkreisten ihr Abendmahlsverständnis ebenso wie ihre Position zu den Heili gen, die Rolle der B eichtväter und die Berufung zur Predigt. Trotz aller Ange bote zum Widerruf blieb sie standhaft. Mit den Worten »Ich bin sehr zufrie den, des Herren Willen mäge geschehen«26 wurde sie dem Feuer übergeben. I n d e m Bericht d e r Hinrichtung heißt es weiter, daß sie allein u n d a l s »fromme H eldin«27 ins Feuer ging, sich selbst die Stricke anlegte und nach wiederholter Zurückweisung des Widerrufs im Feuer verstarb.
23 24 25 26 27
eramer, 1 904, 4 1 2. Ü bers. N.G. EbJ., 1 43. Ü bers. N.G. VgJ. ebd., 422-27. Ebd., 426. Ebd.
»DIE OPFER DES H E R REN«
75
Clasesdochter durfte sich i n der Tat ausführlicher z u Aspekten der Lehre äußern. Dies alles machte sie nicht nur zum Vorbild für die Frauen in den täuferischen Gemeinden, dadurch forderte sie auch die dezidierte Legitimie rung männlicher Dominanz in Bekenntnisfragen ein. Und doch war die Ge schlechterparität wohl nicht der wesentliche Grund, warum Weynken Claes dochter ausgerechnet 1 570 den Weg in das täuferische Martyrologium fand: Ü bereinstimmend verweisen Cramer und Gregory darauf, daß es sich bei ihr um die erste protestantische Märtyrerin handelt.28 In der Folge versuchten zahlreiche protestantische Gruppen, sie für sich zu reklamieren.29 Und schließ lich hatten die Mennoniten für die Ausgabe 1 570 ein besonderes Interesse an ihr als erste Märtyrerin. In dieser Phase waren die Trennungen innerhalb des Täufertums o ffenkundig. Für die Identitätsstiftung war es jedoch von ent scheidender Bedeutung, sie aufzunehmen, zumal in Monnikendam, der Ort, an dem sie verbrannt worden ist, die Erinnerung an Claesdochter fortbestand und so in die neue Edition von »Het O ffer des H erren« einfließen konnte.3o Am Beispiel des Testaments von Anneken ]ansz ist ebenfalls erkennbar, wie sie sich zumindest vordergründig über die Begrenzungen der hier skiz zierten täuferischen Geschlechterordnung hinwegsetzte, der Schrift also ein transitorischer Charakter zukam: »Siehe, ich gehe heute den Weg der Prophe ten, Apostel und Märtyrer und trinke aus dem Kelch, aus dem sie alle getrun ken haben. Ich gehe den Weg, sage ich, den Christus ]esus [. . . ] auch gegangen ist, auch er hat aus diesem Kelch trinken müssen.«'1 Sie stellt sich damit auf eine Stufe mit den - männlichen - Märtyrern, Aposteln und Christus selbst. Damit verweist sie deutlich darauf, daß der Tod für die täuferische - und nach ihrem Verständnis rich tige - Lehre letztlich alle Ordnungen und Hierarchien nivellierte. Daß dies jedoch nur für eine jenseitige Ordnung, keinesfalls aber für das diesseitige Geschlechterverhältnis galt, läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß ]ansz ihre Gedanken nur an ihren Sohn und außerdem auch nur im persönlichen Testament und nicht als Vermahnung schreiben konnte. Sowohl die quantitative als auch die qualitative Analyse der Schrift »Het O ffer des Herren« legen also nahe, daß es in der Phase der Konsolidierung, mithin beim Aufbau einer täuferischen Identität nicht darum ging, eine neue Geschlechterordnung mit aufgelöster Hierarchie bereitzustellen. Damit waren die Rahmenbedingungen für die Ausdifferenzierung von Männlichkeiten ge schaffen, auch ohne Vorstellungen von Weiblichkeiten und Männlichkeiten
28 29 30 31
Vgl. ebJ., 422 lind Gregory, 1 999, 1 85. Vgl. Rablls IIl, 1 552-58, 1 20-1 24. VgJ. emmer, 1 904, 423. Ebd., 70f. Ü bers. N .G.
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N I C O L E G R O C H OWI N A
entwickelt z u haben, welche auf »polarisierenden Geschlechtscharakteren,< basierten.32
Männlichkeiten im Martyrologium In der Phase der Reformation kam es zur N euorientierung zahlreicher Kreise der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Darüber hinaus mußten sich neue Zirkel wie etwa die Täufer etablieren und in Auseinandersetzung mit bestehenden Ordnungsmustern ihre eigenen Positionen formulieren. Dabei zeigte sich, daß das erste täuferische Martyrologium genutzt wurde, um das der Umbruchsitu ation geschuldete Vakuum in der Geschlechterordnung mit hierarchisierenden Vorstellungen zu ersetzen. Gleichwohl konnten Frauen nicht völlig ausge schlossen werden, da ihr Anteil an der täuferischen Bewegung bemerkenswert war. Entsprechend deutlich mußten deswegen die verschiedenen Ausprägungen der Männlichkeit konnotiert werden. Dies führte zu einer Ausdifferenzierung ihrer Formen. Die hegemoniale Männlichkeit und damit die »momentan ak zeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats« , das die Do minanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen wieder gewährleisten sollte,33 lag nun explizit beim bekennenden Mann, der gründliche Ermahnun gen an seine Gemeinden hinterließ, standhaft i m Verhör war und fast emoti onslos seiner Familie Trost spendete. Diesem gesetzten Ideal des Märtyrers waren alle anderen Handlungstypen von Männlichkeit unterzuordnen. Gleich wohl mußten auch sie im Text reflektiert werden, um dem Zielpublikum ge recht zu werden. Als Bekenner war es von entscheidender Bedeutung, die eigene Leidensfa higkeit angesichts des bevorstehenden Todes, aber auch der nachfolgenden Erlösung deutlich zu benennen. So dienten die Exempel den täuferischen Gemeinden als eindrückliche Vorbilder:
» Mein liebes Kind, als ich mich zur Bibel begab, diese durchsuchte und durchlas, so erkannte ich, daß ich mein Leben in Richrung des ewigen Todes ging. Indem ich solches mir zu Herzen nahm, begann ich mich sehr zu erschrecken und zu fürchten und habe Gottes Wort als meinen Ratsmann genommen. [ ...) Darum, lieber Sohn, habe ich es als besser erachtet,
32 Vgl. Hausen, 1 976 und Connell, 2000, die dies 33 Vgl. Connell, 2000, 98.
für
das ausgehende 1 8. Jahrhundert annehmen.
)� D I E O P F E R D E S H E RR E N «
77
mit Moses, mit Gottes Kindern [ ..] zu leiden, eine kleine Zeit, u m dann mit der Welt (die
vergehen wird) zu leben in aller Fülle.«34 So schrieb der Täufer J orian Simonsz seinem Sohn, nachdem er 1 5 5 7 in Haar lem gefangen genommen worden war. Er erklärt, daß die Wahl von Gottes Wort als Ratsmann und Leitlinie auf seine eigene Einschätzung seines Lebens und seiner Zeit zurückging. Um den ewigen Tod nicht zu erleiden, sondern in der Fülle der nicht vergänglichen Welt zu leben, habe er beschlossen, mit Mo ses und den Kindern Gottes eine kurze Zeit des Leidens auf sich zu nehmen. Dieser eigenständige Entschluß war der erste Schritt zu einem starken Be kenner, der in der Folge nicht nur seinem Sohn diese Erklärung und Verhal tensregeln mit auf den Weg geben sollte, sondern auch an seine Mitgefangenen drei Briefe schrieb, um sie auf ihren Wegen zu bestärken.35 In die Hand des H erren sollten sie sich begeben, standhaft sein, denn durch viel Druck müsse gegangen werden, bis es zur Erlösung käme.36 Frei sei er selbst, seit er seine Nähe zu Gott entdeckt hätte - so frei, daß er es nicht glauben könne, in einem Gefängnis zu liegenY Mit dieser Leidensfahigkeit setzte sich Simonsz deutlich von den bereits genannten Frauen ab, welche die Schwachheit ihrer Körper beklagten und sich oft auch den Verhören durch Ohnmachtsanfälle entzo gen.38 Zwar forderten auch sie die Standhaftigkeit ihrer Ehemänner und Kin der ein, aber grundsätzlich wurden sie darin von den Männern übertroffen. Weiterhin war es wichtig, daß sich die Bekenner mit hochrangigen Ge sprächspartnern auseinandersetzten und dabei Themen besetzten, welche nicht mit den Frauen diskutiert wurden. Hierzu gehörten in erster Linie die Fragen, welche dezidiert die täuferische Theologie betrafen. Wesentlich war dabei einer der strittigsten Punkte mit anderen Täufergruppen, aber auch mit den Konfessionskirchen im
1 6. Jahrhundert:
die Menschwerdung Christi.39 Menno
Simons ging davon aus, daß Christus bei seiner Geburt nicht das Fleisch seiner Mutter Maria angenommen hatte - und die bekennenden Täufer folgten ihm in dieser Auffassung. Hans van der Maes forderte seine Verhörenden dabei auf, zahlreiche Bibelstellen nachzulesen, mit denen er auf das Wirken des Hei ligen Geistes und die direkte H erkunft Jesu von Gott verwies.4o Schließlich beharrte er darauf, daß Maria vom Heiligen Geist selbst empfangen habe -
34 Cramer, 1 904, 258. Ü bers. N.G. 35 Vgl. ebd., 262-266. 36 Vgl. ebd., 265. 37 Vgl. ebd., 263. 38 Vgl. ebd., 330. 39 Zu den Auseinandersetzung innerhalb der täuferischen Gemeinden vgl. Gregory, 1 999, 24 1 f. 40 Vgl. Cmmer, 1 904, 36l f.
78
N ICOLE GROCHOWINA
andere
Hinweise
seien i n der Schrift nicht z u finden.41
Diese
strenge
Schriftgläubigkeit war es auch, welche über die Fragen nach dem Schwert gebrauch, dem Schwören von Eiden, dem I<.irchbegriff der Täufer oder dem Gebrauch der I<.indertaufe entschied.42 Idealerweise beherrschten die Bekenner dieses Repertoire, führten zahlreiche Bibelstellen a n und entfernten sich nicht von den Einschätzungen Simons.43 Damit grenzten sie sich deutlich von den Täuferinnen ab: Pointiert erscheint dies im Verhör mit Elisabeth von Leeu warden, die aus Selbstschutz oder basierend auf Unwissenheit bestreitet, Kenntnisse von theologischen Auseinandersetzungen zu besitzen: Sie sei keine Lehrerin der Täufer. Ungeachtet dessen formulierte sie jedoch klare, wenn auch ausgesprochen kurze Bekenntnisse zur Messe, den Sakramenten und dem Hause Gottes. Dabei ließ sie auch ohne die explizite Nennung der entschei denden Bibelstellen ihre ausgeprägte Christozentrik erkennen, welche sie den Ordnungen der katholischen Kirche entgegenstellte.44 Und dennoch reichte sie weder in Eloquenz noch in Ausführlichkeit a n entsprechende Zeugnisse der Bekenner heran. Weiterhin war es ein wesentliches Merkmal der Bekenner, daß sie allein Ermahnungen an die Gemeinden oder gar die Obrigkeit aussprechen durften. Hier erfolgte nicht die Beschreibung der eigenen Leidensgeschichte, sondern die Stilisierung der Gemeinden zu der Gemeinschaft der Heiligen. »Heilige und Hausgenossen Gottes« seien die Glieder seiner Gemeinde, erklärte Adrian Cornelisz. Diese Gemeinde gründete sich auf die Apostel und Propheten und daraus sollte sie auch die Kraft erhalten, die gegenwärtigen Leiden und Vertreibungen zu ertragen.45 Schließlich könne keiner dem Kreuz entrinnen, das vor der Erlösung zu tragen sei. Aber um sich dieser als würdig zu erweisen, dürfe keiner zu den »Gottlosen« überlaufen, alle müßten Zucht halten, sich von negativen Einflüssen absondern und gute Dienste run.46 Sich so an die Gemeinde zu wenden und ihr expressis verbis Arbeitsaufträge zu geben, um sie der Erlösung zu vergewissern, war überdies nur wenigen Bekennern vorbe halten, so daß auch hier eine deutliche Hierarchisierung zu erkennen ist. Neben umfassenden Kenntnissen von theologischen Positionen und Fra gen sowie der beständigen Ermutigung von i\fitgefangenen und Gemeinden
41 Vgl. ehd., 362. 42 Vgl. Grochowina: Offer, 2003, 1 30f. 43 Vgl. hierzu auch das Bekenntnis von Claes cle Praet, der deutlich erklärt, daß Christus nicht in den Himmel fahren könnte, wenn er das Fleisch Marjens angenommen hätte. Vgl. Cramer, 1 904, 250. 44 Vgl. ehd., 9 1 -94. 45 Vgl. ehd., 1 97. 46 Vgl. ehd., 202f.
"DIE OPFER DES HERREN«
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zeichnete sich der Bekenner auch dadurch aus, in der eigenen Familie als kom petenter Tröster zu wirken. Thematisierten die Märtyrer also Emotionen in ihren Briefen an die Familie, waren diese grundsätzlich nicht ihre eigenen. So schrieb Gielis Matthijs an seine Frau, daß er wohl zur Kenntnis nähme, daß sie ob seiner Lage in Sorge sei. Gleichwohl solle sie lieber all seiner Worte geden ken, die er vor seiner Gefangennahme mit ihr gesprochen habe, ihnen folgen und sie als ein ewiges Fundament ihres Glaubens betrachten. Die Sonne der Gerechtigkeit würde mit ihm und all den H eiligen dann bald aufgehen - und ihr Trost müsse jetzt darin bestehen, daß sie und ihr gemeinsames Kind an dieser Seligkeit teilhaben könnten.47 All diese genannten Fähigkeiten zeichneten den Bekenner, aber eben nicht die Bekennerin aus. Nicht zuletzt aus dieser Differenzierung ergab sich die besondere Geschlechterhierarchie, welche im Martyrologium ungeachtet des Anteils der Frauen daran postuliert wurde. Quasi als Komplizen48 nach der Terminologie Connells erscheinen deshalb die Männer, deren Beschreibungen und Briefe Unterschiede zu dieser Norm aufwiesen. So bekannte J eronimus Seghers sich zu Gefühlen, indem er zugab, daß er unter Tränen die Briefe seiner Frau Lijsken gelesen hätte. Für diese bedankte er sich herzlich, erhielt er dadurch doch auch nach eigenem Bekun den viel Trost von seiner Ehefrau.49 Auch in den folgenden Briefen bezieht er sich explizit mit ein, wenn er von der Notwendigkeit des Trostes und der Aus sicht spricht, daß Gott am Ende alle Tränen von ihrer beiden Augen abwi schen würde.50 Mit diesen ausführlichen Verweisen auf seine und ihre Tränen steht Seghers in eine lange Traditionslinie, die Tränen eng mit religiöser Emp findsamkeit verband. Und mehr noch: Seit dem Mittelalter galten die Tränen der Gläubigen als aufrichtiges Zeichen des Glaubens, mithin als »Tummelplatz der Engel«. 5 1 Es war jedoch nicht Seghers Interesse, so die Tränen der Frauen aufzuwerten oder gar die Geschlechterhierarchie zu nivellieren. Und so kehrt er ungeachtet dieser zahlreichen Tränen und Trostworte am Ende zu der Ein sicht zurück, daß das Weinen allein in den bestehenden Zeiten keine Hilfe sein könne. Ausschlaggebender seien die Aufmunterungen, fest im Glauben zu stehen und sich dabei auf die Vorgänger zu berufen. Schließlich liege auch der
47 Vgl. ebd., 465f. 48 Vgl. Connell, 2000, 100. 49 Vgl. Cramer, 1 904, 1 29. 50 Vgl. ebd., 1 32. 51 Vgl. Lutz, 1 999, 48. Der trüncn10se Mann als Norm für Männlichkeit ist erst im 20. Jahrhun dert zu finden.
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einzig hilfreiche Trost darin, i n der Wahrheit z u leben und diese durch das eigene Blut zu besiegeln.52 Seghers präsentiert sich damit nicht als der unangefochtene Bekenner. Aber er profitiert von diesen Vorgaben, sicherten diese ihm doch die Rolle des Schützers und Ermahners seiner Ehefrau. Da diese sein ausschließliches Ge genüber in der Korrespondenz war, bestand auch keine Notwendigkeit zu weitreichenden theologischen Diskursen oder expliziten Arbeitsaufträgen an Freuncle und Gemeinden. Er stand somit zwar mit der hegemonialen Männ lichkeit in Verbindung, verkörperte diese aber nicht in demselben Maße wie die genannten Bekenner.53 Auf einer weiteren Ebene fanden sich aber auch Komplizen außerhalb des Textes - nämlich i m Kreis der Rezipienten. Gemeint sind die Täufer, die nicht oder noch nicht das Martyrium erlitten hatten, die aber gleichzeitig in ihren Zirkeln lebten. Sie p rofitierten in der Tat von der »patriarchalen Dividende«, die sich einerseits aus dem zeitgenössischen Bild des Geschlechterverhältnisses und den Vorgaben der täuferischen Exempel speiste, während sie andererseits gleichzeitig in den Gemeinden durch die Frauen herausgefordert wurde, die als Prophetinnen, N achrichtenkuriere und Unterstützerinnen agierten.54 Sie waren es, die im Alltag die Kompromisse schließen mußten, sie waren nach Connell die »Schlachtenbummler der hegemonialen Männlichkeit«.55 Um dies jedoch genauer benennen zu können, sind noch zahlreiche Studien sowohl zur Rezeption der Martyrologien als auch zur Umsetzung ihrer Programme im Alltag notwendig. l\fit der Hegemonie und der Komplizenschaft sind nach Connell zwei As pekte beschrieben, die als interne Relation der Geschlechterordnung verstan den werden müssen. Einen dritten Bereich macht die Marginalisierung aus, die immer relativ zur Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit der dominanten Gruppe entsteht. Hierzu zeigen sich in »Het Offer des Herren« ebenfalls deut liche Aspekte: Die Ermächtigung ergeht aus der Abgrenzung zwischen der Gemeinschaft der H eiligen und den »Gottlosen«, den Ungläubigen, kurzum: all jenen, die nicht den täuferischen Zirkeln angehörten. Die Gemeinschaft be stand dem gegenüber aus den »Bürgern des Herren und Hausgenossen Got tes«56, aus den fruchtbaren Ranken des Weinstocks Christi.57 Gleichwohl kommt »Het O ffer des H erren« mit relativ wenigen direkten Nennungen von
Vgl. ebd., 1 5 1 . Vgl. Connell, 2000, 1 0(). 54 Zum Wirken der Frauen in den Gemeinden vgl. Grochowina, 1 999, passim. 55 Connell, 2000, lUO. 56 Vgl. Cmmer, 1 904, 1 97. 57 Vgl. ebd., 202. 52
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Heiligen aus.58 Bereits im zweiten Bekenntnis wird schlicht und deutlich ge setzt: »Was die H eiligen angeht, sagen wir, daß wir die Heiligen sind, die da leben und glauben.«59 Damit erscheinen der Glaube und Lebenswandel nicht nur als die Kennzeichen von Heiligkeit, sondern auch als die U nterschei dungsmerkmale von den Ungläubigen. Die Heiligkeit ergab sich konkret aus dem Leben der Gemeinde, die »nicht einen Flecken, eine Runzel hat, sondern sie soll heilig, unsträflich und tadellos vor Christus in der Liebe wandeln«.6o »Gottlose« vermochten dies nicht zu tun und waren eigentlich aus der Perspektive der Täufer als unwürdig auszublen den. Bemerkenswerterweise wurden diese Argumentationsmuster in den spä ten 1 560er Jahren auch auf die täuferischen Gruppen angewandt, welche auf grund ihrer unterschiedlichen Auffassungen der Zucht und des Bannes abgesondert wurden.61 Diese Form der Marginalisierung kam mithin der Unterdrückung gleich. Beide Merkmale aus Connells Modell lassen sich hier nicht trennscharf auseinander differenzieren, da »Gottlose« beispielsweise zur Legitimation der Bekenner ebenso gebraucht wurden, wie sie von den Täufern als ungerecht und nicht erläsungsGhig abgelehnt wurden. Die genannten Ausprägungen von Männlichkeiten sind allerdings insge samt als transitorisch zu verstehen. Angesichts der Tatsache, daß es sich bei »Het Offer des Herren« um die erste täuferische Märtyrerschrift handelt und die Frage der Rezeption noch nicht hinreichend geklärt werden konnte, er scheinen die erkannten Formen von Männlichkeit als revisionsoffen. Und in der Tat erfolgte eine Verfestigung in dem Maße, in dem die Gemeinden sich etablierten, weitere täuferische Martyrologien auf den Markt kamen und schließlich in dem »Märtyrerspiegel« von Thieleman Jansz van Braght 1 66062 mündeten. Hier war dann kein Raum mehr für umfassende Briefwechsel, in denen noch verschiedene Anschauungen verhandelt wurden. Vielmehr erfolgte eine noch deutlichere Ausrichtung auf den Akt des Sterbens und auf das vor herige Bekenntnis.
58 59 60 61 62
Vgl. Grochowina, 1 999, passim. emmer, 1 9(H, 64. Ü bers. N .G. Ebd., 1 38. O bers. N.G. Vgl. Osterbaon, 1980. Von Braght, 1 660.
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Schlußbemerkung
Insgesamt werden in »Het Offer des Herren« ganz im Sinne Connells also noch keine festen Typen von Männern stilisiert, sondern Handlungsmuster enrworfen,63 die es im Leben der täuferischen Gemeinden umzusetzen galt. Das Martyrium entsprach damit einer Fordenmg, ihm sollte nicht aus dem Weg gegangen werden. Erst allmählich verschob sich diese Prioritätensetzung angesichts der schrittweisen Konsolidierung der täuferischen Zirkel. Dadurch rückten die Verhaltensregeln für den U mgang in den Gemeinden, für das disziplinierte Leben nach der Heiligen Schrift deutlicher in den Vordergrund. Dies prägte nicht zuletzt auch das Geschlechterverhältnis. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es ausgewählte Kreise waren, in denen sich in der Frühen Neuzeit verschiedene Ansätze zu Handlungstypen von Männlichkeit zeigten. Dies geschah insbesondere in gesellschaftlichen Um bruchsituationen, wenn plötzlich beispielsweise soziale und religiöse Ord nungsvorstellungen differierten. Hier schloß sich nicht selten eine »gender orientierte Argumentationsweise« an.64 Insbesondere nach der Reformation bestand mit der Herausbildung zahlreicher sozial-religiös motivierter Zirkel die Norwendigkeit, die bestehenden patriachalen Strukturen zu legitimieren oder gegebenenfalls neue zu schaffen. Dies war vor allem in der Phase der Konsoli dierung notwendig. Bereits diese Hinweise machen deutlich, daß das Diktum Connells, ausdif ferenzierte Männlichkeit und Weiblichkeit erst im ausgehenden 1 8. Jahrhun dert finden zu können, nicht zwingend den Tatsachen entspricht. Auch sind diese Ausprägungen nicht unmittelbar von polarisierenden Geschlechtscha rakteren abhängig, sofern ihnen Ü bergangs- und Enrwicklungsphasen zuge sprochen werden, welche sich beispielsweise am transitorischen Charakter der Märtyrerschrift »Het Offer des H erren« benennen lassen. Connell unterschätzt insgesamt die Brüche in der Frühen Neuzeit, die sich eben nicht durch die von ihm poshllierte Statik auszeichnete, sondern ebenfalls Handlungstypen hervor zubringen und einzuüben suchte. Werden eng umrissene Kollektive wie die Märtyrer der täuferischen Bewegung mit ihren Anleitungen für die Gestaltung täuferischen Lebens oder eben deren Lebensmodelle genannt, lassen sich auch hier entsprechende Fragen nach der Ausdifferenzierung von Männlichkeiten stellen. Diese Konstruktion des sozialen Geschlechts ist demnach kein Privileg der Neuzeit. Allein das Vokabular der frühneuzeitlichen Zeitgenossen ist ein anderes und sicher sind diese auch noch deutlicher in ihrer jeweiligen Gemein-
63 Vgl. Connell, 2000, 1 02. 64 Studr, 2003, 35.
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schaft, aber auch vor dem Hintergrund eines anthropozentrischen, christlichen Weltbildes zu verorten.
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Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? Überlegungen zum Wandel akademischer Habitusformen vom Ancien Regime zur Moderne Marian Füsse!
Wie sehr die alteuropäische Studentenkultur offenbar bereits zu einem allge meinen Symbol für einen bestimmten Typus von Männlichkeit geworden ist, zeigt schon ein simpler Vergleich der unterschiedlichen Titelblattillustrationen zu Gilmores Mytbos Mann. I Präsentiert die amerikanische Ausgabe eine multiethnische Versammlung von Männern, so ziert die deutsche Ausgabe unter anderem ein Korpsstudent in vollem Ornat inklusive Bierseidel. Insbe sondere für die studentische Kultur des 1 9. und frühen 20. Jahrhunderts scheint es in der Forschung als ausgemacht zu gelten, daß es sich hier um eine »männerbündisch« verfaßte, soziale Konfiguration handelt, für die jüngst sogar Mdmilicbkeit aLr Studiell'{jel festgestellt werden konnte.2 Für die vormoderne Studentengeschichte hingegen wurden entsprechende Ü berlegungen bislang kaum vorgenommen.3 Fragt man nach Modellen und Praktiken der Männlich keitskonstruktion in der vormodernen akademischen Kultur im Vergleich zur Moderne, so tritt zunächst der Unterschied einer rein männlichen akademi schen Lebenswelt zu einer seit dem ausgehenden 1 9 . Jahrhundert langsam auch durch die Partizipation von Frauen geprägten modernen Hochschulwirk lichkeit zu Tage. Kann hier von einer Ausgrenzungs- und Abgrenzungsbemü hung gegenüber dem anderen Geschlecht oder gar einer »Krise der .Männlich keit« ausgegangen werden, so muß der Befund für die Gesellschaft des Ancien Regime möglichetweise differenzierter ausfallen. Ausgangspunkt meiner Ü berlegungen sind demnach zunächst Zweifel an der gerade von den Korpo rationen selbst unterstellten Kontinuitätsannahme studentischer Denk-, \'{!ahr nehmungs- und Handlungsformen.4 Im Rahmen der Männlichkeitsforschung sicherlich eine Selbstverständlich keit, aber in weiten Teilen der U niversitätshistoriographie keineswegs, ist die 1 Gilmore, 1 993. 2 Vgl. Levsen, 2003; Möller, 2001, 1 1 9- 1 24; Blattmann, 1996. 3 Eine Ausnahme bildet Clark, 2005. Ich danke \1(/illiam Clark (San Diego) an dieser Stelle für das Ü berlassen seines Manuskripts. 4 Vgl. exemplarisch Girtler, 1 998.
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Annahme, daß wir es auch innerhalb der akademischen Kultur nicht mit >dem Mann< oder >der Männlichkeit< zu tun haben, sondern mit unterschiedlichen, noch dazu dem historischen Wandel unterliegenden >Männlichkeiten<.5 Hier bietet die Kategorie der »hegemonialen Männlichkeit« mei�es Erachtens eine bedenkenswerte Hilfestellung, um den verschiedenen Habitusformen inner halb männlicher akademischer Gruppenkulturen nachzugehen. Der Habittts bildet ein System von Denk- Wahrnehmungs- und Hancllungsschemata, das aus der Verinnerlichung standes-, oder schichtspezifischer Existenzbedingun gen resultiert, j edoch selbst wiederum handlungsleitend wirkt und damit zur Reproduktion bestimmter Strukturen beiträgt.6 Entgegen der dem Habitusbe griff unterstellten Statik fragt Connell jedoch vor allem nach den Wandlungs prozessen, um der jeweiligen Historizität von Männlichkeitskonstruktionen gerecht zu werden. U nter hegemonialer Männlichkeit soll im Folgenden eine in zwei Richtungen weisende Machtrelation ge faßt werden, zum einen die Hege monie von Männern gegenüber Frauen und zum anderen die Hegemonie von J'vIännern über Männer.7 »Männlichkeit« definiert sich also stets relational nicht allein in Abgrenzung zur Weiblichkeit, sondern auch zu den Vertretern des eigenen Geschlechts. Im Hinblick auf die Hegemonieverhältnisse unter Män nern soll daher von »konkurrierenden Männlichkeiten« gesprochen werden. Die vormoderne akademische, speziell studentische Lebenswelt stellt eine Kultur zahlreicher sozialer U nterscheidungen, Abgrenzungen und Formen der Ü ber- und Unterordnung dar.8 Ausgehend von der Forschung zu Fragen von Distinktion, Ritual, Gewalt und Habitus in der frühneuzeitlichen Gelehrten und Studentenkultur geht es mir somit ebenso sehr um die Frage, was die Kategorie Männlichkeit zur Erforschung der Geschichte der vormodernen Universitätskultur beitragen kann, wie um die Frage, welchen Gewinn die Beschäftigung mit der Studentenkultur zur Erforschung der Konstruktion von Männlichkeit bringen kann. Meine These ist, daß mindestens bis zum Ende des alten Reiches die ständische Qualität des Akademikers gegenüber anderen Formen der Unterscheidung überwog. Der zentrale Differenzgenerator war demnach nicht die Tatsache, daß Akademiker in der Regel Männer waren und sein mußten, sondern daß sie sich durch ihren privilegierten Rechtsstatus von allen nichtakademischen Gruppen der Stiindegesellschaft distinguierten. Ein 5 Vgl. Connell, 1 999, 64 u. 97. Allgemein zum Stand der neuen Männergeschichte vgl. zuletzt Dinges, 2004; Schmale, 2003. 6 Vgl. zur Habitustheorie zuletzt die Einführung von Krais/Gebauer, 2002. 7 Vgl. Bourdicu, 1 9n, 2 1 5. 8 Vgl. demnächst ausfeihrlich Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Repräsentation lmd Konflikt an der Universität der freihen N euzeit (voraussichtlich Darm stadt 2005).
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Vo rrecht, das im Falle der Studenten, die keine akademische Karriere machten, jedoch zeitlich befristet war. Diese Privilegierung auf Zeit, traditionell unter dem Begriff der »akademischen Freiheit« gefaßt, ist der Schlüssel zu den meis ten Formen der Devianz, des ausufernden Ehrgebarens und der zahllosen Konflikte mit der gesellschaftlichen Umwelt.9 Das heißt jedoch nicht, daß die Formen der Männlichkeit hierbei keine Rolle gespielt hätten. Ganz im Gegen teil, ihre Einbeziehung eröffnet vielmehr einen wichtigen Einblick sowohl in die Binnendifferenzierungen der Studierenden als auch in die längerfristige Entwicklung des studentischen Habitus. Fragt man nach den Leitbildern für Männerrollen in Diskursen, so treten als Quellen vor allem Universitätsstatu ten und normative Verhaltensanleitungen wie akademische Benimmbücher in den Blick.IO Daneben findet sich eine Vielzahl von akademischen Romanen und Theaterstücken, deren Protagonisten bestimmte Rollenmuster verkör pern. 1 1 Auf der Ebene der Praktiken von Männlichkeit liegen inzwischen eine Reihe von Forschungen zu den Problemen von Gewalt und Ehrkonflikten von Studenten vor.12 Zentral für die Inkorporierung männlicher Leitbilder sind studentische Rituale wie die Deposition, der Pennalismus oder die »Fuchsen taufe«. 13 Hinzu gesellen sich Phänomene der Mißachtung der guten Policey wie übermäßiger Alkoholkonsum oder der Verstoß gegen akademische oder städti sche Kleidervorschriften, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Des Weiteren lassen sich gewisse l'vIischformen wie studentische Lieder oder die Aufschreibesysteme von Stammbüchern ausmachen, die normative Modelle transportierten, aber gleichwohl immer praktisch aktualisiert werden mußten. 1 4 Die normativen Entwürfe der akademischen Obrigkeiten und die der Studen ten standen jedoch selten im Einklang, wie aus den nie endenden Policierungs versuchen der Universitäten und Städte hervorgeht.15 Aber auch innerhalb der Studentenschaft oder unter den älteren graduierten Akademikern selbst exis tierte kein einheitliches Männlichkeitsmodell. Ich möchte im Folgenden in zwei Schritten vorgehen. Zunächst soll nach unterschiedlichen männlichen Leitbildern innerhalb der studentischen Kultur gefragt werden. Welche Typen gibt es, welche dominieren? Daran anschließend wird in den Blick genommen, wie sich das studentische Männerbild in Relation zur Weiblichkeit veränderte.
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Vgl. Flissel, 2004. Vgl. Beetz, 1 987. Nil1ltz, 1 937. Krug-Richter, 2004; Objartel, 1 984; Frevcrt, 1991, 1 33-177; ßrliderl1lann 199 1 . Vgl. Flissel, 2005. Keil/Keil, 1 893; Steinhilber, 1 995. Vgl. Brliderl1lann, 1 990, 1 06-122.
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ChamkteriJiertmg Leip'?jger, Ha//mser, Jenenser und U7ittetlbetger Studenten GOIlache, StatJJlJlbtichb/att tlltI 1 760'6
Studentische Männlichkeiten Innerhalb der Studentenkultur des 1 8. J ahrhunderts trifft man auf die Darstel lung von vier idealtypischen Vertretern, deren spezifischer Habitus jeweils mit einer bestimmten Universität verknüpft war. In ihnen treffen wir gewisserma ßen auf eine Verräumlichung (im Sinne einer Regionalisierung) bestimmter sozialer Eigenschaften, die nun an eine bestimmte Universitätsstadt geknüpft werden. Eine Darstellungsweise, die unter anderem an das im 1 8. J ahrhundert verbreitete Ordnen bestimmter H abitusstereotype nach regionalen oder natio nalen Kriterien in sogenannten »Völkertafeln« erinnert.1 7 Besonders verbreitet ist ein Quartett studentischer Typen, das die mitteldeutsche Universitätsland schaft wie folgt charakterisiert: »In Leipzig ist man tag und nacht auf Courto [i] sie und Staat bedacht«; »In Halle gibt es viel Mucker und sind darbey Kaldaunen-Schlucker«; »In Jena kommt eine Renomist der Galle zeigt und 1 6 Abb. 24 aus der Sammlung G. Rössner, Bamberg, in Paulgerhard Gladen: Gaudeamus igitur. Die studentischen Verbindungen einst und jetzt, 2. Aufl., München 1 988. 1 7 Stanzei, 1 999.
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Eisen frisst«; »In Wittenberg gibt's nasse Brüder sie speyn und sauffen wie der«.lB Noch in Goethes Dichtung und r!7ahrheit reflektieren sich entsprechende Zuschreibungen, wenn er berichtet: »ln Jena und Halle war die Roheit aufs Höchste gestiegen; körperliche Stärke und fechtergewandheit, die wildeste Selbsthülfe war dort an der Tagesordnung [ ... ] Dagegen konnte in Leipzig ein Student kaum anders als galant sein, sobald er mit reichen, wohl und genau gesitteten Einwohnern in einigem Bezug stehen wollte«.19 Johann Christoph Gottsched geht noch weiter und verknüpft die Charakterisierung mit der je weiligen Art und Beschaffenheit des Degens: »Eine lange Stoßklinge, und ein gelbes Gefaß mit einem großen runden Stichblatte ist ein untrügliches Merk mal eines Hallensers. Ein schwarzes eisernes Gefäß ist das Kennzeichen eines Jenensers. Eine breite Klinge ist wittenbergisch. Und ein kleiner Galanteriede gen ist das Kennzeichen eines Leipzigers«.2o Ganz ähnlich finden wir auch die hessische Universitätslandschaft charakterisiert »ln Marburg leb< ich nach dem Stand, in Gießen Purschikos und fröhlich, in Herborn wie ein Kandidat, in Rinteln mehr als einmal seelig«.21 Mich interessieren an dieser Stelle jedoch zunächst weniger die regionalen Bezüge, etwa auf Leipzig als Klein Paris oder den Hallenser Pietismus, als die immer wiederkehrende Binnenunterscheidung der Habitustypen, denn alle vier Typen konnte man selbstverständlich genau so gut in einer Stadt antreffen oder sogar in einer Person.22 Der »Mucker« oder »Stubensitzer« bezeichnet einen Typ von Studenten, »der nicht viel ins Publi kum kommt und dafür mehr dem Studieren obliegt«.23 Gerade diese, dem eigentlichen Zweck des Studiums am nächsten kommende figur genoß jedoch geringeres Ansehen als der rauflustige »Renommist«, wie er vor allem durch Friedrich Wilhelm Zachariäs gleichnamiges Versepos von 1 744 popularisiert wurde.24 Die vier Typen lassen sich gleichzeitig zu unterschiedlichen ständi schen Gegensatzpaaren kombinieren und zwar zu je zwei adeligen und zwei bürgerlichen Vertretern: den galanten Höfling und den gewaltbereiten Re nommisten einerseits sowie den fleißigen »Candidaten« und den Trinker ande rerseits. Eine weitere Variante wäre die Gegenüberstellung von Stubenhocker und Petit l\Iaitre als zur Ebene von Obrigkeit und etablierter Kultur (als Ge genseite der Studentenkultur) gehörig und Trinker und Renommist als Ver18 Vgl. die Charakteristik der Leipziger, HaUenser, Jenenser und Wittenberger von 1 765 bei Fick, 1 900, 70; Gladen, 200 1 , 88; Keil/Keil, 1 893, 272 u. 282; BruchmüUer, 1 908; Scheuer, 1 920, 36f.; Schulze/Ssymank, 1 932, 144ff. 19 Goethe, 1 998, 228. 20 Johann Christoph Gottsched, zitiert luch Scheuer, 1 932, 8 1 . 21 Vgl. Heiler, 1 935, 40 u . Abbildung 53. 22 Vgl. dazu Clark, 2005. 23 Burdach, 1 894 (1 990), 80. 24 Burdach, 1 894 (1 990), 93; Zachariä, 1 744 (1 989).
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körperung studentisch-burschikosen Lebensstils.25 Die ständische Unterteilung weist demnach eine weitere Binnendifferenzierung sozialer Leitbilder und Zuschreibungen auf. Welcher männliche Habitus tatsächlich hegemonial war, kann stets nur in Relation zu dem ihn umgebenden sozialen Feld bestimmt werden. Das gilt einerseits innerhalb des lokalen studentischen Milieus, ande rerseits im Hinblick auf den gesellschaftlichen Bezugsrahmen außerhalb oder nach Beendigung des Studiums, innerhalb dessen individuelle Leistung und distinguierter Lebensstil zweifellos andere Gelhlngspotentiale besaßen. Der kurze Blick auf die Idealtypen der studentischen Ikonographie legt meines Erachtens bereits nah, daß es angemessen ist, hier im Sinne Connells von »Männlichkeiten« im Plural zu sprechen. Eine Quellengattung, in der sich die praktische Umsetzung der vorgestell ten Typisierungen wiederfinden läßt, sind studentische Selbstzeugnisse. Eines der prominentesten Werke dieser Art für das 1 8. J ahrhundert dürften zwei felsohne die Lebm /md Schicksale (1 792) des Friedrich Christian Laukhard sein.26 Auch wenn hier weniger Laukhards persönliche Männlichkeitskonstruktion im Vordergrund steht als vielmehr seine Aussagen über die Studentenkulhlr, so ist doch bemerkenswert, wie er seinen späteren schlechten Lebenswandel bereits in frühester Jugend angelegt sieht. Ist er voll des Lobes für seine Eltern, war es für ihn schließlich seine dem Alkohol zugetane Tante, die ihn als »Knaben von sechs Jahren zum Weintrinken anführte« und dadurch »den Grund zu vielen meiner folgenden Unfälle gelegt hat«,27 Laukhard berichtet in seiner Lebensbe schreibung ausführlich von seiner im Jahr 1 774/ 1 775 beginnenden Studienzeit in Gießen, wo unter dem Einfluß der aus Jena relegierten Studenten der Typus des Renommisten als »rechtem Burschen« offenbar die Oberhand gewann. Zur Illustration zitiert er die folgenden Verse: »\'(Ier ist ein rechter Bursch? - Der, so am Tage schmauset, Des Nachts herumschwärmt, wetzt - Der die Philister schwänzt, die Professores prellt, Und nur zu Burschen sich von seinem Schlag gesellt, Der stets im Carzer sitzt, einher tritt wie ein Schwein, Der überall besaut, nur von Blamagen rein, Und den man mit der Zeit, wenn er gnug renommiret, Zu seiner höchsten Ehr< aus Gießen relegiret. Das ist ein firmer Busch: und wers nicht also macht, Nicht in den Tag 'nein lebt, nur seinen Zweck betracht, Ins Saufhaus niemals kommt, nur ins Collegium, \'(Ias ist das für ein KerP - Das ist ein Drastikum«. 2R
Die vier Typen sind hier offenbar zu einer binären Opposition zwischen Re nommist und Drastikum reduziert worden. Laukhard fragt seinen Leser, was 25 Zur Verwendung des Lebenstilbegriffs vgl. Dinges: "Historische Anthropologie«, 1 997. 26 Laukhard, 1792 (1 987). Zu Laukhard vgl. \Xleiß 1992. Einen Überblick über die umfangreiche Forschllngsliteratllr gibt die Kommentierte Bibliographie ebcl., Bd. l I , 129-1 54. 27 Laukhard, 1792 1, 1 2. 28 Laukharcl, 1 792 I, 96f.
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er von diesem Ideal meine, und versichert auf seine Ehre, »dass alle unsre sogenannten honorigen Bursche demselben so ähnlich waren wie ein Ey dem andern«.29 Nur das Ausnehmen der Bürger und Professoren habe sich in der Realität häufig als schwierig erweisen, da die meisten Giessener Studenten aus der Region stammten und so leicht zu belangen waren. Gegen den Typus des als effeminiert geltenden Petitmain'e grenzt er die Giessener mit folgender Geschichte ab. Ein Student namens Nöllner aus dem Elsass habe keine Lust gehabt »das Burschikose mitzumachen« und sei selten zu den Gelagen ge kommen und habe sich ein gutes Kleid machen lassen. Dies sei »Losung ge nug« gewesen ihn ständig zu verfolgen : »in allen Kollegien wurde ihm Musik gemacht und auf der Straße nachgeschrieen. Das wurde so lange getrieben, bis er endlich abzog, und nach Göttingen gieng: hier konnte er nun freilich ohne Gefahr, ausgepfiffen zu werden, in seinem rothen Kleide mit dem seidnen Futter spanisch einhertreten«.J° Bereits dies kurze Beispiel macht deutlich, daß es durchaus regionale Schwerpunkte bestimmter studentischer Männlichkeiten geben konnte, die im Sinne Pierre Bourdieus als Wechselverhältnis von H abi tus und Feld beschrieben werden können. Dominiert in Göttingen das adelige Element im studentischen Feld, das höfische Habitusformen begünstigt, so herrscht in Giessen das »burschikose« Element vor und entscheidet damit über Zugehörigkeit zur hegemonialen Gruppenkultur oder Marginalisierung.31 Ent sprechend fährt Laukhards Charakteristik fort: »Nur wenig Studenten in Gie ßen machen Knöpfe, das wird überhaupt für petitmätrisch und unburschikos gehalten«.32 »Knöpfe machen« bezeichnete das Aufwarten bei einem >Frauen zimmer<. Als wesentlich »burschikoser« betrachtete man hingegen die häufigen Schlägereien, von denen Laukhard zu berichten weiß. Auch er fühlt sich als bald zum Komment der Burschen hingezogen: »Ich sah die Burschen, ich be wunderte sie und machte so recht affenartig alles nach, was mir an ihnen als heroisch auffiel.«33 Bei seinem ersten Kommers mußte er zur Strafe zehn Maß Bier leeren, weil er die Kommerslieder nicht auswendig konnte. Mit einer gewissen Distanz berichtet er, wie begeistert er war, damit nun auf einmal dreißig neue Duzbrüder gefunden zu haben. Eine erste Gelegenheit seinen neuen Status als »honoriger Bursche« zu behaupten, ergab sich, als ein berüch tigter »Erzrenommist« namens Avemann ihn auf dem Schießhaus als »Fuchs« bezeichnete.34 Diese Bezeichnung für die jungen Studenten, die sich noch in
29 30 31 32 33 34
Laukhard, 1 792 1, 97. Laukhard 1792 1, 98. Vgl. zu den verschiedenen Beziehungen zwischen Männüchkciten auch Concll, Laukhard, 1 792 1, 98. Laukhard, 1 792 I, 1 04 Laukhard, 1 792 1, 105; zu dieser Episode auch schon Frevert, 1 9 9 1 , 1 36f.
1999, 97-102.
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der Phase d e r Initiation i n die Gemeinschaft der echten Studenten befanden, stellte für Laukhard eine schwerwiegende Beleidigung dar, die Avemann sogar noch durch die ebenfalls ehrenrührige Bezeichnung »dummer Junge« ver stärkte.35 Auf den Versuch hin, Laukhard zu »mauschellieren«, hielten dessen Freunde den Angreifer zurück und machten diesem klar, daß er »Desavantage« sei und Satisfaktion fordern müsse.36 Avemann erboste, da es sich aus seiner Perspektive um einen ungleichgewichtigen Ehrkonflikt handelte, in dem ein »Erzrenommist« von einem »Fuchs« Genugtuung fordern sollte. Aber die Logik der Ehre ließ keinen Ausweg, und so kam es zwei Tage später zum Zweikampf. »\\;rir schlugen uns nun wirklich. Avemann verletzte mir ein klein wenig den Arm; ich ihm aber derber sein Collet - und der Skandal hatte ein Ende. N achdem wir Frieden gemacht hatten, sahen alle Anwesenden mich mit Augen an, die vor Freude und Beifall funkelten: da war Bruder Laukhard hinten und Bruder Laukhard vorn! jeder würdigte mich seiner beson dem Freundschaft! - und ich 1'hor war über den Ausgang (Ueses Handels so begeistert, als kein General es seyn kann, wenn er eine Menschen-Schlacht gewonnen hat!«37
Für Laukl1ards Identität als Student war dies von zweifacher Bedeutung. So hatte er sich sowohl vom Status des Fuchsen emanzipiert, wie gleichzeitig durch den Zweikampf seinen Mann gestanden und damit die soziale Anerken nung seiner Kommilitonen gewonnen. Gelten entsprechende Ehrstreitigkeiten landläufig als typisch männliche Praktiken, so gilt es hier, von einem all zu simplen Zusammenhang Abstand zu nehmen.38 Martin Dinges hat in einem ähnlichen Zusammenhang am Beispiel der Handwerker den wichtigen Hinweis gegeben, daß es nicht die Männer waren, die »immer wieder bei den Prügeleien um Ehre genannt werden, sondern es war insbesondere eine bestimmte Le bensaltersgruppe, nämlich die geschlechtsreifen, aber noch unverheirateten Männer, die also noch nicht durch die Gründung eines Hausstandes s tärker in die lokale Gesellschaft integriert waren«, die hier vor allem in Erscheinung traten39• Ein Befund, der gerade für die zahlreiche Parallelen zur Handwerkskultur aufweisende studentische Kultur stärker zu berücksichtigen ist.40
35 Zum zeitgenössischen Begriffsverständnis vgl. Burdach, 1 894 (1 990), 47f.; Ricker, 1 959. 36 »Desavantage [ . . . ] Eigentlich wird dadurch aber der Zustand eines Beleidigten angedeutet, der nach dem Burschenkomment zu fordern verpflichtet ist. Er steht der Avantage oder dem Zu stande des Beleidigers entgegen«, Burdach, 1 894 (1 990), 40. 37 Laukhard, 1 792 I, 106. 38 Vgl. Frevert, 1 99 1 , 2 1 4-232. 39 Dinges: Ehre, 1 997, 128. 40 Zu den zahllosen Auseinandersetzungen mit den Handwerkern vgl. die Fallstudie von Brüder mann, 1 99 1 .
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Viele der ritualisierten Grobheiten, von denen Laukhard z u berichten weiß, können als Praktiken der Männlichkeitsdemonstration, als »doing masculinity« beschrieben werden, wie etwa die so genannte »Generalstallung«. »Jene wurde so veranstaltet, daß zwanzig, dreißig Studenten, nachdem sie in einem Bier hause ihren Bauch weidlich voll Bier geschlungen hatten, sich vor ein vorneh mes Haus, worin Frauenzimmer waren, hinstellten, und nach ordentlichem Kommando und unter einem Gepfeife, wies bei Pferden gebräuchlich ist, sich auch viehmäßig, ich meyne, ohne alle Rücksicht auf Wohlstand - erleich terten.<<"l Ganz anders erging es Laukhard, als er selbst 1 778 für ein Jahr nach Göttingen kam, wo, wie bereits erwähnt, ein anderer Lebensstil vorherrschte. In einem Gespräch beklagt sich ein dortiger Snldent über seine Kommilitonen: »Die Kerls wissen dir den Teufel, was Komment ist: halten ihre Kommerse in Wein und Punsch, saufen ihren Schnapps aus lumpigen Matiergläsern, lassen sich alle Tage frisiren, schmieren sich mit wohlriechender Pomade und Eau de Lavende, ziehn seid ne Strümpfe an, gehen fleissig ins Conzert zum Professor Gatterer, küssen den Menschern die Pfoten; kurz Bruderherz, der Komment ist hier schofel«.42 Zwar gäbe es noch »derbe Kerls«, aber diese ständen wenig in Ansehen: »man hält sie für liederlich, und deswegen müssen sie für sich leben, und mit einander ihre Sachen allein treiben«. Damit gab er eine verbrei tete Einschätzung wieder, denn Göttingen galt als Adelsuniversitiü, und auch von anderen Zeitgenossen wurde der dortige besonders vornehme Lebensstil hervorgehoben.43 Nach Aufenthalten in Jena und Göttingen kommt Laukhard auch nach Halle, was ihm zum Anlaß dient, über die oben beschriebenen vier Studenten typen zu räsonieren: »Das äussere der Hallenser hält eine gute Mittelstraße zwischen dem rüden Wesen der Jenenser und Giessener und der firlefanzi schen Ziererei der Herren Leipziger.«44 Die Hallenser hätten überdies in dem Ruf besonderer Heiligkeit gestanden, wozu folgende Verse zitiert werden: »Ach Gott, wie ist die Welt so blind! / Ich lobe mir ein schönes Kind! / Wer mir noch spricht ein Wort, den soll der Teufel fressen, / a bonne amitie, so spricht der Bursch in Hessen. Der erste dieser Verse zielt auf Halle, der zweite auf Leipzig, der dritte auf Jena und der vierte auf Gießen.«45 In Leipzig selbst angekommen, findet Laukbard deutliche Worte für die im Vergleich mit den Hallensern unmännlichen Leipziger Studenten:
41 Lallkhard, 1 792 1, 2 1 7f. 42 Lallkhard, 1 792 I, 254. 43 Vgl. ßrüdermann, 1 990, 473 u. 49 1--497. 44 Laukhard, 1 792 ll, 1 24. 45 Laukhard, 1 792 11, 125.
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»Ü berall fand ich bei den Herrn Leipzigern große Armseligkeit und glänzendes Elend. Sie tragen zwar seidene Strümpfe beim tiefsten Dreck, gehen wie die Tanzmeister parisisch, schleichen hundertmal des Tages vor den Fenstern vorbei, wo sie ein hübsches Gesicht wittern, und werden in den dritten Himmel entzückt, wenn ihnen ein solches Gesicht freundlich zuliichelt. [st das aber männliches rVesen, das den Hallenser so kenntlich auszeichnet? [Her vmh. vom Verf.1 [ ... 1 Wenn die Hallenser nach Leipzig kommen, so machen sie da doch Figur, und jedermann sieht nach ihnen; wenn aber Leipziger sich zu Halle einfinden, so werden sie gar nicht bemerkt, wenigstens nicht für Studenten angesehen.«46
Studentische Identität ist für Laukhard demnach fest an einen als »männlich« gekennzeichneten Habitus gebunden, der ihn überhaupt erst als Student er kennen läßt. Wie bereits in Bezug auf die studentische Vierer-Typologie ange merkt, lassen sich die unterschiedlichen Männlichkeiten unter anderem einem höfischen und einem bürgerlichen Lebensstil zuordnen. I n diesem Zusam menhang verdient eine J enaer Stammbuchspruch Erwähnung, der in mehrfa cher Weise interpretierbar ist: »Penna non facit nobilitatem, sed penis« Oena 1 786) .47 William Clark hat ihn als Beleg für die Homologien zwischen Phallus, Degen und Feder als Schreibinstrument und Symbol der Gelehrsamkeit gele sen.48 Die Feder bildete jedoch, etwa am Hut als besonderes Kleidervorrecht der adeligen Studenten getragen, auch ein Symbol des Adels. Der Verweis auf den durch den Phallus, nicht die Feder, gewährten, wahren Adel ließe sich insofern auch als Abgrenzung gegenüber einem als effiminiert wahrgenommen höfischen Lebensstil lesen. Auch am Beispiel der Leipziger Petit Maitres wird deutlich, dass entsprechende ständische U nterscheidungen die Konturen der Geschlechtsidentität formierten. Der ständische Charakter wird dabei noch zusätzlich durch nationale Stereotype verstärkt, gilt doch der effeminierte höfische Habitus als französisch im Gegensatz zum »teutschen« Burschen komment.49 Diese Gegenüberstellung wurde von der nationalistischen Studen tenhistoriographie bereitwillig aufgegriffen und naturalisiert, die in der Zeit des Sturm und Drang als Reaktion auf den französischen Stil eine >>urteutonische Rohheit und Wildheit« am Werk zu sehen meinte.5o Männliche Härte wird zum Leitbild für den Studenten insgesamt, wenn Laukhard erklärt: »aber bei dem allen scheint es doch der Sache angemessen zu seyn, dass der Student auf Universitäten sich, so viel er kann, von allem verzärtelten und verfeinerten Wesen abhalte«.51 46 47 48 49
Ebd., 1 5 1 . Keil/Keil, 1 893, 287. Clark, 2005. Zur Krise der Männlichkeit in der hötischen Gesellschaft vgJ. Schmale 2003, 1 06f., 1 47f.; Dinges, 2004, 75f. 50 Vgl. Schulze/Ssymank, 1 932, 1 95. 51 Laukhard, 1 792 I, 1 93 .
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D er Student und die Frauen Die vermeintlich klare Ablehnung alles Weiblichen stellt sich jedoch nicht so einfach dar, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß das gesellige Beisam mensein von Studenten, etwa mit Professorentöchtern, von den Obrigkeiten durchaus als erstrebenswert im Sinne der sittlichen Verfeinerung angesehen wurde. 52 Die durchaus positive Konnotation von Weiblichkeit stand jedoch dem vorherrschenden studentischen Frauenbild entgegen. Sexuelle Kontakte waren für die Studenten als »zwangszölibatärem« Personenkreis immer mit dem Problem der Illegitimität verbunden.53 Die zur Verfügung stehenden Alternativen waren Enthaltsamkeit, Konkubinat oder Prostituierte. Nach Brü dermann kann daher durchaus ein Zusammenhang zwischen der restriktiven Sexualgesetzgebung und der unter den Studenten vorwaltenden Einstellung zum weiblichen Geschlecht gesehen werden. Hätten die Studenten in der ersten Hiilfte des 1 8. J ahrhunderts noch mit »Aggressivität und Provokation« reagiert, so zogen sie sich in der zweiten Hälfte auf ihre negative Haltung zu den Frauen zurück.S4 Aufgrund der akademischen Privilegierung genossen die Studenten einen besonderen Rechtsstatus mit eigener Gerichtsbarkeit, der ihnen in der Regel eine wesentlich geringere Bestrafung sexueller Devianz bescherte als den betroffenen Frauen.55 Zu den schwerwiegendsten Konse quenzen dieser durch die Privilegierung abgesicherten Form männlicher Hegemonie kann sicherlich die Bagatellisierung von Vergewaltigungsdelikten gegenüber Dienstmägden und der Konsequenzen einer illegitimen Schwanger schaft zählen.56 So hatten Alimentations- und Satisfaktionsforderungen gegen über den Studierenden in der Regel offenbar wenig Aussicht auf Erfolg. Eine Art ikonographischer Weihe erhielten die unehelichen Geburten aus studentischer Sicht in der Tradition der Darstellungen des »Cornelius relega tus«. Dieses Idealbild »akademischer Freiheit« wird auf zahlreichen Stamm buchbildern und Stichen mit einem unehelich gezeugten Kind konfrontiert, ist hoch verschuldet, was nicht zuletzt auf seinen immensen Alkohol- und Tabak konsum zurückzuführen ist, und dazu noch stets gewaltbereit, was durch seine Sammlungen an Hieb-, Stich- und Schußwaffen zum Ausdruck kommt. 57 Die
52 Nicht zuGlIig gilt dies vor allem für Göttingen, vgl. Brüdel'mann, 1 990, 381; N iemeyer, 1 996, 283. 53 Die bisher eingehendste sozialgeschichtliche Untersuchung des Problems liefert Brüdermann, 1 990, 380-420. 54 Vgl. Brüdermann, 1 990, 383. 55 Vgl. Bauer, 1 926, 57 u. 7 1 . 5 6 Zur rechtlichen Behandlung der Vergewaltigung, vgl. Brüdermann, 1 990, 4 1 8 f. 5 7 Vgl. Füssel, 2004, 1 65f.
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Stammbuch sprüche beziehen sich, neben Alkoholkonsum und notorischem Geldmangel, zu weiten Teilen auf das Verhältnis zu Frauen. Neben der be kundeten Sehnsucht werfen sie ein deutliches Bild auf die Verachtung und Verdinglichung, mit welcher die Studenten ihren Liebschaften begegneten. Auch physische Gewalt gegenüber Frauen wurde gelegentlich als legitim ange sehen bzw. heruntergespielt.58
Transformationen Von einem wirklichen Verhältnis der Hegemonie kann im Sinne Antonio Gramscis im Grunde erst dann gesprochen werden, wenn das daran geknüpfte Ü ber- und Unterordnungsverhältnis weitgehend akzeptiert bzw. keiner perma nenten Kritik und Infragestellung ausgesetzt ist. Ein solches Verhältnis war mit der Ausgrenzung der Frau aus der vormodernen Universität weitgehend gegeben. Zwar sind einzelne Graduierungen von Frauen bekannt, und auch die weibliche Befahigung zu Studium und Gelehrsamkeit wurde zweifellos wieder holt diskutiert, wirklich in Frage gestellt wurde die Universität als Männerdo mäne jedoch nie.59 Zahlreiche Stammbucheinträge machen gleichzeitig deut lich, dass ein Eindringen der Frauen in den Bereich der Gelehrsamkeit als Bedrohung wahrgenommen wurde: »Und ich gestehe frei, Daß ein gelehrtes Weib der Teufel selber sei« Oena 1 786).60 Die seit dem ausgehenden 1 9 . J ahrhundert steigende Präsenz von Frauen i n den Bildungsinstitutionen führte möglicherweise zu einer zunehmenden männlichen - sich um ihre H egemonie bedroht fühlenden - Abschottung in bestimmten Formen der Geselligkeit (Korps etc.).61 So finden sich in dieser Zeit auch wiederholt Karikaturen, wie die einer »krassen Füchsin«, in denen die weibliche Studentin als geradezu sittenwidriges Kuriosum verspottet wird.62 Wolfgang Schmales Feststellung, daß von einer hegemonialen Männlichkeit vor dem Ende des 1 8. J ahrhunderts nicht gesprochen werden könne, läßt sich möglicherweise auch auf das sm dentische Milieu übertragen.63 Das hieße, daß es im Verlauf der Sattelzeit zu einer Art Aufhebung der ständisch-fragmentierten studentischen Männlich-
58 59 60 61 62 63
Vgl. z.13. den Stammbucheintrag Nr. 1 453 in, Keil/Keil, 1 893, 267. 13oehm, 1 996, 883-908; Niemeyer, 1 996. Keil/Keil, 1 893, 287. frevert, 1 9 9 1 , 2 1 4ff Vgl. Schmidt-Harzhach, 1 9 8 1 , 1 87; weitere B eispiele bei Klant, 1 984, 1 08-1 1 8. Vgl. Schmale, 2003, 1 52ff.
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keiten i n einen neuen hegemonialen Typ der »satisfaktionsfahigen Gesell schaft« wilhelminischer »Burschenherrlichkeit« gekommen ist.64 Deutlich wird der nach der napoleonischen Zeit einsetzende Wandel unter anderem im Bereich studentischer Sexualität. War der Umgang mit Frauen häufig Prostituierten - zuvor fester Bestandteil des studentischen Lebenswan dels, brach sich nun ein neuer Geist Bahn, wie er charakteristisch durch Ernst Moritz Arndt verkörpert wird. So schreibt dieser 1 859 in einem Gedicht Lf:7ider die Datl1enplldelei: »Wer der Wahrheit treu bleiben will, l'vluß als Jüngling sich entweiben«.65 Bereits in seiner Schrift über den »deutschen Studentenstaat« hatte Arndt 1 81 5 über das Studium verkündet: »Gerade diese herrlichen Jahre sind die Jahre, wo der Jüngling in der höchsten Freiheit, die ihm nachher nie wieder so wird, seinem Gemüthe den Stahl des Charakters versetzen soll. Dies kann nur geschehen durch Umgang mit tüchtigen Männern und weid lichen Jünglingen. Am meisten wird dies gehindert durch den Umgang mit Weibern, auch mit den besten Weibern. Die heilige Schrift spricht viel von Hurereien, die nicht bloß leiblich sind; es gibt auch manche geistige Hurereien, ärger als alle leiblichen<<.""
Während des 1 9. Jahrhunderts etablierte sich demnach in zahlreichen Bur schenschaften ein so genanntes Keuschheitsprinzip, welches die Mitglieder zu einem in Fragen der Sexualität zurückhaltenden Lebenswandel anhielt.67 Innerhalb des bürgerlichen 1 9. Jahrhunderts wurde Männlichkeit als Kol lektivsingular genauer definiert und stärker diskursiviert, und dabei gleichzeitig von der tendenziell als Gefahr wahrgenommen Weiblichkeit abgegrenzt. Proji ziert man entsprechende Vorstellungen jedoch bruchlos in die Frühe Neuzeit zurück, entsteht nicht nur ein Bild erstaunlicher Kontinuitäten, sondern auch von geradezu anthropologischer Pauschalität.68 Studenten trinken im Ü bermaß Alkohol, betrachten das andere Geschlecht als nicht studierfahiges Objekt sexueller Begierde und huldigen ritualisierten Formen der Gewalt. Ange brachter scheint es hingegen, für den Bereich der frühneuzeitlichen Studenten kultur von konkurrierenden Männlichkeitsentwürfen auszugehen, die noch nicht im vereinheitlichenden Sinne des bürgerlichen Männlichkeitsideals gelebt und verstanden wurden. Für die Frage nach hegemonialen Männlichkeiten
64 Zur »satisfaktionsfähigen Gesellschaft« vgl. Elias, 1 989, 61-1 58, im Anschluß daran mit mehr historischer Tiefenschärfe Frevert, 1 99 1 . Die Männlichkeitsideale der Korpsstudenten orien tierten sich vor allem am Militär. Ehrkonflikte etwa mir Handwerkern, wie sie die vormoderne Studentenkultur prägten, wurden vor dem Hintergrund veränderter Satisfaktionskritcrien zu nehmcnd undenkbar. 65 Arndt, Ernst Moriiz: Wider die Damcnpudelei, hier zitiert nach Scheuer, 1 920, 57. 66 Arndt, Ernst Moritz: Ü ber den deutschen Snldentenstaat, hier zitiert nach Scheuer, 1 920, 56. 67 Vgl. Scheuer, 1 920, 59 f. 68 Mit dieser Tendenz Roper 1 995, dazu bereits kritisch Dinges: Ehre, 1 997, 1 28.
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wären folglich gerade die vielschichtigen Ü berschneidungsverhältnisse zwi schen den ständischen, den altersbedingten und den geschlechterspezifischen Kodierungen akademischer Gruppenkulturen stärker in den Blick zu nehmen und zu historisieren.
Literatur Bauer, Max: Sittengeschithte des dmtsehen Studententllllls, Dresden 1 926 Beerz, Manfred: Der ansrändige Gelehrte, in: Neumeister, Sebastian; Wiedemann, Conrad (Hg.): Res pt/b/ica litteraria: die Institt/tion der Gelehrsa1llk eit in der/riihen Neuzeit, 2 Bde., Bd. 1. Wiesbaden 1 987, 1 53-173 Blartmann, Lynn: »Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören . . . « . Schweizerische Stu dentenverbindungen als Männerbünde (1 870-1 9 1 4), in: Kühne, Thomas (Hg.): Al,iill1e/� gest/lichte - Geschlechtergm-hichte. Aliümlithkeit im lf7andel der Moderne, Frankfurt M. 1 996, 1 1 9- 1 35 Boehm, Laetitia: Von den Anfängen des Frauenstudiums in Deutschland, in: Dies.: s,hichtsdeJlkeJ1, Bildungsgeschi
Ge
U7issms,hajtsorganisation. Allsgewahlte A uftatze VOll ILietitia
Boehm anltißlieh ihm 6.5. Gebmtstages, hrsg. von Gert Melville, Berlin 1 996, 883-908 Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, in: Dölling, Irene; Krais, Beate (Hg.): Ein allMg Ikhes Spiel. Ge.r
Brüdermann, Stefan: Goftinger Görtingen 1 990
29 (1 908), 3 1 2-341 Stlldmtell lind akademische Gerichtsbarkeit i1ll f 8. jahrhundert,
- Der Goltinger StNdentenalls'
Burdach, Konrad (Hg.):
Göttingen 1 99 1
Stlldentensprarhe ulld Stlldmtelilied ill Halle t'or h'/lldert jahrm. Neudmck des
,Idiotikon der Bllrschenspra,he( VOll 1 795 liNd der )Stt/dentenliedm VOll 1781,
Halle 1 894 (ND
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Ehre und Geschlecht i n der frühen Neuzeit, in: Backmann, Sybille u.a. (Hg.): Ebrkollzepte Berlin 1 997, 1 23-147 Stand und Perspektiven der )>lieuen Miinnergeschichte« (Frühe Neuzeit), in: Bos,
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Marguerite; Vincenz, Bettina; Wirz, Tanja (Hg.):
Eifahnlllg: Alles 11111' Diskllrs? Z"r
VenJ!endnllg des Elfabl1/11gsbeglijjs i" der Gm-hlechte/J!,eJihi,hte,
Elias, Not'berr: jahrhtlndert,
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Mit federzeith
Moderne hegemoniale Männlichkeit
Zur Relevanz des Connell'schen I
Das vom Soziologen Robert W. Connell seit den frühen 1 980er Jahren entwi ckelte Konzept hegemonialer Männlichkeit stellt heute auch innerhalb der Geschichtswissenschaft ein viel beachtetes, ja geradezu inflationär zitiertes theoretisches Modell dar. Ganz offensichtlich bietet es den am häufigsten gewählten Rahmen, um Männlichkeit - zumindest vordergründig, d. h. im Sinne eines Postulats - als relationale und prozeßhafte Kategorie zu bestim men und in einen gesellschaftlichen Strukturzusammenhang der U ngleichheit zu stellen. John Tosh hat diese historiographische Konjunktur des Con nell'schen Konzepts, ungeachtet der Tendenz, den zentralen Begriff der he gemonialen Männlichkeit unkritisch zu verwenden,l daher erst kürzlich positiv bilanziert: »The theory of hegemonie masculinity has proved its worth because it keeps the power relations of gender always in view, and it reminds us that structures of sexual dominance operate at several levels, all of which must be identified and understood in their complementary relations.«2 Damit ist ein maßgeblicher Grund genannt, warum Connell's Theoreme auch für mich als feministische Historikerin einen großen Reiz besitzen umso mehr, da ich mich derzeit im Rahmen eines Projekts zur Geschichte der Allgemeinen Wehrpflicht in Ö sterreich-Ungarn. von 1 868 bis 1 9 1 4/ 1 8 mit dem Konnex »Militär und Männlichkeit« beschäftige und die Komplexität clieses Themas eine differenzierte Definition von Männlichkeit verlangt. Separatisti schen Tendenzen innerhalb der neuen Männergeschichte, die einer gemeinsam betriebenen Geschlechtergeschichte entgegen laufen, stehe ich mit Skepsis gegenüber; nicht von ungefähr hat ja Connell betont, daß das soziale Ge schlecht Männlichkeit immer in Relation zum Kontrastbegriff Weiblichkeit, und somit auch zur herrschenden Geschlechterasymmetrie, zu verorten ist.
1 VgJ. Tosh, 2004. 42, 47. Ähnlich bilanziert mit dem Blick auf die soziologische Forschungs landschaft Scholz, 2004, 36. 2 Tosh, 2004, 55.
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C H R l S T A H AM M E R L E
Letztere bezeichnet e r - wenig differenzierend - als »Patriarchat«,3 das z u stützen ihm zufolge die primäre Funktion hegemonialer Männlichkeit ist.4 Von der neuen Männergeschichte breiter umgesetzt wird Connell's zweites Theo rem für die Definition von Männlichkeit, welches besagt, daß es stets mannig faltige Männlichkeiten gibt, die in einer bestimmten Relation (der Komplizen schaft, Unterordnung oder Marginalisierung) zur jeweiligen hegemonialen Form stehen. Ihre konflikt- und widerspruchsvollen Verhältnisse untereinan der figurieren sich durch verschiedenste Praxen, die »ein- oder ausschließen, einschüchtern, ausbeuten, und so weiter«.5 Für das Thema »Militär« ist auch wichtig, daß Connell immer wieder auf die grundsätzliche Verwobenheit von Männlichkeit mit Politik, Macht und Gewalt verweist. Davon zeugt schon der Haupttitel seiner wohl wichtigsten, bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Monographie von 1 987, Gender and P01JJer. Auch in den nachfolgenden, sich z. T. überlappenden, stark von femi nistischen Theorien gespeisten Darlegungen der komplexen inneren Struktur des sozialen Geschlechts hebt er den generellen »politischen Charakter der Konstruktion von Männlichkeit« hervor;6 das Interesse an der Durchsetzung ihrer hegemonialen Form weist er einem aus den Führungsebenen von »Wirt schaft, i'vlilitär und Politik« bestehenden »Bund« zu.7 Damit findet sich die Dimension der Macht - von Männern über Frauen wie von Männern über Männer, oder von einer konkreten Institution, des Staates - an oberster Stelle, gefolgt von der Ebene der Produktion bzw. der geschlechts- und klassenspezi fischen Arbeitsteilung einerseits, und der emotionalen Bindungsstruktur ande rerseits. Gewalt ist Connell zufolge ein Konstituens dieses Strukturgefüges, und zwar Gewalt in vielerlei Dimensionen, bis hin zur körperlichen, sexuellen Gewalt. Er weist den Körpern eine immense Bedeutung für die Konstruktion von Männlichkeit zu, sie sind immer »Teilnehmer am sozialen Geschehen« und als solche »sowohl Objekte als auch Agenten der Praxis«, aus der »wiederum die Strukturen entstehen, innerhalb derer die Körper definiert und angepaßt werden«.8 Vor allem in seinen j üngeren Arbeiten betont Connell zudem die »Materialität« des Körpers und wendet sich kritisch gegen die im Konstrukti vismus tendenziell vorgenommene »Entkörperlichung der Sexualität«. Er be harrt darauf, »daß wir dem Körper nicht entrinnen können, wenn es um die
3 4 5 6 7
Zur Kritik des ConnelJ'schen Patriarchatsbegriffs vgl. Tosh, 2004, 54. Vgl. z. ß. Connell, 1 999, 98. ConnelJ, 1 999, 56. Vgl. z. ß. Connell, 1 999, 57, 58 ff. Connell, 1 999, 98. S Connell, 1 999, 8 1 .
Z U R RELEV A N Z D E S C O N N ELL'SCHEN KON Z EPTS
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Konstruktion von Männlichkeit geht«, und somit etwa auch »der Schweiß [... ] nicht außer Acht gelassen werden Ikann].«9 Alles in allem hat Connell ein umfassendes Gender-Konzept vorgelegt, das noch stark von einem materialistischen Gesellschaftsverständnis beeinflußt ist. Seine Verwurzelung in der radikalen, politisch motivierten Tradition der Ka pitalismuskritik wird heute oft ebenso vergessen wie der Umstand, daß Anto nio Gramscis Entwurf der »Klassenhegemonie« Connells Machttheorie zugrunde liegt.10 Nicht zuletzt angesichts dieser Tradition und der anhaltenden Dominanz von Studien zu Diskursen und kulturellen Repräsentationen von Männlichkeit plädiert Tosh in Hinblick auf die historiographische Erprobung des Connell'schen Männlichkeitskonzepts für einen multiperspektivischen Zugang, der die Ebene der Erfahrung, der Materialität und der realen Macht verhältnisse genauso beinhaltet wie Ansätze der postmodernen Culll1ral Studies und damit gewissermaßen die Anliegen mehrerer Wissenschaftsgenerationen verbindet. 1 1
-
1 . Das Projekt »Militär und Männlichkeit/ en in der Habs burgermonarchie« Wo aber liegen die Möglichkeiten und die Grenzen der Historisierbarkeit des Connell'schen Konzepts, wenn ein solches Vorgehen erprobt wird, um hege moniale Männlichkeit in konkreten historischen Kontexten zu untersuchen? Spätestens hier muß konstatiert werden, daß Connell selbst sich der Historizi tät jeglicher Männlichkeit zwar durchaus bewußt ist und deren Analyse auch eingefordert hat,12 seine eigenen, insgesamt sehr knappen Darlegungen zum historischen Wandel bzw. zu den IOllg tenNS einer Geschichte der (westlichen) Männlichkeit/ en aber bislang allzu allgemein und auf ältere Forschungen zum angloamerikanischen Raum beschränkt blieben. 13 Das hat offensichtlich damit zu tun, daß er hier die »Wiege« jenes heute »globalisierten« ungleichen Ge schlechterverhältnisses vermutet, mit dem er sich in den letzten Jahren zu nehmend beschäftigt hat. 1 4
9 10 11 12 13 14
Connell, 1 999, 7 1 , 76. Tosh, 2004, 43 ff., 52. Tosh, 2004, 56. Vgl. etwa seine vagen Formulierungen dazu in: Connell, 1999, 64, 98, 102 f. Vgl. Tosh, 2004, 43, der die historische Leistung Connells jedoch weit positiver einschät7.t. Vgl. z. B. Connell, 2000; Connell, 2002.
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C H RI S T A H AM M E R L E
Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, sie auf das Connell'sche Männlichkeitskonzept zu beziehen, sollen nun einige Befunde des vom öster reichischen FWF geförderten Projekts »Die Allgemeine Wehrpflicht zwischen Akzeptanz und Verweigerung. N1ilitär und Männlichkeit/en in der Habsbur germonarchie von 1 868 bis 1 9 1 4/ 1 8« resümiert werden. Eine zentrale Frage dieses Projekts lautete, ob die nach dem österreichisch-preußischen Krieg von 1 866 eingeführte Allgemeine Wehrpflicht auch in Ö sterreich-Ungarn bzw. in der vorrangig bearbeiteten »westlichen« Reichshälfte Cisleithanien zu einer generellen Militarisierung hegemonialer Männlichkeit führte. Dies genauer zu untersuchen, war insofern plausibel, als bislang vorliegende Studien zur Ge schichte der l\'fännlichkeit/ en in der europiiischen Moderne von einem engen Konnex zwischen Allgemeiner Wehrpflicht und hegemonialen Männlichkeits vorstellungen ausgehen. Daher hat zuletzt etwa auch Wolfgang Schmale, ge stützt auf die neu erarbeitete Kriegs- und Militärgeschichte Preußens oder Deutschlands,15 die durch die Allgemeine Wehrpflicht seit der Französischen Revolution ausgelöste »Militarisierung des Mannes als Kernelement der Hege monialisierung des in der Aufklärung entstandenen Männlichkeitsmodells« gewertet und lüese Entwicklung explizit auf »den Großteil europäischer Staa ten im 1 9. Jahrhundert« übertragen. 16 Der Umstand, daß die Allgemeine Wehr pflicht damals in der Tat zur dominanten Wehrverfassung Europas avancierte, scheint dies vordergründig zu bestätigen. Muß jedoch ein solches stark verallgemeinerndes Modell, das in der For schung zudem meist direkt mit der Genese des N ationalstaates und moderner Staatsbürgerschaft verknüpft wird,17 angesichts der großen ethnisch-kulturellen H eterogenität der Habsburgermonarchie und ihrer multi- oder supranationalen ArmeeIs nicht in seiner Reichweite relativiert werden? Konnte im Kontext dieser in sich stark zergliederten, selbst in Cisleithanien sehr verschieden be werteten und akzeptierten Institution tatsächlich ein übergreifendes hegemoni ales Männlichkeitsideal formuliert und popularisiert werden, das zunehmend auf zivile Leitbilder ausstrahlte bzw. diese immer stärker auf das Militär und seine Werte ausrichtete? Die Ergebnisse des oben genannten Projekts lassen jedenfalls eine allzu starke Bedeutung des Konnexes zwischen Allgemeiner Wehrpflicht und militarisierter hegemonialer Männlichkeit fraglich erscheinen - zumindest für die J ahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Das darzulegen, kann hier aufgrund der gebotenen Kürze nur in Form einer Bilanzierung jener Befunde erfolgen, 15 16 17 18
Vgl. dazu insb. Frevert, 1 996; Frevert, 2001 ; Hagemann, 2002. Schmale, 2003, 1 95 f. Vgl. auch die Bilanz von Hagemann, 1 998, 23. Vgl. Allmayer-Beck, 1 987, 88-99.
ZUR RELEVANZ DES CONN ELL'SCHEN KONZEPTS
1 07
die mit Connell's Theoremen in Verbindung gebracht werden können. Dabei wird sich zeigen, daß diese Theoreme die empirische historische Arbeit durch aus anzuleiten vermögen - allerdings nur, so lange der konkrete Bezugsrahmen der Analyse begrenzt bleibt und nicht auf Ö sterreich-Ungarn als gesamtgesell schaftlich gedachte Entität ausgeweitet wird.
2. Militärische Utopien vom »ganzen Mann« Als ersten Fokus wähle ich den innermilitärischen Diskurs, dessen hegemoni ale Form im Untersuchungszeitraum vor allem von deutschsprachigen höhe ren Offizieren und anderen Militärschriftstellern vorangetrieben wurde. Auf dieser Ebene zeigt sich, daß der Anspruch des Militärs sehr umfassend war und im Prinzip alle jungen Männer der k. (u.) k. l'vlonarchie inkludierte. Dabei mußte freilich darauf Bedacht genommen werden, daß die Basis für die ge meinsame Armee hier weit inhomogener war als anderswo in Europa - was schon ein oberflächlicher Blick auf deren ethnische und religiöse Vielfalt ver deutlicht. Denn in der k. (u.) k. Armee dienten nicht nur Angehörige der diver sen christlichen Kirchen neben Juden (»Isrealiten«) und Moslems, sondern häufig mit solchen Zugehörigkeiten verschränkt - auch alle elf offiziell aner kannten N ationalitäten. Um 1 900 waren dies, bezogen auf 1 00 Mannschafts soldaten, durchschnittlich 25 Deutsche, 23 Ungarn, 1 3 Tschechen, acht Polen, acht Ruthenen (Ukrainer) , neun Serben und Kroaten, sieben Rumänen, vier Slowaken, zwei Slowenen und ein Italiener. 1 9 Ihre Verteilung auf die einzelnen Truppenkörper war sehr unterschiedlich, j edenfalls überwogen Einheiten, in denen wenigstens zwei, wenn nicht drei oder gar mehr verschiedene Nationa litäten gleichzeitig vertreten waren. Dennoch blieb Deutsch, von einer den Ungarn erst im Jahr 1 9 1 2 gewährten Ausnahme abgesehen, bis zuletzt die alleinige Kommando- und Dienstsprache des gemeinsamen Heeres, was sehr umstritten war.20 Beim Militär trafen also j unge Männer sehr verschiedener Herkunft aufein ander - auch in Hinblick auf Männlichkeitsansprüche, denen sie innerhalb ihrer zivilen Lebensverhältnisse, als knapp Zwanzigjährige selbst noch nicht ganz erwachsen, folgen mochten oder nicht. Obwohl diese regionalen Männ19 Allmayer-Beck, 1 987, 93. 20 Hingegen wurden zu sog. Regimentssprachen all jene »Nationalsprachen«, die von mindestens 20 % der Mannschaftssoldaten repräsentiert wurden. Um 1 90() gab es im k. u. k. Heer 142 Truppenkörper mit nur einer Rcgimentssprache, gegenüber 1 63 mit zwei, 24 mit drei und ei nigen weiteren mit vier oder sogar fünf Regimcntssprachen. Vgl. Allmayer-Beck, 1 987, 98.
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C HRJSTA HAMMERLE
lichkeitskonzepte durchaus vom Ideal des wehrhaften Mannes beeinflußt sein konnten,21 intendierte der Militärdienst vor allem das »Gleichmachen« der Rekruten gemäß verbindender Prinzipien, die in der k. (u.) k. Armee eine stark kulturimperialistische Dimension hatten. Daher hieß es hier etwa, daß vor allem jene späteren »Bürger«, die aus den östlichen und südöstlichen Ländern der Monarchie eingezogen wurden, am Beginn ihres Wehrdienstes häufig noch »aller Begriffe des Culturmenschen bar« seien. Es wurde als besondere Leis tung der Armee, aber auch als äußerst schwierig eingeschätzt, aus solchen jungen Männern im Laufe ihrer Dienstzeit »ebenfalls brauchbare und somit sittlich und geistig gehobene Soldaten zu machen« - umso mehr, als es in der weitläufigen Monarchie noch immer »abgelegene Gegenden, manche verbor gene Thäler und Wälder« gäbe, wohin »kein Strahl höheren Geisteslebens dringt, der nicht durch die Einwirkung der militärischen Vorgesetzten vermit telt worden wäre«.22 Der weitgesteckte Erziehungsanspruch des Militärs konnte idealistischer kaum formuliert werden. Wie Militärpädagogen und -schriftsteller ständig beteuerten, ging es dort keinesfalls nur um die Ausbildung der jungen Männer zu »guten«, im Waffengebrauch geübten, jederzeit kriegsbereiten, kaiser- und vaterlandstreuen Soldaten. Verbunden mit dem zunächst drei-, ab 1 9 1 2 teil weise nur mehr zweijährigen aktiven Wehrdienst wurden im militärischen Diskurs zusätzlich viel weiter gezogene Ansprüche oder Zielsetzungen, die von der »Bildung« über spezifische körperliche Dispositionen bis zur Vermittlung von angeblich ebenfalls lebenslang nützlichen Sekundärtugenden reichten. Als gängige Begriffe dafür finden sich in den Quellen häufig die Formeln einer »Erziehung« zu »Sparsamkeit«, »Ordnungssinn« und »Sauberkeit« oder »Hy giene«, »Gehorsam«, »Pflichtgefühl«, »Gemeingeist«, »Ehre und Ambition« etc. All das verknüpfte man im Zeitalter der Allgemeinen Wehrpflicht gerne mit dem Vetweis auf die männliche Staatsbürgerschaft - allerdings ohne gleichzei tig auf die umstrittene Frage nach dem allgemeinen und gleichen Männer wahlrecht Bezug zu nehmen, das in Ö sterreich erst im J ahr 1 907, in Ungarn sogar erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt werden konnte. Nicht desto trotz glich das pädagogische Programm für das k. (u.) k. Heer ab 1 868 durchaus dem anderer europäischer Wehrpflichtarmeen, selbst wenn sich der gängige Topos, diese wären eine besondere »Schule der Männlichkeit«, hier weit seltener mit dem Anspruch verband, ebenso eine »Schule der Nation« darzustellen. Stattdessen sprach man im offiziellen J argon noch am Beginn des 20. Jahrhunderts viel eher von einer »Schule des Volkes«, der »vom Staate die
21 Vgl. z. B. für das Gebiet der ehemaligen Militärgrenze Kaser, 1 997. 22 Danzer, 1 889, 1 55.
Z ll R R E L E V A N Z D E S C O N N E L L ' S C H E N !-: O N Z E P T S
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Pflicht auferlegt« worden sei, »die Landeskinder zu ganzen Männern zu erziehen oder ihre Erziehung in dieser Hinsicht zu beenden«.23 Daß einer solchen Programmatik eine geschlechterpolitische Dimension eignet, verdeutlicht schon die Rede vom »ganzen Mann«, die stets eine Rela tion zum anderen Geschlecht, zur antagonistisch gesetzten »Frau« erzeugt. Gerade das gehört, wie auch Connell betont, mit zu den Konstituenten des modernen Geschlechterdiskurses. Somit implizieren solche Formulierungen zur Erziehungsfunktion der Wehrpflichtarmee immer den Verweis auf die herrschende Geschlechterhierarchie, die für erwachsene l'vIänner u. a. die ge setzlich legitimierte Ausübung patriarchaler Befehlsgewalt um faßte: »Der junge Mann lernt hier gehorchen und befehlen und überträgt beides in das bürgerli che Leben,«24 Diese Hinweise illustrieren, daß sich in zahlreichen normativen Texten, die damals in Militärzeitschriften oder als Broschüren zur umstrittenen Wehrre form veröffentlicht wurden, tatsächlich so etwas wie die Konstruktion eines militarisierten Männlichkeitsideals ausmachen läßt: Erst die Militärerfahrung sollte den vollwertigen Staatsbürger und »ganzen Mann« konstituieren, oder zumindest die Erziehung der jungen Männer in diese Richtung vollenden. Für ihre Argumentation griffen die Autoren solcher Texte, die allesamt als Militär schriftsteller oder anonym publizierende höhere Vertreter des Militärs ausge macht werden können, durchaus auf zivile Männlichkeitsdiskurse zurück, die sie z. T. in ihre Ausbildungskonzepte integrierten - was auch anhand der vie len innermilitärischen Debatten um eine adäquate Ausbildung zum »moder nen« Gefecht gezeigt werden könnte: Auch hier mischte sich die Forderung, daß die taktischen Reglements angesichts der »neuen«, zunehmend technisier ten Kampfweise mehr »Eigenthätigkeit« oder »Individualität« der »gemeinen« Soldaten zulassen müsse, mitunter mit dem Verweis auf »moderne« männliche Staatsbürgerschaft, die mit dem überkommenen militärischen Drill nicht mehr vereinbar sei. Unter dem Motto »Drill oder Erziehung?« wurde dieses Span nungsverhältnis heftig debattiert. Soweit zu einem in sich auch widerspruchsvollen Programm. Ich werde nun das ihm eingeschriebene männliche Leitbild sowohl mit empirischen Da ten als auch mit der Ebene der Erfahrung verknüpfen, um so die Frage nach seiner Hegemonialität besser beantworten zu können. Eine solche hätte nach Connell auf breite Akzeptanz zu gründen, zumindest aber auf prinzipielle Ü bereinstimmung oder »Komplizenschaft« durch eine Mehrheit von Män-
23 Von l\1ikofs, 1 907, 1 . 2 4 Porth, 1 900, 6 f.
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C H R I S T A H AM M E R L E
nern.25 Inwieweit war dies in Ö sterreich-Ungarn bis zum Beginn d e s Ersten \X'eltkrieges der Fall? In welcher Relation zu anderen Männern standen damals jene, die tatsächlich zum dreijährigen Präsenzwehrdienst eingezogen wurden und somit die militärische Sozialisation zur Gänze durchliefen?
3. Tauglich oder untauglich: Wann ist man ein »Mann«? So umfassend der Erziehungsanspruch des l'vIilitärs im Zeitalter der Allgemei nen Wehrpflicht auch war: Zum Präsenzdienst in den Kasernen und Garniso nen der k. (u.) k. Armee wurde nur eine NIinderheit aller jungen Männer eines Jahrgangs eingezogen. Dies hatte seinen Grund insbesondere in der durch die Wehrgesetze von 1 868, 1 889 und 1 9 1 2 genau festgesetzten Höhe des jährli chen Rekrutenkontingents, das man in den Parlamenten beider Reichshälften dennoch Jahr für J ahr heftig debattierte.26 Gleichzeitig wurde das Reservoir der verfügbaren Männer durch die Tauglichkeitsziffern beschränkt, die aus der Sicht der Militärs keinesfalls erfreulich waren: Diese Rate schwankte von 1 870 bis 1 9 1 0 zwischen 1 2,7 und 27,7 Prozent aller Stellungsp flichtigen.27 Eine Besserung der Verhältnisse ergab sich erst, nachdem das Wehrgesetz von 1 889 das Wehrpflichtalter von 20 auf 2 1 Jahre angehoben und eine neue Kategorie der »Mindertauglichen« geschaffen hatte, die nun in die Ersatzreserve eingeteilt werden konnten. Zum Präsenzwehrdienst aber rekrutierte man, trotz der häu fig beklagten Unterschiedlichkeit, mit der die einzelnen S teIlungskommissio nen vorgingen, weiterhin wohl primär die gänzlich gesund erscheinenden, kräftig gebauten, wenigstens 1 55 cm großen Männer - sozusagen die in kör perlicher Hinsicht »Besten« ihres J ahrganges.28 Sie erhielten das Zeugnis »voll« oder »ohne Gebrechen tauglich« ausgestellt und wurden in Entsprechung zu ihrer schon vorher gezogenen Losnummer zum stehenden Heer bzw. in die Marine oder in eine der beiden Landwehren eingezogen. Nur wenn ein Ü ber hang an Tauglichen bestand, kamen auch diese Männer direkt in die Ersatzre serve. In ihrer J ahrgangsgruppe und der Herkunftsgemeinde begrüßte man sie nach der erfolgten Musterung und Vereidigung mit einer Reihe festlich insze nierter Rituale, wodurch sie wenigstens für einen Tag bzw. eine Nacht die »Hauptpersonen« im Dorf waren - wie einer von ihnen es formuliert hat. 25 Vgl. zu diese.. Voraussetzung bei Connell auch Tosh, 2004, 47. 26 All mayer ·Beck, 1 987; Wagner, 1 987. 27 Vgl. dazu die auf de.. Basis der Militärstatistischen J ahrbUche .. e ..arbeitete Tabelle in: Häm merle, 2003, 2 1 2. 28 Vgl. dazu auch frevert, 200 1 , 240.
Z U R R E L E VAN Z D E S C O NN E L L ' S C H E N K ON Z E P T S
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Außerdem wies nicht nur er stolz darauf hin, daß er als zukünftiger Artillerist schon ab diesem Zeitpunkt die »Militärkappe« tragen »durfte«.29 Ungeachtet dessen dokumentieren selbst Autobiographien deutschsprachi ger Männer aus Böhmen, Mähren und den innerösterreichischen Erbländern, wo die k. Cu.) k. Armee unbestreitbar Ansehen genoß, sehr unterschiedliche Einstellungen zu einem Tauglichkeitsbefund. »Und so waren wir beide frei!«, schrieb z. B. einer, der noch in der dritten Altersgruppe das vorgeschriebene Mindestmaß nicht erreicht hatte und daher aus der Stellungsliste gelöscht wurde, über sich und einen anderen, welcher »für immer untauglich« war. Die einstige Erleichterung färbt noch den Tenor der Niederschrift, in der auch das Feiern dieser Befunde thematisiert wird.3° Umgekehrt ist in den Quellen etwa davon die Rede, daß die Assentierung (Einberufung) zum Militär für einem selbst und die Herkunftsfamilie »traurig« bzw. »ein Streich« war, da damit für Jahre ein »Verdiener« wegfiel;31 daher »bereitete das Wort >tauglich< nicht im mer die größte Freude«, selbst wenn diese Zuschreibung durchaus ihre subjek tive Bedeutung hatte: »Wenn es auch bei den Burschen einen gewissen Stolz hervorrief, körperlich tauglich zu sein, so waren doch diejenigen am meisten lustig und froh, die als untauglich befunden wurden und so dem Militärdienst entrinnen konnten.«32 Trotz solcher verbreiteten Einstellungen zum Militär gab es selbstver ständlich auch junge Männer, die sich ihre Rekrutierung erhofften. In hinter lassenen autobiographischen Texten begründeten sie dies insbesondere mit der Möglichkeit, beim ivIilitär längerfristig unterzukommen und sich so eine gesi cherte Lebensgnmdlage aufbauen zu können: »Vielleicht wirst Du >behalten<, wirst Unteroffizier, dienst länger und wirst zum Schluß Beamter. Ein schöner Beruf - damals - allseits geachtet, sicher bezahlt - auch damals - und - Al tersversorgung!«33 Eine solche immer wieder dokumentierte Erwartung war nur die andere Seite eines ähnlich motivierten Kalküls: Was ein Teil der Män ner offenbar bedauerte, nämlich den durch die Erfüllung der Wehrpflicht hinaus geschobenen eigenen Verdienst, war hier längerfristig Anlaß zur Hoff nung. Beides verweist auf die von Connell betonte Bedeutung ökonomischer Verhältnisse bzw. des Arbeitsmarktes für die Aneignung von Männlichkeits konzepten, was die ausgewerteten Selbstzeugnisse somit eindringlich belegen. Sie zeigen, daß das Militär bzw. der Militärdienst auch im Zeitalter der Allge meinen Wehrpflicht in Relation zu den materiellen Bedingungen und Chancen 29 30 31 32 33
Schuster, 1 986, 55; auch Doku·MS von Lippert, 5. Doku-MS von Hahn, 1 3. Doku-MS von Kowatsch, 9. Doku-MS von Lippen, 3. Doku-MS von Macher, 6.
1 12
CHRISTA HAMMERLE
gesetzt wurde; sich darin zu behaupten bzw. eine »gute« Arbeitsmöglichkeit z u finden und eine eigene ökonomische Existenz aufzubauen war ja letztlich auch eine unabdingbare Voraussetzung, um schließlich als vollwertiger, erwachsener »Mann« zu gelten.
4. Männlichkeit und aktiver Wehrdienst
Auch eine andere von Roben W. Connell erläuterte Dimension begegnet uns in Selbstzeugnissen ehemaliger k. Cu.) k. Mannschaftssoldaten ständig - näm lich jene der Gewalt. Die Rede ist hier nicht nur von struktureller Gewalt, wie sie dem militärischen System immanent ist, sondern auch von unmittelbar erlebter, körperlicher Gewalt, die v. a. für die erste Phase des Militärdienstes thematisiert wird. Sie markierte wohl am drastischsten jenen Erfahrungsbruch, den der Eintritt in das Militär zunächst nach sich zog - und zwar nicht nur für die jungen Männer aus besonders entlegenen bzw. kulturell stark eigenständi gen Gebieten der Monarchie. Ganz prinzipiell begann in den Kasernen für all diejenigen, denen zuvor aufgrund ihrer herausragenden Körperlichkeit noch besondere »Männlichkeit« attribuiert worden sein mochte, »ein Alltag, der durch persönliche Entmannung, grausame Gleichmacherei und Dressur ge kennzeichnet war« - wie es ein im sprachlichen Ausdruck geübter ehemaliger Einjährig-Freiwilliger umschrieben hat.34 Weniger privilegierte Männer erinner ten ihre anfängliche Rekrutenzeit, die man gemeinhin die Zeit der »Abrich tung« nannte, zum Beispiel folgendermaßen: » Als Rekrut mußte ich sehr viel mitmachen [ ... ] In der Früh um 5 Uhr war Tagwache, rasch waschen, Kaffee holen, essen und dann in den Hof hinunter im Kreis aufstellen und Ge lenksübungen machen dann am Exerzierplatz welcher neben der Donau war abmarschieren und dort wurden wir dressiert und sekiert und geschlagen wir bekamen oft Ohrfeigen von dem Abrichter dann hart er uns oft mit seinen Gewehr auf die Zehen aLlfgestampft daß man glaubte die Zehen sind alle zerquetscht [...1 Ich machte bei den Pionnieren 3 Abrichtungen mit. [ ...] es waren alle 3 Abrichtungen eine Thierquälerei LInd noch da ZLI die Grobheiten von den Feldwebel und den Chargen.«35
Keinen Zweifel lassen diese Quellen somit daran, daß die militärische Diszipli nierung noch im Zeitalter der Wehrpflicht auch auf den von Connell zentral gesetzten Körper baute. Das geschah nicht nur durch das tagtäglich exzessiv eingeübte Exerzieren, Marschieren und das Wehrturnen, wodurch stets aufs
34 Breirner, 1 985, 66. 35 Doht-MS von Geissler, 89.
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Neue der von Connell thematisierte Schweiß produziert wurde. Hinzu kamen andere »körperreflexive Praxen«,36 deren Bandbreite auch die vielfach auf den Körper bzw. auf körperliche Arbeit bezogenen (Disziplinar-)Strafen beinhal tete, während Kameradschaftsstrafen oder »grobe Späße« häufig sexuell kon notiert waren und sich noch weit stärker v. a. gegen »die Weichlinge« bzw. »harmlose, verweichlichte Muttersöhnchen« richtetenY Auch so wurde der bislang nur zivil geformte, noch nicht zu voller »Männlichkeit« entfaltete Kör per des Rekruten zunächst degradiert und gefügig gemacht, um dann dem militärischen System Schritt für Schritt »einverleibt« werden zu können; erst der »abgerichtete« oder - wie es gegen Ende des 1 9. J ahrhunderts immer öfter hieß - »gestählte« soldatische Körper war für das militärische System funktio nal. Körperliche Mißhandlungen gehörten daher ungeachtet ihres Verbots als Auswüchse eigentlich mit zu jenen Praxen, die der Unterwerfung unter die militärischen Normen dienten. Sie waren logische Konsequenz eines Diszipli narsystems, das darauf zielte, die jungen Männer in einen »Zustand ständiger Kritisier- und Bestratbarkeit« zu versetzen.38 All das schloß eine auch von der Geschlechtergeschichte analysierte Feminisierung der Rekruten mit ein,39 die zusätzlich voran getrieben wurde, indem diese während ihrer Grundausbildung penibel auch eine breite Palette von weiblich konnotierten Tätigkeiten, wie das Uniformputzen, Flicken und Stopfen, Bodenreinigen und Bettenmachen erler nen mußten. Erst wenn das mehr oder weniger beherrscht wurde, fand schrittweise eine neuerliche Maskulinisierung statt, die auch Freiräume und partielle Befehlsgewalt gegenüber anderen, etwa den Neueingerückten, eröff nete - ganz nach dem Motto: »Nun war ich wirklich ein Macher 1 ... ]«40 Oder: >Jetzt war mir der [. . .] genannte Geschützvormeister untergeordnet, was ich ihn habe fühlen lassen.«(ll Der Prozeß der »Vermännlichung« bzw. der allmählichen Aneignung einer positiv besetzten soldatischen Identität beinhaltete somit auch stete Hierar chiebildung unter Männern, und damit den prinzipiell möglichen Aufstieg entlang einer großen Palette von Differenzen. Legt man das Augenmerk darauf, entschlüsselt sich das Militär ungeachtet seines starken Homogenisie rungsdruckes auch als eine Institution, die selbst unter Mannschaftssoldaten laufend Grenzziehungen provozierte - und zwar keinesfalls nur entlang der im Prinzip bereits nach der Grundausbildung stets möglichen Beförderung oder
36 37 38 39 40 41
Connell, 1 999, 79-84. Schuster, 1 987, 6 1 , 63. ßröckJing, 1 997, 24, in Anlehnung an die Theoreme Michel Foucaults. Vgl. z . ß. Däniker / Rl'chner, 1 995, sowie die Forschllngsbilanz bei Hämmcrle, 2000, 241 Doku-MS von Geissler, 1 33. Dokll-MS von Cochnar, 8.
f.
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Ernennung. Zusätzlich zum militärischen Rangsystem oder auch als Gegen strategie dazu, bot sich im Laufe des Wehrdienstes eine Bandbreite von Mög lichkeiten, die es erlaubten, sich gegenüber anderen abzugrenzen und damit innerhalb eines vielschichtigen hierarchischen Systems mit Gewinn zu positio nieren. Die Kategorie Geschlecht verwob sich hierbei mit anderen Kategorien, wie Alter, Ethnizität oder Regionalität, die ebenfalls ein )>Unten« und »oben« schufen. So wurde die Männlichkeit des einen immer höher gesetzt als dieje nige von anderen, die man damit mehr oder weniger stark stigmatisierte; die angesprochene Feminisiemng der Rekruten ist eine solche Form der Abwer tung. In der deutschen Soldatensprache der k. Cu.) k. Monarchie gab es für sie nicht von ungefähr u. a. die Schimpfwörter »Frischlinge«, »Greanlinge«, »jun ges Luder«, »nasser Pinscl1« oder »Spinatwachter«, die alle eine Abwertung markieren; sie mochten sich für manche unter ihnen fortsetzen in der Titulie mng der trotz aller »Abrichtung« »unstramm« gebliebenen Soldaten als »ange zogener« oder »ausgeliehener Zivilist«, »Lapp« oder »Patsch«, bzw. in Begriffen wie »Tintenlecker«, »Sesselreiter« und »Kanzleifuchs« für jene, die nach ihrer Rekrutenzeit in den Schreibbüros dienten und dort Erleichterungen genos sen.42 Im Kasernenalltag boten sie damit ebenso eine Angriffsfläche wie das Differenzmerkmal Erfolg oder Mißerfolg in den Mannschaftsschulen, die Lernwillige oder Männer mit guten Lese- und Schreibkenntnissen von jenen schieden, die dies nicht hatten, gar Analphabeten waren. Letztere wurden natürlich weit seltener in die Unteroffiziersschulen kommandiert, was die Auf stiegsmöglichkeit verminderte - und sie am unteren Ende der Skala mit ande ren gleichsetzen mochte, die im militärischen Disziplinarsystem überhaupt nicht reüssieren konnten, eine »schlechte Conduite« hatten bzw. bei ihrer Kompagnie aus der Strafe nicht herauskamen. Im Falle militärgerichtlicher Verurteilungen verlängerte dies ihre Dienstzeit und konnte zur Degradierung führen. Eine weitere Möglichkeit zur Differenzziehung unter Soldaten bot, neben dem wichtigen Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Jahrgang bzw. zu einer Altersgruppe, auch die Zugehörigkeit zu einer Waffengattung, was etwa bei Manövern oder in den Gasthäusern der Garnison zum Tragen kam: Diesbe züglich galt die Infanterie jedenfalls weniger als die Artillerie und die Kavalle rie. Auch die Unterscheidung zwischen einzelnen Regimentern mit mehr oder weniger Ansehen und Tradition hatte im Umgang der Soldaten untereinander Gewicht. Sie konnte sich, wie alle schon angeführten Scheidelinien, mit dem Kriterium der ethnischen Differenz verbinden, so daß z. B. jene Regimenter, deren Soldaten sich vorwiegend aus Bosnien-Herzegowina, U ngarn, Kroatien, 42 Commenda, 1 976, 41 f., 49, 80.
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Galizien und der Bukowina rekrutierten, in der deutschen Soldatensprache häufig einfach als »Tschuschenregimenter« bezeichnet wurden - während um gekehrt die traditionsreichen Tiroler Kaiserschützen, weil man sie nach 1 868 in die österreichische Landwehr integrierte, von den »Vollzeitsoldaten« abschätzig als bloßer »Schützenverein«, »fliegende Gebirgsmarine« oder »berittene Milch weiber« taxiert wurden.43 Das alles verweist beispielhaft auf eine große Bandbreite von Differenzer fahrungen, durch die sich viele Wehrpflichtige, ungeachtet der meist drastisch negativ erlebten Rekrutenzeit, in einem häufig widersptuchsvoUen individuel len Prozeß schließlich doch eine positiv besetzte soldatische Männlichkeit aneigneten; ein Gutteil der von mir zitierten Männer wurde sogar zum »tüchti gen« U nteroffizier. Bei der Analyse der Gründe dafür half mir das Con nell'sche Konzept nur ansatzweise: insofern, als es mich - wie im Ü brigen auch feministische Wissenschafterinnen44 - auf die Materialität des Körpers und die Bedeutung der Ö konomie velwies; die Akzeptanz und Verinnerli chung von Männlichkeitskonstruktionen läßt sich somit keinesfalls auf die Wirkmacht von Diskursen reduzieren. Weiters konnte ich in Anlehnung an Connell das Militär auch in Hinblick auf die Mannschaftssoldaten als ein Feld konzipieren, in dem verschiedene Formen von Männlichkeit ebenso wie Un männlichkeit, die ihrerseits Weiblichkeit konnotiert, in Kraft sind. Zwischen diesen divergenten Ausprägungen des sozialen Geschlechts existieren Abstu fungen und eine strikte Hierarchie, die mit Macht, auch mit Gewalt, oder durch Stigmatisierung erzeugt, in Gang gehalten wird. Man kann daher in Anlehnung an Connell folgern, daß innerhalb des genau umgrenzten militäri schen Feldes selbst in der großen Gruppe der Mannschaftssoldaten mittels der von ihm beschriebenen Mechanismen des Ein- oder Ausschließens, Ein schüchterns, Ausbeutens etc. so etwas wie hegemoniale Männlichkeit gebildet und praktiziert wurde; sie soUte der »gemeine« Soldat am Ende seiner Ausbil dung verkörpern, sie sollte er dann, »ganzer Mann« geworden, auch nach au ßen tragen. Connells Ansatz erklärt aber nicht ausreichend, lJiie genau in diesem kon kl'eten Kontext dominant gesetzte l'vfännlichkeit angeeignet wird und warum. Genügt es, hierfür auf körperreflexive Praxen, auf Sexualität, Gewalt, Macht und Arbeit zu rekurrieren? Ich möchte zusätzlich zu solchen Dimensionen einen Erklärungsansatz favorisieren, welcher auch die - wissenssoziologisch definierte - Erfahrung45 der ja auch von Connell ständig konstatierten
43 Commenda, 1 976, 54 f, 57 f. 44 Vgl. Canning, 2000; Kienitz, 200 1 . 4 5 Vgl. dazu etwa Latzei, 1 998; Ziemann, 1 997.
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Differenzen unter Männern i n den Vordergrund stellt. D e r kurze Blick auf den Binnenraum .Militär sollte zeigen, wie wichtig solche Differenzerfahrungen der verschiedensten Art für die hier erfolgte Konstituierung soldatischer Männ lichkeit waren. Sie schufen letztlich erst jenen soldatischen Mann, der sich dann machtvoll auch gegen den zivilen Bereich abgrenzen und so seine milita risierte Männlichkeit zelebrieren konnte - sei es in den Gasthäusern und Stra ßen der Garnisonsstadt, wo Soldaten immer wieder allzu rasch il1t Seitenge wehr zogen, um ihre Ü berlegenheit zu demonstrieren, oder sei es während des Besuches in der Heimat, wo sie sich in ihren Uniformen stolz als »schneidige« Soldaten zu präsentieren trachteten.
5. Hegemonie militarisierter Männlichkeit? Auch gibt es Indizien dafür, daß ein abgeleisteter l'vlilitärdienst in den lokalen Gesellschaften mitunter einen Zugewinn an Männlichkeit bedeutete; der To pos vom Militär als »Schule der Männlichkeit« hatte durchaus eine reale Basis etwa dort, wo Unternehmer bevorzugt »gediente« l'vlänner einstellten, deren höhere Disziplin sie offenbar schätzten, oder weil einer Verehelichung nun nicht mehr das Hindernis der Stellungspflicht entgegenstand. Auch der Um stand, daß in Cisleithanien das allgemeine Männerwahlrecht im Jahr 1 907 ab dem 24. Lebensjahr eingeführt wurde, mag auf eine Korrelation zwischen dem abgeleisteten Präsenzwehrdienst und vollem Erwachsenenstatus verweisen. Reichen solche H inweise aber für die Aussage, daß sich auch in Ö sterreich Ungarn schon vor dem Ersten Weltkrieg eine H egemonie militarisierter Männlichkeit entwickelte, die alle anderen Männlichkeitskonzepte überstrahlte? Wurde der militärerfahrene Mann hier in der Tat zum mehrheitlich akzeptier ten Vorbild? Erhielt dieser eine Leitbildfunktion, obwohl er, wie ausgeführt, nur eine Minderheit seines J ahrgangs repräsentierte und nach dem Wehrdienst in der Heimat wieder mit jenen zusammen lebte, die dort andere, wohl ebenso positiv besetzte Männlichkeitsideale verkörperten - etwa als ungarischer Bauer, tschechischer Nationalist oder Sohn einer jüdischen Familie aus Galizien, der vom Militärdienst befreit worden war, um früh zum Familienerwerb beizutra gen? Zwar p rofitierten die »gedienten« Männer viel davon, daß die Bedeutung, das Ansehen und die öffentliche Präsenz des Militärs in jener Zeit auch in Ö sterreich-Ungarn stark zunahmen; das soll hier keinesfalls bestritten werden. Die Einführung d er Allgemeinen Wehrpflicht hatte eine massive Erhöhung des Friedens- wie des Kriegsstandes der Habsburgerarmee zur Folge, daher
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stiegen die dafür aufgewendeten Kosten erheblich. Dieser Umstand wurde politisch damit begründet, daß man sich gegenüber den europaweit zu beo bacl1tenden Aufrüstungs- und Militarisierungstendenzen nicht verschließen könne und auch die zunehmenden Spannungen im Innern wie an den Grenzen der Monarchie diese Entwicklung notwendig machten. Man führte zahlreiche neue und verbesserte Waffensysteme ein, wovon nicht zuletzt die heimische Rüstungsindustrie profitierte, und baute das stehende Heer, die Marine und die beiden Landwehren aus. Ab 1 886 wurde für den Kriegsfall sogar eine Landsturmpflicht für alle Männer zwischen 1 9 und 42 J ahren eingerichtet, was den Radius der potentiellen Militärpflicht stark ausweitete. Außerdem entstan den ab den 1 870er Jahren vielerorts Veteranenvereine, und Kaiser Franz J 0seph 1 . stilisierte sich erfolgreich als erster Soldat des Reiches, der einer ihm ergebenen, traditionsreichen und geeinten Armee vorstand. Inszeniert wurde das zu den verschiedensten Anlässen auch durch eine steigende Zahl von Militärparaden und durch militärische Denkmäler, deren Bau vorangetrieben wurde. Doch all der öffentlich inszenierte »Glanz der Montur«, all die zunächst »von oben« voran getriebenen politischen und ideologischen Bemühungen zur Bedeutungssteigerung des Militärs und des Militärischen stießen dort an ihre Grenzen, wo sie mit gegenläufigen konkreten Bedürfnissen, Interessen und Leitbildern der Menschen in Konflikt gerieten. Sie waren damit in ihrer Wirk macht ebenso begrenzt wie jener umfassende Anspruch des Militärs auf eine allgemein verbindliche Definition von Männlichkeit, den ich vorne analysiert habe. Noch stellte dies einen primär innermilitärischen Diskurs dar, der sich in anderen Feldern erst zu manifestieren begann. Daß es in einem gesamtge sellschaftlichen Bezugsrahmen in Ö sterreich-Ungarn damals noch keine He gemonie militarisierter Männlichkeit gab, soll zuletzt der Hinweis auf eine dramatische Zunahme der Anzahl all jener Männer belegen, die aus unter schiedlichen Gründen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als die skiz zierte Militarisierung »von oben« zweifels frei einen Höhepunkt erreichte, ihrer Stellungspflicht nicht nachkamen: Diese Rate stieg nun gegenüber den Jahr zehnten zuvor in manchen Regionen um weit mehr als 1 0 Prozent; sie betrug im J ahr 1 900 monarchieweit noch 9,4 Prozent, kletterte dann bis 1 905 auf immerhin 1 8,6 und 1 9 1 0 sogar auf 22,7 Prozent aller Stellungspflichtigen. Höchstwerte verzeichneten dabei Kroatien und Slawonien mit 45 Prozent, gefolgt von Galizien, Krain und Dalmatien mit 35 und Ungarn mit 25 Prozent. In den österreichischen Ländern betrug die Rate der bei der Stellung nicht anwesenden Männer damals hingegen nur noch zwischen 3 und 6 Prozent; hier hatte sich die Akzeptanz der Stellungspflicht im Untersuchungszeitraum
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kontinuierlich gesteigert, auch wenn vor dem Ersten Weltkrieg die Zahl der Abwesenden wiederum stieg.46 Das sollte nur beispielhaft demonstrieren, daß die gemeinsame k. (u.) k. Armee und die von ihr verkörperten Werte damals auch von vielen Menschen der Monarchie abgelehnt wurden. Dies ließe sich weiters anhand der zeitge nössischen Militarismuskritik, der vielen nationalistisch motivierten Demonst rationen gegen das Militär und der diesbezüglichen Konflikte im Reichsrat zeigen, wo die beantragten Erhöhungen des Militärbudgets und der Rekruten zahl öfters blockiert wurden. Auch das vermittelt ein Bild davon, wie um stritten das Militär damals in Ö sterreich-Ungarn war. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg läßt sich somit für dieses komplexe Staatsgefüge kein aus den Führungsebenen von »Wirtschaft, Militär und Politik« bestehender »Bund« ausmachen, der im Sinne Connells eine militarisierte hegemoniale Männlichkeit durchgesetzt hätte; zu groß waren hier wenigstens bis 1 906, als die Politik den langjährigen Forderungen der Militärs gegenüber nachgiebiger zu werden be gann, die Interessensgegensätze zwischen diesen Gruppen.47 Erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges erlangte die idealisierte Verbindung von Männlichkeit und Militär bzw. militärischen Werten auch in der Habsbur germonarchie eine nunmehr für mehrere Jahre hegemoniale Stellung. Erst jetzt, im Kontext der großen Kriegsbejahung und der verbreiteten Ansicht, man führe einen Verteidigungskrieg, wurden bislang nebeneinander beste hende oder konkurrierende Männlichkeitskonzepte unabdingbar in Relation zum Militär bzw. zur Wehrhaftigkeit der Männer gesetzt. Wer diese Form von Männlichkeit nicht zu repräsentieren vermochte, galt nun jedenfalls weniger als diejenigen, die in den Krieg zogen und für »Gott, Kaiser und Vaterland« ihr Leben riskierten. Diese Hegemonie militarisierter Männlichkeit, die begleitet war von einer »Renaissance« traditioneller Weiblichkeitsnormen, wurde tagtäg lich von zensierten Medien (re)produziert und mittels eines in Ö sterreich-Un garn besonders stark ausgeprägten kriegsabsolutistischen Systems lanciert womit sich Connells Hinweis auf Macht, mit der hegemoniale Männlichkeit letztlich durchgesetzt wird, bestätigt. Daß dies 1 9 1 4 so rasch und tief greifend gelang und in der Tat von einer Mehrheit der Menschen nicht nur akzeptiert, sondern auch gefordert und gelebt wurde, war allerdings nur möglich, weil der Boden bereits vorher aufbereitet worden war - auch wenn vor dem Krieg mehrere Männlichkeitsideale um H egemonie konkurrierten. In diesem Beitrag sollte deutlich gemacht werden, daß es stets notwendig ist, den konkreten Kontext zu klären, innerhalb dessen mit Connell's Konzept
46 Vgl. dazu die Tabelle in: Hämmerle, 2002, 2 1 3 . 4 7 Vgl. Hämmerle, 2002; Allmayer-Beck, 1 987, 1 29-14 1 .
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hegemonialer Männlichkeit gearbeitet wird. Wie weit fassen wir es, wo verliert sich sein heuristischer Wert, wie wird der »Inhalt« hegemonialer Männlichkeit definiert? Wenn damit letztlich nur auf das männliche Geschlecht generell bezogene Normen - von der Heterosexualität bis hin zur Aggressionsbereit schaft - gemeint sind, benötigen wir kein eigenes analytisches Konzept zur Bestimmung hegemonialer Männlichkeit; eine solche weit gefaßte inhaltliche Auffüllung hätte es mir wohl erlaubt, alle ethnischen, sozialen und religiösen Gruppierungen der Habsburgermonarcbie zu subsumieren. Je mehr jedoch in der historischen Analyse die Merkmale hegemonialer Männlichkeit konkreti siert und die Reichweite bzw. die Akzeptanz der sie (re-)produzierenden Dis kurse und Praxen hinterfragt werden, umso deutlicher zeigt sich, daß es meist mehrere hegemoniale Männlichkeiten gab48 - wenn nicht, wie in der Kriegsge sellschaft des Ersten Weltkrieges, eine spezifische Form auch mit staatlicher Macht und Gewalt durchgesetzt werden konnte. Das vermutet übrigens Con nell selbst, wie in seinem frühen Text »Masculinity, Violence and War« von 1 985, in dem er auch gegen sozio-biologistische Erklänmgsmuster für den Konnex zwischen Krieg, Mord, Vergewaltigung und tvrännlichkeit anschrieb: »At any given moment some forms of masculinity will be hegemonie - that is, most honoured anel most influental - and other forms will be marginalizeel or subordinateel.«49
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I<':'oloniale Vaterschaft zwischen Marginalisierung und Hegemonie Männlichkeiten in der entstehenden imperialen Gesellschaft Frankreichs ( 1 870-1 9 1 4)
Mare Sehindler-Bondiguel
,,\Vir dürfen nicht den - glücklicherweise unrichtigen - Eindruck erwecken, daß wir Unter schiede zwischen den Rassen machen, daß wir das Vorurteil über die niederen Rassen teilen. Das von einem französischen Vater und einer indigenen Frau geborene Kind hat die glei chen Rechte wie jedes andere Kind, um das wir uns sorgen: es muß vor den Risiken des Elends, der Degenerierung und des Todes geschützt werden,« 1
Mit diesen Worten versuchte Paul Strauss, Philanthrop, Sozialreformer und Senator im Jahre 1 9 1 2 ein letztes Mal, die Verabschiedung des Art. 4 der Ge setzesrefonn über die Legalisierung der im Code cilJi! zum »Schutze der Ehre und des Friedens der Familie« verbotenen Vaterschaftssuche zu verhindern. Der Art. 4 verfügte, daß es den jeweiligen Generalgouverneuren vorbehalten blieb, die Gesetzesreform alleine auf die Gruppe der » Franzosen aus Frank reich« oder auf die Gesamtheit der kolonialen Gesellschaften auszuweiten. Menschenrechtsgruppen und feministische Verbände kritisierten, daß das seit 1 870 in Frankreich und seit 1 9 1 0 in den französischen Kolonien diskutierte Gesetz Unterschiede zwischen menschlichen » Rassen« in das republikanische Recht einführe,2 Die Verabschiedung des Gesetzes im Jahre 1 9 1 2 wurde in der Historiogra phie mit der Erfindung einer » sozialen Vaterschaft« und einem » Ende der Patriarchen« gleichgesetzt, als ein Prozeß der kulturellen Aufwertung weibli cher Geschlechterkonzepte oder der zunehmenden Dominanz sozialer über zivile Rechte im Zuge des entstehenden Wohlfahrtsstaates gedeutet.' In die sem Beitrag soll die » republikanische Vaterschafts frage« als ein Ausdruck der Krise der Geschlechterordnung analysiert werden, die sich gegen Ende des 1 9. Jahrhunderts infolge von gesellschaftlichen Demokratisierungs-, Feminisie rungs- und Ethnisierungsprozessen manifestierte. Die mit ihr verbundene Infragestellung männlicher und ethnischer Virilität dynamisierte die Ge-
1 Strauss, 1 91 2, 1 344. AUe Ü bersetzungen aus dem Französischen vom Autor dieses Beitrags. 2 Vgl. Pedersen, 1 998, 57-64. 3 Vgl. Offen 1 984, Knibiehler, 1 987, RoUet-Echalier, 1 990 und Cabantous 2000.
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schlechterordnung durch die Aneignung ethnischer Kategorien als kollektive Ressource männlicher Herrschaft. Männlichkeiten in der kolonialen Sphäre leisteten einen wichtigen Beitrag zur Ethnisierung der Geschlechterordnung der entstehenden imperialen Gesellschaft. Am Vorabend des Ersten \XTeltkrie ges trug die Rückeroberung männlicher und ethnischer Virilität durch Koloni sation zur Konstruktion regenerierter männlicher und nationaler Wehrhaftig keit bei, in der ein neues Konzept von ethnischer Vaterschaft zur Geltung kam.4
1 . Der koloniale Mann als Gegenentwurf zur Krise der Geschlechterordnung Die Geschlechterordnung Frankreichs unterlag um die Jahrhundertwende einer ausgeprägten Krisentendenz. Die noch in weiten Teilen des 1 9. J ahrhun derts dominierende patriarchalische Organisation des Nationalstaats wurde zum einen durch das Vordringen von Frauen in den öffentlichen Raum und die republikanische Sozialreform infrage gestellt, die auf eine tendenziell ge schlechteregalisierende N ormalisierung innerfamiliärer Geschlechterbeziehun gen zielte.5 Ein Aufweichen der kategorialen Grenzziehungen des bipolaren Geschlechtermodells vollzog sich zum anderen auf der Folie der Prozesse nationaler Vergemeinschaftung und des zunehmenden Enflusses biologisti scher Gesellschaftsmodelle auf Wissenschaft und Politik. N ormative Konzepte von Männlichkeit und männliche Identitäten traten mit einem biopolitischen Imperativ in Konflikt, der die Geschlechterordnung im I nteresse der französi schen N ation und »Rasse« bewertete und regulierte.6 »Rasse« - Nation Männlichkeit als wirkungsmächtige diskursive Formation der Jahrhundert wende war eine Folie, auf der Männlichkeiten zugleich infragegestellt, ausgehandelt und neuentworfen wurden. Die Themen der hohen Kindersterblichkeit und der niedrigen Fruchtbar keitsrate dominierten die politisch wissenschaftliche Ö ffentlichkeit seit der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts. Sie galten als Anzeichen für die morali sche und physische Degeneration der französischen Nation. Das Kollektiv4 Für den Begriff der »imperialen Gesellschaft« vgl. Charle, 200 1 , 1 6-28. Für das Forschungs desiderat neben der Klasse auch die » Rasse« als analytische Kategorie zur historischen Untersuchung von Vaterschaften und Väterlichkeiten mit einzubeziehen vgl. Griswold, I <)<)\), 253. 5 Vgl. beispielsweise Rauch, 2000, 7-1 8. 6 Vgl. Accampo, 1 995, 3-9, und Nye, 1 993, 72- 97.
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trauma der Niederlage i m Deutsch-Französischen Krieg von 1 870/7 1 über führte dieses biopolitische dirpo.ritif in ein quasi-pathologisches Gesellscha fts_ phänomen, das von den politischen und kulturellen Eliten mit einem Verlust nationaler Virilität und der Dekadenz der lateinischen bzw. französischen »Rasse« gleichgesetzt wurde.7 Philanthropische Kinderschutzgesellschaften, in denen sich ein wichtiger Teil der bürgerlich republikanischen Eliten zwischen privater Wohltätigkeit und ö ffentlicher Fürsorge engagierte, definierten den Kinderschutz als ein Problem von vitaler Bedeutung für N ation und »Rasse.« Mit der republikanischen Kinderschutzgesetzgebung (1 874-1 9 1 2) , an der sie im »Feld der Sozialreform« (Christian Topalev) aktiv als Ärzte, Experten und Senatoren beteiligt waren, konnte Vätern, die durch notorisches und skandalö ses Fehlverhalten die Gesundheit und die Sittlichkeit ihrer Kinder geEihrdeten , die väterliche Verfügungsgewalt entzogen werden. Patriarchalische Rechte und soziale Privilegien französischer Männer wurden durch eine Aufwertung der Rechte des Kindes und der Rechte der staatlichen Biomacht begrenzt.8 Der Definition des Kindes als humanes und nationales Kapital entsprach die Erfindung seiner doppelten Abstammung, die in die Gesetzestexte eingeschrie ben wurde: eine familiär-väterliche Abstammung durch die Blutsverwandt schaft und eine ethnische Abstammung durch die Zugehörigkeit zur franzö sischen Nation. Für Philanthropen und Sozialreformer war diese Gesetz gebung eine gesellschaftliche Strategie, um die Regeneration der N ation und der »Rasse« herbeizuführen.9 Erste Statistiken über die männliche Geburten rate und Studien über die sozialen Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit zeugten von einer Krise zugleich männlicher und ethnischer Virilität. Der individuelle und kollektive männliche Gattungskörper, der sowohl auf soziale als auch ethnische Reproduktionsqualitäten verwies, nahm Gestalt an. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs forderte die einflußreiche Alliallce 11ationale pOllr l'accroi.rcllIeJlt de la popttlatiofl fral1faise von jedem französischen Mann die nationale Pflicht ein, mindestens drei Kinder zu zeugen. Die »Vaterschafts pflicht« wurde als ein wichtiger Beitrag zur Herstellung nationaler Wehr haftigkeit definiert. 10 Die koloniale Expansion Frankreichs war am Ende des 1 9 . Jahrhunderts für französische Männer des Bürgertums und des niederen Adels zu einer Möglichkeit geworden, Virilität, Ehre und Mut unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig bot sie Gelegenheit, dem Häuslichkeitskult und der kulturellen Aufwertung weiblicher Geschlechterkonzepte eine männliche Vision der Welt 7 8 9 10
Vgl . Vgl. Vgl. Vgl.
Rollet-Echalier, 1 990, 1 0-1 2 und 22, Fuchs, 1 995, 93. Knibichlcr, 1 987, 292-296, Rollet-Echalier, 1 990, 1 38-139, und Accampo, 1 995, 25-26. Rollct-Echalier, 1 990, 24-25 und 1 1 3-139, und Fuchs, 1 995, 83 und 95-97. Nye, 1 993, 72-97, Planen, 2000, 546-548 uod Boverat, 1 9 1 3, 36 1 .
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entgegen zu setzen. 1 1 Mit den militärischen Eroberungsfeldzügen in lndochina und Madagaskar gewann der koloniale soldatische Heroismus an kultureller und geschlechtlicher Bedeutung. Die Hoffnung auf nationale Erneuerung und auf »die Regeneration unserer Rasse« konzentrierte sich zunehmend auf den soldatischen kolonialen Mann, der die Ehre Frankreichs in Ü bersee aktiv ver teidigte und eroberte. Im Prisma der sogenannten nationalen Entvölkerungs krise und der Krisentendenzen der Geschlechterordnung entstand ein neuer imperialer Diskurs, der die Wiedererlangung ethnischer und männlicher Virili tät durch Kolonisation propagierte.lz I n Kreisen der bürgerlichen Eliten setz ten sich zwei, mal komplementäre (Ies bdti.rseurs de I'empire), mal konkurrierende (national-royalistisch vs. republikanisch) Entwürfe hegemonialer kolonialer Männlichkeit durch: die soldatische koloniale Männlichkeit (kolonialer Ofti zier, Befreier, Mann der Tat), die an das Ideal des virilen Kriegers anknüpfte, und die republikanische koloniale Männlichkeit (Reformer, Philanthrop, Leh rer, Arzt), die sich an der bürgerlichen Sozialreform orientierte. 13 Beide Ent würfe grenzten sich ab von der patriarchalischen und abenteuerorientierten kolonialen Männlichkeit des 1 9. Jahrhunderts, von proletarischen Männlich keiten und von indigenen Männlichkeiten. Sie zielten ebenso auf die Errich tung einer rationalen bürgerlichen Ordnung in den Kolonien, die die beste hende Organisation der »Rassen«- und Geschlechterbeziehungen in Frage stellte. Beide Entwürfe verband letztlich die Suche nach einer Strategie, männ liche I dentitäten durch die Rückerorberung geschlechtlicher und ethnischer Virilität in den Kolonien neu zu entwerfen und männliche Herrschaft in der entstehenden imperialen Gesellschaft zu konsolidieren.
2. Die Mischlings frage in Indochina und Madagaskar (1 894-1 9 1 4) - Philanthropisches Ordnungsschaffen als Entwurf hegemonialer Männlichkeit In französisch Indochina und in Madagaskar wurden um 1 900 sog. philanth ropische Kinderschutzgesellschaften gegründet. In ihnen sammelte sich ein Teil der bürgerlichen Kolonialeliten laizistischer oder konfessioneller Prägung, die sich in der homosozialen kolonialen Sphäre für die Lösung der Frage ille gitimer l'vIischlingskinder einsetzten. Diese vom französischen Vater rechtlich 11 12 13
Vgl. Cohen, 1 971 , 5 5-56 und Knibiehler/Goutalier, 1 985, 1 7. Vgl. Loutfi, 1 9 7 1 , 74-1 1 7 , Ageron, 1 978, 94-98 und Horne, 1 998, 27-29. Vgl. Giradet, 1 972, 1 36-138, Conklin, 1 997, 5-8 und Bancel/B1anchard/Verges, 2003, 86-88.
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nicht anerkannten und moralisch vernachlässigten Kinder indigener Frauen, die teils im europäischen, teils im indigenen Milieu aufgewachsen waren, durchbrachen die dichotome koloniale Ordnung auf vielfältige Weise: sozial, rechtlich und »rassisch«. Nach anthropologischen Kriterien galten sie als mo ralisch und physisch instabile Hybride, nach dem republikanischen Kolonial recht waren sie »Eingeborene«, obwohl sie von einem französischen Vater abstammten, ihre soziale Situation konterkarierte vielfach die für die koloniale Herrschaft konstitutive Ü bereinstimmung zwischen »rassischer« Zugehörigkei t und sozialem Status.14 Das philanthropische Ordnungsschaffen in der kolonia len Situation zielte darauf ab, die soziale, rechtliche und ethnische Identität der Mischlingskinder in Ü bereinstimmung zu bringen: sie sollten entweder zu »Europäern« oder zu »Eingeborenen« gemacht werden. Während in Madagas kar unter dem Vorzeichen der 1 897 von General Gallieni etablierten »Rassen poEtik« die Kinder am Abend und in den Ferien in ihren indigenen Familien belassen wurden, um die Entstehung einer dritten und gefahrlichen, hybriden »Rasse« zu verhindern, sollten sie in lndochina durch eine U nterbringung in französischen Pensionaten und Schuleinrichtungen vollständig »europäisiert« werden. Gesonderte Segregations- und Ü berwachungs bedingungen und ihre europäische Erziehung, die eine französische Mentalität und französische Werte vermitteln sollte (Arbeit, Ehre, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Beschei denheit), galten als die Voraussetzung für die rituelle Reinigung des »rassisch« und kulturell Hybriden von »asiatischen« Atavismen. 15 Für die Philanthropen stand fest, daß die »Rettung von Körper und Geist« der Kinder dazu beitragen sollte, der französischen Nation neue Soldaten, Staatsbürger und eine »Kraft und Lebensreserve« zu schenken.16 Nach anfanglichen Bestrebungen, die MischEngskinder aufgrund des »europäischen Blutes in ihren Adern« kollektiv zu naturalisieren, setzten sich »rassenpolitische« Konzepte in Diskurs und Praktiken der Philanthropen nach der Jahrhundertwende durchP Der philanthropische Beitrag zur »Rassialisierung« der kolonialen Gesellschaften bestand in der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Gruppen von illegitimen MischEngskindern (assimilierbar - nicht assimilierbar, europäisierte Elite indigene Masse), deren jeweiliges Assimilationspotential nun entlang kulturel-
14 Zm rechtlichen Problematik der Mischlingsfrage vgl. Saada, 1999 und Saada, 200 1 . 1 5 Vgl. Socü:te d'Assistance e t d e Protection des Enfants Metis, 1 907, CAOM/GGM (Centre des Archives d'Outre-Mer/Gouvernement General de Madagascar) 6D ( 1 0) 4 und J ully, 1 905, 526. Für Indochina vgl. Schindler-Bondiguel, 2004. 16 Vgl. Societe de Protection ct d'Edncation des jcuncs Metis fran,ais cn Cochinchine et an Cambodge (SPEMCC), 1 896, CAOM/GGI (Gouvernement General de J'lndo-Chine) 770 1 . 1 7 Vgl. Seville, 1905, 228 und Paris, 1 904, 6. Vgl. weiter Betts, 1 96 1 , 5 9 und Ageron, 1 978, 2 1 8219.
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ler, geschlechtlicher und »rassischer« Kriterien definiert wurde. Die »rassische« Zugehörigkeit, die Sozialisation im europäischen oder indigenen Milieu und die Erziehung durch einen französischen Vater oder eine indigene Mutter wurden zu zentralen Faktoren für die nationale 1n- beziehungsweise Exklusion der illegitimen .Mischlingskinder.18 Das philanthropische Ordnungsschaffen war Teil der Durchsetzung einer weißen bürgerlichen Ordnung im kolonialen Gesellschaftsgefüge. Diese »Bio politik des Empire« (Ann Stoler), in der europäische Normen des Familienle bens, der Kinderziehung und der Sexualität als inner- und interethnische Klas sen- und »Rassengrenzen« implementiert wurden, dynamisierte die koloniale Geschlechterordnung. 19 Im Diskurs der indochinesischen Philanthropen wur den indigene Frauen systematisch zu »unwürdigen Müttern« erklärt und ihrer Mutterrechte mit der Begründung enthoben, sie gehörten einem moralisch und »rassisch« degenerierten Milieu an, das der Entstehung von Kriminalität und Prostitution Vorschub leiste. Während indigene Mütter den Philanthropen oft selbst als notorische Prostituierte galten, die ihren Kinder ein schlechtes Bei spiel an Ausschweifung, Faulheit und Unmoral gaben, wurden indigene Män ner als lasterhafte und »miserable Zuhälter« stigmatisiert. Indigene Mutter rechte wurden durch die systematische Herauslösung der Kinder aus dem indigenen l'vlilieu und durch die Ü bertragung der Vormundschaft an die Phi lanthropen negiert.20 Ein in den Jahren 1 903 bis 1 905 von den Philanthropen beklagter indigener Prostitutionshandel mit Mischlingsmädchen, denen das »europäische Blut« in ihren Adern angeblich zum Verhängnis wurde, bedrohte die symbolische Macht französischer Männer über ihre kolonisierten Ge schlechtsgenossen. Diese stellten als »Zuhälter« und Klienten die Fähigkeit »weißer« l\Iänner zur Kontrolle und zum Schutz »weißer« Frauen in Frage, die konstitutiv für die geschlechtliche und ethnische Identität französischer Män ner war.21 Von den Kolonialgerichten und Kolonialbehörden forderten die indochinesischen Philanthropen wiederholt ein hartes Vorgehen gegen franzö sische Männer in subalternen Funktionen der Kolonialverwaltung und --armee, die sexuelle Dienste von Mischlingsmädchen gegen Bezahlung in Anspruch nahmen oder diese indigenen Müttern abkauften und vorübergehend zu sich nahmen.22 Das sexuelle und soziale Verhalten französische Männer unterschiedlicher sozialer Herkunft wurde für das Anwachsen der Mischlings population und die Destabilisierung der kolonialen Ordnung verantwortlich 18 19 20 21 22
Vgl. Schindler-Bondiguel, 2004. Vgl. Stoler, 1 992, 5 16. Vgl. SPEMCC, 1 896 und Momagne, 1 903, beide in CAOM/GGI 770 1. Vgl. Paris, 1 904, 1 5 1 CAOM/GGI 77(H. Vgl. weiter Stoler, 1991, 67-70. Vgl. Montagne, 1903, CAOM/GGI 770 1 .
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gemacht. Dahinvegetierende, verwahrloste, mit den Haustieren der »Eingebo renen« lebende und mit niederen Hilfsarbeiten betraute Mischlingskind er stellten die für die koloniale Herrschaft konstitutive Ü bereinstimmung von sozialem Status und ethnischer Zugehörigkeit in Frage. Ein Philanthrop aus Tongking beklagte 1 9 1 1 , daß es skandalös sei, daß Kinder französischer Kolo nialoberster »Eingeborene« mit einer Rikscha durch die Straßen zögen. Das Entstehen eines »halbweißen Proletariats« treffe die »Beherrscher im H erzen ihres Prestiges und ihrer Autorität«, betonte der Präsident der kambodschani schen K.inderschutzgesellschaft 1 9 1 3,23 Das Ordnungsschaffen der Philanthropen war mit dem Ziel verbunden, die koloruale Herrschaft respektabel zu gestalten. Das Prestige, die Würde und die Autorität der kolorusierenden Nation gründeten auf der Behauptung einer zugleich ethischen und ethnischen Superiorität. Der moralische Einfluß der »Beschützerrasse« auf die »unterworfenen Rassen« stand im Zentrum des re publikaruschen Kolorualdiskurses. Kolonisieren zeichnete sich in dieser Per spektive durch »Handlungen einer tadellosen Gradlinigkeit« aus, in denen Rechtschaffenheit, Beharrlichkeit und Wohltätigkeit übereinstimmten. Ver stöße gegen diesen moralischen Ehren- und Verhaltenskodex liefen Gefahr, so ein Philanthrop 1 9 1 3, von den »Eingeborenen« als ein moralischer »Fehler der weißen Rasse« identifiziert werden.24 In der M.ischlingsfrage richtete sich die philanthropische Kritik insbesondere gegen zwei Gruppen kolorualer Männer. Weiße Unterschichtmänner (Zeitarbeiter, Soldaten, subalterne Kolonialfunkti onäre) wurden systematisch als >>unaufrichtige und entartete Europäer« be schrieben, die für das Prestige und die Autorität Frankreichs gefahrlich waren. Beamte und M.ilitärs aus dem gehobenen bürgerlichen M.ilieu wurde sexuelle Doppelmoral, Karrierestreben und männlicher Egoismus vorgeworfen. Gegen sie forderten die Philanthropen ein besonders hartes Durchgreifen, weil, so der Präsident der kotschinchinesischen Gesellschaft 1 904, das »skandalöse« Ver halten der Repräsentanten der öffentlichen Ordnung zu einem doppelten »Verstoß gegen unser europäisches Prestige, unsere nationale Ehre« führe.25 Die Form hegemonialer kolorualer Männlichkeit, die die Philanthropen in den kolorualen Gesellschaften durchzusetzen versuchten, gründete auf den Werten weißer bürgerlicher Respektabilität und auf den sozialen Tugenden philanthro pisch-paternalistischer Wohltätigkeit (Fürsorge, Großzügigkeit, soziale Ver antwortung, Empathie und Uneigennützigkeit).26 In ihrer Selbstrepräsentation 23 Vgl. Gravelle, 1 9 1 3, 31 lind Oe POllvollrville, 1 9 1 1 . 2 4 Vgl. Crevost, 1 898, 5, CAOM/GGI 7701 11nd Sambllc, 1 91 4, 1 2. 25 Vgl. Crevost, 1 898, 45, Monmgne, [ohne JahresangabeJ, I, beide in CAOM/GGI 7701 lind Paris, 1 904, 5. 26 Vgl. Ollprat, 1 994 lind Topalev, 1 999, l i-58.
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als koloniale Männer beschrieben sie sich beständig als »großmütige Beschüt zer«, als Verteidiger der nationalen Ehre und des nationalen Prestiges.27 Eine respektable Form kolonialer i\Iännlichkeit, so wie sie ein Philanthrop am Bei spiel des Generalgouverneurs Paul Doumer (1 897-1 902) beschrieb, beruhte auf sozialer Reputation und einem ganzheitlichen Männlichkeitskonzept. Seine Person verkörperte neben unermüdlicher Arbeit, Bildung und Intelligenz ebenso eine »außerordentlich ehrenhafte private Lebensführung« und verei nigte einen »großen Bürger, einen hervorragenden Staatsmann und einen vor bildlichen Familienvater« in sich. Der ideale koloniale Mann war in diesem Sinne ein Elitenmann, der sich durch moralische Integrität, ein gehobenes Bildungsniveau und durch die Abwesenheit von »Sittenlosigkeiten gegenüber den Farbigen« auszeichnete.28
3. Ethnische Vaterschaft als hegemoniale Männlichkeit: Die Geburt einer imperialen Geschlechterordnung? Unterstützt von der obersten Kolonialadministration setzten die indochinesi sehen Philanthropen in den Diskussionen über das republikanische Vater schaftsgesetz zwischen 1 9 1 0 und 1 9 1 2 ihre Konzeption französischer Vater schaft gegen Vertreter der patriarchalischen kolonialen Männlichkeit des 1 9. Jahrhunderts durch. Dieser Entwurf ethnischer Vaterschaft gründete sowohl auf U nterscheidungen zwischen kolonialen Unterschichts- und Elitemännern, die auf innergeschlechtliche Hegemonie zielten, als auch auf ethnischen Dis tinktionen von indigenen Vätern, die, weil im philanthropischen Diskurs als die »besseren« Väter repräsentiert, französische Männlichkeit zu marginalisie ren drohten. In Madagaskar lehnte die oberste Kolonialadministration die Ausweitung des republikanischen Vaterschaftsgesetzes 1 9 1 0 ab. Die Dissozia tion von Staats-, Familien- und Kolonialrecht führte jedoch in den Jahren 1 9 1 2 und 1 9 1 3 z u einem Konflikt zwischen männlichen und kolonialpolitischen Interessen, als drei koloniale Väter ihre l\fischlingskinder nachträglich rechtlich anerkennen wollten.
27 Vgl. Bonifacy, 1 91 1 , 36 und Scville, 1 905, 228. 28 Vgl. Montagne, 1-2 und 1 3- 1 4, CAOM/GGI 770 1 .
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3. 1 Indochina: Koloniale Vaterschaft zwischen Marginalisierung und Hegemonie Für die Philanthropen war die Ausweitung des Vaterschaftsgesetzes auf die koloniale Sphäre ein Mittel, französischen Männern die Verpflichtung aufzu erlegen, ihre Mischlingskinder rechtlich anzuerkennen und europäisch zu er ziehen: Sie sollten sich wie Väter und nicht wie »Männchen« verhalten. Die Zahl der Konkubinate und der Mischlinge, so hofften sie, werde abnehmen. 29 Das moralische Fehlverhalten französischer Väter wurde für 'den Verlust nati onaler Virilität und für die moralische Destabilisierung der kolonialen Herr schaft verantwortlich gemacht. Ein Philanthrop beklagte: .,Die Vernachlässigung illegitimer Mischlingskinder durch ihre französischen Väter wurde von den Annamiten oft genug festgestellt, so daß sie nun eine erbärmliche Meinung von uns haben, Wir, die nicht aufhören uns mit unserer zivilisatorischen Rolle im Fernen Osten 7.u brüsten, sind unter bestimmten Gesichtspunkten dem annamitischen Volk, das wir unter unsere Herrschaft unterwOl'fen haben, weitaus unterlegen. [ ...] Unsere Sitten und Institutio nen si.nd in Bezug auf die Familienbeziehungen dem ehemaligen annamitischen Königreich wahrlich unterlegen, davon zeugt die selbstverschuldete Entvölkerung, clie eine der brrößten Gefahren ist, die Frankreich bedroht.«3o
Zeitgenössische ethnologische Studien über die »geheiligte Kindheit« in den indigenen Gesellschaften Indochinas, die die »natürliche« Freude beschrieben, mit der incligene Familien ihre Kinder empfingen, stützten die philanthropi sche These von der ethischen Inferiorität französischer Väter.31 Männlichkeit und Mann-Sein, Vaterschaft und Väterlichkeit wurden am Diktum der zugleich ethischen und ethnischen Superiorität der kolonisierenden N ation bemessen und umgekehrt. In der kolonialen Situation war der französische Mann nicht nur ein Repräsentant (s)einer sozialen Klasse, sondern ebenso einer horizon talen Kategorie, (s)einer Nation beziehungsweise »Rasse.« In der Mischlings frage befürchteten die Philanthropen eine Marginalisierung französischer Männlichkeit, denn hegemoniale Männlichkeit war in der kolonialen Sphäre gleichbedeutend mit ethnischer Hegemonie. Die Vernachlässigung der Kinder galt als ein A ffront gegen die »respektablen Gebräuche und Gesetze der An namiten«, ethnologische Studien schienen eine ethische Superiorität indigener Vaterschaft zu beweisen, war es hiernach doch der Vater, der als »AlIeinerzeu ger« das Kind in der Brust der Mutter deponierte und seinen Clan und seine »Rasse« festlegte.32 Französische Vaterschaft und Väterlichkeit wurde durch 29 Vgl. Montagne, 9-13, CAOM/GGI 770 1 , Bonifacy, 1 9 1 1, 34 und Sambuc, 1 9 1 3, 53, 30 Montagne, 8-9, CAOM/GGI 770 1 . 3 1 Vgl. Bonifacy, 1 9 1 1 , 37. 32 Vgl. Bonifacy, 1 9 1 1 , 30.
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den systematischen Vergleich mit der Figur des aufopferungsvollen indigenen Vaters entworfen. Indigene Väter zeichneten sich hiernach durch eine »natürli che« Liebe ihren I
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Mischlingskinder und indigene Frauen, aus denen Ansprüche gegenüber fran zösischen Männern erwuchsen, wurden mit dem Verweis auf di fferierende »rassische« Dispositionen der Kinder und auf die Abwesenheit europäischer Ideen von Treue, Liebe und Gefühl zwischen »Individuen unterschiedlicher Rassen« abgelehnt.38 Repressive Maßnahmen gegen das moralische Fehlverhal ten französischer Männer und Väter, darunter Alimentationszahlungen, wur den zwar gefordert. Die Mehrheit der männlichen Kolonialeliten betrachtete die asymmetrischen Konkubinate jedoch als eine herrschaftsstabilisierende , kolonialpolitische und -hygienische Notwendigkeit. Eingriffe in die private Sphäre französischer Männer und »ärgerliche Drohungen gegen den angebli chen Vater«, so der Gouverneur des Protektorats Annam, wären gefährlich für einen dauerhaften sozialen Frieden in den Kolonien39 Der Präsident der Han delskammer von Hanoi brachte zum Ausdruck, daß aufgrund der »Mannigfal tigkeit der Rassen« Menschen unterschiedlicher moralischer Auffassung nicht in ein und derselben Gesetzgebung vereinigt werden dürften.40 Der General gouverneur weitete die Gesetzesreform jedoch infolge massiver Interventionen der Philanthropen auf Indochina aus. Diese hatten darauf bestanden, fran zösischen Männern »alle Verpflichtungen der Vaterschaft« aufzuerlegen, worunter ebenso eine »europäische Erziehung« der lvlischlingskinder fiel. Eine Ablehnung der Gesetzesreform bedeutete eine »Belohnung für die moralische Schwäche« französischer Männer, die das Prestige, die Würde und die Auto rität der der »Beschützerrasse« auf lange Zeit schädigen könne.41 Gegenüber dem Pariser Kolonialminis ter bekräftigte der Generalgouverneur 1 9 1 1 schließ lich, moralischen Druck auf französische Männer ausüben zu wollen. Diese sollten ihren väterlichen Pflichten unter dem drohenden Verlust ihrer sozialen Reputation nachkommen.42
3.2 Madagaskar: Koloniale Väter zwischen patriarchalischen Rechten und »Rassenpolitik« In Madagaskar wurde die Ausweitung des Vaterschaftsgesetzes vom General gouverneur 1 9 1 0 abgelehnt, da es gegen die Sitten, Traditionen und Gesetze der indigenen Bevölkerung verstoße. Eine »Mischung der Rassen« sollte kei-
38 Vgl. Outre)', 1 9 1 1 , 24 und Brousmichc, 1 9 10, beide in CAOfvl/GGI 1 662 1 . 3 9 Vgl. Sestier, 1 9 1 1 , 83 CAOlvI/GGI 1 662 1 . 4 0 Vgl. Ellies, 1 9 \0, CAOM/GGI 1 662 1 . 4 1 Vgl. Dejcan de b Batie, 1 9 1 1 und Joyeux, 1 9 1 1, beide i n CAOM/GGI 1 6621 . 42 Vgl. Luce, 1 9 1 1 , 1 843 CAOM/GGI 1 662 1 .
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nesfalls nachträglich legitimiert werden,43 Ein neuer Konflikt in der Vaterschafts frage zeichnete sich 1 9 1 2 ab, als drei koloniale Väter, die ihre seit der Geburt mit ihnen lebenden Mischlingskinder nachträglich rechtlich aner kennen wollten, und die madagassischen Philanthropen eine Reform des Arti kel 8 des 1 897 auf die Kolonien ausgeweiteten Nationalitätsrechts forderten, Nach diesem Artikel waren die Kinder dejllre »Eingeborene«, wenn der Vater sie erst nach der indigenen Mutter anerkannt hatte.44 In diesem Konflikt wurde deutlich, daß die Stabilität kolonialer Herrschaft auf der Vereinbarkeit männli cher mit kolonialpolitischen Interessen gründete. Die Philanthropen wiesen den Generalgouverneur auf die Respektabilität, das koloniale Lebenswerk (darunter eine »wahrhaftige französische Erziehung« der Kinder) und die zivi len Rechte der französischen Väter hin, Wie könne ein Vater Vertrauen in die Zukunft haben, der feststellt, daß »man aus denjenigen, aus denen er Zivili sierte machen wollte, Aufständische gemacht hat, indem man sie schonungslos von dem Rang entfernt, zu dem sie als H albweiße ausersehen sind?<(l5 Der madagassische Generalgouverneur wies infolge der erregten »öffentli chen Meinung« in einem Zirkular seine Dienstellen an, all diejenigen J\Iisch lingskinder de facto als Franzosen zu behandeln, die mit ihrem »französischen Vater« unter einem Dach lebten und sich im alltäglichen Leben wie Franzosen verhielten,46 Der innovative Moment des Zirkulars lag in der Einführung der juristischen Kategorie der possessiotl d'ettlt de Fmtlftlis in die Mischlings frage. Dieser dem Familienrecht in Hinblick auf die Reform des Nationalitätsrechts 1 889 entliehene Begriff umschrieb ein Ensemble französischer Verhaltenwei sen, das durch Naturalisierung erreicht werden sollteY Der Pariser Kolonialminister stellte sich jedoch gegen eine grundsätzliche Ä nderung des Art. 8 des kolonialen Nationalitätsrechts. In einem Brief an den Generalgou verneur definierte er das »soziale Interesse der Kolonie« im Gegensatz zu väterlichen Rechten als die Tatsache, nur über solche Bürger zu verfügen, die imstande waren, »die Ideen und Gefühle der Franzosen aus Frankreich« zu verstehen und somit die »mit dem Bürgertitel verbundenen Rechte und Vor rechte« auszuüben.48 In diesem Konflikt zeichnete sich ab, daß die kolonialge richtliche Kontrolle der väterlichen Erziehung in das Konzept einer ethnischen Vaterschaft mit eingeschrieben wurde. Konnten französische Väter begrün-
43 Vgl. Cor, 1 9 1 0. 1 620 CAOM/GGM 6D (10) 4. 44 Vgl. Saada, 1 999, 9 1 -94. 45 Vgl. Ligue po ur la dt fense des Oroits de l'Homme et du Citoyen, 1 9 1 2, CAOl\I/GGM (,0 ( 10) 4. 46 Vgl. Picque, 1 9 1 3, 817 CAOM/GGM 60 (10) 4, 47 Vgl. Weil, 2002, 399-400. 48 Vgl. l\[orel, 1 9 1 3, 759-C CAOM/GGl.,[ 60 (1 0) 4.
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den, warum sie ihre Kinder nachträglich anerkennen wollten, und beweisen , daß sie ihren väterlichen Pflichten in ausreichendem Maße nachgekommen waren, rückte eine N aturalisierung der Kinder im Einzelfall in den Bereich des Möglichen_ Der Pariser Kolonialminister betonte 1 9 1 3: » An und für sich reicht die Tatsache, daß ein Miscblingskind von seinem europäischen Vater anerkannt wurde, nicht aus, um diesem französische Denkgewohnheiten, eine solche Le bensweise, eine solche Mentalitiit und ein solches Bewußtsein zu geben. [... 1 Es müßte be rücksichtigt werden, daß die Anerkennung eines Mischlingskindes durch einen Franzosen für diesen die Verpflichrung mit sich bringt, aus ihm einen Franwsen mit einem französischen Herz, einer französischen Mentalität und mit einer französischen Lebensweise zu machen
[ . . 1 «40 ·
·
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeichnete sich ein Kompromiß ab, der drei Komponenten hatte: die N egation kollektiver Rechte illegitimer Misch lingskinder und indigener Frauen, die Berücksichtigung männlicher Interessen, wenn französische Väter die possessiol1 d'etat de Frallfair ihrer Kinder beweisen konnten, und die Garantie des (kolonial-) staatlichen Kontrollmonopols über die ethnische Zusammensetzung der N ation.
3.3
Hegemoniale Männlichkeit(en) und imperiale Geschlechterordnung_
Der indochinesische Philanthrop Sambuc brachte 1 9 1 4 einen formaljuristi schen Vorschlag in die Diskussion, der die europäische Erziehung der Misch lingskinder durch ihren französischen Vater oder eine Kinderschutzgesell schaft auf implizite Weise zur Voraussetzung ihrer Inkorporierung in den französischen N ationskörper erhob. Eine »gerichtsmedizinische Expertise« sollte ihre »Mischlingsrasse«, mündliche und schriftliche Zeugnisse die posse.rsiolJ d'etat de Fratlfaü der Kinder feststellen.50 Dieser Vorschlag wurde zur Grund lage einer Dekretserie (1 928-1 944), die die Mischlingsfrage im französischen Kolonialreich endgültig regelte_ Mit ihr wurde die Kategorie der »Rasse« in das republikanische Recht eingeführt, eine Innovation der Dritten Republik. Doch auch schon die Legalisierung der Vaterschaftssuche war ein erster Ausdruck der Geburt eines »imperialen Rechts« (Emmanuelle Saada), in dem Staats-, Familien- und Kolonialrecht zunehmend vereinheitlicht wurdenY Die Gesetz esreform war ein Teil des Prozesses der Ethnisierung der Geschlechterord nung am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zu dem die koloniale Sphäre einen
l\torel, 19 1 3, 1 821 -CG CAOM/GGM 60 ( 10) VgJ. Sambuc, 19 1 4, 6. 5 1 VgL Saada, 2002.
49 50
4.
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wichtigen Beitrag leistete. Die »neue Heldengeneration« der in den Kolonien gestählten Männer und die Integration indigener Kolonialtruppen in die reguläre Armee steigerten die nationale Wehrhaftigkeit Frankreichs. In Indo china wurden illegitime Mischlingskinder als zukünftige Soldaten und als eine Kraft- und Lebensreserve der französischen Nation angesehen. Für die koloni alen Philanthropen war die Regeneration der Nation und der »Rasse« mit der Steigerung der sozialen und ethnischen Reproduktionsqualitäten französischer Männer verbunden. Der nationale Wehrbeitrag französischer Männer in den Kolonien war ebenso kultureller Art und bestand in der Erziehung der Misch lingskinder zu loyalen »Kindern mit französischen Ideen und Neigungen, wie richtige Franzosen«, die ihre Nation verteidigen sollten.52 In das republikani sche Vaterschaftsgesetz wurden 1 9 1 2 neben sozialen und geschlechtlichen Differenzen auch ethnische Differenzen eingeschrieben. Die modernisierte Herrschaft des reformorientierten Bürgertums stützte sich auf »Rassen«-, Ge schlechter- und Klassendistinktionen zugleich.53 Von einem strikten ßeweis verfahren, das die »Ehre und den Frieden der Familie« schützen sollte, profitierten vorrangig weiße bürgerliche Männer. Während »respektable« bür gerliche Frauen soziale Rechte erringen konnten, wurden Unterschichtfrauen systematisch als Betrügerinnen und notorische Prostituierte stigmatisiert und durch strikte Beweisverfahren marginalisiert. Der gleiche Verdacht wurde gegen indigene Frauen geltend gemacht, die mit Unterschichtfrauen gleichge setzt wurden. Die Verabschiedung des Art. 4 des Gesetzes negierte kollektive soziale Rechte indigener Mütter.54
Fazit Das Connell'sche Konzept der hegemonialen Männlichkeit(en) ermöglicht eine Dynamisierung historischer Modelle.55 Mit dem heuristischen Fokus auf den inner - und intergeschlechtlichen Machtrelationen der entstehenden imperia len Geschlechterordnung konnte nach den Prozessen der Destabilisierung, des Aushandelns und des Neuentwurfs von Männlichkeitskonzepten und Identi täten gefragt werden. Die von Connell vorgeschlagene Ausdifferenzierung der für die internen Machtrelationen konstitutiven Einflußfaktoren hegemonialer Männlichkeit - Klasse, Religion, Politik und Ethnie - war hilfreich für die 52 53 54 55
Vgl. Sambuc, 1 9 1 3, 5 1 . Vgl. Pedersen, 1 998, 43-45. Vgl. Pederscn, 1 998, 52 und 64. Vgl. Connell, 200U, 97-107.
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Analyse der kolonialen Vaterschafts frage i n französisch lndochina, w o franzö sische Männlichkeit im interethnischen Vergleich zwischen Marginalisierung und Hegemonie ausgehandelt und entworfen wurde. Das Konzept gibt indes keine Auskunft darüber, wie und von wem hegemoniale Männlichkeit durch gesetzt wird und ob in der Tat nicht von mehreren, komplementären hegemo nialen Männlichkeiten auszugehen ist. Hier müßten die diskursiven und sozia len Positionen, die Unterstützernetzwerke und die institutionnellen Einbindungen der nach Hegemonie strebenden Männergruppen sowie die Querverbindungen zwischen ihnen genauer analysiert werden. Von diesen Faktoren hängt letztlich ihre Definitionsmacht und Wirkungsmächtigkeit ab.
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Marginalisierte Männlichkei ten?
Auf Kneipe und Fechtboden Inszenierung von Männlichkeit in j üdischen S tudenten verbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik
Mir/am Riirup
»Und doch ist es nicht die Empfindsamkeit und die Geistreichelei, sondern die Mannhaftigkeit, der so viel gelästerte Schneid allein, auf den es in der Not und wer wollte leugnen, dass unser Volk in Not ist - ankommt. Und schuldig sind wir unserem Volk, daß wir ihm Männer schaffen. Daß wir dies tun, gibt uns unsere Existenzberechtigung.«! So schrieb im Frühjahr 1 9 1 7 ein Mitglied der jüdischen Studentenverbindung Hasmonaea an seine Bundesbrüder. In dieser Äußerung ist das Wesentliche, das die spezifisch jüdische verbindungs studentische Rhetorik ausmachte, benannt: Schneid, Mannhaftigkeit, Abgren zung von allem, was mit dem negativ belegten Begriff »Büchermenscll« und damit einem Mangel an Tatkraft hätte verbunden werden können. Aus nicht-zionistischer Sicht beschrieb ein Alter Herr, Benno J acob, das Ziel der Verbindung ähnlich: »Die Erziehung des deutschen jüdischen Stu denten zum Manne und daß er sich als Mann, als J ude und als Deutscher sein ganzes Leben lang behaupte und bewähre.«2 Wie sollte diese Erziehung, die das Mannsein und damit die Anerkennung als vollwertige Mitglieder der deut schen und bei den Zionisten darüber hinaus der jüdischen Nation zum Ziel hatte, in einer jüdischen Studentenverbindung vor sich gehen? Dies soll im Folgenden an zwei Orten des verbindungssrudentischen Lebensstils veran schaulicht werden: an der Kneipe und am Fechtboden.
1 . Zur Einführung Jüdische Verbindungen entstanden Ende des 1 9. J ahrhunderts infolge des Ausschlusses jüdischer Studenten aus den traditionellen Korporationen. Die
1 M. Sternberg in: Pessach-Rundschrciben der VJSt Hasmonaea im KJV [1 9 1 7], 28 S., hier S. 5, Central Zionist Archives, Jerusalem (CZA) 1\23 1 /2/4. 2 Jakob, 1 946, 1 9 .
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erste dieser Art wurde 1 886 i n Breslau gegründet und schloß sich 1 896 mit vier weiteren Vereinen zum Kal1eJl-COfi1Jel1t der Verbil1dtlltge!l deli/.reber Sttldel/ten jÜdi
sehen GfaltbeJlJ (KC) zusammen.3 Sie verstanden sich als deutsch-vaterländisch. 1 892 formierte sich in Berlin die erste national-jüdische Studentenverbindung, die mit weiteren Verbindungen 1 90 1 den Bund Jiidischer CO/portltionen (I�Ic) bildete. Parallel dazu existierte ab 1 906 das KtlI1eff Zionistischer Verbindungen (KZV). Beide nationaljüdischen Verbände taten sich 1 9 1 4 zum Kat1ell]üdi.rcber Verbitldungen (K] V) zusammen.4 Die aktiven Studentenverbindungen existierten bis 1 933. Die jüdischen Korporationen übernahmen die traditionellen verbindungs studentischen Formen des Zusammenlebens - sie trugen Farben, hatten Wahl sprüche, hielten regelmäßige Kneipenveranstaltungen ab, fochten mehrfach wöchentlich, bildeten einen Lebensbund. Vor allem der Ehrbegriff und die Wehrhaftigkeit, die Ehrverteidigung mit der » blanken Waffe«, spielten in der Erziehung der jüdischen Studentenverbindungen eine wichtige Rolle. Durch die Mensur (das studentische Duell) und das Fechten sollte der Status als star ker, deutscher und zugleich stolzer jüdischer Mann in den Körper und damit in die Gesellschaft eingeschrieben werden. Die Betonung von männlicher Kriegerehre und mannhaftem Tatidealismus wurde im 1 9. Jahrhundert zentra ler Bestandteil der >>Deuen, bürgerlich-nationalen Integrationsidee«5. Die jun gen, nach sozialem Aufstieg strebenden bildungsbürgerlichen Juden versuch ten sich von der stereotypen Gleichsetzung von intellektuell mit jüdisch, weichlich, unmännlich und folglich undeutsch abzusetzen und sich in die Ehr gemeinschaft der deutschen Akademiker einzufügen. Insofern ist bei der Be trachtung jüdischer Verbindungen immer auch danach zu fragen, auf welchem Weg eine marginalisierte Gruppe wie die jüdischen Studenten sich in die Mehrheitsgesellschaft einzuschreiben suchte. Der Aspekt der Marginalisierung, der im Connellschen Konzept der H egemonialen Männlichkeit unabdingbar mit dieser verbunden ist, soll hier am konkreten Beispiel beleuchtet werden. Interessant ist dabei die Frage, mit welcher sozialen Praxis die jüdischen Ver bindungsstudenten ihre Männlichkeit inszenierten. Die Anpassung an die hegemoniale bürgerliche, nationale und sozial exklusive Männlichkeit, die ihr Vorbild im preußischen Kriegerethos fand, spielte sich insbesondere auf
3 Vgl. zur Verbandsgeschichte des KC v.a. Schindler, 1 988. Zum Beispiel Breslau mit Augen merk auf die Männlichkeit vgl. Swartollt, 2002. 4 Vgl. zur Verbandsgeschichte der nationaljüdischen Studentenverbindungen v.a. Zimmermann, 1 982. Ein dritter Strang studentischer Vereine von Juden war der Bund Jüdischer Akademiker (BJA). Er lehnte das studentische Brauchtum ab, weswegen diese Gmppierung hier nicht ein bezogen wird. Vgl. Schindler, 1 988, 230f. 5 Klenke, 1 995, 58.
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Kneipe und Paukboden als den im studentischen Milieu naheliegendsten Or ten ab. Dort wurde mit traditionell verbindungsstudentischen Formen die Ablösung des »New Jewish Man« vom »lJnheroic« Jew6 inszeniert. Ü ber die Arbeit an einer neuen, starken Körperlichkeit sollte die Verbesserung des eigenen Standes erreicht und repräsentiert werden, ein Bestreben, das l\:fax Nordau unter dem Begriff »Muskeljudentum« subsumierte.7 Die Studentenver bindung erwies sich somit gerade für die Randgruppe der jüdischen Studenten als Ort der Mann- und Deutschwerdung gleichermaßen.
2. Die Kneipe Im Zentrum des Verbindungslebens stand die »Kneipe«. Darunter sind sowohl der Ort der geselligen Zusammenkünfte als auch das Ritual, das sie umgab, zu verstehen. Es existierte zum einen die statuarisch festgelegte regelmäßige Kneipveranstaltung der Einzelverbindung. Zudem gab es festliche Kommerse, die zu J ubiläen der Verbindungen oder zu anderen, z.B. nationalen Feierlich keiten stattfanden, wobei meist die Bürgerschaft der jeweiligen Stadt, darunter auch Frauen - zuweilen als »Damen flor« umschrieben - anwesend waren. Diese Veranstaltungen waren ohne Bierkonsum undenkbar. Bier spielte im studentischen Leben eine sehr wichtige Rolle - es handelte sich nicht um ein beliebiges Getränk, vielmehr wob sich um den Trinkvorgang ein ganzes Netz von Ritualen, Regeln und Disziplinierungsvorsteliungenß Diese Bedeutung schlug sich auch in der Terminologie des Kneiprituals nieder, zu der Biermi nuten, Bierzeitung, Bieroper etc. gehörten. Den Ablauf des Trinkens im Rah men einer Kneipe oder eines Kommerses regelte das »Bierkomment«, in dem Spiele zur Unterhaltung vorgesehen waren. Analog zu den Ehrengerichten tagten »Biergerichte«; das »Bierjungentrinken« als Saufwettbewerb entsprach innerhalb des Kneiprituals dem Duell. Das \'\Ietttrinken war während einer Kneipe zentral. Wenn ein Teilnehmer nicht mithielt, verlor er seine »Bierehre«, geriet dadurch in den »Bier-Verschiß«, aus dem er sich durch eine »Biermensur« wieder »rauspauken« konnte. Diese Aufzählung verdeutlicht, wie eng »Fechtboden« und »Kneipe« rhetorisch im Verbindungsleben verbunden waren. Ze'ev Rosenkranz bezeichnete die Riten der zionistischen Studenten als »adoleszente Spiele«, Männlichkeitsbeweise, die
6 Vgl. hierzu Boyarin, 1 997. 7 Vgl. Nordau. 1 903. 8 Vgl. Schulze/Ssymank. 1 910, 445.
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voller Anspielungen auf die sexuelle Potenz gewesen seien - das Nichttrinken können auf einer Kneipe wurde »Bierimpotenz« genannt9• Kommerse hatten maßgeblichen Einfluß auf die öffentliche Darstellung der Verbindungen und waren damit als Orte der (Re)Präsentation des gesellschaftlichen Status von enormer Wichtigkeit - hier wurde nicht nur Selbstbewußtsein, Stärke und Geschlossenheit demonstriert, sondern letztlich auch Männlichkeit in Szene gesetzt. Das Singen war das zweite Standbein der Kneipenrituale. Es fand zu allen feierlichen Anlässen statt und war ebenso ritualisiert. Neben Verbandsliedern gehörten zum klassischen Gesangskanon patriotische Lieder (bei zionistischen Verbindungen auch palästinaorientierte Stücke) und unzählige Trink- und Studentenlieder. lo Da die Lieder nicht nur im Verbindungskreis sondern ge rade auch öffentlich bei Stiftungsfesten und anderen Kommersen gesungen wurden, hatten sie eine erhebliche Außenwirkung und gestalteten das Bild der Verbindung in der Ö ffentlichkeit. Die Ü bernahme der studentischen Bräuche scheint hier Teil eines rituellen oder ritualisierten »sozialen Dramas« (Turner) zu sein. Durch eine »performative Leistung« (Butler) inszenierten die jüdischen Studenten nicht nur ihre Geschlechteridentität, sondern darüber hinaus ihre nationale Zugehörigkeit. I I Die jüdischen Verbindungen im KC hegten den Wunsch, »dem jüdischen Akademiker einen studentischen Kreis zu schaffen, innerhalb dessen ihm die Möglichkeit gegeben ist, die auf deutschen Hochschulen üblichen Sitten, stu dentischen Sinn und Geselligkeit zu pflegen«12. Gepflegt wurde diese Gesellig keit in eigens dafür angemieteten Räumen; der Mietzins wurde - ebenfalls sehr studentisch - durch den Bierkonsum der Gäste beglichen. Lokalitäten mit einer angemessenen Reputation zu erhalten, erwies sich für die jüdischen Studentenverbindungen jedoch oftmals als Problem. So waren die jüdischen Verbindungen fast jedes Semester gezwungen, ihren Kneipenort zu wech seln. 1 3 Grund dafür war, daß antisemitische Studenten und ihre Verbindungen ein Lokal bisweilen mieden, wenn der Wirt zugleich an eine jüdische Ver bindung vermietete - daraus folgte meist, daß der Wirt den jüdischen Gästen den Vertrag aufkündigte. 1 4
9 Rosenkranz, 1 992, 67. 10 Vgl. zum Liedgut und seiner Bedeutung für nationale Bewegungen Klenke, 1998. 1 1 Vgl. zum Begriff des Sozialen Dramas Turner, 1 989. Zur Performanz "gI. Butler, 2002. 12 Bericht der Rheno-Si)esia im KC, WS 1 899/ 1900, S. 3, CZA A 1 42/90/1 l c. 1 3 Vgl. zu den viclen Umzügen beispielhaft die Adressen der Sprc"ia von 1 895-1903, Archiv der Humboldt-Universität Berlin (HUA), RS 72 1 . 1 4 Vgl. beispielhaft Beschwcrde der Bavaria Heidelberg wegen Rauswurf durch den Wirt des Lokals Perkeo, 1 929, Universitätsarchiv H eidelberg (UniA HD) 8891 5/7.
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AUF KNEIPE UND FECHTBODEN
Eine herausragende Stellung nahm bei den deutsch-vaterländischen jüdi schen Verbindungen die Frage der Teilnahme an Kommersen ein, die bei spielsweise aus Anlaß der Reichsgründung öffentlich veranstaltet wurden. Bei diesen Gelegenheiten traten die Einzelverbindungen meist »in corpore« oder nur einige Vertreter in verbindungs studentischer Uniform mit Fahne auf. Die Begeisterung, mit der jede nationale Feierlichkeit verbindungsintern begangen und um die prominente Teilnahme an offiziellen Feiern gekämpft wurde, of fenbart, wie sehr die jüdischen KC-Verbindungen bemüht waren, die Zugehö rigkeit zur deutschen Gesellschaft auch symbolisch durch die Absendung von Delegationen zu demonstrieren. 15 Ebenso symbolisch kann die Wahl der Lieder in den Textbüchern der deutsch-vaterländischen jüdischen Verbindungen gelesen werden, die sich kaum von denen anderer Korporationen unterschieden und sich durch einen recht eingeschränkten Motivfundus auszeichneten. lC> Dieser war im offiziellen Teil durch eine Überbetonung der studentischen, männlichen, deutschen Ehre und Heldenhaftigkeit geprägt, zudem wurde ein enger Bezug zum deutschen Vaterland hergestellt. Ein Beispiel soll verdeutlichen, welche Attribute der Männlichkeit und Stärke in den Liedern besungen \\Turden. Die Verbindung Sprevia in Berlin sang ihr Farbenlied (die Hymne, die die Vereinsfarben gelb-weiß-schwarz besang) zu der in Vereinen des 1 9. Jahrhunderts populären Melodie von »Sind wir vereint«: »Die Farben zeigen an, was wir erstreben; / Drum schützet sie mit Eurem Schwert. / / Gelb war das J\JaI, mit dem die rohe Menge / Einst unsre Väter hat geplagt. / 1 ...1 Was Schand fleck war, ward unser Ehrenzeichen / Und Denkmal unsrer Feinde Schuld! / / Weiß wie der Schnee, der eben frisch gefallen, / Sei unser Schild so blank und rein / [.. 1 >Furchtlos und treu!< laßt stets uns sein. / [...] / / Schwarz ist die Nacht, die noch mit dunklen Schwingen / Der Menschheit Augen fest umhüllt. / Durch tiefes Dunkel müssen wir uns ringen / Hin zu der Freiheit lichtem Bild. / Haß und Verleumdung setzt man uns entgegen / Stählt Euern .
Arm, der Kampf ist heiß; / [...].«17
Die Vergangenheit des jüdischen Volkes, mit Unterdrückung, Schwäche und Schande assoziiert, wird hier schwarz und dunkel gezeichnet. Dem wird die Zukunft gegenübergestellt, die weiß in der Ferne leuchtet und nicht nur für
1 5 VgI. beispielhaft Diskussionen um Feierlichkeiten an der Universität Heidelberg im Jahr 1 925, UniA HO B89 1 4/ 1 . 1 6 VgI. Kommerslieder der Licaria München zum Stiftungsfest 1 896, CZA A I 42j<)O/ l la. Darin waren von 1 2 Liedern 5 deutsch-vaterländisch ausgerichtet, 4 allgemein-studentisch, 2 Trink lieder und ein Toast. 17 Farbenlied der freien Verbindung Sprevia, CZA 1\ 1 42/90/ 1 1a. Das Gelb bezog sich allf die mittelalterliche Kennzeichnllng der jlidischen Bevölkerllng.
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Freiheit, sondern auch für Stärke steht. Diese Zukunft, das anzustrebende Ziel, soll erreicht werden durch körperliche Stärkung und einen Sieg im Kamp f gegen das Dunkel. Mit einer solch kriegerischen Rhetorik demonstrierten die jungen Studenten ihre körperliche Stärke, die sie nicht nur als Männer, sondern als ehrenhafte Juden auszeichnete - im Gegensatz zu den Vorvätern, die in der Vergangenheit passiv die Quälereien der »rohen Menge« ertragen haben. Diese Gegenüberstellungen von dunkel und hell, Vergangenheit und Zukunft, Schande und Ehre, vor allen Dingen aber Schwäche und Stärke waren in den Liederbüchern der deutsch-vaterländischen jüdischen Verbindungsstudenten Legion. Abgesehen von der Erklärung für die gelbe Verbandsfarbe der KC-Ver bindungen fanden sich kaum Hinweise auf die jüdische Herkunft der Verbin dungsmitglieder. Auch die Wahl der Melodien - traditionell deutsche, vater ländische und militärische Weisen -, zu denen die verbandseigenen Texte gesungen wurden, verweist eher darauf, wie stark sie der deutschen Kultur verhaftet waren, als daß es für ein spezifisch jüdisches Selbstbewußtsein spre chen würde. Außerdem schien die Betonung der deutschen und männlichen Ehre und Heldenhaftigkeit zentraler als die Definition einer jüdischen Ehre oder ihre Verteidigung gegen die Gefahr des Antisemitismus. Während die nichtzionistischen KC-Verbindungen die studentischen Trinkrituale nahezu vollständig übernahmen, waren diese in den zionistischen Studentenverbänden umstritten. Die »Antikneipianer« wandten sich gegen den Alkoholkonsum, da das exzessive studentische Biertrinken die Regeneration des jüdischen Volkes behindere.18 Dennoch schien es zunächst undenkbar, einer Verbindung beizutreten ohne Alkohol zu konsumieren. Die Kneipe war nach wie vor ein zentrales Ritual19 - das Bier war dabei nicht wegzudenken. Ü ber den tatsächlichen Umfang des Bierkonsums gibt es kaum Informationen. Die Menge der Trink- und Sauflieder in den Liederbüchern der jüdischen Verbindungen deutet aber auf einen recht hohen S tellenwert des Bieres hin. Dem steht die häufig aufgestellte Behauptung entgegen, die jüdischen Studen ten tränken zu wenig Bier - weswegen sie auch so häufig die Lokale wechseln müßten. Interessant ist, daß die zionistischen Verbindungen teilweise das Bild der »Erfindung des kleinen Biers« durch den abstinenten jüdischen Verbin dungsstudenten reproduzierten. Die Bemühungen, dies als falsch zu belegen, ironisierte Shmarya Levin in seinen Erinnerungen an seine Studienzeit in Ber lin: »Die hundert und etlichen von uns waren nicht so viel wert wie ein halbes
18 Vgl. Berliner, 1 9 1 3. 19 Vgl. Berichte des VJSt Berlin von 1 895-1 9 1 0 (HUA, RS 723) und der Hasmonaea Berlin von 1902- 1 9 1 0 (HUA, RS 759).
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Dutzend guter Deutscher. So wurden wir von Lokal zu Lokal getrieben. l...1 In jeder Versammlung pflegte Motzkin, fast mit Tränen in den Augen, die Studenten anzuflehen: >Freunde, trinkt um Gottes willen mehr Bier. Nehmt ein wenig Rücksicht auf unsern Verein!< Es half nichts.«20 Ü ber die rein verbindungs-traditionellen Rituale hinaus entwickelte sich aber eine unverkennbar national-jüdische Festkultur, obgleich weiter nach den Regeln der traditionellen Trinksitten ausgerichtet. Die österreichische jüdische Verbindung Kadimah Wien organisierte 1 883 erstmals während des jüdischen Festes Chanukka eine Makkabäerfeier, womit ein religiöses in ein nationales Fest umdefiniert wurde. Sie rekurrierten auf eine nationale Heldentat der jüdi schen Ahnen, was eine implizite Aufforderung an die akademische J ugend enthielt, es den Vorfahren gleich zu tun, sich von der dunklen Vergangenheit zu lösen und starke, stolze Juden zu werden.21 Die deutschen zionistischen Verbindungen hatten die Makkabäerfeste als festen Bestandteil in den J ahresablauf integriert - streng nach den Regeln studentischer Kommerse; zionistische Dichtungen waren mithin gemeinsam mit studentischen Liedern wie »0 alte Burschenherrlichkeit« zu hören.22 Welch immens identitätsstiftende Bedeutung dem Fest der Makkabäer beigemessen wurde, verdeutlicht die von Franz Oppenheimer auf einer solchen Feier in Berlin gehaltene Rede: »Die Feier, die wir heute begehen, gilt einer nationalen Heldentat, [ ... ). Ein adlig Volk waren unsere Ahnen, als sie aus der Wüste hervorbrachen, um das gelobte Land zu erobern, ein ritterlich Kriegervolk mit speer- und schwertgewohntem Arm, wie seine Geschichte. [ ... ) Von diesem adligen Volk stammen wir ab, in gerader Linie. [ ... ) In diesem Bewußtsein dürfen wir das Makkabiierfest feiern, und bleiben doch gute Deutsche, wenn wir der trotzig hohen Ahnen mit Stolz gedenken. [...] Was uns mit unserem verschiedenen Blut dennoch alle Zu Deutschen macht, ist die gemeinsame Sprache und gemeinsame Geschichte [ ... ); unsere Väter haben auf den Schlachtfeldern des 1 9. J ahrhunderts mit ihrem Blute den Ver trag unterzeichnet, der sie ins deutsche Volk aufnahm.«23
Hier zeigt sich der Versuch, eine Brücke zwischen jüdischer und deutscher Identität zu schlagen sowie das Bedürfnis, sich auf eine identitäts stiftende gemeinsame Vergangenheit zu berufen und eine Kontinuität zu den als Helden verehrten Urahnen herzustellen. Diese wurden sowohl in der Bildsprache als auch in den Liedtexten durchweg als starke Kämpfer, männliche Krieger mit 20 Lcvin, 1 933, 275f. 21 Benz, 1 995, 1 66. Der Name Makkabäer bezieht sich auf Juda Makkabi (und seine Nachkom men), Anführer eines Aufstandes gegen Antiochos IV. Epiphan es im Jahr 1 64 v.Chr. 22 Vgl. Makkabäerfestzeitung lmd Weihelied zur Makkabäerfeier 1 903 oder 1 904 von VJSt Berlin, CZA A231 /4/2. 23 Oppenheimer, 1 91 4.
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kräftigen Körpern dargestellt. Der Rückgriff auf antike Vorbilder sollte zwar das Streben nach Palästina historisch legitimieren. Dennoch erwiesen sich selbst die zionistischen Verbindungen als in der deutschen (Studenten-)Kultur verhaftet, indem sie einerseits Wert auf die Betonung ihrer Loyalität zum deut schen Vaterland legten, andererseits die gängigen Studentenbräuche gänzlich übernahmen. Auch in der Auswahl der Lieder wird der Bezug zur nationaljüdischen Idee besonders deutlich. Was bei den nichtzionistischen jüdischen Verbindungen fast gänzlich fehlte, wandelte sich bei den zionistischen Verbindungen zu einer Hinwendung zu jüdischen Motiven, auch wurden Weisen aus der jüdischen Liturgie entlehnt.24 Während die nichtzionistischen Verbindungen dem Deut schen Reich als Heimat und Vaterland huldigten, richtete sich das Sehnen der zionistischen Verbindungen nach Palästina aus. Am deutlichsten wurde dies durch die Aufnahme der späteren israelischen Nationalhymne HatikJIJt/ in einige zionistische Studentenliederbücher. Die Lieder waren von Wehrhaftigkeit und dem Bemühen, die jüdische Ehre militant gegen antisemitische Bedrohung zu verteidigen, geprägt. Doch nicht immer waren Text und Ton derart aufeinander abgestimmt, wie die Ver knüpfung von jüdisch-nationalen Texten mit Melodien deutschnationaler Lieder zeigt. Sowohl die Nichtzionisten als auch die Zionisten griffen weitge hend auf die gleichen Melodien zurück, wenn es galt, ihre verschiedenartigen Texte zu vertonen. Dies deutet auf die feste Einbindung in die Hegemonial kultur hin. Zugleich war die Wahl nationaler Melodien aber auch der Versuch, die eigene Verbindung demonstrativ in den gleichen Rang wie die angesehene ren Korporationen zu heben. Indem sie körperliche Kraft, Ehre, Stolz und Männlichkeit besangen, imaginierten die Studenten eine Gleichwertigkeit und Zugehörigkeitsgemeinschaft der jüdischen und nichjüdischen Verbindungsstu denten in Deutschland, deren gemeinsamer Nenner die Männlichkeit war. Daß dies wenig mit der Realität im akademischen und außerakademischen Alltag der jüdischen Studenten gemein hatte, schien die Begeisterung für die Kneip veranstaltungen kaum zu schmälern.
24 Zum Vergleich siehe Liederbuch Zllr Fahnenweihe des VJSt Berlin im Dezember 1 905, CZA A231 /4/4. Von 36 Liedern sind 8 Trink-, 12 Studenten- und 6 Lieder zionistischen u nd/oder jüdischen Inhalts.
AUF KNEIPE UND FECHTBODEN
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3. Eine Frage der Ehre: Der Fechtboden
Eines der zentralen Rituale war die Mensur, die ihren U rsprung im Duell hatte. Es ging dabei einerseits darum, den Zusammenhalt der Gruppe zu bekräftigen. Andererseits galt es aber auch die Verbindungsehre zu betonen und nach au ßen durch die entstehenden Schmisse symbolisch zu demonstrieren25 - die in den Liedern häufig besungene Bereitschaft, » Gut, Mut und Blut« dem Kampf zu weihen, darf hier ganz wörtlich verstanden werden. Zuvorderst wurde immer der sowohl deutsche als auch männliche Cha rakter des Zweikampfes hervorgehoben. Da ein zentrales antisemitisches Vor urteil Juden per se als unmännlich ansah, schienen Zweikampf und Mensur besonders geeignet, die Männlichkeit der jüdischen Studenten und ihre Zuge hörigkeit zum deutschen Kulturkreis zu unterstreichen. Gerade weil die deut sche Nationalbewegung als originär männliche Bewegung konzipiert war, bedurfte es des Nachweises der Männlichkeit, um sich von der Peripherie der Gesellschaft lösen zu können. Dieser Nachweis kann somit als Vehikel für die nach Anerkennung und Aufstieg strebenden jungen bildungsbürgerlichen Juden angesehen werden. U ntrennbar von der Vorstellung der akademischen Männlichkeit war die Frage der Ehrbarkeit und Wehrhaftigkeit der akademi schen Bürger. Gerade die marginalisierten jüdischen Studenten, die sich in der Tradition der burschenschaftlichen Nationalbewegung sahen und in Verbindungen zu sammenfanden, beanspruchten die Anerkennung ihrer Ehre, wobei sie in einer besonderen Situation waren: Von antisemitischer Seite wurde ihnen der Besitz einer solchen Ehre s treitig gemacht und die Satisfaktionsfähigkeit aberkannt. Ihre Duellforderungen wurden nicht mehr akzeptiert, womit ihnen die Grundlage entzogen wurde, ihre Ehre gegenüber Angreifern auf »studentische Weise« zu verteidigen - und damit ihre Ehrwürdigkeit überhaupt erst unter Beweis zu stellen. Denn Duelle konnten nur satisfaktionswürdige Mitglieder der Gesellschaft austragen - schließlich konnten nur ehrbare Männer ihre Ehre verlieren, die es nach einer Ehrverletzung wiederherzustellen galt.26 In den Waidhofener Beschlüssen 1 896 hatten die deutschnationalen Ver bindungen Ö sterreichs die Juden als »ehrlos« erklärt, den Angehörigen des Verbandes die bewaffnete Austragung von »Ehrenangelegenheiten« mit Juden untersagt und waren damit Vorbild auch für Verbindungen im Deutschen 25 Vgl. zur Bedeutung der lVfensur, des Duelles und der Ehre beispielhaft Frevert, 1 995 sowie in methodischer und konzeptioneller Hinsicht wegweisend Dinges, 1 995. 26 Zur Frage einer spezifisch jüdischen Ehre gibt es wenig Literatur, verwiesen sei hier - wenn auch zu einer anderen Epoche - auf ] ütte, 1995. Zu Formen des verbindungsstudentischen Abwehrkampfes gegen den Antisemitismus vgl. Rürup, 2000.
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Reich. Nach Ende des Ersten Weltkrieges setzte sich schließlich das Konzep t des als satisfaktionsunwürdig anzusehenden Juden allgemein durch. Der 1 91 9 gebildete Allgemeine Deutsche Waffenring, der größte Verband schlagender Verbindungen, schloß jüdische schlagende Korporationen satzungsgemäß aus und versagte ihnen die Satisfaktion. Diese Entwicklung war für die jüdischen Verbindungsstudenten verhäng_ nisvoll. Sie erwarteten, daß der Nachweis von Wehrhaftigkeit in Duellen Zur gesellschaftlichen Anerkennung genügen und die Antisemiten eines Besseren belehren würde. Das Bestehen im Duell sollte dazu beitragen, das Bild vom »feigen« ] uden zu zerstören. Der wehrhafte jüdische Student bezweckte damit, seine Abkehr vom angeblich verweichlichten, vergeistigten »Ghettojuden« und »Büchermenschen« unter Beweis zu stellen. Wie George Mosse fes tgestellt hat, entwickelte sich im 1 9. Jahrhundert der »unmännliche Mann« zum I nbegriff des Anti-Typus zum starken HeldenY Indem den jüdischen Studenten aber verwehrt wurde, Duellforderungen zu überbringen, schien ihnen die Grund lage ZUl" Erlangung gesellschaftlicher Anerkennung entzogen zu sein. Der Beweis von Mut und körperlicher S tärke beim Zweikampf galt als Nachweis männlicher Ehre - körperliche Feigheit, als Gegenstück, war die höchste Schande.28 Während das Duell ein individuelles Auftreten gegen den VorwUl"f von Feigheit war, stellte die Mensur, das zentrale verbindungsstudentische Ritual, einen Beweis der Stärke des Kollektivs dar.29 Bei der Mensur wird keine Einzelehre, sondern die Ehre der Korporation verteidigt bzw. demonstriert. Die Mensur war zugleich identitätsstiftendes Ritual, stärkte den inneren Grup penzusammenhalt, demonstrierte Geschlossenheit und bildete sowohl ein Initiationsritual für Neuzugänge, als auch ein Institutierungsritual (Bourdieu). Damit wurde manen) in einen neuen Stand versetzt, der nur einem Segment der Gesellschaft vorbehalten war. Mensuren hinterließen körperliche Markie rungen - die Schmisse.3ü Diese Narben im Gesicht symbolisierten die Zugehö rigkeit zu einem gemeinsamen exklusiven sozialen Status. Hier zeigt sich die Verknüpfung von quasi feudalen Konzepten mit dem Ehrgeiz, als Teil des (Bildungs-)Bürgertums akzeptiert zu werden. Die Ü bernahme dieses Rituals drückte den Wunsch aus, ebenfalls Prestige zu erlangen und seine gesellschaft liche Stellung zu verbessern. Gerade die Tatsache, daß die Mensur auch nach dem Verlust illrer ursprünglichen Bedeutung - eines Zweikampfes um der 27 28 29 30
Vgl. Mosse, 1 997, v.a. Kapitel 4. Vgl. zur Schande als Gegenbegriff zur Ehre Dinges, 1 995, 34. Vgl. zur Entstehung und zum Ablauf der Mensur Schulze/Ssymank, 1 9 1 0, 446ff. Vgl. zu Ü bergangsriten van Gennep, 1 986; zur Diskussion um Institutionsriten z. B. Bour dieu, 1997, 1 74ff.
Au" K N E I P E UND FECHTBODEN
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Ehre willen - weiterhin vollzogen wurde, beweist ihre nachhaltige symbolische Funktion. Es ging nunmehr um das Ruhighalten bei einer Verletzung, wo durch Mut, Tapferkeit und Disziplin - eindeutig männlich konnotierte Tugen den - nachgewiesen werden sollten. Ä hnlich wie bei der Beschneidung - so könnte man zugespitzt feststellen - suchten die jüdischen Verbindungsstu denten, mit Blut eine Verbindung zu markieren. Diese Verbindung war durch die Schmisse für alle sichtbar - Schmisse, die mithin auch als »Narben der Zugehörigkeit« bezeichnet werden können. Die im KC vereinten Studentenverbindungen waren stets bemüht, ihre deutsch-vaterländische Gesinnung zu betonen. Diese sollte vor allem durch »Schneid«, durch zackiges, selbstbewußtes Auftreten nach außen, hervorgeho ben werden. In ihren Statuten hatten sie die Stärkung des jüdischen Selbstbe wußtseins propagiert. Erreicht werden sollte dies durch »Pflege körperlicher Ü bungen« sowie geistige Erziehung, wobei erstere den größten Raum ein nahm.31 In einer Denkschrift setzte sich die Verbindung Badenia zum Ziel: »Wir müssen das Odium der Feigheit und Weichlichkeit, das auf uns lastet, mit aller Energie zurückweisen.«32 Dies erst schaffe die Grundlage für die Entstehung eines neuen jüdischen Selbstvertrauens und jüdischer Selbstachtung. Es er schien den jüdischen Verbindungsstudenten als ein Gebot der Ehre, sich auf dem Fechtboden zu bewähren und »mit dem Säbel Achtung [zu] verschaf fen«.3J Fechten diente ihnen in erster Linie zur Selbstbehauptung gegenüber den sie verachtenden nichtjüdischen Korporationen. Sie wollten dadurch sozi ale Anerkennung und Prestige erlangen sowie ihre Ehre als Studenten, als Deutsche, als Männer und als Juden bezeugen. Je mehr ihnen allerdings die Satisfaktionsfahigkeit und damit die Ehrbarkeit abgesprochen wurde, desto weniger vermochten sie, ihre Ehre auf dem Fechtboden zu beweisen. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg wurden Stimmen laut, die eine Reform des Verbindungswesens auf diesem Gebiet forderten. Infolgedessen wurde Turnen und Sport, die auch vorher teilweise üblich waren, mehr Bedeutung beigemes sen. So waren in der Weimarer Republik die Mitglieder der Heidelberger Bava ria verpflichtet, während ihrer Burschenzeit das Deutsche Sportabzeichen zu machen und eine Boxausbildung zu absolvieren.34 Die Erziehung zur Männlichkeit war gerade für die zionistischen Verbin dungen zentral. In der Verbandszeitschrift der Jiidische Stlldent hieß es 1 9 1 1 zur 31 Vgl. z. B. Berichte von 1 896 bis 1 902, CZA A 1 42/90/ 1 1 a+b. 32 Denkschrift Viadrina Breslau 1 886, S. 6, CZA A I 42/90/1 1 f. 33 Ü berblick über die Geschichte des BJC bis zur Fusion mit dem KZV [ 1 9 1 41 , S. 3, CZA A23 1 / 1 / 1 . 34 Vgl. Giovannini, 1 992.
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als besonders männlich angesehenen militanten Verteidigung der jüdischen Ehre: »Also: nur in die Schnauze schlagen! Nachher mögen die Mensuren zustande kommen oder nicht. J ene haben dann doch einen gewissen Eindruck weg, unsere Leute haben das Bewußtsein, mannhaft und unerschrocken ge handelt zu haben; diese Sorte derber Mannhaftigkeit ist für die rein menschli_ che Ausbildung enorm wertvoll.«3' Die Männlichkeitserziehung legitimierte geradezu die Existenz der Verbindungen, wie auch eingangs zitiertes Rund schreiben vom Frühjahr 1 9 1 7 erkennen ließ. Von Beginn an fochten die zionistischen Verbindungsstudenten. Doch das zionistische Fechten war allenthalben von geringerer Bedeutung als in den deutsch-vaterländischen jüdischen Verbindungen. Die Semesterberichte er wähnten zwar auch die regelmäßigen Fechtkurse, doch seitenlange Schilderun gen von Erfolgen auf der Mensur fehlten. Gleichwohl war auch hier das Er ziehungsziel »Männlichkeit« nicht weniger deutlich - diese Männlichkeit äußerte sich in der Ü berbetonung von körperlicher Stärke, wie sie auch das bereits erwähnte, für die zionistische Bewegung wegweisende Postulat des Muskeljudentums (Max Nordau) einforderte. Weitaus mehr Raum nahm bei den zionistischen Verbindungen statt des Fechtens das Turnen ein. Sie erstrebten die »physische Regeneration des jüdi schen Volkes«36, die den verhaßten und »degenerierten« bzw. »entarteten« »Ghetto typus« beseitigen sollteY Dabei wurde dem Turnen analog zur deut schen turnenden Nationalbewegung eine wesentliche erzieherische Funktion zugeschrieben. Zionisten hatten die ersten jüdischen Turnvereine in Deutsch land eingerichtet, ihre Programmatik wurde folgendermaßen umschrieben: »Wir Nationaljuden dürfen keine Büchermenschen sein, sondern Männer, die für den Kampf ums Dasein gerüstet sind und ins Leben eingreifen. [ ... Dazu braucht es die] Ausbildung aller männlichen Tugenden, der Stählung der Kräfte und der Stärkung des Mutes.«38 Doch auch die zionistischen Verbindungen ließen das wehrhafte Auftreten nach außen nicht gänzlich fallen. Der Sinn des Fechtens wurde aber anders als bei den nichtzionistischen Verbindungen nicht hauptsächlich in der Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens gesehen, sondern in der Bedeutung für die innere Festigung der Verbindung. Die unbedingte Satisfaktion galt als
35 Rosenkranz, 1 9 1 1 , 120. 36 § 1 der Satzung des VJSt im BJC Känigsbcrg, um 1 908, in CZA A23 1 /4/ 1O. Ähnliche Formulierungen auch andernorts. 37 Beispielhaft in Festzcitllng zum 1 0. Stiftungsfest des VJSt München, Mai 1 9 1 1J, S. 4, CZA 1\4/ 1 4. 38 Referat Fabius Schach auf dem Delegiertentag der deutschen Zionisten in Frankfurt a.M. am 3 1 . 1 0 . 1 897, zir. nach: Bodenheimer, 1 978, 229.
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»Zweckmäßigkeit«, sie bot sich als Instrumentarium im Abwehrkampf und zur Körperertüchtigung an und war damit vor allem taktisches Mittel. In einer Verbindungs-Flugschrift, die sich 1 9 1 2 mit der Ü bernahme des studentischen Duellprinzips auseinandersetzte, wird deutlich, worum es beim Fechten gehen sollte: »Ob man das Duell für innerlich berechtigt anerkennt, oder als mittelal terlichen Unsinn verdammt, berührt die Frage für uns nicht, die wir in ganz anderem Lichte sehen. Für uns ist nur einzig und allein der Gesichtspunkt maßgebend, unsere Feinde nicht an unserem Mut und unserem Ehrgefühl zweifeln zu lassen.«39 Die Ü bernahme des studentischen Satisfaktionsverständnisses zeigt den noch, wie stark selbst die radikal zionistischen Verbindungen in die Hegemo nialkultur eingebettet waren. Es ging den Zionisten darum, ihre Ehre nach außen hin offensiv zu vertreten und Geschlossenheit zu demonstrieren. Das Konzept der dezidierten Stärkung des innerjüdischen Ehrgefühls und des demonstrativ »ehlwürdigen« Auftretens verdeutlicht aber den Vorrang, den die innerjüdische Festigung bei den zionistischen Verbindungen hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg allerdings lösten sie sich weitgehend von die sen traditionellen Formen, schafften das Prinzip der Satisfaktion ab und wandten sich einem praktischeren Zionismus zu. Doch auch in Fragen des »alltäglichen« Zionismus wurde die Ehre als Konzept beibehalten, wenn auch in Wandlung begriffen. Nunmehr ging es um die Etablierung einer zionisti schen Ehre - diese konnte beispielsweise durch selbstlosen Einsatz für zionis tische Organisationen erlangt werden. Der Gedanke der studentischen Wehr haftigkeit trat damit in den Hintergrund und der Verband wandte sich eher praktischen Fragen zu wie der Selbstbehauptung (und falls nötig auch Selbst verteidigung) in Palästina und der Arbeit an der »Regeneration« der »jüdischen Nation«.
4. Fazit
Die Veranstaltungen auf Kneipen und Fechtböden nahmen in den Studenten verbindungen großen Raum im Verbindungsalltag ein. Die Kneipen waren Orte, an denen ein wiederkehrendes und streng normiertes Ritual vollzogen wurde. Es sollte dazu beitragen, die Teilnehmer zu disziplinieren und zu ech ten, »männlichen« Männern zu erziehen. Exzessives - zugleich kodifiziertes Trinken und Singen hatten entscheidenden Anteil an dieser Erziehung. Auch 39 Flugschrift des KZV, 1 912, S. 1 1, CZA Heft 58.
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auf dem Fechtboden sollten die Mitglieder zu Männern gefonut werden. Män ner, die für die Ehre der Verbindung einzustehen bereit waren und diese Ehre mit der Waffe in der Hand gegenüber Angreifern verteidigen konnten. Es ging dabei um die Inszenierung von Gemeinsamkeit, Stärke, Selbstbewußtsein nach außen und die demonstrative Ü berwindung des Stereotyps vom verweichlich ten, vergeistigten und körperlich schwachen J uden. Die verbindungsstudentische Rhetorik trug letztendlich sowohl bei den sich als deutsch-vaterländisch verstehenden als auch bei den zionistischen Verbindungen dazu bei, ein Verständnis einer spezifisch jüdischen Ehre her auszubilden, das in ein verstärktes jüdisches Selbstbewußtsein mündete - ein Selbstbewußtsein, das sich nicht zuletzt aus der inszenierten Männlichkeit speiste. Kneipe und Fechtboden waren Orte, an denen ein Kampf ausgetragen wurde, der letztlich auf etwas anderes als den Sieg (auch auf der Kneipe wurde gekämpft, wenn auch mit Bierkonsum und nicht mit Schläger oder Säbel) zielte. Fechtboden und Kneipe können als Orte gelten, an denen sich eine »Zugehörigkeitsgemeinschaft« von Deutschen, Juden, Akademikern, Männern überhaupt erst konstituierte. Andersherum führten die praktizierten Rituale auf den Kneipen und den Fechtböden durch ihre ideologische Befrachtung, die häufig »jüdisch« aufgeladen wurde, im Gegenzug zu einer »Re-Judaisierung« der Verbindungsstudenten. Auf Kneipe und Fechtboden wurde die Männlich keit der Kontrahenten inszeniert und demonstriert. Und diese Männlichkeit wiederum diente als Vehikel zur Aufnahme in die Hegemonialgesellschaft bzw. in die (deutsche) Nation. Für die jüdischen Verbindungsstudenten erwies sich dabei die Orientierung an der hegemonialen Männlichkeit (Connell) als durchaus zentral - erweitert werden müßte der Begriff hier um den H inweis, daß es sich um die im akademischen Feld als hegemonial akzeptierte Männlichkeit handelt. Hegemonial erschien ihnen das preußische Krieger ethos, die kämpferische, deutsch-vaterländische sowie jüdisch-nationale Männ lichkeit, die mit dem Ehrenkodex und der deutschen Bierehre verbunden war. Allerdings helfen bei der Frage, wieso die jüdischen Studentenverbindungen die Formen und P raktiken hegemonialer Männlichkeit zwar kopierten und im jüdischen Milieu auch durchaus hegemonial wurden, aber an der hegemonialen Männlichkeit doch nicht im erwünschten Sinne partizipieren durften, die Con nellschen Kategorien der Marginalisierung nicht weiter. Sie müßten um eine genauere U ntersuchung der Mechanismen von Eingrenzung und Ausgrenzung von Minderheitengruppen erweitert werden. Um diese Mechanismen der Re Produktion von ethnischer U ngleichheit zu verstehen, bietet es sich an, den Connellschen Begriff durch das Habituskonzept (Bourdieu) zu ergänzen. Diese Verbindung könnte zu einem tieferen Verständnis der Entstehungspro-
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zesse dessen führen, was man im Fall der jüdischen Studentenverbindungen am ehesten als marginalisierte Männlichkeit fassen könnte - eine Männlichkeit, die sich am Leitbild einer hegemonialen Männlichkeit orientierte, von dieser aber nicht akzeptiert wurde und dennoch innerhalb des j üdischen Milieus und in ihrer performativen Praxis durchaus hegemonial wurde.
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»Das ekle Geschmeiß« Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit im Kaiserreich
MClrtin Lücke
Bei der Beantwortung der Frage, was die Geschichtswissenschaft mit Männ lichkeit anfangen soll, konnte das Konzept der hegemonialen Männlichkeit des australischen Erziehungswissenschaftlers Robert W. Connell einen großen Einfluß entfalten. Zur historischen Dimension seines Männlichkeitsentwurfes führt Connell selbst noch recht unpräzise aus, das von ihm verwendete Kon zept von Männlichkeit sei »höchstens ein paar Jahrhunderte alt!(!. Für einen Historiker muß eine solch grobe Einschätzung unbefriedigend sein und so präzisiert Wolfgang Schmale in seiner Geschichte der Mtiilfllicbketf ilJ EIII'opa diese ungenau anmutende Deutung, indem er die theoretische Folie von Connell zur Analyse von Männlichkeiten von der Aufldärung bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts benutzt und hegemoniale Männlichkeit als Konstruktionsre gel der Geschlechterverhältnisse »des bürgerlichen Gesellschaftsmodells«2 insgesamt verwendet. Schmale stellt in diesem Zusammenhang die »Faustre gel«3 auf, daß die Umsetzung eines hegemonialen Männlichkeitsmodells in der Geschichte ungefähr ein J ahrhundert gedauert habe. Zwischen 1 860 und 1 880 schließlich sei es in der Breite der Bevölkerung verankert gewesen. In der Folgezeit, etwa durch die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, durch die Weltkriege und den Faschismus erfuhr hegemoniale Männlichkeit eine In fragestellung, Fundamentalisierung und Pervertierung, bis sie dann in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch den Aktionismus der 1 968er Bewegung der Destruktion zum Opfer fiel. Eine Gesellschaft, in der Geschlechterverhältnisse durch hegemoniale Männlichkeit strukturiert werden, ist gekennzeichnet durch die Dominanz einer »Form von Männlichkeit, die im Gegensatz zu den anderen kulturell hervorgehoben«4 ist . .Man würde die Wirkungsmächtigkeit von hegemonialer
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Connell, 2000, 88. Schmale, 2003, 1 53. Schmale, 2003, 1 52. Connell, 2000, 98.
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Männlichkeit jedoch nur unzureichend beschreiben, wenn man nicht auf ihren dynamischen Charakter verwiese: Die Dominanz einer bestimmten Form von Miinnlichkeit hat Einfluß auf die Geschlechterbeziehungen insgesamt, sie »strukturiert die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft praktische Männlich keit ausgehandelt wird«s und erhebt den Anspruch, daß »alles, wirklich alles [ ..] durch überlegene Männlichkeit markiert
.
5 Schmale Z003, 1 53. 6 Schmale, Z003, 1 54. 7 Der Begriff des »Anti-Typus« von Männlichkeit wurde vor allem von George L. J\'losse ge prägt. Schmale greift diese Begriff1ichkeit auf und bezieht sie auf den von Connell beschriebe nen Mechanismus von Unterordnung, vgl. Masse, 1 997, 79-106, Schmale, Z003, 1 54, CannelI, ZOOO, 97-IOZ. 8 Connell, ZOOO, 99. 9 Schambach, Z004, 1 74. 10 Krafft-Ebing, 1 886, 443. 1 1 Große Glocke vom 1 7.7. 1 9 1 2 zitiert nach: .IabdJ/lcbjlir.rexl/e//e ZIJ)iJcben.rII/[eIl 1 3 ( 1 9 1 3), 48f.
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der Monogamie und Prokreativität gekennzeichneten Sexualitätskonzeptes mußte mann-männliche Prostitution als besonders deviante Ausprägung von Sexualität erscheinen. Die Form der Sexualität, die hier als Ware angeboten wurde, war strafrechtlich sanktioniert.1z Mit männlichen Prostituierten und homosexuellen Freiern trafen auf dem Prostitutionsmarkt zwei »Anti-Typen« zusammen, die sich in klarer Opposition zur hegemonialen Vorstellung von Männlichkeit befanden. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit nimmt für sich in Anspruch, ein allumfassendes Prinzip zur Strukturierung von Ge schlechterverhältnissen zu sein. Bestimmt hegemoniale Männlichkeit die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft Männlichkeit praktisch ausgehandelt wird, so muß dies auch für eine »Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis« l l gelten, in der mit männlichen Prostituierten und homosexuellen Freiern zwei marginalisierte Männlichkeiten zusammenkommen. Indem in diesem Beitrag betrachtet wird, ob und auf welche Weise zwi schen männlichen Prostituierten und ihren Freiern Mechanismen von Hege monie und Unterordnung wirken konnten und durch welche kulturellen Stig matisierungen oder »recht handfesten Praktiken« solche Mechanismen wirksam wurden, kann sich die Reichweite der Strukturierungsmacht von hegemonialer Männlichkeit offenbaren. Dabei sollen Debatten über die Straf barkeit von mann-männlicher Prostitution, Diskurse der Sexualwissenschaft und die Bedeutung des Geldes bei mann-männlicher Prostitution in den Blick genommen werden, um zu betrachten, wie in diesem abgelegenen Winkel der Gesellschaft Konflikte um Männlichkeit ausgetragen wurden.
1 . »Mittels einer Reihe recht handfester Praktiken« Mann-männliche Prostitution und Debatten über eine Reform des Sexualstrafrechts
Eine unbestritten recht handfeste Praktik, mit der die Männlichkeit gleichge schlechtlich begehrender Männer im Deutschen Kaiserreich marginalisiert wurde, war der Paragraph 1 75 des Reichsstrafgesetzbuches, in dem es seit Mai 1 871 hieß: »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männli chen Geschlechts oder von J\fenschen mit Tieren begangen wird, ist mit Ge-
12 Taeger, 1 999, 3. 13 Connell, 2000, 98.
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fängnis Z U bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.«14 Ein solcher Gesetzestext war weit mehr als ein bloßer Texteintrag im Strafgesetzbuch. Die Praktizierung von mann-männlicher Sexualität, die hier den Namen der widernatürlichen Unzucht trägt, konnte Freiheitsentzug zur Folge haben. In dieser Strafvorschrift spiegelten sich »Grundwerte und Sinn strukturen« einer Gesellschaft wider. So wurde der Paragraph 1 7 S für die Ho mosexuellen zum »Symbolführer«15 für die Unterdrückung von mann-männli cher Sexualität und für die Unterordnung von homosexuellen Männern unter das heterosexuell dominierte Leitbild von Sexualität. Mann-männliche Prostitution wurde von dieser Strafvorschrift zunächst noch nicht explizit erfaßt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch wurden Bemühungen unternommen, das Reichsstrafgesetzbuch zu reformieren. Im Jahr 1 909 publizierte das Reichsjustizamt hierzu einen ersten Reformentwurf. Zum Thema der widernatürlichen Unzucht heißt es dort: ),1
Die widernatürliche U nzucht mit einer Person gleichen Geschlechts wird mit Gefängnis bestraft. II Ist die Tat unter Mißbrauch eines durch Amts- oder Dienstgewalt oder in ähnlicher \'(Ieise begründetes Abhängigkeitsverhältnis begangen, so tritt Zuchthaus bis zu fünf Jahren, bei mildernden Umständen nicht unter sechs Monaten ein. In Dieselbe Strafe trifft denjenigen, der aus dem Betreiben der widernatürlichen Unzucht ein Gewerbe macht.«1 6
Die Juristen begründeten ihren Vorschlag, in dem zum ersten Mal von mann· männlicher Prostitution die Rede war, wie folgt: " Die [ ... ] Tatbestände des § 1 75 entsprechen nicht nur auch jetzt noch der gesunden Volks anschauung über das Strafwürdige auf diesem Gebiet, sondern sie dienen auch vor allem dem Interesse der Allgemeinheit, dem unmittelbaren Staatsinteresse. Die widernatürliche Unzucht [ ... ] ist eine Gefahr für den Staat, da sie geeignet ist, die Männer in ihrem Charakter und in ihrer bürgerlichen Existenz auf das Schwerste zu schädigen ... «17
Wie genau eine solche soziale Gef:'ihrlichkeit aussah, verdeutlichten die Verfas ser dann explizit am Beispiel der mann-männlichen Prostitution: » Ferner hat sich an zahlreichen Orten, namentlich in den großen Städten, in der neuesten Zeit eine miinnliche Prostitution herausgebildet, die ihr Gewerbe in ähnlicher Art, aber noch schamloser wie die weibliche Prostitution betreibt, in der Regel damit fortgesetzte Erpres-
14 § 175 RStGB zitiert nach Schwarze, 1 873. 468. 15 Lalltmann, 1 992, 1 4 1 . 1 6 § 250 des VOl'entwul'fs (der a n die Stelle des alten § 1 7 5 treten sollte) zitiert nach Ballmann, 1 968, 1 23. 17 Reichsjustizamt, 1 909, 689-690.
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sungen verbindet und ungleich gefährlichere und zu schweren Verbrechen bereitere Ele mente in sich einschließt wie die weibliche Gewerbsunzucht. Deshalb ist auch eine Strafver schärfung gegen diejenigen not\vendig geworden, die aus dem Betrieb der widernatürlichen Unzucht ein Gewerbe machen. Der Ent\vurf droht daher [ ... ] Zuchthaus bis zu fünf J ahren an.«ls
Von der hier geforderten Strafverschärfung sollte j edoch nur der männliche Prostituierte betroffen sein, sein Freier blieb unberührt. Männlichen Prostitu ierten traute man zu, bürgerliche Existenzen zu zerstören, zu Erpressern zu werden und so eine Gefahr für den Staat darzustellen. Sie wurden so zum Sinnbild für die soziale Gefährlichkeit der widernatürlichen Unzucht. Vor diesem Hintergrund erschien es dann gerechtfertigt, sie mit der für die dama lige Zeit sehr hohen Strafe von bis zu fünf Jahren Zuchthaus betrafen zu kön nen. Diese Argumentation blieb im Kaiserreich charakteristisch. Auch in einem Gegenentwurf der führenden Strafrechtslehrer, WiJhelm Kahl, Kar! v. Lilien thaI, Franz v. Liszt und J ames Goldschmidt, der 1 9 1 1 veröffentlicht wurde, war davon die Rede, männliche Prostituierte mit einer Zuchthausstrafe sankti onieren zu können, während »einfache« mann-männliche Sexualität, unter die das Handeln der Freier gefallen wäre, straffrei bleiben sollte.19 Die Strafrechts lehrer begründeten ihren Vorschlag zur Kriminalisierung von männlichen Prostituierten damit, daß diese aus Gewinnsucht handelten, was auf eine dauerhaft schlechte Charakterstruktur schließen lasse, die dann auch auf anderen Gebieten ihr U nheil entfalten könne.2o Die rechtliche Ungleichbe handlung von Freiern und männlichen Prostituierten ist in diesem Entwurf der Strafrechtslehrer besonders groß. Im abschließenden Kommissionsentwurf des Reichsjustizamtes für ein neues Strafgesetzbuch von 1 9 1 3 fehlte der Begriff der widernatürlichen U n zucht. So sollte »Die Vornahme beischlafähnlicher Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts« mit Gefängnis bestraft werden. Derjenige jedoch, »der die Tat gewerbsmäßig begeht«, konnte mit Zuchthaus von bis zu fünf Jahren bestraft werden. Weiter hieß es im Entwurf von 1 9 1 3: »Wer sich zur Tat gewerbsmäßig anbietet oder bereit erklärt, wird mit Gef.ingnis bis zu zwei Jahren bestraft.«21 Während also gewöhnliche mann-miinnliche Sexualität nicht mehr den negativ qualifizierenden Titel der widernatürlichen Unzucht tragen sollte, sollte im Bereich der mann-männlichen Prostitution nun sogar
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Reichsjllstizamt,1 909, 692. § 245 des GegenclltwlIrfs zum Vorcnt\vurf nach Sommer, 1 998, 365. 13aumann, 1 968, 1 28. Reichsjllstizminisrerium, 1 920, 76.
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schon ihr bloßes Angebot bestraft werden. I h r Vollzug konnte für den Pros ti tuierten im Zuchthaus, für den Freier »nur« im Gefängnis enden. Obwohl es nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges nicht mehr zu einer solchen Veränderung der Strafbarkeit von mann-männlicher Sexualität kam, zeigen die Auseinandersetzungen um eine Reform des Paragraphen 1 75, daß die allgemeine Auffassung vorherrschte, den »normalen« Homosexuellen we niger hart und dafür den männlichen Prostituierten sehr viel härter zu bestra fen. Obwohl die Kommissionsentwürfe und Gutachten nicht ihren Weg in das Reichsstrafgesetzbuch fanden, zeigt die in den Texten geführte Diskussion, daß eine Verschiebung der Rechtsnorm zumindest in den Köpfen der Akteure bereits stattgefunden hatte. Durch eine Kriminalisierung des männlichen Pros tituierten wurde dieser dem Freier untergeordnet. In Strafvorschriften wurden konkrete Praktiken festgelegt, durch die sich eine solche Unterordnung mani festieren sollte. Große Teile der Homosexuellen-Bewegung haben an einer solchen Krimi nalisierung männlicher Prostituierter mitgewirkt, indem sie die Rolle männli cher Prostituierter als Erpresser betont haben. Aufgrund der Strafbarkeit und der gesellschaftlichen Tabuisierung von mann-männlichen Sexualkontakten waren Erpresser in der Lage, von ihren Opfern hohe Geldbeträge zu erpres sen. Nach einer Schätzung Magnus Hirschfelds22 wurde von 1 0.000 homosexuellen Männern nur einer das Opfer eines Strafprozesses nach Para graph 1 7 5 RStGB, 3.000 jedoch gerieten in die Hände von Erpressern.2' An den Orten, wo sich homosexuelle Männer zur Kontaktaufnahme trafen - und durch das Sichtbar-Werden ihrer sexuellen Neigung Opfer von Erpressungen werden konnten -, hielten sich auch männliche Prostituierte auf. Ü ber den Zusammenhang von Erpressern und männlichen Prostituierten führte Hirsch feld 1 9 1 4 aus, daß es zwar Gelegenheitserpresser gebe, die auch gelegentlich der Prostitution nachgingen, um aus einem »wertvollen Geheimnis Kapital zu schlagen«, in aller Regel jedoch würden männliche Prostituierte nicht als Er presser und Erpresser nicht als Prostituierte tätig.24 In den Debatten der Homosexuellenbewegung wurden beide Phänomene, das der männlichen Prostitution und das der Erpressung, in einem engen Zu sammenhang betrachtet, zwischen Erpressern und männlichen Prostituierten
22 Der Arzt, Sexualwissenschaftler und Sexualreformer M.gnus Hirschfeld (1 868-1 935) war der wohl einflußreichste und prominenteste Vertreter der HomosexueUenbewegung; er gründete 1 897 mit dem "Wissenschaftlich-humanitären Komitee« eine politisch einflußreiche Homose xueUenorganisation und war einer der wenigen, die schon während des Kaiserreichs differen zierte Positionen zu mann-männlicher Prostitution vertraten. 23 Hirscbfeld, 1 9 1 4, 897. 24 J-lirschfeld 1 9 1 4, 876f.
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wurde häufig eine Personalunion hergestellt. Besonders deutlich wird dies in der Schrift Erpre.rser-Prostittdiotl von Ernst Burchard aus dem J ahr 1 905. Bur chard, der gemeinsam mit Hirsch feld als Gerichtsgutachter tätig war, verarbei tete in dieser Schrift offenbar auch seine Erfahrung mit einem Erpressungsfall, dessen Opfer Hirschfeld selbst war. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, daß bei dieser Erpressung männliche Prostitution eine Rolle spielte.25 Analog zur Argumentation der Ministerialbürokratie stellte Burchard männliche Prostitu ierte als verbrecherische und kriminelle Naturen dar, die sich durch Erpres sung eine Strafbarkeit mann-männlicher Sexualität zu Nutze machen würden. Daraus konnte Burchard schlußfolgern, daß männliche Prostituierte sehr hart zu bestrafen seien, während die homosexuellen Freier als Opfer solcher Er pressungen statt einer Bestrafung und Stigmatisierung das Mitleid der Gesell schaft verdient hätten.26 Die Argumentation Burchards war kein Einzelfall und zeigte sich zum Beispiel auch in der Schrift Der § 1 75 IIl1d die Mtijmlicbe Prostit,, tion in München IIlId Berlin des Münchner Homosexuellen-Aktivisten August Thomas fleischmann, die in der Zeit von 1 90 1 bis 1 905 immerhin sieben Auf lagen erfahren konnte. Auf diese Weise wurden Teile der Homosexuellen-Bewegüng zur Interes senlobby der homosexuellen Freier und zum Komplizen hegemonialer Männ lichkeit, was zu einer Marginalisierung männlicher Prostituierter führte. Macht mechanismen von Hegemon.ie und Unterordnung konnten im Bereich des Strafrechts bis tief in die männliche Prostitution hinein wirken.
2. »Kulturelle Stigmatisierung« - Die sexualwissenschaftliche Wahrnehmung mann-männlicher Prostitution
Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte mann-männliche Sexualität einen festen Platz im Gedankengebäude der Sexualwissenschaft einnehmen. Anders als zum Beispiel in vormodernen Gesellschaften konnten nun nach Auffassung der Sexualwissenschaft dieser Form der Sexualität »Nei gungen grundsätzlich eigenständiger Natur«27 zugrunde liegen, die schließlich
25 Hergemöiler, 1 998, 1 6M., 222, 530f. 26 Burchard, 1 905, 3-8. 27 Hergemöller, 1 992, 13.
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in dem Begriff der Homosexualität28 gebündelt wurden, einer für die Zeit genossen zunächst seltsamen griechisch-lateinischen Wortneuschöpfung. Der J urist und Altphilologe Kar! Heinrich Ulrichs (1 825 - 1 895) zum Bei spiel verkündete in seinen f'orschlll1gen üher das Riitbse! der f1JCll/l/lJIafllllicbell Liebe29, einer Sammlung von zwölf Traktaten, »die Doktrin, nach der der männliche Homosexuelle eine weibliche Seele in einem männlichen Körper besitzt«30. In der komplexen Ideenwelt Ulrichs, die er unter Rückgriff auf Platons Sympo sion entwickelt hatte, wurde der Mensch in einen körperlichen und in einen seelischen Part aufgeteilt: Die Seele eines gleichgeschlechtlich begehrenden Mannes hatte nach Ulrichs ein weibliches, während sein Körper männlichen Geschlechts war." Mit diesen Ü berlegungen begründete Ulrichs »das moderne Denken über die Homosexualität«12. Während sich hegemoniale Männlichkeit durch ldare Opposition zum Weiblichen und durch die Abwesenheit von weiblichen Eigenschaften auszeichnet33, wurde die Männlichkeit eines homosexuellen Mannes bei Ulrichs durch die Verwendung des Attributes einer weiblichen Seele charakterisiert. Im Sinne einer Wirkmechanik von H egemonie und Unterordnung wurde auf diese Weise die Männlichkeit von homosexuel len l\Einnern abgewertet. Magnus Hirschfeld griff die Ideen von Ulrichs auf und übertrug sie auf die Ebene der Körperlichkeit.34 Homosexuelle Männer und Frauen bildeten seiner Ansicht nach ein eigenes Drittes Gescblecbt, das sich in körperlich erkennbaren geschlechtlichen Z1IJiscbenst1ljeti von einem Val/weih beziehungsweise von einem VollmClltn unterscheide.35 Hirschfeld hielt auf diese Weise prinzipiell an einer körperlichen Zweigeschlechtlichkeit Mann-Frau fest; homosexuelle Männer und frauen traten quasi als zwischengeschlechtliche Wesen in die Geschlech terwelt ein.36 Während noch bei Kar! Heinrich Olrichs »nur« die Seele eines Homosexuellen weiblichen Geschlechts war, erhielt bei Hirschfeld auch der Körper des männlichen Homosexuellen weibliche Attribute. 28 Der Begriff "homosexual" selbst war eine WortSchöpfung des Ungars Kar! Maria Kertbeny (1 824-1 882). Der Begriff der Homosexualität vereinte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich nur noch geringfügig unterscheidende Konzepte von mann-männlicher Sexualität, vgl. hierzu Hergcmöller, 2000, 27-30. 29 lTlrichs, 1 994. 30 Kennedy, 1 993, 34 31 Hergcmöller, 2000, 26. 32 Kennedy, 1992, 39. 33 Connell, 2000, 88. 34 Lindemann, 1 993, 92. 35 Hier werden die sexualwissenschaftlieben Grundannahmen von Hirschfeld nur sehr verkürzt und vereinfacht wiedergegeben. Das sexualwissenschaftliehe Komept von Hirschfcld auS führlich zu besprechen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 36 Lindemann, 1 993, 95.
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Verfolgte Hirschfeld mit seinen Forschungen das politische Ziel, durch eine solche biologistische Definition der Homosexualität auf ihre Straffreiheit hinzuwirken, so wurde jedoch vor dem Hintergrund eines hegemonialen Männlichkeitsmodells die U nterordnung Homosexueller in ihre Körper einge schrieben und Weiblichkeit als das Mittel einer solchen Stigmatisierung ver wendet. John C. Fout charakterisiert das Körperkonzept Hirschfelds treffend, indem er ausführt: »Hirsch feld played as important a role as any of the sexolo gists in )creating< the modern homosexual role, but one has to ask whether his creation was a Frankenstein monster that would soon turn to its creator.«37 Diese Ü berlegungen zur Konstruktion des Homosexuellen in der Sexual wissenschaft des Kaiserreichs haben nur scheinbar vom Thema der mann männlichen Prostitution abgelenkt, denn mit den Homosexuellen sind hier die Männer in den Blick geraten, die bei der mann-männlicher Prostitution als die N achfrager von Sexualität auftraten. Zur Darstellung von männlichen Prostituierten, also den »Anbietern« der mann-männlichen Prostitution, ließ Karl Heinrich Ulrichs im vierten Band seiner Forschungen einen homosexuellen Zeitgenossen zu \X/ort kommen, der über einen männlichen Prostituierten ausführt: »Er hat nie etwas anderes zum Geschäft gehabt, als nähen und sticken. [ ... ] Er ist durch und durch Weib. [. . .] Das liebste ist ihm eine stark ausgeprägte physische Mannheit. Seit ich ent deckt habe, daß er zwei Ausgänge zur Verfügung stellt und daß es ihm dazu noch einerlei ist, wer eindringen will, wenn er nur zahlt, ist mein Interesse an ihm dahin.«38 An anderer Stelle seines Werkes führte Ulrichs das Beispiel eines Pariser Prostituierten an, der sich vor dem dortigen Zuchtpolizeigericht verantworten mußte. Ulrichs zitierte aus der Pariser Gerichtszeitung: »Ist das ein Mann? Sein Haar ist gescheitelt. In den Locken fällt es über die Wangen herab, wie bei einem gefallsüchtigen Mädchen. Um den Hals trägt er nur ein einfaches Tuch " Ja colin. Der Hemdskragen f.'illt in ganzer Breite auf die Schultern herab. Sein l'vlund ist süßlich, seine Augen schmachtend. Auf seinen Hüften schaukelt er sich wie ein spanischer Tänzer. Bei seiner Verhaftung tmg er eine Schminkbüchse bei sich.«J'>
Im Gegensatz zur geschlechtlichen Codierung des Homosexuellen als poten tiellem Freier, der bei Ulrichs über eine weibliche Seele in einem männlichen Körper verfügte, wird beim männlichen Prostituierten nun Weiblichkeit als Kontrastbegriff eingesetzt, indem vor allem Kleidung und Staffage des Pros-
37 FOllt, 1992, 269. 38 Ulriehs (4. Traktat »Formatrix« § 1 60, 1 865), 6 1 . 39 Ebd. § 37, S.22.
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tituierten E rwähnung finden und auf die Bevorzugung von rezeptiven, als weiblich geltenden Sexualpraktiken velwiesen wird. Auch der Sexualwissenschafder Albert Moll, ein konservativer Gegner der sexualwissenschaftlichen Anschauungen von Ulrichs und Hirschfeld, versah männliche Prostituierte mit weiblichen Eigenschaften, die sich vor allem auf deren Kleidung bezogen. So füh rte er 1 9 1 2 im Handbuch der Sexualwissen_ schaften aus: " Erstens gibt es Homosexuelle, die sich zu weibischen, selbst weiblich gekleideten IvEnnern besonders hingezogen fühlen, zweitens aber gibt es effeminierte homosexuelle Prostituierte, die gleichzeitig den Drang haben, selbst in Frauenkleidern zu gehen. Wenn sie in weiblicher Kleidung auf der Straße gehen, suchen sie damit einmal ihrem eigenen Hang nachzugehen, dann aber mit dem Angenehmen das Nützliche zu verbinden und homosexuelle 1Iänner anzulocken. Unter den weiblich gekleideten Prostituierten findet man gelegentlich solche, die man auf der Straße von einem Mädchen nicht unterscheiden kann«40
Diese Aussagen Molls fallen bereits in eine Zeit, in der die Ideen Hirschfelds einer durch weibliche Elemente codierten Körperlichkeit männlicher H omo sexueller großen Einfluß hatten. Die Sexualwissenschaft nahm bei den Part nern der mann-männlichen Prostitution eine Zuschreibung von \Xleiblichkeit auf unterschiedlichen Ebenen vor. Sie codierte bei homosexuellen Freiern den Körper, bei männlichen Prostituierten Kleidung und äußere Erscheinung geschlechtlich. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit kennt jedoch nur einen sehr pauschalen Kontrastbegriff Weiblichkeit als Mittel kultureller Stig matisierung; Nuancen und Zwischenstufen in der Zuschreibung weiblicher Eigenschaften, wie sie hier zu Tage treten, können durch den Begriffsapparat Connells nicht erfaßt werden. Hält man eine körperliche Codierung durch Weiblichkeit für stärker als eine vOlwiegend auf Kleidung bezogene geschlechtliche Codierung, wie sie bei den männlichen Prostituierten zu beobachten war, so kann für die Untersu chungsebene der Sexualwissenschaft von einer Unterordnung des homosexu ellen Freiers unter den männlichen Prostituierten gesprochen werden. Im Bereich des Strafrechts konnte man jedoch in Bezug auf Hegemonie und Un terordnung genau das Gegenteil feststellen. Nun hatten die Zeitgenossen des Kaiserreichs beobachtet, daß sehr häufig Soldaten der Prostitution nachgingen. Soldaten jedoch galten im Kaiserreich als exemplarische Verkörperung von Männlichkeit und entsprachen dem Ideal hegemonialer Männlichkeit auf besondere Weise. Ein Blick in die Texte der Sexualwissenschaft verrät uns, wie dieser Widerspruch gelöst werden sollte. So
40 Moll 1 91 2, 387.
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" D A S E K LE G E S C H M E ISS« führte Magnus Hirschfeld und des
1 9 1 4 in seinem Werk Die Homosex/ltllittif des Mt/lli/es
�I/'eibes aus:
"Wie schwer im homosexuellen Verkehr die Grenzen der Prostitution zu ziehen sind, zeigt nichts mehr als das Beispiel der mit Unrecht oft so benannren Soldatenprostitution. So lange es Krieger gibt, haben diese auf homosexuelle lVEnner eine besonders große Anziehungs kraft ausgeübt. [ ... 1 Im allgemeinen pflegen sie es nur während ihrer lVWitärzeit zu tun, und ließen es schon dadurch zweifelhaft erscheinen, ob es sich wirklich um Prostituierte handelt, die von einer geregelten Arbeit nicht viel wissen mögen.[ ... ] Die Gründe, welche den Solda ten zum Verkehr mit Homosexuellen veranlassen, sind mannigfach; einmal der Wunsch, sich das Leben in der Großstadt etwas komfortabler zu gestalten. [... ] \'Veitere Momente sind der Mangel an Geld oder an Mädchen, [ ...] die Furcht vor Geschlechtskrankheiten und die gute Absicht, der daheim gebliebenen Braut treu zu bleiben.« Die Argumentation Hirschfelds kann an dieser Stelle kaum überzeugen, denn die zwei zentralen Merkmale eines Prostituierten, erstens Sexualität mit Män nern zu praktizieren und zweitens Geld dafür zu bekommen, werden von Hirschfeld hier weder bestritten noch widerlegt. Statt dessen wird der Soldat mit dem männlichen Attribut des Kriegers belegt und es werden ihm Hetero sexualität, Arbeitswille und Treue in Bezug auf Frauen attestiert, während männliche Prostituierte als arbeitsscheu und weibliche Prostituierte als Reser voir von Geschlechtskrankheiten darges tellt werden. Daß Soldaten dem Ge werbe der Prostitution nachgingen, war also ein Wissen, das die Sexualwissen schaft
des
Kaiserreichs
nicht
verbreiten
wollte,
denn
sie
betonte die
Vorbildlichkeit des Soldaten und grenzte sie von Charakterzügen männlicher und weiblicher Prostituierter ab. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit kann ein Phänomen wie das der Soldatenprostitution nur unzureichend erfas sen. Mechanismen von Hegemonie und U nterordnung scheinen an dieser Stelle nicht zu greifen, denn hier entzieht sich ein Träger von kulturell beson ders hervorgehobener Männlichkeit durch sein individuelles Handeln genau dieser eindeutigen Zuschreibung von Männlichkeit.
3. Geld und mann-männliche Pro s titution Eine Betrachtung und Analyse von Prostitution wäre unvollständig, wenn man nicht auch den Blick darauf richten würde, welche Rolle Geld beim Prostituti onsgeschäft gespielt hat. Schon die Zeitgenossen im Kaiserreich erkannten dabei neben der rein wirtschaftlichen Bedeutung auch eine symbolische Be deutung von Geld bei mann-männlicher Prostitution. So war nach Hirschfeld die Geldzahlung des Freiers an den Prostituierten »in einem instinktiven Ge-
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fühl der Ü berlegenheit begründet [. . .] , den Partner z u bezahlen(� l . Es war für den Freier nach Hirschfeld quasi eine Art Kompensation für die gesellschaftli che Diskriminiemng der von ihm präferierten Sexualität, den Kontakt zu männlichen Prostituierten zu suchen. So konnte er zumindest ihnen gegenüber durch den Akt der Bezahlung Ü berlegenheit demonstrieren. Die S tigmatisie rung von mann-männlicher Sexualität führte hier also zu einem symbolhaften Tauschgeschäft, durch das sich der männliche Prostituierte seinem Freier un terordnen mußte. Nun könnte man annehmen, daß die Strafbarkeit von mann-männlicher Sexualität dazu geführt habe, daß der käufliche Erwerb dieser Art der Sexuali tät nur zu einem höheren Preis möglich gewesen sei als bei weiblich-heterose xueller Prostitution, denn streng regulierte oder gar verbotene Waren erzielen im Allgemeinen einen besseren Preis als weniger streng regulierte. Zudem treten bei mann-männlicher Prostitution Männer und nicht Frauen als Anbie ter von Sexualität auf, man könnte also vermuten, daß dadurch die Position des Anbieters stärker war, so daß männliche Prostituierte einen finanziellen N utzen aus der Strafbarkeit von mann-männlicher Sexualität hätten ziehen können. Solchen vorschnellen Hypothesen widersprechen jedoch die Berichte der Zeitgenossen. Zwar schildert Hirschfeld auch Fälle, bei denen es männli chen Prostituierten gelungen war, sich durch ihre Tätigkeit ein Leben in Luxus zu ermöglichen und sogar große Geldsummen anzusparen.42 Von solchen ungewöhnlichen Ausnahmen abgesehen jedoch waren »die Preise für die männlichen Prostituierten geringer wie für die entsprechenden Klassen der weiblichen«.43 Daran zeigt sich, daß die Diskriminiemng mann-männlicher Sexualität insgesamt so tief verwurzelt war, daß männliche Prostituierte daraus nur geringen finanziellen Nutzen ziehen konnten. Vor dem Hintergmnd eines durch das heterosexuelle Leitbild von Sexualität geprägten hegemonialen Männlichkeitsbildes gestand der Markt - anders als bei weiblich-heterosexuel ler Prostitution - »den sexuellen Leistungen des Strichjungen keine soziale Nützlichkeit«44 zu. Vor dem Hintergrund der Stigmatisierung und Tabuisie rung von mann-männlicher Sexualität erscheint der Faktor Geld hier als ))recht handfeste Praktik«, mit deren Hilfe der männliche Prostituierte marginalisiert werden konnte. Dennoch kann gerade im Bereich des Geldes nicht von einer klaren Do minanz des Freiers gesprochen werden. Es war bereits davon die Rede, daß für die Freier an den Orten der mann-männlichen Prostitution immer auch die
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Hirschfe1d. 1 9 1 4. 7 1 2. Hirschfeld, 1 9 1 4, 7 1 8. Hirschfeld, 1 9 1 4, 720. Stallberg. 1 990, 1 8.
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Gefahr bestand, in die Hände von Erpressern zu geraten. Die Möglichkeit, homosexuelle Männer zu erpressen, war eine Folge der S tigmatisierung und Tabuisierung von mann-männlicher Sexualität. Die Summen, die von Homo sexuellen im Zuge solcher Erpressungen verlangt wurden, überstiegen den »Preis« für die Bezahlung eines männlichen Prostituierten nach Aussagen un terschiedlicher Quellen um ein Vielfaches.45 Indem ein Freier auf dem Prostitutionsmarkt erschien, betrat er einen Ort, an dem seine gesellschaftlich marginalisierte Sexualneigung sichtbar wurde. Die Möglichkeit, durch ein sol ches Sichtbar-Werden einer Erpressung zum Opfer zu fallen, war Indikator für die gesellschaftliche Unterordnung seines sexuellen Begehrens. Während bei der Bezahlung eines Prostituierten Geld als Machtsymbol für die Dominanz des Freiers gelten kann, erscheint Geld bei einer Erpressung als Symbol für die Unterordnung des Freiers unter das durch H e terosexualität gekennzeichnete Leitbild von Männlichkeit.
4. Resümee Mann-männliche Prostitution als »der größte Schandfleck in der Geschichte der Menschheit«46 hat sich als ein sperriges Gelände der Auseinandersetzung um Männlichkeiten erwiesen. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit erschien a1s geeignete heuristische Folie, mit deren Hilfe dieses Feld abge grenzt und strukturiert werden konnte. So konnten in Texten der Sexua1wis sen schaft in der Tat Mittel kultureller Stigmatisierung gefunden werden und eine Analyse von Strafrechtsdebatten hat zudem recht handfeste Praktiken offenbart, die das Binnenverhältnis der mann-männlichen Prostitution be stimmt haben. Auch wurde deutlich, daß der fluß des Geldes bei mann-männ licher Prostitution insgesamt als ein »generatives Muster der Herstellung der sozialen Ordnung«47 angesehen werden kann. Die Details auszuleuchten, die auf diesem sperrigen Gelände sichtbar wer den, vermag ein theoretisches Konzept, das Männlichkeitsentwürfe aus der Perspektive dominanter hegemonialer Männlichkeit betrachtet, freilich nicht. Besonders die Interaktion und das Verhältnis unterschiedlicher Männlichkeits entwürfe, wie sie sich bei männlichen Prostituierten, homosexuellen Freiern,
45 Hirschfeld, 1 9 1 4, 873-898; Ostwald, 1 906, 46-55. 46 Krafft-Ebing, 1 886, 443. 47 Scbambach, 2004, 1 74.
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MARTIN LOCKE
Soldaten oder Erpressern gezeigt haben, konnten mit dem Konzept der hege monialen l\Iännlichkeit nur unzureichend erfaßt werden. So wurde zwar im Rahmen der Analyse von Strafrechtsdebatten über mann-männliche Prostitution deutlich, daß man von einer klaren Marginalisie rung männlicher Prostituierter sprechen kann, während es homosexuellen Freiern hier sogar gelang, am hegemonialen Männlichkeitsentwurf zu partizi pieren und zum Komplizen hegemonialer Männlichkeit zu werden. Eine Aus einandersetzung mit dem Faktor Geld hat j edoch gezeigt, daß aufgrund der Marginalisierung von mann-männlicher Sexualität keine eindeutigen Mecha nismen von Hegemonie und Unterordnung zu beobachten sind. Zudem hat sich bei einem Blick auf die Sexualwissenschaft herausgestellt, daß eine An wendung von Weiblichkeit als »Kontrastbegriff« zu Männlichkeit ein zu pau schales Kriterium darstellt, um die Interaktion von Miinnlichkeiten bei mann männlicher Prostitution zu analysieren. Für eine differenzierende Betrachtung verschiedener marginalisierter Männlichkeitsentwürfe bietet das Konzept keine Vorschläge an. Nicht »alles, wirklich alles«48, was auf dem großen Feld von Männlichkeit zu beobachten ist, läßt sich auf eindeutige Weise mit Mechanismen von He gemonie und Unterordnung beschreiben. Zwar lohnt es sich, im Sinne des Konzepts von Connell nach solchen Mechanismen zu fragen; die Antworten jedoch, die der historische Gegenstand auf eine solche Frage anbietet, fallen differenzierter aus und müssen der Vielfalt von Männlichkeitsentwürfen, wie sie bereits im Kaiserreich zu beobachten waren, Rechnung tragen. Bei einer Analyse der Männlichkeiten von S trichern, Freiern, Soldaten oder Erpressern kann ein Forschungsprogramm Vorbild werden, mit dem bereits Magnus Hirschfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts Homosexualität insgesamt be trachten wollte:
»Der homosexuelle Teil der Menschheit bildet in der großen Welt eine kleine Welt für sich, klein im Verhiiltnis zu der übrigen, aber groß genug an Ausdehnung und Bedeutung, um auf das eingehendste erforscht zu werden. \Xfer diese terra incognita richrig erkennen und beur teilen will, muß wie ein Forschungsreisender ausziehen, um das fremde Gebiet von Grund auf zu studieren. V 01' allem darf das Material, aus dem der Forscher seine Schlüsse zieht, kein Zufallsprodukt sein. Dazu ist die Anzahl homosexueller j\,Iänner und Frauen und ihre Verschiedenheit zu betriichtlich.«49
48 Schmale, 2003, 1 54. 49 Hirschfeld, 1 9 1 4, V.
V01'
allem
171
" D A S E KLE G ES C H M E I S S « Literatur Baumann, Jürgen:
Paragmph 1 75. Ober die MiJglithkeit, die fi,,}i/ehe, /lid;tjllgendgejiihrdmde IIlId
l/ichtiJ!felltli,he HottJosexualitiil ul/ter Envachsetletl strajJrei '\fl lassen ('\f{�/eich eitl lleitll(Jt '\flr Silktilatisiertlllg des Stmjiuhts), Berlin 1 968 Burchard, Ernst: Erpmser-Prostittltion, Berlin 1 905
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Männerbund Fußball - Spielraum für Geschlechter im Stadion Ethnographische Anmerkungen in sieben Thesen
!
Almtlt Sül:?:!e
Veränderungen im Fußballfe1d? Fußball und die Fußballfankultur sehe ich als wichtigen Ort gesellschaftlich wirksamer Konstruktionen von Männlichkeiten. Fußball ist Männersport, und Fußballfans sind normalerweise männlich. Mit Fußballfans wird Grölen und Saufen, Kameradschaft und Gewalt assoziiert. Zumindest für manche Fans ist das Fußballstadion der letzte Ort, an dem sie
echte MClnn/icbkeit
- was auch
immer das sein mag - leben können. Kurz: Fußball ist eine Männerwelt. Nicht so sehr die zahlenmäßige Ü berlegenheit männlicher Fußballfans
(70-80 Pro
zent)2, sondern der Mythos, die Geschichte und die kulturelle Wertigkeit des Fußballsports sind der Grund für die männliche Konnotation des Fußballs ta dions. Die hohe Aufmerksamkeit, die der Frauenfußball seit der gewonnenen Weltmeisterschaft genießt, zeigt eines deutlich: In den Medien werden Fuß ballerinnen, weibliche Fans und Sportschaumoderatorinnen zur Ausnahme stilisiert. Fußball ist also eine Männerdomäne und zugleich ein Feld, in dem sich einiges tut, in dem auch Geschlecht aktuell neu verhandelt wird. So sagt Stefan Krankenhagen eine Ausdifferenzierung des »streng männlich-heterose xuell geordneten Fußballkosmos« voraus, indem er auf Verschiebungen von der Peripherie durch schwule Fanclubs und türkische Mädchenmannschaften verweist.3 Zeitgleich entfernen sich einzelne Fußballer vom männlichen Heldenideal, indem sie zu Popstars werden, die (wie D avid Beckham) schon
1 Meine Beschäftigung mit Fußballfans ist Teil einer ethnographischen Untersuchung, die in clen Männerdomänen Bundeswehr, Elektrotechnik und Fußball nach den jeweiligen Sichtwei sen auf clas Geschlechterverbältnis fragt und aufzeigt, mit welchen Strategien sich junge Frauen in diesen Feldern bewegen. 2 Angaben zum Frauenanteil unter clen Fans im Stadion fehlen. Zuschauerbefragungen legen jedoch einen Frauenanteil von 20-30 Prozent nahe. der vermutlicb bereits seit den zwanziger Jahren unverändert ist (vgl. SeImer, 2004, 1 8; ":tetzel, 2000, 29). 3 Im Ankündigungstext für das Studierendenprojekt Fußball (SoSe 2004), Europäische Ethnologie, HU Berlin.
1 74
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einmal zugeben, daß sie Frauenunterwäsche tragen oder gar für ein Schwulen magazin als Pin-up posieren. Fußball und Fankultur sind meines Erachtens nach
nicht Abbild oder Spie
gel der Gesellschaft, was in soziologischer und ethnologischer Literatur über Fußball fans o ft behauptet wird. In der Folge von Klaus Theweleits
Tor �pr
IFeit ist die Betrachtungsweise »Fußball als Realitätsmodell« auch wieder ver
s tärkt in den Feuilletons sowie im Politik- und Wirtschaftsteil großer Zeitun gen aufgetaucht und hat die Mode aufleben lassen, gesellschaftliche Verände rungen als Folge fußballerischer Entwicklungen zu diskutieren. Theweleit hat dazu eine »Regel« aufgestellt: »Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch infor miert<<". Schon alleine der geringe Anteil an Frauen, und der noch geringere an Ausländern und Homosexuellen im Publikum spricht gegen die Gleichsetzung von Stadion und Gesellschaft. Auch wenn hier wie dort die vorhandenen Frauen unsichtbar gemacht werden und die selben Ausschlussmechanismen wirken. Im Gegensatz zu Politikern jeder Couleur hat sich noch kein schwuler Profifußballer »geoutet«.5 Matthias Marschik beschreibt den Fußball als »Rück zugsgebiet« und »Reservat scheinbar ungebremster Maskulinität«, in dem ge sellschaftliche Veränderungen zumindest kurzfristig keine Wirkung zeigen.6 Zugleich stellt Marschik fest, daß der Fußball aufgrund seiner Massenpopula rität ein Ort ist, an dem gesellschaftlich wirksame kulturelle Vorstellungen geprägt werden. Fußball i s t also ein Teil (und sicher nicht der fortschrittlichste) der Gesellschaft und mitnichten Abbild des gesellschaftlichen Ganzen. Vier Veränderungen in jüngster Zeit sind dabei augenfällig: 1)
Für die männerbewegte Linke wie für die Schwulenbewegung war die Ablehnung von hegemonialer Männlichkeit lange Zeit synonym mit der Ablehnung von Fußball. Diese Gleichsetzung gilt heute nicht mehr.?
2)
Das Interesse an Fußball ist nicht mehr exklusiv männlich:
5 1 Prozent der
Frauen und 52 Prozent der Männer sagen i n einer Emnid-Umfrage, sie
4 Thcwcleit, 2004, 1 16. 5 Vergleiche Spiegel OlIlilIe 29.10.2004: Warten auf das Coming· out, http://www. spicgc1.de / sportl fussball/0,1 5 1 8,324932-2,00.htm1. 6 J\!arschik, 2003, 8. 7 Vereinzelt gibt es schwule Fanclubs (z.B. Herta-Junxx; Stuttgarter J unxx, Dynamo Junxx), die spätestens seit dcr Fußballkomödic "Männer wie wir" von großcm Medieninteresse begleitet werden. VgI: "Hauptsache ihr packt mich im Stadion nicht al1«, Stl/ttgolter Zeitlll(g vom 6. 1 1 .2004 oder die Sonders ci te "Schwule im FußbaU" in der Frallk/lIIler Rlllld.,cbol/ vom 1 5. 1 1 .2004.
lvI A N N E R B U N D F U S S ß A L L
1 75
schauen wichtige Länderspiele im Fernsehen an. Für die B undesliga hinge gen schalten 3)
50 Prozent der JVlänner, aber nur 1 8 Prozent der Frauen ein.8
Der Frauenanteil unter den Stadionbesuchern hat sich, entgegen anderslau tender Vermutungen in den Medien und auch in den Vereinen, nicht be trächtlich erhöht. Verändert hat sich aber die mediale Sichtbarkeit von Frauen. Die Kamerafahrt in den Ausschnitt eines möglichst leicht beklei deten weiblichen Fans gehört inzwischen zum Stimmungs-Füll-Material je der Fußballsendung.9
4) Durch die Kommerzialisierung der Fußballkultur weg von proletenhaftem S tehplatzpublikum hin zu zahlungskräftigem Eventpublikum soll der Fuß ball ein familien freundliches Ereignis werden. Dadurch werden Frauen (genauer: Mütter und Ehefrauen) als Zuschauerinnen erstmals angespro chen und wahrgenommen, z.B. indem der Fe Bayern Boutiquen in den Sradionkatakomben plant. 1O Trotz dieser Veränderungen erweist sich die Fußballfankultur als iiußerst hart näckig männlich, der Konnex Fußball und Männlichkeit wird meines Erach tens nach davon nicht in Frage gestellt. Meine These lautet vielmehr, daß die dort verkörperten traditionellen und an militärischen Werten orientierten Männlichkeiten ein wichtiger Faktor für Fußballfans (Frauen wie Männer) sind. Darüber hinaus soll hier untersucht werden, ob Fußball mit der ihm innewohnenden symbolischen Dars tellung einer gesellsch aftlich veralteten traditionellen Männlichkeit nicht auch eine Art Rückgrat moderner hegemoni aler Männlichkeit darstellt. Auf der Suche nach Antworten begeben wir uns an den Bieberer B erg, in den Fanblock der O ffenbacher Kickers.l I Im folgenden werde ich anhand von sieben Thesen schlaglichtartig aufzeigen, wie Ge schlecht und Geschlechterverhältnisse unter den Fans im Stadion hergestellt werden.
8 Zitiert nach Gunter Gebauer: »Stürmt ihr Helden«. In: Die Zeit vom 1 0. 06. 2004. 9 VgJ. Hagel / WetzeI, 2002. 1 0 Laut einer bisher nicht veröffentlichten Untersuchung des Tübinger Sportwissenschaftlers Ansgar Thiel (Vortrag am 1 5.6.2004 zur GlobaJisierung des Fußballs, Universität Tübingen), erreicht der Fe Bayern mit seinem familienorientierren Marketing im Stadion eine Fmuen quote von über 40 Prozent. 1 1 Neben teilnehmender Beobachtung bei OFC-Fans über drei Spielzeiten, sflitzen sich meine Aussagen auf neun qualitative Interviews mit drei Miinnern und sechs Frauen aus der aktiven Fanszene im Block Zwei, dem Fanblock.
1 76
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Kickers Offenbach Die Kickers O ffenbach (OFC) leben vom Nimbus des Traditions- und A rbei tervereins. Sie spielen zur Zeit in der Regionalliga Süd. Bekannt wurden die O ffenbacher Kickers vor allem durch den Bundesligaskandal 1 97 1 . Obwohl der Verein die damals weit verbreitete Pra.xis gekaufter Spiele aufdeckte, muß ten die Kickers in der Folge aus der Bundesliga absteigen. Seitdem wechselt der Verein zwischen dritter, zweiter und vierter Liga mit einem kurzen Gast spiel ( 1 983) in der ersten. Die Anhänger des OFC gelten dagegen als zumin dest zweitligatauglich und haben den Ruf, besonders treu und auch besonders gefährlich zu sein. Legendär ist die Feindschaft gegenüber Eintracht Frankfurt, genährt durch das permanente Gefühl, im Schatten der Banken-, »Bonzen« und DFB-Stadt auf der anderen Mainseite zu stehen. Im Stadion und auch im Fanblock sind Frauen aller Generationen anzutreffen (vgl. Abb. 1 ) . Von 1 972 bis 1 983 existierte die »Damen-Fußball-Abteilung« des OFCI2 und seit 2002 gibt es eine Damenmannschaft, die Lady Kickers, die sich aus der Fanszene heraus gegründet hat.
A M.
1: Generationen - Rot-IFeifi II11d {mn! gemischt im Fal1block des OFC
Foto: ['t1I/IJ/t1gtlfijl/ ER(//7N
1 2 o.F.e Kickers 200 1 , 189.
M Ä N N E R BU N D F U S S B A L L
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Einer meiner Interviewpartner sagte, auf das Thema Geschlecht angesprochen: »Mann und Frau ist wie Frankfurt und O ffenbaclw. Dieser These möchte ich im folgenden widersprechen: Im Stadion ist ein Miteinander von Frauen und Männern möglich, die durch den Main gezogene Trennlinie zwischen Fans kann dagegen nicht überschritten werden. Beide Beziehungen leben jedoch davon, in der Abgrenzung erst das Eigene herzustellen.
Erste These: FIIßball ist tIJ{jnnerbiindisch organisiert. Männerbünde definieren sich zuallererst durch den Auschluß von Frauen und haben das Ziel, die gesellschaftliche Vorherrschaft von Männern aufrecht zu erhalten. 1 3 Laut Eva Kreisky sind sie männerbezogene, hierarchisch organi sierte Wertegemeinschaften, die neben einer rationalen auch eine »emotiollale, affektive und häufig erotische Basis«14 haben. Die emotionale und auch affektive
Involviertheit von Fußball fans ist auf den ersten Blick im Stadion ersichtlich und so präsent, daß o ft davon gesprochen wird, Fußball sei der einzige Ort, an dem \' l Iänner Gefühle zeigen können. Auch die von mir interviewten - männli chen - Fans erzählten gerne über ihre emotionale Beteiligung und von vielen ö ffentlich vergossenen Tränen. Inwiefern das Handeln der Fans rational, also für sie selbst sinnhaft ist, wird sich später erweisen. Die hierarchische Organi sation der Fankultur zeigt sich in den starr geregelten, z.B. von Richard Utz und Michael Senke nachgezeichneten, Wegen, wie aus »Novizen« »Vorsinget« oder »Veteranen« werden können . 1 5 Homoerotik ist im Fußball weitverbreitet, Küsse und Umarmungen sind auf dem Platz wie auf den Rängen üblich, und unter jugendlichen Auswärts fahrern sind Männerstrips eine beliebte Unter halrung. Eva Kreisky sagt weiter: »Männerbünde haben eigene Verkehrs formen, Wertmaßstäbe und Denkfiguren: Treue, Ehre, Gefolgschaft, Gehorsam, Un terwerfung. Männerbünde bedürfen der Aura des Geheimnisvollen. Initiati onsriten, Zeremonien, magische Techniken und Sprache »verbinden«. Künstli che Feindbilder (Bolschewismus, Weiblichkeit) schweißen - trotz aller internen Differenzen und Gegensätze - zusammen<<.16 Das vordergründige Feindbild im Fußball ist selbs tverständlich der »andere« Verein, an Riten und Zeremo-
13 Vergleiche Schweizer, 1 990. 14 Eva Kl'eisky: Formen institutionalisierter Männlichkeit. Vorlesung an der Universität Klagen furt. Skript mit dem Titel: "Politische Institutionalisierung von l\!iinnlichkcit. Konstruierte Miinnlichkeiten und ihr Einschluß in politische Metaphern und politische Institutionen«, ver fügbar unter: http://evakreisky.at/2004/klu/ [2. 1 1.2004; Hervorhebungen im OriginalJ. 15 Utz/Benke 1 997, I04ff. 16 Ebenda.
-�
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nien herrscht in d e n Fangruppierungen kein Mangel, man denke nur a n ge meinschaftliche Gesänge und Bewegungsabläufe oder Formen individuellen »Aberglaubens«, wie z.B. die Vorstellung von Fans, daß etwa ein bestimmtes Kleidungs stück, in bestimmter Weise getragen, zum Sieg der Mannschaft ver Ü bereinstimmung helfen kannY Fußballfankultur weist große mit Männerbünden auf. Es handelt sich aber um eine männerbündische Kultur, die zu etwa einem Viertel aus Frauen besteht.
Zweite These: Fal1kultur be:<jeht sich auf ritterliche/ llIilitdrische Ideale: K;illJpjel1, Trette, Kameradschaft, Konkttrren,\: Aus den Interviews lassen sich die Leitbilder der Fankultur herausarbeiten, diese Ideale sind eng mit der männerbündischen Ausrichtung verknüpft. Die Fankultur setzt auf die ritterlichen 1 8 Ideale Kämpfen, Einsatz und Treue. Homosoziale Männergemeinschaften folgen, laut Michel Meuser, immer einer »Strukturlogik von Wettbewerb und Solidarität«19. Ein echter Fan ist immer für den Verein da. Dafür verlangt er als einzige Gegenleistung, den Einsatz und Kampfeswillen der Mannschaft zu sehen und zu spüren. Die Spieler müssen ihr Letztes geben, dann ist es zweitrangig, ob sie gewinnen oder verlieren. Ein echter Fan lebt für den Verein und für die Fankultur in selbstloser Aufopfe rung. Kameradschaft untereinander wird groß geschrieben, und die Fanblocks unterschiedlicher Mannschaften konkurrieren um den besten Support und die beste Choreographie auf den Rängen. Diese Ideale werden gleichermaßen von Frauen und Männern geteilt. Oder anders ausgedrückt: Wer diese Ideale teilt, ist ein echter Fan, egal ob lvlann oder Frau. Die Einteilung in »echte« und »nicht-echte« Fans wird innerhalb der unterschiedlichen Fankulturen sehr wichtig genommen. Das auch von den (noch) nicht »Echten« geteilte Idealbild des Fußball fans wird gerade durch die Anerkennung auch der »Unechten« unumstößlich. Sicherlich zählt sich von den zahlenden Zuschauern nur ein kleiner Teil zu den wirklich »echten« Fans, selbst im Fanblock halten viele diesen Titel für zu viel der Ehre für sich selbst. Der »echte Fan«, eine Form von dominanter Männlichkeit, die zwar viel beschrieben, aber selten genau so
1 7 Die ethnographische Fußball-Literatur bietet einige Untersuchungen zu Ritualen, beispiels weise Kipp, 1 998, Becker/Pilz, 1988, Lindner, 1 980. 18 Zur Ritterlichkeit in der H ooliganszene siehe auch Konstantinidis, 2000 und lvlatthesius, 1 992. Grundsätzlich finden sich im Fanblock der O ffenbacher Kickers ähnliche Ideale wie in der Hooliganszene, was auf die Verwurzelung bei der in proletarischen Milieus zurückzuführen ist. Bei den untersuchten Fans führen diese Ideale jedoch nicht wie bei den Hooligans zu einem Ausschluß von Frauen von den zentralen Praxen (nämlich den Prügeleien). Vielmehr können im Fanblock diese Ideale von Frauen wie Männern geteilt und gelebt werden. 19 Meuser 2004, 34.
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von Einzelnen gelebt wird, lebt durch die permanente Wiederholung in der Beschreibung, die fast schon einer Beschwörung gleicht.2o
Ab/;. 2: Klftte Foto: .füttle
-
Fußball, Bier und geile Weiber
20 Die inhaltliche Auffüllung dessen, was genau ein echter Fan ist, variiert sowohl zwischen unterschiedlichen Vereinen (abhängig von der Verortung des Vereins als proletarisch, ost deutsch usw.) als auch zwischen Tribünensitzern, Fanblockstehern und Hooligans (vgl. Bin roth, 2003, Schwenzer, 2002).
1 80
A L M LI T
S lI L Z I . E
Dritte These: SexislJ'/IIs gebod iflr Fankt/ltllr. Sexismus im Stadion kommt in vielfältigen Formen und auf verschiedenen Ebenen vor. Sexismus in Bildern (vgl. Abb.
2) und Texten ist allgegenwärtig. So
findet sich zum Beispiel auf der Fanseite einer begeisterten OFC-Anhängerin eine Sammlung von mehreren hundert Fangesängen, unter anderem der be liebte Song: »Wir sind die besten, wir komm'n aus Hessen, wir ham die Längsten, die andern kannst vergessen. Ham Lars Mayer und dicke Eier, und können immer wieder feiern«2 1 . Die Song-Sammlerin kommentiert ihre Samm lung mit dem Ausspruch »das Stadion ist schließlich keine Kuschelecke«. Der Sexi.rllllls
im direkten Umgang unter
den Fans zeigt sich sicherlich am häufigsten
im Zusammenhang mit der immer wieder mantraartig wiederholten Weisheit, daß Frauen von N atur aus Abseitsregeln nicht verstehen. Beliebt sind auch »Ausziehen, Ausziehen« Rufe gegenüber Cheerleadern. Eine weitere Form nenne ich den o ffiziellen Sexismus, der aus Fußballgremien in die Ö ffentlichkeit getragen wird. Berti Vogts zum Beispiel möchte den Fußball freundlicher gestalten und stellt sich das so vor: »Haß gehört nicht ins Stadion. Die Leute sollen ihre Emotionen zu Hause in den Wohnzimmern mit ihren Ehefrauen ausleben.«22 Diese Formen von Frauenfeindlichkeit und Sexismus sind wichtiger Be standteil der Fankultur. Folgendes Gedankenexperiment macht das deutlich: Es ist unvorstellbar, die jetzige Fankultur als Ganzes zu behalten, aber den Sexismus einfach wegzulassen. Dazu spielt der Sexismus eine viel zu große Rolle im Rekurs auf die Männlichkeitsvorstellungen, die die Fankultur tragend prägen. Trotzdem bewegen sich nicht wenige Frauen mit Freude in diesem U m feld. Eine I nterviewpartnerin meint dazu: »Wieso nicht, hier ist es genauso frauenfeindlich wie draußen, nur offener« (Ute, Sprüche von Männern sagt Kerstin
30, Lehrerin). Ü ber dumme
(23, Logopädin): »Ich lache halt drüber, ich
finde das völlig in Ordnung, sonst würde ich ja nicht hingehen.« Was sie wirk lich »haßt«, sind Frauen, die in weißen Hosen in den Fanblock kommen und sich dann darüber beschweren, wenn jemand Bier drüber spritzt: »Hier geht es halt manchmal etwas rauher zu, und so ein Rumgezicke mag ich nicht.« Mit der Ablehnung von zickiger Weiblichkeit wird im Gegenzug der Sexismus der Männer verniedlicht. Sexismus gehört, wie Saufen und Ungerechtigkeiten dem Schiedsrichter gegenüber, zum Fußball dazu. Indem die Frauen dies anerken nen, können sie sich selbst als Insiderinnen zu erkennen geben.23
21 Vergleiche http://www.ofcjenni.de.vu [16. 1 2.2004J. 22 Zitiert nach Tatort Stadion. Eine AusstelJung zu Rassismus und Diskriminierung im Fußball. http://www.tatort-stadion.de/ [16. 12.2004) . 23 Vergleiche Wetze!, 2004.
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M ÄNNERBUND FUSSBALL
Nicole Selmer beschreibt in
Lf7atching the Bqys Plqy,
inwiefern Frauen durch
die Verharmlosung von Sexismus ihre Anwesenheit im Stadion rechtfertigen:
"Was hieße es denn, ernst zu nehmen, daß deine Anwesenheit und Kompetenz hinterfragt wird, noch bevor du einmal den ]\[und aufgemacht hast, daß Spieler beleidigt werden kön nen, indem man sie als >Mädchen< bezeichnet, daß Frauen wie selbstverstäncUich betatscht und als Ausziehpuppen behandelt werden können? [ ...) Das ernst zu nehmen und auf sich selbst zu beziehen, bedeutet, auf etwas zu verzichten, was eine so wichtige Rolle im Fußball spielt: Dabei sein, dazu gehören, Samstagnachmittag nach Hause ins Stadion kommen und dort willkommen sein. Wenn du als Frau auf der Tribüne die Männer neben dir wegen sexistischer Sprüche kritisierst, dann kann das eine Aufkündigung deines Fanstatus sein, der Ausstieg aus dem Boys< Club, in dcn du doch gerade erst aufgenommen wurdest. Und das womöglich, um sich mit einem Cheerleader-Mädchen zu solidarisieren, deren Anwesenheit im Stadion dir eigentlich selbst auf die N erven geht. Ist es das wirklich wert?«24 Der Ausschluß durch Sexismus wird erst in dem Moment wirksam, wenn Frauen gegen ihn Stellung beziehen und damit die Grenze sichtbar machen, indem sie sich auf die Seite der Frauen s tellen und so ihren Status als Fan unter Fans verlassen. Dennoch gibt es weibliche Fußball fans, die sich von all dem nicht beein drucken und schon gar nicht abschrecken lassen. »Als emotional beteiligter Fan beim Fußball zu sein, verändert nicht nur die Wahrnehmung der Berechti gung von gelben Karten, sondern auch die Sensibilität gegenüber sexistischen Sprüchen«.25 Für Fans sind andere Dinge am Fußball wichtig. Zuallererst und das ist zentral - natürlich der Fußball, aber es gibt auch noch weitere Gründe, warum sie sich in der Fanszene bewegen.
Fußball als lvftlmlerdomiine eröffne! die Freiheit, sich i}/Ji.rchen deJ1 Ge schlechtern '
Vierte These:
Diese These ist auf den ersten Blick vielleicht überraschend, und ich behaupte sogar noch weitergehend, daß Fußballfankultur diese Freiheit, wenn auch in unterschiedlicher Weise, sowohl für Frauen als auch für Männer zur Verfü gung stellt. Kerstin z.B. sieht für sich im Stadion die Chance, nicht weiblich sein zu müssen:
"AIso, ich komme mit der Masse Männer besser klar als mit der Masse Frauen, weil Frauen leider nie das sagen, was sie wirklich meinen, und ich hasse das. Also ich bin halt eben an ders, ich sage halt knallhart ja oder nein und dann meine ich das auch so, und ich finde es
24 SeImer, 2004, 93. 25 SeImer, 2004, 9 1 .
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furchtbar, wenn Leute so um den heißen Brei rum reden anstatt z u sagen, was sie wollen. Ich komme damit nicht klar, ich bin da ein bißehen anders.« Kerstin ist anders als die »Masse der Frauen«, sie entspricht nicht dem Ge schlechterklischee. Für Kerstin ist Fußball eine Möglichkeit, sich zwischen den Geschlechtern zu bewegen und weiblichen Rollenanforderungen nicht zu entsprechen und, zumindest für eine Zeitlang, auch nicht an ihnen gemessen zu werden. Kerstin kommt mit Männern besser klar und nimmt an sich auch viele Eigenschaften wahr, die sie eigentlich als männlich ansieht, wie z.B. Ehr lichkeit und schonungslose O ffenheit, statt »hinten rum« und indirekt Sein, was sie den meisten Frauen zuschreibt. Für Kerstin gibt es »die Masse Männer«, mit der sie besser klar kommt als mit »der Masse Frauen«. Sie unterscheidet mit dem Begriff »Masse« nach Geschlechterklischees, und innerhalb dieser Klischees sind ihr die zugeschriebenen männlichen Eigenschaften sympathi scher als die weiblichen. Einzelpersonen können sich aber zwischen diesen Polen frei bewegen. Die »Leute«, die um den heißen Brei herumreden sind unsympathisch, und das können Frauen oder Männer sein, zumeist sind es aber Frauen. Aus dem Kanon an geschlechtskonnotierten Verhaltensweisen können sich Männer und Frauen die zu ihnen passenden Werte aussuchen, auch wenn sie gegengeschlechtlich sind. Das bringt die eigene Identität als Frau nicht ins Wanken. Durch diese Wahlfreiheit werden, politisch gesehen, Geschlechtergrenzen verschiebbar. Zugleich ist es i n diesem System notwen dig, die Geschlechterunterschiede beizubehalten, weil ohne die gegenüberlie genden Pole auch keine Wahl und keine Grenzüberschreitung in das N ach barland mehr möglich ist. Diesen Freiraum gibt es auch in ganz ähnlicher Weise für Männer. Lothar Böhnisch fragt, ob David Beckham, im Kontrast zu Oliver Kahn, nicht eine »Gender Confusion« im Fußball auslöst und kommt zu dem Schluß, daß »Beckham in der femininen Welt der Pop szene zwar präsent ist, aber nie in ihr aufgeht, da er ja über den Fußball männlich geerdet ist. Ohne diese Erdung wäre er zwar ein Idol, aber kein männliches Idol«.26 Fußball kann also sogar Mädchenhaarbänder, Ohrringe und Damenunterwäsche männlich machen. Das Stadion ist ein so männlich konnotierter Raum, daß es für Männer (unter dem Deckmantel Fußball) möglich wird, ganz unterschiedliche Männ lichkeiten auszuleben, ohne i n den Verdacht zu geraten, unmännlich zu sein. Das zeigt sich auch an den Berührungen unter Männern, die auf den Rängen möglich sind. Da wird umarmt, geherzt und geküßt, aber auch öffentlich ge weint und getröstet. Auch Fürsorglichkeit für andere »harte Jungs« gehört zum guten Ton. Im Fanblock gibt es ein Sammelsurium an »Gestalten« und kurio-
26 Böhnisch, 2003, 230.
MANNERBUND FUSSBALL
1 83
sen Typen - und auf diese Buntheit und Vielfalt ist man in Fankreisen beson ders stolz. Darunter sind auch viele Männer, die gemessen an den stadionin ternen l\fännlichkeitsanforderungen, »Versager« sind oder deren Körper nicht vom Sport gestählt, sondern vom Bier gerundet ist. Auch Fabian Bdindle und Christian Koller verweisen auf die fußballerischen Kräfte der Vermännlichung:
» Die grundsätzlich männliche Konnotation des Fußballs erweist sich zählebiger denn die einzelnen Konzepte von Männlichkeit, die sich nicht nur über die Zeit veränderten, sondern teilweise zum selben Zeitpunkt je nach sozialer Schicht stark differierten [ .. .]. Interessanter weise waren aber verschiedene Männlichkeitskonzepte - der emotionslose )upper dass< Gentleman, der raue Bergarbeiter oder der hyperpotente rebellische Jungstar - mit dem Fußball kompatibel, während die Konzepte der Weiblichkeit stets außen vor blieben.«27 Selbst Männer, die auf den ersten Blick sehr weiblich wirken, müssen nicht befürchten, ausgegrenzt oder angegriffen zu werden - natürlich unter der Bedingung, daß sie glaubhaft versichern können, nicht schwul zu sein. Sie alle sind alleine durch ihre Anwesenheit im Fanblock irgendwie eine Gemeinschaft und irgendwie männlich. Bei so viel Verschiedenheit können selbst Frauen in diesen bunten Männerverein aufgenommen werden.
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Bqy? Girl? - Vie!falt der Haar/iillgell ist möglich
Foto: Sii!,?!e
27 Brändle/ Koller, 2()(J2, 231 . Diese Sichtweise gilt für Deutschland, die Beziehung zwischen Fuß ball und Männlichkeit hat sich sehr unterschiedlich entwickler. Fußball ist in den USA eine typische Frauensportart und in Japan ist die Fankultllr des Männerfußball weiblich geprägt.
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Fünfte These: Jvfdll11ergeJl'alt macht StimlJlung. Gewalt spielt im Stadion auf mehreren Ebenen eine Rolle. Fans haben generell den Ruf gewalttätig zu sein, zudem provozieren Hooligans, gewalttätige Ord ner und die Polizei eine aggressive Stimmung, die im Stadion als selbstver ständlich anzusehen ist. Alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind in unterschiedlicher Weise von dieser aufgeladenen Atmosphäre fasziniert. Am meisten kann sich Kerstin dafür begeistern:
» Bei irgendeinem Heimspiel da waren auch so viele Fehlentscheidungen vom Schiedsrichter, und also das war richtig fies irgendwie, und da sind sie bei uns da unten alle auf die Zäune hoch und haben dann dcn Zaun fast umgcrissen, und da hätte es echt fas t noch richtig Stress gegeben, und irgendwie ist es zwar asozial, ich würde es auch selber nie machen, aber ... wenn die anderen das machen, das finde ich, das überläuft mich dann immer, ich weiß auch nicht (Lachen).« Das Interessante ist also gerade die Gewalt, die Männer gegeneinander aus üben, beziehungsweise die Gänsehaut, die beim Zuschauen entsteht. Beteiligen möchte sich Kerstin an den körperlichen Auseinandersetzungen nicht, auch wenn sie schon mal einen Kumpel aus dem Kampfgetümmel zieht, um ihn zu schützen. Zumeist gibt es ja gar keine realen gewalttätigen Auseinandersetz ungen, sondern nur eine »gewaltige« Stimmung. Der Polizei wird dabei am Spielrand die Rolle zugewiesen, die Gefährlichkeit der Fans zu untersteichen und die Stimmung zu perfektionieren.
Sechste These:
Typisch Jl1eiblich? Nein Danke!
Neben den echten Fans, die sich dadurch auszeichnen, daß sie die oben be schriebenen Ideale der Fankultur weitertragen und hochhalten, gibt es noch andere Gruppen, die das Stadion bevölkern. Für jedes Geschlecht sind inner halb der Fankultur verschiedene Rollen vorgesehen, die »Frauenrollen« lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Die Fretl/ldin I)On
... wird mitgeschleppt, zumeist von einem Mann, und hat
keine Ahnung von Fußball.
Das Groupie
himmelt einen Spieler wie einen Popstar an und verletzt damit
das Gebot der Vereinstreue, denn Spieler kommen und gehen, Fans blei ben.
Die Cheerleader sind dumm, zickig und eine Sonderform der Groupies. Der echte rtll1) JJJeihlich unterscheidet sich fast nicht vom echten Fan, männ lich.
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Gemeinsam ist den ersten drei Gruppen, daß sie mit der Begründung »das sind keine Fans« von den echten Fans, weiblich wie männlich, abgelehnt und lä cherlich gemacht werden. Was Daniela Schulz in ihrem Fußballroman
Ktlf7JetigeiiJge
über Cheerleader
schreibt, deckt sich mit der Meinung meiner Interviewpartnerinnen:
" Über diese aufgetakelten selbstherrlichen Tussen [muß ich mich aufregen], weil sie das zerstören, worum ich schon Jahre kämpfe: Nämlich daß wir Frauen in der Fußballszene als gleichberechtigte und kompetente Gesprächspartnerinnen angesehen werden. Da kommen diese \Veiber einfach so in ihren kurzen Röcken dahergelaufen, wackeln dreimal mit dem Hintern, und prompt wird man als weiblicher Fan wieder auf dieses eine Frauenbild redu ziert: Blond, blöd und zum Ficken da. Cheerleader haben beim Fußball nichts zu suchen.«2H Die Beschreibung ihrer Ablehnung des Cheerleadings geht bei der 1 9jährigen Bürokauffrau Kassandra dann auch über in eine Ablehnung von weiblich gekleideten Spielbesucherinnen: »Was ich halt auch viel sehe, sind besonders im Sommer [so Mädchen] , da frage ich mich, was wollen die hier? Die kom men doch eigentlich nur her, um Jungs aufzureißen oder um sich Männer beim Fußball anzugucken, ja aber nicht weil sie der Sport interessiert oder diese Mannschaft Kickers O ffenbach. Das paßt zum Fußball überhaupt nicht.« Die Klassifizierung der Frauen orientiert sich vor allem an Ä ußerlichkeiten: Alles, was weiblich oder sexy aussieht, paßt nicht zum Fußball, und wer so aussieht, hat auch die Regeln des Fan-Seins nicht kapiert. Ü ber diese Ablehnung findet eine Auseinandersetzung mit traditionell Weiblichem statt, und die »echten Fans« können sich selbst als außerhalb dieser traditionellen Weiblichkeit de fimeren.
Siebte These:
Die Mci'tmerdo!JIcine soll Mcin1Jerdoltlälle bleiben.
Für die interviewten Frauen und Männer ist Fußball Männersache, sie gehen davon aus, daß das auch so bleibt und auch so gut sei. Sie füh ren die Unter schiede zwischen den Geschlechtern auf die unterschiedliche Sozialisation zurüc!c Bei Jungs ist das eben schon von klein auf so, daß sie mit Fußball konfrontiert werden. Sie sehen auch, daß ein paar Frauen mehr nichts danm ändern, daß es sich hier um eine Männerdomäne handelt. Kerstin findet es angenehm, sich in dieser Männerdomäne zu bewegen, daher hat sie auch keinen Grund, sich Veränderung zu wünschen. Wichtig ist nur, daß sie auch als Frau die Möglichkeit hat, akzeptiert zu werden und ein »echter Fan« zu sein. Ganz ähnlich sehen das auch die anderen weiblichen Fans. Und alle sind sich (mehr oder weniger direkt ausgesprochen) darüber
28 Schulz, 2004, 1 38.
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einig, daß ihre Form, an einer Männerwelt teilzunehmen und Respekt als »echte« Fans in dieser Welt zu bekommen nur funktionieren kann, solange es eine Männerwelt bleibt. D arum ist es nur logisch, daß sie selbst ein Interesse daran haben, den Nimbus der Männerwelt Fußball aufrecht z u erhalten. Auf die Frage, ob sie sich wünscht, daß mehr Frauen ins Stadion kommen, lacht Ute zuerst und antwortet dann:
»leh finde das eine ganz schwierige Sache, also natürlich würde ich mir das einerseits mehr wünschen. 'Xieil ich dann nicht mehr ganz so viel Gratwanderung habe, weil ich mehr Leute habe, mit denen ich vielleicht auf einem Nenner bin, aber natürlich ist für mich ja die Faszi natiun dabei, daß ich mich in dieser Szene durchsetze, ja? Alsu einerseits wünsche ich mir mehr Frauen, damit es mehr da so wird, wie ich mich normalerweise in meiner normalen \'felt wohlfühlen würde, [ . ] aber andererseits geht ja der Reiz grade dann weg.« ..
Zusammenfassend meint sie dann, ein Wegfall dieser Ausnahmeposition in der Männerwelt sei »irgendwie eine Auflösung dessen, was ich da eigentlich habe«.
Agentinnen in eigener Sache Alles in allem ist also das Fußball-Fan-Sein für Frauen ein Hochseilakt auf mehreren Seilen zugleich, aber gerade diese Schwierigkeit scheint auch einen Teil des Reizes auszumachen. Wie Undercover-Agentinnen (Abb. 4) bewegen sich die weiblichen »echten« Fans im Zentrum der »echten« Männlichkeit, beziehungsweise innerhalb einer männerbündisch organisierten Gruppe, und an einem Ort, an dem sie per Definition eigentlich gar nicht sein dürften. Wer sich dort durchsetzt, lernt, wie Männerbünde funktionieren, ein Wissen, das in einer patriarchal organisierten Gesellschaft für Frauen sicherlich sinnvoll ist; ein Wissen nicht nur für den Fußball, sondern für das Leben. Undercover Agentinnen bewegen sich möglichst unauWiIlig in einer fremden Welt, mit dem Ziel, Informationen zu sammeln, die dann gegen jene Welt strategisch eingesetzt werden. Fußballfans der Gattung »echter Fan Komma weiblich« stellen dieses Handeln auf den Kopf: Sie bewegen sich als Fans in einer männ lichen Welt, ohne durch ihre Geschlechtszugehörigkeit aufzufallen. Die In formationen über Wirkungsweisen und Strategien im Geschlechterverhältnis, die sie dadurch sammeln, nutzen sie jedoch nicht, um gegen die Männef\velt Fußball anzugehen. Vielmehr nutzen sie dieses Wissen, um außerhalb des Fußballs ihr Standing bei machtpolitischen Aushandlungen zu verbessern. Kassandra verblüfft ihre Kollegen und Kolleginnen manchmal durch laut vorgetragene Argumente, und die kleine zierliche Ute verschafft sich durch ihr Fußballwissen und -auftreten in jeder Hauptschule Autorität. Und ich bin mir
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sicher, keine der von mir befragten Frauen, ob sie sich jetzt im Alltag eher weiblich oder männlich geben, läßt sich im Büro oder auf dem Amt leicht von Männern
oder Chefs einschüchtern, die aggressive D rohgebärden gegen
selbstbewusste Frauen einsetzen. Sie haben gelernt, damit umzugehen; jedes Wochenende wieder.
A bb.
4:
Ul1dercolJer Agetltitltlen? EntscheIdend ist in/mer tloch aufdem Pfatz!
Foto: Siilzle
Frauen sind in der Fankurve etwas Besonderes, und das wollen sie auch bleiben. Sie sind inmitten der Fankultur, weil sie sich für Fußball interessieren, aber wenn ihnen das Stadion nicht gefallen würde, würden sie vermutlich (wie viele andere Frauen auch) Fußball im Fernsehen sehen. Sie haben sich nämlich unter anderem darum in die Fankurve begeben, weil sie im Fußball einen Ort gesucht haben, an dem sie nicht ständig mit der Zumutung konfrontiert wer den, sich »wie ein rich tiges Mädchen« zu benehmen. Im Gegenteil: Hier erhal ten sie Anerkennung dafür, wenn sie sich wie ein richtiger Fan verhalten. Da mit schaffen sie sich einen Freiraum, in dem sie nicht vorrangig über ihr Geschlecht defmiert werden. Das ist aber nur möglich, weil sie in einer Män nerwelt untertauchen, die so stark traditionell männlich geprägt ist, daß die Anwesenheit einiger Frauen in der Kurve dieses Gebilde nicht ins Wanken
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b ringt. Es geht m i r nicht darum, d e n weiblichen Fans vorzuwerfen, sie ver schlössen die Augen vor den sexistischen Zumutungen des Fußball umfeldes (eine andere Lesart von Abb. 4). Sondern im Gegenteil möchte ich aufzeigen, daß Frauen gerade an Orten, die männerbündisch organisiert sind Experimen tierfelder finden, sich jenseits vorgefertigter GeschlechterroUen zu bewegen und damit zeitweise das Geschlechterspiel aus einem gänzlich anderen Blick winkel zu betrachten. Ironischerweise, aber nicht überraschend, geschieht dies zu dem Preis, die Wirksamkeit der Geschlechterdichotomie i m Männerbund Fußball weiter zu verstärken und den dort verorteten Sexismus zu verniedli chen. Zum Kern des männerbündischen Fußballsports gehören für mich sowohl Gewalt als auch Sexismus .29 Die Männlichkeit des Fußballs funktioniert über die Abgrenzung zu Frauen und Schwulen, die in Sexismus und Schwulenfeind lichkeit mündet. Das bedeutet nicht, daß Veränderungen im Geschlechter kosmos auf den Stadionrängen nicht möglich wären. Vermutlich kommen sie aber eher von außen: zum Beispiel von Frauen, die nicht in den Club der »echten Fans« aufgenommen werden wollen und andere Wege suchen, sich im Stadion zu behaupten, etwa indem sie Kreisch-Ecken bilden. Katrin Kipp sieht i n der Praxis kreischender Mädchengruppen Anleihen aus der Popkultur: »Ohne Geschlechterklischees s trapazieren zu woUen, möchte ich behaupten, daß vor allem in der Bundesliga junge Mädchen ihre Fankultur »mitbringen«, die sie in anderen Fanbereichen (z.B. Popmusik) entwickelt haben«.30 Es ist aber auch ein zunehmend ironischer Umgang mit Sexismus im Fußball von Seiten der Frauen zu beobachten, indem beispielsweise für alle umstehenden Fans gut hörbar die körperlichen Vorzüge der Spieler von Frau zu Frau be sprochen werden, um dann nahtlos wieder in den männlichen Expertenjargon zu verfallen. Oder wenn auf Initiative des Frauenfanclubs ein Mister Stadion gewählt wird und damit ein sexualisierter Blick auf den männlichen (Zu schauer-)Körper unter den Fans für Verwirrung sorgt.31 Solche ironischen Einwürfe können sich aber nur die Frauen leisten, die in der Fankultur gut verwurzelt sind.
29
30 31
Ob Fußball zwar männlich aber nicht männerbiindisch, männlich aber nicht sexistisch werden kann, kann nur die Praxis zeigen. Für inspirierende und kontroverse Auseinandersetzungen zu diesem Thema danke ich Antje Hagel, Elena Konstantinidis, Victoria Schwenzcr, Nicole Scl mer, Steffie Wetzcl, Ralph Winkle und den Teilnehmerinnen der Fachtagung »Abseitsfalle? Fußballfans, weiblich. Theorie und Praxis des Fan-Sein aus weiblicher Perspektive« im Herbst 2004 in Oberurse!. Ein Tagungsband, der diese Kontroverse widerspiegeln wird, ist in Vorbe reitung. Kipp, 1 998, 47. Vg!. SeImer, 2004, 5 l ff.
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Fußball-Männlichkeit als Erdung von hegemonialer Männlichkeit »Hierzulande ist Fußball ein Inbegriff des Männlichen«, so beginnen Fabian Brändle und Christian Koller ihr Kapitel
Fußball und Geschlecl;t/2
Das wirft
wiederum die eingangs gestellte Frage auf, was Fußball denn mit hegemonialer Männlichkeit zu tun hat. Die im Fußball vertretenen Werte, die dortigen For men des Sexismus, das Laute, Chaotische und Gewalttätige, die offensichtliche gesellschaftliche Randständigkeit der Fans: All das verweist auf aussterbende Formen von stark proletarisch geprägter Männlichkeit, auf Formen protestie render Männlichkeit, nicht aber auf das, was Robert Connell als hegemoniale Männlichkeit bezeichnet: »jene Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt«.33 Die derzeitige hegemoniale Männlichkeit wird eher durch Finanzfachmänner oder Wissensmanager repräsentiert, deren Wertekosmos fernab der Fußball fankultur liegt. Das gilt aber nur auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich eine bemerkenswerte Tendenz zur Verbrüderung mit dem Fuß ball. Politiker und Banker kokettieren im S tadion mit ihrer Volksnähe, Feuil letonisten und Professoren der Sozial- und N aturwissenschaften beweisen durch Fußball-Faktenwissen ihre Menschlichkeit. Eva Kreisky verweist auf den
so,?!alen a,t Fußballplatz, auf dem sich Politiker gerne zeigen: »indem sich Poli tiker als ganz normale Männer geben, die - wie eben alldere Männer auch - auf den Fußballplatz gehen. Ü ber dieses männliche Zusammengehörigkeitsgefühl wird die Illusion genährt, daß die politische
Klasse eigentlich
gar nicht so fremd
und sozial abgehoben ist.«34 Auch hier dient Fußball der »Erdung« (Böhnisch über Beckham, vergleiche These vier) von Männern. Diese Erdung läßt sich beschreiben als Rückgriff auf die »gute, alte« Männlichkeit in der »guten, alten Zeit«, als vermeintlich noch klar war, was genau Männlichkeit ist und als Män ner-Orte noch ganz frei von Frauen waren. Diese Männlichkeit wird in der Rückschau singulär und ist nicht mehr von Klassenunterschieden bestimmt, tendiert aber eher zum Proletarisch-Körperlichen. Fußball, Autos, Militär und Technik, das war einmal wahrlich männlich. Die heutigen dominanten, offen sichtlich vielfältigeren lVlännlichkeiten können qua Fußball Rückgriffe auf traditionelle Männlichkeitsvors tellungen machen, unterstützt durch die gestie gene gesellschaftliche Wertung alles Popkulturellen. So komme ich nun zu der nicht mehr überraschenden These, daß Fußball unter anderem dazu dienlich
32 ßrändle/ Koller, 2002, 207. 33 Conncll, 2000, 97. 34 Kreisky, wie Anm. 14 [Hervorhebungen im Original].
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ist, beliebig widersprüchliche Dinge, Menschen, Bilder und Verhaltensweisen männlich zu machen. Schon eine geschickt eingesetzte Fußballmetapher ge nügt für ein männerbündisches Augenzwinkern über alle Milieus hinweg, es muß nicht unbedingt der von Gerhard Schröder um den Hals geschlungene Fanschal sein.
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Gewalt in Blau Zum Gewaltdiskurs in Blaubart-Texten des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Männlichkeitsforschung
Mollika 5zczepalliak
1 . Blaubart Die li terarische Blaubart-Figur stellt für die Forschungsperspektive der
stl/dies
JlJen
's
eine besondere Herausforderung dar. Die von Blaubart repräsentierte
Männlichkeit konstituiert und realisiert sich hauptsächlich in der Sphäre des Privat- und Familienlebens, in der er sich immer wieder mit Frauen einläßt und die Attitüde des patriarchalen Herrschers mehr oder weniger erfolgreich er probt. Der aus Märchen bekannte blaubärtige Mann, der Beziehung als blinden Gehorsam imaginiert und auf der Grundlage eines Verbots aufbaut, der Frauen verführt und dann zur Strafe tötet, kann als Fall einer problematischen, in Dauerkrise verharrenden Männlichkeit behandelt werden. Sobald die Frau das verbotene Gemach öffnet und dort die Leichen ihrer ermordeten V orgän gerinnen entdeckt, verwandelt sich der ritterlich-galante Bräutigam in den blutrünstigen Frauenmörder, der bedenkenlos die Rolle des Exekutors über nimmt. Der weibliche Tod ist jeweils Konsequenz der Enthüllung des auf Macht und Dominanz ausgerichteten männlichen Systems, dessen U nzuläng lichkeiten und Gebrechlichkeiten ein streng gehütetes Geheimnis darstellen. Mit Blaubart liegt kein Prachtexemplar von Männlichkeit vor, ihm geht das »genügende« Maß an erotischer Ausstrahlung, körperlicher Anziehungskraft, sexueller Aktivität und emotionaler Vitalität ab, folgerichtig genießt er keine volle gesellschaftliche Akzeptanz. Der blaue Bart sorgt für Angst und Beunru higung der umworbenen Frauen und läßt solche »typisch männlichen« Quali täten wie Kraft, H errschaft, Weisheit, Würde und Autorität anzweifeln. Sym bolisch steht die Farbe Blau für Grausamkeit, Kälte, Tod, Nacht und der blaue Bart des Frauenverführers und Frauenvernichters kann als Verweis auf Blau barts Abweichungen von der kulturellen Männlichkeitskonstruktion ausgelegt werden. Der Bart als Signum der Virilität ist »nicht in Ordnung« - er stellt einen körperlichen Makel, eine Art Gebrechen dar. Da die literarischen Blaubärte keine »abgerundeten« Helden sind, bietet der S toff die Gelegenheit, die Männlichkeit als etwas Problematisches und Fragiles
G E WALT
IN
BLAU
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zu untersuchen und auf habituelle sowie auf rituelle und inszenatorische Mo mente hinzuweisen. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, an der fragilen Maskulinität der literarischen Blaubart- Figur das von Walter Hollstein formu lierte männliche Dilemma »äußere Macht - innere Ohnmacht«l zu explizieren. Fokussiert wird eine der relevantesten Konstanten des Blaubart-Stoffs - die geschlechtsspezifische (männliche) Gewalt, und zwar sowohl als individuelle Verhaltensvariante bzw. habituelle Disposition, die oft als Reaktion auf Legi timationsprobleme und Krisen einzustufen ist, als auch als soziales Phänomen, das integraler Bestandteil der hegemonialen Männlichkeit ist. Die individuelle Variante des Gewaltparadigmas wird in den Texten von Eulenberg, Trakl und Schloßleitner verfolgt. Die strukturelle Gewalt2 ist in den zwei nach
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schienenen Romanen von Bachmann und Struck, die auf den Blaubart-Stoff mit den zentralen Topoi Eros, Tod und Gewalt rekurrieren, von besonderer Bedeutung. Blaubart ist ein monströser Gewohnheitstäter, der nicht davon ablassen kann, seine männliche Ü berlegenheit zu demonstrieren und frauen in extre mer Weise abzuwerten. Seine Gewaltaffinität entwickelt sich auf dem Hinter grund der anthropologisch-kulturellen Mechanismen männlicher Herrschaft und ist zugleich mit der Problematik der eigenen pathologischen Persönlich keit verbunden. Äl tere Blaubart-Texte (z.B. die Märchen von Grimm und Bechstein) zeigen grausame Gewaltszenarios, rücksichtslose Akte rabiater physischer Gewalt, schauererregende Mordserien. In den späteren Texten sind die Gewaltinszenierungen nicht immer so spektakulär wie in Märchen. Die Blutspur ist entweder nicht auf den ersten Blick zu erkennen oder die Texte schildern blutlose Varianten der Blaubart-Beziehung. Als Ausgangspunkt für die Analyse soll die von Michael Kaufman formu lierte These von der männlichen Gewalttriade dienen. Kaufman unterscheidet drei Dimensionen der männlichen Gewalt, die er als »einkodiert in psychische Strukturen und sozioökonomische Verhältnisse«3 versteht: die Gewalt gegen frauen, gegen andere Männer und gegen sich selbst. Kaufman betont nach drücklich, daß die Strukturen von Herrschaft und Kontrolle die Gewalt gene-
1 Hollstein, 1 999, 33. Unter struktureller Gewalt versteht man die von einem Herrschaftssystem auf das Individuum auf indirekte, fast unsichtbare Weise einwirkenden Zwänge. Nach Böhnisch und Winter ist die strukturelle Mälmergewalt durch die legitimierte alltägliche Gewaltförmigkeit von lnstitu tionen und Verkehrs formen gekennzeichnet: »Strukturelle männliche Gewalt ist gelebte he gemoniale Männlichkeit, besonders die Abwertung von Frauen, sozialräumliche Ausgrenzung bestimmter Personen und Bevölkerungsgruppen, Homosexuellen, Personen mit niedriger Schichtzugehörigkeit, Abnormaler im weitesten Sinne usw.« (Böhnisch / Winter, 1 997, 199ZOO). 3 Kaufman, ZOO! , !43. 2
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rieren und zugleich von ihr genährt werden. Die Gründe für die Gewalttriade glaubt der Forscher - und mit ihm viele andere - in der individuellen Repro duktion von Männerherrschaft (Sozialisation), der Bekräftigung von Männlich keit (Adoleszenz) und der Fragilität von Männlichkeit zu finden.4 Gewalt ge gen Frauen ist offensichtlich Ausdruck dieser Zerbrechlichkeit und Versuch, die Zweifel und Unsicherheiten zu bekämpfen (Virilitätsnachweis, dynamische Bestätigung von Männlichkeit). Für die Bestätigung der persönlichen Macht durch Gewalt scheint die Familie/Beziehung der günstigste Ort zu sein - hier können die (auch anderswo unerlaubten) Emotionen und Bedürfni sse aus agiert werden. Männergewalt gegen andere Männer ist nach Kaufman ein Mittel, durch welches die patriarchale Gesellschaft die Anziehung von Män nern zu anderen Männern gleichzeitig ausdrückt und entlädt.5 Gewalt gegen sich selbst versteht der Forscher als das »fortwährende bewußte und unbe wußte Blockieren und Verleugnen von Pas sivität einschließlich aller Emotio nen und Gefühle, die Männer mit ihr verbinden - Angst, Schmerz, Traurigkeit, Peinlichkeit«.6 Es handelt sich um die Verleugnung eines Persönlichkeits teils als Form der Gewalt gegen sich selbst, die zur Folge hat, daß eine ganze Reihe von Emotionen in Wut und Feindseligkeit umgewandelt werden. In Blaubarts rabiaten Gewaltakten, subtilen Unterdrückungsmechanismen und habituellen Unterlassungssünden im Umgang mit Frauen, anderen Män nern und dem eigenen Selbst lassen sich die von Kaufman ausgearbeiteten Dimensionen der männlichen Gewalt analysieren. Gleichzeitig verweisen die Texte auf psychosexuelle und sozioökonomische Ordnungen, auf denen die Eckpfeiler der Gewalttriade fußen.
2. Individuelle Gewalt In Eulenbergs Märchendrama
Ritter Blollba/1 trägt Blaubarts Gewalttätigkeit ein
Gepräge von Wildheit und Animalität - sie mutet wie ein Killerinstinkt an. Da es nicht gelingt, die jeweilige Partnerin nach eigenen Bildern, Sehnsüchten und Ä ngsten zurechtzumodeln, entwickelt sich eine perverse Psycho-Logik der Gewalt. Der Ton zynischer Verachtung nach der Verbotsübertretung antizi piert das blutige Szenario: »Das war deine Liebe also, du Hündin! Um die du solche Worte hängen konntest, daß sie glitzerte. Und alles zerschmolz im N u
4 K"uf111"n, 200 1 , 146-154. 5 K"ufl11"n, 200 1 , 162. (, K"ufm"n, 2001 , 1 63.
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vor deiner Neugier wie Schnee im März. Von hier bis zur Tür, nicht zehn Spannen weit reichte deine Liebe!«7 Blaubart will nicht warten, bis er »den Bullen bei ihr findet«, seine sadistischen Impulse treten o ffen zutage: »Sie soll wimmern vor Angst; ihr Blut soll mir über die Hände rieseln, ihre Augen zer brechen und wechseln.«8 Die Wollust der Grausamkeit geht aus diesen Worten hervor, ein perverser Instinkt, der entladen werden muß. Blaubart rennt ins Schloß und dann wieder hinaus, seine Hände sind ihm »festgefroren an ihrem Halse«, er muß sich die Ohren zuhalten, um ihr nachklingendes Wimmern nicht hören zu müssen. »Er beugt sich zu dem Teiche nieder und trinkt im Mondschein, schlürfend wie ein Tier.«9 Der Mord präsentiert sich hier als ein im Amoklauf vollzogenes kompen satorisches Handeln. Er ist Mittel der Problembewältigung, Ausdruck der defi zitären, ja pathologischen Persönlichkeitsstruktur, Reaktion auf mehr oder weniger bewußte Ängste, auf eigene Schwäche und Ohnmacht. Dazu kommt die problematische Sexualität und Blaubarts besondere N ervosität oder gar Rastlosigkeit. Er will sich zusammen mit der Geliebten einen Rausch antrinken und sein Verhalten macht den Eindruck, als würde er in einer Art Delirium handeln. Deutlich sichtbar sind bei diesem Blaubart ein mächtiges erotisches Gefühl, die problematische Sexualität, der zwanghafte Wunsch nach Kontrolle über weibliches Geschlechtsleben und die Dissoziation von Liebe und Sexua lität. Die Dialektik von Bedürfnissen nach Zärtlichkeit und Macht lassen ihn in die Hülle des Agg;ressors schlüpfen. Das jedoch bringt keine Befreiung aus den Aporien der phallischen Identität, sondern verschärft nur die unlösbaren Kon flikte. Den fatalen Nexus von Sexualität und Gewalt inszeniert auch das auf die Jahre
1 909/ 1 0 datierte dramatische Fragment Georg Trakls (aus dem Nachlaß
veröffentlicht) . Ein »dunkler Odem« (frakl) umschwebt die in Blallbtllt.
Ei/l Pllppen.rpiel in
szenierte Geschlechterbegegnung, bei der Hochzeit und Tod miteinander einhergehen. Die dumpf-düstere Atmosphäre des erotischen Alptraums im Anschluß an die kirchliche Zeremonie der Trauung wird bereits in der ersten Szene e rzeugt. Das Gespräch zwischen Herbert und dem Alten antizipiert die horrende »Blutbrautnacht
» < H ERBERT>: Laß mich fort, Greis, laß mich fort. Aasgeier umfhnern wieder den Ort!
7 8
ElIlenberg, 1 925, 306. ElIlenberg, 1925, 306.
9 ElIlenberg, 1925, 307.
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MONIKA SZCZEPANIAK
Sie gießen Blut auf die Schwelle hin D01·t wo die Braut muß niederknien Sieh Alter - siehst du das Blut? D E R ALTE: Der Fackeln flackernde GIUt!« 1O
-
Die zierliche Braut fürchtet sich vor der erotischen Kraft des Mannes, sie verschüttet den an Blut gemahnenden Wein, es dämmert ihr, daß »des B räut'gams zarte Rücksicht« (Shakespeare) von diesem Blaubartunhold nicht zu erwarten ist. Die Schlüssel-Szene bildet eine Zäsur im Text - die Mann-Bestie verhehlt nicht mehr, was das geheime Movens der Beziehung ist. Auf die Frage, was der am Hals getragene Schlüssel öffnet, antwortet der B räutigam:
"Es öffnet zum Brautgemach die Tür! Sein Geheimnis ist Verwesung und Tod, Erblüht aus des Fleisches tiefster Not. (Es schlägt l'v!itternacht! Alles Licht erlischt.) In Mitternacht du brünstige Braut Zur Todesblume greifend erblaut Sei dir dies sülle Geheimnis vertraut. Starb Gott einst für des Fleisches Not IIIuß der Teufel feiern zur Lust den Tod.«1 1 Er f:'illt über sie her und will sie in satanischer Lust »ganz besitzen«. Dieser Wunsch kann sich nur unter einer Bedingung erfüllen:
, ».Muß ich, Gott wi]] s den Hals dir schlitzen! Du Taube, und trinken dein Blut so rot Und deinen zuckenden, schäumenden Tod! Und saugen aus deinem Eingeweid Deine Scham und deine Jungfräulichkeit.«12 Blaubart folgt seinen animalisch-destruktiven Trieben, die aus den entlegensten Winkeln seines Selbst dringen. Seine erotische Kraft kommt eruptiv zum Aus bruch und mündet in Gewalt und Vernichtung - ein vom pathologischen Sexus behexter homo
erectus. Jürgen Wertheimer trifft den Kern dieser morbiden
Gier, wenn er konstatiert:
»Unter den Vorzeichen einer parareligiösen Ekstase wird der Orgasmus paradoxerwcise zur entsexualisiercnden Totaloperation. Nicht um (wie bei Don Juan) die unendliche Manifesta tion männlicher Potenz ist es Blaubart zu tun, sondcrn um einen Omnipotenz beweis, der die
10 Tmkl, 1 987, 439. 1 1 Trakl, 1 987, 444. 12 Trakl, 1 987, 444.
1 97
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Liquiruerung des weiblichen Genitals zum Ziel hat: Der Geschlechtsverkehr wird zum anthropophagischen Akt der Opferung. Kein metaphorisches )Aushöhlen<, sondern ein faktisches Ausweiden findet statt.«13 Erst nach der atavistischen Enrvitalisierung der Braut ist der » bluttriefende« und »trunkene« Bräutigam in der Lage, ihre Weiblichkeit
llIutatis tJlutcllldir
zu
»akzeptieren« - »Keusch blühende Rose auf meinem Altar«.14 In Schloßleitners Blaubart- Umarbeitung erscheint die männliche Gewalt als Folge der gesellschaftlichen Tabuisierung der männlichen Hilflosigkeit, als Ausdruck der Zerbrechlichkeit und pathologische Bestä tigung der persönli chen Macht. Die Ursache für die gescheiterten Beziehungen liegt darin, daß der Prinz Blaubart zu sehr seine wahren Emotionen dämpft und als weiblich geltende Anteile in sich blockiert. Er wurde zur Kraft und Stärke erzogen, zur Scham, wenn er in Liebesäußerungen zu weit geht, »aber damit letztlich zur Angst vor der Frau, einer irrationalen Angst«, die er keinesfalls vor der Welt zugeben darf und »die sich somit, der Forderung nach männlichem Behaup tungsanspruch gehorchend, zwangsläufig in Aggression verkehrt«. l s Gegen über der ersten Frau kommt es trotz Drohungen zu keiner direkten Gewalt (sie nimmt sich das Leben) . Dafür tötet er die nächsten B räute, die »reichlich folgen« und für die er in Blaubarts Liebesgarten Statuen baut. Nur soviel gibt der Text über die Gewalt gegen Frauen preis und trotzdem werden Blaubarts Besessenheit von Tod und Zerstörung keine Grenzen gesetzt - er ist rucht nur .FrcltletNerruchter. Seine gegen den toten Vater gerichtete anarchistische Absage an die Kontinuität des Geschlechts rummt die geplante totale Zerstörungsak tion vorweg:
,,,Was brauch< ich einen Sohn?< sprang es aus ihm heraus. ,Ich will nicht mehr hinein gestellt sein in die Reihe der Geschlechter, so wie du, ich will nicht bloß ein l\Iittelglied und keine Brücke sein, damit die Kommenden hinüberschreiten über mich, wie es an rur geschieht. Mir soll es nicht geschehen, ich widersetze mich und reiße alle Fäden hinter mir entzwei -: ich will das Ende sein mit eignem Zweck und Sinn und trenne mich von rueser Frau wie gleich erweis von dir! « l 6 Der »Vernichtungsrausch des U n fruchtbaren«l 7, des vergeblich nach sich selbst Suchenden, des restlos Enttäuschten und Frustrierten treibt ihn zu all umfassenden Verheerungsphantasien, »um alles Fremde loszuwerden und von sich zu schleudern und wenn es schon rucht anders ginge, mit sich selbst«I�.
13 14 15 16 17 18
Wertheimer, 1 999, 1 53. Trakl, 1987, 444. Roters, 1 986, 1 28. Schloßleitner, 1 9 1 1 , 254. Schloilleitner, 1 9 1 1 , 257. Schloßleitner, 1 9 1 1 , 258.
198
M ONIKA
S Z C Z E P AN I A K
Prinz B laubart ist sich selbst der Fremde, sein Geheimnis ist »jähe Verletzbar keit« 1 9 - ein Problem, mit dem er trotz der angenommenen maskulinen Pose nicht fertig werden kann. Die destruktiven Träume vom Initiieren eines Vul kanausbruchs, »um den ganzen Erdball zu vernichten und aus seinem Funda ment heraus zu schleudern, um wenigstens für einen kurzen Augenblick das Wissen einer nie erlebten Macht in sich zu fühlen und so beseligt in den Tod zu
springen«2o,
werden
in
einem
subversiven
Projekt
realisiert
-
ein
ausgeklügeltes System von Leitungsröhren mit Lunten unter dem Schloß und der ganzen Stadt. Blaubart lädt Gäste zu einem Fest ein, trinkt dem Volke zu, hört auserlesene Musik, zündet die Lunten an und jagt das Schloß und die Stadt mit einem riesigen Knall in die Luft. Affektiv, vor Wut bebend verwan delt er sein H aus und die Umgebung in ein Trümmerfeld. Das hat der Haß ausgerichtet, nicht zuletzt Selbsthaß, »der Haß des Mannes darauf, von der bigotten Gesellschaft und deren Protagonisten, den Eltern, Verwandten, den Lehrern und >Vorbildern< in die Gefangenschaft der männlichen Rolle wie in einen Panzer hineingezwängt worden zu sein, so sehr, daß es ihm nicht gelingt, sich mit eigenen Kräften daraus befreien zu können«.2 1
3. Strukturelle Gewalt I n den Texten von Ingeborg Bachmann und Karin S truck erscheint die Gewalt nicht nur als impulsiver l\kt oder eine ritualisierte Form22. Männliches Gewalt handeln wird als ordnungs (re)produzierend dargestellt. Abwertung, Ausgren zung, Degradierung, Verletzung der personalen Integrität des anderen sind jene Konstituenten der Gewalt, die in Bachmanns Franza-Fragment ( 1 978 erschienen) im Zentrum der Blaubart-Konstellation stehen. Die tyrannische Strategie der Vernichtung ist hier besonders wirksam, da sie unter stillschwei gender Billigung der Gesellschaft realisiert wird (die Wiener Nachkriegsgesell schaft der »Todesarten<9. Der atavistische Märchenmythos findet in einer abgewandelten, modernisierten Form Eingang in das Romanfragment. Der erfolgreiche Wiener Psychiater, Professor Jordan - ein rücksichtsloser Karrie-
19 20 21 22
Schloßleitner, 1 9 1 1 , 208. Schloßleitner, 1 9 1 1 , 259. Roters, 1 986, 1 29. In den älteren Blaubart-Texten macht der Blaubart vom patriarchalischen Züchtigungsrecht Gebrauch und ergreift disziplinierende Maßnahmen. In den Märchen des Blaubart-Typus . ein Räuberbräutigam (mit einer Männerbande) Jungfrauen und »verzehrt« sie in ei überf�lIt nem kannibalischen Ritual.
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1 99
rist, mehrfach verheiratet, als Arzt und Wissenschaftler gesellschaftlich aner kannt, darf mit Fug und Recht als Blaubart eingestuft werden, obgleich er kein Messer schwingt, keine Leichen im Keller hat und seine H ände nicht blutbesu delt sind. Jordan ist kein verführerischer Charmeur, sondern einer, der durch seine sozioökonomische Position, durch den Prestige beruf und den Glanz seiner internationalen Karriere Frauen anzieht. Einmal in Jordans Ehekäfig gelockt, werden die Frauen zu Opfern seines Seelenmörderspiels, bei dem er be.vußt und kalkuliert b rutal verf:ihrt, mit einer Konsequenz und Systematik, die sonst nur wissenschaftlicher Tätigkeit eignet. Als »Bewußtseinsverwalter« ist er zu ständig, zwischen gesunder Normalität und Wahnsinn zu unterscheiden. Er reduziert die Persönlichkeit von Franza auf einen Befund, und sie verwechselt zu lange seine Analysen und Diagnosen mit der Schärfe und Rationalität, die
für seinen Beruf nötig sind. Zu spät macht sich Franza Gedanken über die möglichen Motivationen ihres Gatten, zu spät stellt sie fest, daß es Sadisten gibt »mit blütenweißen Hemden und Professorentitel«23, die mit den »Folter werkzeugen der Intelligenz« morden:
»Ja, er ist böse, auch wenn man heute nicht böse sein darf, nur krank, aber was ist das für eine Krankheit, unter der die anderen leiden und der Kranke nicht. Er muß verrückt sein. U nd es gibt niemand, der vernünftiger wirkt. leh kann niemand erklären, nirgends hingehen und beweisen, daß er es wirklich ist. Wie furchtbar hat ler] mich gequält, aber nicht spontan, oder nur selten, nein, mir Ü berlegung, alles war berechnet, Taktik, Taktik, wie kann man so rechnen?«24 Bachmanns Romanfragment erzählt die Geschichte einer Zerstörung, elt1er Vernichtung, einer Auslöschung, und zwar aus der Perspektive des Opfers. Da das Hauptaugenmerk eben dem psychosozialen Drama der Protagonistin gilt, tritt die Psyche des Täters stark in den Hintergnmd. Jordans Motivationen, sein zynisches Machtspiel, das hier an die Stelle der Verführung tritt, werden aus der Sicht der »verwüsteten« Frau zusammengefaßt, so daß der Begriff der »Blaubartehe« - wie Jost Schneider argumentiert - zu einer Komprimierungs formel wird, »die der Phantasie des Lesers Flügel verleiht und ihn vermuten läßt, daß Franza über die explizit dargestellten Vergehen hinaus auch noch andere Mis setaten ihres Ehemannes zu erdulden hatte«.25 Ganz »zerblättert von einem diabolischen Versucl1«26, entdeckt Franza in der Schandgeschichte ihrer Ehe mehr oder weniger >>unscheinbare« Symptome
23 24 25 26
Bachmann, 1 993, Bd. 3, 404. Bachmann, 1 993, Bd. 3, 403-404. Schneider, 1 996, 1 2 1 . Bachmann, 1 993, Bd. 3 , 401 .
200
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des »Raubtierhaften« - arrogante Kopfhaltung, zynische Bewegungen, he rablassende Gesten des »Fossils«, in denen sie damals etwas Rührendes er blickte, statt sich gewarnt zu fühlen und Verdacht zu schöpfen. Die von Franza
formulierten bohrenden Fragen betreffen
die Blaubartgeschichte
schlechthin: »warum will jemand seine Frau ermorden? Warum haßt jemand Frauen und lebt mit ihnen? Und liquidiert sie, nur bedacht, vor der Ö ffentlich keit sein Gesicht Inicht] zu verlieren 1 . . . J«.27 1m Angesicht der deprimierenden Bilanz, die schönsten J ahre ihres Lebens in der Ehehölle des Jordansehen Prominentenhaushalts verloren zu haben, »von der Gesellschaft separiert, mit einem Mann, in einem Dschungel, inmitten der Zivilisation«28, konstatiert Franza verbittert: »J a, ich glaube, daß es den Blaubart gibt, und Landru muß ein Stümper gewesen sein, ein kleiner liebenswürdiger Krimineller, [
] .«29
___
Bachmanns Text liefert freilich keine direkten Antworten auf die Franza quälenden »warum«-Fragen. Die Blaubart-Anspielung erfüllt eine Fokussie rungsfunktion, indem sie »den Text von der unabschließbaren Spekulation über Jordans Motivationen entlastet und den Schwerpunkt der Darstellung auf die Innenwelt der Hauptopferfigur zu verschieben erlaubt«.30 Der Erfolg des »diabolischen Versuchs« läßt sich zum Teil damit erklären, daß Franza sich mit ihren »weiblichen« Denk- und Verhaltensmustern als geradezu idealtypisches Opfer anbietet. Sara Lennox faßt diesen Umstand schlicht zusammen: »Franza hat eingewilligt, Männer als ihre Herren anzuerkennen.«3! Deshalb kann ein Vertreter der hegemonialen Männlichkeit 0>die Jordans dieser Welt«32; »das Raubtier dieser J ah re«33) ohne weiteres sein Beziehungssystem autbauen, dem die im subtilen Terror erzeugte Angst der Frau(en) als Garantie der Festigkeit und Stabilität dient. Für die Analyse der hier waltenden Gewalt, die vor allem als ordnungs(re-) produzierend zu deuten ist, bietet Bachmanns Romanfragment einige An haltspunkte, die die männliche Subjektposition im Geschlechterverhältnis und in der Geschichte charakterisieren und die ansatzweise doch über die Grundla
Tot ist, wer liebt, ntlr der Geliebte leb/4 Auf Das Gebell geht hervor, daß bereits Jordans
gen der sonderlichen Konstellation schluß geben. Aus der Erzählung
primäre Frauenbeziehung durch das Muster der männlichen Verachtung des
27 28 29 30 31 32 33 34
Bachmann, 1 993, Bd. 3, 404. Bachmann, 1 993, Bd. 3, 404-405. Bachmann, 1 993, Bd. 3, 409. Schneider, 1996, 123. Lennox, 1 984, 1 62. Bacbmanll, 1 993, Bd. 3, 357. Bachmann, 1 993, Be\. 3, 4 1 3. Bacbmann, 1 995, 4.
G E W A LT I N B L A U
201
Weiblichen und der weiblichen Denkstrukturen, die männliche Herrschaft legitimieren, geprägt war. Mutter, die mit
Das Gebell schildert nämlich
die vom Sohn besessene
1 000 Schilling im Monat vegetiert und an die der berühmte
Leo nicht gern erinnert wird. Sowohl der Mutter, als auch später Franziska war der »dornenreiche, leidvolle Aufstieg eines genialen Arztes« eine Art Religion.35 Niemals wollte die Mutter ihrem genialen Sohn zur Last fallen, nicht einmal in der I
» Es waren eben Kindereien, Buben sind eben so schwer aufzuziehen, und absichtlich hat er es nicht getan, aber damals hatte er eben eine so schwierige Zeit und ich hatte schon meine liebe N o t, aber man bekommt das ja alles tausendfach zurück, wenn ein Kind groß ist und dann seinen Weg macht und so berühmt wird, er war eigentlich mehr seinem Vater ähnlich als mir, wissen Sie.«3<> Dieser eingeschüchterten Mutter, die unter Halluzinationen leidet und dem Sohn zuliebe auf alles verzichten will, stellt nun der berühmte Sohn immer wieder neue Frauen vor. Die Frau als »Provinz des Mannes« (Heiner Müller) dieses Paradigma determiniert Jordans B eziehung zur Mutter und zu anderen Frauen, zu denen er einen sicheren Abstand zu wahren versucht, damit ihn die »Fesseln der Liebe« Oessica Benjamin) nicht zu sehr einschränken. Das aller dings war bereits das Problem der ersten Blaubärte in der deutschen Literatur. Das von Jordan aufgebaute Angstsystem fungiert gleichzeitig als ein »Angst abwehrsystem«37 - J ordan beraubt die Frau ihrer weiblichen »Güter«, um von ihnen nicht bedroht zu werden: »Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfen können, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen is t.«38 Jordans niederträchtiger Berechnung, seinen Strategien der Domestizierung und psychischer Enteignung wird bei Bachmann eine historische bzw. gesell schaftlich-kulturelle Dimension verliehen. Das Geschlechterverhältnis und die Familie erscheinen als hierarchisierte Strukturen, die nach dem Modell der Rassendiskriminierung funktionieren 0>Du sagst Faschismus, das ist komisch, ich habe das noch nie gehört als Wort für ein privates Verhalten [00.]«39) . Fran zas Traum von der Gaskammer, in der Professor Jordan die Schläuche be dient40 und die Feststellung »Ich bin eine Papua«41 schaffen eine Parallele zwi-
35 36 37 38 39 40 41
Bachmann, 1 993, Bd. 2, 379. Bachmann. 1 993, Bd. 2, 381 . Vgl. dazu Kanz, 1 999. Bachmann, 1 993, Bel. 3, 4 1 3. Bachmann, 1 993, 13d. 3, 403. Bachmann, 1 993, Bd. 3, 407. Bachmann, 1 993, Bd. 3, 4 1 4.
202
MONIKA SZCZEPANIAK
schen Jordan und den weißen Kolonisatoren, den Herrenmenschen, die sich von niederen Rassen bedroht fühlen und sie deshalb ausrotten. Jordans dunk les Reich ist in diesem Sinne die Zone des Faschismus42: »er ist das Exemplar, das heute regiert, das von heutiger Grausamkeit [ist], das angreift und darum lebt, nie hab ich einen Menschen mit soviel Aggression gesehen«.43 Die Wiener Aggression holt Franza in Ägypten ein. Die Vergewaltigung im Schatten der Pyramiden ist als »Verlängerung« des Jordanschen Männlichkeitswahns zu verstehen: »Die Wiederholung. Die Stellvertretung.<(l4 Jordans Gewaltstrategie, die den Gesetzen maskulin-rationaler Logik ge horchte (und der von Anfang an ein »blutiger Grund« (frakl) innewohnt) , wurde von E rfolg gekrönt - e r hat sich Franzas entledigt, und a n ihre Stelle rückt die nächste Frau. Jordan, dessen Worte, Blicke, Gesten, Arrangements töten können, ist nach wie vor ein gesellschaftlich anerkannter Wissenschaftler, Arzt und Bürger, denn »niemand bemerkt es, alle halten sich an die Fassade, an eine gefarbte Darstellung«.45 Karin Strucks Roman Blaubarts Schatten arbeitet mit vielen Bachmann-Zita ten und schildert - ähnlich wie Das Btlch Fratlza - den Mann des Blaubart Typus als Teil eines Systems, das von verschiedenen Blaubart-Gehilfen (»von der Schwiegermutter bis zur modernen Geburtstechnologie«46) aufrechterhal ten und gefördert wird. Besonderes Gewicht wird auf die Institutionalisierung der Gewalt gegen Frauen und (ungeborene) Kinder gelegt. Strucks Blaubart zeichnet sich - in Anlehnung an die Legende von Count Conomor, der den Frauen immer die Kehle durchschnitt, wenn sie schwanger waren - durch extreme Aversion gegen die Schwangerschaft aus. Lily Bitter ist auf fatale Weise den Blaubärten verfallen in der Hoffnung, endlich einen Mann zu fin den, der ihr »Heimat« bietet, der an einer festen Bindung interessiert ist und der sie und ihre Weiblichkeit zu schätzen weiß. Ihre Geschichte wird erzählt als eine Geschichte der Blendung, der Funktionalisierung der Frau und der Emanzipation als Befreiung vom Blaubart-System. Lily hat sich das Blaubart-Märchen einverleibt und bemerkt immer wieder Analogien zwischen der Blaubart-Ehe und ihren Beziehungen mit Männern. Von Anfang an besteht zwischen dem Mann, der mit einer goldenen Kutsche 42 Vgl. Bachmanns intensive Kindheitserinnerung an gewaltverheißende Männlichkeitsrituale (das Brüllen und S ingen der H itlcrtrllppen beim Einmarsch in KlagenflIrt). Der private Fa schismus kommt allerdings auf leisen Sohlen daher, aber es geht genauso wie damals um »das Dreinschlagen, das Vernichtenwollen, Vernichtenmüssen des anderen« (l3achmann, 1 993, Bd. 3, 409). 43 l3achmann, 1 993, Bd. 3, 4 1 2-41 3. 44 Bachmann, 1 993, Bd. 3, 467. 45 l3achmann, 1 993, Bd. 3, 276. 46 Struck, 1 994, 2 1 0.
G EWALT I N B L A U
203
vorfährt, u m die Frau z u blenden, und Lilys Vater, der die Tochter - diesen »Blaustrumpf« - gern loswird, eine Art Verwandtschaft: Beide repräsentieren die »frauabgewandte Seite der Geschichte« Qürgen Serke). Lily wird »verkauft«, die beiden Männer »verhandeln« über sie, sie fühlt sich wie eine Sklavin.47 Lilys Anfälligkeit für Männer des Blaubart-Typus, für ihre Propaganda, wird im Roman auf ihre »Blaubart-Ehe« mit dem Vater zurückgeführt.48 Der Vater fungiert in Strucks Text als eine Art »Ur-Blaubart«, einer, der zeitlebens An spruch darauf erhebt, über die Tochter zu verfügen: »Man wird doch wohl seine Tochter anfassen können. Schließlich bin ich doch ihr Vater.«49 Die kleine Tochter darf der Mutter nichts davon erzählen (Männer haben das Recht auf ein Geheimnis), allerdings wird der Vater trotz seines verbrecheri schen Tuns von der Mutter geschützt (er sei der beste Mensch auf Erden) .5v Lily nennt den Vater einen Verbrecher, der sie vom Leben fernhielt, der sie nur gehirnlos akzeptierte �)er aß mein Gehirn<0, der sie als Frau für ein Nichts hielt, der sie einfach auslöschen wollte. Inzest ist eine Metapher für all das Unmenschliche, das der Vater mit ihr getan hat, für die Ruchlosigkeiten der Vaterwelt, für den »Holocaust an Wehrlosen und Waffenlosen«s l . Lilys Auseinandersetzung mit Blaubart schließt die gegen den Vater for mulierten Vorwürfe ein: » Blaubart geht es um den Kopf, um das Gehirn; um das Genick. Die Vaterwelt der Blaub;irte wollte mir das Genick brechen. Ich stelle mir Blaubarts Frauen vor. lVli t Nacken wie Dalis Uhren. Keine Verbindung zwischen Körper und Kopf mehr. Alles Denken schlaff. Machtlos gemachte Frauen durch Abschneiden der Verbindung zwischen Leib und Gedächtnis. So hängen wir da in der verkrusteten Blutkammer in Blaubarts Haus.« S2
A., ]. und Richard - Männer, deren Opfer Lily geworden ist, werden als Söhne von Nazis bezeichnet, als »lumpige Blaubart-Krämerseelen«, die in der Ü berzahl auftreten53, als »nekrophile 1'vIänner«54, die körperlich nicht besonders attraktiv sind, dafür aber in einer goldenen Kutsche vorfahren. ]. ist ein \velt gewandter Reporter, der für Lily und ihre zwei I<.inder ein Appartement mie-
47 Struck, 1 994, 2 1 . 4 8 Struck, 1 994, 1 1 0. 49 StfLlck, 1 994, !OO. 50 Die IV1utter gehört zu den Frauen, die Blaubärte pflegen und schützen. Lily erinnert sich, wie die Mutter immer erst dem Vater und den Brüdern Essen servierte, wie sie ihnen zu Diensten war, wie sie die Söhne vergötterte, während sie ihr beibrachte, daß eine Frau immer lieb und zufrieden sein sollte. 5 1 Struck, 1994, 405. 52 Struck, 1994, 1 06-105. 53 Struck, 1994, 378. 54 Struck, 1994, 3 8 1 .
204
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tet, der jedoch nicht fähig ist, in diesem Appartement mit ihr zu schlafen.55 Lily durchschaut viel zu spät seinen virilen Egoismus, sein Ziel, im Angesicht des fortschreitenden Alters seine Männlichkeit zu beweisen, sich selbst, Lily und der Umwelt zu zeigen, daß er noch in der Lage ist, einen Sohn zu zeugen.56 Auch in einem anderen Sinne hat er sie vereinnahmt - er wollte eine große Titelgeschichte für die Zeitung schreiben über Lily - die Schriftstellerin. Die »kolonialisierte« Frau reflektiert über die damals kaum merkbaren Gewaltme chanismen, über den J agdinstinkt des Bigamisten, der eine Frau hatte und bei Lilys Eltern um ihre Hand anhielt, über das Doppelgesicht des Mannes, der ihr großzügig, weltmännisch und liebevoll vorkam, in Wirklichkeit aber sie »erle digt und ausgeweidet, hergenommen und mitgenommen, eingesperrt und eingesargt«57 hatte. Blaubarts »Fluid der Ablehnung« (George Saiko) richtet sich hauptsächlich gegen die Schwangerschaft, die Verleiblichung der Liebe, die Mutterschaft, welche das komplementäre Prinzip der Vaterschaft impliziert - einen Bereich der Verantwortung für ein Nicht-Ich. Blaubarts Liebe ist indessen kein reifes Gefühl, keine feste Bindung, keine Bereitschaft zur Gemeinschaft auf Gedeih und Verderb - diese Liebe ist nur »die Balz«. Lily muß sich erneut davon über zeugen: »Immer die Hoffnung bei einem Mann, daß er kein Blaubart ist; daß er sich nicht als ein Blaubart entpuppt; immer diese illusionäre Hoffnung.«58 Auch Richard, ein reicher Taxifahrer, ein Kinderhasser wie J., gehört zu denen, »die ihre Frauen einschließen in illren Häusern und in ihren Autos; die umge ben sind von Frauen, von Ausreden, von Verträgen, von Geld und ihren Sek retärinnen«.59 Lily fühlt sich in Richards Villa in der Gewalt eines »kleinen Hitler«6o, der sie demütigt und den sie einigermaßen - durch Anbetung und Ergebenheit - selbst »hochgezüchtet« hat. Blaubart präsentiert sich in Strucks Roman nicht zuletzt als »Produkt« von Frauen (er ist ein Vaterloser) , vor allem seiner Mutter, die Lily als »Monsterlady« bezeichnet.61 Es ist symptomatisch, daß Strucks Blaubart - so muttersüchtig wie er ist (mit Monsterlady liiert) eben auch seine Mutter funktionalisiert: »Sie hat zu spät gemerkt, daß dieser Schattenmann nichts als Geld und Reichtum und Ordnung im Sinn hat; daß er
55 Struck, 1994, 1 08. 56 '0. hat Zeugungsfahigkeit mit Potenz gleichgesetzt.« (Struck, 1 994, 1 86). 57 Struck, 1 994, 1 49. 58 Struck, 1 994, 252. 59 Struck, 1 994, 29. 60 Struck, 1 994, 333. 61 "Sie weiß, doll die Frauen die besten Verteidiger dieser Männer sind und ihre besten Schützen gräben.« (Struck, 1 994, 29).
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IN
BLAU
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wartet, die Aktienpakete seiner Mutter seinem Reichtum hinzufügen zu kön nen.«o2 Struck interpretiert Blaubarts Gewalt nicht nur als integralen Teil der he gemonialen Männlichkeit (das Blaubart-System, unterstützt durch Familie, Institutionen, Blaubart-Organisationen, frauenabwertende Symbolik etc.), sondern auch als Ausdruck der eigenen Angst, Schwäche und Ohnmacht, als Folge der gesellschaftlichen Tabuisierung der männlichen Schwäche: »Ich werde nicht hineinfallen in dieses Loch der Schwäche. Mein blauer Bart ist mein Schutz, ist mein Schild. Ich halte ihn gleichsam vor meine Weichteile. Ohne den blauen Bart wäre ich ein Milchgesicht mit einem zarten Flaum auf der Oberlippe; ein Jüngling wie von sechzehn, siebzehn.«63 Der Blaubart-Ges tus entpuppt sich als Maskerade zur Stärkung der eigenen Männlichkeit und zur Stabilisierung der Herrschaft. Das »Weichtier« Blaubart sucht ein Refugium im Status des Aggressors: »Ich bin nicht sehr stark, hört sie Blaubart sagen. Ich habe so weiche Hände. Ich habe nicht viele Muskeln, noch nicht einmal meine Knochen sind besonders stark, und ich kann mich nicht richtig aufrecht hal ten. Ich bin ein Weichtier.«64 Auch seine Potenzschwierigkeiten, die Lily in ihrem Roman entblößt, werden von ihr später als »Schutzwall gegen mich«, eine Art Abwehrmaßnahme gegen die Mütterlichkeit, gegen diesen »Schlamm und Schmutz«, gegen »Fließendes, rote FI"t«, alles, was er haßte, interpretiert.65
4. Resümee
Im Sinne der Männlichkeitsforschung läßt sich die maskuline Gewalt in den Blaubart-Geschichten als eine Spielart der hegemonialen Männlichkeit auffas sen. Die Texte inszenieren nicht nur nackte Gewalt, sondern verweisen auch auf die symbolische Dimension des Gewaltproblems, d.h. sie thematisieren das kulturell erzeugte Einverständnis für männliches Gewalthandeln. Das Zurückgreifen auf Gewalt-Muster erscheint als durch Institutionalisie rungs- und Legitimierungsmaßnahmen gestützt, als gesellschaftlich legitimiert oder gar akzeptiert, als Element der Männlichkeitskonstruktion, die auf der Ebene der Symbole und Stereotype festgeschrieben wird. Bachmann und Struck lassen Blaubarts Taten als »Verbrechen« erkennen, die in den sozial etablierten »Systemen« verankert sind und eine gesellschaftliche Dimension 62 Struck, 1 994, 340. 63 Struck, 1994, l 39-l40. 64 Struck, 1 994, l 40. 65 Struck, 1 994, 425.
--
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besitzen �)das Exemplar, das heute regiert« bei Bachmann) bzw. die durch eine Reihe von Blaubart-Gehilfen ermöglicht oder gefördert werden (Blaubart als Produkt der Gesellschaft, der Familie, der Frauen bei Struck) . An die Stelle der monströsen Kollektion von Frauenleichen in Blaubart-Märchen treten bei Bachmann die zerrütteten »Strukturen« der weiblichen Psyche. Die dritte Komponente der Gewalt-Triade - Gewalt gegen sich selbst manifestiert sich in gesellschaftlich oktroyierten emotionalen Blockaden als Effekt der Tabuisierung der männlichen Hilflosigkeit und Schwäche. \'{!enn man mit den theoretischen Ansätzen der Männlichkeitsforschung an die Gewalt der literarischen Blaubart-Figuren herangeht, lassen sich die bruta len Mordserien bzw. subtilen U nterdrückungsmechanismen als Ausdruck einer defizitär-pathologischen männlichen Persönlichkeit interpretieren. Gewalt ist eine verzweifelte Maßnahme zur Herstellung eines positiven Selbstwertgefühls oder Rache der »gepanzerten« Männlichkeit am Ersatzobjekt bzw. an der gan zen Umwelt (am extremsten bei Schloßleitner). Der Roman von Karin Struck leistet diesbezüglich Interpretationsarbeit, indem er den Blaubart als einen schwachen, zerbrechlichen, von Impotenz bedrohten Mann denunziert, einen, der mit seinen Suprematieansprüchen und an Frauen vorgenommenen »Am putationen« einen Herrschertyp darstellt. Die »nekrophilen« Blaubart-Männer - Akteure einer mühsam aufgebauten, artifiziellen Maskulinität - versuchen stets Virilitätsnachweise zu liefern und ihre permanente Krise zu verwalten, indem sie die wahren Bedürfnisse verbergen, um im Nicht-Opfer-Status, im Schutz von Macht-Zitationen ihre bedrohte Maskulinität zu bewahren. Blau bart ist den Männlichkeitsidealen nicht gewachsen und versucht, seinen eige nen Selbstwert als Zugehörigkeit zur hegemonialen Männlichkeit zu inszenie ren. Das mangelnde Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Per sönlichkeitsanteilen und eine der männlichen Individuation inhärente »Grundwut« gegen die Weiblichkeit steuern zu Blaubarts male trollble beträcht lich bei. Dieses komplexe Gefüge von männlichen Verstrickungen und Ab hängigkeiten und weiblichen N aivitäten und Anfalligkeiten macht in allen Blaubart-Texten jene U topie zunichte, die Karin Struck mit erstaunlicher Zu yersicht formuliert: »In naher Zukunft wird es den mörderischen Geschlech terkrieg zwischen Mann und Frau, der nie aufgehört hat, nicht mehr geben. Mann und Frau werden sich als Komplizen die Hand reichen. Blaustrümpfe und Blaubärte werden sich zusammentun.«66
66 Struck, 1 994, 1 9 1 .
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207
Literatur Bachmann, lngeborg: ) Todestll1etl«-Projekt, Bd. 2: Das Bt/cb Frall'(fl, bearbeitet von l\Ionika Albrecht und Dirk Göttsche, l\fünchen, Zürich 1 995 - Werke, hrsg. von Christine Kosche!; lnge von Weidenbaum; C1emens Münster, Bd. 1-4, München, Zürich 1 993 Böhnisch, Lothar; Winter, Reinhard: M,i'nll/it'be So::dalisalioJl. Bnv,ijt�g/ingsprob/ellle IHI/mllkh.r Ge.rt'b/echtsidentitill im LebellS/at/}; Weinheim, München 1 997 Eulenberg, Herberr: Ritter Blaubart. Ein Miirchenstück, in: Eulenberg, H erbert: AlIsgtlväUte Werke in 5 Be/nden, Bd. 2: Dramel/ at/s derJ/(�endzeit, Stuttgart 1925, 275-324 Hollstein, Walter: Mä1l!/erdäIJIII/e/1/ng. Von Talern, Opjem, Schlll'ken t/nd HeIdelI, Göttingen 1 999
Kanz, Christina: AI�sl tmd Gescb/echterdiffmnzen. 1l1geborg Bachl1J,ltIlIs ))TodesaI1en«-Projekt ill KOlltextel1 der Cegemva/ts/iteratllr, Stuttgart, Weimar 1 999 Kaufman, Michael: Die Konstruktion von Männlichkeit und die Triade männlicher Gewalt,
in: BauSteineMänner (Hrsg.): Knlisd;e iVIdll/mjorsch!mg. Nelle AtIS,itze il1 der CeschkdJkr theorie, Hamburg 200 1 , 1 38-1 7 1 Lennox, Sara: Geschlecht, Rasse und Geschichte in »Der Fall Franz
Soziologische Perspektiven
Hegemoniale Männlichkeit Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive
Michael Mettser und Sylka ScholZ
Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit, Mitte der achtziger Jahre von Carrigan, Connell und Lee in einem programmatischen Aufsatz in die Diskus sion der seinerzeit entstehenden men's studies eingebracht!, ist rasch zu deren Leitkategorie avanciert - eine Erfolgsgeschichte, die so schnell nicht ihresglei chen finden dürfte. Der Erfolg reicht weit über den von den Autoren formu lierten Anspmch hinaus, eine neue Soiio1ogie der Männlichkeit zu begründen; die gesamte sozial- und geisteswissenschaftliche Männerforschung ist von diesem Konzept mehr oder minder geprägt. Der breiten Rezeption des Kon zepts steht allerdings eine eigentümliche Unbestimmtheit seines begrifflichen Gehalts gegenüber. Möglicherweise ist gerade dies das »Erfolgsgeheimnis«. Hegemoniale Männlichkeit ist vor allem in der Rezeption zu einem »catch all« Begriff geworden, der vielf.iltige Assoziationen und Anschlußmöglichkeiten eröffnet. Aber dies ist ein »Schicksal«, das der Begriff mit anderen populären Konzepten teilt; man denke nur an die nachgerade inflationäre Verwendung des Begriffs der sozialen bzw. kulturellen Konstmktion von Geschlecht. Donaldson hat schon Anfang der neunziger Jahre darauf aufmerksam ge macht, daß es schwierig zu bestimmen sei, welcher Typus von MänQlichkeit hegemoniale Männlichkeit verkörpert.2 Hearn hat unlängst herausgestellt, daß sich die Konfusion der Begriffsverwendung u.a. dem U mstand verdankt, daß Unklarheit darüber herrscht, in welcher Dimension sozialer Wirklichkeit he gemoniale Männlichkeit zu verorten ist. Geht es um kulturelle Repräsentatio nen, Alltagspraktiken oder institutionelle Stmkturen?3 Die in diesem Band versammelten Beiträge verweisen vor allem auf die Schwierigkeit einer histori schen Situiemng hegemonialer Männlichkeit.
1 Carrigan/Connell/Lce, 1985. 2 Donaidson, 1 993. 3 Hearn, 2004, 58.
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Mit Hearn sind wir der Ansicht, daß »(t)here are [...] persistent question marks around what is actually to count as hegemonie masculinity«(I. Allerdings folgen wir nicht seinem Vorschlag, den Fokus von Männlichkeit auf Männer zu verschieben und statt von hegemonialer Männlichkeit von der Hegemonie der Männer zu sprechen. Diese Wendung verspielt unseres Erachtens einen entscheidenden konzeptionellen Vorteil, den der Connellsche Begriff hat bzw. bei entsprechender Bestimmung haben kann: hegemoniale Männlichkeit als ein generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit zu verstehen, das sich gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägungen, sowohl in per fekten Verkörperungen hegemonialer Männlichkeit (so es diese überhaupt gibt) als auch in den sehr viel häufiger verbreiteten untergeordneten Männlich keiten auffinden läßt. Ein solches Verständnis des Begriffs der hegemonialen Männlichkeit liegt nahe, wenn man Bourdieus Ausführungen zur männlichen Herrschaft und zum männlichen Habitus heranzieht. Die Verknüpfung der theoretischen Ansätze von Bourdieu und Connell wiederum ist möglich, gehen doch beide von einer Theorie der Praxis aus. Die damit eingehandelte stärkere Betonung der Persistenz sozialer Strukturen scheint uns kein Nachteil zu sein, sondern der Empirie der Männlichkeit angemessener zu sein als Connells Optimismus hinsichtlich einer intentional herbeigeführten Veränderung hege monialer Männlichkeitskonstruktionen oder von Herrschaftsstrukturen. Wir werden im folgenden zunächst auf die Frage eingehen, ob und ab wann es eine oder mehrere hegemoniale Männlichkeiten gibt. Anschließend legen wir unser Verständnis von hegemonialer Männlichkeit als einem genera tiven Prinzip dar, gehen dann auf die Logik der Aneignung ein und werden uns abschließend mit der Frage der Transformation männlicher Macht beschäfti gen.
(\Xlie) Viele H egemoniale Männlichkeiten?
Connells zentrale theoretische Annahme ist bekanntlich, daß jede Gesellschaft hegemoniales Männlichkeitsmuster ausbildet, dem ',X'eiblichkeit und alle anderen Formen von Männlichkeit untergeordnet sind. Diese hegemoniale l'vfännlichkeit ist als eine »historisch bewegliche Relation«s zu verstehen. Con nells eigene Analysen bieten nur Anhaltspunkte, was unter hegemonialer Männlichkeit jeweils zu verstehen sei. Als neues Leitbild moderner neoliberaler eill
4 Hcarn, 2004, 58. 5 Connell, 1 999, 1 02.
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Gesellschaften bestimmt er den Manager im technokratischen Milieu, der auf globalen Märkten agiert.6 Connell rekurriert damit auf die in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker werdende Macht der ökonomischen Sphäre. Ö ko nomische Werte und Orientierungsmuster dominieren immer mehr Teilberei che der Gesellschaft, werden selbst in Feldern relevant, die gemeinhin als inkompatibel mit einer ökonomischen Logik gelten, wie etwa die Familienbe ziehungen. Zu bedenken ist allerdings, daß ab den 90er Jahren auch der militä rische Bereich im Zuge der »neuen Kriege«7 erneut an Dominanz gewinnt und damit militarisierte Männlichkeitskonzepte im globalen Kontext wieder be deutsamer werden. Aber nicht nur mit Rekurs auf Connells Arbeiten, auch auf die Tagung, aus der dieser Sammelband hervorging, bleibt offen, was denn nun die aktuelle hegemoniale Männlichkeit ist. Zieht man verschiedene empirische Studien heran, so zeigt sich, daß die Konstruktion von Männlichkeit in spezifischen sozialen Praxen erfolgt und recht unterschiedliche Vorstellungen von dem, was als »männlich« gilt, bein halten kann. Die Untersuchungen lassen sich mit einem durch Connells Kon zept geschulten Blick dahingehend interpretieren, daß innerhalb der jeweiligen sozialen Praxen von den männlichen Akteuren, oft getragen oder mirkon struiert durch weibliche Akteure, je ein spezifisches Männlichkeitsideal entwor fen wird.8 Dieses jeweilige Ideal fungiert in der alltäglichen Praxis als »regulatorisches Ideal«9 für das Handeln des Mannes; indem das Handeln sich daran orientiert, wird Männlichkeit reproduziert. Derjenige Mann, der dem entsprechenden Ideal am nächsten kommt, hat innerhalb dieses sozialen Fel des das höchste Prestige und soziale Macht; das Feld ist demnach hierarchisch und kompetitiv strukturiert. Daß das regulatorische Ideal ein Männlichkeits ideal ist, welches darüber hinaus in der Regel mit anderen sozialen Zugehörig keiten wie soziale Herkunft, Generation, Ethnizität etc. verknüpft ist, ist den sozialen Akteuren meist nicht bewußt; aus der Perspektive der Männer handelt es sich um ein allgemeines Ideal. Auch die Analysen des vorliegenden Sammelbandes stützen in vielen Fäl len die Annahme, daß es nicht nur die eine - jeweils historisch konkrete hegemoniale Männlichkeit gibt. Die detaillierten Studien wie etwa die Untersu chung der frühneuzeitlichen Studentenkultur von Marian Füssel zeigen einer seits, daß verschiedene Männlichkeitsentwürfe innerhalb dieses sozialen Feldes miteinander konkurrierten und daß sich andererseits vielschichtige Ü ber6 Connell, 1 998. 7 So der von Münkler, 2004, in die Debatte eingeführte Begriff. Vgl. zu diesem Aspekt auch Scholz, 2005. 8 Vgl. dazu die in Scholz, 2004, Kapitel 2 zitierten Untersuchungen. 9 Hark, 1 999, 70.
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schneidungsverhältnisse zwischen ständischen, altersbedingten und geschlech terspezifischen Kodierungen in den akademischen Gruppenkulruren nachweisen lassen, Die konkurrierenden Männlichkeitsideale sind dabei })verräumlicht«. Dieser Aspekt ist insofern für aktuelle Männlichkeitskonstruktionen von besonderem Interesse, da der alles vereinheitlichende und oft überschätzte Globalisierungsprozeß parallel zu Prozessen von Reregionalisierungen verläuft. Füssel ist nun mit Rekurs auf Wolfgang Schmales kürzlich vorgelegte Ge schichte der j\Jeinnlichkeit hinsichtlich der Transformationen von Männlichkeit vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft sehr vorsichtig: »Mögli cherweise« ist es im 1 8, Jahrhundert zu einer Aufhebung der ständisch-frag mentierten studentischen Männlichkeiten in »einen neuen Typus der >satisfak tionsfähigen Gesellschaft< wilhelminischer >Burschenherrlichkeit«( gekommen. I O Christa Hämmerle und Martin Lücke wenden sich expliziter gegen die von Schmale behauptete These, daß im 1 8. Jahrhundert ein militarisiertes Männ lichkeitsideal in Europa hegemonial wurde.11 Andere Untersuchungen, wie die von Andrea Moshövel über mittelalterliche Männlichkeitskonstruktionen wen den sich wiederum gegen die These, daß Männlichkeit erst im 1 8. Jahrhundert zu einer gesellschaftlichen Strukturkategorie wurde. Aus soziologischer Perspektive ist zu dieser Kontroverse folgendes anzu merken: Angesichts dessen, daß hegemoniale Männlichkeit eine relationale Kategorie ist, die nicht nur in der Relation zu Weiblichkeit(en) ihre Gestalt erhält, sondern auch, wenn nicht sogar primär, in Relation zu anderen, unter geordneten Männlichkeiten, und vorausgesetzt, daß die hier bedeutsamen Relationen solche von sozialstruktureller Relevanz sind, also Verhältnisse zwischen sozialen Klassen, Schichten, Milieus, Ethnien betreffen, bedarf es zweier Bedingungen, um von hegemonialer Männlichkeit sprechen zu können: Erstens einer sozial differenzierten Gesellschaft, So macht es z.B. keinen Sinn, von einer hegemonialen Männlichkeit mit Blick auf Stammesgesellschaften zu sprechen, in denen es nur eine Achse sozialer Differenzierung gibt, nämlich die des Geschlechts, Notwendig ist mindestens eine weitere Achse, welche die männlichen Mitglieder der Gesellschaft in Verhältnisse sozialer Ungleichheit zueinander setzt. Dies dürfte freilich auch für mittelalterliche Gesellschaften gelten. Solchen Gesellschaften fehlt jedoch die zweite Bedingung: eine zumindest der herrschenden gesellschaftlichen Ideologie nach gegebene und zumindest minimale Durchlässigkeit zwischen den sozialen Strata. Nur dann können sich verschiedene Männlichkeiten in ein Verhältnis zueinander setzen, in dem eine
10 Hisse! in diesem Band, 96f. 1 1 Vgl. 7.U Schmales Buch auch die Kritik von Kühne 2004.
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von ihnen sich als hegemoniale durchsetzt. Aus soziologischer Perspektive ist die Frage zu stellen, ob bzw. in welcher Weise in der feudalen Gesellschaft die Welt des Adels eine Orientierungsfolie für die niederen sozialen Stände war. Hat sie maßgeblich soziale Pra.xen der gesellschaftlichen Massen strukturieren können? Sollte der Einfluß der im Adel vorherrschenden Männlichkeit jedoch auf das eigene soziale Feld begrenzt gewesen sein, sollte die adlige Männlich keit nur dort Praxis generierende Kraft gehabt haben, kann man sie nicht als kulturell hegemonial bezeichnen. Es gab wohl eher ein N ebeneinander (nicht Konkurrenz) von z.B. einer bäuerlichen, körperzentrierten Männlichkeit und einer »höfischen«, kulturell »verfeinerten« Männlichkeit.12 H egemoniale Männ lichkeit gibt es dort, wo - der gesellschaftlichen Ideologie nach und zumindest ansatzweise in der sozialen Praxis - Standesgrenzen aufbrechen und die sozia len Welten miteinander in einem (begrenzten) Austausch stehen, wo der sozi ale Status des (männlichen) Individuums Resultat der individuellen Leistung und nicht mehr qua Geburt bestimmt ist. 13 Dies ist in der bürgerlichen Gesell schaft gegeben, deren (männliche) Protagonisten mithin als Idealtypen hege monialer Männlichkeit fungieren. Läßt sich mit Blick auf eine ständische Gesellschaft, in denen die Stände nicht nur rechtlich, sondern auch »in ihrer Lebensweise klar voneinander ge schieden«14 sind, sinnvollerweise von einer hegemonialen J\Iännlichkeit reden oder ist dies nur unter der Bedingung möglich, daß es zu einer zumindest ansatzweisen Interpenetration der Lebensweisen und damit einer zumindest rudimentären Gemeinsamkeit sozialer Praxis kommt? Wenn Hegemonie (im Sinne Gramscis) ein kulturell erzeugtes Einverständnis der U ntergeordneten mit ihrer sozialen Lage meint und nicht einfach die Dominanz einer gesell schaftlichen Gruppe über eine andere, dann ist ein Mindestmaß an Durchdrin gung von Lebensstilen notwendig. Ansonsten ist nicht nachzuvollziehen, wie der Lebensstil der dominanten Gruppe bzw. Klasse zu einer allgemein gültigen Orientierungsfolie werden kann. Daß diese Durchdringung nicht wechselseitig, sondern eher einseitig erfolgt, läßt sich als konstitutives Merkmal von Hege monie begreifen. Ute Frevert beschreibt in ihrer Studie über das Duell, wie in der studenti schen Duellkultur der Adel den allgemeinen studentischen Lebensformen seinen Stempel zu dem historischen Zeitpunkt aufzudrücken vermag, zu dem 12 Moshövel (in diesem Band, (3) spricht mit Bezug auf Cadden von einer " Spannbreite mittelalterlicher Geschlechterentwürfe« . 1 3 In diesem Sinne läßt sich möglicherweise Connells These verstehen. daß hegemoniale Männlichkeit voraussetzt, daß Individualität als Vorstellung der HandlungsEihigkeit des auto nomen Selbst gegeben ist. 1 4 Hradil, 1 999, 34.
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sich die Praxis des Duells auf Studenten j eglicher Herkunft ausdehnte,I5 Ohne die Gemeinsamkeit der Praxis hätte die Lebensform des Adels nicht hegemo nial werden können, Die Männlichkeit des Adels wird zu dem Zeitpunkt (Ende des 1 8. Jahrhunderts) im studentischen l'vIilieu hegemonial, als sich der Ehrenkodex des Adels auf andere Stände ausbreitet, mithin Standesgrenzen (partiell und zunächst auf das soziale Feld der U niversitäten begrenzt) durch lässig werden. An Freverts Beschreibung der sozialen Diffundierung der Praxis des Duells in »niedere« soziale Stände läßt sich ein weiteres Merkmal hegemonialer Männ lichkeit erfassen. H egemoniale Männlichkeit wird durch die sozjale Praxis der gesellschaftlichen Elite bzw. gesellschaftlicher Eliten definiert, also durch eine zahlen mäßige Minderheit der Bevölkerung.I6 Es sind ferner nicht einzelne Mitglieder der Elite, welche in einem intentionalen Akt bewußt und gezielt definieren, was hegemoniale Männlichkeit ausmacht; in der sozialen Praxis der Elite bildet sich ein Muster von Männlichkeit aus, das kraft der sozialen Posi tion der Elite hegemonial wird. H egemoniale Männlichkeit ist an geselLrchajtliche Macht und Herrschaft gebunden. Das impliziert nicht zwingend, daß es in einer Gesellschaft nur eine hege moniale l'vlännlichkeit geben kann. Die Bestimmung einer hegemonialen Männ lichkeit mag möglich (gewesen) sein für die industriegesellschaftliche Moderne, insbesondere für Gesellschaften und Epochen, in denen zivile und militärische Macht eng miteinander verknüpft waren. Für den I ngenieurberuf, der für die Industrialisierung von zentraler Bedeutung gewesen war, ist gezeigt worden, daß und wie er vom Militärischen geprägt war. Zivilberuflicher und militäri scher Habitus wiesen starke Ü bereinstimmungen auf. Biographien bekannter Großindustrieller wie Werner von Siemens verweisen auf die zivile Verwert barkeit der militärischen Sozialisation.17 Die Existenz einer hegemonialen Männlichkeit setzt ein Zentrum gesellschaftlicher und politischer Macht voraus, das es in der postindustriellen, spät-, hoch-, postmodernen (oder wie immer auch zu bezeichnenden) Gesellschaft des I nformationszeitalters nicht mehr gibt. Möglicherweise korrespondiert der gegenwärtigen Differenzierung der Zentren gesellschaftlicher und politischer Macht eine Pluralisierung hegemoni aler Männlichkeiten, welche in den sozialen Feldern von Wirtschaft, Medien, Politik, Profession und auch Militär organisiert sind. 1 5 Ft-evcrt, 1 99 1 , 1 34 ff. 1 6 Frevert, 1991, 1 35, weist darauf hin. daß »selbst in Göttingen, der vornehmsten norddeut schen Universität«, der Anteil der adligen Studenten »nur zwischen 13 und 1 8 Prozent lag«. Auf die Bedeutung der Eliten velweisen auch C:onnells Beschreibungen, in welchen sozialen Feldern hegemoniale Männlichkeit institutionell verkörpert ist. 17 Janshen, 200 1 .
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Pluralisierung hegemonialer Männlichkeiten bedeutet allerdings nicht, eine Inflation x-beliebiger hegemonialer Männlichkeiten anzunehmen. Nicht jedes soziale Milieu und j ede Subkultur formt eine eigene hegemoniale Männlichkeit. Der Begriff hegemonial macht nur Sinn, wenn mit der in dieser Weise be zeichneten Männlichkeit ein Anspruch auf normative Gültigkeit über das je weilige soziale Feld hinaus verbunden ist. Ein solcher Anspruch ist einer sub kultur- und rnilieuspezifischen Männlichkeit nicht notwendigerweise zu eigen. Eine in einem sozialen Milieu vorherrschende Männlichkeit ist noch keine hegemoniale. Sie ist es nur dann, wenn sie mit dem Anspruch milieuübergrei fender Gültigkeit auftritt. Die im traditionellen Arbeitermilieu vorherrschende, körperliche Stärke akzentuierende Männlichkeit setzt zwar Standards für Män ner, die diesem l\'Iilieu angehören, vermag aber nicht über J\[ilieugrenzen hin weg das gesellschaftliche Männlichkeitsideal zu bestimmen. Sie ist zwar keine marginalisierte (wie es eine homosexuelle Männlichkeit bis in die Gegenwart hinein ist) , aber eine untergeordnete Männlichkeit, in der zudem zentrale Ele mente hegemonialer Männlichkeit ihren festen Platz haben. Eine Einheit von hegemonialer und untergeordneter Männlichkeiten besteht des Weiteren der gestalt, daß beiden eine homologe Strukturlogik eignet: sie formen sich beide in den ernsten Spielen des Wettbewerbs, den die Männer unter sich austragen (S.U.) .18 Die Frage, wie viele hegemoniale Männlichkeiten es zu einem historischen Zeitpunkt gibt, kann derzeit nicht beantwortet werden. Dazu sind weitere empirische Untersuchungen notwendig, die vor allem weniger die diskursive und mehr die praxeologische Ebene in den Blick nehmen, also die »gelebten« Männlichkeiten.19 Allerdings kann so etwas wie eine »Suchanleitung« formu liert werden. Hegemoniale Männlichkeit wird in den sozialen Feldern konsti tuiert, in denen, historisch variabel und von Gesellschaft zu Gesellschaft un terschiedlich, die zentralen Machtkämpfe ausgetragen und gesellschaftliche Einflußzonen festgelegt werden. Das war im imperialen N ationalstaat des 1 9. Jahrhunderts das Militär, und das sind in den gegenwärtigen globalisierten neoliberalen Gesellschaften des Informationszeitalters vermutlich das techno kratische Milieu des Top-Managements und die Massenmedien.
1 8 Vgl hierzu auch den Beitrag von Rürup in diesem Band. 19 Vgl. auch die Argumentation von Kühne, 2004 und Tosh, 2004.
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Hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip
Eine andere Wendung erfährt der Versuch zu bestimmen, was hegemoniale Männlichkeit ist, wenn der Blick weg von den jeweiligen inhaltlichen Füllungen der Männlichkeitsentwürfe auf die Logik der Konstruktion gerichtet wird. Hegemoniale Männlichkeit läßt sich als das gcneratil)e P1inziP von Männlichkeit begreifen. Sowohl in der hetero- als auch in der homosozialen Dimension wird Männlichkeit im Modus der H egemonie konstruiert. Connell setzt in seinen Arbeiten die Machtrelation zwischen Männern und Frauen zentral; die Ü ber- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Männern, die paradoxerweise durch seine Analysen erst in den Blick der Forschung gerieten, sind dieser Dimension nachgeordnet. An dieser Setzung haben die vielfältigen Arbeiten, die im Anschluß an Connells Konzept entstanden sind, Zweifel aufkommen lassen und auch die Arbeiten dieses Sammelbandes bele gen, daß die widersprüchlichen Machtrelationen innerhalb des männlichen Geschlechts für die Reproduktion, aber auch die Transformation der Ge schlechterordnung zentral sind, Tosh betont, daß sich in jeder Gesellschaft männliche Praktiken und Werte finden lassen, die vor allem die homosozialen Machtverhältnisse unter Männern reproduzieren.2o »Masculinity is largely a homosocial enactrnent«, konstatiert auch Kimmel.21 Die Form, in der sich Männlichkeit innerhalb homo sozialer Verhältnisse ausbildet, hat Bourdieu in seinen Arbeiten über die domination l7la.rclllinc folgendermaßen bestimmt: »Kon struiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, tlnter Miilltlem, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen.«22 Bourdieu akzentuiert zwei miteinander verbundene Aspekte: die kompetitive Struktur von Männlichkeit und den homo sozialen Charakter der sozialen Felder, in denen der Wettbewerb statt findet. Dieser wird unter Männern ausgetragen. Die Konstruktion von Männlichkeit folgt also einer doppelten Distillktions tll/d DOlllinan�ogik: nicht weniger gegenüber Männern als gegenüber Frauen. In genau diesem doppelten Sinne wird Männlichkeit in einem h egemonialen Mo dus hergestellt. Das E rgebnis dieses Herstellungsprozesses ist keineswegs und nicht einmal überwiegend die Konstitution hegemonialer Männlichkeit. Diese wird als institutionalisierte Praxis in aller Regel eher verfehlt. Doch liegt auch der Herstellung untergeordneter Männlichkeiten das gleiche generative Prinzip
20
Tnsh, 2004.
2! Kimme!, 1 996, 7.
22 ßourdicli ! 997, 203.
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zugrunde. Das wird deutlich, wenn man die Geschlechtslage in ihrer konfigu rativen Verknüpfung mit anderen sozialen Lagen betrachtet. Sowohl soziologische Untersuchungen als auch manche Studien in diesem Band zeigen, wie stark die Machtrelationen unter Männern mit anderen sozia len Zugehörigkeiten verwoben sind. Das wirft weitergehend die Frage auf, ob Männlichkeit nicht eins von mehreren hierarchischen Prinzipien ist, die ge meinsam die soziale Ordnung bestimmen.23 Die soziologische Geschlechter forschung diskutiert dies mit den Begriffen der Intersektionalität oder Kon figuration von sozialen Lagen. Eine Studie von Bohnsack bietet ein instruk tives empirisches Anschauungsmaterial dafür, in welcher Weise der geschlecht liche und der ethnische H abitus bei jungen männlichen türkischen Migranten in Deutschland eng ineinander verwoben sind.24 Instruktiv zum Verständnis der Art und Weise, wie hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip funktioniert und dabei soziale Praxen generiert, die keine hegemoniale, sondern eine untergeordnete Männlichkeit konstituieren, sind Bohnsacks Aus führungen zum Komplex der männlichen Ehre bei einer Teilpopulation dieser Migranten. Die alltägliche Konfrontation der von der Familie vermittelten türkischen Herkunftskultut mit der deutschen Majoritätskultur trägt das Potential einer habituellen Verunsicherung sowohl in der ethnischen als auch in der ge schlechtlichen Dimension in sich. Am geringsten ist die Verunsicherung bei den jungen Männern, die vergleichsweise fest in der türkischen Kultur veran kert sind. Diesen Männern ist die Wahrung der männlichen Ehre eine durch nichts zu erschütternde Selbstverständlichkeit. Die Ehre zu wahren, verlangt von ihnen u.a., Kontrolle über ihre Frauen, ihre Freundinnen, auch über ihre Schwestern auszuüben, und das vor allem in Situationen, in denen die Frauen sich in der Ö ffentlichkeit bewegen. »Das bedeutet auch, daß diese Kontrolle nicht durch ein persönliches und auf das Individuum bezogenes Mißtrauen (im Sinne einer >Eifersucht<) motiviert ist. Es ist vielmehr Element der habituellen Disposition des Mannes, des männlichen Habitus schlechthin.«25 Diesen l\liin nern ist es beispielsweise unverständlich, daß deutsche Männer ihren Frauen gestatten, ohne ihr Beisein mit Arbeitskollegen ein Restaurant aufzusuchen. Türkische Männer würden so etwas niemals erlauben: »Man hat doch seinen Stolz und seine Ehre«, begründet einer der Männer diese Haltung. Unver23 Vgl. dazu die Argumentation von Tosh, 2004 und Hearn, 2004. In der Frauen· und Geschlechterforschung wird eine ganz ähnliche Diskussion hinsichtlich der Relevanz der Strukturkategorie von Geschlecht für Unglcichheits- lmd Machtverhiiltnissen geführt (Döl ling, 1 999; Rommelspacher, 1 995). 24 Vgl. Tertilt, 1 996; Bohnsack, 200 1 . 2 5 Bohnsack, 2001 , 57.
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ständlich i s t diesen Männern auch, daß deutsche Männer nicht sofort - verbal und auch handgreiflich - intervenieren, wenn ein anderer Mann der eigenen Freundin oder Frau nachschaut. Diese »Laschheit« erweckt Zweifel an der Männlichkeit der deutschen Männer; in den Augen der Türken sind sie keine »richtigen Männer«, weil sie die männliche Ehre nicht verteidigen bzw. weil ihnen diese Ehre kein zu verteidigender Wert ist. Das Beispiel dokumentiert eine spezifische »Konfiguration« von ge schlechtlichem und ethnischem Habitus. Die Geschlechterdifferenz wird ge nutzt, um die ethnische Differenz zu akzentuieren, und umgekehrt macht es die ethnische Zugehörigkeit notwendig, die rigiden Vorstellungen, was ein geschlechtsadäquates Verhalten ausmacht, durchzusetzen. Doing gender und doing ethnicity sind gewissermaßen wechselseitig genutzte Ressourcen.26 Die im Vergleich zur deutschen Kultur - übersteigerte Markierung männlicher H egemonie verschärft die ethnische Abgrenzung, Umgekehrt dürfte die ethni sche Konnotierung der H egemonie einer Akzeptanz unter deutschen Männern nicht förderlich sein. Auf diese Weise erzeugen diese jungen Türken, obwohl ihrer Konstruktion von Männlichkeit hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip zugrunde liegt (nämlich Streben nach Dominanz gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern), eine »untergeordnete Männlichkeit«, unter geordnet in Bezug auf die in Deutschland üblichen Standards der Performanz hegemonialer Männlichkeit, die keine derart umfassende Kontrolle und Verfü gung über die Freundin oder die Ehefrau vorsehen. Die Verteidigung der Ehre mittels Kontrolle, Verfügung über, aber auch Schutz von Frauen kann zugleich als spezifisches Männlichkeitsideal verstanden werden, daß in dieser sozialen Praxis dominant oder anders formuliert hegemonial ist. Verallgemeinernd läßt sich folgern, daß der Begriff der hegemonialen Männlichkeit, soll er erstens mehr sein als eine Umschrift für männliche Do minanz und zweitens die homo soziale Dimension gleichermaßen wie die hete rosoziale umfassen, eine intersektionale oder konfigurative Betrachtungsweise voraussetzt. H egemonie ist wie Geschlecht eine relationale Kategorie; hege moniale Männlichkeit kann es in der homosozialen Dimension nur in Relation zu anderen Lagen sozialer U ngleichheit geben, vor allem zu Klassen-, Genera tions-, ethnischen Lagen und im Verhältnis sexueller Orientierungen.
26 Ilse Lenz, 1 996, 2 1 9, verwendet den Begri ff der Konfiguration, um - gegen ein additives Ver ständnis zu betonen, daß die Handelnden »einzelne Elemente der Geschlechtsrollen, ihres ethnischen Hintergrunds usw. auswählen, kombinieren oder aber herunterspielen und ver meiden«. -
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Zur Aneignung des männlichen Habitus
In der homosozialen Dimension ist die Konstruktion von Männlichkeit von einer kompetitiven Logik geprägt. Dieser Aspekt kommt in Connells Ausfüh rungen zur hegemonialen Männlichkeit zu kurz. Der Modus, in dem unter schiedliche Männlichkeiten sich in ein hierarchisches Verhältnis zueinander setzen, ist der des \X'ettbewerbs. Der \X'ettbewerb, das Bemühen, einem ande ren Mann - in welcher Weise auch immer - überlegen zu sein, wird frühzeitig eingeübt, er ist ein zentrales Mittel männlicher Sozialisation. Er ist jedoch nicht nur ein Modus der Distinktion, sondern vielfach auch - und in ein- und der selben Interaktion -, so paradox das möglicherweise erscheinen mag, ein rVl it tel männlicher Vergemeinschaftung bzw. von Konjunktion.27 Tosh betont die Dialektik von Kameradschaft und Wettbewerb.28 In historischer Perspektive läßt sich diese Dialektik z.B. an der Institution des Duells oder den Fecht- und Trinkritualen studentischer Verbindungen nachvollziehen.29 Im Duell konstitu ierte sich »eine Art Freundschaftsbund [. . ] . >Durch ein Duell<, hieß es denn auch im Jenaer Comment von 1 809, >sind die Schlagenden näher miteinander verbunden und per se in Bruderschaft<, was durch Bruderkuß und Brüder schafts-Trinken bekräftigt wurde.«30 In den von Verbindungsstudenten prakti zierten Trinkritualen trank man » JJJi!- lind gegetJeil1t1l1der um die \X'ette«.3' Die skizzierte Dialektik von Wettbewerb und Kameradschaft erhellen auch sozio logische Studien zu männlichen gewaltaffinen Kulturen. Nicht nur die hoch gradig ritualisierte Gewalt des Duells oder des Mensurschlagens, auch der gewaltförmig ausgetragene \X'ettbewerb unter Hooligans kann eine Ressource von Solidarität sein - wenn etwa die Hooligans von zwei Fußballvereinen sich nach erfolgter Schlägerei miteinander verbrüdern.32 Der Umstand, daß der Wettbewerb in vielen Fällen mehr oder minder ei nem ritualisierten Ablaufschema folgt, verweist auf seine Bedeutung für An eignung und Reproduktion des männlichen Habitus. Ü ber das Ritual wird der Wettbewerb von persönlichen Motiven entkoppelt. Frevert macht darauf auf merksam, daß in der Mitte des 1 9. Jahrhunderts aus den Mensuren der Stu denten jedes persönliche Motiv verschwunden war.33 Die Profilierung im .
27 28 29 30 31 32
Ausführlich hierzu Meuser, 2003. 1'osh, 2004, 54. Vgl. dazu auch den Beitrag über jüdische Stlldenrenverbindungen von Rürup in diesem Band. Frevert, 1 99 1 , 1 4 1 ; vgl. auch Mosse, 1 997, 32f. Ehas, 1 989, 1 25[f. Vgl. Bohnsack u.a., 1 995. Instmktiv sind auch Inhetveens, 1 997, Ausführungen zum Phäno men der »geselligen Gewalt«. 33 Frevert, 1 99 1 , 1 49f.
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\XIettbewerb als solche war wichtig. Ebenfalls für das studentische Milieu dieser Zeit zeigt Objartel, wie sich eine »Kunst des Beleidigens« ausbildet, die )>unbeeinflußt von der Affektgeladenheit der Streitsituation in kühler Berech- nung Beleidigungen austeilt oder übertrumpft«.34 Eine ähnliche Virtuosität verbalen Wettstreits findet sich in manchen männlichen Jugendsubkulturen der Gegenwart. In einer ethnographischen Studie über eine Gruppe adoleszenter türkischer Migranten der zweiten Einwanderungsgeneration, die Tflrkish POJper Bqys, beschreibt Tertilt, wie in ritualisierten Rededuellen unter den Gruppen mitgliedern auf spielerische Weise die männliche Ehre verteidigt wird. In die sen Duellen beleidigen sich die Akteure wechselseitig, aber diese Wortgefechte sind gewöhnlich kein Ausdruck von Feindseligkeiten. Die Rededuelle werden in Reimform ausgetragen, und jeder versucht, den anderen an verbaler Virtuo sität zu überbieten.35 Nicht nur bei den Turkish Power Boys, auch in der Szene der HipHoper wird der verbale Wettstreit nicht gemieden, sondern eher ge sucht. Auch hier gibt es ritualisierte Formen des wechselseitigen Beschimpfens und Beleidigens, welche einem vorstrukturierten und mithin erwartbaren Ab laufschema folgen.36 Die Ritualisierung des Wettbewerbs verweist auf eine zentrale Funktion. In sozialisationstheoretischer Perspektive stellt sich der Wettbewerb als eine »Strukturübung« dar. Bourdieu unterscheidet drei Formen der Sozialisation: erstens ein »Lernen durch schlichte Gewöhnung«, zweitens die explizite Un terweisung. Drittens und zusätzlich zu diesen Formen sieht »jede Gesellschaft Strukturübungen vor«, mit denen bestimmte Formen »praktischer Meister schaft« übertragen werden,37 In diesen Strukturübungen erwerben Männer praktische Meisterschaft nicht nur in dem Sinne, daß sie sich die Modalitäten bzw. Spielregeln der ernsten Spiele des Wettbewerbs aneignen, vor allem ler nen sie, diese Spiele zu lieben. Auch die gewaltförmigen Formen des Wettbewerbs, welche eigentümli cherweise in der Altersphase des Ü bergangs vom Jugendalter zum Erwachse nenstatus nicht nur gegenwärtig38, sondern auch in früheren Epochen beson ders stark ausgeprägt sind39, lassen sich im skizzierten Sinne als Struktur übungen begreifen.4o Es sind lebensphasentypisch übersteigerte, gleichsam episodale Einübungen in die Strukturlogik hegemonialer Männlichkeit. Darin
34 Objartel, 1 984, 1 04; s.a. Dinges, 1 994, 2 1 6 ff., 356ff. 35 Tcrtilt, 1 996, 1 98ff. 36 Klein/Friedrich, 2003, 38ff. 37 Bourdieu 1 993, 1 38. 38 Vgl. Meuser, 2002. 39 Vgl. Dinges, 1 997. 40 Vgl. Meuser, 2005.
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wird nicht Gewalt als normaler Modus männlicher Dominanz erlernt charakteristischef\veise lassen die weitaus meisten gewaltaffinen männlichen Adoleszenten nach dem Ü bergang In den Erwachsenenstatus vom Gewalthandeln ab. Eingeübt wird die formale Logik des männlichen Ge schlechtshabitus. In diesem Sinne einer strukturellen Homologie mit anderen ernsten Spielen des Wettbewerbs ist Gewalt ein typisch männliches Phänomen und eine H andlungsressource, welche l\iännern mehr als frauen kulturell zur Verfügung steht.41
Persistenzen - die Beharrungskraft hegemonialer Männlichkeit
Die Produktion, Reproduktion, aber auch die Transformationen männlicher Macht erfolgt in modernen Gesellschaften im Modus der Hegemonie und ist adäquat mit dem Begriff »männliche Hegemonie« zu fassen. Denn die ge sellschaftliche Dominanz von Männern und Männlichkeit(en) wird weniger durch direkten Zwang und Gewalt konstituiert, sondern vielmehr durch eine soziale Vorherrschaft von Männlichkeit, die auf Einverständnis und Konsens bildung beruht. U nter »männliche Hegemonie« ist die Dominanz männlicher Wert- und Ordnungssysteme, Interessen, Verhaltenslogiken und Kommunika tionsstile etc. zu verstehen. So U nterschiedliches sie auch in den verschiedenen sozialen Praxen beinhalten, gibt es einen gemeinsamen Kern: das Männliche gilt als Norm und gegenüber dem Weiblichen als überlegen. Daraus leitet sich der Anspruch auf männliche Autorität ab, die wiederum die Ausübung männli cher Macht legitimiert. Auch wenn man von der Annahme einer Omnipotenz männlicher Hege monie zurücktritt, ist erstaunlich, daß, obwohl diese Ideologie und Kultur der männlichen Ü berlegenheit seit immerhin fünfunddreißig J ahren von der Frau enbewegung und dem akademischen Feminismus in Frage gestellt werden, sich doch relativ wenige Brüche zeigen. Wie kommt es, daß viele Frauen im Gro ßen und Ganzen der kulturellen und sozialen Vorherrschaft von Männlich keit(en) zustimmen? Diese Frage stellt sich auch angesichts der Ausdifferenzie rungen innerhalb der Genusgruppe der Männer, denn für einen Teil von Männern hat sich die »patriarchale Dividende« in den vergangenen Jahren ganz erheblich reduziert. \X/elche Gewinne etwa ziehen die »Ü berflüssigen«42 - so der aktuelle Terminus aus der soziologischen Ungleichheits forschung - aus der
41 Vgl. Meuser, 2002. 42 Bude, 1 998.
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Dominanz männlicher Werte und Orientierungsmuster? Stehen sie nicht ganz im Gegenteil positiven Identitätskonzepten konträr gegenüber? Die Frage ist jedoch möglicheN'eise falsch gestellt. Konzipiert man Männ lichkeit mit Bourdieu in einer habitustheoretischen Perspektive und begreift man hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip des männlichen Ge schlechtshabitus, das in immer neuen »Strukturübungen« tief in kognitive Strukturen und körperliche Routinen eingeschrieben wird, dann wird zweierlei deutlich, Erstens ist denen, deren »patriarchale Dividende« geringer geworden ist, in der Regel ein anderes Vokabular als das hegemoniale nicht zuhanden, um sich als Mann zu definieren, und zweitens macht sich bei denen, die alter native Identitätskonzepte entwerfen, noch in der (versuchten) N egation hege monialer Männlichkeit die kulturelle Macht des Negierten bemerkbar.4.l Connell, dessen Ansatz sich auf den Wandel der Machtverhältnisse im Ge schlechterverhältnis richtet und der auf der »Suche nach denunzierenden Stra tegien zum Sturz des Patriarchats«44 ist, »verkennt«45 die symbolische Mächtig keit der Vorstellung von der männlichen Ü berlegenheit.46 Aktive Konsens und Bündnisbildung reichen nicht zur Erklärung der Reproduktion männlicher Hegemonie aus, Diese Lücke kann mit Bourdieus Konzept der »symbolischen Gewalt« geschlossen werden, Ebenso wie Connell geht Bourdieu davon aus, daß sich die soziale Macht von Männern nicht vorrangig durch physische Gewalt reproduziert, Auch bei Bourdieu realisiert sich männliche Dominanz durch eine Zustimmung der Beherrschten, die jedoch - und das ist ein zentra ler U nterschied zu Connell - »nicht auf der freiwilligen Entscheidung eines aufgeklärten Bewußtseins beruht, sondern auf der unmittelbaren und vorrefle xiven Unterwerfung der sozialisierten Körper<(l7. Mit dem Begriff symbolische Gewalt erfaßt er die soziale Wirkmächtigkeit der hierarchischen symbolischen Zweigeschlechtlichkeit. Bourdieu zeigt, daß in die kognitiven Strukturen und in die Körper der Individuen die Zweiteilung der sozialen \X'elt in männlich und weiblich sowie die Vorstellung von der männlichen Ü berlegenl1eit bereits eingeschrieben ist. Diese Sichtweise erscheint den Individuen als natürlich und selbstverständlich, »weil sie kognitive Strukturen auf [die soziale Welt] anwen den, die aus eben diesen Strukturen der Welt hervorgegangen sind<(l8. Und so werden die Individuen »Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herr-
43 44 45 46 47 48
Empirische Illustrationen hierzu bei Meuser,1998, 1 83f( und 223ff. Connell, 1 996, 24. Zum Begriff der Verkennung vgl. BoLlt'dieu/Wacguant, 1 996, 204. Vgl. auch den Beitrag von Szczepaniak in diesem Band. Bourdieu, 1 997, 1 65. Bourdiell/Wacgllant, 1 996, 204.
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sehenden Vorstellungen«.49 Connells Vertrauen i n die befreiende Kraft der Bewußtwerdung stellt sich in einer h abitustheoretischen, an Bourdieu orien tierten Perspektive mehr als von einem politischen Veränderungswillen geprägt als von nüchterner soziologischer Analyse gestützt dar.
Resümee
Nicht nur die Beiträge in diesem Band, auch andere Arbeiten, die mit dem Begriff der hegemonialen Männlichkeit operieren, lassen die Schwierigkeit einer begrifflichen Präzisierung erkennen. Darin dokumentiert sich freilich nicht (nur) ein Reflexionsdefizit der men's studies. Eine andere Lesart, die wir hier zur Diskussion stellen, begreift die Unbestimmtheit als konstitutives Merkmal hegemonialer Männlichkeit. Sie tritt im Modus der Allgemeinheit auf. Obschon sie eng mit den Zentren gesellschaftlicher Macht verknüpft ist, mit hin eine klassentypische Prägung hat, macht sie sich nicht als Besonderes kenntlich. Die hierzulande gültige(n) hegemoniale(n) Männlichkeit(en) ist (sind) zwar eine deutsche, weiße, bürgerliche Männlichkeit, aber diese Prägun gen sind nicht kenntlich gemacht. Es ist eine nicht markierte Männlichkeit, im Unterschied zu untergeordneten und marginalisierten Männlichkeiten, die in ihrer Abweichung vom (schwer zu bestimmenden) hegemonialen Ideal als Besondere markiert und in ihren jeweiligen sozialstrukturellen Bezügen kennt lich sind - als »türkische«, »proletarische«, )}schwule« usw. Männlichkeit. Sim mel hat als ein wesentliches Merkmal der Herrschaft der Männer über die Frauen beschrieben, daß ihr eine Hypostasierung des Männlichen zum Allge mein-Menschlichen zugrunde liegt - in welcher sie sich als Herrschaft un kenntlich macht und einer Wahrnehmung als geschlechtlich markiert ent zieht.50 Möglicherweise funktioniert Hegemonie in der homosozialen Ditnen sion in ähnlicher Weise. Die Schwierigkeit, hegemoniale Männlichkeit zu bestimmen, wäre dann ein Zeichen ihres » Erfolgs«. Angesichts der immer noch bestehenden begrifflichen Verwirrungen um »hegemoniale Männlichkeit«, die auch dieser Sammelband möglicherweise nicht hinreichend wird klären können, stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, den Begriff zu Gunsten eines differenzierteren Begriffsapparates zu modifizieren, der die hier diskutierten Dimensionen und U nterscheidungen berücksichtigt. Das bedeutet mitnichten, Connells Konzept zu den Akten zu
49 BOllrdieu, 1 997, 1 65. 50 Vgl. Simmel, 1 985.
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legen, sondern stattdessen seine Arbeiten, wie e r e s selbst formuliert hat, nicht als ein fest geschlossenes System im Sinne einer hegemonialen Theorie zu begreifen, sondern »eher [als] ein Netzwerk von Einsichten und Argumenten über Zusammenhänge«51, Dies würde auch die Möglichkeit eröffnen, die mate rielle/ ökonomische Fundierung der Machtbeziehungen und die Erfahrungs dimension52, die in Connells Konzept eine zentrale Rolle spielen, aber hinter einer Überbetonung der kulturellen Dimension von H egemonie zurückge treten sind, wieder stärker ins Blickfeld der Forschung zu rücken, Hegemoniale Männlichkeit wäre dann sowohl als ein gesellschaftstheoretisches Konzept zu begreifen, das auf die jeweilige gesellschaftlich institutionalisierte Praxis hege monialer Männlichkeit gerichtet ist, als auch in einem handlungstheoretischen Zugriff als generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit und des männlichen H abitus, Ein großer Teil der Begriffsverwirrung schient uns in der mangelnden Unterscheidung dieser Dimensionen begründet zu sein,
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Forsch/mg
über
Ge,rchlechter
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51 Connell, 1985, 3 3 1 . 52 Vgl. hierzu auch die Argumentation v o n Hämmede i n diesem Band.
Geschlechtemerhaltni,r,re,
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Autorinnen und Autoren
Martin Dinges, Stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der J\Ie
dizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, und außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim (http://www.igm-bosch.de / f9. htm), Gründer und Koordinator des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung - Kultur-, Geschichts- und Sozi alwissenschaften (AIMGender) (http://www. ruendal.de/aim/gender.html). Forschungsschwerpunkte: Gesundheitsgeschichte der Neuzeit; Geschlechter geschichte. Publikationen: Haus/kiteT, Priestei; Kastraten. Zur Konstruktion //011 Nlclfllllichkeit in Spättllittelalter ufld Fn'iher Nettzeti, Göttingen 1 998 (Herausgeber); Patiellts in t!Je History 0/ H01J/oeoptlt�y, Sheffield 2002 (Herausgeber) ; Stand und Perspektiven der »neuen Männergeschichte« (Frühe Neuzeit) , in: Marguerite Bos/ Bettina Vincenz u.a. (Hg.): Etjahrtl11g: Alles nur Diskurs? Zur VenJJendtlltg des Etjafmt1lc�s begriffes in der Ge.fchlechtergeschicbte. Beiträge der 1 1 . Schweizerischen Historiker Innentagung 2002, Zürich 2004, S. 7 1 -96 Marian Füssel, Dr. phi!., Neuere und Neueste Geschichte; wissenschaftlicher
Assistent am Historischen Seminar der Universität Münster. Forschungs schwerpunkte: Universitäts- und Wissenschaftsgeschjchte, Kulturgeschichte militärischer Gewalt in der Frühen Neuzeit. Publikationen: Rat/tIJ und Konflikt. Zur [Y1JIbolischm Komtittlierullg gesellschaftli cher OrdlJll1lg in Mittelalter Imd Früher Nettzeit, Münster 2004 (hg. mit Christoph Dartmann und Stefanie Rüther); Ordl1ll11g lind Distinktion. Pmktiketl so:;ja!er Rep reisentation in der ständischen Gesellscbaft, Münster 2005 (hg. mit Thomas Weller); Geleh,1enktllttlr als [Y/JIboliJche Pmxis. Rang, Ritt/al tmd Kotiflikt a1l der UniJJersi!iit der frühen Nettzeit, Darmstadt 2005 (im Druck) . Nicole Grochowina, promovierte Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeite
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AUTORINNEN UND A UTOREN
Publikationen: Indifferenz I/Ild DissetJs in der Grqfschaft Ostfriesland i1ll 16. und 1 7. .Jabrll/ltldert, Frankfurt/Main u.a. 2003; mit Steffen Bruendel (Hg.): Klliture/le IdfJltitdt. Über dm Zusammenhang von Vng,angenheitsdeflttll1g und ZlIktiliftse/7IJalttmgjiir die KOlIstmktion kollektil)er Identitätet/,
Berlin 2000.
Christa Hämmerle, ao. Univ. Prof., Dozentin für Neuere Geschichte und
frauen- und Geschlechtergeschichte am Institut für Geschichte der Universi tät Wien (http://www .univie.ac.at/Geschichte/_ehrmann.html). Forschungs schwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte des 1 9. und 20. J ahrhun derts, Kritische Militärgeschichte, Auto/Biographieforschung. Publikationen zuletzt u. a.: Christa Hämmerle/Edith Saurer (Hg.): Bliefktll ttlrm IIl1d ihr Geschlecht. Zur Geschichte derplivatell K017'Cspondenz lJom 16. .JahrlllllldClt bü hellte, Wien u. a. 2003; Die k. (u.) k. Armee als >Schule des Volkes Zur Ge schichte der Allgemeinen Wehrpflicht in der multinationalen Habsburgermo narchie (1 866 bis 1 9 1 4/ 1 8), in: Christian Jansen (Hg.), Der Biilg,er air Soldat. Die A1i/itCl1isienmg europciischer Gesellscbaften im langen 19. .Jabrhllndert: ein intel71ationaler T/ng,leich, Essen 2004, S. 1 75-2 1 3; Gemeinsam mit Ingrid Bauer und Gabriella Hauch (Hg.): Liebe und l17iderstand. AlJlbiTJaleJIzen bistolircher Geschlechtel'beziebllllgell, Wien u. a. 2005. Martin Lücke, Studium der fächer Geschichte, Deutsch und Pädagogik an der Universität Bielefeld, 2002 Erstes und 2004 Zweites Staatsexamen, Pro
motionsstipendiat der friedrich-Ebert Stiftung und Lehrbeauftragter für Di daktik der Geschichte an der fU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Männlichkeiten und Sexualitäten, Didaktik der Geschlechtergeschichte. Publikation: Männliche Prostitution in den Debatten um eine Reform des Sexualstrafrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: II11Jcrtito. Jabrhucb für die Gescbicbte dcr Holtlosexualitiiten 5 (2003), S. 109-1 2 1 . Bea Lundt, Historikerin, Professorin für Geschichte des Mittelalters und für Didaktik an der Universität Flensburg, Lehrbeauftragte an der Humboldt Universität Berlin, Bundeskoordinatorin des Arbeitskreises historische Frauen und Geschlechterforschung (AKHFG). Forschungsschwerpunkte: Genderge schichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Historische Erzählfor schung. Publikationen: MelrlSine ulld !'vIer/in ilJ/ Mittelalter. EntJIJiilje IIJeibliclJer Existenz ilJ/ Be'{jebtlllgsdiskf1rs der GescblechteJ; München 1 99 1 ; Weiser ,md lFreib. I.f;/eübeit und Geschlecht a111 Beispiel der Sieben IFeisen Meister 12./ 15. Iahrhtilldelt, München 2002, sowie Herausgabe verschiedener Aufsatzbände zur Genderforschung.
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Michael Meuser, Soziologe, PD Dr. phi!., vertritt derzeit die Professur für Allgemeine Soziologie an der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Methoden qualitativer Sozialf01' schung. Publikationen: Gmder lvlainstrealJling. Konzepte, Hand/llngsjdder, IllstmlJlente, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2004 (Hg. mit Claudia Neusüß); HtillptbegrifJe qutl/ittlti!)er Sozja/ lol:fChlillg, Opladen 2003 (Hg. mit Ralf Bohnsack und Winfried Marotzki); Geschlecht lind Mclim/ichkeit. Sozjologi,rcbe Theorie fflld kllltllrelle Detltlll1gslJllIster, Ophden 1 998. Andrea Moshövel, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin
im Bereich Ältere deutsche Literatur und Sprache am Institut für Germanistik der earl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Dissertation mit dem Arbeitstitel »1}Jp/ich IJftlll - Formen und Punktionen von >Effemination< in deutschsprachigen Erzähltexten des 1 3. Jahrhunderts« ist am Schnittpunkt von mediävistischer Literaturwissenschaft und Gender Studies angesiedelt. am Simon Dubnow Institut für jüdische Geschichte und Kultur zum Thema »Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten vom Kaiserreich bis zum N ationalsozialismus«. Forschungsschwerpunkte: N ationalsozialismus, Gedenkkultur und juristische Aufarbeitung des N S, deutsch-jüdische Geschichte. Publikationen: Gefundene Heimat? Palästinafahrten national-jüdischer deutscher Studentenverbindungen 1 9 1 3/ 1 4, in: Leip,{/ger Beitriige '\flr .1iidiscbm Geschichte lind Ku/tHr II (2004), S. 1 67-1 90 sowie (zusammen mit Heike Kleff ner): Das Vernichtungslager Sobib6r in westdeutschen N achkriegsprozessen und in der Presseberichterstattung. Ein Nachwort, in: Thomas »Toivi« Blatt, Der AIIßttlild ill Sohibdr. Beticht eines Überlebenden, übersetzt von Heike Kleffner und J'vIiriam Rürup, Münster 2004, S. 201 -242.
Miriam Rürup, Historikerin, Doktorandin
Mare Sehindler-Bondiguel, Historiker M.A., Doktorand in Paris/Bielefeld, Promotion über koloniale Männlichkeiten zu Beginn der Dritten Republik Frankreichs ( 1 870- 1 9 1 4) ; Forschungsschwerpunkt: Kolonialismus- und Ge schiech tergeschichte. Publikation: Die »Mischlingsfrage« in Französisch Indochina zwischen As similation und Differenz ( 1 894- 1 9 1 4) - »Rasse«, Geschlecht und Republik in der imperialen Gesellschaft, in: Becker, Frank (Hg.), RassenlJllschehell - /I,[üchli"f!,e - Rassentreflllllflg. Zur Politik der RLiSSe ilJl detlt,rchen Koloflialreich, Stuttgart 2004, S. __
269-303.
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A U T O RI N N E N U N D A U T O R E N
Sylka Scholz, Kulturwissenschaftlerin und Soziologin, Dr. rer pol., Mitarbeite rin an der U niversität Potsdam im Drittmittelprojekt »Innovative Arbeitsfor schung«. Forschungsschwerpunkte: sozialwissenschaftliche Männlichkeitsfor schung; gualitative Methoden in der Sozialforschung. Publikationen: Miinnlichkeit erzahlen. Le/JemgeJchicht/icbe IdentitätskollJtmktiolletl oJtdelltJcher MailJ1e1; Münster 2004; Mitherausgeberin: Inilation OstdeutJchlalld. G'eschiechte17Jerbältm�rJe Jeit der lI/ende, Münster 2004; Scheitern tllld Biograpbie. Die andere Seite modemer Lebmsgeschichten, Gießen 2005. Almut Sülzle hat Empirische Kulturwissenschaft studiert und promoviert
derzeit am Graduiertenkolleg »Geschlechterverhältnisse im Spannungs feld von Arbeit, Politik und Kultur« in Marburg. Forschungsschwerpunkte: J ugendkul turen; Technik und Geschlecht. Publikation: Technikprojekte für Schülerinnen, Empowerment oder Mäd chennachhilfe? In: Karin Eble, Irene Scl1Umacher (Hrsg.): Maachetl aktil} Mediellat'lJeit in der atlßerschtilischen Bildutlg, München 2005 (im Druck) . Monika Szczepaniak, promovierte Literaturwissenschaftlerin, seit 1 999 wis
senschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Germanistik der Akademie Byd goszcz (polen). Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, Gender studies, Männerbilder in Literatur und Kultur. Publikationen: Dekotlstmktion des A1ythoJ il/ allsgelJJahltel1 ProsauJel'leen POlt Elf liede jelinek, Frankfurt a. M. 1 998; Texte im [f,7alldel der Zeit. Beiträge z"r 1l1odemetl Textil'lsse11Schcift (Hrsg. zusammen mit Marek Cieszkowski), Frankfurt a. M. 2003; Männer in Blau. BlallbaJt-Bilder il1 der detltscb.rprachigen LiterattIr, Köln/ \X'eimar/Wien 2005.