Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studien ausgabe in 15 Einzelbänden
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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studien ausgabe in 15 Einzelbänden
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Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV Nachgelassene Schriften 1870-1873 Menschliches, Allzumenschliches I und 11 Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist· Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Fragmente 1869-1874 Nachgelassene Fragmente 1875-1879 Nachgelassene Fragmente 1880-1882 Nachgelassene Fragmente 1882-1884 Nachgelassene Fragmente 1884-1885 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 Nachgelassene Fragmente 1887-1889 Einführung in die KSA Werk- und Siglenverzeichnis Kommentar zu den Bänden 1-13 Chronik zu Nietzsches Leben Konkordanz Verzeichnis sämtlicher Gedichte Gesamtregister
Friedrich Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I und 11 Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter
Band 2 der ,Kritischen Studien ausgabe' (KSA) in 15 Bänden, die erstmals 1980 als Taschenbuchausgabe erschien und für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen wurde. Sie enthält sämtliche Werke und unveröffentlichten Texte Friedrich Nietzsches nach den Originaldrucken und -manuskripten auf der Grundlage der ,Kritischen Gesamtausgabe', herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1967ff. Die Bände 14 (Kommentar) und 15 (Chronik und Gesamtregister) wurden eigens für die KSA erstellt. Übersetzung des Nachworts von Ragni Maria Gschwend. KSA 15 enthält die Konkordanz zur ,Kritischen Gesamtausgabe'
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Q1/qo;r November 1988 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Walter de Gruyter, Berlin/New York © 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagsbuchhandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. TrübnerVeit & Comp., Berlin 30 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany ISBN dtv 3-423-02222-1 ISBN WdeG 3-II-01 1841-6
Inhalt Vorbemerkung Menschliches, Allzumenschliches I Menschliches, Allzumenschliches II . Nachwort Inhaltsverzeichnis . . . . . . . .
Vorbemerkung Band 2. der Kritischen Studienausgabe enthält folgende, von Nietzsche selbst herausgegebene Werke: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fiir freie Geister (1878) = Menschliches. Allzumenschliches. Ein Buch fiir freie Geister. Erster Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1886). Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) und Der Wanderer und sein Schatten (1880) = Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1886). Diesem Band entsprechen folgende Bände und Seiten der Kritischen Gesamtausgabe: N/2., S. 1-380 (Berlin 1967); IV/3, S. 1-342. (Berlin 1967). Am Schluß des Bandes werden die Nachworte übersetzt, die Giorgio Colli für die italienische Ausgabe von Menschliches, AIIZllmenschliches I und II schrieb (erschienen 1965 und 1967 im Adelphi Verlag, Mai1and). Mazzino Montinari
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band.
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Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winteraufenthaltes (1876 auf 18n) entstand, würde jetzt der Oeffentlichkeit nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen. [HimIJeis Nietzsches zur Erstausgabe rfllB]
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An Stelle einer Vorrede. ,,- eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Be"schäftigungen, denen sich die Menschen in diesem "Leben überlassen und machte den Versuch, die beste "von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, "hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei "kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser "erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben "verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des "Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszu"bilden und den Spuren der Wahrheit in der Art "und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nach"zugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem "Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach "meinem Urtheile in diesem Leben nichts Ange"nehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden "kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art "der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues ent"decken, das immer von einigem Gewichte und durch"aus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich "meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle "übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten." Aus dem Lateinischen des C art e s i u s. [Zur Erstausgabe 1878]
Vorrede. 1.
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Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der »Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten» Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? All e s nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Ver s chi e den h e i t des B I i c k s den mit
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Menschliches, Allzumenschllchcs I
ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich b rau c h te, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst10 Wiederherstellung, das war der Glaube, ni c h t dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu s e h n, - ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlichwillentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur 20 Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es gäbe 25 vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was k ö n n t e t ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist,30 und wie viel Falschheit mir noch not h t hut, damit ich mir immer wieder den Luxus me in e r Wahrhaftigkeit gestatten darf? .. Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es 1e b t von der Täuschung ... aber nicht wahr? da beginne ich
Vorrede 1-3
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bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von Gut und Böse"? -
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- So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die "freien Geister" er fun den, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben k ö n n t e , dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kom m e n, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?--
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Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer g r 0 s sen Los lös u n g gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein
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gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, - ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als h i erleben" - so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin g<:liebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick r ü c k w ä r t s, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, das s sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicherfragwürdigerSieg, aber der er s t e Sieg immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestim-
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mung, Selbst-W erthsetzung, dieser Wille zum fr eie n Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wen n man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. "Kann man nicht all e Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht ebendadurch auch Betrüger? m ü s sen wir nicht auch Betrüger sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum aber wer weiß es heute, was Ein sam k e i t ist? ...
4· Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der 30 Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener re i fe n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des
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Menschliches, Allzumenschliches I
Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der g r 0 s sen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf 10 den Ver s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Will e n zur G e s und h e i t, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnen glück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel20 Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist" - dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei u n t e r sich gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr 30 lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr b e k ü m m ern ...
Vorrede 5
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5· Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nah e aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum 10 und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogel flügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer "zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! 1 5 er war aus s e r sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spin10 nen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt solche unter ihnen. die keinen Tag 15 von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachsdlleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt -) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu 30 bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine "gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.
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6. Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, nodl wemselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch sm on etwas wie Antwort darauf. "Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nam deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthsmätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivismen gehört; aum das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die not h wen d i ge Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungeremtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als be d i n g t durch das Perspektivisme und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungeremtigkeit immer am grössten ist: dort nämlim, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennom nimt umhin kann, sie h als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reimere heimlich und kleinlim und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, - du solltest das Problem der Ra n gor d nun g mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglimkeit der Perspek-
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tive mit einander in die Höhe wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist w eis s nunmehr, welchem "du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt k a n n, was er jetzt erst darf ...
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7· Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes RäthseI von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. " Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine Auf gab e leibhaft werden und "zur Welt kommen" will. Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es das Pro b lern der R a n g o r d nun g ist, von dem wir sagen dürfen, dass es uns e r Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen dur f t e, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die "Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und "Uebereinander", das gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: "Hier - ein neu es Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, - die wir selbst irgend wann g e wes e n sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine
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ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir se h e n : hier - uns er Problem!" - -
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- Es wird keinem Psymologen und Zeimende1.lter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder ge s tell t ist -). Aber wo giebt es heute Psychologen? In Frankreim, gewiss; vielleicht in Russland; sicherlich nimt in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar nom zur Ehre anremnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsm geartet und gerathen ist! Dies d e u t s ehe Bum, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat - es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs und sim auf irgend welme Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die aum spröde Ausländer-Ohren zum Hormen verführt werden, - gerade in Deutsmland ist dies Buch am namlässigsten gelesen, am schlemtesten geh ö r t worden: woran liegt das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: - lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nimt geben können. « - Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu smweigen und nimt mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph b lei b t, dass man - schweigt. Ni z z a, im Frühling 1886.
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen.
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ehe m i e der Beg riff e und E m p f i n dun gen. Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer Erklärung gieht es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste
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Menschliches, Allzumenschliches I
Beobachtung sidt als vorhanden erweist. - Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissensdtaften uns gegeben werden kann, ist eine C h e m i e der moralisdten, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, weldte wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellsdtaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss absdtlösse, dass audt auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?-
2.
Erb feh I erd e r Phi los 0 p h e n. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durdt eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlidt schwebt zo ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines s ehr be s ehr ä n k t e n Zeitraumes. Mangel an historischem Z5 Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der 30 Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. - Nun
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ist alles Wes e n t I ich e der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenwärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schüssel zum Verständniss der Welt überhaupt abgeben können; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem e w i gen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt k ein e e w i gen T hat s ach e n: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das h ist 0 r i s c h e Phi los 0 phi ren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.
3· Schätzung der unscheinbaren Wahrheite n. - Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die
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höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. - Die Verehrer der F 0 r m e n freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der s chI ich t es t e n Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer gei s t i ger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht h ä s s I ich er, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.
4· Ast r 0 log i e und Ver w a n d t e s. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt, dass er hier wenig-
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stens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich mamen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.
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M iss ver s t ä n d n iss des T rau m e s. Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine z w e i t e re ale W e I t kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Götterglaubens. "Der Todte lebt fort; den n er erscheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehedem, durm viele Jahrtausende hindurm.
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Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. - Die abgetrennten k 1ein s t enGebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, 15 als Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich - auf die Lippen: wozu? zu welmem Nutzen? Wegen dieser Rücksimt auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlim, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissens30 pyramide, wird unwillkürlim die Frage nach dem Nutzen der
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Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den h ö c h s t e n Nutzen zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste xo Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter, - was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass x 5 dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus.
7· Der Störenfried In der Wissenschaft.10 Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durm den Gesichtspunct des GI ü c k s unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen 15 Forsmung - und thut es heute noch.
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8. Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam p neum a t i s c h, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die
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Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen d 0 p p e 1 t e n Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch viel schlimmer.
9· Met a p h y s i s ehe Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; wähIJ rend doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen wer t h voll, s ehr eck e n voll, 1u s t voll 10 gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. lS Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnen fäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. - Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anders30 sein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest,
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dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: nom gleimgültiger als dem Smiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss.
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Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zuku n f t. - Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sim erklären kann, ohne zur Annahme met a p h y s i s ehe r Eing r i f f e am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflumt zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretismen Problem vom "Ding an sich" und der .. Ersmeinung" auf. Denn wie es hier aum stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das,. Wesen der Welt an sim"; wir sind im Bereime der Vorstellung, keine .. Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt untersmeiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen.
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Die S p r ach e als ver m ein tl ich e W iss e n s c h a f t. - Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensm eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welmen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an a e t ern a e ver itat e s durm lange Zeitstrecken hindurm geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprambildner war nimt so besmeiden, zu
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glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten allS; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der G lau b e a n die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich jetzt erst - dämmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Log i k beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des seI ben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der M a t h e m a t i k, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.
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T rau m und Cu 1t u r. - Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses
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hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung'hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch.
13· Log i k des T rau m e s. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafen10 den drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden 15 drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Körpers, - alles diess nach seinem täglichen Wechse! und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, 30 um sich zu verwundern und nach G r ü n den dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstell end e r Urs ach e n für jene erregten Empfindungen, das
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heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung f und Ausdichtung: "diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", - so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss Jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen 1:1 starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hin t erd re i n erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben me i n t. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, IS während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten ~ unsre Hypothese für völlig erwiesen). Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit au chi m W ach e n viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit. IS (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der mensch30 lichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut
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eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. - Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und na c h der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. - Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie s p ä t das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen jet z t no c h unwillkürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der Künstler sc h i e b t seinen Stimmungen und Zu-
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ständen Ursachen u n te r, welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen.
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14· Mit e r k I i n gen. Alle s t ä r k e ren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Ein h e i t e n empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier. wie so oft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache.
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K ein I n n e nun d Aus sen i n der We I t. - Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen ~ überhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig er1f regt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle
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die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das s t a r k e Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.
16. E r s ehe i nun gun d D i n g ans ich. Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen - wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal entrollt ist und IO unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. 15 Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung 20 eben durchaus nie h t das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von bei den Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde - Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmählich ge wo r den ist, ja noch völlig im Wer den ist und dess25 halb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in 30 die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll ge-
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wo r den, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen gewesen: der mensmlime Intellect hat die ErsmeiDUng erscheinen lassen und seine irrthümlimen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät - besinnt I er sim: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sim so ausserordentlim versmieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt - oder auf eine smauerlim geheimnissvolle Weise zum Auf g e ben unsers Intellectes, unsers persönlimen Willens auffordert: um daD dur c h zum Wesenhaften zu kommen, dass man wes e n ha f t wer d e. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Ersmeinung - das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und ans t a tt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursame dieses thatsächlimen, sehr unheimlichen Weltcharakters angesmuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und mühsame Process der Wissensmaft, welmer zuletzt einmal ., in einer E n t s te h u n g s g e s chi c h ted e s Den k e n s seinen hömsten Triumph feiert, in entsmeidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleimt auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welme in der ge1J sammten Entwickelung der organismen Wesen allmählim entstanden, in einander verwamsen <sind> und uns jetzt als aufgesammelter Smatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Smatz: denn der Wer t h unseres Mensmenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge )0 Wissensmaft thatsämlim nur in geringem Maasse zu lösenwie es aum gar nimt zu wünsmen ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nimt wesentlich zu bremen vermag: aber sie kann die Gesmimte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählim und schrittweise auf-
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hellen - und uns wenigstens für Augenbli
17· Met a p h y s i s ehe E r k I ä run gen. Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst 10 Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte Wohl15that, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens 10 ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.
18. G run d fra gen der Met a p h y s i k. - Wenn ein15 mal die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: "Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen 30 Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistiren-
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den und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier "ursprünglim" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmählim, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleime sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählim verschiedene Substanzen untersmieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logismen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nam der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Ern p f i n dun g des An gen e h m e n 0 der Sc h m erz h a f t e n in Bezug auf :J das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns organisme Wesen interessirt ursprünglich Nimts an jedem Dinge, als seift Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwismen ~ den Momenten, in welmen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solme der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass Jemand an ihm 11 vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlim alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleim. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Mensmen der Glaube vererbt, dass es g lei ehe D i n g e giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Ur30 glaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. - Am fernsten liegt für jene U rstufe des Logischen der Gedanke an C aus a li t ä t: ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das füh-
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lende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Iso 1i r t es, das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taumt aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglim nimt, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl smeint sim 0 h n e G run d und Z w eck geltend zu mamen, es isolirt sich und hält sim für will kür 1ich. Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglimer Irrthum alles Organismen, so alt, als die Regungen des Logismen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleime Dinge ist ebenfalls ein ursprünglimer, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sim vornehmlim mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissensmaft bezeimnen, welme von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten.
19· Die Z a h 1. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglim schon herrschenden Irrthums ge20 macht, dass es mehrere gleime Dinge gebe (aber thatsämlim giebt es nichts Gleimes), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es E t was gebe, das vielfam vorkommt: aber gerade hier smon waltet der Irrthum, smon da fingiren wir Wesen, Einhei25 ten, die es nimt giebt. - Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logisme Widersprüme. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlim immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese Grössen wenigstens c 0 n s t a n t sind, wie zum 30 Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft dom eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann
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auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widersprudt mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer nodt zur Annahme eines "Dinges" oder stofflidten "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissensdtaA:lidte Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stofflidte) in Bewegungen aufzulösen: wir sdteiden audt hier nodt mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nidtt heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. - Wenn Kant sagt "der Verstand sdtöpA: seine Gesetze nidtt aus der Natur, sondern sdtreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den Beg r i f f der Na t ur völlig wahr, weldten wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur =Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), weldter aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche nie h t unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlidt unanwendbar: diese gelten allein in der Mensdten-Welt.
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Ein i g e S pro s sen zur ü c k. Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreidtt, wenn der Mensdt über abergläubisdte und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nidtt mehr an die lieben Englein oder die ErbZJ sünde glaubt, audt vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er audt nodt mit hödtster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dan n aber ist eine r ü c k I ä u f i g e B e weg u n g nöthig: er muss die historisdte Beredttigung, ebenso JO die psychologisdte in soldten Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Mensdtheit von dorther gekommen sei und wie man sidt, ohne eine soldte rückläufige
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Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.
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Mut h m aas s 1ich er Sie g der S k e psi s. - Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen s k e p ti s c h werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der w iss e n s c h a f t I ich e Be w eis irgend einer metaphysischen Welt schon so sc h wier i g, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die seIben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben d ü r f t e. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysi-
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sc:hen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe.
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Unglaube an das "monurnenturn aere perenni u s ". - Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Co n t ras t unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene
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Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.
1. 3. Z e i tal t erd e r Ver g lei c h u n g. - Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten 10 der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und 15 Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich 10 war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, - nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, - absterben 15 lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitlater der Vergleichung! Das ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor die30 sem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die
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ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.
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M ö g I ich k e i t des F 0 r t s c h ri tt s. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und 10 die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit B e w u s s t sei n beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, wähIS rend sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. 20 Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzen leben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, er ist m ö g I ich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt not h wen d i g er2S folgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: p jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.
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Pr i V a t - und We I t - M 0 r a I. - Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres 10 wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohl fahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben m ü s s e. Vielleicht lässt 15 es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. 20 Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende K e n n t n iss der B e d i n gun gen der C u I t ur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die un25 geheure Aufgabe der gros sen Geister des nächsten Jahrhunderts.
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26. Die Re a c t ion als F 0 r t sc h ritt. Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst
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würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte .. metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigk e i t, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einern so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.
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27· E r s atz der Re 1i g ion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschafHiche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Be10 dürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man sc h w ä ehe n und aus r 0 tt e n. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, - alles Vorstel15 lungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch be f r i e d i g t oder dass sie dieselben be sei t i g t ; denn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche 10 auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Ku n s t viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Phi25 losophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.
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28. Verrufene Worte. - Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte Jemand Optimist
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sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben mus s, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, - welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig? - Es fehlt aber ,auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei, .. als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen - ausser den Theologen? - Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste ., oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und .böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.
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29· Vom D u f ted erB I ü t h e n b e rau s c h t. - Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je ~ weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, - je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er m ein t diess noch mehr durch seine Religionen P und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der W u r z eId e r Welt näh er, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade
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gar nicht besser verstehen, obschon diess fast Jedermann glaubt. Der Irr t h umhat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der log i s ehe n We I t ver n ein u n g: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.
3°· Sc h lee h t e G e w 0 h n h e i t e n 1 m S chI i e s sen. 15 Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist 10 sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie 15 unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: 0 3 eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie wahr.
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31. Das Uni 0 gis ehe not h wen d i g. - Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können. dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte. was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner u 11 log i s ehe n G run d s tell u n g z u alle 11 D i n gen.
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Ungerechtsein nothwendig. Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns ge-
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recht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leb e n könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erk e n n e n: diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.
33· Der Irrthum über das Leben zum Leben 15 nothwendig. Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwidtelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich 20 hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwidtelung und 25 erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei übe r sie h t: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Be30 treff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch
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Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Aus nah m e unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und g lau ben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, I:) alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hinein fühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am IS Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen k ein e Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht J:l) darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso ver g e u d e t zu fühlen, wie zs wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. - Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten.
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Zur B e ruh i gun g. - Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst
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in der Unwahrheit bleiben k ö n n e? oder, wenn man diess m ü s se, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Reli5 gion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen 10 unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, un15 gereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach 20 sich zöge? Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das Te m per a m e n teines Menschen gegeben: ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affec25 ten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in 30 der N a t ur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hier-
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zu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, - jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge gen ü gen. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss.
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.
35· V 0 rt h eil e der ps y c hol 0 gis ehe n B e 0 b ac htun g. - Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die ~:l Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornen vollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohl er fühlen könne: das glaubte man, wusste man IJ in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von Ausm nahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammen rechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht übe r den M e n s ehe n spricht. ~ Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn,
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ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der SentenzenSchleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen.
36 . Ein w a n d. - Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die 20 psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sidl genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewis25 ser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen 30 Fällen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen
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Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handeins anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordinaire qu'un fant&me forme par nos pass ions, a qui on don ne un nom honn~te pour faire impunement ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.
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T rot z dem. - Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte
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der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr verführerischer Duft - der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftlime Mensch unwillkürlim einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn
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schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner einund durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob m ehr zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? - aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben.
3 8. In wie fe r n n ü tz I ich. - Also: ob die psychologische ~ Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese ~s gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, als die N ach ahm u n g der N a t u r i n B e g r i f f e n, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweckmässige er)0 reichen, aber ebenfalls 0 h n e es g e woll t zu hab e n. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu
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wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben: sollten wir, die gei s t i ger e n Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? -
39· Die Fabel von der intelligibelen Freihe i t. - Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten mora20 lischen Empfindungen verläuft in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, 25 ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet - also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die 30 Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen
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Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreim, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich, dass aum dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensm für Nichts verantwortlim zu machen ist, weder für sein Wesen, noch 10 seine Motive, noch seine Handlungen, nom seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Gesmichte der moralischen Empfindungen die Gesmichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. - Schopenhauer IS schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen U nm u t h ("Schuldbewusstsein") nach sim ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre k ein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsächlich, und Z) auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft - , sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wes e n erlangte, - was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben %S müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sei n, nicht so oder so zu ha n deI n. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und UnverantP wortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern sei er irrthümlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden woll e, sein Wollen sei früher, als seine Existenz.
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- Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Zu I ä s s i gk e i t dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nie h t nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.
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Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen 25 werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des 30 Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Same zu erklären ist.
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Der u n ver ä n d e rl ich e C ha ra k te r. - Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass wähs rend der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen CharakIQ ter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
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Die Ordnung der Güter und die Moral. Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer
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jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei.
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43· G rau sam e M e n sc h e n als zur ü c k g e b 1i e ben. Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen fr ü her e r Cu I tu ren gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen 21.1fälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle war e n , und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung wälzt.
44· Dan k bar k e i tun d R ach e. - Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt: nun vergreift er sich 25 zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb- stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprüng30 lich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten.
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- SwiA: hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.
45· Doppelte Vorgeschichte von Gut und Bös e. - Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich ein mal in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - So dan n in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder an der e Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; menschlich, göttlich gilt so viel wie teuf-
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lisch, böse. Die Zeichen der Güte, HülfebereitschaA:, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schreddichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen, kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist. - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der her r s c h end e n Stämme und Kasten aufgewachsen.
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M i tl eid e n s t ä r k e r als Lei den. Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das, Unegoistische in ihm.
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H y P 0 c h 0 n d r i e. - Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypo-
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chondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.
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Oe k 0 n 0 m i e der G ü t e. - Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten.
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Wo h I woll e n. - Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen selCf tenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn m Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens 8f sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. )It Die S u m m e dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig,
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ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. - Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst.
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5°· M i tl eid e n er r e gen woll e n. - La Rochefoucauld triff!: in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele entkräfte. Freilich solle man Mitleiden be z e u gen, aber sich hüten, es zu hab e n: denn die Unglücklichen seien nun einmal so du m m. dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. - Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und schreien, d ami t sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und GeistigGedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden weh zu t h u n : das Mitleiden, welches Jene dann äussern, ist insofern eine Tröstung
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für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Mac h t z u hab e n , trotz aller ihrer Schwäche: die Mac h t, weh e zu t h u n. Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der , Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der lQ ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld meint. - Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein klein Wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Mensehen so nach Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite HeilXl mittel ist. Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu thun? dass man sich nicht selten damit unterhält - und gut unterhält -, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? ~'f Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Merimee Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il n'y arien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire. "
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51· Wie der S ehe i n zum Sei n wir d. - Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht auf-
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hören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf, Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affeetation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann JO vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas sc he i n e n will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sei n. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, J5 mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.
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Der Punct der Ehrlichkeit beim Bet ru g e. - Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen %5 in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der GI a u b e ans ich seI b s t : dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande 30 der Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente
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dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig wir k e n. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.
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53· A n g e b I ich e S t u fe n der W a h rh e i t. - Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu u n bill i g, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.
54· Die Lüg e. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil
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es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so'lügt es in aller Unschuld.
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55· Des Glaubens wegen die Moral verdächti gen. - Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele" weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es n Ö t h i g wäre, so zu leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betrüge nicht!" - Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem
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Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden.
56. Sieg der Erkenntniss über das radicale Bös e. - Es trägt Dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben: ID sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet. Um uns zu begreifen, müssen wir sie begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es 11 keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkennt• niss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie .. möglich zu er k e n n e n , wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden • Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen.
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57· Moral als Selbstzertheilung des Mensc h e n. - Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld 10 falle: denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. - Sind das Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität W und er, weil sie, 15 nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unmöglich und doch wirklich " sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch E t was von sie h , einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als e t was A n d e res von sich, dass er also sein Wesen zertheilt und zo dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist es etwas wes e n t I ich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt aus dem Wege gehn?" - Die N eigung zu Etwas (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen Z5 genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.
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58. Was man versprechen kann. Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, ver-
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spricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welme zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe im dim nicht mehr, so wirst du dom die sei ben Handlungen, wenn aum aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der Mitmensmen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. - Man versprimt also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt.
59· I n tell e e tun d M 0 r a1. Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intelleets gebunden.
60. Sie h r ä ehe n woll e nun d sie h r ä ehe n. Einen Ramegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen 25 Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein mronismes Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absimten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen 30 Folgen, welche die That der Rame vielleicht nach sich zieht). Beide Sm ätzungen sind kurzsimtig.
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61. Warten-können. Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakel spruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen 10 geschlagen und zu sich gesprochen haben: wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im 15 Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. - Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen 20 noch warten können: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sidl sagt: "entweder lebe ich weiter, dann muss Jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesidltS ihres Verletzers noch län25 ger leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist.
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62.. S c h w e I ger eid e r R ach e. - Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschweIgen zu können.
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63· Wer t h der Ver k lei n e run g. Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so -
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64· Der Auf b rau sen d e. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn das s wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt.
65· Wo hin die Eh rl ich k e i t f ü h ren k a n n. Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe
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zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will - sich selber - brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.
66. Sträflich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.
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67· San eta simplieitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.
68. M 0 ra I i t ä tun d E rf 0 I g. Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die grie-
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chische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punet um Punet an Epikur's Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punet um Punet zurückgewiesen haben.
69· Liebe und Gerechtigkeit. Warum über10 schätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersichtlich dümmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel a n gen e h m e r für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt 15 sie ihre Gaben aus, an Jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht.
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7°· Hin r ich tun g. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, ich meine die veranlassenden Umstände.
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71• Die Hof f nun g. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, - es ist die Hoffnung. - Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.
72 • Grad der moralischen Erhitzbarkeit unb e k a n n t. - Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Bei%5 spiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben 30 können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von
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welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen.
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73· Der M ä r t y r e r w i der Will e n. - In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmliche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.
74· A 11 tag s - M aas s s tab. - Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurückführt.
75· M iss ver s t ä n d n iss übe r die Tu gen d. - Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und Lastern sehr
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geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen.
Der A s k e t. Noth.
76 . Der Asket macht aus der Tugend eine
77· Die Ehre von der Person auf die Sache übe r t rag e n. - Man ehrt allgemein die Handlungen der 10 Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Sc h ä t Z u n g der D i n ge, welche in jener Art geliebt werden oder für welche man sich aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer überzeugt von der 15 Sache, für welche es kämpft.
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7 8• Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Ge f ü his. - Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.
79· E i tel k e i t be r e ich e r t. Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem
2. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen 75-81
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wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.
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80. G re i s und Tod. - Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind. 8r. Irrthümer des Leidenden und des Thäte r s. - Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, Jener müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber jener empfindet den Werth eines ein z eIn e n Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht
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so sehr Unrecht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen 10 von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect I5 beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. Ja, jeder Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richzo ter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empZ5 finden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.
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82. Hau t der See I e. - Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist die Haut der Seele.
2. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen 81-88
83· Schlaf der Tugend. fen hat, wird sie frischer aufstehen.
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Wenn die Tugend geschla-
84· Fe i n h e i t der Sc h a m. Die Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.
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85· B 0 s h e i t ist sei t e n. Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein.
86. Das Z ü n g lei n an der Wa g e. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andere mehr Gelegenheit gieht, unsere Urtheilskraft leuchten zu lassen.
87· Lucas I8,I4 verbessert. rigt, will erhöhet werden.
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Wer sich selbst ernied-
88. Ver hin der u n g des Sei b s tm 0 r des. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen: diess ist nur Grausamkeit.
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89· Ei tel k e i t. - Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen überhaupt allen übrigen Menschen). Nur wo Jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten 10 seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf einen Grad der "guten Meinung" absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich 15 hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen; aber die mächtige Gewöhnung an Autorität - eine Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist - bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also erst aus der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer ~o mehr, als der eigenen. - Das Interesse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen, erreicht bei dem Eitelen eine solche Höhe, dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also den Irrthum herbeiführt und doch ihm ~s Glauben schenkt. - Man muss sich also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig, feindlich, neidisch, also schädlich gegen sich z,u stim30 men, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben.
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9°· Gränze der Menschenliebe. - Jeder, welcher sich dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist.
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Mo r a I i tel arm 0 y a n t e. - Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist! - Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhand nähme.
92 • Urs p run g der Ger e c h t i g k e i t. - Die Gerechtigkeit I5 (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich M ä c h ti gen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athen ischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen wür10 de, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tau s c h e s ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt Jedem, was er haben 15 will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. - Gerechtigkeit 30 geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbst-
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erhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: .. wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" - Soviel vom Urs p run g der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen ver g e s sen haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterir. an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe.
93· Vom Rechte des Schwächeren. - Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass 25 man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art G 1e ich s tell u n g , auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. - Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und 30 Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das Re c h t geht ursprünglich so w e i t, als Einer dem Andern werth-
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voll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen er s ehe i n t. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).
94· Die drei Phasen der bisherigen Moralität.Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbe10 finden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also n ü t z I ich, z w eck m ä s s i g wird: da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehr e handelt; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsaIS men Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der 10 bis her i gen Moralität nach sei n e m Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, lS das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Indivicluum.
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95· Mo r a I des re i fe n In d i v i cl u ums. -
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her als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst per s ö n I ich e n Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Per s 0 n machen und in Allem, was man thut, deren h ö c h s t e s Wo h I in's Auge fassen - das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, - gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als sei n e n Vor t he i I versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.
9 6. Si t t e und si t t I ich. - Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass man es thut. »Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Grie-
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ehen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er "wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als "gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen "gut". Böse ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "böse" an die freiwillige Schädigung des Nächsten denken. Nicht das "Egoistische" und das "Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen e n t S t a n den ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Ge m ein d e , eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die Gem ein s c h a f t noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.
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Die L u s tin der S i t t e. - Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine S i t t e n durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die ein z i ge Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.
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9 8. L u s tun d s 0 c i ale r Ins tin c t. - Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von L u s t zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hieher gehört, schon von den Thieren her übernommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie gieht dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die gl e ich art igen A e u s s e run gen der L u sterwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das SeIhe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf haut sich dann wohl das älteste Bündniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.
99· Das Unschuldige an den sogenannten bös e n Ha n d I u n gen. - Alle "bösen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz bereiten an sich" ex ist i r t n ich t, ausser im Ge-
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hirn der Philosophen, ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. - Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Bel i e ben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungs trieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen U rtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Absc h r eck u n g andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Z w a n g voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft - und heisst nun Tu gen d.
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Se harn. - Die Scham existirt überall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess 10 Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und 15 im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unter10 worfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Myste15 rium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.
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R ich tet nie h t. - Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht
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mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. - 0 e r Ego i s mus ist nie h t bös e, weil die Vorstellung vom "Nächsten" das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu I ern e n: und völlig kann es nie gelernt werden.
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"D e r M e n s c h h a n dei tim m erg u t. « Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbt das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch; man tödtet z. B. eine Mücke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun gelten bei Not hweh r: das heisst wenn es sich um die Sei b s t e r halt u n g handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte gen ü gen, um alle bösen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man will für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.
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Das H arm los e an der B 0 s h ei t. - Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das U n moralische daran, Lust auf Grund der Unlust
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An der e r zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das W iss e n darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen 10 zu er k e n n eng e ben, zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die F 0 I gen, 15 auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. - Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz zo des Andern an sich. Denn e~ birgt mindestens zwei (vielleicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Z5 Steht uns überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen wir durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen, immer ziemlich tief gestellt: mit Recht.
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Nothwehr. - Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Aeusserungen des so-
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genannten unmoralischen Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. A b sie h t1 ich s c h ä d i gen, wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische 10 nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nie h t um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner B 0 s h e i t, zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, 15 so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug. W eis s man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis 10 in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir sc h li e s sen aus Analogie, dass Etwas Jemandem weh thut, und durch die Erinnerung 15 und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der G rad des erzeugten Schmerzes uns 30 jedenfalls unbekannt; insofern aber eine Lu s t bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der
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Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Mensmen ihn gut, oder so, dass sie ihn bös e nennen, darüber entsmeidet das Maass und die Beschaffenheit seines I n tell e c t s.
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r05· Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschre<:ken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeIn, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem. welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben. ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen »der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat »der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben. fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.
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Am Was s e r f all. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst 10 steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick das Rad derWeltstill stände und ein allwissender, rechnender Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rol15 len wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.
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Unverantwortlichkeit und Unschuld. Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schönheit, Fülle
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an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch a 11 e Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird, bei einem Rückblick, all uns erHandeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Sdunerzen machen, aber darnach gieht es einen Trost: solche
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Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit f ä h i g sind wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer m 0 ra I i sc h e n sich in eine w eIS e Me n s c h h e i t u m w an deI n k ö n n e . Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit not h wen d i g zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte - wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: - aber A II e s ist aue h i m S t rom e : nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit,die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten
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Menschen das he iss t die not h wen d i ge Vors t u fe, nie h t den Ge gen s atz von jen e m - hervorbringt.
Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben.
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Der doppelte Kampf gegen das Uebel. Wenn uns ein Uebel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und !o Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes: "wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt IJ (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm Je auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt - denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des 's unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird -, noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel.
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1°9· G r ami s t E r k e n n t n iss. - Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte, Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, - wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer! Doch solche Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht gl a u ben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen Versen aus: Sorrow is knowledge: they who know the most must mourn the deepst 0'er the fatal truth, the tree of knowledge is not that of life.
Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen: quid aeternis minorem consiliis animum fatigas? cur non sub alta vel platano vel hac pinu jacentes -
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Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Er-
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kenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein i n tell e c tu ale s G e w iss e n heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!
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Die W a h rh ei t i n der Re I i gi 0 n. - In der Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die" Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen also - diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung - sensu allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr weg, geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse - falls man von einem solchen reden wolle - sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hörer er-
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reichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den Wer t h der R e I i g ion für die Er k e n n t n iss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hinein geboren, würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine W a h rh e i t e n t hai t e n. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle die Empfindungen, welche sie in sie h vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu behandeIn und somit auch ihren eigenen religiösen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes "metaphysischen Bedürfnisses" philosophir-
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ten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, - ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen, nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt, - sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch 10 selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich IS unter dem Aufputz der Wissenschaft. Uebrigens: wenn alle Völker über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was, beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein Ge gen arg u m e n t gegen jene behaupteten Dinge, zum z Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe'sche Vers spricht: ~s Alle die Weisesten aller der Zeiten lächeln und winken und stimmen mit ein: Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! Kinder der Klugheit, 0 habet die Narren eben zum Narren auch, wie sich's gehört! JO Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt.
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Menschliches. Allzumenschliches I III.
Ursprung des religiösen Cult.us'. - Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so finden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen Leben uns verschlossen sehen: sie betriffi die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen; weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; 10 eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der na tür li ehe n Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Dämon zwingt, das 15 Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom "natürlichen Hergang" fehlt, - sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Con20 ception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft dabei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung 25 ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug 30 in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, ein ungeheurer Complex von Will kür1ich k e i te n. Es ist in Bezug auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein
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wer d e, so und so kommen m ü s se; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Re gel, die Natur die R e gell os i g k e i t, - dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfinden gerade völlig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Ge set z , das Herkom m e n bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur - die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle Natur - als das Re ich der Fr e ihe i t, der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände, wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? - Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Na t ure 1 n Ge set z auf z u leg e n - : und kurz gesagt, der reli-
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giöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der sc h w äe h e re Stamm dem s t ä rk e ren doch Gesetze die ti ren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? Man wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, den man ausübt, wenn man Jemandes Ne i gun g erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man Ver t r ä g e schliessen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu schädigen, zu vernichten; das Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, - dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein
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Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hieher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung, Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir lies sen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. - Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzählige Ceremonien in's Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr ein z u prä gen, die sie eine G e set z I ich k e i t von vor n her ein nie h t hat; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur er k e n n e n will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter, als der Priester. Aber e ben s 0 ruht er
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auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave gegenüber, er ist ni c h t nothwendig der willenlose Knecht derselben: auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiosität.
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Beim Anblick gewisser antiker Opferger ä t h s c h a f t e n. - Wie manche Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu sehen: die 20 Empfindung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem 25 Lächerlichen verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird.
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C h ri s t e n t h u mal s Alte r t h u m. Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glod<en brummen hören, da 30 fragen wir uns: ist es nur möglich! diess gilt einem vor zwei
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Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. - Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit herein ragendes Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt, - während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist - , ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, ...ber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott gebüsst; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?
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Das U n g r i e chi s ehe i m ehr ist e n t h u m. Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist; während die italischen Völker eine rechte BauernReligion haben, mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympi-
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schen Götter zurücktraten, da war auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. - Das Christenthum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit liess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht: das M aas s , und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbariscli, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.
115· Mit V 0 rt h eil re I i g i ö s sei n. Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums an gestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. - Alle Menschen, 20 welche sich nicht auf irgend ein Waffen handwerk verstehen Mund und Feder als Waffen eingerechnet - werden servil: für solche ist die christliche Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend an und wird erstaunlich verschönert. - Leute, welchen ihr tägliches 25 Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfliesst.
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II6. Der Alltags-Christ. - Wenn das Christenthum mit
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seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nie h t Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass überhaupt ge g lau b t wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihm verheisst.
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Von der K lug h e i t des C h r ist e n t h ums. Es ist ein Kunstgriff des Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. "Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist,« so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art.
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Per s 0 n e n w e c h seI. - Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären.
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II9· Schicksal des Christenthums. Das Christenthum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt müsste es das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.
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Der B ewe i s der Lu s t. - Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein!
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G e f ä h rl ich e s S pie 1. - Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht.
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Die blinden Schüler. - So lange Einer sehr gut die Stärke und Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich
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mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst oft nur: sie so mit der Dummheit versmwistern, dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.
12 3. A b b r u c h der Kir ehe n. - Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um die Religionen auch nur zu vernichten.
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12 4. S Ü n d los i g ke i t des M e n s ehe n. - Hat man begriffen, "wie die Sünde in die Welt gekommen" ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur immer das Kind an sim. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sim immer wieder im Paradiese.
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Irreligiosität der Künstler. - Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbramteeinen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes
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besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten.
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Kunst und Kraft der falschen Interpretat ion. - Alle die Visionen, Schre
12 7. Verehrung des Wahnsinns. Weil man bemerkte, dass eine Erregung häufig den Kopf heller machte und glü
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Ver h eis s u n gen der W iss e n s c h a f t. - Die moderne Wissensmaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich, - also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.
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12 9. Ver bot e n e F r e i ge b i g k e i t. - Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu dürfen.
13°· Fortleben des religiösen Cultus' im Gern ü t h. - Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen VernunftDenken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde Kirme, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen dunklen Räumen das SichRegen derselben fürchten lässt, - wer wollte solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hotfnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehmlich durm den Cultus eingeboren worden; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet.
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R e I i g i öse Na c h weh e n. - Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von "dem ganzen sichern Evangelium im Bli&. der 10 Madonnen bei Rafael« spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger be15 dachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. - Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürfnisses - eines 20 gewordenen und folglich auch vergänglichen Bedürfnisses Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker sprechen von "Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, "dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlos25 senen Wahrheiten und solchen "geahnten" Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise gi e b t, aber er wünscht die Speise. "Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend 30 einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie wünscht oder fürchtet; die "Ahnung" trägt keinen Schritt weit in's Land der Gewissheit. - Man glaubt unwillkürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen, als die anderen; aber es ist im Grunde um-
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gekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein m ö g e, - also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute einzukaufen.
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Von dem christlichen Erlösungsbedürfn iss. - Bei sorgsamer Ueberlegung muss es möglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen, welchen man Erlösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters, Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen; als welche in der psychologischen Analysis der religiösen» Thatsachen" einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen sollten. Unbeirrt von solchen Vorgängern, wagen wir folgende Auslegung des bezeichneten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten anerkannt sind, wie gerne fühlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos über-
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haupt oder die Folgen jener böse genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese, und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. - Dieser Zustand würde nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu erkennen, ja die Geisselschläge seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässlichkeit alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet?
IB· Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vor25 legen, wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine "Schuld" und "Sünde", sondern durch eine Reihe von Irrthümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth vorkam, und dass jener 30 Spiegel sei n Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig
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wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff "unegoistische Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund gethan wäre; ja wie sollte er Etwas thun k ö n n e n, das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie vermöchte das ego ohne ego zu handeln? - Ein Gott, der dagegen ga n z Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg's, der freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte: "Wir können unmöglich für Andere f ü h I e n, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen", oder wie La Rochefoucauld sagt: "si on croit aimer sa mahresse pour l'amour d'elle, on est bien trompe." Wesshalb Handlungen der Liebe höher g e s c h ätz t werden, als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher erwähnten Untersuchungen "über den Ursprung der moralischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott, Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu thun, zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er se h r vi e I für sich thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität erz w i n gen müsste (wodurch sie sich
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freilich selber aufheben würde). - Weiter: die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie e n t s t a n den ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der Maassstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so auch das Gefühl der "Sünde" als eines Vergehens gegen göttliche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das "ewige Heil der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.
134· Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthümer in das Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen, so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener
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Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält, wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung, den Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, - aber gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung, kommt ihm unglaublich vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente 10 Herabströmen eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so d e u t e t er jetzt in seine Erfahrungen die göttliche Güte hin ein: diess Ereigniss kommt ihm liebevoll, jenes wie 15 ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott gnädig sei. Wie er früher im Zustande des Unmuthes namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse; die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm wal10 tenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung.
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Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört 30 man auf, Christ zu sein.
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Von der christlichen Askese und Heiligk e i t. - So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in's Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark ist hinwiederum die Verführung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb der Na t u r hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen überhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie früher gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete Unerklärbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nimt: jene Erscheinungen sind immer nom unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gespromen: das Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein, - so lautet die Forderung in den Seelen aller Religiösen und Metaphysiker (auch der Künstler, falls sie zugleich Denker sind); während der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das "böse Princip" sieht. - Die allgemeine erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und Heiligkeit zuerst geräth, ist diese, dass ihre Natur eine co m pli c i r t e ist: denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der moralischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das Complicirte und mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also, einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken. 1)7·
Es giebt einen T rot z g e gen s ich seI b s t, zu dessen sublimirtesten Aeusserungen manche Formen der Askese ge-
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hören. Gewisse Menschen haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer übjecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu verbessern; mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf sich herab, während er es leicht hätte, durch Stillschweigen ein geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen frühere Meinungen und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden: im Gegentheil, sie bemühen sich darum und benehmen sich wie übermüthige Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hieher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren. -
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Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist bekannt: beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung
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(welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im A f fee t am moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar, welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal fähig zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Ein10 flusse der gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und wenn er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so wählt er sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl, um seine 15 Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer Gewöhnung anerzogen werden; eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und wirkungsvollste 20 Symbol dieser Art von GrÖsse. Als die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines Affectes, - als Diess er s ehe i n t diese Verleugnung; und insofern gilt sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei ihr um die Vertauschung der einen Vorstel25 lung mit der andern, während das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand, behält. Ernüchterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der Affect und das 30 Verständniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt der Andere dem hochgespannten Gemüthe nur eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung.
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139· In mancher Hinsicht sucht sich aum der Asket das Leben leicht zu mamen, und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter ein umfänglimes Gesetz und Ritual; etwa in der Art, wie der Brahmane durmaus Nichts seiner eigenen Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durm eine heilige Vorsmrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um über sich Herr zu werden; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile, und hat doch 10 keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man hat ein für alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde 15 ganz zu entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige also erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit sein Leben, und man täuscht 10 sich, wenn man in jenem Phänomen das höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persönlimkeit ohne Smwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen; überdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.
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Nachdem im, in vielen der smwerererklärbaren Handlungen, Aeusserungen jener Lust an der E m 0 t ion ans ich gefunden habe, möchte im auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der Heiligkeit gehört, und ebenso in 30 den Handlungen der Selbstquälerei (durch Hunger und Geisselschläge, Verrenkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durm welches jene Naturen gegen
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die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven) ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so häufig verfallen lässt.
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Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend 10 zu machen, besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten "inneren Feinde". Namentlich nützt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, so dann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine 15 fortgesetzte Schlacht und sich wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung lO im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefühle verdanken wir die so belehl5 rende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie gesagt, ihr ödes Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den 30 Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammnis wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchst-
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wahrsmeinlich durch ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Smade angethan worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe: was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das Christenthum gesagt: jeder Mensm sei in Sünden empfangen und geboren, und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte sim dieser Gedanke nom einmal zusammen geknotet und verschlungen, so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in 10 dem bekannten Verse: die grösste Schuld des Mensmen ist, dass er geboren ward. In allen pessimistismen Religionen wird der Zeugungsact als smlemt an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfin15 dung eine allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine einzige heil- und hoffnungsvolle Erschei10 nung, die Aphrodite; sie gilt ihm als Bürgschaft, dass der Streit nimt ewig herrschen, sondern einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie braumten für die 15 Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen Bekämpfung und Ueberwältigung sie dem Nimt-Heiligen sim immer von Neuem wieder als halb unbegreiflime, übernatürliche Wesen darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge 30 ihrer Lebensweise und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu se h e n. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut, wie der Wechsel von Begierde
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und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisseln, zu kreuzigen; man woll t e sich möglichst schlecht und böse finden, man suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich selber hadern 10 und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine Träume bekommen einen Beigeschmack des gequälten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegründet: es ist nur die Folge von Meinungen übe r die Dinge. Man erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechIS ter werden, dass sie das unvermeidlich-Natürliche als schlecht bezeichnen und später immer als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und jener Metaphysiker, welche den Menschen als böse und sündhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht zu mac h e n : ~o denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählich fühlt er sich, bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von Sünden bedrückt, dass übernatürliche Mächte nöthig werden, um diese Last heben zu können; und damit ist das schon besprochene ~s Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die Anforderungen überspannt sind, damit 30 der Mensch ihnen nicht genügen k ö n n e; die Absicht ist nicht, dass er moralischer wer d e , sondern dass er sich m ö g li c h s t s ü n d h a f t fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht a n gen e h m gewesen wäre, - wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt? Wie in der
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antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis - ist das nicht das Losungswort einer erschlafften, überreifen, übercultivirten Zeit? Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden: da erfanden der Heilige und der Asket eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für Viele, sondern als schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen Gränzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die Nähe der letzten Entscheidung über endlose neue Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, - das war die letzte Lu s t , w eIe h e das Alt e r t h urne r fan d , nachdem es selbst gegen den Anblick von Thier- und Menschenkämpfen stumpf geworden war.
14 2 • Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, 30 dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem Einfluss anderer als religiöser Vor-
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Menschliches, Allzumenschliches I
stellungen anders gefärbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen, - mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, 10 über in das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller störenden, quälenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzenhaften 15 Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält: er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstel20 lung des Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen-gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar nach Visionen, 25 Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze 30 Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: "Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."
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143· Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen be d e u te t, giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-lJebermenschliches: dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftzüge seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er be d e u te t e Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure: ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben.
144· Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere Empfindung hervorbringen möchte. Einzelne
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Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher Thatkraft; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung - die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wimmelt - das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann. - Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die Wissenschaft - soweit es eine solche gab -, die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie die sei ben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller.
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145· Das Vollkommene soll nicht geworden sein.Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es ist uns bei nah e noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. - Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.
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146. Der Wa h r h e i t s s i n n des K ü n s tl e r s. - Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität, als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst wir k u n g s voll s t e n Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.
147· Die K uns tal s Tod t e n b e s c h w öre r i n. - Die Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder 20 aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Schein leben wie über Gräbern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte Emp25 findung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Ver m ä n n I ich u n g der Menschheit steht: 30 er ist zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der ersten Lebens-
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stufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit.
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Die h t e r als Erle ich te r erd e s Leb e n s. - Die Dichter, insofern auch sie das Lehen der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben. Um diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorhenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig E p i gon e n. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft: der Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch entladen.
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Der I a n g sam e P f eil der S c h ö n h e i t. - Die edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehn-
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sucht füllt. - Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. - Aber das ist ein Irrthum.
15°· Be see I u n g der Ku n s t. - Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch 10 nicht konnte. Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der 15 religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran 20 hängen geblieben sind.
Ip.
Wodurch das Metrum verschönert. - Das Metrum legt Flor über die Realität; es veranlasst einige Künsdichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens; durch den 25 Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist, um zu verschönern, so ist das "Dumpfe" nöthig, um zu verdeutlichen. - Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.
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151· Kunst der hässlichen Seele.-ManziehtderKunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in den bildenden Künsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine Kunst der hässlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele; und die mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten gelungen.
153· Die Kunst macht dem Denker das Herz sc h wer. - Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer 15 macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Sympho10 nie Beethoven's sich über der Erde in einem Sternen dome schweben fühlt, mit dem Traume der Uns t erb I ich k e i t im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen 15 und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt.
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154· Mit dem Leb e n s pie I e n. -
Die Leichtigkeit und
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Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche Gemüth und den überscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten, dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren Sie aber von der Lust, zu fabuliren, so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.
155· G lau b e a n Ins p i rat ion. - Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Eingebungen, die 20 sogenannten Inspirationen glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine 25 Ur t h eil s k r a f t, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven's ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng scheidet und sich 30 der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können; aber die künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst
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und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.
15 6. Nochmals die Inspiration. - Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguss, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder 10 sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur an geh ä u f t, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum 15 Beispiel im Bereiche der Güte, der Tugend, des Lasters.
157· Die Lei den des Gen i u s' und ihr Wer t h. - Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden; 20 er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das tragisch sein? - Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation für 15 diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfindet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist; und mit u n t e r sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein 30 Ehrgeiz, sein Neid so gross ist. Der wissende Genius, wie Kepler
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und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen Fällen, - dann, wenn im seI ben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen - kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlimsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welme ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). - Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Aechtheit? 1st es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden?
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Ver h ä n g n iss der G r ö s s e. - Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereime der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen oder zum Ueberbieten; dazu haben alle 25 grossen Begabungen das Verhängnissvolle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewöhnlim 30 den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Limt gegönnt.
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Die K uns t dem K ü n s tl erg e f ä h rl ich. - Wenn die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen, wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben.
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Ge s c h a f fe n e Me n s ehe n. - Wenn man sagt, der Dramatiker (und der Künstler überhaupt) sc h a f f e wirklich Charaktere, so ist diess eine schöne Täuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe feiert. 15 In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflächlich, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer se h run voll kom m e n e n Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe 30 zu Menschen macht (in diesem Sinne "schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Künstler; es sind durch20
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aus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern ähnlich wie die gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Not h wen d i g e s (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, 10 will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig 15 genügen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen. - Dass gar der Maler und der Bildhauer die "Idee" des Men20 schen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der innere Leib gehört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die 25 redende Kunst nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen U n w iss e n h e i t des Menschen über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker und Philosophen da.
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x6r. Selbstüberschätzung im Glauben an Küns tl e run d Phi los 0 p h e n. - Wir Alle meinen, es sei die
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Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen, wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst uns e r e e i gen e G ü tein Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft über ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres Urtheils, während Urtheil oder Empfindung oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee beweist.
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C u I t u s des Gen i u s' aus E i tel k e i t. - Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines Shakespeare'schen Drama's machen könnten, reden wir uns ein, das Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltener Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius': denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: "die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint
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die Thätigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des 'astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's: aber keine ist ein" Wunder." - Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie "Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von WunderAugenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's "Wesen" sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden "göttlich" nennen heisst "hier brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. Nun kann Niemand beim Werke des Künstlers zusehen, wie es ge w 0 r den ist; das ist sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft
x63· Der Ern s t des H a n d wer k s. - Redet nur nicht von
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Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie b e kam e n Grösse, wurden "Genie's" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum Beispiel, 10 wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt "ich habe nicht genug Talent". Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, 15 dass jedes Wort darin nothwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnan.teste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere, man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge 10 und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner, man excerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, 15 verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Strasse. - Wie machen es aber die 30 Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. - Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan
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zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Noth die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.
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164. Gefahr und Gewinn im Cultus des Geni u s '. - Der Glaube an grosse, überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig noch mit jenem ganzoder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen Menschen. Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann man vielleicht zugeben, dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der Unverantwortlichkeit, der excep-
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tionellen Rechte, der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu setzen. Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche Wir k u n g zu machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, Jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen über die Menschen gebracht. - In einzelnen seltenen Fällen mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem "Genie", das an seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das "Genie" alt wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen
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Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.
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Das Gen i e und das Nie h t i g e. - Gerade die originellen, aus sich schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz Leere und Schaale hervorbringen, während die abhängigeren Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine Hülfe: sie werden leer.
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Das Pub I i c u m. - Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können; der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.
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Art ist i s c h e Erz i e h u n g des Pub I i c ums. Wenn das selbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.
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Künstler und sein Gefolge müssen Schritt hai t e n. - Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang mitmachen und 15 genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr 10 hebt, so sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt.
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Herkunft des Komischen. Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in socialen Verhältnissen, JO alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in
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Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde, zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, - der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das Kom i s ehe. Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als dass man erschüttert ist.
17°· K ü n s t I e r - Ehr gei z. Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr Werk die höchste Vortrefflichkeit vor ihr e n ei gen e n Au gen erhalte, so wie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vortreffliche an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter erz 0 gen hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen wirklich vortrefflicher sei n; dann fordern sie von Aussen her Zustimmung zu dieser eigenen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier "sich überlegen machen und wünschen, dass es auch öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das Zweite
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trotzdem begehrt, so spricht man von Ei tel k e i t. Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von S t 0 I z.
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Das Not h wen d i ge a m Ku n s t wer k. - Die, welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas Lässliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnügen, morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden.
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Den Meister vergessen machen. - Der Clavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers fUr sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des" Virtuosenthums".
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173· Co r r i ger la f 0 r tun e. - Es giebt schlimme Zufälligkeiten im Leben grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Clavierauszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der Grossen nachträglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene, dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte.
174· Ver k lei n ern. - Manche Dinge, Ereignisse oder Per15 sonen, vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines die Vergrösserung verträgt; wesshalb es Biographen immer noch eher gelingen wird, einen 10 grossen Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross.
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175· Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwar t. - Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des Künstlers, durch sein Kunstwerk in eine "Heiligkeit" der Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist.. - Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen sich also höchstens an Einem Puncte.
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176. S h a k e s p e are als M 0 r a 1ist. - Shakespeare hat über die Leidenschaften viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen übe r die Passionen den passionirten Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen 10 leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. - Die Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde Mon15 taigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind.
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177· Sie h gut zuG e hör b r i n gen. - Man muss nicht nur verstehen, gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen. Die Geige in der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stümper verwechseln.
17 8• Das Unvollständige als das Wirksame.Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgend wodurch gehemmt, Halt machen: so ist mitunter die reliefartig unvollständige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als die erschöp-
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fende Ausführung: man überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin hinderlich war.
179· Gegen die Originalen. - Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst.
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Co 11 e c t i v gei s t. - Ein guter Schriftsteller hat nicht nur semen eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde.
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Z w eie rl e i Ver k e n nun g. - Das Unglück scharfsinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen keine Mühe zuwendet: und das Glück der unklaren, dass der Leser sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute schreibt.
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Ver h ä I t n iss zur W iss e n s c h a f t. - Alle Die haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, für sie warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.
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18 3. Der S chi ü s seI. - Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für Jene nicht mehr, als ein Stück alten Eisens.
18 4. U n übe r set z bar. - Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unübersetzbar ist.
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I8S· Paradoxien des Autors. - Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers.
186. W i t z. - Die wItZigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Lächeln.
18 7. Die An t i t h e s e. - Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht.
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188. Denker als Stilisten. - Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.
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18 9. Ge dan k e n i m Ge die h t. - Der Dichter führt seine Gedanken festlich daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewöhnlich desshalb, weil diese zu Fuss nicht gehen ki?nnen.
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19°· S Ü n d e w i der den Gei s t des L e s e r s. - Wenn der Autor sein Talent verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er nämlich Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen: aber in der Art, wie man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder aufzurichten WIssen.
19I. G r ä n z e der E h rl ich k e i t. - Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfällt ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will.
19 2 • Der be s t e Au tor. - Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt, Schriftsteller zu werden.
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193· D r a k 0 n i s ehe s Ge set z ge gen Sc h r i f t S tell e r. Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das wäre ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Bücher.
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194· Die Narren der modernen Cultur. - Die Narren der mittelalterlichen Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die seI be Gattung Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der Fürsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt). Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind die "Narren der modernen Cultur", welche man milder beurtheilt, wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schriftstellerei als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art Tollheit gelten.
195· Den G r i e c h e n n ach. - Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im Wege, dass alle Worte durch hundertjährige 10 Uebertreibung des Gefühls dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen; worin uns die Griechen 15 im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch zu excentrisch ge f ü hIt. Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit, selbst absichtlieh bis an die Gränze hinab, 30 überhaupt An-sieh-halten des Gefühls und Schweigsamkeit, das kann allein helfen. - Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gefühlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt
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freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel, als ein hoher Wärmegrad.
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196. Gut e Erz ä h I e r sc h I e c h teE r k I ä re r. - Bei guten Erzählern steht oft eine bewunderungswürdige psychologische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem geradezu lächerlichen Gegensatz zu der Ungeübtheit ihres psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke ebenso ausgezeichnet hoch, als im nächsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren Handlungen ersichtlich fa I s c herklären, - es ist daran kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der grösste Clavierspieler nur wenig über die technischen Bedingungen und die specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet.
197· Die Schriften von Bekannten und ihre Le20 se r. Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwährend unsere Erkenntniss daneben flüstert: "das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Er25 trag jenes Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehen von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese bei den Arten des Lesens und Erwägens stören sich, wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird 30 dann erst gute Früchte der Erkenntniss zeitigen, wenn Beide end-
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lich nur noch an die Sache denken, und vergessen, dass sie Freunde sind.
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Rh y t h m i s c h e 0 p fe r. - Gute Schriftsteller verändern den Rhythmus mancher Periode blos desshalb, weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht die Fähigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtern sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. - Diese Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. - Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht?
I99· Das Unvollständige als künstlerisches 15 Re i z mit tel. - Das Unvollständige ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede: für ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel die gegenüber10 liegende Küste, also die Begränztheit des zu lobenden Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der vollständig Lobende stellt sich über den Ge15 lobten, er scheint ihn zu übe r s ehe n. Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend.
200.
Vor s ich tim S ehr e i ben u n ci L ehr e n. -
Wer
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erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner Schüler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat. 201.
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Schlechte Schriftsteller nothwendig. Es wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr Bedürfniss wie die reifern. Wäre das menschliche Leben länger, so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren überdiess, mit der grösseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung ihres Bedürfnisses, und sie erz w i n gen s ich schlechte Autoren. 201..
Zu nah und zu fe r n. - Der Leser und der Autor verstehen sich häufig desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden.
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2°3· Eine verschwundene Vorbereitung zur K uns t. - An Allem, was das Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil: diese war eben eine K uns t ü b u n g, während alle anderen Beschäftigungen nur das Wissen zum Zwedt hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen, ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken fördern, so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen und nicht auf selbständiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene Feinheit des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer modernen Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken); aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis.
2°4· Dunkles und Ueberhelles neben ein ander. - Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten, übertriebensten Bezeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht eine Lichtwirkung, wie bei Fadtelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen.
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20 5. S ehr i f t s tell e r i s ehe s Mal e r t h u m. Einen bedeutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Gränzen und Uebergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas von dem hinreissenden Naturelernent, welches den Gegenstand selber bedeutend macht.
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B ü ehe r, w eie h eta n zen 1ehr e n. Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.
20 7. Nie h t fe r ti g g e w 0 r den e G e dan k e n. - Ebenso wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth ans ich haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen, wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle; man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit be-
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gehrlich, so dass wir nach diesem haschen; der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel- und doch entschlüpft er uns.
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Das B u c h fa s t zum M e n s ehe n ge w 0 r den. Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuern, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gien ge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht 10 vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, 15 wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen - kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. - Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, aufklärenden Gedanken 10 und Gefühien in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen sei. - Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen, Ent15 schlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche Uns t erb I ich k e i t, die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen JO und verewigt.
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Menschliches. Allzumenschliches I 20 9.
Fr e ud e im Alt e r. - Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind.
210. 10
15
Ruh i g e F ru eh t bar k e i t. Die geborenen Aristokraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch Neues verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht man eigentlich Nichts zu machen, - und thut doch sehr viel. Es giebt über dem .,productiven" Menschen noch eine höhere Gattung.
2II.
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25
30
Achilles und Homer. - Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer: der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere b e s ehr e i b t sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung Anderer nut Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen der grossen Leidenschaft, aber häufig ge ben sie sich als solche in der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eigenes Leben für ihre Erfahrung auf diesem Gebiete spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen, sofort schreit alle Welt: wie
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leidenschaftlich ist er! Aber mit der tiefwühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig z ü gellos e Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber das ist etwas Anderes.
212.
Alt e Z w e i f e I übe r die Wir k u n g der K uns t. Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch 10 die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linde15 rung und zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung ge s t ä r k t, trotz jener periodischen Linderun10 gen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher 15 und rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare, thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato's Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich beJO sonders an ihnen ergötzen, zu immer grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. - Aber welches Recht hat unsere Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem moralischen
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Menschliches, Allzumenschliches I
Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir selbst die Kunst, - wo haben wir den Einfluss, i r gen dei n e n Einfluss der Kunst?
2I3·
Freude am Unsinn. - Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckmässigen in's Zwecklose, des NothIO wendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlid1en Herren sehen; I5 wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalien feste.
2I4· Ver e deI u n g der Wir k 1ich k e i t. - Dadurch, dass 20 die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des 25 Idealisirens, aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. - Die Griechen be30 sassen nämlich Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesund-
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heit; - ihr Geheimniss war, auch die Krankheit, wenn sie nur Mac h t hatte, als Gott zu verehren.
21 5.
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Mus i k. - Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als u n mit tel bar e Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt w ä h n e n, sie spräche direct zum Inneren und käme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die "absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwickelung der Musik zurückgeblieben sind, können das selbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom" Willen", vom "Dinge an sich"; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hin ein gel e g t, wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist.
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Menschliches, Allzumenschliches I
2. r6. G e bär d e und S p r ach e. - Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können (man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorrufl). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nach10 ahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche Schmerz ihrerseits 15 verursachen (zum Beispiel durch Haarausraufen, die-Brustschlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses (Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, 2.0 welches lustvoll ist, diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen). - Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine S y m bol i k der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu 2.5 der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. - Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oflmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz 30 und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr be-
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darf und den Tondichter ohne dieselbe ver s t e h t. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.
21 7.
Die E n t s i n n li c h u ng der h ö her e n K uns t. Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr "Lärm", weil wir viel besser eingeübt 10 sind, auf die Ver nun f tin ihm hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem "es bedeutet" und nicht mehr nach dem "es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Bei15 spiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feind10 selige Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen, hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intel15 lectualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstande erobert worden. - Was ist von alledem die Consequenz? Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so 30 mehr kommen sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle
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Menschliches, AIIzumenschliches I
des Seienden, - und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist hässlicher als je, aber sie be d eu te teine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr der Ambradufl: der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entxo wickelung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem "es bedeutet" hinhörend, und dort die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und desshalb nach x5 dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt.
218.
Der S te i n ist m ehr S t ein als f r ü her. - Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens 10 lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen 15 oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des 30 Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit mi I der t e höchstens das G rau e n, - aber dieses Grauen war überall
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die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Sei be wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.
21 9. R e I i g i öse Her k u n f t der neu e ren Mus i k. Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im Protestantismus, 10 soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene 15 gelehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia wieder 10 eine Seele schenken wollte. Ohne jene tief religiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenrefor15 mation). So tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. Die Musik war die G e gen ren ais san c e im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt dürfte man 30 fragen: wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der
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Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen, das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, - das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stil gesetze geschaffen: - es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance.
2.2.0.
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Das Jen sei t s i n der Ku n s t. Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche, wie die divina commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe.
2.2. I.
30
Die R e v 0 I u t ion in der P 0 e sie. - Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken,
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war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Be10 wegung als Ausbeute mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser S ehe i n ist das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der 15 Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfes10 selung und machte einen Sprung in den Naturalismus das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn 15 der Faden der Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen 30 selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten.
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Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte, - er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen -; wie er auch der letzte gros se 10 Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich I S vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und 20 Grauen vor sich selber anwandelte, aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige, vom 25 Volksliede an bis zum "grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit 30 seines Faust in das günstigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker mus s ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle Dichter m ü s sen ja experimentirende Nach-
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ahm er, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der B ä n d i gun g der darstellenden Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die eigentlich künstlerische That zu sehen, mus s immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht iso I i r t, geniessen und zu guterletzt die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm auch darreichen m ü s s e. Ja, man hat die nunvernünftigen" Fesseln der französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; - und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei - was freilich höchst belehrend ist - alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im ZuGrunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein dreissig Jahre Me h r von Praxis fehlte, - Lord Byron hat einmal ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionären System, - unsere oder die nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau das Seibe? - jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann,
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Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlimsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbrum der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen geblie10 benen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sim viel zu smwam erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten smon zum Zerstören nöthig waren. So lebte er in der Kunst als in der Er15 innerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass 10 sie einmal erfüllt ge wes e n sind und dass auch wir nom an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklimkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch ge15 macht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellsmaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologismen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistismen Sinne wir k u n g s los gemacht; keine neuen Stoffe und Cha30 raktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später ver s t a n d, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übt e n.
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222.
Was von der Ku n s t üb r i g bl e i b t. - Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des e w i g Be ha rren den, während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der 10 Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. - Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt 15 ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar zu viel Aehnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der 10 Natur darstellte. Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich 15 rufen:" wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entw':'ckelung anzusehen, - diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss 30 des Erkennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des
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durch die Religion wirklich erworbenen und hinzu gewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissensmaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerisdlen.
223·
A ben d röt h e der K uns t. - Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Er10 innerung an die Freuden der Jugend. Vielleimt dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen smeint. Man denke an jene griemische Stadt in Unteritalien, welme an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Weh1 S muth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländisme Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenisme so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solmer Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herr20 liches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nimt leimt Unseresgleimen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem 25 Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie smon nicht mehr sehen.
Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur.
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224· Veredelung durch Entartung. - Aus der Geschichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren Individuen, an denen das gei s t i g e F 0 r t s c h r e i te n in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam i n 0 c u I i r t; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assi-
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miliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die hai t enden Typus fes t, die stärksten Naturen schwächeren helfen ihn f 0 r t b i 1den. - Etwas Aehnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes. mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; so dann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ih~ schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und
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später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. Was den Staat betriffi, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Da u e r sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit". Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren.
225· F re i gei s t ein re I a t i ver Beg r i H. - Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes 15 oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen MolO ral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und 25 Schärfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in's Gesicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Desshalb könnten 30 aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass
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man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. - Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben.
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Her k u n f t des G lau ben s. - Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.
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Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zur ü c k g e s chi 0 s sen. - Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, - also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsäd1lich verfährt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen Nut zen, den eine Meinung einträgt, ihre Wa h rh e i t erwiesen werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. - Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.
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Der s t a r k e, gut e C h ara k t e r. - Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wie der hol u n g werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.
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Gei s t ern. - Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. - Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.
23°· Es p r i t f 0 r t. - Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch ver h ä I t n iss m ä s s i g S t a r k zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?
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Die E n t s te h u n g des Gen i e ' s. - Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie - ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen - zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. JO Oder mit einem anderen Bilde: Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität nachrühmt. - Es wurde 15 schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung 20 zu errathen. Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes.
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Vermuthung über den Ursprung der Freigei s t e r e i. - Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordendich gewachsen ist.
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Die S tim m e der G e SC h ich t e. - Im Allgemeinen sc h ein t die Geschichte über die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben: misshandelt und quält die Menschen, - so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu - treibt sie zum Aeussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über. - Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius' käme und die Art, wie die Natur gewöhnlich verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos wie die Natur sein müssen. - Aber vielleicht haben wir uns verhört.
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Wer t h der Mit ted e s Weg s. - Vielleicht ist die Erzeugung des Genius' nur einem begränzten Zeitraume der 10 Menschheit vorbehalten. Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen Gefühles. Dieses selbst hat 15 seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie 30 es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Und so ist die Höhe der Intelligenz vielleidlt einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor - und tritt hervor, denn
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wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche, lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf gei s t i g e Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am Un10 genauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer 15 Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach uns e ren Zeiten.
235· Gen i u s und i d e ale r S t a a tin W i der s p r u c h. Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect und 15 überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer 30 von Neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die B e sei t i gun g jenes gewaltsamen und wilden Charakters, 10
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und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt 10 sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellectes gelegen 15 ist; mindestens wird er der Begründung des "vollkommenen Staates" nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und 20 hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise - diess darf man wohl vorhersagen - wird ebenso nothwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. - Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: 25 übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst, - also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten vereitelt.
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Die Z 0 n end e r Cu I tu r. - Man kann gleichnissweise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimate entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen, neben einander liegen. Im
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Vergleich mit der gemässigten Zone der Cultur, in welche überzugehen unsere Aufgabe ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines t r 0 pis ehe n Klima's. Gewaltsame Gegensätze, schroffer Wechsel von Tag und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen, Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der hereinbrechenden Unwetter, überall das verschwenderische Ueberströmen der Füllhörner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich ver10 bleibende Luft, Schärfe, ja Kälte gelegentlich: so heben sim beide Zonen gegen einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidensmaften durch metaphysisme Vorstellungen mit unheimlimer Gewalt niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unsern Augen in den 15 Tropen wilde Tiger unter den Windungen ungeheurer Smlangen zerdrückt würden; unserem geistigen Klima fehlen solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume kommt uns Das nimt bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber sollten wir über diese Veränderung nicht glücklim sein dür10 fen, selbst zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden der tropismen Cultur wesentlim beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein Wenig zu nüchtern finden? Insofern haben Künstler wohl das Recht, den "Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei Jahrtausende in den Künsten einen 15 fortschreitenden Verlauf zeigen, das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysismer Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische Philosophie und Religion überblickt. - Uns gilt aber die 30 Ex ist e n z der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortsmritt.
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237· Ren ais san c e und Re f 0 r ma t ion. - Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, 'Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eil!e Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bis her i gen modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausserordentlichen Constel-
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lation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewimt gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absimten wäre Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit smönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen.
23 8. Ger e c h t i g k e i t g e gen den wer den den G 0 t t. Wenn sim die ganze Gesmimte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellensmlags 15 fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines wer den d en Go t t e s liegt: dieser enthüllt sim immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der Mensmheit, es ist nimt Alles blinde Memanik, sinnund zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Ver:0 gottung des Werdens ist ein metaphysismer Ausblick - gleimsam von einem Leuchtthurm am Meere der Gesmimte herab - , an welmem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nimt böse werden, so irrthümlim jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie Smopen:5 hauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historismen Wellensmlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nimts weiss, Nimts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen. 10
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Die Fr ü c h t e na c h der Ja h re 5 z e i t. - Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist nothwendigerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei, zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schliesst die der anderen aus. 10 Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist; höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefühl des 15 Verlustes, der Entbehrung verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.
24°· Z une h m end e Se ver i t ä t der We 1 t. - Je höher die Cultur eines Menschen steigt, um 50 mehr Gebiete entziehen 10 sich dem Scherz, dem Spotte. Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was jetzt Einer auf 15 diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer begehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der JO Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. Je gründlicher Jemand das
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Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die "Gründlichkeit seines Verstehens" spottet.
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Gen i u s der Cu I tu r. - Wenn Jemand einen Genius der Cultur imaginiren wollte, wie würde dieser beschaffen sein? Er handhabt die Lüge, die Gewalt, den rücksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dass er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre; aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsflügel dazu am Haupte.
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W und e r - Erz i eh u n g. - Das Interesse an der Erziehung wird erst von dem Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube an Wunder-Cu ren aufhörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der grössten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen? - Jetzt wird man, bald auch in diesen Fällen, näher zusehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei niemals entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche Menschen zu Grunde, das einzeIne gerettete Individuum ist dafür gewöhnlich stärker geworden, weil es diese schlimmen Umstände vermöge unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt und vermehrt hat: so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wo-
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durch kann noch neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, - kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?
243· Die Zu ku n f t des A r z t e $. - Es giebt jetzt keinen 10 Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwörungskünste nicht mehr unter öffentlichem Beifall treiben durfen und ein Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt 15 nicht erreicht, wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker berühmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem 10 Leibe zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen (und können), die 15 Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, - kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller andern Berufsclassen: so ausgerüstet, ist er dann im Stande, der ganzen Gesellschaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermeh30 rung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch Herstel-
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lung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so erst wird er aus einem "Medicinmann" ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.
244· I n der N ach bar s c haft des W ahn s i n n s. Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine 10 Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der 15 Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden Cultur-Last vonnöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer neu e n Ren ais san c e Spielraum giebt. Man hat dem Christenthum, den Philo20 sophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfülle tief erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten ab25 kühlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden.
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245· GI 0 c k eng u s s der Cu I t ur. - Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte
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Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten, nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk? - Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine "Allwissenheit" muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen.
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Die C y klo p end e r Cu I tu r. - Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der seI ben Stelle ein Wiesen- und WaIdthai mit Bächen darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit; die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend, aber trotzdem war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesittung hier ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien - Das, was man das Böse nennt - sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität.
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K re i s lau f des M e n s ehe n t h ums. - Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen
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Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm, so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. - Gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.
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T r 0 s t red e ein e s des per a t e n F 0 r t s c h r i t t s. Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist nöthig, dadurch nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Ueberdiess k ö n n e n wir in's Alte nicht zurück, wir hab e n die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. - S ehr e i te n wir nur zu, kommen wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie F 0 r t s ehr i t t an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, laquelle nous appartenons.
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249· A n der Ver g a n gen h e i t der C u I t u r lei den. Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit leiden wie er.
25°· Man i e ren. - Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlässt: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr, auf geistreiche 10 Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt sich die lächerliche Thatsache, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig Huldigungen darbringen mus s (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefühls, der treuherzigen, ehrenfesten Biederkeit borgt - aus Verlegen15 heit und Mangel an Geist und Grazie. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der Menschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne diess zu sein. - Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns ihrem 30 niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren frü-
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herer formbildender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Ausdrücke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natürlich erscheinen müssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. - Hier könnte man nun frei10 lich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist schwach. Die Vergangenheit ist noch zu 15 mächtig in ihren Muskeln: sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur Hälfte weltliche Geistliche, zur Hälfte abhängige Erzieher vornehmer Leute und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls 20 ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen so25 wohl die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste Haltung haben?
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25I. Z u k u n f t der W iss e n s c h a f t. - Die Wissenschafl giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse I ern t, sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich
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und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene grösste Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt. Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden. Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich PeneIope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?
Z52· Die L u s t am E r k e n ne n. - Wesshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem seIben Grunde, aus dem gymnasti-
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sche Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntniss über All e erhaben und uns als die Einzigen fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. - Ein nicht unbeträchtliches Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten "eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und "aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht": so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genie's - und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alle s Menschliche verdient in Hinsicht auf seine E n t s t e h u n g die ironische Betrachtung: desshalb ist die Ironie in der Welt so übe r fl ü s si g.
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Treue als Beweis der Stichhaltigkeit. - Es ist ein vollkommenes Zeichen für die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber vi erz i g Ja h re lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschätzung - mindestens mit Argwohn - herabgesehen hätte. - Vielleicht hat er aber nicht öffentlich
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von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder - wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist - aus zarter Schonung seiner Anhänger.
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254· Zunahme des Interessanten. - Im Verlaufe der höheren Bildung wird dem Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu finden und den Punet anzugeben, wo eine Lücke seines Denkens mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie bestätigt werden kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die übermässige Erregbarkeit des Gemüthes. Er geht zuletzt wie ein Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb stark anregt.
255· A b erg lau ben 1 m G 1eie h z e i t i gen. Etwas Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen wir von ihm,also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir träumen nicht 20 von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche Gelübde thun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde gien gen, nicht. - Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit 25 der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. - Diese Gattung des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu }O haben pflegen.
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Das Können, nicht das Wissen, durch die W iss e n s c h a f t ge übt. - Der Werth da von, dass man zeitweilig eine s t ren g e W iss e n s c h a f t streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein versdlwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sem.
257· J u gen d re i z der W iss e n s c h a f t. - Das Forschen 15 nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn 20 sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig 15 bleibt (welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann).
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Die S tat u e der Me n s c h h e i t. - Der Genius der Cultur verfährt wie Cellini, als dieser den Guss seiner PerseusStatue machte: die flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber
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sie soll tees: so warf er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer, Laster, Hoffnungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde?
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Ein e Cu I tu r der M ä n n e r. - Die griechische Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. - Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständniss 15 unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhältniss, und wahrscheinlich 10 sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fünften Jahrhundert, - also gemäss dem sd1önen Spruche HölderIin's "denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je höher dieses Verhältniss genommen wurde, um 15 so tiefer sank der Verkehr mit der Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust - Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so JO bleiben nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der Weiber. - Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vorführte, so e r t r u g man diess eben in der 10
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Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leb e n nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen. - Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe, als schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit der überhand nehmenden Nervenüberreizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur verhältnissmässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück.
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Das Vor u rt h eil zuG uns t end erG r ö s s e. Die Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine g 1eie h m ä s s i g e Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und glückbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kanR den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.
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Die T y r a n n end e s Gei s t e s. - Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es nicht, als ob sie aus dem Sonnen-
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schein sich in den Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hell e r e Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was Jeder von ihnen seine "Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den MitteIpunct alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten einen handfesten Glauben an sich und ihre" Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger T y r a n n. Vielleicht war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in der Welt, aber auch nie die Härte, der Uebermuth, das Tyrannische und Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein k 0 n n t e. Vielleicht macht nur Salon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gründete eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden; er scheint schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt als Gift in
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ihrem Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. - Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von 10 Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen und dann ist es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht 15 worden wäre: "möglichst wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen n a tür 1 ich e n Verlauf genommen habe, der so an ihr gerühmt wird. 20 Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier a 11 mäh I ich zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürliche Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist 25 so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob 30 nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in eine Bildner-Werkstätte solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und
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Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus" einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten M ö gI ich k e i t des phi los 0 phi s ehe n Leb e n s. Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Lücke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben. - Das, was bei den Griechen sich ereignete - dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt - diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, -
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aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der des Gei s t e s. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich er k e n n e n und an e r k e n n e n , was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu bin den: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, - aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an sei n erStelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.
o I i gar ehe n
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Horn e r. - Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er centralisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein Unterschied, ob
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Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren .
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Beg a b II n g. -.rn einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang .zu vielen Talenten mit. Jeder hat an ge bor e n es Tal e nt, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wir d, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet.
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Der Geistreiche entweder überschätzt ode run te r sc h ätz t. - Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen schätzen jedes Anzeichen von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist; sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und Scherz fortreis se und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Begabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse; nicht Das, was glänzt, scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht. Er darf, wie Aristoteles, zwischen "Langweiligen" und "Geistreichen" keinen Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durdl die Wüste ebenso wie durch tropische Vegetation, damit er überall nur an dem Wirklichen, Haltbaren, Aechten seine Freude habe. - Daraus ergiebt sich, bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missadltung und Verdäclltigung des Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute
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häufig eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle Künstler.
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26 5. Die Ver nun f tin der S c h u I e. Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist: "Vernunft und Wissenschaft des Menschen all e r h ö c h s t e Kraft" - wie wenigstens Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. - Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen.
266. Unterschätzte Wirkung des gymnasialen U n t e r r ich t s. - Man sucht den Werth des Gymnasiums
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selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich abzuschütteln. Das Lesen der Classiker - das giebt jeder Gebildete zu - ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehlthau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewöhnlich verkannt wird, - dass diese Lehrer die a b s t r a c t e S p r ach e der h ö her n C u I t u r reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hör e n, so wird ihr Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen.
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Vi eIe S p r ach e nIe r n e n. - Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, während diess ein Behältniss ist, welches bei je15 dem Menschen nur eine bestimmt begränzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehre verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es 30 dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl
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innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschädigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. - Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss, und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-Sprachen-Iernen ein nothwendiges U e bel; welches aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des geistigen Verkehres überhaupt, für Alle geben, so gewiss, als es einmal LuftSchifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt!
268. Zur K r i e g s ge s chi c h ted e s I n d i v i d u ums. 20 Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt: die Nähe der Verwandtschaft ver s c h ä r f t diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut bekannte 25 Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.
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269. Um elne Viertelstunde früher. -
Man findet
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gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst: er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und Ueberlegenen.
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27°· Die K uns t, zu I e sen. - Jede starke Richtung ist einseitig; sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend, das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze Mittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, - es war Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam.
27 1 • Die Ku n s t, Z U S c h li e s sen. - Der grösste Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie ri c h ti g sc h I i e s sen lernen. Das ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt: "zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig", sondern ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das
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faische Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen Beweis-Fundstätten für diesen Satz.
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Ja h res r i n g e der in d i v i d u e 11 e neu I t u r. - Die Stärke und Schwäche der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von S pan n k r a f t. Die meisten jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Frühsonnenwende ihres Lebens zurück und sind für neue geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wachsenden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters n ach z u hol e n, muss der Sohn die an geerbte Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller vorwärts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer, wie zum Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter einander vermögen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der Entwickelung geschwächt worden ist. - Die gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser Empfindungen,
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gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pantheismus) über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott, Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und führt den Mann 10 hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an 15 welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat.
273· Zur ü c k ge g a n gen, nie h t zur ü c k g e b 1i e ben. Wer gegenwärtig seine Entwickelung noch aus religiösen Emp10 findungen heraus anhebt und vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und beginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich 15 in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus unversiegbarer Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger, länJO ger, ausdauernder athmen gelernt. - Er hat sich nur zurückgezogen, um zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst etwas Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen.
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274· Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstI e r i s ehe s 0 b j e c t. - Es ist ein Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die höhere Gattung der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es nöthig, jene Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes - oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und Gefühlssysterne aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte soldle Systeme und Vertreter verschiedener Cultu ren verstehen, das he isst als nothwendig, aber als veränderlich. Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können.
275· Cyniker und Epikureer. - Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sidl gewissen Anforderun-
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gen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung; und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen, als die cultivirten Menschen, und nähert sich dem Hausthier an; überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen 10 ihm und Jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, 15 wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.
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Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultu r. - Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe 15 zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, 30 dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nöthigen-
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falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrüd!:en und in Fesseln zu schlagen.
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2.77· GI ü c k und Cu I tu r. - Der Anblid!: der Umgebungen unserer Kindheit erschüttert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Gräbern, der Teich und der Wald, - diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles durchgelitten! Und hier steht Jegliches noch so still, so ewig da: nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir wieder, an welchen die Zeit nicht me h r ihren Zahn gewetzt hat, als an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner - sie sind die selben. - Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cu1tur ist das Zeichen der höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege gehen.
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2.78. GI eie h n iss vom Ta n z e. - Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in andern Momenten, auch befähigt,
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der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Ansprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwächlichen Auf- und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lösung dieser Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich doch daran erinnern, dass der Ta n z nicht das SeIGe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut.
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Von der Erle ich t e run g des Leb e n s. - Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.
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Erschwerung als Erleichterung und um ge-
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k ehr t. - Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu iassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige.
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Die höhere Cultur wird nothwendig missver s ta n den. - Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem W iss e n s tri e b nur noch einen anerzogenen re I i g i öse n haben, der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im Wesen der höheren v i eIs a i t i ger e n Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.
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K lag e I i e d. - Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss - sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit - mitunter wie eine Krankheit zu
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wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlidl durdl Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. - Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius' der Meditation, verstummen.
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Hau p t man gel der t h ä t i gen Me n s ehe n. Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. - Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht
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zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.
28 4. Zu Gunsten der Müssigen. - Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr Genuss IO ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Musse und Müssiggehen. - Wenn Müssiggang wirklich der A n fan g aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thätige. 15 Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere?-
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28 5' Die moderne Unruhe. - Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, wel-
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cher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.
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286. I n wie f ern der T h ä t i g e fa u I ist. - Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. - Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.
28 7.
C e n s 0 r v i t a e. - Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und, wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sem.
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288. N e ben e r f 0 I g. - Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist.
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28 9. Wer t h der K r a n k h e i t. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.
29°· Empfindung auf dem Lande. - Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lehens hat, Gebirgs!lnd Wald linien gleichsam, so wird der innerste Wille des Menschen selher unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein Glück und giebt kein Glück.
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Vor sie h t der fr eie n Gei s te r. - Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat 15 bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren Güter, ja ein Um-
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sturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. - Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diese verwickeln. - Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. - Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten. - Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen ver fe i n e r t e n Her 0 i s m u 5, welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat - kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnensdlein bis in seinen Grund hinab spielen.
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Vor w ä r t s. - Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in
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jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden. welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, - sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zurück, in die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zu-
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künftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, weldle die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch 10 seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; heiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zürnen, dass der Nehel des Todes naht. Dem Lichte zu - deine 15 letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut.
Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr.
293· Wo h I woll end e Ver s tell u n g. - Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.
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294· Cop i e n. - Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale.
295· Der Red n e r. - Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet.
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296. Man gel a n Ver t rau I ich k e i t. - Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.
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297· Zur K uns t des S ehe n k e n s. - Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die redlte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.
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298. Der g e f ä h r I ich s t e Par t e i man n. - In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.
299· Rathgeber des Kranken. - Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.
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D 0 p p e I t e Art der G lei c h h e i t. - Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).
30I • Ge gen Ver leg e n h e i t. - Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt.
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3°2. V 0 rl i e b e für ein z eIn e Tu gen den. - Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.
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3°3· War u m man w i der s p r ich t. - Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlidl nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.
3°4· Ver t rau e nun d Ve rt rau I ich k e i t. - Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.
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3°5. G lei c h ge wie h t der Fr e und s c haft. - Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen.
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Die g e f ä h r 1ich s t e n A erz t e. - Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.
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3°7· Wa n n Par a d 0 X i e n am P 1atz e s i n d. - Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen. 308 . Wie mut h i geL eu te ge w 0 n n e n wer den. - Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist.
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3°9· Art i g k e i t e n. - Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.
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War te n las sen. - Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch.
310.
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3I I . G e gen die V e rt rau I ich e n. - Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.
3Il. Aus g 1eie h s mit t e 1. - Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem
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Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.
3 1 3. Ei tel k ei t der Zu n g e. - OL der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch in bei den Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigensdlaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.
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3 1 4. R ü c k sie h t s voll. - Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen Sinnesart sein.
3 1 5. Zum Dis p u t ire n e rf 0 r d e r1 ich. - Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.
3 16. Um ga n gun dAn m aas s u n g. - Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.
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Menschliches, Allzumenschliches I
317· Mo t i V des A n g riff s. - Man greift nicht nur an, um Jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.
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3 18 • S c h m eie hel e i. - Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert, nur um so mehr wach erhält.
3 1 9. Gut erB r i e f sc h r e i b e r. - Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.
3 20 • Am h ä s s I ich s t e n. - Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.
321 • 20
Die Mit lei d i gen. - Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.
6. Der Mensch im Verkehr 317-327
245
3 22 •
Ver w a n d tee 1 n es SeI b s t m ö r der s. - Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist.
323· Und a n k vo rau s z u sehen. - Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.
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324· In gei s t los erG e seIl s c h a f t. - Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.
32 5. G e gen war t von Z e u gen. - Man springt einem Men15 schen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.
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32 6 • Sc h we i gen. - Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.
327· Das Geheimniss des Freundes.-EswirdWenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen
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Menschliches, Allzumenschliches I
sind, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.
32 8• H u man i t ä t. - Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.
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32 9. Der B e fan gen e. - Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich, vor der Gesellschafl:, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.
BO. Dan k. - Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum I S Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.
BI. Me r k mal der E n tf rem dun g. - Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber ~o keiner von heiden das Ironische daran fühlt.
332· A n m aas s u n g bei Ver die n s te n. - Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst: denn schon das Verdienst beleidigt.
6. Der Mensm im Verkehr 327-337
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333· Gefahr in der Stimme. - Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen.
334· Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das Andere hat Sinn. I m G e s prä ehe. -
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335· F ure h t vor dem N ä c h s t e n. - Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt.
33 6 . 15 Dur c h Ta deI aus z eie h n e n. - Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen 20 ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.
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337· Ver d ru s sam Wo h I woll e n An der e r. - Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, P... rtei kennen, jene Andern aber uns sehr
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Menschliches, Allzurnenschliches I
oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.
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33 8•
Sie h kr e uze nd e Ei tel k e i t e n. - Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.
339· 15
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U n art e n als gut e A n z eie h e n. - Der überlegene Geist hat an den Tact1osigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen.
HO.
W a n n e s rat h sam ist, U n re c h t zu b e hai t e n. Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits 25 sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist
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werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.
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Zu wen i g ge ehr t. - Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Smleier der Täusmung, so geben sie sim einer um so grösseren Wuth hin.
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Ur z u s t ä n dei n der Red e n ach k I i n gen d. - In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Namklang der Zeiten, wo dieselben sim besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindism waren.
343· Der Erz ä h I e r. - Wer Etwas erzählt, lässt leimt merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch 25 die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnlimes thun. Er erzählt dann gewöhnlim smlechter, weil er nicht so sehr an die Same, als an sich denkt.
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344· Der Vor I es e r. - Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen.
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345· Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vor kom m t. - Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem - und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?
34 6. W i der Will e nun h ö f 1 ich. - Wenn Jemand wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er 25 nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, - also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.
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Ver rät her - M eis te r s t ü c k. - Gegen den Mitverschworenen den kränkenden Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat. 34 8. 10
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Bel eid i gen und bel eid i g t wer den. - Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere, wenn er nicht als inhuman gelten will, mus s schon verzeihen; der Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen gering.
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Im Dis p u t. - Wenn man zugleim einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen: sie erscheint absimtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben.
35°· Ku n s t g r i f f. - Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.
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351· G e w iss e n s bis sen ach G e s e 11 s c h a f t e n. - Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellsdlaften Gewissensbisse? Weil wir widltige Dinge leicht genommen haben, weil wir bei 5 der Besprechung von Personen nidlt mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten.
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352· Man wir d fa I s c h b e u r t h eil t. - Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen, weldle uns am nächsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde 15 lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? - Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sadllidl klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim ~o gehaltenen Puncte so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss!
353· Ty ra n ne i des Po rtra i ts. - Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Men~5 sdlen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurdl ungeredlt, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so versdllagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.
6. Der Mensdl im Verkehr 351-357
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354· Der Ver w a n d t e als der b e s t e F r e und. - Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, - sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes Problem erschienen ist - diese selben Griechen haben die Ver w a nd t e n mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes "Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich.
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355· Verkannte Ehrlichkeit. - Wenn Jemand im Gespräche sich selber citirt ("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen "), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, während es häufiger gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, min15 destens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören.
35 6• Der Par a s i t. - Es bezeichnet einen völligen Mangel an 20 vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten, leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. - Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen 25 Gründen).
357· Auf dem Alt a r der Ver s ö h nun g. - Es giebt Umstände, wo man eine Sache von einem Menschen nur so erlangt,
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dass man ihn beleidigt und sich verfeindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der ihm froher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben wollte.
35 8. Mitleid fordern als Zeichen der Anmaass u n g. - Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme und zweitens, dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung.
359· K öde r. - "Jeder Mensch hat seinen Preis", - das ist nicht wahr. Aber es findet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So braucht man, um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthätigen, Aufopfernden zu geben - und welcher Sache könnte man ihn nicht geben? - Es ist das Zuckerwerk und die Näscherei ihr e r Seele; andere haben anderes.
360 . Ver haI t e n bei m Lob e. - Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so wird sie sich öfters aus Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen; aber die Menschen wollen
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durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.
36 1. Die E rf a h run g d e $ So k rat e s. - Ist man in einer Sache Meister geworden, so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein völliger Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht.
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36 2.. Mi tt eid e r Ver t h i e run g. - Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufügen.
36 3. Neu g i erd e. - Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Unglücklichen und Bedürftigen. - Vielleicht ist selbst an der vielberühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.
364V e rr e c h nun gin der G e seIl s c haft. -
Dieser
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Menschliches, Allzumenschliches I
wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, Jener durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Vereinsamung - und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das Schauspiel aufge5 führt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein. 36 5. D u e 11. - Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben IO zu wollen, wenn Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer Uebertreibungen, ohne welche 15 es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr wären. - So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht auf zo ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich.
366 . Vor n e h m h e i tun d Dan k bar k e i t. - Eine vornehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpflichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich verpflichtet, nicht ängstlich aus Z5 dem Wege zu gehen; ebenso wird sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; während niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtetwerden sträuben oder nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu sehr beflissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von 30 niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, ihn e n erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade.
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367. Die S tun den der Be red t sam k e i t. - Der Eine hat, um gut zu sprechen, Jemanden nöthig, der ihm entschieden und anerkannt überlegen ist, der Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede und glückliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden Fällen ist es der selbe Grund; Jeder von ihnen redet nur gut, wenn er sans g~ne redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere ebenfalls desshalb angesichts des Niederen. - Nun giebt es eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen Motiven schlecht oder gar nicht spricht?
368 . Das Ta len t zur F reu n dsch af t. - Unter den Menschen, welche eine besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede Phase seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Entwickelung die früheren Phasen aufheben oder beeinträchtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine Lei t e r heissen. - Den andern Typus vertritt Der, welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen nenne man einen K re i s: denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet
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sein. - Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen viel grösser, als die Gabe, ein guter Freund zu sem.
369. Ta k t i k im Ge s prä c h. - Nach einem Gespräch mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Jemanden sich günstig stimmen wollen, indem 10 sie bei der Unterredung ihm die besten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner 15 sie annimmt: so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und Liebenswürdigkeit zuwiese.
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37°· E n t 1a dun g des U nm u t h e s. - Der Mensch, dem Etwas misslingt, führt diess Misslingen lieber auf den bösen Willen eines Anderen, als auf den Zufall zurück. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert, eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens zu denken; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des Zufalls aber muss man hinunterwürgen. Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Höflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann.
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37I. Die Fa r b e der Um g e b u n g an n eh m e n. - Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und.Wider angefüllt zu werden? Erstens ist die völlige Enthaltung des Urtheils sehr schwer, mitunter für unsere Eitelkeit geradezu unerträglich; sie trägt da gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der Aengstlid1keit, der Unmännlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhnlich aber-das ist das Zweitebringen wir uns den Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung.
37 2 • 10 Ir 0 nie. - Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art: ihr Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so behandelte, Verehrung, Dank15 barkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unterredenden Schüler, getäuscht sind und in ihrem guten Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blössen aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, 30 wie sie sind, - bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst zurückfallen lässt. - Wo ein solches Verhältniss, wie
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zwischen Lehrer und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart. ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen überlegen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück ihrer Anmaassung ansehen. Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmählich die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen.
373· An m aas s u n g. - Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaas15 sung in der Herzlichkeit, in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid für Andere, und alle diese schönen Dinge erwecken Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das lO heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist 0 der gi I t , macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg für sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewöhnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen l5 eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der Andern ver30 dächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füssen darauf tritt. - Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor
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Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine grössere Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen. 374· Z wie g e s prä c h. - Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde ins t ren ger Rücksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen 10 wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner her15 vor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert nothwendig das Gespräch an individualisirender Feinheit, die verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung, welche 20 dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemäss. Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich zurückzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber jenen spielenden Aether der Humanität den Gegenständen zu nehmen, welcher ein Gespräch zu den an25 genehmsten Dingen der Welt macht. Man höre nur den Ton, in welchem Männer im Verkehr mit ganzen Gruppen von Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der sei: "das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!" Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei 30 Dem, welcher sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden, peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit beraubt und nur das bewusste
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Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: während die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden. 375· N ach ruh m. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für alle Zeiten als gross empfun10 den werden müsse. Diess ist aber ein Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen über Das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit uns e re Strasse ziehe. Zudem: ein Ge15 lehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten Falls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem Satz Glauben zu verschaffen. Nicht20 anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt übrigens Ausnahmefälle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen 2f Eigenschaften verhindern.
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376• Von den F reu n den. - Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter den nächsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den Köpfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben, als in deinem; wie hundert-
6. Der Mensch im Verkehr 374-376
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fähig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen, gewinnt er das Auge für diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus der unlösbaren Ver10 flechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent, Umgebung, so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe jener Empfindung los, mit der jener Weise rief: "Freunde, es giebt keine Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und 15 Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird; kommen diese Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Giebt es Men10 schen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen? - Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen und somit ein Wenig geringschätzen lernen, bringen wir 15 uns wieder in's Gleichgewicht mit den Ucbrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Pekannten, und seien es die grössten, gering zu achten; aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. - Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht 0 3 kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt: "Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise; "Feinde, es giebt keinen Feind!" - ruf' ich, der lebende Thor.
Siebentes Hauptstück. Weib und Kind. 377· Das voll kom me n eWe i b. Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. - Die NaturwissenschaA: der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.
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37 8. Freundschaft und Ehe. - Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur FreundschaA: beruht.
379· F 0 r t leb end e r E I t ern. - Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. 3 80 .
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Von der Mutter her. - Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein.
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Mensmlimes, Allzumensmlimes I
381 . Die Natur corrigiren. - Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.
381 . S
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V ä t e run d S ö h n e. - Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.
3 8 3. Irr t h u m vor n e h m e r Fra u e n. - Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen.
3 84. Ein e M ä n n er k r a n k h e i t. Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.
IS
3 8 5. Ein e Art der Ei fe r s u c h t. Mütter sind leicht eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter sie h mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber.
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3 86. Ver n ü n f ti g e U n ver nun f t. In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen.
7. Weib und Kind 381-392
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3 87. M ü t t e r li ehe G ü t e. - Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.
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3 88 • Ver s c h ie den e S eu fz e r. - Einige Männer haben über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte.
389. Li e b e s h e i rat h e n. - Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürfniss) zur Mutter.
39°· Fra u e n fr e und sc haft. - Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten - dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.
391. La n g ewe i I e. - Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben.
39 2 • Ein Eie m e n t der L i e b e. - In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch Etwas von der mütterlichen Liebe zum 15 Vorschein.
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Menschliches, Allzumenschliches I
393· Die Einheit des Ortes und das Drama. Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein.
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394· Gewöhnliche Folgen der Ehe. - Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie Frauen nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben.
395· Be feh 1e nIe h ren. - Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das Gehorchen.
39 6 . V e rl i e b t wer den woll e n. - Verlobte, welche die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu wer den, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter.
397· Kein Stillstand in der Liebe. - Ein Musiker, der das langsame Tempo Ii e b t, wird die selben Tonstücke
7. Weib und Kind 393-402
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immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen.
39 8. Sc h a m h a f ti g k e i t. - Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.
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399· Ehe von gutem Bestand. - Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt werden will.
400.
Pro t e u s - N a t u r. - Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben.
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4°1. Li e ben und be s i t zen. - Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn nidlt ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.
4°2. Pro b e ein erg u te n Ehe. - Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine "Ausnahme" verträgt.
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Menschliches, Allzumenschliches 1
4°3· M i tt e 1, A 11 e z u Alle m z u b r i n gen. - Man kann Jedermann so durch Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, - das wissen die Diplomaten und die Weiber.
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4°4· Ehr bar k e i tun d Eh rl ich k e i t. - Jene Mädchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz das SeIbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unehrlicher als diese sind.
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M a s k e n. - Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer fort.
406 . Die Ehe als 1a n g e s G e s prä c h. - Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.
7. Weib und Kind 403-410
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4°7· M ä d c h e n t r ä urne. - Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe, um ihn glücklich zu machen. Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte.
4 08 .
Aussterben von Faust und Gretchen. - Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich ruIS moren fühlten. Zu ihnen passen also - um jenen Satz fortzusetzen - aus zwei Gründen die G r e t c h e n nicht. Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.
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4°9· Mädchen als Gymnasiasten. - Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus geistreichen, wissbegierigen, feurigen Jungen - Abbilder ihrer Lehrer macht!
410.
o h n e Ne ben buh I e r in n e n. - Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen lS ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine
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Wissenschaften und Künste, wenn er eine Leidensmaft zu solmen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glänze, - dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihr e s Glanzes; wenn es so steht, begünstigen J sie den Liebhaber.
,pI. Der w e i b 1ich eIn tell e c t. Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrsmung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als 10 ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. - Für Solche gesagt, welme Etwas sich zuremt zu legen IJ wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidensmaft. Dem widersprimt nicht, dass die Männer thatsächlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Wei10 ber wundern sim im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde 15 deutlim, wie der Mann nam dem idealisirten Manne, das Weib nam dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.
4 12 •
Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. -
Ein Zei-
30 men für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall
7. Weib und Kind 410-414
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verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen: so dass von den Männem das Verdienst ihrer Thätigkeit zehn fach überschätzt zu werden pflegt. 4 I 3·
20
Die Kur z sie h ti gen si n d v e rl i e b t. - Mitunter genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben.
4 1 4.
2f
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Fra u e n im H ass. - Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher, als Männer; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (während die Männer beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich gestimmt werden).
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4 1 5.
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Li e b e. - Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grunde und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. Aber durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird - sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können.
4 16.
Zur E man ci p a t ion der Fra u e n. - Können die Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren Parteigänger und 20 verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar 2S im Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so. JS
30
4 1 7. Die Ins p i rat ion i mUrt heil e der Fra u e n. Jene plötzlichen Entscheidungen über das Für und Wider,
7. Weib und Kind 415-419
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wekne Frauen zu geben pflegen, die blitzschnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit einem Glanz umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede Person, für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber ebenso gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe schwer, mit solchen plötzlichen Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten.
4 18 .
15
Sie h I i e ben las sen. - Weil die eine von zwei liebenden Personen gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahmsweise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige, halb absurde Scenen ergeben.
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4 1 9. W i der s p r ü ehe i n w e i b I ich e n K ö p fe n. Weil die Weiber so viel mehr persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen sich eben für die Ver-
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treter dieser Richtungen der Reihe nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue Persönlichkeit später das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht.
410•
Wer lei d e t me h r? Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem Manne 10 leidet der eine Theil am meisten bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; während jener am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe gethan zu haben, wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu 11 machen.
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Gel e gen h e i t z u w e i b 1ich erG r 0 s s mut h. Wenn man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser würde später ganz in das Mütterliche übertreten, und sie ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand nähme. - Die Ehe ist für die zwanziger Jahre ein
7. Weib und Kind 419-423
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nöthiges, für die dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige Rückbildung des Mannes.
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42.2.· T rag ö die der Kin d h e i t. - Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.
42.3· EI te r n - T h 0 r h e i t. - Die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung von dem Kinde und können sie 10 diese nicht mehr zu einer Einheit zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden Züge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an lS ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hören ihre Augen auf, fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? - Eine ganz andere Erklärung wäre folgende: die Menschen pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr 30 nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes I
gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen.
4 1 4. Aus der Zukunft der Ehe. - Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunet nicht übersehen: die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Ge10 schlechts, also so, wie sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen Generation geschlossen, - eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen 15 muss, einer natürlichen Beihülfe, des Co neu bin a t s; denn wenn aus Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunet 10 maassgebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen hat, 15 kann nicht zugleich Coneubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den 30 Aspasien, weil sie nach den Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag. Alle mensch-
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lichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden. 42 5. S tu r m - und D ra n g per iod e der Fra u e n. Man kann in den drei' oder vier civilisirten Ländern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie werden 10 unter einer solchen Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden und Stärken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwächen und Laster mit in den Kauf nehmen müssen: so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten Zwischenzustand aushalten, welcher 15 vielleicht selber ein paar Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht über alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affect ausmacht, der Zorn 10 darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen unerhörten Dilettantismus überschwemmt und verschlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voller Auflösung ist, weil die Bewahrerinnen der 15 alten Sitte sich selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht inder Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben? 4 26 .
Fr e i gei s tun d Ehe. -
Ob die Freigeister mit Frauen
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leben werden? Im Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen müssen, a llei n zu f 1i e gen. 42.7· G 1 ü c k der Ehe. - Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich 10 hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, 15 - denn jene Fäden muss er von sie h, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen liess. - Daraus 10 lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe geschaffen ist.
42.8. Z u nah e. - Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit biossen Fingern anfassen: eines Tages 15 haben wir schlechtes beschmutztes Papier und Nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens er sc h ein t sie uns endlich so, - wir sehen ihre ursprüngliche Zeichnung und Schönheit nie wieder. - Man verliert immer 30 durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter verliert man die Perle seines Lebens dabei.
7. Weib und Kind 426-431
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42 9. Die goi den e Wie g e. - Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn 5 walten, von sich abzuschütteln. Was schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung, Verschuldung, Bethörung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des JO Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch dazu dankbar sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird? Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln. J5
430.
Fr ei will i g e s 0 p fe r t h i er. - Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst und gelegentlichen Verstim20 mung der übrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. 2S Nicht selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, - falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen. 30
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Angenehme Widersacher.
-
Die naturgemässe
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s
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Mensmlimes, Allzumensmlimes I
Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein und Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkürlich dem heroischeren inneren Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, während er gerade ausgezogen ist, u m daran zu stossen.
43 2 • Missklang zweier Consonanzen. - Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glück: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück.
433· X a n t hip p e. - Sokrates fand eine Frau, wie er sie IS brauchte, - aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte: so weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. Thatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte: sie 20 lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen und müssig sein konnte und bildete ihn damit zum grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken 2S gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
434· Für die Fe r ne bl i n d. - Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und Auge für die augen- und sinnfälligen
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Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermögen die Gattinnen hom strebender Männer es nimt über sim zu gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu sehen, - während vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeimen einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden m ü s sen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer smmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.
435· Mac h tun d F r e i h e i t. - So hoch Frauen ihre Männer ehren, so ehren sie dom die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr: sie sind seit Jahr15 tausenden gewohnt, vor allem Herrschenden gebüdtt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen und missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb hängen sie sich, ohne es aum nur zu beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen 20 Strebens und machen unter Umständen ihre Gatten auf's Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, - das ist Männer-Art und oft genug Männer2S Verzweiflung.
43 6. Ceterum censeo. - Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an 30 der praktischen Gesetzgebung eines Landes arbeiten: - sie haben
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ja nicht genug Schwergewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hinein segeln zu können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf eine Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdächtig sind.
437· Z u let z t. - Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewöhnlich findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Frei15 geiste einen Becher dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen, - um ihn zu "strafen", wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. ,,0 Kriton, heisse doch Je~o man den diese Weiber da fortführen!" sagte endlich Sokrates.-
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat.
43 8• Um das Wo r t bit t e n. - Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen AlfrescoDummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, 10 auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se m&le de raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die alten Gränzen und Umrisse der Boden15 gestalt verrückt und den Werth des Besitzes verändert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie sich 20 den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden, was hülfe es, daran zu zweifeln? Sie woll e n nun einmal ihres Glückes und Unglückes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der 15 That das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwen-
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den, vorausgesetzt, dass die Beschränktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle A 11 e s in diesem Sinne zur Politik werden, es solle J e der nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie das Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von jeder plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt - was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden werden muss - von Zeit zu Zeit ein Augenblick, wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. - Nun, bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. -
439· Cu 1 tu run d K ast e. - Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichts-
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punct der Vertheilung des Glü~s ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müssigen die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. - So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?
44°· Von Ge b I ü t. - Das, was Männer und Frauen von Geblüt 15 vor Anderen voraus haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams. - Nun entsteht überall, wo das Befehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in der grossen 10 Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene Geschlechter» von Geblüt", aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will.
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44 1 • Sub 0 r d i n a t ion. - Die Subordination, welche im Militär- und Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden ist; und wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich eine Menge der erstaunlichsten
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Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. - In fr eie ren Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.
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V 0 I k s he e r e. - Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt, - wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen, da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Bedingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie die Griechen in Griechenblut wütheten, so die Europäer jetzt in Europäerblut: und zwar werden relativ am meisten immer die Höchstgebildeten zum Opfer gebracht, Die, welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbürgen; Solche nämlich stehen im Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. - Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.
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Hoff nun g als A n m aas s u n g. ~ Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen
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mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten. W ü n s ehe n kann man diess Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine A n m aas s u n g, eine U e b e r s eh ätz u n g sein.
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Kr i e g. - Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in bei den eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.
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Im Dienste des Fürsten. - Ein Staatsmann wird,um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk auszuführen. Von dem Glanze dieser allgemeinen Uneigennützigkeit wird das Auge de& Beschauers geblendet, so dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht.
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Ein e Fra g e der Mac h t, nie h t d e 9 R e c h t e s. Für Menschen, welche bei jeder Sache den höheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus, falls er wir k 1ich die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem des Re c h t e s (mit der lächerlichen, weichlichen Frage: "wie weit soll man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein
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Problem der Mac h t (" wie weit k a n n man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer Naturmamt, zum Beispiel dem Dampfe, welmer entweder von dem Mensmen in seine Dienste, als Masminengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern 5 der Masmine, das heisst Fehlern der mensmlimen Beremnung im Bau derselben, sie und den Mensmen mit zertrümmert. Um jene Mamtfrage zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher Modification er noch als mämtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt werden 10 kann; unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft - und sei es die gefährlichste - daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absimten zu mamen. - Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den 15 Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglimste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete we20 der Krieg, noch Verträge, also auch keine Rechte, kein "Sollen" .
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447· Ben u tz u n g der k lei n s t e nUn red I ich k e i t.Die Mamt der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich sei n e Meinung, aber sagt sie einmal auch nie h t, um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Versmwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen sagt sich: "für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein Aus-
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kommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Rüdtsichten mache ich mich unmöglich". Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, s der Geld und Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen Zwedte durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch.
44 8. 10 A 11 zu lau te r Ton bei Be s c h wer den. - Dadurch, dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark übertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei den Einsichtigen ihre Wirkung, aber %J wirkt um so stärker auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung gleichgültig geblieben wären). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Unter%0 suchungen, Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. Insofern ist es nützlich, Nothstände übertrieben darzustellen.
449· Die anscheinenden Wettermacher der Pol i t i k. - Wie das Volk bei Dem, wctlcher sich auf das Wetter %s versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischem Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und Conjuncturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren 30 eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass Jene Etwas
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davon eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnam machten: sie werden also ebenfalls als Wettermacher genommen - und dieser Glaube ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht.
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Neu e run d alt erB e g riff der Re gi e run g. Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, verhandelten und sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfindung, welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den me ist e n Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nimts Menschliches existiren kann). Dagegen soll man nun lernen gemäss einem Princip, welches rein aus dem K 0 P fe entsprungen ist und erst Gesmichte mac h e n soll -, dass Regierung Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges nOben" im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten nUnten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung annimmt, möge man doch ja die Folgen erwägen: denn das Verhältniss zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Smüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einflusse der herrschenden constitutionellen Regierungsform, ein Wenig um: sie wer den Compromisse. Aber wie müssen sie sich verkehren und verschie-
8. Ein Blidt auf den Staat 449-452
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ben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener allerneueste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat! - wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen dürfte. Hierbei ist Nichts me h r zu wünschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung.
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451· Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. - Wohl können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Classe sich geloben: "wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen"; insofern ist eine socialistische Denkungsweise, welche auf Ger e c h t i g k e i t ruht, möglich, aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit der Rechte f 0 r der n, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, dass diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute?
452· B e s i t z und Ger e c h t i g k e i t. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gelS gen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Concrescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und 30 dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehen wollen. Die un-
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gerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes thun noth, die Gerechtigkeit muss in AUen grösser werden, der gewaltthätige Instinct schwächer. 453· Der S te u e r man n der Lei den s c h a f t e n. - Der 10 Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken verbünden 15 würde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er hat demnach ein Interesse daran, 10 Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorität des Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln, welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: Z5 sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. - Der eine Staat will also die Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist diess die selbe Gesinnung, 30 welche die republicanische Regierungsform des nachbarlichen Staates - le desordre organise, wie Merimee sagt - aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser annimmt, dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache.
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Die Gefährlichen unter den Umsturz-Geis t ern. - Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche für sich selbst, und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel Etwas erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren; denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersönlichem Interesse dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt ansehen und sich desshalb ihnen überlegen fühlen.
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Politischer Werth der Vaterschaft. - Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das Glück. seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten, natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen. 45 6 .
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Ahn e n s t 0 I z. - Auf eine ununterbrochene Reihe gut e r Ahn e n bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein, nicht aber auf die Reihe; denn diese hat Jeder. Die Herkunft
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von guten Ahnen macht den ächten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein böser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthätigen, habsüchtigen, 1 ausschweifenden, boshaften, grausamen Mensmen unter deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundsmaft.
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Sclaven und Arbeiter. - Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Aufhebung der Sclaverei wünscht und es auf's Aergste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des "Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen der "Menschenwürde": das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos empfindet. - Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: - und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.
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Lei t end e Gei s te run d ihr eWe r k z e u g e. - Wir sehen grosse Staatsmänner und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung ihrer Pläne bedienen müs30 sen, bald so, bald so verfahren: entweder wählen sie sehr fein
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und sorgsam die zu ihren Plänen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen schlecht, ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge; ihre Menschenkenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre Menschenverachtung grösser, als bei den erstgenannten Geistern, aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als die Maschine aus der Werkstätte jener.
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W i 11 k ü rl ich e s Re c h t not h wen d i g. - Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen, waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. - Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur be f 0 h 1e n, Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns Will kür sr e c h te gefallen lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht ge ben m ü s s e. Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil es das unp art eil ich s t e ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürlich angesetzt ist.
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Der g r 0 s seM a n n der M ass e. - Das Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er sei gewaltthätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch, kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles. 46I . Für s tun d Go t t. - Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen, überhaupt. Der CuItus des Genius' ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.
8. Ein Blick auf den Staat 460-463
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462 . M ein e U top i e. - In einer besseren Oranung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten. und so schrit;weise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleichterung des Lebens leidet.
46 3. E j n W ahn in der L ehr e vom Ums t u r z. - Es giebt politische und sodale Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesen I~ gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseau's nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam ver s c h ü t t e t e Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst. Leider weiss man 20 aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber 15 ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur. - Nicht V 0 I ta ire> s maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern R 0 u s s e a u >s leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: 30 "Ecrasez l'infamc!" Durch ihn ist der Gei s t der Auf k I ärung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht worden: sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen! 10
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4 64. M aas s. - Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln mässig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.
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4 6 5. Auf e r s t e h u n g des Gei s t e s. - Auf dem politischen Krankenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten.
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Neu e M ein u n gen i mal te n Hau s e. - Dem Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich gewordenen Hause ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth.
4 67. S c h u I wes e n. - Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens mittelmässig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen Küchen besten Falls mittelmässig gekocht wird.
468 . Uns eh u 1 d i ge Co r ru p t i <> n. - In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hinein-
8. Ein Blick auf den Staat 464-471
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weht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Körperschaften und Senaten).
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Gel ehr t e als Pol i t i k e r. - Gelehrten, welche Politiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen.
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47°· Der Wolf hinter dem Schafe versteckt. Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er, gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen wolligen Rücken zu verstecken.
471. G I ü c k s z e i t e n. - Ein glückliches Zeitalter ist desshalb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenzo b I i c k e eingerichtet - jedes Leben hat solche -, aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als "das Jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben, als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Begriff des Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnom15 men, in dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewöhnung gemäss sich 15
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vorstellt, dass er nun auch nach ganzen Zeiträumen der Noth und Mühsal jenes Zustandes des Glücks in e n t s p rec h end e r S t e i ger u n gun d D aue r theilhaftig werden könne.
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47 2 • Re 1i g io n un d Re g ie ru n g. - So lange der Staat oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei: wird xo sie höchst wahrscheinlich sich immer für die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die R.-eligion befriedigt das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser Stande fühlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des PrivatIS mannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen) gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufälligen Mängel der Staatsregierung oder die gefährli~o lichen Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn widerspänstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von 0 ben (in welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich verZ5 schmelzen) unterwerfen: so wird der innere bürgerliche Frieden und die Continuität der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für Alle, liegt, wird durch die Religion beschützt und besiegelt, jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priester30 schaft mit der Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf tritt. Für gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborge-
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nen Erziehung der Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht "legitim" werden: wie Napoleon begriff. - So 5 gehen absolute vormundsmaftlime Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, in10 sofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat. - Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der Regierung, wie sie in dem 0 k rat i s ehe n Staaten gelehrt wird, durmzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nimts als das Werkzeug des Volks15 willen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern lediglim eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier kann aum nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von Aufklärung wird bis in ihre Vertreter hin~o einklingen müssen, eine Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlimen Zwecken wird nimt so leimt möglich sein (es sei denn, dass mämtige Parteiführer zeitweilig einen Einfluss üben, welmer dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen 25 Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel zu mannimfam über religiöse Dinge denkt, als dass es der Regierung ein gleimartiges, einheitlimes Vorgehen bei religiösen Maassregeln gestatten dürfte, - so wird nothwendig sim der Ausweg zeigen, die Religion als Privatsame zu behandeln und 30 dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu allererst diese, dass das religiöse Empfinden verstärkt erscheint, insofern versteckte und unterdrückte Regungen desselben, welmen der Staat unwillkürlich oder absimtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt hervorbrechen
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und bis in's Extreme ausschweifen; später erweist sich, dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem Augenblicke gesät worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, s die feindselige Bloslegung aller Schwächen religiöser Bekenntnisse lässt endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand bekommt und, fast wider ihren Willen, 10 ihren Maassregeln einen religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine entschieden s t a a t s fe i n d I ich e um; sie lauern den Maassregeln der Regierung IS auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse, durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische Begeisterung für den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung ~o von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen, vielleicht lange dauernden Uebergangskämpfen entscheidet es sich endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen alten Zustand herauf~5 zubringen und das Rad zurückzudrehen: in welchem Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklärt und ängstlicher, als früher) den Staat in die Hände bekommt, - oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschafl, einige Generationen 30 hindurch, etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmöglich machen. Dann aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religiösen Adoration, für welche er ein Mysterium, eine überweltliche Stiftung ist, auch das ehrfürchtige und pietät-
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volle Verhältniss zu ihm erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren. Zuletzt - man kann es mit Sicherheit aussprechen - muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigen Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlusse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung des Gegensatzes "privat und öffentlich«. Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und der Tod des S ta a t es, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe erfüllt - die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoosse trägt -, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. - Um das Gesagte
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nom einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlimen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt, aum die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: smwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlim seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der Nähe gesehen, dient dazu, aum den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu versmeumen; die moderne Demokratie ist die historische Form vom Ver fall des S t a a te s. - Die Aussicht, welche sim durm diesen simern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Mensmen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nimt mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine nom zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen, - zum Beispiel die der Gesmlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mämtiger war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmämtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen, - eine Vorstellung, an welme viele Mensmen der Gegenwart kaum ohne Angst und Absmeu denken können. An der Verbreitung und Verwirklimung dieser Vorstellung zu ar beite n, ist freilim ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von seiner Vernunft denken und die Gesmimte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, - wäh-
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rend noch Niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also »der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen", dass jetzt no c h der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!
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473· Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mit tel. - Der Socialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmässiges 0 r g a n des G e m ein wes e n s umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschafl: wegen erscheint er immer in der Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschafl: würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät für den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten muss - nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden S t a a t e n arbeitet - , so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halb-
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gebildeten Massen das Wort "Gerechtigkeit" wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen. - Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei "s 0 vi eiS t a a t wie m ö g I i ch" einfällt, so wird dieses zunächst dadurch lärmender, als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: "so wenig Staat wie möglich".
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Die Entwickelung des Geistes, vom Staate ge für c h te t. - Die griechische Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung; ihr gewaltiger Grundtrieb zeigte sich. fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es später auch. noch Plato für seinen idealen Staat. T rot z der Polis entwickelte sich. also die Bildung: indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's Höch.ste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fort gi eng. Dagegen soll man sich. nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den angeblich nothwendigen Z\;sammenhang von Polis und athenischer Cultur; Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine ver-
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klärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng.
475· Der europäische Mensch und die Vernichtun g der N a t ion e n. - Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine 10 Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Absdlliessung der Nationen durch Erzeugung na t ion ale r 15 Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstlime Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belage10 rungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesell11 schaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als gut e nEu r 0 p ä e r ausgeben und durm die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigensmaft, D 0 I met s c her und Ver mit t30 I erd e r V ö 1k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen. - Beiläufig: das ganze Problem der ] ud e n ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre That-
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kräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und WillensCapital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast s in allen jetzigen Nationen überhand nimmt - und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer mög10 lichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll. Jene Eigenschaften 15 mögen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und abschreckend sein; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne 20 unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sitten gesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische 2$ Wolken schicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenig30 sten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das
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Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zumamen.
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Scheinbare Ueberlegenheit des Mittelalt e r s. - Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den - vermeintlich - hömsten Interessen derselben galt: dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen kleinlich, niedrig, materiell, räumlich beschränkt. Aber dieser versmiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nimt bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erkünstelten, auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung); die neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen.
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Der Kr i e gun e n t b e h rl ich. - Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit
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Menschliches, Allzumenschliches I
mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso S stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den 10 Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gelS winnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, 20 in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der 2S jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei - bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.
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F lei s s i m Süd e nun d N 0 r den. - Der Fleiss entsteht auf zwei ganz verschiedene Arten. Die Handwerker im Süden werden fleissig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der
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beständigen Bedürftigkeit der Anderen. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd besmlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Sdunied fleissig. Käme Niemand, so würde er auf dem Markte herumlungern. Sim zu ernähren, das hat in 1 einem frumtbaren Lande wenig Noth, dazu braumte er nur ein sehr geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; smliesslim würde er betteln und zufrieden sein. - Der Fleiss englismer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sim: er ist sim seiner selbst und seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz 10 die Mamt, mit der Mamt die grösstmöglime Freiheit und individuelle Vornehmheit.
479· Reichthum als Ursprung eines Geblütsade I s. - Der Reimthum erzeugt nothwendig eine Aristokra15 tie der Rasse, denn er gestattet die smönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem Mensmen Reinlimkeit, Zeit zu körperlimen Uebungen und vor Allem Abwendung von verdumpfender körperlimer Arbeit. Soweit versmaffi er alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Mensmen 20 vornehm und smön sim bewegen, ja selbst handeln zu mamen: die grössere Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlim-Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. - Gerade diese negativen Eigensmaften sind das reimste Angebinde des Glückes für einen jungen Menschen; 25 ein ganz Armer rimtet sim gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nimt vorwärts und erwirbt Nimts, seine Rasse ist nimt lebensfähig. - Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reimthum fast die gleimen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich 30 verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu erniedrigen, ist furcht-
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes I
bar: obwohl für Solche, welche ihr Glück im Glanze der Höfe, in der Unterordnung unter Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (- Es lehrt, gebückt sich in die Höhlen5 gänge der Gunst einzuschleichen.)
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4 80 . Neid und Trägheit in verschiedener Richtun g. - Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und die nationale - oder wie die Namen in den verschiedenen Ländern Europa's lauten mögen - sind einander würdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als möglich mit den Händen arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem Kopf; in letzterem hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere, äusserlich günstiger gestellte Kaste der Gesellschafl, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen der Gesellschafl zu machen, so sind die socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit einander nivellirt sind. - Lebt als höhere Menschen und thut immerfort die Thaten der höheren Cultur, - so gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit!
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G r 0 s s e Pol i t i k und ihr e Ein bus sen. -
Ebenso
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wie ein Volk die grössten Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere - so gross diese 5 Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden -, sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten, kräftigsten, arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen wer10 den, um Soldaten zu sein: ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man sie gewöhnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab fortwährend eine Menge 15 der hervorragendsten Talente auf dem "Altar des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen öffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, be%0 giebt sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt: jeder tüchtige, arbeitsame, geistvolle, strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskränzen lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört seiner eigenen Sache nicht mehr, wie früher, völlig %5 an: die täglich neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine tägliche Abgabe von dem Kopf- und HerzCapitale jedes Bürgers: die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufblühen eines Volkes eine geistige Verarmung 30 und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche gros se Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen: loh nt sich denn all diese Blüthe und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor dem neuen
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Mensdllimes, Allzumensmlimes I
Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an weIchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen?
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Und no c h mal s ge sag t. - private Faulheiten.
Oeffentliche Meinungen
Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein.
4 8 3. Fe i n d e der Wa h r h e i t. - Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.
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4 84. Ver k ehr t eWe I t. - Man kritisirt emen Denker schärfer, werln er einen uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch wäre es vernünftiger, diess zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist.
4 8 5. C h ara k t e r voll. - Charaktervoll ersmeint ein Mensch weit häufiger, weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien folgt.
4 86 . Das Ein e , was Not h t hut. Eins muss man haben: entweder einen von Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn.
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Menschliches, Allzumenschliches I
4 87.
Die Leidenschaft für Sachen. - Wer seine Leidenschaft auf Sachen (Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Künste) richtet, entzieht seiner Leidenschaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind).
4 88 . 10
Die Ruh ein der T hat. - Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit me h r Ruhe zu handeln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten liess.
4 89. N ich t z u t i e f. - Personen, welche eine Sache in aller 1 S Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zusehen.
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49°· W ahn der I d e a li s t e n. - Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt gedeihen soll, sie genau des selben übel riechenden Düngers bedarf, welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen nöthig haben.
49 1 • Sei b s t b e b ach tun g. - Der Mensch ist gegen sich
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9. Der Mensch mit sich allein 487-495
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selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen.
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Der richtige Beruf. - Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.
493· Ade I der G e s i n nun g. - Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen Theil aus Gutmüthigkeit und Mangel 15 an Misstrauen, und enthält also gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen.
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494· Z i e 1 und Weg e. - Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.
495· Das Empörende an einer individuellen Leb e n s art. - Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche Behandlung, welche Jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen.
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Menschliches, Allzumenschliches I
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Vor r e c h t der G r ö s s e. - Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen Gaben hoch zu beglücken.
497· j
U n will k ü rl ich vor n e h m. - Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben.
49 8. JO
B e d i n gun g des Her 0 e n t h ums. - Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind.
499·
Fr e und. - Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund.
Ij
20
5°0. Ebbe und Fluth zu benutzen. - Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene innere Strömung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht und wiederum Jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht.
50!. Fr e u d e ans ich. - "Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit. ist es Freude an sich vermittelst einer Sache.
9. Der Mensm mit sim allein 496-507
321
5°2. Der B e s c h eid e n e. - Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so stärker seine Anmaassung. Das ist seine Radle.
5°3· Neid und Ei f ers u c h t. - Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt werden.
10
15
5°4· Der vornehmste Heuchler. zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei.
Gar nicht von sidl
5°5· Ver d r u s s. - Der Verdruss ist eine körperliche Krankheit' welche keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum Verdruss hinterdrein beseitigt wird.
506 . Ver t r e t erd e r Wa h r h e i t. - Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist.
20
5°7· B e s c h w e rl ich ern 0 c h, als F ein d e. - Die Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umständen überzeugt sind, während uns irgend ein Grund (z. B. Dankbarkeit) verpflichtet, den Anschein der unbedingten
322
Menschliches, Allzumenschliches I
Sympathie unsererseits aufrecht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde.
508• Die freie Natur. - Wir sind so gern Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.
10
If
2,0
In
der freien
50 9. Je der in Ein e r S ach e übe rl e gen. - In civilisirten Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.
po. T r 0 s t g r ü n d e. - Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt.
5I l • Die Ueberzeugungstreuen. - Wer viel zu thun hat, behält seine allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast unverändert bei. Ebenso Jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten.
9. Der Mensch mit sich allein 507-517
323
512 • M 0 ra I i t ä tun d Qua n t i t ä t. - Die höhere Moralität des einen Mensmen, im Vergleim zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Besmäftigung mit dem Kleinen, im engen Kreise, nieder.
10
513· Das Leb e n als E r t rag des Leb e n s. - Der Mensch mag sim nom so weit mit seiner Erkenntniss ausrecken, sim selber nom so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nimts davon, als seine eigene Biographie.
514· Die ehe r n e Not h wen d i g k e i t. - Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im Verlauf der Geschimte einsehen, dass es weder ehern noch nothwendig ist.
I5
10
515. Aus der Er f a h run g. - Die Unvernunft einer Same ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben. 51 6 . W a h r h e i t. - Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte.
517· G run dei n sie h t. - Es giebt keine prästabilirte Harmonie zwismen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der 15 Mensmheit.
324
Menschliches, Allzumenschliches I
51 8• Me n s ehe nl 0 0 s. - Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er mag handeln und urtheilen, wie er will.
s
519· W a h rh e i tal s C ire e. - Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen?
po. Ge f a h run s e r e r Cu I tu r. - Wir gehören einer Zeit xo an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen.
pI.
X5
20
G r ö s s ehe iss t: R ich tun g - g e ben. - Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.
p2. S c h w ach e s Ge w iss e n. Menschen, welche von ihrer Bedeutung für die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit im Halten von Verträgen, Versprechungen, ein schwaches Gewissen.
9. Der Mensch mit sich allein 518-528
325
52 3.
Geliebt sein wollen. - Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste der Anmaassungen.
s
10
524· M e n s c h e n ver ach tun g. - Das unzweideutigste Anzeichen von einer Geringschätzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als Mittel zu sei n e m Zwecke oder gar nicht gelten lässt.
52 5. Anhänger aus Widerspruch. - Wer die Menschen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben.
52 6 . IS
20
Erlebnisse vergessen. - Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt, vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden.
527· Fes t halt e n ein e r M ein u n g. - Der Eine hält eine Meinung fest, weil er sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit.
52 8. Das Li c h t sc heu e n. - Die gute That scheut ebenso as ängstlich das Licht, als die böse That: diese fürchtet, durch das
326
Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes I
Bekanntwerden komme der Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst nämlich, welche sofort aufhört, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt).
529· Die Länge des Tages. - Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen.
10
15
53°· Tyrannengenie. Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer beständig unterhält, so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Künstlern) allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.
531. Das Leben des Feindes. - Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.
.10
532· Wie h t i ger. - Man nimmt die unerklärte dunkle Sache wichtiger, als die erklärte helle.
.15
533· A b s c h ätz u n ger wie sen erD i e n s t e. - Dienstleistungen, die uns Jemand erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem, welchen sie für uns haben.
9. Der Mensch mit sich allein 528-538
327
534· U n g I ü c k. - Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich glücklich zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: "Aber wie glücklich Sie sind!" man gewöhnlich protestirt.
10
535· P h a n ta sie der An g s t. - Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.
53 6 .
11
Werth abgeschmackter Gegner. - Man bleibt mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören, abgeschmackt zu sein.
537·
10
Wert h ein es B e ruf e s. - Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgememer Art Einen anfallen, erlaubtermaassen zurückziehen kann.
53 8•
Tal e n t. - Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist, weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.
328
MensdUiches, Allzumenschliches I
539·
J u gen d. - Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne.
10
54°· Zug r 0 s s e Z i eie. - Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.
541. I m S t rom e. - Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworreneKöpfe.
IS
54 2 •
Ge fa h ren der gei s t i gen Be fr e i u n g. - Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen•
.10
543· Ver k ö r per u n g des Gei s t e s. - Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nidlt nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.
9. Der Mensch mit sidt allein 539-548
329
544· Schlecht sehen und schlecht hören. - Wer wenig sieht, sieht immer weniger; wer smle
10
545· S e 1 b s t gen u s s in der E i tel k e i t. - Der Eitele will nimt sowohl hervorragen, als sim hervorragend fühlen, desshalb versmmäht er kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nimt die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen.
546 . Aus nah m s w eis e ei tel. - Der für gewöhnlim Selbstgenügsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm und Lobsprume empfänglim, wenn er körperlim krank ist. In dem 15 Maasse, in welmem er sim verliert, muss er sim aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen.
547· Die "Gei s t re ich en ". - Der hat keinen Geist, welmer den Geist sumt.
~o
54 8. Wink für Parteihäupter. - Wenn man die Leute dazu treiben kann, sim öffentlim für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens aum dazu gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden.
330
Menschliches, Allzumenschliches I
549· Ver ach tun g. - Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst.
s
10
1S
20
55°· Sc h nur der Dan k bar k e i t. - Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln. 551. K uns t g riff des Pro p h e t e n. - Um die Handlungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien.
55 2 • Das ein z i ge Me n s ehe n r e c h t. - Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.
553· U n t erd asT h i e r hin ab. - Wenn der Mensm vor Lachen wiehert, übertrifft er alle Thiere durm seine Gemeinheit.
554· Hai b w iss e n. - Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran, als Der, welcher sie gut as spricht. Das Vergnügen ist bei den Halbwissenden.
9. Der Mensch mit sich allein 549-559
s
10
331
555· Ge f ä h rl ich e H ü lf b e re i t s c haft. Es giebt Leute, welme das Leben den Mensmen ersmweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte zur Erleimterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten.
55 6 . F lei s s und Ge w iss e n h a f t i g k e i t. - Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurm Antagonisten, dass der Fleiss die Frümte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.
557· Ver d ä c h t i gen. - Mensmen, welme man nimt leiden 1 S kann, sucht man sim zu verdächtigen.
55 8. Die Umstände fehlen. - Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihr e Art gut zu sein.
10
559· Mangel an Freunden. - Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklimen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat.
332
Mensdtlidtes. Allzumensdtlidtes I
560• Gefahr in der Vielheit. -Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Füssen steht.
S
561. Den An der n zum Vor b i I d. - Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, - was die Menschen lieben.
10
562. Z i eIs ehe i b e sei n. - Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen.
Ij
56 3. Lei c h t res i g n i r t. - Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu ver hässlichen.
~o
564. In Ge fa h r. - Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist.
56 5. Jen ach der S tim m e die Roll e. - Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb~s Tauben oder vor einem grossen Auditorium), übertreibt gewöhn-
9. Der Mensch mit sich lllIein 560-570
333
lich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. - Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.
566 •
L i e b e und Ha s s. - Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.
56 7.
10
Mit Vor t h eil a n g e fe i n d e t. - Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe - und dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre Geltung ist.
568 . 15
10
Bei c h t e. - Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht. 56 9. SeI b s t gen ü g sam k e i t. - Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche.
57°· Sc hat t e n i n der F I am m e. - Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch 15 der Weise.
334
Mensenlienes, Allzumensenlienes I
57 1 •
E i gen e M ein u n gen. - Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, s unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.
572.·
10
Her k u n f t des Mut h e s. - Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.
573· l
S
G e f a h r im A r z t e. - Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.
574·
~o
W und e rl ich e E i tel k e i t. - Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.
575·
B e ruf. - Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.
9. Der Mensm mit sim allein 571-580
335
57 6 .
Ge fa h r per s ö n I ich e n Ein fl u s ses. - Wer fühlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.
10
577· Den Erb eng e I t e n las sen. - Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.
57 8• 15
HaI b w iss e n. - Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.
579·
10
Nicht geeignet zum Parteimann. - Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.
580 . Schlechtes Gedächtniss. Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst.
336
Mensmlimes, Allzumensmlimes I
581 . Sie h S c h m erz e n mac h e n. Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.
582 . M ä r t y r e r. - Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.
58 3. 10
R ü c k s t ä n d i g e Ei tel k e i t. - Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus' der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze einbettelten.
5 84. IS
~o
Pu n c t ums a I i e n s der Lei den s c h a f t. - Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft das Gefäss über. 58 5.
~s
Ge dan k e des U n mut he s. - Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie n Ü t z I ich. So lange sie dampfen und rauchen,
9. Der Mensen mit sien allein 581-587
337
sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. - Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossenMaschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, - ist das die umana commedia?
586 . Vom S tun den z e i ger des Leb e n s. - Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsam10 keit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer - Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene MolS mente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.
587. A n g re i fe n 0 der ein g re i fe n. - Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzu10 feinden, weil wir zufällig nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, - vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlidl theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; lS aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.
338
Mensmlimes, Allzumensmlimes I
588 .
s
10
B e s ehe i den h e i t. - Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen Unverantwordichkeit (auch für das Gute, was er schaffi:) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.
589. 15
20
Des Tages erster Gedanke. - Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.
59°· Anm aassun g als letz tes Trostm i tte l. - Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes 25 Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.
9. Der Mensch mit sich allein 588-593
339
59 1 •
10
Ve g eta t ion des GI ü c k e s. - Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betraclttet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, - überall wird er etwas Glück n~ben dem Unheil aufgesprosst finden - und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war - , nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.
59 2 •
t
5
10
lS
Die S t ras s e der V 0 rf a h ren. - Es ist vernünftig, wenn Jemand das Tal e n t, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: .. Welche Strasse sollst du reiten? - die deiner Vorfahren."
593·
Ei tel k e i tun d Ehr gei z als Erz i ehe r. - So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.
340
Menschliches, AIIzumenschliches I
594·
Phi los 0 phi s ehe Neu I i n g e. - Hat man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.
10
595·
Dur c h M iss fa 11 eng e fall e n. - Die MensChen, weiche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und indirect, vermittelst einer Stufe, 15 durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo er miss~o fällt, er doch noch zu gefallen scheint. - Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt l5 und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber kräftiges, wenngleich spät wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen.
59 6 . 30
C a s u s bell i und A e h n I i ~ h e s. - Der Fürst, welcher zu dem gefassten Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu führen,
9. Der Mensdt mit sidt allein 594-599
341
einen casus belli ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?
597·
10
Lei den s c h a f tun d Re c h t. - Niemand spricht leidenschafHicher von seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.
59 8.
IS
10
Kunstgriff des Entsagenden. - Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten, gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will.
599·
Le b e nsa 1 te r de r A nm a assu n g. - Zwischen dem lS sechsundzwanzigsten und dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fühlt, von Men-
342
10
Menschliches, Allzumenschliches I
schen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel zu sei n und so wenig zu sc h ein e n. Später sc h ein t man wirklich mehr, - aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sei n: man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit.
600.
T r ü ger i s c h und d 0 c h hai tb a r. - Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem IS Balken zu überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran festzuhalten, - denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen, sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken, - so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen; ao es ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stützen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in der Nähe (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei, gewöhnlich sind).
601.
as
30
Li e ben I ern e n. - Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfindungen liebevoller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden, wenn Einer
9. Der Mensch mit sich allein 599-604
343
ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu allmählich absterben.
60.2.
Die R u i n e als Sc h m u c k. - Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansidlten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.
10
6°3· Li e b e und Ehr e. - Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das 15 heisst er fürchtet sie: sein Zustand ist Ehr-furcht. Die Liebe aber erkennt keine Madlt an, Nichts was trennt, abhebt, überund unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden widerspänstig.
60 4.
Vorurtheil für die kalten Menschen. - Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder sich so stellen, das günstige Vor25 urtheil, dass es besonders vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welme langsam Feuer fangen und es lange festhalten.
344
Mensmlimes, Allzumensmlimes I
6°5· Das Ge f ä h rl ich e a n f r eie n M ein u n gen. - Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art Jucken; giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt.
10
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606. Begierde nach tiefem Schmerz. - Die Leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust.
6°7· Unm u th über Andere und die We 1t. -Wenn wir, wie so häufig, unsern Unmuth an Anderen auslassen, während 20 wir ihn eigentlich über uns empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und TäusdlUng unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth aposteriori motiviren durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen verlieren. Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbitt2$ liche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig wie Jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen 30 lässt.
9. Der Mensch mit sich allein 605-610
345
608. Urs ach e und Wir k u n g ver w e c h sei t. - Wir suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen unseren Charakter gesmaffen, ihm Halt und 5imerheit gegeben hätten: während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll namträglich, so scheint es, zur Ursame unseres Wesens gemamt werden: aber thatsämlim ist unser Wesen die JO Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Komödie? Die Trägheit und Bequemlimkeit und nimt am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durm als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt Amtung, J5 giebt Vertrauen und Macht.
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60 9. Lebensalter und Wahrheit. - Junge Leute lieben das Interessante und Absonderlime, gleimgültig wie wahr oder falsm es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlim ist. Ausgereifte Köpfe endlim lieben die Wahrheit aum in Dem, wo sie schlidlt und einfältig ersmeint und dem gewöhnlimen Mensmen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Hömste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt.
610. Die Me n s ehe n als sc h lee h teD ich t e r. - 50 wie smlemte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken sumen, so pflegen die Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welme zu denen ihres früheren Lebens
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Menschliches, Allzumenschliches I
passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden.
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6II. La n g ewe i leu n d S pie 1. - Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt 10 sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an Bedürfnissen gelS litten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürf20 nisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück.
30
612. L ehr e aus Bi I der n. - Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge: dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange
9. Der Mensch mit sich allein 610-613
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entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemässer, - und diese innere Thatsache spricht sich in der erwähnten äusseren aus.
613. S tim m k I a n g der Leb e n s alt e r. - Der Ton, in dem Jünglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfällt dem Aeltergewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit 10 eine solche Schallkraft bekommt; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, 15 als die Grunde für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, mässig laut, aber, wie 30 alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch. 15
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Menschliches, Allzumenschliches I
61 4. Zurückgebliebene und vorwegnehmende Me n s c h e n. - Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden s und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbieibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es 10 ist ein zur ü e k g e bl i e ben e r Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines belS scheidenen Misstrauens ist, das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, mög~o lichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wüthet und heult.
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61 5. Tros t für H yp oe ho n der. - Wenn ein grosserDenker zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, überhaupt die Stimmung des bellum omnium contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht.
9. Der Mensdt mit sidt allein 614-618
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616. Der Gegenwart entfremdet.-EshatgrosseVortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ocean der vergan5 genen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als Die, welche sie nie verlassen haben. 10
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61 7. Auf persönlichen Mängeln säen und ernt e n. - Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn Jener die Verdorbenheit und Entartung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist. 618. Phi los 0 phi s c h g e s i n n t sei n. - Gewöhnlich strebt man darnach, für alle Lebenslagen und Ereignisse ein e Haltung des Gemüthes, ein e Gattung von Ansichten zu erwerben, - das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt.
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Menschliches, Allzumenschliches I
61 9. Im Fe u erd e r Ver ach tun g. - Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch vielmehr selber an.
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Auf 0 p fe run g. - Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir für die grosse uns durch Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich ist.
621. Lie b e al s K uns tg ri f f. - Wer etwas Neues wirklich 15 k e n n e n lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung 10 giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sadle bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine 15 Restrietionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.
9. Der Mensm mit sim allein 619-624
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6H. Zug u tun d zu s chi e c h t von der We I t den k e n. Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. - Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.
62 3. IS
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Ti e f e M e n s ehe n. - Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben - man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen - sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindrudt noch flach, er wir d dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben. 62 4.
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Verkehr mit dem höheren Selbst. - Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr ver-
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schieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.
6Z5· Ein sam e M e n s ehe n. - Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen wieder zu 1ern e n: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. - Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.
626. o h n e M e Iod i e. - Es giebt Menschen, denen ein stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-Iegen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden be-
9. Der Mensm mit sim allein 624-627
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steht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewöhnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts wir d, ohne dass man ihnen sagen dürfte, dass sie Nichts s i n d. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns nicht, 10 wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? Das Mittelalter war reicher an soldlen Naturen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sidl auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die IS Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."
62 7.
Leben und Erleben. - Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen - ihren unbedeutenden alltäglichen 10 Erlebnissen umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während Andere - und wie Viele! - durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer lS leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlicil versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, 30 weldle, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.
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Ern s tim S pie I e. - In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's und fühlte sie auf einmal im Herzen: all es Me n sch li ehe ins g esa m m t ist des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem - -
62 9. Von der Ueberzeugung und der Gerechtigk e i t. - Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu verIS treten diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen - das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade %0 mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die Sc h ätz u n g der Leidenschaften gross und haben es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Rache%s ausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls: halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. - Weil man Treue geschworen, vielleicht gar 30 einem rein fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes; welcher Entzückung über
9. Der Mensch mit sich allein 628-629
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uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen liess - ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften? 10 Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir m ü s sen Verräther werden, Untreue üben,unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir 15 uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung not h wen d i g sind oder ob sie nicht von einer irr t h ü m 20 1 ich e n Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. 25 Das heisst: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die i n tell e c tue 11 e Bedeutung aller Ueberzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Ueber30 zeugungen entstehen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der We c h sei von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten.
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Menschliches, Allzumenschliches I
63°· Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass Jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlimen Denkens ist; 10 er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit herausgeströmt. Jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre UeberIS zeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich gewesen sein. Aber eigentlich wollte man ~o Recht behalten, weil man meinte, Recht haben zu m ü s sen. Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der .. Wille" gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Gläubigen ~5 jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu k ö n n e n; erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleimt gar das "credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, 30 welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte
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ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selb$t inquirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Sectirer und »Rechtgläubigen" sind, keine weitere Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht hätten.
631. Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes M iss b e hag e n an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, 10 welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Ver25 nunft. Allmählich muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vor sie h t i gen E n t haI tun g zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, 30 als einen Gegenstand der Erbitterung für alle Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Redlt, jenen MenIS
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schen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.
63 2 • Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen 10 dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar 15 nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum 20 Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark.
633· Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit 25 ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer höhern Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner 30 verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt hätte,
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und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, untet der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, hab e, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren m ü s s e. Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.
634· Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an sei n e r "Wahrheit", das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, 25 so gebe es überhaupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. 30 Zuerst entschied man nach Autoritäten, später kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode,
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wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte. Der pers ö n I ich e Kam p f der Den k e r hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken biosgelegt sind.
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Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes 15 Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergebnissen der Wissenschaft I ern e n so viel sie wollen: man merkt es immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben 20 nicht jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und Flamme für dieselbe und mei25 nen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als Ueberzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem Gebiete 30 der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens ein e Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was 10
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Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zum al wenn diese den Eindruck des Geistreichen, Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Ge w iss h e i t will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber 10 einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als Gen i e benimmt und bezeichnet, also wie 15 ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben 10 sollte. 63 6.
Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philo15 sophische, politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine G e g n e r i n der U e b erz eu gun gen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder 30 Gedachtes, das Seine geben - und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung"
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Menschliches, Allzumenschliches I
(wie Männer sie nennen: - bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der Ueberzeugung ist - um der Wahrheit willen.
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637· Aus den Lei den s c h a f t e n wachsen die Meinungen; die T r ä g h e i t des Gei s t e s lässt diese zu U e b erz e u gun gen erstarren. - Wer sich aber f r eie n, rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. - Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. Das F eu e r in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte 1sis unsers Lebens; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will. Der Gei s t ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Ver rät her aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können - und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.
63 8. Der W a n der e r. - Wer nur einigermaassen zur Freiheit 30 der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders
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fühlen, denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender na c h einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlim vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solmen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, versmlossen findet; viel10 leimt, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reimt, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schrecklime Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird 15 des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleimt noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren - und der Tag ist fast smlimmer, als die Namt. So mag es wohl 10 einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er smon im Grauen des Limtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sim vorübertanzen sieht, wo ihm namher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter 15 Bäumen sim ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Gesmenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welme, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald namdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen 30 sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nam, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockensmlage ein so reines, durmleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: - sie suchen die Phi los 0 phi e des Vor mit tag e s.
Unter Freunden. Ein Nachspiel.
I.
Schön ist's, mit einander schweigen, Schöner, mit einander lachen,Unter seidenem Himmels-Tuche Hingelehnt zu Moos und Buche Lieblich laut mit Freunden lachen Und sich weisse Zähne zeigen. 10
Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen; Macht' ich's schlimm - , so woll'n wir lachen Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen, schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen.
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Freunde! Ja! So soll's geschehn?Amen! Und auf Wiedersehn!
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Unter Freunden 2 2.
Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien Diesem unvernünft'gen Buche Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche Ward mir meine Unvernunft! Was ich finde, was ich suche-, Stand das je in einem Buche? 10
Ehrt in mir die Narren-Zunft! Lernt aus diesem Narrenbuche, Wie Vernunft kommt - "zur Vernunft"! Also, Freunde, s01l's geschehn? Amen! Und auf Wiedersehn!
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Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band.
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Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man übe r w und e n hat, - alles Andere ist Geschwätz, "Litteratur", Mangel an Zucht. Meine Schriften reden nur von meinen Ueberwindungen: "ich" bin darin, mit Allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissi m u m. Man erräth: ich habe schon Viel - u n t e r mir ... Aber es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes und Ueberlebtes, irgend ein eigenes Factum oder Fatum nachträglich für die Erkenntniss abzuhäuten, auszubeuten, blosszulegen, "darzustellen" (oder wie man's heissen will). Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlimen Ausnahme, zur ü c k zu dati e ren - sie reden immer von einem "Hinter-mir" -: einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemässen Betrachtungen, noch zurück hinter die Entstehungs- und Erlebnisszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der "Geburt der Tragödie" im gegebenen Falle: wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf). Jener zornige Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Spram-Verlumpung des alt gewordenen David Strauss, der Inhalt der ersten U nzeitgemässen, machte Stimmungen Luft, mit denen ich lange vorher, als
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Student, inmitten deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte (ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wortes "Bildungsphilister" -); und was ich gegen die "historische Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar .nicht Willens war, fürderhin auf "Historie" zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte. Als ich sodann, in der dritten Unzeitgemässen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, vor dem g r 0 s sen Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrükken - war ich für meine eigne Person schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin, das he iss t ebenso sehr in der Kritik als der Vertiefung alle s bis her i gen Pes s i m i s mus -, und glaubte bereits "an gar nichts mehr", wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück" über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". Selbst meine Siegs- und Festrede zu Ehren Richard Wagner's, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier 1876 - Bayreuth bedeutet den grössten Sieg, den je ein Künstler errungen hat ein Werk, welches den stärksten Ans ehe inder "Aktualität" an sich trägt, war im Hintergrunde eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stü'ck Vergangenheit von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt ... und thatsächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht selbst darüber? Ich glaube es nicht. So lange man noch liebt, malt man gewiss keine solchen Bilder; man "betrachtet" noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne, wie es der Betrachtende thun muss. "Zum Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle Ge g n e r s c h a f t , die des Entgegenschauens" - heisst es auf Seite 46 der genannten Schrift selbst, mit einer verrätherischen und schwermüthigen Wendung, welche vielleicht nur für wenige Ohren war.) Die
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Gelassenheit, um über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem Buche "Menschliches, Allzumenschliches", dem auch dies zweite Für- und Vorwort gewidmet sein soll. Auf ihm, als einem Buche "für freie Geister", liegt Etwas von der beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen, welche eine Menge schmerzlicher Dinge, die er u n t e r sich hat, hin te r sich hat, nachträglich für sich noch feststellt und gleichsam mit irgend einer Nadelspitze fest s t ich t: - was Wunders, wenn, bei einer so spitzen und kitzlichen Arbeit, gelegentlich auch etwas Blut fliesst, wenn der Psychologe Blut dabei an den Fingern und nicht immer nur - an den Fingern hat? ...
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Die Vermischten Meinungen und Sprüche sind, ebenso wie der Wanderer und sein Schatten, zuerst ein z ein als Fortsetzungen und Anhänge jenes eben genannten menschlich-allzumenschlichen "Buchs für freie Geister" herausgegeben worden: zugleich als Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur, nämlich der a n t i rom a n t i s ehe n Selbstbehandlung, wie sie mir mein gesund gebliebener Instinkt wider eine zeitweilige Erkrankung an der gefährlichsten Form der Romantik selbst erfunden, selbst verordnet hatte. Möge man sich nunmehr, nach sechs Jahren der Genesung, die gleichen Schriften ver ein i g t gefallen lassen, als zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches: vielleicht lehren sie, zusammen betrachtet, ihre Lehre stärker und deutlicher, - eine G e s und h e i t sIe h r e, welche den geistigeren Naturen des eben heraufkommenden Geschlechts zur disciplina voluntatis empfohlen sein mag. Aus ihnen redet ein Pessimist, der oft genug aus der Haut gefahren, aber immer wieder in sie hineingefahren ist, ein Pessimist also mit dem guten Willen zum Pessimismus, - somit jedenfalls kein Romantiker mehr: wie? sollte ein Geist, der sich auf diese
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Menschliches, Allzumenschliches II
Schlangenklugheit versteht, die Hau t z u w e c h seI n, nicht den heutigen Pessimisten eine Lektion geben dürfen, welche allesammt noch in der Gefahr der Romantik sind? Und ihnen zum Mindesten zeigen, wie man das - mac h t ? ...
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3· - Es war in der That damals die höchste Zeit, Ab s chi e d zu ne h m e n: alsbald schon bekam ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder ... Hat denn kein Deutscher für dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt? War ich der Einzige, der an ihm - litt? Genug, mir selbst gab dies unerwartete Ereigniss wie ein Blitz Klarheit über den Ort, den ich verlassen hatte, - und auch jenen nachträglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfindet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts ver g e u d e t e Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend, Liebe; müde aus Ekel vor dem Femininischen und Sd1wärmerisch-Zuchtlosen dieser Romantik, vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetragen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns, - dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei, tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein, als je vorher. Meine Auf gab e - wohin war sie? Wie? schien es jetzt nicht, als ob sich meine Aufgabe von mir zurückziehe, als ob ich nun für lange kein Recht mehr auf sie habe? Was thun, um die s e grösste Entbehrung
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auszuhalten? - Ich begann damit, dass ich mir gründlich und grundsätzlich alle romantische Musik ver bot, diese zweideutige grossthuerische schwüle Kunst, welche den Geist um seine Strenge und Lustigkeit bringt und jede Art unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit wuchern macht. "Cavemusicam" ist auch heute noch mein Rath an Alle, die Manns genug sind, um in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit zu halten; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr "Ewig-Weibliches" zieht uns - hinab! ... Ge gen die romantische Musik wendete sich damals mein erster Argwohn, meine nächste Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker kommen, kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche Weise Ra ehe zu ne h m e n. -
4· Einsam nunmehr und schlimm misstrauisch gegen mich, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei ge gen mich und für Alles, was gerade mir wehe that und hart fiel: - so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu "mir" selbst, zu me i n e r Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre Auf gab e erweist, - dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, für jede vorzeitige Bescheidung, für jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare Thätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache a~lenkt, ja für jede Tugend selbst, welche uns gegen die Härte der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf uns r e Aufgabe zweifeln wollen, - wenn
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Mensmlimes, Allzu menschliches II
wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar zugleich! Unsre Er 1eie h t e run gen sind es, die wir am härtesten büssen müssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurüdc, so bleibt uns keine Wahl: wir müssen uns sc h wer er belasten, als wir je vorher belastet waren ...
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5· - Damals lernte ich erst jenes einsiedlerische Reden, auf welches sich nur die Schweigendsten und Leidendsten verstehn: ich redete, ohne Zeugen oder vielmehr gleichgiiltig gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden, ich sprach von lauter Dingen, die mich nichts angiengen, aber so, als ob sie mich etwas angiengen. Damals lernte ich die Kunst, mich heiter, objektiv, neugierig, vor allem gesund und boshaft zu g e ben, - und bei einern Kranken ist dies, wie mir scheinen will, sein "guter Geschmack"? Einem feineren Auge und Mitgefühl wird es trotzdem nicht entgehn, was vielleicht den Reiz dieser Schriften ausmacht, - dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er nie h t ein Leidender und Entbehrender sei. Hier soll das Gleichgewicht, die Gelassenheit, sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrecht erhalten werden, hier waltet ein strenger, stolzer, beständig wacher, beständig reizbarer Wille, der sich die Aufgabe gestellt hat, das Leben wider den Schmerz zu vertheidigen und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und andrem Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen. Dies giebt vielleicht gerade unsern Pessimisten Fingerzeige zur eignen Prüfung? - denn damals war es so, wo ich mir den Satz abgewann: "ein Leidender hat auf Pessimismus no eh k ein Re c h t!", damals führte ich mit mir einen langwierig-geduldigen Feldzug gegen den unwissenschaftlichen Grundhang jedes romantischen Pessimismus, einzelne persönliche Erfahrungen
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zu allgemeinen Urtheilen, ja Welt-Verurtheilungen aufzubauschen, auszudeuten kurz, damals drehte ich meinen Blid: her u m. Optimismus, zum Zwed: der Wiederherstellung, um irgend wann einmal wieder Pessimist sein zu d ü r f e n - versteht ihr das? Gleich wie ein Arzt seinen Kranken in eine völlig fremde Umgebung stellt, damit er seinem ganzen "Bisher", seinen Sorgen, Freunden, Briefen, Pflichten, Dummheiten und Gedächtnissmartern entrüd:t wird und Hände und Sinne nam neuer Nahrung, neuer Sonne, neuer Zukunft ausstred:en lernt, so zwang ich mich, als Arzt und Kranker in Einer Person, zu einem umgekehrten unerprobten K I i m ade r See I e , und namentlich zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde, in das Fremde, zu einer Neugierde nach aller Art von Fremdem ... Ein langes Herumziehn, Suchen, Wechseln folgte hieraus, ein Widerwille gegen alles Festbleiben, gegen jedes plumpe Bejahen und Verneinen; ebenfalls eine Diätetik und Zucht, welche es dem Geiste so leicht als möglich machen wollte, weit zu laufen, hoch zu fliegen, vor Allem immer wieder fort zu fliegen. Thatsächlich ein Minimum von Leben, eine Loskettung von allen gröberen Begehrlichkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten aller Art äusserer Ungunst, sammt dem Stolze, leben zu k ö n n e n unter dieser Ungunst; etwas Cynismus vielleicht, etwas" Tonne", aber ebenso gewiss viel Grillen-Glüd:, GrillenMunterkeit, viel Stille, Licht, feinere Thorheit, verborgenes Schwärmen - das Alles ergab zuletzt eine grosse geistige Erstarkung, eine wachsende Lust und Fülle der Gesundheit. Das Leben selbst bel 0 h n t uns für unsern zähen Willen zum Leben, für einen solchen langen Krieg, wie ich ihn damals mit mir gegen den Pessimismus der Lebensmüdigkeit führte, schon für jeden aufmerksamen Biid: unsrer Dankbarkeit, der sich die kleinsten, zartesten, f1üchtigsten Geschenke des Lebens nicht entgehn lässt. Wir bekommen endlich dafür seine g r 0 s sen Geschenke, vielleicht auch sein grösstes, das es zu geben vermag, - wir bekommen uns re Auf gab e wieder zurüd:. - -
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6. - Sollte mein Erlebniss - die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus - nur mein persönliches Erlebniss gewesen sein? Und gerade nur me i n "Menschlich-Allzumenschliches"? Ich möchte heute das Umgekehrte glauben; das Zutrauen kommt mir wieder und wieder dafür, dass meine Wanderbücher doch nicht nur für mich aufgezeichnet waren, wie es bisweilen den Anschein hatte -. Darf ich nunmehr, nach sechs Jahren wachsender Zuversicht, sie von Neuem zu einem Versuche auf die Reise schicken? Darf ich sie Denen sonderlich an's Herz und Ohr legen, welche mit irgend einer" Vergangenheit" behaftet sind und Geist genug übrig haben, um auch noch am Gei s t e ihrer Vergangenheit zu leiden? Vor allem aber Euch, die ihr es am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefährdetsten, Geistigsten, Muthigsten, die ihr das G e w iss e n der modernen Seele sein müsst und als solche ihr W iss e n haben müsst, in denen was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr geben kann zusammen kommt, deren Loos es will, dass ihr kränker sein müsst als irgend ein Einzelner, weil ihr nicht "n u r Einzelne" seid ... , deren Trost es ist, den Weg zu einer neu e n Gesundheit zu wissen, ach! und zu gehen, einer Gesundheit von Morgen und Uebermorgen, ihr Vorherbestimmten, ihr Siegreichen, ihr Zeit-Ueberwinder, ihr Gesündesten, ihr Stärksten, ihr gut e nEu r 0 p ä er! - -
7· - Dass ich schliesslich meinen Gegensatz gegen den r 0 man t i s ehe n Pes s i m i s mus, das heisst zum Pessimismus der Entbehrenden, Missglückten, Ueberwundenen, noch in eine Formel bringe: es giebt einen Willen zum Tragischen und zum 30 Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist. Man fürchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare
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und Fragwürdige, das allem Dasein eignet; man sucht es selbst auf. Hinter einem solchen Willen steht der Muth, der Stolz, das Verlangen nach einem g r 0 S sen Feinde. - Dies war me i ne pessimistische Perspektive von Anbeginn, - eine neue Perspektive, wie mich dünkt? eine solche, die auch heute noch neu und fremd ist? Bis zu diesem Augenblick halte ich an ihr fest, und, wenn man mir glauben will, ebensowohl für mich, als, gelegentlich wenigstens, ge gen mich ... Wollt ihr dies erst bewiesen? Aber was sonst wäre mit dieser langen Vorrede - bewiesen? 10
Si I s - M a r i a, Oberengadin, im September 1886.
Erste Abtheilung : Vermischte Meinungen und Spruche.
I.
An die Enttäuschten der Philosophie. Wenn ihr bisher an den höchsten Werth des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, müsst ihr es denn jetzt gleich zum niedrigsten Preise losschlagen?
2.
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Ver w ö h n t. ~ Man kann sich auch in Bezug auf die Helligkeit der Begriffe verwöhnen: wie ekelhaft wird da der Verkehr mit den Halbklaren, Dunstigen, Strebenden, Ahnenden! Wie lächerlich und doch nicht erheiternd wirkt ihr ewiges Flattern und Haschen und doch nicht Fliegen- und Fangenkönnen!
3· Die F r eie r der Wir k I ich k e i t. - Wer endlich merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist, umarmt aus Trotz selbst die hässlichste Wirklichkeit: so dass dieser, den Verlauf der Welt im Ganzen gesehen, zu allen Zeiten die allerbesten Freier zugefallen sind, - denn die Besten sind immer am besten und längsten getäuscht worden.
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Menschliches, Allzumenschliches II
4· F 0 r t s c h r i t t der F r e i gei s t e r e i. - Man kann den Unterschied der früheren und der gegenwärtigen Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes Satzes gedenkt, den zu erkennen und auszusprechen die ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nöthig war und der dennoch von der jetzigen Einsicht aus bemessen, zu einer unfreiwilligen Naivetät herabsinkt, - ich meine den Satz Voltaire's: "eroyezmoi, mon ami, l'erreur aussi a son merite." 10
5· Ein e Erb s ü n d e der Phi los 0 p h e n. - Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und ver d 0 r ben, dadurch dass sie dieselben unbedingt nahmen, und Das als nothwendig be15 weisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends gemeint war, - während sie gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauer's vom Primat des Willens vor dem IntellO leet, von der Unveränderlichkeit des Charakters, von der Negativität der Lust - welche alle, so wie er sie versteht, Irrthümer sind - populäre Weisheiten finden, weld1e Moralisten aufgestellt haben. Schon das Wort» Wille", welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung vieler menschlicher Zustände uml5 bildete und in eine Lücke der Sprache hineinstellte, zum grossen Vortheil für ihn selber, soweit er Moralist war - da es ihm nun freistand, vom "Willen" zu reden, wie Pascal von ihm geredet hatte -, schon der "Wille" Schopenhauer's ist unter den Händen seines Urhebers, durch die Philosophen-Wuth der Verallge30 meinerung, zum Unheil für die WisseI}.schaft ausgeschlagen: denn dieser Wille ist zu einer poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle Dinge in der Natur hätten Willen;
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüche 4-8
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endlich ist er, zum Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem Unfuge, zu einer falschen Verdinglichung gemissbraucht worden - und alle Modephilosophen sagen es nach und scheinen es ganz genau zu wissen, dass alle Dinge Einen Willen hätten, ja dieser Eine Wille wären (was, nach der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen macht, so viel bedeutet als ob man durchaus den d u m m e n Te u f e I zum Gotte haben wolle).
6. 10
W i der die P h a n ta s t e n. - Der Phantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner nur vor Andern.
7· Licht-Feindschaft. - Macht man Jemandem klar, dass er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer 15 nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden reden könne, so entdeckt man gewöhnlich an der unverhohlenen Freude des also Belehrten, wie viellieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit ha s sen. - Liegt es dar10 an, dass sie Alle insgeheim selber Furcht davor haben, dass man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, was sie s i n d? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzuhellen Licht, an welches ihre dämmernden, leichtzublendenden FlederlS maus-Seelen nicht gewöhnt sind, so dass sie es hassen müssen?
8. C h r ist e n - S k e psi s. - Pilatus mit seiner Frage: was ist Wahrheit!, wird jetzt gern als Advocat Christi eingeführt,
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Menschliches, Allzumenschliches II
um alles Erkannte und Erkennbare als Smein zu verdämtigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nicbts-wissen-könnens das Kreuz aufzurimten.
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9· "Naturgesetz" ein Wort des Aberglaubens.Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmässigkeit in der Natur redet, so müsst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sim selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlimen Dinge ihrem Gesetze folgen - in welmem Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert -; oder eum entzückt die Vorstellung eines smaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemamt hat. - Die Nothwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck "Gesetzmässigkeit" menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei. 10.
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Der His tor i e ver fall e n. - Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnsmmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, dass es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer S c h m erz e n wegen, zu verzeihen, dass sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen: die Lehre selbst kann aber dadurm eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren. 1I.
Der Pes s i m ist des I n tell e c t e s. - Der wahrhaft Freie im Geiste wird auch über den Geist selber frei denken
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 8-13
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und sidt einiges Furdttbare in Hinsidtt auf Quelle und Ridttung desselben nidtt verhehlen. Desshalb werden ihn die Andern vielleidtt als den ärgsten Gegner der Freigeisterei bezeidtnen und mit dem Sdtimpf- und Sdtreckwort "Pessimist des Intellectes" belegen: gewohnt, wie sie sind, Jemanden nidtt nadt seiner hervorragenden Stärke und Tugend zu nennen, sondern nadt dem, was ihnen am fremdesten an ihm ist.
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Sc h n a p p s a c k der Met a p h y s i k e r. - Allen Denen, weldte so grossthuerisdt von der Wissensdtaftlidtkeit ihrer Metaphysik reden, soll man gar nidtt antworten; es genügt, sie an dem Bündel zu zupfen, welches sie, einigermaassen sdteu, hinter ihrem Rücken verborgen halten; gelingt es, dasselbe zu lüpfen, so kommen die Resultate jener Wissensdtaftlidtkeit, zu ihrem Erräthen, an's Lidtt: ein kleiner lieber Herrgott, eine artige Unsterblidtkeit, vielleidtt etwas Spiritismus und jedenfalls ein ganzer versdtlungener Haufen von Armen-Sünder-Elend und Pharisäer-Hodtmuth.
13· Gel e gen tl ich e S c h ä d I ich k e i t der E r k e n n tn iss. - Die Nützlichkeit, weldte die unbedingte Erforsdtung des Wahren mit sidt bringt, wird fortwährend so hundertfadt neu bewiesen, dass man die feinere und seltenere Sdtädlichkeit, an der Einzelne ihrethalben zu leiden haben, unbedenklidt mit in 25 den Kauf nehmen muss. Man kann es nidtt verhindern, dass der Chemiker bei seinen Versudten sidt gelegentlich vergiftet und verbrennt. - Was vom Chemiker gilt, gilt von unsrer gesammten Cultur: woraus sidt, nebenbei gesagt, deutlidt ergiebt, wie sehr dieselbe für Heilsalben bei Verbrennungen und für das 30 stete Vorhandensein von Gegengiften zu sorgen hat. %0
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14· Phi I ist er - Not h d u rf t. - Der Philister meint einen Purpurfetzen oder Turban von Metaphysik am nöthigsten zu haben und will ihn durchaus nicht schlüpfen lassen: und doch würde man ihn ohne diesen Putz weniger lächerlich finden.
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15· Die Sc h w ä r m e r. - Mit Allem, was Schwärmer zu Gunsten ihres Evangeliums oder ihres Meisters sagen, vertheidigen sie sich selbst, so sehr sie sich auch als Richter (und nicht als Angeklagte) gebärden, weil sie unwillkürlich und fast in jedem Augenblicke daran erinnert werden, dass sie Ausnahmen sind, die sich legitimiren müssen. 16. Das Gut e v e rf ü h r t zum Leb e n. - Alle guten Dinge sind starke Reizmittel zum Leben, selbst jedes gute Buch, das gegen das Leben geschrieben ist.
17· Glück des Historikers. - "Wenn wir die spitzfindigen Metaphysiker und Hinterweltler reden hören, fühlen 10 wir Anderen freilich, dass wir die "Armen im Geist" sind, aber auch dass unser das Himmelreich des Wechsels, mit Frühling und Herbst, Winter und Sommer, und jener die Hinterwelt ist, mit ihren grauen, frostigen, unendlichen Nebeln und Schatten. ce So sprach Einer zu sich bei einem Gange in der Morgensonne: 15 Einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatze zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht "Eine unsterbliche Seele", sondern vi eie s t erb I ich e See I e n in sidl zu beherbergen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüme 14-21
387
18. D r e i Art e n von Den k ern. - Es giebt strömende, fliessende, tröpfelnde Mineralquellen; und dem entsprechend drei Arten von Denkern. Der Laie schätzt sie nach der Masse des Wassers, der Kenner nach dem Gehalt des Wassers ab, also nach dem, was eben nie h t Wasser in ihnen ist.
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19· Das B i I d des Leb e n s. - Die Aufgabe, das Bild des Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen aus ein e m Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden - und nichts Anderes ist auch nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein "Das" spiegeln.
20.
W a h rh e i t w i I I k ein e G ö t t ern e ben sie h. Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten "Wahrheiten".
10
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21.
W 0 r übe r Sc h w e i gen v e rl a n g t wir d. - Wenn man von der Freigeisterei wie von einer höchst gefährlichen Gletscher- und Eismeer-Wanderung redet, so sind Die, welche jenen Weg nicht gehen wollen, beleidigt als ob man ihnen Zaghaftigkeit und schwache Kniee zum Vorwurf gemacht hätte. Das Schwere, dem wir uns nicht gewachsen fühlen, soll nicht einmal vor uns genannt werden.
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Menschliches, Allzumenschliches 11 22.
His tor i a i n n u c e. - Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: "im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! und Gott (göttlich) war der Unsinn."
23·
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Unh eil bar. - Ein Idealist ist unverbesserlich: wirft man ihn aus seinem Himmel, so macht er sich aus der Hölle ein Ideal zurecht. Man enttäusche ihn und siehe! - er wird die Enttäuschung nicht minder brünstig umarmen als er noch jüngst die Hoffnung umarmt hat. Insofern sein Hang zu den grossen unheilbaren Hängen der menschlichen Natur gehört, kann er tragische Schicksale herbeiführen und später Gegenstand von Tragödien werden: als welche es eben mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren, Unentfliehbaren in Menschenloos und -Charakter zu thun haben.
24· Der Beifall selber als Fortsetzung des Schaus pie I s. - Strahlende Augen und ein wohlwollendes Lächeln ist die Art des Beifalls, welcher der ganzen grossen Welt- und zo Daseinskomödie gezollt wird, - aber zugleich eine Komödie in der Komödie, welche die andern Zuschauer zum "plaudite amici" verführen soll.
25· Mut h zur La n gw eil i g ke i t. - Werden Muth nicht Z5 hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften. - Ein Spötter, der ausnahmsweise auch ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick. auf Welt und Geschichte, hinzufügen:
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 22-26
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"Gott hat diesen Muth nicht; er hat die Dinge insgesammt zu interessant machen wollen und gemacht."
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26. Aus der innersten Erfahrung des Denkers. Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache und k ein e Per s 0 n zu sehen; ja man kann fragen, ob es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen. Verkehrt er doch selbst mit G e dan k e n, und seien es die abstractesten, so, als wären es Individuen, mit denen man kämpfen, an die man sich anschliessen, welche man behüten, pflegen, aufnähren müsse. Belauern und belauschen wir uns nur selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz hören oder finden. Vielleicht missfällt er uns, weil er so trotzig, so selbstherrlich dasteht: unbewusst fragen wir uns, ob wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind zur Seite ordnen, ob wir ihm ein "Vielleicht", ein "Mitunter" anhängen können; selbst das Wörtchen" wahrscheinlich" giebt uns eine Genugthuung, weil es die persönlich lästige Tyrannei des Unbedingten bricht. Wenn dagegen jener neue Satz in milderer Form einherzieht, fein duldsam und demüthig und dem Widerspruche gleichsam in die Arme sinkend, so versuchen wir es mit einer andern Probe unserer Selbstherrlichkeit: wie, können wir diesem schwachen Wesen nicht zu Hülfe kommen, es streicheln und nähren, ihm Kraft und Fülle, ja Wahrheit und selbst Unbedingtheit geben? Ist es möglich, uns elternhaft oder ritterlich oder mitleidig gegen dasselbe zu benehmen? - Dann wieder sehen wir hier ein Urtheil und dort ein Urtheil, entfernt von einander, ohne sich anzusehen, ohne sich auf einander zuzubewegen: da kitzelt uns der Gedanke, ob hier nicht eine Ehe zu stiften, ein Sc h I u s s zu ziehen sei, mit dem Vorgefühle, dass, im Falle sich eine Folge
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Menschliches, Allzumenschliches II
aus diesem Schlusse ergiebt, nicht nur die beiden ehelich verbundenen Urtheile, sondern auch der Ehestifter die Ehre davon habe. Kann man aber weder auf dem Wege des Trotzes und Uebelwollens, noch auf dem des Wohlwollens jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn für w a h r -), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem Führer und Herzoge, giebt ihm einen Ehrenstuhl und spricht nicht ohne Gepränge und Stolz von ihm: denn in sei n e m Glanze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen verdunkeln will; es sei denn, dass er selber uns 10 eines Tages bedenklich wird: dann stossen wir, die unermüdlichen "Königsrnacher" (king-makers) der Geschichte des Geistes, ihn vom Throne und heben flugs seinen Gegner hinauf. Diess erwäge man und denke noch ein Stück weiter: gewiss wird Niemand dann noch von einem "Erkenntnisstriebe an und für 15 sich" reden! - Wesshalb zieht also der Mensch das W a h r e dem Unwahren vor, in diesem he i m 1ich e n Kampfe mit Gedanken-Personen, in dieser meist versteckt bleibenden Gedanken -Ehestiftung, Gedanken -Staaten begründung, GedankenKinderzucht, Gedanken-Armen- und Krankenpflege? Aus dem ~o gleichen Grunde, aus dem er die Ger e c h t i g k e i t im Verkehre mit wirklichen Personen übt: jet z t aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung, urs p r ü n g 1ich, weil das Wahre - wie auch das Billige und Gerechte - n ü t z 1ich e r und ehr e b r i n gen der ist als das Unwahre. Denn im Reiche ~5 des Denkens sind Mac h t und Ruf schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrthum oder der Lüge aufbauen: das Gefühl, dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist dem ü t h i gen d für das Selbstbewusstsein seines Baumeisters; er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, 30 weil er sie h selber wie h t i ger als die übrige Welt nimmt, Nichts thun, was nicht d aue r n der als die übrige Weit wäre. Im Verlangen nach der Wahrheit umarmt er den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit, das heisst: den hochmüthigsten und trotzigsten Gedanken, den es giebt, verschwistert, wie er ist,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 26-27
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mit dem Hintergedanken "pereat mundus, dum ego salvus sim!" Sein Werk ist ihm zu seinem ego geworden, er schaff!: sich selber in's Unvergängliche, Allem Trotzbietende um. Sein unermesslicher Stolz ist es, der nur die besten, härtesten Steine zum Werke verwenden will, Wahrheiten also oder Das, was er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten "das Laster des Wissenden" den Hochmuth genannt, - doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein. Darin dass wir uns vor unsern eigenen Gedanken, Begriffen, Worten für c h t e n, dass wir aber auch in ihnen uns selber ehr e n, ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belohnen, verachten, loben und tadeln zu können, darin dass wir also mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Gleiche mit Gleichen - darin hat das seltsame Phänomen seine Wurzel, welches ich "intellectuales Gewissen" genannt habe. - So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht.
27· 10 Die 0 b s c u r a n t e n. - Das Wesentliche an der schwarzen Kunst des Obscurantismus ist nicht, dass er die Köpfe verdunkeln will, sondern dass er das Bild der Welt anschwärzen, unsere Vor st e 11 u n g vom Das ein ver dun k eIn will. Dazu dient ihm zwar häufig jenes Mittel, die Aufhellung der 15 Geister zu hintertreiben: mitunter aber gebraucht er gerade das entgegengesetzte Mittel und sucht durch die höchste Verfeinerung des Intellects einen U e b erd r u s s an dessen Früchten zu erzeugen. Spitzfindige Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und durch ihren übermässigen Scharfsinn zum Misstrauen 0 3 gegen den Scharfsinn auffordern, sind gute Werkzeuge eines feineren Obscurantismus. - Ist es möglich, dass selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann? ja dass er, nach seiner
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Menschliches, Allzumenschliches II
eigenen berüchtigten Erklärung, etwas Derartiges, wenigstens zeitweilig, ge woll t hat: dem G 1a u ben Bahn machen, dadurch, dass er dem W iss e n seine Schranken wies? - was ihm nun freilich nicht gelungen ist, ihm so wenig, wie seinen Nachfolgern auf den Wolfs- und Fuchsgängen dieses höchst verfeinerten und gefährlichen Obscurantismus, ja des gefährlichsten: denn die schwarze Kunst erscheint hier in einer Lichthülle.
28.
An welcher Art von Philosophie die Kunst 10 ver dir b t. Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene u n dur c h s ich tb a r zu machen, so folgt dann, dass sie auch unter einander u n a b s c h ätz bar sind, weil jedes Einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal mehr mit einIS ander zum Zwecke der Abschätzung verglichen werden, so entsteht zuletzt eine vollständige Unk r i t i k, ein blindes Gewährenlassen; daraus aber wiederum eine stätige Abnahme des Gen u s ses an der Kunst (welcher nur durch ein höchst verschärftes Smmecken und Untersmeiden sim von der rohen Stilzo lung eines Bedürfnisses untersmeidet). Je mehr aber der Genuss abnimmt, um so mehr wandelt sim das Kunst-Verlangen zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der Künstler durm immer gröbere Kost abzuhelfen sucht.
29· zS
Auf Ge t h sem a n e. - Das Smmerzlimste, was der Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet so: "könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir w ach e n ?"
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 27-31
393
3°·
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Am Web s tu h I e. - Den Wenigen, welche eine Freude daran haben, den Knoten der Dinge zu lösen und sein Gewebe aufzutrennen, arbeiten Viele entgegen (zum Beispiel alle Künstler und Frauen), ihn immer wieder neu zu knüpfen und zu verwickeln und so das Begriffene in's Unbegriffene, womöglich Unbegreifliche umzubilden. Was dabei auch sonst herauskomme, - das Gewebte und Verknotete wird immer etwas unreinlich aussehen müssen, weil zu viele Hände daran arbeiten und ziehen.
31 • I n der W ü s ted e r W iss e n s eh a f t. -
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Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man "philosophische Systeme" nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Räthsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe; das Herz schwelgt und der Ermüdete berührt das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und Noth beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie todt. Wieder andere Naturen, welche jene subjectiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl aufs Aeusserste missmuthig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem ein rasender Durst entsteht ohne dass man nur Einen Schritt damit irgend einer Quelle näher gekommen wäre.
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Menschliches, Allzumenschliches II
32 •
Die an ge b I ich e »w i r k 1ich e Wir k I ich k e i t." Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schil5 dert, als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein W i s sen der sei; ja bei der Auseinanderlegung menschlicher Handlungen und Geschircke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Welten netzes zugegen gewesen sei: in so fern ist er ein Betrüger. Und zwar betrügt er vor lauter Nie h t10 W iss end e n und desshalb gelingt es ihm: diese bringen ihm das Lob seines ächten und tiefen Wissens entgegen und verleiten ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die grosse WeltenSpinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger ehrlich und glaubt 15 an seine Wahrhaftigkeit. Ja, die empfindenden Menschen sagen es ihm sogar in's Gesicht, er habe die h ö her e Wahrheit und Wahrhaftigkeit, - sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohlthätige Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was dieser Traum 20 ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr wer t h, weil sie es, wie gesagt, wohlthätiger empfinden: und immer haben die Menschen gemeint, das werthvoller Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter, die sich dieser Macht be w u s S t sind, gehen absichtlich darauf aus, Das, was für gewöhnlich Wirklich%5 keit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unächten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden; sie benützen alle Zweifel über die Gränzen der Erkenntniss, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten: damit dann, nach 30 dieser Umdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur »wahren Wahrheit", zur »wirklichen Wirklichkeit" verstanden werde.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 32-33
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33· Gerecht sein wollen und Richter sein woll e n. - Schopenhauer, dessen grosse Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher ThatsachenSinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muss, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken) - Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte: "die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die phi los 0 phi s c h e n Köpfe von den a n der e n scheidet." Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (n ich t mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: "der letzte und wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns", - was eben durchaus nicht "nothwendig" ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbedingten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den anderen durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen "Gebildet" und "Ungebildet", wie sie jetzt existirt, kaum einen Begriff giebt. Freilich muss noch manche Hinterthür, welche sich die "philosophischen Köpfe", gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: k ein e führt in's Freie, in die Luft des freien Willens; je d e, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums:
396
Menschliches, Allzumenschliches II
wir s i n d im Gefängniss, frei können wir uns nur t r ä u m e n , nicht mac h e n. Dass dieser Erkenntniss nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen Derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. - So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: "also kein Mensch verantwortlich? Und Alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muss doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den Einzelnen, die arme Welle im nothwendigen Wel10 lenspiele des Werdens, anzuklagen und zu richten, nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurtheilt, gebüsst und gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und derMensch sei n E rl öse r: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstver15 urtheilung und Selbstmord; so werde der Missethäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker." - Dieses auf den K 0 P f g e s tell t e C h r ist e n t h u m - was ist es denn sonst? - ist der let z t e Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten 10 Unfreiheit, ein schauerliches Ding, wenn es me h r wäre als eine log i s ehe G r i m ass e, mehr als eine hässliche Gebärde des unterliegenden Gedankens, - etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: "Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt." 15 - Der Irrthum steckt nicht nur im Gefühle "ich bin verantwortlich", sondern eben so in jenem Gegensatze "ich bin es nicht, aber irgend wer muss es doch sein." - Diess ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, "richtet nicht!" und der letzte Unterschied zwischen den philosophi30 schen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten ger e c h t sei n wollen, die andern R ich t e r sein wollen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 33-37
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34· Auf 0 p fe run g. - Ihr meint, das Kennzeichen der moralischen Handlung sei die Aufopferung? - Denkt doch nach, ob nicht bei je der Handlung, die mit Ueberlegung gethan wird, Aufopferung dabei ist, bei der schlechtesten wie bei der besten.
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35· G e gen die Nie ren p r ü f erd e r S i t tl ich k e i t. Man muss das Beste und das Schlechteste kennen, dessen ein Mensch fähig ist, im Vorstellen und Ausführen, um zu beurtheilen, wir stark seine sittliche Natur ist und wurde. Aber jenes zu erfahren ist unmöglich.
36 . S chI a n gen z ahn. - Ob man einen Schlangenzahn habe oder nicht, weiss man nicht eher, als bis Jemand die Ferse auf 15 uns gesetzt hat. Eine Frau oder Mutter würde sagen: bis Jemand die Ferse auf unsern Liebling, unser Kind gesetzt hat. - Unser Charakter wird noch mehr durch den Mangel gewisser Erlebnisse, als durch Das, was man erlebt, bestimmt.
37· Der B e t r u gin der Li e b e. - Man vergisst manches aus seiner Vergangenheit und schlägt es sich absichtlich aus dem Sinn: das heisst, man will, dass unser Bild, welches von der Vergangenheit her uns anstrahlt, uns belüge, unserm Dünkel schmeichele, - wir arbeiten fortwährend an diesem Selbst15 betruge. - Und nun meint ihr, die ihr so viel vom "Sich selbst vergessen in der Liebe", vom "Aufgehen des Ich in der andern Person" redet und rühmt, diess sei etwas wesentlich Anderes? Also man zerbricht den Spiegel, dichtet sich in eine Person hin10
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Menschliches, Allzumenschliches II
ein, die man bewundert, und geniesst nun das neue Bild seines Ich, ob man es schon mit dem Namen der anderen Person nennt, - und dieser ganze Vorgang soll nie h t Selbstbetrug, nie h t Selbstsucht sein, ihr Wunderlichen! - Ich denke, Die, welche etwas von sich vor sie h verhehlen und Die, welche sich als Ganzes vor sich verhehlen, sind darin gleich, dass sie in der Schatzkammer der Erkenntniss einen Die b s t a h 1 verüben: woraus sich ergiebt, vor welchem Vergehen der Satz "erkenne dich selbst" warnt.
10
3 8.
A n den Leu g n e r sei n e r Ei tel k e i t. - Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so brutaler Form, dass er instinctiv vor ihr das Auge schliesst, um sich nicht verachten zu müssen.
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39· Wesshalb die Dummen so oft boshaft werden. - Auf Einwände des Gegners, gegen welche sich unser Kopf zu schwach fühlt, antwortet unser Herz durch Verdächtigung der Motive seiner Einwände.
4°· Die K uns t der m 0 r a 1i s ehe n Aus nah m e n. Einer Kunst, welche die Ausnahmefälle der Moral zeigt und verherrlicht - dort wo das Gute schlecht, das Ungerechte gerecht wird - darf man nur selten Gehör geben: wie man von Zigeu15 nern ab und zu Etwas kauft, doch mit Scheu, dass sie nicht viel mehr entwenden, als der Gewinn beim Kaufe ist.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 37-44
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41.
Gen u s s und Nie h t - Gen u s s von Gift e n. - Das einzige entscheidende Argument, welches zu allen Zeiten die Menschen abgehalten hat, ein Gift zu trinken, ist nicht, dass es tödtete, sondern, dass es schlecht schmeckte.
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10
Die Welt ohne Sündengefühle. - Wenn nur solche Thaten gethan würden, welche kein schlechtes Gewissen erzeugen, so sähe die menschliche Welt immer noch schlecht und schurken haft genug aus: aber nicht so kränklich und erbärmlich wie jetzt. - Es lebten genug Böse 0 h n e Gewissen zu allen Zeiten: und vielen Guten und Braven fehlt das Lustgefühl des guten Gewissens. 43·
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Die G e w iss e n h a f t e n. - Seinem Gewissen folgen ist bequemer, als seinem Verstande: denn es hat bei jedem Misserfolg eine Entschuldigung und Aufheiterung in sich, - darum giebt es immer noch so viele Gewissenhafte gegen so wenig Verständige.
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44·
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Entgegengesetzte Mittel, das Bitterwerden zu ver h ü te n. - Dem einen Temperament ist es von Nutzen, seinen Verdruss in Worten auslassen zu können: im Reden versüsst es sich. Ein anderes Temperament kommt erst durch Aussprechen zu seiner vollen Bitterkeit: ihm ist es räthlicher, Etwas hinunterschlucken zu müssen: der Zwang, den Menschen solcher Art sich vor Feinden oder Vorgesetzten anthun, verbessert ihren Charakter und verhütet, dass er allzu scharf und sauer wird.
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Menschliches, Allzumenschliches II
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Nie h t z u s c h wer n e h m e n. - Sich wund liegen ist unangenehm, aber doch kein Beweis gegen die Güte der eur, nach der man bestimmt wurde, sich zu Bett zu legen. - Menschen, die lange ausser sich lebten und endlich sich dem philosophischen Innen- und Binnenleben zuwandten, wissen, dass es auch ein Sich-wund-liegen von Gemüth und Geist giebt. Diess ist also kein Argument gegen die gewählte Lebensweise im Ganzen, macht aber einige kleine Ausnahmen und scheinbare Rückfälligkeiten nöthig.
46.
Das menschliche "Ding an sich". - Das verwundbarste Ding und doch das unbesiegbarste ist die menschliche Eitelkeit: ja durch die Verwundung wächst seine Kraft und I S kann zuletzt riesengross werden.
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Die Pos s e vi eie rAr bei t sa m e n. - Sie erkämpfen durch ein Uebermaass von Anstrengung sich freie Zeit und wissen nachher Nichts mit ihr anzufangen, als die Stunden abzuzählen, bis sie abgelaufen sind.
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Vi elF r e ud e hab e n. - Wer viel Freude hat, muss ein guter Mensch sein: aber vielleicht ist er nicht der klügste, obwohl er gerade Das erreicht, was der Klügste mit aller seiner Klugheit erstrebt.
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1. Vermischte Meinungen und Sprüche 45-50
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Im S pie gel der Na t u r. - Ist ein Mensm nimt ziemlich genau besmrieben, wenn man hört, dass er gern zwismen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blumenfarben des abglühen4en und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Smöneres hindeuten als der Natur je gelingt, dass er unter grossen fettblätterigen Nussbäumen sim ganz heimism wie unter Bluts-Verwandten fühlt, dass im Gebirge seine grösste Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen smeint, dass er jene graue Ruhe der NebelDämmerung liebt, welme an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heransmleimt und jedes seelenlose Geräusm wie mit Sammt-Vorhängen umsmliesst, dass er unbehauenes Gestein als übriggebliebene, der Sprame begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von Kind an verehrt, und zuletzt, dass ihm das Meer mit seiner beweglimen Schlangen haut und RaubthierSmönheit fremd ist und bleibt? - Ja, E t was von diesem Mensmen ist allerdings damit besmrieben: aber der Spiegel der Natur sagt Nimts darüber, dass der selbe Mensm, bei aller seiner idyllismen Empfindsamkeit (und nimt einmal "trotz ihrer"), ziemlim lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. Horaz, der sim auf dergleimen Dinge verstand, hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römismen W u c her e r in Mund und Seele gelegt, in dem berühmten "beatus ille qui procul negotiis".
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5°· Macht ohne Siege. - Die stärkste Erkenntniss (die von der völligen Unfreiheit des menschlimen Willens) ist dom die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den stärksten Gegner, die mensmlime Eitelkeit.
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Menschliches, Allzumenschliches II
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Lu s tun dIr r t h u m. - Der Eine theilt sich unwillkürlich durch sein Wesen an seine Freunde wohlthätig mit, der Andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Obgleich das Erstere als das Höhere g i I t, so ist doch nur das Zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpA: - nämlich mit der Lust der WerkheiIigkeit, welche auf dem Glauben an der Willkür unseres Gut- und Schlimmthuns, das heisst auf einem Irrthumruht.
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52· E s ist t hör ich t, U n r e c h t z u t h u n. - Eigenes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als fremdes, das Einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt -); der Thäter ist eigentlich imr 5 mer der Leidende, wen n er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, dass er die GesellschaA: gegen sich durch seine Handlung bewaffnet und sich isolirt habe. Desshalb sollte man sich, schon seines inneren Glüdtes wegen, also um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, 20 ganz abgesehen von Allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Thun in Acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren: denn letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der Hoffnung auf Rache, auf Mitleiden und Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem 25 Uebelthäter fürchtet. - Nicht Wenige verstehen sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes eigene Unrecht in ein fremdes, ihnen zugefügtes umzumünzen und für das, was sie selber gethan haben, sich das Ausnahmerecht der Nothwehr zur Entschuldigung vorzubehalten: um auf di~se Weise viel leichter an 30 ihrer Last zu tragen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 51-56
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53· N eid mit 0 der 0 h n eMu n d s t ü c k. - Der gewöhnlime Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete Huhn ein Ei gelegt hat: er erleimtert sim dabei und wird milder. Es giebt aber einen nom tieferen Neid: der wird in solmem Falle todtenstill, und, wünsmend dass jetzt jeder Mund versiegelt würde, immer wüthender darüber, dass diess gerade nimt gesmieht. Der smweigende Neid wächst im Smweigen.
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54· Der 2 0 r n als S p ion. - Der 20rn smöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz an's Limt. Man muss desshalb, wenn man sonst sim nimt Klarheit zu smaffen weiss, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in 20rn zu versetzen wissen, um zu erfahren, was im Grunde Alles wider uns gesmieht und gedamt wird.
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55· Die Vertheidigung moralisch schwieriger als der An g r i f f. - Das wahre Helden- und Meisterstück des guten Mensmen liegt nimt darin, dass er die Same angreift und die Person fortfährt zu lieben, sondern in dem viel smwereren, seine e i gen e Same zu ver t h eid i gen, ohne dass man der angreifenden Person bitteres Herzeleid mame und mamen wolle. Das Smwert des Angriffs ist ehrlim und breit, das der Vertheidigung läuft gewöhnlim in eine Nadel aus.
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56.
Ehrlich gegen die Ehrlichkeit. - Einer, der gegen sim öffentlim ehrlim ist, bildet sich zu allerletzt Etwas auf diese Ehrlimkeit ein: denn er weiss nur zu gut, warum er ehrlim ist, - aus dem selben Grunde, aus dem ein Anderer den 30 Smein und die Verstellung vorzieht.
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
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GI ü he n d e K 0 h I e n. Glühende Kohlen auf des Andern Haupt sammeln wird gewöhnlich missverstanden und schlägt fehl, weil der Andere sich ebenfalls im guten Besitze des Rechts weiss und auch seinerseits an das Kohlensammeln gedacht hat.
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Gefährliche Bücher. - Da sagt Einer "ich merke es an mir selber: dies Buch ist schädlich." Aber er warte nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, dass dieses selbe Buch ihm einen grossen Dienst erwies, indem es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb und in die Sichtbarkeit brachte. - Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Constellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren.
59· 10
1S
Geh e u c hel t e s M i tl eid e n. - Man heuchelt Mitleiden, wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich erhaben z e i gen will: aber gewöhnlich umsonst. Diess bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener feindseligen Empfindung.
60. Offener Widerspruch oft versöhnend. Im Augenblick, wo einer seine Differenz der Lehrmeinung in
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 57-63
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Hinsimt auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer öffentlim zu erkennen giebt, glaubt alle Welt, er müsse ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf, ihm gram zu sein: er wagt es, sim selber neben ihm aufzustellen und ist die QuaI der unausgespromenen Eifersumt los.
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61. Sei n L ich t leu c h t e n s ehe n. - Im verfinsterten Zustande von Trübsal, Krankheit, Versmuldung sehen wir es gern, wenn wir Anderen nom leumten und sie an uns die helle Mondessmeibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit, zu er hell e n, Antheil.
62. Mit f r eu d e. - Die Smlange, die uns stimt, meint uns wehe zu thun und freut sich dabei; das niedrigste Thier kann IS sim fremden Sc h m erz vorstellen. Aber fremde Freude sim vorstellen und sim dabei freuen, ist das hömste Vorremt der höchsten Thiere und wieder unter ihnen nur den ausgesumtesten Exemplaren zugänglim, - also ein seltenes humanum: so dass es Philosophen gegeben hat, welme die Mitfreude ge10 leugnet haben.
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63· N ach t r ä g I ich e S c h w a n ger s c h a f t. Die, welche zu ihren Werken und Thaten gekommen sind, sie wissen nimt wie, gehen gewöhnlim hinterher um so mehr mit ihnen smwanger: wie um namträglim zu beweisen, dass es ihre Kinder und nimt die des Zufalls sind.
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Menschliches, Allzumenschliches II
64· Aus Ei tel k e i t ha r t her z i g. - Wie Gerechtigkeit so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich ungerecht und hart - um den Eindruck der Stärke zu hinterlassen.
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65· Dem ü t h i gun g. Findet Jemand in einem geschenkten Sack Vortheil auch nur ein Korn Demüthigung, so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele. 66. A eu s s e r s t es Her 0 st rat e n t h u m. - Es könnte Herostrate geben, welche den eigenen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden.
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67· Die Deminutiv-Welt. - Der Umstand, dass alles Schwache und Hülfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, dass wir Alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen,also, für unsere Empfindung, schwach und hilfsbedürftig machen.
68. U e b leE i gen s c haft des M i tl eid e n s. Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn 15 weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert muthig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 64-72
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69· Zu d r i n g 1ich k e i t. - Es giebt auch eine Zudringlichkeit gegen Werke; und sich als Jüngling schon nachahmend zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der Vertraulichkeit des Du und Du zu gesellen, beweist einen völligen Mangel an Scham. - Andere sind nur aus Ignoranz zudringlich: sie wissen nicht, mit wem sie es zu thun haben, - so nicht selten junge und alte Philologen im Verhältniss zu den Werken der Griechen.
7°· Der Will e sc h ä m t sie h des In tell e c t e s. Mit aller Kälte machen wir vernünftige Entwürfe gegen unsre Affecte: dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen, weil wir uns häufig im Augenblicke, wo der Vorsatz ausgeführt werden sollte, jener Kälte und Besonnenheit schämen, mit der IS wir ihn fassten. Und so thut man dann gerade das Unvernünftige, aus jener Art trotziger Grossherzigkeit, welche jeder Affect mit sich bringt.
10
10
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71. War u m die S k e p t i k erd e r M 0 r alm iss fall e n. Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den Skeptikern auf dem Gebiete der Moral: denn dort, wo er alle seine Kraft aufwendet, soll man s tau n e n, aber nicht untersuchen und zweifeln. - Dann giebt es Naturen, deren 1 e t z t e r Rest von Moralität eben der Glaube an Moral ist: sie benehmen sich eben so gegen die Skeptiker, womöglich noch leidenschaftlicher.
72 • S c h ü c h t ern h e i t. - Alle Moralisten sind schüchtern, weil sie wissen, dass sie mit Spionirern und Verräthern ver-
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Menschliches, Allzumenschliches II
wechselt werden, sobald man ihren Hang ihnen anmerkt. Sodann sind sie sich überhaupt bewusst, im Handeln unkräftig zu sein: denn mitten im Werke ziehen die Motive ihres Thuns ihre Aufmerksamkeit fast vom Werke ab.
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Eine Gefahr für die allgemeine Moralität.Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergöttlichen und die Wage des moralischen Urtheils eine Zeit lang stillzustellen.
74· Bit t e r s t e r Irr t h u m. - Es beleidigt unversöhnlich, zu entdecken, dass man dort, wo man überzeugt war geliebt zu sein, nur als Hausgeräth und Zimmerschmuck betrachtet wurde, I f an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit auslassen kann.
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75· Liebe und Zweiheit. - Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein Andrer in andrer und entgegengesetzter Weise, als wir, lebt, wirkt und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. - Sogar die Selbstliebe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung.
7 6. 25 Aus dem Traume deuten. - Was man mitunter im Wachen nicht genau weiss und fühlt - ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe - darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 72-81
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77· Aus s c h w e i fun g. - Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.
7 8.
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S t r a f e nun d bel 0 h n e n. - Niemand klagt an, ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben, selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt. - Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben: wir mögen das Eine oder das Andere thun, immer machen wir Jemanden verantwortlich.
79· Z w e i mal u n ger e c h t. - Wir fördern mitunter die Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht im Stande JS sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen und darstellen, doch so, dass wir jedesmal die andere Seite verkennen oder leugnen, im Wahne, Das, was wir sehen, sei die ganze Wahrheit.
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80. M iss t rau e n. - Das Misstrauen an sich selber geht nicht immer unsicher und scheu daher, sondern mitunter wie tollwüthig: es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.
81. Phi los 0 phi e des Par v e n u. - Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren halten.
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Menschliches, Allzumenschliches II
82.
Sie h r ein z u was ehe n ver s t ehe n. - Man muss lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher hervorzugehen und sich, wenn es Noth thut, auch mit schmutzigem Wasser waschen.
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Sich gehen lassen. Je mehr sich Einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn die Andern gehen.
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84· Der uns c h u I d i g e Sc huf t. - Es giebt einen langsamen, schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit jeder Art. Am Ende desselben haben Den, welcher ihn geht, die Insecten-Schwärme des schlechten Gewissens völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht, doch in Unschuld.
85. P I ä n e mac h e n. Pläne machen und Vorsätze fassen bringt viel gute Empfindungen mit sich, und wer die Kraft hätte, sein ganzes Leben lang Nichts als ein Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch: aber er wird sich gelegentlich von dieser Thätigkeit ausruhen müssen, dadurch dass er einen Plan ausführt - und da kommt der Aerger und die Ernüchterung.
86. 25
Womit wir das Ideal sehen. - Jeder tüchtige Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut Theil von Un-
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüdle 82-88
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vollkommenheit, er könnte seiner Tugend halber zu keiner geistig-sittlichen Freiheit kommen. Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.
87· Une h r I ich e s Lob. - Unehrliches Lob macht hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel, wahrscheinlich nur desshalb, weil wir durch zu starkes Loben unsere Urtheilsfähigkeit viel stärker blossgestellt haben, als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln.
88. Wie man s ti r b t, ist g lei c h gült i g. - Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnissgebend für Das, was man seinen Charakter nennt; aber 15 die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Todtenbette ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmässige oder unzureimende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmer10 zes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten würden, - diess Alles e r lau b t es nicht, das Sterben als Zeugniss über den Le15 benden zu benützen. Auch ist es nimt wahr, dass der Sterbende im Allgemeinen ehr I ich e r wäre als der Lebende: vielmehr wird fast Jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltenen oder flies senden Thränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewussten bald unbewussten Komödie der 30 Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behan10
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Mensmlimes, Allzumensmlimes II
delt wird, ist gewiss gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele Entbehrungen gewesen.
89·
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Die Sitte und ihr Opfer. - Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurü
9°· Das Gut e und das gut e G e w iss e n. -
Ihr meint,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 88-91
Ii:)
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alle guten Dinge hätten zu aller Zeit ein gutes Gewissen gehabt? - Die Wissenschaft, also gewisslich etwas sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos' in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen, mit verhülltem oder maskirtem Haupte einherziehend, gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit dem G e f ü h I e einer Schleichhändlerin. Das gute Gewissen hat als Vorstufe das böse Gewissen - nicht als Gegensatz: denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, uns i t t 1ich gewesen und nagte im Herzen des glücklichen Erfinders wie ein Wurm.
9I •
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Je
.11
J:I
Der E rf 0 I g h eil i g t die A b sie h t e n. - Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, dass Nichts als Egoismus - also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm - die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch: gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Maass und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich Das, wozu sie rufen, so ver e dei t die e r r eie h t e Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie athmen lässt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mittheilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handeins, und wir thun die selben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröberen Motiven, welche uns früher dazu führten. - Die Erziehung soll desshalb die Tugenden, so gut es geht, erz w i n gen, je nach der Natur des Zöglings: die Tugend selber, als die Sonnen- und Sommerluft der Seele, mag dann ihr eigenes Werk daran thun und Reife und Süssigkeit hinzuschenken.
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MensdJIidJes, AllzumensdJlidJes II
92 •
C h r ist e n t h ü m 1 er, nie h t C h r ist e n. Das wäre also euer Christenthum! - Um Menschen zu ä r ger n, preist ihr "Gott und seine Heiligen"; und wiederum wenn ihr Menschen p r eis e n wollt, so treibt ihr es so weit, dass Gott und seine Heiligen sich ärgern müssen. - Ich wollte, ihr lerntet wenigstens die christlichen Manieren, da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen Herzens gebricht.
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N a t ure i n d r u c k der F rom m e nun dUn fr 0 mme 11. - Ein ganz frommer Mensch muss uns ein Gegenstand der Verehrung sein: aber ebenso ein ganzer aufrichtiger, durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen der letzteren Art wie in der Nähe des Hochgebirges, wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei den Frommen wie unter safl:vollen, breitschattigen, ruhigen Bäumen.
94·
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Jus t i z m 0 r d e. - Die zwei grössten Justizmorde in der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden Fällen woll t e man sterben; in beiden Fällen liess man sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stossen.
95· 15
"L i e b e". - Der feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort: es redete von L i e b e. So wurde es die 1y r i s ehe Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitenthum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 92-96
S
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in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung Sprechendes, dass auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch Etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnissmässig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesammten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat; und jene Zahllosen, welche Liebe ver m iss e n, von Seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimirten Geschlechtlichkeit, haben im Christenthum ihren Fund gemacht.
9 6• Das e rf ü 11 te C h r ist e n t h u m. - Es giebt auch innerhalb des Christenthums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, dass Gott von dem Menschen, seilS nem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen m ö g I ich sein müsse, dass also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der G lau b e , seine Feinde zu 1 i e ben - selbst wenn es eben nur Glaube, Einbildung und durchaus keine psym chologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist - unbedingt gl ü c k li eh, so lange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das ir dis ehe Leb e n durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruche, seine zs Feinde zu lieben, sondern aUen übrigen christlichen Ansprüchen zu .genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung "seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der That zu einem seI i gen Leb e n werden. Der Irrthum JD kann also die Ver h eis s u n g Christi zur Wahrheit machen.
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Menschliches, Allzumenschliches II
97· Von der Z u k u n ft des C h r ist e n t h ums. Ueber das Verschwinden des Christenthums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermuthung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen G r ü n den und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhiess bekanntlich alles das Selbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit; er 10 verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren, als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christenthume das viel mächtigere religiöse Heidenthum fort, während im Norden das Christenthum einen Gegensatz und 15 Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und desshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben desshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom G e dan k e n aus das Christenthum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwin20 den: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen, - weil dort die S i n n e und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unter25 halten, dass mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirthschaftet werde, als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Musse (oder die halbe Faulheit) für werth, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen 30 eine entchristlichte Welt ein, dass in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Musse zu klein sei; sie nehmen die Partei der Magie, das heisst - sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos. deus laboret!)
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 97-98
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9 8.
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IS
10
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Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungl ä u b i gen. ~ Es giebt kein Buch, welches Das, was jedem Menschen gelegentlich wohl thut - schwärmerische opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen sei n e r "Wahrheit" als der letzten Wahrheit - so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte, als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, Alles als gefunden, Nichts als kommend und ungewiss hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse. - Muss also nicht aus dem seIhen Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes r ein w iss e n s c h a f tl ich e Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurtheilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältniss zu dem, was die Religiösen von ihrem" Wissen", von ihrem "heiligen" Geist verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft "arm im Geiste"? Kann irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich herausziehen als die Wissensdlaft? - - So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu vertheidigen haben: denn es ist kaum möglich, eine Vertheidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muss die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche Jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demuth! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lu s t der Erkenntniss, an den Nut zen des Erkannten geknüpft wäre,
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Mensmlimes, Allzumensmlimes II
was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntniss hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der wissenschaftlichen Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude Solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mässige Unsterblichkeit der Person ist der 10 erreichbare Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die Meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Maasse 1 S u n w iss e n s c h a f t I ich e Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in Allem genommen und rund, glatt und voll ausgesprochen: für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntniss gl eie h g ü I ti g. - Von den Frommen und Gläubigen unter~o scheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins: wir sind mit Wenigerem zufrieden. Aber, werden jene uns zurufen - so seid auch zufrieden, und gebt euch auch als zufrieden! - Worauf wir leicht antworten dürften: "In der That, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten! 25 Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen, als unsere Gründel Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch in's Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu 30 fordern: eure Worte, eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christenthums ihre Wurzel in eurem Unchristenthum; mit eurer Vertheidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 98-99
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ihr aber wünsmen, aus diesem eurem Ungenügen am Christenthum herauszukommen, so bringt eum doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in besmeidene Frageform gekleidet, so klingt: "wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nimt misslungen sein?"
99· Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft.So viel noch überschüssige dimterische Kraft unter den jetzigen 10 Menschen vorhanden ist, welme bei der Gestaltung des Lebens nimt verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft: - und diess 15 nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglimung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem smönen Mensmen10 bilde f 0 r t d ich t e n und jene Fälle auswittern, wo mit t e n in unserer modernen Welt und Wirklimkeit, wo ohne jede künstlime Abwehr und Entziehung von derselben, die smöne grosse Seele nom möglim ist, dort wo sie sim aum jetzt nom in harmonisme, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, 15 durm sie Simtbarkeit, Dauer und Vorbildlimkeit bekommt und also durm Erregung von Namahmung und Neid die Zukunft smaffen hilft. Dimtungen solmer Dimter würden dadurm sim auszeimnen, dass sie gegen die Luft und Gluth der Lei den sc h a f t e n abgeschlossen und verwahrt ersdlienen: der unver30 besserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlimen Saitenspiels, Hohnlamen und Zähneknirsmen und alles Tragische und Komisme im alten gewohnten Sinne, würde in der
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Menschliches, Allzumenschliches II
Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisirende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, weldler dem Fusse Ruhe und Lust giebt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: diess Alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten U n t e r s chi e d e der verkörperten Ideale das eigentliche G e m ä I d e - das der immer wachsenden menschlichen Hoheit - machen würden. - Von Go e t h e aus führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor Allem einer viel grössern Macht als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbthiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen.
10~
Die Mus e als Pe n t h e s i I e a. - "Lieber verwesen als ein Weib sein, das nicht re i z t." Wenn die Muse erst einmal so denkt, so ist das Ende ihrer Kunst wieder in der Nähe. Aber es kann ein Tragödien- und auch ein Komödien-Ausgang sein.
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Was der U m weg zum S c h ö n e n ist. - Wenn das Schöne gleich dem Erfreuenden ist - und so sangen es ja einmal die Musen - so ist das Nützliche der oftmals nothwendige Um weg zum Sc h ö n e n und kann den kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht warten wollen und alles
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 99-105
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Gute ohne Umwege zu erreichen denken. mit gutem Recht zurückweisen.
102.
10
If
ro
Zur E n t s c h u 1d i gun g man ehe r Sc h u I d. - Das unablässige Schaffenwollen und N ach-Aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also sie h sei b e r zu schaffen - es sei denn, dass seine Ehrsucht gross genug ist, um ihn zu zwingen, dass er sich auch im Leben mit Andern der wachsenden Schönheit und Grösse seiner Werke immer entsprechend gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Maass von Kraft: was er davon auf sie h verwendet - wie könnte diess noch seinem Wer k e zu Gute kommen? - Und umgekehrt.
1°3· Den Besten genug thun. - Wenn man mit seiner Kunst "den Besten seiner Zeit genug gethan", so ist diess ein Anzeichen davon, dass man den Besten der nächsten Zeit mit ihr nie h t gen u g t h u n wir d: "gelebt" freilich "hat man für alle Zeiten", - der Beifall der Besten sichert den Ruhm.
IO~
Aus Ein e m S t 0 f f e. - Ist man aus Einem Stoffe mit einem Buche oder Kunstwerk, so meint man ganz innerlich, es müsse vortrefflich sein und ist beleidigt, wenn Andere es hässlich, überwürzt oder grossthuerisch finden.
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S p r ach e und G e f ü h I. -
Dass die Sprache uns nicht
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Menschliches, Allzumenschliches II
zur Mittheilung des G e f ü hIs gegeben ist, sieht man daraus, dass alle einfachen Menschen sich schämen, Worte für ihre tieferen Erregungen zu suchen: die Mittheilung derselben äussert sich nur in Handlungen, und selbst hier giebt es ein Erröthen darüber, wenn der Andere ihre Motive zu errathen scheint. Unter den Dichtern, welchen im Allgemeinen die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die edleren in der Sprache des Gefühls einsilbiger, und lassen einen Zwang merken: während die eigentlichen Gefühls-Dichter im praktischen Leben meistens unverschämt sind.
106.
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Irrthum über eine Entbehrung. - Wer sich nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat, sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne begreifen, wie wen i g man entbehrt, wenn man ohne diese Kunst lebt.
1°7· Dreiviertelskraft. - Ein Werk, das den Eindruck des Gesunden machen soll, darf höchstens mit dreiviertel der Kraft seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist er dagegen bis an seine äusserste Gränze gegangen, so regt das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch seine Spannung. Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.
108.
Den Hunger als Gast abweisen. -
Weil dem
25 Hungrigen die feinere Speise so gut und um Nichts besser als die
gröbste dient, so wird der anspruchsvollere Künstler nicht darauf denken, den Hungrigen zu seiner Mahlzeit einzuladen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 105-111
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109. Ku n s tun d W ein leb e n. - Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es wenn man beide nicht nöthig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt.
ohne
110.
10
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Das Rau b - Gen i e. - Das Raub-Genie in den Künsten, das selbst feine Geister zu täuschen weiss, entsteht, wenn Jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht geradezu vom Gesetz als Eigenthum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet. Nun liegt alles Gute vergangener Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der Wenigen, die es erkennen: diesen Wenigen bietet jenes Genie, Kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichthum auf, der selber wieder Verehrung und Scheu erzeugt.
III.
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A n die Die h t erd erg r 0 s sen S t ä d t e. - Den Gärten der heutigen Poesie merkt man an, dass die grossstädtischen Kloaken zu nahe dabei sind: mitten in den Blüthengeruch mischt sich etwas, das Ekel und Fäulniss verräth. - Mit Schmerz frage ich: habt ihr es so nöthig, ihr Dichter, den Witz und den Schmutz immer zu Gevatter zu bitten, wenn irgend eine unschuldige und schöne Empfindung von euch getauft werden soll? Müsst ihr durchaus eurer edlen Göttin eine Fratzen- und Teufelskappe aufsetzen? Woher aber diese Noth, dieses Müssen? - Eben daher,'dass ihr der Kloake zu nahe wohnt.
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Menschliches, Allzumenschliches II 112.
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Vom S a 1z der Red e. - Niemand hat nodl erklärt. warum die griedlisdlen Sdlriftsteller von den Mitteln des Ausdrucks. weldle ihnen in unerhörter Fülle und Kraft zu Gebote standen. einen so übersparsamen Gebraudl gemadlt haben, dass jedes nadlgriedlisdle Budl dagegen grell. bunt und überspannt ersdleint. - Man hört, dass dem Nordpol-Eise zu ebenso wie in den heissesten Ländern der Gebraudl des Salzes spärlidler werde, dass dagegen die Ebenen- und Küstenanwohner im Erdgürtel der mässigeren Sonnenwärme am reidllidlsten Gebraudl von ihm madlen. Sollten die Griedlen aus doppelten Gründen. weil zwar ihr Intellect kälter und klarer, ihre leidensdlaftlidle Grundnatur aber um Vieles tropisdler war als die unsrige. des Salzes und Gewürzes nidlt in dem Maasse nöthig gehabt haben als wir? 113·
Der f r eie s t e S ehr i f t s tell e r. - Wie dürfte in einem Budle für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt %0 hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Sdlriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleidl mit weldlem alle Andern steif, viersdlrötig, unduldsam und bäurisdl-geradezu ersdleinen. An ihm dürfte nidlt die gesdllossene. klare. sondern die "unendlidle Melodie" gerühmt werden: 25 wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrodlen. versdloben. in das Unbestimmte zurückübersetzt wird. so dass sie das Eine und zugleidl das Andere bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Z w eid e u t i g k e i t • - diess Wort billiger30 weise viel weiter genommen als man gemeinhin thut, wenn man dabei an gesdlledltlidle Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will. was Sterne
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 112-113
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eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf Beides in Einer Faltung seines Gesichtes; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwickelungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen 10 zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, theilt auch seinem Leser Etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens 1$ die Rollen und ist bald ebenso Leser als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublicum vor einem andern Theaterpublicum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben - und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist. - Seltsam und 10 belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sterne's gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig - und das eben ist ächt Sternischer Ueberhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodirt? - man kann es nicht 1$ völlig herausbekommen, - und vielleicht hat gerade diess sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu schämen braucht) u n ger e c h t. Die Franzosen sind eben zum Humor - und namentlich zu diesem 30 humoristisch-Nehmen des Humors selber - zu ernsthaft. Sollte es nöthig sein, hinzuzufügen, dass Sterne unter allen grossen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagniss büssen musste? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen ein-
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10
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Mensmlimes, Allzumensmlimes II
zeIne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegentheil von dem, was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über Das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Ueberschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. - Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbändiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässerigen Auge und dem empfindsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache vor einer solchen Zusammenstellung nidlt ersdlrecken wollte, von einer hartherzigen Gutmüthigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmuth der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine soldle Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch.
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Ge w ä hIt e Wir k li c h k e i t. - Wie der gute Prosaschriftsteller nur Worte nimmt, welche der Umgangssprache angehören, doch lange nicht alle Worte derselben - wodurch eben der gewählte Stil entsteht -, so wird der gute Didlter der Zukunft nur Wir k I ich e s darstellen und von allen phantastisdlen, abergläubisdlen, halbredlidlen, abgeklungenen Gegenständen, an denen frühere Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. Nur Wirklichkeit, aber lange nidlt jede Wirklidlkeit! - sondern eine gewählte Wirklidlkeit!
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 113-118
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II5· Ab art end e r Ku n s t. - Neben den ächten Gattungen der Kunst, der der grossen Ruhe und der der grossen Bewegung, giebt es Abarten, die ruhesüchtige, blasirte Kunst und die aufgeregte Kunst: beide wünschen, dass man ihre Schwäche für ihre Stärke nehme und sie mit den ächten Gattungen verwechsele.
II6. Zum Her 0 s feh I t jet z t die F a r b e. - Die eigentlichen Dichter und Künstler der Gegenwart lieben es, ihre Ge10 mälde auf einen roth, grün, grau und goldig flackernden Grund aufzutragen, auf den Grund der n e r v öse n S i n n li c h k e i t : auf diese verstehen sich ja die Kinder dieses J ahrhunderts. Diess hat den Nachtheil - wenn man nämlich nie h t mit den Augen des Jahrhunderts auf jene Gemälde sieht -, dass 15 die grössten Gestalten, welche Jene hinmalen, etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes an sich zu haben scheinen: so dass man ihnen heroische Thaten eigentlich nicht zutraut, sondern höchstens heroisirende, prahlerische Unthaten.
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1I7· S t i I der U e b e r lad u n g. - Der überladene Stil in der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisirenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln und Absichten. - In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter das gerade Gegenstü
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Menschliches, Allzumensmlimes II
und über das Wirkliche und Alltägliche fortträgt, ä I te rist und reichlicher wächst, als das Schöne in der Kunst und dessen Verehrung - und dass es sofort wieder in Ueberfülle ausschlägt, wenn der Sinn für Schönheit sich verdunkelt. Es scheint für die 5 Mehr- und Ueberzahl der Menschen ein höheres Bedürfniss zu sein als das Schöne: wohl desshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält.
II9· Ursprünge des Geschmacks an KunstwerIO k e n. Denkt man an die anfänglichen Keime des künstlerischen Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so findet man zuerst die Freude, zu ver s t ehe n, was ein Andrer m ein t; die I5 Kunst ist hier eine Art Räthselaufgeben, das dem Errathenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschaffi. - Sodann erinnert man sich beim rohesten Kunstwerk an Das, was Einem in der Erfahrung angenehm war und hat insofern Freude, zum Beispiel wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hoch20 zeit hingedeutet hat. Wiederum kann man sich durch das Dargestellte erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei Verherrlichung von Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuss in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile. Auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es über25 wunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand der Kunst vor dem Zuhörer interessant erscheinen lässt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen Seefahrers beschreibt), kann grosse Freude machen, welche man dann der Kunst zu Gute rechnet. - Feinerer Art ist schon jene Freude, welche beim An30 blick alles Regelmässigen und Symmetrischen, in Linien, Puncten, Rhythmen, entsteht; denn durch eine gewisse Aehnlichkeit wird die Empfindung für alles Geordnete und Regelmässige im
1. Vermisente Meinungen und Sprüene 118-121
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Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden zu danken hat, wachgerufen: im Cultus des Symmetrischen verehrt man also unbewusst die Regel und das Gleichmaass als Quelle seines bisherigen Glücks; diese Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen Uebersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht das noch feinere Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen und Geregelten Genuss liegen könne; wenn es zum Beispiel anreizt. Vernunft in der scheinbaren Unvernunft zu suchen. wodurch es dann. als eine Art ästhetischen Räthselrathens, wie eine höhere Gattung der zuerst erwähnten Kunstfreude dasteht. - Wer dieser Betrachtung weiter nachhängt, wird wissen. auf welche Art von Hypothesen hier zur Erklärung der ästhetischen Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird.
IS
120.
le
Ni c h t zu nah e. - Es ist ein Nachtheil für gute Gedanken, wenn sie zu rasch auf einander folgen; sie verdecken sich gegenseitig die Aussicht. - Deshalb haben die grössten Künstler und Schriftsteller reichlichen Gebrauch vom Mittelmässigen gemacht.
IZI.
Roh h e i tun d Sc h w ä c h e. - Die Künstler aller Zeiten haben die Entdeckung gemacht, dass in der Roh h e i t eine gewisse Kraft liegt und dass nicht Jeder roh sein kann, der es wohl ~s sein möchte; ebenso dass manche Arten von Sc h w ä c h e stark auf das Gefühl wirken. Hieraus sind nicht wenig KunstmittelSurrogate abgeleitet worden, deren sich völlig zu enthalten selbst den grössten und gewissenhaftesten Künstlern schwer wird.
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Menschliches, Allzumenschliches Il 122.
Das gut e G e d ä c h t n iss. - Mancher wird nur desshalb kein Denker, weil sein Gedächtniss zu gut ist.
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12 3. H u n ger mac h e n s tat t H u n ger s t i 11 e n. - Grosse Künstler wähnen, sie hätten durch ihre Kunst eine Seele völlig in Besitz genommen und ausgefüllt: in Wahrheit, und oft zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung, ist jene Seele dadurch nur um so umfänglicher und unausfüllbarer geworden, so dass zehn grössere Künstler sich nun in ihre Tiefe hinabstürzen könnten, ohne sie zu sättigen.
12 4.
K ü n s t I e r - A n g s t. - Die Angst, man möchte ihren Figuren nicht glauben, dass sie 1e ben, kann Künstler des abIS sinkenden Geschma'c:ks verführen, diese so zu bilden, dass sie sich wie toll benehmen: wie andererseits aus der selben Angst griechische Künstler des ersten Aufgangs selbst Sterbenden und Schwerverwundeten jenes Lächeln gaben, welches sie als lebhaftestes Zeichen des Lebens kannten, - unbekümmert darum, ~o was die Natur in solchem Falle des Noch-lebens, des Fast-nichtmehr-lebens bildet.
12 5.
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Der K r eis soll fe r t i g wer den. - Wer einer Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem innern Erlebniss, warum die nachfolgenden Meister und Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muss eben umschrieben werden, - aber der Einzelne,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 122-126
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und sei es der Grösste, sitzt auf seinem Puncte der Peripherie fest, mit einer unerbittlimen Miene der Hartnäckigkeit, als ob der Kreis nie gesmlossen werden dürfe.
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126. Ael tere Kuns t und die Seele der Gegen wart.Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände, der bewegteren, zarteren, drastismeren, leidensmaftlimeren, immer befähigter wird, so empfinden die späteren Meister, durm diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt, ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe, ihre Seele deutlim reden zu lassen, vielleicht gar an einigen temnismen Vorbedingungen; und sie meinen hier nachhelfen zu müssen, - denn sie glauben an die Gleichheit, ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener Meister selber noch eine andere gewesen, g r ö s s e r vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen nom abhold: das Maass, die Symmetrie, die Geringamtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidensmaft, wie als ob an ihr die Kunst zu Grunde gehen werde, - diess mamt die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welme ihre Ausdrucks-Mittel nimt zufällig, sondern nothwendig mit der gleimen Moralität wählten und durchgeisteten. - Soll man aber, bei dieser Erkenntniss, den später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke nach ihrer Seele zu beseelen? Nein, denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben: erst uns e r Blut bringt sie dazu, zu uns zu reden. Der wirklim "historisme" Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden. - Man ehrt die grossen Künstler der Vergangenheit weniger durm jene unfruchtbare Scheu, welche jedes Wort, jede Note so liegen lässt, wie sie gestellt ist, als durch thätige Versume, ihnen immer von Neuem wieder zum Leben zu ver-
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Menschliches, Allzumenschliches II
helfen. - Freilich: dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eines seiner Werke gemäss der modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrs scheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: "Nun! Nun! Das ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas Drittes, - es scheint mir auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Re c h t e ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr's 10 treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst und der Lebende hat Recht, sagt ja unser Schiller. So hab t denn Recht und lasst mich wieder hinab." 12 7.
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Ge gen die Ta dIe r der Kür z e. - Etwas Kurz-Gesagtes kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein: aber der Leser, der auf diesem Felde Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht in allem Kurz-Gesagten etwas Embryonisches, nicht ohne einen tadelnden Wink an den Autor, dass er dergleichen Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf den Tisch setze.
128.
G e gen die Kur z sie h t i gen. - Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken giebt (und geben muss)? 129.
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Sen t e n zen - L e s e r. - Die schlechtesten Leser von Sentenzen sind die Freunde ihres Urhebers, im Fall sie beflissen sind, aus dem Allgemeinen wieder auf das Besondere zurückzurathen, dem die Sentenz ihren Ursprung verdankt: denn durch diese Topfguckerei machen sie die ganze Mühe des Autors zu nichte,
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüche 126-132
433
so dass sie nun verdientermaassen anstatt einer philosophischen Stimmung und Belehrung besten oder schlimmsten Falles Nichts als die Befriedigung der gemeinen Neugierde zum Gewinn erhalten. 13°·
U n arte n des L e s er 5. - Die doppelte Unart des Lesers gegen den Autor besteht darin, das zweite Buch desselben auf Unkosten des ersten zu loben (oder umgekehrt) und dabei zu verlangen, dass der Autor ihm dankbar sei.
10
13 I.
Das Aufregende in der Geschichte der Ku n s t. - Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum Beispiel die der griechischen Beredtsamkeit, 50 geräth man, von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser immer 15 gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neuhinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesammt zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung: man begreift, dass der Bogen brechen mus s und dass die sogenannte unorganische Composition, mit den wundervollsten Mitteln des Ausdrucks überlO hängt und maskirt in jenem Falle der Barockstil des Asianismus - einmal eine Nothwendigkeit und fast eine Wo hit hat war. 132·
A n die G r 0 s sen der Ku n s t. -
Jene Begeisterung
l5 für eine Sache, welche du Grosser in die Welt hineinträgst, lässt
den Verstand Vieler ver k r ü p p eIn. Diess zu wissen demüthigt. Aber der Begeisterte trägt seinen Höcker mit Stolz und Lust: insofern hast du den Trost, dass durch dich das Glück in der Welt ver m ehr t ist.
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
133· Die äst h e t i s c h G e w iss e n los e n. - Die eigenttidten Fanatiker einer künstlerisdten Partei sind jene völlig unkünstlerisdten Naturen, weldte selbst in die Elemente der 5 Kunstlehre und des Kunstkönnens nidtt eingedrungen sind, aber auf das Stärkste von allen eIe m e n t a r i s ehe n Wirkungen einer Kunst ergriffen werden. Für sie giebt es kein ästhetisdtes Gewissen - und daher Nidtts, was sie vom Fanatismus zurückhalten könnte.
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134· Wie nach der neueren Musik sich die Seele be weg e n solL - Die künstlerisdte Absicht, weldte die neue re Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlidt, als "unendlidte Melodie" bezeidtnet wird, kann man sidt 15 dadurdt klar madten, dass man in's Meer geht, allmählidt den sichern Sdtritt auf dem Grunde verliert und sidt endlidt dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll s c h w i m m e n. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlidten oder feierlidten oder feurigen Hin und Wie20 der, Schneller und Langsamer, ta n zen: wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeitund Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Be s 0 n n e n he i t erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des 25 durdtwärmten Athems musikalisdter Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. - Ridtard Wagner wollte eine andere Art B ewe gun g der See 1e, weldte, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist diess das Wesentlichste aller seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunst30 mittel, diesem Wollen entsprungen und angepasst - die "unendliche Melodie" - bestrebt sich alle mathematischen Zeitund Kraft-Ebenmässigkeit zu bredten, mitunter selbst zu ver-
1. Vermiscnte Meinungen und Sprüche 133-136
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höhnen, und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ühre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die KrystalIisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische, und so stellt er dem zweitactigen Rhythmus einen dreitactigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentact ein, wiederholt die seIhe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Namahmung solmer Kunst kann eine grosse Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Ueberreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sim immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrsmte Smauspielerkunst und Gebärdensprame anlehnt, welche in sich kein Maass hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem all z u w e i b 1ich e n Wesen der Musik, auch kein Maass mitzutheilen vermag.
135· 10
Die h t e run d Wir k I ich k e i t. - Die Muse des Dichters, der nicht in die Wirklichkeit ver I i e b t ist, wird eben nimt die Wirklichkeit sein und ihm hohläugige und allzuzartknochichte Kinder gebären.
13 6• 15
Mit tel und Z w eck. - In der Kunst heiligt der Zweck die Mittel nicht: aber heilige Mittel können hier den Zweck heiligen.
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Menschliches, Allzumenschliches II
137·
Die sc h 1e c h t e s t e n L e s e r. - Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze. 13 8.
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M e r k mal e des gut e n S ehr i f t s tell e r s. - Die guten Schriftsteller haben zweierlei gemeinsam: sie ziehen vor, lieber verstanden als angestaunt zu werden; und sie schreiben nicht für die spitzen und überscharfen Leser.
139·
15
Die g e m i s c h t enG a t tun gen. - Die gemischten Gattungen in den Künsten legen Zeugniss über das Misstrauen ab, welches ihre Urheber gegen ihre eigene Kraft empfanden; sie suchten Hülfsmächte, Anwälte, Verstecke, - so der Dichter, der die Philosophie, der Musiker, der das Drama, der Denker, der die Rhetorik zu Hülfe ruft.
14°· 20
M und halt e n. - Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund aufthut. 14 1•
25
A b z eie h end e s R a n g e s. Alle Dichter und Schriftsteller, welche in den Superlativ verliebt sind, wollen mehr als sie können.
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 137-144
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14 2 •
KaI t e B ü ehe r. - Der gute Denker rechnet auf Leser, welche das Glück nachempfinden, das im guten Denken liegt: so dass ein Buch, welches sich kalt und nüchtern ausnimmt, durch die rechten Augen gesehen, vom Sonnenschein der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter Seelentrost erscheinen kann.
143· JO
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Ku n s t g riff der S e h w e rf ä II i gen. - Der schwerfällige Denker wählt gewöhnlich die Geschwätzigkeit oder die Feierlichkeit zur Bundesgenossin: durch die erstere meint er sich Beweglichkeit und leichten Fluss anzueignen, durch die letztere erweckt er den Schein, als ob seine Eigenschaft eine Wirkung des freien Willens, der künstlerischen Absicht sei, zum Zwecke der Würde, welche Langsamkeit der Bewegung fordert.
144·
Vo m Bar 0 e k s t i I e. - Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem 10 R he tor is ehe n und D r am at is ehen greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich ver s t ä n d I i e h zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet, oder unversehens überfällt als Hirt oder als Räuber. Diess gilt auch in den bildenden wie 1S musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit" einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene Gattung des Stiles zu Tage fördert, welche man Bar 0 e k s t i I nennt. Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaassenden werden JO übrigens bei diesem Worte sogleich eine abschätzige Empfin-
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Menschliches, Allzumenschliches II
dung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein NaturEreigniss, dem man wohl mit Schwermuth - weil es der Nacht s voranläuft - zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigenthümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Emp10 findung allzunah sind: dann die Beredtsamkeit der starken Affecte und Gebärden, des Hässlich-Erhabenen, der grossen Massen, überhaupt der Quantität an sich - wie diess sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Grossvater der italiänischen Barockkünstler, ankündigt -: die Dämmerungs-, Verklärungs15 oder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige Ueberströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen: ~o diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Grösse hat, sind in den früheren, vorclassischen und classischen Epochen einer Kunstart nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume. - Gerade jetzt, wo die Mus i k in diese letzte Epoche übergeht, kann man das ~5 Phänomen des Barockstils in einer besonderen Pracht kennen lernen und Vieles durch Vergleichung daraus für frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griedtischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredtsamkeit, im Prosastile, in der Sculptur eben so wohl als bekan"ntermaassen 30 in der Architektur - und jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit, gebricht, auch Vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohl gethan: - wesshalb es, wie gesagt, anmaassend ist, ohne Weiteres ihn abschätzig zu be-
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 144-147
439
urtheilen, so sehr sich Jeder glüddich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und grösseren Stil unempfänglich gemacht wird.
10
145· Werth ehrlicher Bücher. Ehrliche Bücher machen den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Hass und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte Klugheit sonst am besten zu verstecken weiss. Gegen ein Buch aber lässt man sich gehen, wenn man sich auch noch so sehr gegen Menschen zurückhält.
146• Wo dur c h die K uns t Par t e i mac h t. - Einzelne schöne Stellen, ein erregender Gesammt-Verlauf und hinreissende erschütternde Schluss-Stimmungen - so v i e I wird 15 auch den meisten Laien von einem Kunstwerk noch zugänglich sein: und in einer Periode der Kunst, in der man die grosse Masse der Laien auf die Seite der Künstler hin übe r z i ehe n, also eine Partei, vielleicht zur Erhaltung der Kunst überhaupt, machen will, wird der Schaffende gut thun, auch nicht me h r zu geben: 10 damit er nicht zum Verschwender seiner Kraft werde, auf Gebieten, wo Niemand ihm Dank weiss. Das U e b r i g e nämlich zu leisten - die Natur in ihrem 0 r g a n i s c h e n Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen - hiesse in jenem Falle: auf Wasser säen. 147· Zum Schaden der Historie gross werden. Jeder spätere Meister, welcher den Geschmack der Kunst-Geniessenden in sei n e Bahn lenkt, bringt unwillkürlich eine Auswahl und Neu-Abschätzung der älteren Meister und ihrer
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Menschliches, Allzumenschliches II
Werke hervor: das ihm Gemässe und Verwandte, das ihn Vorsdlmeckende und Ankündigende in Jenen gilt von jetzt ab als das eigentlidl Be d eu t end e an Jenen und ihren Werken, - eine Frudlt, in der gewöhnlidl ein grosser Irr t h u mals Wurm verborgen steckt. 14 8.
Wie ein Zei ta 1ter zu r Kunst geködert wird.Man lerne mit Hülfe aller Künstler- und Denker-Zaubereien die Mensdlen an, vor ihren Mängeln, ihrer geistigen Armuth, 10 ihren unsinnigen Verblendungen und Leidenschaften Verehrung zu empfinden - und diess ist möglich -, man zeige vom Verbredlen und vom Wahne nur die erhabene Seite, von der Sdlwädle der Willenlosen und Blind-Ergebenen nur das Rührende und zu-Herzen-Spredlende eines soldlen Zustandes IJ audl diess ist oft genug geschehen -: so hat man das Mittel angewendet, audl einern ganz unkünstlerischen und unphilosophisdlen Zeitalter sdlwärmerisdle Li e b e zu Philosophie und Kunst (namentlich zu den Künstlern und Denkern als Personen) einzuflössen, und, in sdllimmen Umständen, vielleidlt das ein~o zige Mittel, die Existenz so zarter und gefährdeter Gebilde zu wahren. 149·
K r i t i k und F r e u d e. - Kritik, einseItIge und ungerechte ebensogut wie verständige, macht Dem, der sie übt, ~s so viel Vergnügen, dass die Welt jedem Werk, jeder Handlung Dank schuldig ist, weldle viel und Viele zur Kritik auffordert: denn hinter ihr her zieht sich ein blitzender Sdlweif von Freude, Witz, Selbstbewunderung, Stolz, Belehrung, Vorsatz zum Bessermadlen. - Der Gott der Freude sdluf das Sdlledlte und 30 Mittelmässige aus dem gleidlen Grunde, aus dem er das Gute sdluf.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 147-153
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15°· Ueber seine Gränze hinaus. - Wenn ein Künstler mehr sein will als ein Künstler, zum Beispiel der moralische Erwecker seines Volkes, so verliebt er sich zur Strafe zuletzt in ein Ungethüm von moralischem Stoff - und die Muse lacht dazu: denn diese so gutherzige Göttin kann aus Eifersucht auch boshaft werden. Man denke an Milton und Klopstock.
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GI äse r n es Au g e. - Die Richtung des Talentes auf m 0 r a I i s c h e Stoffe, Personen, Motive, auf die schöne Seele des Kunstwerks ist mitunter nur das gläserne Auge, welches der Künstler, dem es an der schönen Seele ge b r ich t, sich einsetzt: mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blikkende Natur, - aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist.
152· Sc h r e i ben und Sie gen woll e n. - Schreiben sollte immer einen Sieg anzeigen, und zwar eine Ueberwindung seine r sei b s t , welche Andern zum Nutzen mitgetheilt werden muss; aber es giebt dyspeptische Autoren, welche gerade nur schreiben, wenn sie Etwas nicht verdauen können, ja wenn diess ihnen schon in den Zähnen hängen geblieben ist: sie suchen unwillkürlich mit ihrem Aerger auch dem Leser Verdruss zu machen und so eine Gewalt über ihn auszuüben, das heisst: auch sie wollen siegen, aber über Andere.
153· "Gut Buch will Weile haben". -
Jedes gute
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Menschliches, Allzumenschliches II
Buch schmeckt herb, wenn es erscheint: es hat den Fehler der Neuheit. Zudem schadet ihm sein lebender Autor, im Fall er bekannt ist und manches von ihm verlautet: denn alle Welt pflegt den Autor und sein Werk zu verwechseln. Was in diesem an Geist, Süsse und Goldglanz ist, muss sich erst mit den Jahren entwickeln, unter der Pflege wachsender, dann alter, zuletzt überlieferter Verehrung. Manche Stunde muss darüber hinlaufen, manche Spinne ihr Netz daran gewoben haben. Gute Leser machen ein Buch immer besser und gute Gegner klären es ab.
154· M aas s los i g k e i tal s Ku n s t mit tel. - Künstler verstehen wohl, was es sagen will: die Maasslosigkeit als Kunstmittel zu benützen, um den Eindruck des Reichthums hervor15 zubringen. Es gehört das zu den unschuldigen Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler verstehen müssen: denn in ihrer Welt, in der es auf Schein abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht nothwendig ächt zu sein.
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155· Der ver s tee k teL eie r k ast e n. - Die Genie's verstehen sich besser als die Talente darauf, den Leierkasten zu verstecken, vermöge ihres umfänglicheren Faltenwurfs: aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre alten sieben Stücke immer wieder spielen.
156. Der N a m e auf dem Ti tel b I a tt. Dass der Name des Autors auf dem Buche steht, ist zwar jetzt Sitte und fast Pflicht; doch ist es eine Hauptursache davon, dass Bücher
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 153-159
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so wenig wirken. Sind sie nämlich gut, so sind sie mehr werth als die Personen, als deren Quintessenzen; sobald aber der Autor sich durch den Titel zu erkennen giebt, wird die Quintessenz wieder von Seiten des Lesers mit dem Persönlichen, ja Persönlichsten diluirt, und somit der Zweck des Buches vereitelt. Es ist der Ehrgeiz des Intellectes, nicht mehr individuell zu erscheinen.
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157· Sc h ä r f s t e K r i t i k. - Man kritisirt einen Menschen, ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.
15 8.
Wenig und ohne Liebe. - Jedes gute Buch ist für einen bestimmten Leser und dessen Art geschrieben und 15 wird eben desshalb von allen übrigen Lesern, der grossen Mehrzahl, ungünstig angesehen: wesshalb sein Ruf auf schmaler Grundlage ruht, und nur langsam aufgebaut werden kann. Das mittelmässige und schlechte Buch ist es eben dadurch, dass es Vielen zu gefallen sucht und gefällt.
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159· Mus i k und K r a n k h e i t. - Die Gefahr in der neuen Musik liegt darin, dass sie uns den Becher des Wonnigen und Grossartigen so hinreissend und mit einem Anschein von sittlicher Ekstase an die Lippen setzt, dass auch der Mässige und 15 Edle immer einige Tropfen zu viel von ihr trinkt. Diese Minimal-Ausschweifung, fortwährend wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschütterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit zu Wege bringen, als irgend ein grober Excess es ver-
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möchte: so dass Nichts übrig bleibt, als eines Tages die Nymphengrotte zu fliehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen.
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Vor t h eil für die Ge g n e r. theilt auch an seine Gegner davon mit.
Ein Buch voller Geist
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J U gen dun d K r i t i k. - Ein Buch kritisiren - das heisst für die Jungen nur: keinen einzigen productiven Gedanken desselben an sich herankommen lassen und sich, mit Händen und Füssen, seiner Haut wehren. Der Jüngling lebt gegen alles Neue, das er nicht in Bausch und Bogen lieben kann, im Stande der Nothwehr und begeht jedesmal dabei, so oft er nur kann, ein überflüssiges Verbrechen.
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Wir k u n g der Qua n t i t ä t. - Die grösste Paradoxie in der Geschichte der Dichtkunst liegt darin, dass in Allem, worin die alten Dichter ihre Grösse haben, Einer ein Barbar, nämlich fehlerhaft und verwachsen vom Wirbel bis zur Zehe, sein kann und dennoch der grösste Dichter bleibt. So steht es ja mit Shakespeare, der, mit Sophokles zusammengehalten, einem Bergwerke voll einer Unermesslichkeit an Gold, Blei und Geröll gleicht, während jener nicht nur Gold, sondern Gold in der edelsten Gestaltung ist, die seinen Werth als Metall fast vergessen macht. Aber die Quantität, in ihren höchsten Steigerungen, wir k t als Qualität - das kommt Shakespeare zu Gute.
1. Vermismte Meinungen und Sprume 159-166
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16 3.
A ll e r A n fan gis t G e f a h r. - Der Dichter hat die Wahl, entweder das Gefühl von einer Stufe zur andern zu heben und es so zuletzt sehr hoch zu steigern - oder es mit einem Ueberfalle zu versuchen und gleich von Beginn an mit aller Gewalt am Glockenstrang zu ziehen. Beides hat seine Gefahren: im ersten Falle läuft ihm vielleicht sein Zuhörer vor Langerweile, im zweiten vor Schrecken davon.
16 4. 10
ZuG u n st end e r K r i ti k er. - Die Insecten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unsern Schmerz.
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E rf 0 I g von Sen t e n zen. Die Unerfahrenen meinen immer, wenn ihnen eine Sentenz sofort durch ihre schlichte Wahrheit einleuchtet, sie sei alt und bekannt, und bIikken dabei scheel auf den Urheber, als habe er das Gemeingut Aller stehlen wollen: während sie an gewürzten Halbwahrheiten Freude haben, und diess dem Autor zu erkennen geben. Dieser weiss einen solchen Wink zu würdigen und erräth daraus leicht, wo es ihm gelungen und wo misslungen ist.
166.
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Sie gen woll e n. - Ein Künstler, der in Allem, was er unternimmt, über seine Kräfte hinausgeht, wird doch zuletzt, durch das Schauspiel des gewaltigen Ringens, das er gewährt, die Menge mit sich fortreissen: denn der Erfolg ist nicht immer nur beim Siege, sondern mitunter schon beim Siegen-wollen.
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167.
Si bis c r i b e r e. - Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst, für sein Alter, um auch dann nodt an sidt Freude haben zu können. 168.
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Lob der Sen t e n z. - Eine gute Sentenz ist zu hart für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient: dadurch ist sie das grosse Paradoxon in der Litteratur, das Unvergänglidte inmitten des Wedtselnden, die Speise, weldte immer geschätzt bleibt, wie das Salz, und niemals, wie selbst dieses, dumm wird. 169.
K uns t b e d ü rf n iss z w e i t e n R a n g e s. - Das Volk hat wohl Etwas von dem, was man Kunstbedürfniss nennen darf, J S aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen. Im Grunde genügt hierfür der Abfall der Kunst: das soll man ehrlidt sich eingestehen. Man erwäge dodt nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten Sdtidtten der Bevölkerung ihre redtte Herzensfreude 20 haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern, Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sidt die Antwort. Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern, weldte der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene allersdtledtteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt jetzt hervorgebracht wird? Wer 25 von tieferem Bedürfnisse, VOn unausgefülltem Begehren nadt Kunst in Beziehung auf das Volk, wie es ist, redet, der faselt oder schwindelt. Seid ehrlich! - Nur bei Aus nah m e Menschen giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in hohem Stile, - weil die Kunst überhaupt wieder einmal im Rückgange ist und 30 die mensdtlidten Kräfte und Hoffnungen sich für eine Zeit auf
1. Vermischte Meinungen und Spruche 167-169
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andre Dinge geworfen haben. - Ausserdern, nämlich abseits vom Volke, besteht freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfniss, aber z w e i t e n Ra n g es, in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft: hier ist Etwas wie eine künstlerische Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber man sehe sich diese Elemente an! Es sind im Allgemeinen die feineren Unzufriedenen, die an sich zu keiner rechten Freude kommen: der Gebildete, der nicht frei genug geworden ist, um der Tröstungen der Religion entrathen zu können und doch 10 ihre Oele nicht wohlriechend genug findet: der Halbedie, der zu schwach ist, den einen Grundfehler seines Lebens oder den schädlichen Hang seines Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder Verzichtleisten: der Reichbegabte, der zu vornehm von sich denkt, um durch bescheidene Thätigkeit zu 15 nützen, und zu träge zur grossen und aufopfernden Arbeit ist: das Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von Pflichten zu schaffen weiss: die Frau, die durch eine leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht genug gebunden weiss: der Gelehrte, Arzt, Kaufmann, Beamte, der zu zeitig in das Ein20 zeIne eingekehrt, und seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat, dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin tüchtige Arbeit thut: endlich alle unvollständigen Künstler - diess sind jet z t die noch wahrhaften Kunstbedürftigen! Und was begehren sie eigentlich von der Kunst? Sie soll 25 ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des WeltenSchi
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17°· Die D e u t s ehe n im T he a t e r. - Das eigentliche Theatertalent der Deutschen war Kotzebue; er und seine Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren Gesellschaft, s gehörten nothwendig zusammen, und die Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen: "in ihm leben, weben und sind wir". Hier war nichts Erzwungenes, Angebildetes, Halb- und Angeniessendes: was er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist der e h rl ich e Theater-Erfolg auf deutschen 10 Bühnen im Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer Mittel und Wirkungen, namentlich so weit das Lustspiel noch in einiger Blüthe steht; woraus sich ergiebt, dass viel von dem damaligen Deutschthum, zumal abseits von der grossen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmüthig, in kleinen GelS nüssen unenthaltsam, thränenlüstern, mit dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das Gute und das Mitleid verwechselnd und in Eins zusammenwerfend - wie es das Wesentliche der deut.10 schen Sentimentalität ist -, überglücklich bei einer schönen, grossmüthigen Handlung, im Uebrigen unterwürfig nach Oben, neidisch gegen einander, und doch im Innersten sich selbst genügend - so waren sie, so war er. - Das zweite Theatertalent war Schiller: dieser entdeckte eine Classe von Zuhörern, welche .15 bis dahin nicht in Betracht gekommen waren; er fand sie in den unreifen Lebensaltern, im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren, edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen, ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in den dreissiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt) kam 30 er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich dadurch, gemäss der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht jener AlterscIasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf die reiferen Lebensalter mit Vortheil einwirkte: Schiller hat im Allgemeinen die Deutschen ver j ü n g t. - Goethe stand über den Deutschen
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in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören. Wie könnte auch je ein Volk der Goethischen Gei s t i g k e i t in Wo h 1- Sei nun d Wo h 1- Woll e n gewachsen sein! Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophine, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen weg. Ihm folgte eine s ehr k 1ein e Schar Höchstgebildeter, durch Alterthum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen hinaus Gewachsener: - er selber wollte 10 es nicht anders. Als dann die Romantiker ihren zweckbewussten Goethe-Cultus aufrichteten, als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme 15 der deutschen Dichter zu Gute kam und der eigentliche Maassstab des Volkes, ob es sich ehr I ich an Etwas fr eu e n könne, unerbittlich dem Unheile der Einzelnen und jenem nationalen Ehrgeiz untergeordnet wurde - das heisst, als man anfing sich freuen zu m ü s sen - da entstand jene Verlogenheit und Un10 ächtheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebue's schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethe's Faust-Fortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiss, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist. - Selig sind Die, 15 welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist! - Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: wesshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Man n des G e s c h mac k s bedeutet, 30 und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu "Geschmack" (Sophia) benannten.
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Die Musik als Spätling jeder Cultur. - Die Musik kommt von allen Künsten, wehhe auf einem bestimmten Culturboden, unter bestimmten socialen und politischen s Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die let z t e aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörenden Cultur: während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines ver10 sunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang: ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber ächt- und ebenbürtige Schwester der Gothik. Erst in Händel's Musik erIS klang das Beste von Luther's und seiner Verwandten Seele, der grosse jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze ReformationsBewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine's und Claude Lorrain's in k I i n gen dem Golde heraus. Erst in Beethoven's und Ros:10 sini's Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang. - Die Musik ist eben nie h t eine allgemeine, über:1$ zeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrina's würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, 30 und wiederum - was würde Palestrina bei der Musik Rossini's hören? - Vielleicht, dass auch unsere neu este deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene
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Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Kat hol i cis mus des G e f ü his wie die Lust an allem h e i m i s c h - n a t ion ale n Wes e nun dUr wes e n zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner's Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden - welche eigentlich souveräne Raubthiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Grossherzigkeit und Lebensüberdruss -, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Gei s t sei n e r Mus i k aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den all e r let z te n Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. - Ist es aber nicht ersichtlich, dass die hier - bei Wagner selbst und seinem Anhange - noch zurückgedrängt erscheinenden Gedankenund Empfindungskreise längst von Neuem wieder Gewalt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören? so dass eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten. - Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaction innerhalb der Reaction, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der
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gesammten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlitnen Glorie verhelfen, 5 - ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, dass sie "Zukunft habe", oder gar, dass sie die Zu ku n f t habe. - Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen CulturJahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem 10 Baume der Erkenntniss gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich G e dan k e n das Dauerhafteste und Haltbarste.
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Die Dichter keine Lehrer mehr. - So fremd es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzükkungen hinaus war und desshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatte. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Ent20 fesseler des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene - Willens-Bändiger, Thier-Verwandler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der Jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. - Die älteren 25 Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man diess von ihm verlangte - er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selber kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam 30 der scheue, anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen, Giftkräutern ruinenhaft überwac:hsen, von Schlangen, Gewürm, 15
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Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht, - ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber, warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine, ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins, emporwachsen muss? -
173· Vor - und R ü c k b I i c k. - Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe auss t r ö m t , als U e b e r s c h u s s einer weisen und harmonischen Lebensführung - das ist das Rechte, nach dem wir endlich 10 greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind, nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzüdtende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber aus sich IS selber, dass für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Ueberspannung, der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache, Logische ein nothwendiges Bedürfniss ist, welchem Künstler entsprechen m ü s sen, damit die Seele soldter Lebenszeiten sidt nidtt auf anderm Wege, durch allerlei 10 Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge, wie sie meistens sind, voll, gährend, von Nichts m ehr als von der Langenweile gepeinigt, - so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung: um so heftiger noch entflammt sidt ihre Sehnsucht 1S nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glüdt ohne Betäubung und Rausch.
174· G e gen die Ku n s t der Ku n s t wer k e. - Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben ver s c h ö n ern, also 30 uns selber den Andern erträglich, womöglich angenehm
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machen: mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche ver b erg e n oder um d e u t e n , jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das Be d e u t end e durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, die der Ku n s t wer k e, nur ein A n h ä n g seI: ein Mensch, der einen Ueberschuss von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in Kunstwerken dieses Ueberschusses zu entladen suchen; ebenso, unter besondern Umständen, ein ganzes Volk. - Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst der Kunstwerke sei das Eigentliche, von ihr aus solle das Leben verbessert und umgewandelt werden - wir Thoren! Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und Süssigkeiten über Süssigkeiten kosten, was Wunders, wenn wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute, kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst einladet, verderben!
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F 0 r t b e s t ehe n der Ku n s t. - Wodurch besteht jetzt im Grunde eine Kunst der Kunstwerke fort? Dadurch dass die Meisten, welche Musse-Stunden haben, - und nur für Diese giebt es ja eine solche Kunst - nicht glauben ohne Musik, Theater- und Gallerien-Besuch, ohne Roman- und GedichteLesen mit ihrer Zeit fertig zu werden. Gesetzt, man könnte sie
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von dieser Befriedigung ab haI t e n, so würden sie entweder nidlt so eifrig nach Musse streben, und der neiderregende Anblick der Reichen würde sei t e n e r - ein grosser Gewinn für den Bestand der Gesellschaft; oder sie hätten Musse, lernten aber n ach den k e n - was man lernen und verlernen kann über ihre Arbeit zum Beispiel, ihre Verbindungen, über Freuden, die sie erweisen könnten; alle Welt, mit Ausnahme der Künstler, hätte in beiden Fällen den Vortheil davon. - Es giebt gewiss manchen kraft- und sinnvollen Leser, der hier einen guten Einwand zu machen versteht. Der Plumpen und Böswilligen halber soll es doch einmal gesagt werden, dass es hier, wie so oft in diesem Buche, dem Autor eben auf den Einwand ankommt, und dass Manches in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht.
176 . Das M und s t ü c k der G ö t t e r. - Der Dichter spricht die allgemeinen höheren Meinungen aus, welche ein Volk hat; er ist deren Mundstück und Flöte, - aber er spricht sie, vermöge des Metrums und aller anderen künstlerischen Mittel so aus, dass das Volk sie wie etwas ganz Neues und Wunderhaftes nimmt, und es vom Dichter allen Ernstes glaubt, er sei das Mundstück der Götter. Ja, in der Umwölkung des Schaffens, vergisst der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat - von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass ein G 0 t t durm ihn rede, dass er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe -: während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Thorheit miteinander. Also: insofern der Dichter wirklim vox populi ist, gi I t er als vox dei.
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Was alle K uns t will und nie h t k an n. - Die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers ist die Darstellung des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen, vom Einzelreiz weit Absehenden; desshalb werden die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit von den schwächeren Künstlern selbst als unkünstlerische Vorwürfe abgelehnt und in Verruf gebracht, weil ihrem Ehrgeize der Anblick dieser Früchte gar zu peinlich ist: sie glänzen ihnen aus den äussersten Aesten der Kunst entgegen, aber es fehlt ihnen Leiter, Muth und Handgriff, um sich so hoch wagen zu dürfen. An sich ist ein Phidias als Die h t e r recht wohl möglich, aber, in Anbetracht der modernen Kraft, fast nur im Sinne des Wortes, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Schon der Wunsch nach einem dichterischen Claude Lorrain ist ja gegenwärtig eine Unbescheidenheit, so sehr Einen das Herz darnach verlangen heisst. - Der Darstellung des let z t e n Menschen, das h eis s t des einfa c h s t e nun d zug lei c h v 011 s t e n , war bis jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben die Griechen, im I d e a I der A t h e n e, am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen. 17 8.
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Ku n s tun d Res tau r a ti 0 n. - Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurations-Zeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und denen eine kurze Todten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz gemüthvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem, hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung finden gerade in solchen flümtigen, fast traumhaften Zeiten Kunst und Dimtung einen natürlichen
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Boden, wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. - So treibt es manchen guten Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkweise in Politik und Gesellschaft, für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen zurecht macht: wo er dann die menschlichen Ueberreste jener ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Todten, Halbtodten und Sterbensmüden sein Saitenspiel ertönen lässt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge einer kurzen Todten-Erweckung.
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G I ü c k der Z e i t. - In zwei Beziehungen ist unsre Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Ver g a n gen he i t geniessen wir alle Culturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch IS dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoosse jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Culturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölblO ten Glocke überspannt waren: aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurch drang. In Hinsicht auf die Zu k u n f t erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlichökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. lS Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls giebt es Niemanden, dem wir Rechen30 schaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. - Es giebt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welme aus dem Kelche aller Dinge
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immer nur das Bitterste und Aergerlichste zu saugen verstehen; - und in der That, alle Dinge enthalten Etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Missbehagens weiter bauen.
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Ein e Vi s ion. - Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte, von Jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde: ein neueres und volleres Auf- und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als GesammtTugend auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müssten, - diess ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, dass sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat. 18 x. Erz i e h u n g Ver d reh u n g. - Die ausserordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens, auf Grund deren jetzt jeder Erwachsene das Gefühl bekommt, sein einziger Erzieher sei der Zufall gewesen, - das Windfahnenhafte der erzieherischen Methoden und Absichten erklärt sich daraus, dass jetzt die ä 1t e s t e n und die neu e s t e n Culturmächte wie in einer wilden Volksversammlung mehr gehört als verstanden werden wollen und um jeden Preis durch ihre Stimm~, ihr Geschrei beweisen wollen, dass sie noch existiren oder dass sie schon ex ist ire n. Die armen Lehrer und Erzieher sind bei diesem
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 179-183
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widersinnigen Lärm erst betäubt, dann still und endlich stumpf geworden und lassen Alles über sich ergehen, wie sie nun wieder auch Alles über ihre Zöglinge ergehen lassen. Sie selbst sind nicht erzogen: wie sollten sie erziehen? Sie selbst sind keine gerad gewachsenen kräftigen, saftvollen Stämme: wer sich an sie anschliessen will, wird sich winden und krümmen müssen, und zuletzt verdreht und verwachsen erscheinen.
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Phi los 0 p h e nun d K ü n s tl erd erZ e i t. - Wüstheit und Kaltsinn, Brand der Begierden, Abkühlung des Herzens, - diess widerliche Nebeneinander findet sich im Bilde der höheren europäischen Gesellschaft der Gegenwart. Da glaubt der Künstler schon viel zu erreichen, wenn er durch seine Kunst n e ben dem Brande der Begierde auch einmal den Brand des Herzens aufflammen macht: und ebenso der Philosoph, wenn er bei der Kühle des Herzens, die er mit seiner Zeit gemein hat, auch die Hitze der Begierde durch sein weltverneinendes Urtheilen in sich und jener Gesellschaft abkühlt.
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Nie h t 0 h n e Not h Sol d a t der Cu I t urs ein. Endlich, endlich lernt man, was nicht zu wissen Einem in jüngeren Jahren so viel Einbusse macht: dass man zuerst das Vortreffliche t h u n, zuzweit das Vortreffliche auf s u ehe n müsse, wo und unter welchem Namen es auch zu finden sei: dass man dagegen allem Schlechten und Mittelmässigen sofort aus dem Wege gehe, 0 h n e es zu b e k ä m p fe n, und dass schon der Zweifel an der Güte einer Sache - wie er bei geübterem Geschmacke schnell entsteht - uns als Argument gegen sie und .lls Anlass, ihr völlig auszuweichen, gelten dürfe: auf die Gefahr hin, einige Male dabei zu irren und das schwerer zugängliche
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Menschliches, AIIzumenschliches II
Gute mit dem Schlechten und Unvollkommenen zu verwechseln. Nur wer nichts Besseres kann, soll den Schlechtigkeiten der Welt zu Leibe gehen, als der Soldat der Cultur. Aber der Nährund Lehrstand derselben richtet sich zu Grunde, wenn er in Waffen einhergehen will und den Frieden seines Berufs und Hauses durch Vorsorge, Nachtwachen und böse Träume in unheimliche Friedlosigkeit umkehrt.
184· Wie Na tu r g es chi c h t e zu erz ä h I e n ist. - Die 10 Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegsgeschichte der sittlichgeistigen Krafi im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass Jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüthe, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des 15 Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfniss unaufhaltsam fortgerissen würde. Bis jetzt hat sie ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfinderischen und beredten Künstler - denn deren bedarf es hiezu - gegen sie ein verstocktes Misstrauen nicht los 20 werden und vor Allem nicht gründlich von ihr lernen wollen. Immerhin ist den Engländern zuzugestehen, dass sie in ihren naturwissenschaftlichen Lehrbüchern für die niederen Volksschichten bewunderungswürdige Schritte nach jenem Ideale hin gemacht haben: dafür werden diese auch von ihren ausgezeich25 netsten Gelehrten - ganzen, vollen und füllenden Naturengemacht, nicht, wie bei uns, von den Mittelmässigkeiten der Forschung.
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18 5. Genialität der Menschheit. - Wenn Genialität, nach Schopenhauer's Beobachtung, in der zusammenhängenden
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 183-186
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und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Gewordenseins - welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat - ein Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein.
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186. Cultus der Cultur. - Grossen Geistern ist das abschreckende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten, Verkennungen, Maasslosigkeiten beigegeben, damit ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluss fortwährend durch das Misstrauen, welches jene Eigenschaften einflössen, in Schranken gehalten werde. Denn das System alles Dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nöthig hat, ist so umfassend und nimmt so verschiedenartige und zahlreiche Kräfte in Anspruch, dass für jede ein sei t i g e Bevorzugung, sei es der Wissenschaft oder des Staates oder der Kunst oder des Handels, wozu jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte Busse zahlen muss. Es ist immer das grösste Verhängniss der Cultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden: in welchem Sinne man sogar mit dem Spruche des mosaischen Gesetzes zusammen fühlen darf, welcher verbietet, neben Gott andere Götter zu haben. - Dem Cultus des Genius' und der Gewalt muss man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren, eine verständnissvolle Würdigung und das Zugeständniss, das s die s s Alle s n Ö t h i g sei, zu schenken weiss; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menchlichen, durch
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht, und eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie's, soll nimt wieder verloren gehen: wie dürften wir da des gemeinsamen, tiefen, oft unheimlimen Grundbasses entrathen können, ohne den ja Melodie nimt Melodie zu sein vermag?
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187. Die alt eWe 1tun d die F r e u d e. - Die Mensmen der alten Welt wussten sim besser zu fr e u e n: wir, uns wen i ge r zu be t rü ben; jene machten immerfort neue Anlässe, sim wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfindig, mit allem ihrem Reimthum von Smarfsinn und Namdenken: während wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Smmerzlosigkeit, die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In Betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung in's Angenehme irgendwie umzubiegen: so dass sie hierin palliativism zu helfen sumten, während wir den Ursamen des Leidens zu Leibe gehen und im Ganzen lieber prophylaktism wirken. - Vielleimt bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Mensmen aum wieder den Tempel der Freude errichten.
188. Die Mus e n als Lüg n e r i n n e n. - "Wir verstehen uns darauf, viele Lügen zu sagen" - so sangen einstmals die Musen als sie sich vor Hesiod offenbarten. - Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst.
18 9.
Wie par a d 0 x H
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m e r sei n k a n n. - Giebt es etwas
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 186-192
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Verwegeneres, Schauerlicheres, Unglaublicheres, das über Menschenschicksal, gleich der Wintersonne, so hinleuchtet, wie jener Gedanke, der sich bei Homer findet: Das ja fügte der Götter Beschluss und verhängte J den Menschen U n t erg a n g, das ses w ä r' ein G e san gau c h s p ä t enG e s chi e c h t ern. Also: wir leiden und gehen zu Grunde, damit es den Dichtern nicht an S t 0 f f fehle - und diess ordnen gerade so die • Götter Homer's an, welchen an der Lustbarkeit der kommenden Geschlechter sehr viel gelegen scheint, aber allzuwenig an uns, den Gegenwärtigen. - Dass je solche Gedanken in den Kopf eines Griechen gekommen sind!
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Na eh t r ä g I ich e Re c h tf e r t i gun g des Das ein s. Manche Gedanken sind als Irrthümer und Phantasmen in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden, weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches Substrat untergeschoben haben.
-
Pro und Co n t r a n ö t h i g. - Wer nicht begriffen hat, dass jeder gros se Mann nicht nur gefördert, sondern auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, be k ä m p f t werden muss, ist gewiss noch ein grosses Kind - oder selber ein grosser Mann.
U n ger e c h t i g k e i t des Gen i e ' s. -
Das Genie ist
am ungerechtesten gegen die Genie's, falls sie seine Zeitgenossen
sind: einmal glaubt es sie nicht nöthig zu haben und hält sie desshalb überhaupt für überflüssig, denn es ist ohne sie, was es
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Menschliches, Allzumenschliches II
ist; sodann kreuzt ihr Einfluss die Wirkung sei n e s elektrischen Stromes: wesshalb es sie sogar sc h ä d I ich nennt.
S
193· S chi i m m s t e s S chi c k s ale i n e s Pro p h e te n. Er arbeitete zwanzig Jahre daran, seine Zeitgenossen von sich zu überzeugen, - es gelingt ihm endlich; aber inzwischen war es seinen Gegnern auch gelungen: er war nicht mehr von sich überzeugt.
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194· D r eiD e n k erg lei ehe i n e r S p i n n e. - In jeder philosophischen Secte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse auf einander: der Erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der Zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches Netz, der Dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen - und sucht von der Philosophie zu leben.
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195· Aus dem Ver k ehr mit Au tor e n. - Es ist eine ebenso schlechte Manier, mit einem Autor umzugehen, wenn man ihn an der Nase fasst, wie wenn man ihn an seinem Horne fasst - und jeder Autor hat sein Horn.
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196. Z w e i g e s pan n. - Unklarheit des Denkens und Gefühlsschwärmerei sind ebenso häufig mit dem rücksichtslosen Willen, sich selber mit allen Mitteln durchzusetzen, sich allein gelten zu lassen, verbunden, wie herzhaftes Helfen, Gönnen und Wohlwollen mit dem Triebe nach Helle und Reinlichkeit des Denkens, nach Mässigung und Ansichhalten des Gefühls.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 192-200
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197· Das Bin den d e und das T ren n end e. - Liegt nicht im Kopfe Das, was die Menschen verbindet - das Verständniss für gemeinsamen Nutzen und Nachtheil- und im Herzen Das, was sie trennt - das blinde Auswählen und Zutappen in Liebe und Hass, die Hinwendung zu Einem auf Unkosten Aller und die daraus entspringende Verachtung des allgemeinen Nutzens?
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19 8. Sc h ü t zen und Den k e r. - Es giebt curiose Schützen, welche zwar das Ziel verfehlen, aber mit dem heimlichen Stolz vom Schiessstande abtreten, dass ihre Kugel jedenfalls sehr weit (allerdings über das Ziel hinaus) geflogen ist, oder dass sie zwar nicht das Ziel, aber etwas Anderes getroffen haben. Und eben solche Denker giebt es.
199· Von z w eiS e i t e n aus. - Man feindet eine geistige Richtung und Bewegung an, wenn man ihr überlegen ist und ihr Ziel missbilligt, oder wenn ihr Ziel zu hoch und unserem Auge unerkennbar, also wenn sie uns überlegen ist. So kann die selbe ~o Partei von zwei Seiten aus, von Oben und von Unten her, bekämpft werden; und nicht selten schliessen die Angreifenden aus gemeinsamem Hass ein Bündniss mit einander, das widerlicher ist, als Alles, was sie hassen.
~oo.
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0 r i gin a1. - Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast - der Zufall.
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Menschliches, Allzumenschlimes 11 201.
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Irr t h u m der Phi los 0 p he n. - Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und d 0 c h n 0 c hals Material Werth hat.
202.
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W i t z. Gefühls.
Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines
20 3.
I mAu gen b 1i c k e vor der Lös u n g. - In der Wissenschaft kommt es alle Tage und Stunden vor, dass Einer unmittelbar vor der Lösung stehen bleibt, überzeugt, jetzt sei sein 15 Bemühen völlig umsonst gewesen, - gleich Einem der, eine Schleife aufziehend, im Augenblrcke, wo sie der Lösung am nächsten ist, zögert: denn da gerade sieht sie einem Knoten am ähnlichsten.
20 4. 10
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U n t erd i e Sc h w ä r m erg ehe n. - Der besonnene und seines Verstandes sichere Mensch kann mit Gewinnst ein Jahrzehend unter die Phantasten gehen und sich in dieser heissen Zone einer bescheidenen Tollheit überlassen. Damit hat er ein gutes Stück Wegs gemacht, um zuletzt zu jenem Kosmopolitismus des Geistes zu gelangen, welcher ohne Anmaassung sagen darf: "nichts Geistiges ist mir mehr fremd".
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 201-207
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20S·
S c h a r f e Lu f t. - Das Beste und Gesündeste in der Wissenschaft wie im Gebirge ist die scharfe Luft, die in ihnen weht. - Die Geistig-Weichlichen (wie die Künstler) scheuen und verlästern dieser Luft halber die Wissenschaft.
206.
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War u m Gel ehr tee die r als K ü n s tl e r s i n d. Die Wissenschaft bedarf e dIe r e r Naturen als die Dichtkunst: sie müssen einfacher, weniger ehrgeizig, enthaltsamer, stiller, nicht so auf Nachruhm bedacht sein und sich über Sachen vergessen, welche selten dem Auge Vieler eines solchen Opfers der Persönlichkeit würdig erscheinen. Dazu kommt eine andere Einbusse, deren sie sich bewusst sind: die Art ihrer Beschäftigung, die fortwährende Aufforderung zur grössten Nüchternheit schwächt ihren Will e n, das Feuer wird nicht so stark unterhalten, wie auf dem Heerde der dichterischen Naturen: und desshalb verlieren sie häufig in früheren Lebensjahren als jene ihre höchste Kraft und Blüthe - und wie gesagt, sie w i s sen um diese Gefahr. Unter allen Umständen er s ehe i n e n sie unbegabter, weil sie weniger glänzen, und werden für weniger gelten, als sie sind. 20 7. Inwiefern die Pietät verdunkelt. - Dem grossen Manne macht man in späteren Jahrhunderten alle grossen Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts zum Geschenk - und so wird alles Beste fortwährend durch die Pietät ver dun k e 1t, welche es als ein heiliges Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt und aufstellt; - bis es endlich ganz durch dieselben verdeckt und umhüllt wird und fürderhin mehr ein Gegenstand des Glaubens als des Schauens ist.
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Menschliches, Allzumenschliches I I 208.
Auf dem Kopfe stehen. - Wenn wir die Wahrheit auf den Kopf stellen, bemerken wir gewöhnlich nicht, dass auch unser Kopf nicht dort steht, wo er stehen sollte.
20 9.
Urs p run gun d Nut zen der M 0 d e. - Die ersichtliche Selbstzufriedenheit des Ein z eIn e n mit seiner Form macht die Nachahmung rege und erschafft allmählich die Form der Vi eIe n, das heisst die Mode: diese Vielen wollen durch 10 die Mode eben jene so wohlthuende Selbstzufriedenheit mit der Form und erlangen sie auch. - Wenn man erwägt, wie viel Gründe zu Aengstlichkeit und schüchternem Sich verstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel seiner Energie und seines guten Willens durch jene Gründe gelähmt und unfruchtbar werI5 den können, so muss man der Mode vielen Dank zollen, insofern sie jenes Dreiviertel entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges heiteres Entgegenkommen Denen mittheilt, welche sich unter einander an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch thörichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüths, sofern sich nur %0 Viele ihnen unterworfen haben.
210.
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Zu n gen 1öse r. - Der Werth mancher Menschen und Bücher beruht allein in der Eigenschaft, Jedermann zum Aussprechen des Verborgensten, Innersten zu nöthigen: es sind Zungenlöser und Brecheisen für die verbissensten Zähne. Auch manche Ereignisse und Uebelthaten, we!.:he scheinbar nur zum Fluche der Menschheit da sind, haben jenen Werth und Nutzen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 208-213
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211.
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Fr e i z ü gig e Gei s t e r. - Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als Sc hirn p fanhängt, eine Huldigung darbringen mömte, indem er Etwas von jener Last der öffentlimen Missgunst und Beschimpfung auf seine Schultern ladet? Wohl aber dürften wir uns "freizügige Geister" in allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder grossmüthigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen, und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellecten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum sehen, - um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.
212.
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Ja die Gunst der Musen! - Was Homer darüber sagt, greift in's Herz, so wahr, so schrecklich ist es: "herzlich liebt' ihn die Muse und gab ihm Gutes und Böses; denn die Augen entnahm sie und gab ihm süssen Gesang ein." - Diess ist ein Text ohne Ende für den Denkenden: Gutes und Böses giebt sie, das ist ihr e Art von herzlicher Liebe! Und Jeder wird es sich besonders auslegen, warum wir Denker und Dichter unsre A u gen daran geben m ü s sen.
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G e gen die P fl e g e der Mus i k. - Die künstlerisme 15 Ausbildung des Auges von Kindheit an, durch Zeichnen und Malen, durch Skizziren von Landschaften, Personen, Vorgängen, bringt nebenbei den für das Leben unschätzbaren Gewinn mit sich, das Auge zum Beobamten von Menschen und Lagen sc h a rf, ruh i g und aus d aue r n d zu machen. Ein ähn30 licher Neben-Vortheil erwächst aus der künstlerischen Pflege des
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Menschliches, Allzumenschliches II
Ohres nicht: wesshalb Volksschulen im Allgemeinen gut thun werden, der Kunst des Auges vor der des Ohres den Vorzug zu geben.
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Die E n t d eck e r von Tri via 1i t ä t e n. - Subtile Geister, denen Nichts ferner liegt als eine Trivialität, entdecken oft nach allerlei U mschweifen und Gebirgspfaden eine solche und haben grosse Freude daran, zur Verwunderung der NichtSubtilen.
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M 0 r a I der Gel ehr t e n. - Ein regelmässigar und schneller Fortschritt der Wissenschaften ist nur möglich, wenn der Einzelne nie h t zum iss t rau i s eh sein muss, um jede Rechnung und Behauptung Anderer nachzuprüfen, auf Gebieten, die ihm ferner liegen: dazu aber ist die Bedingung, dass Jeder auf seinem eigenen Felde Mitbewerber hat, die ä u s s e r s t m iss t rau i s e h sind und ihm scharf auf die Finger sehen. Aus diesem Nebeneinander von "nicht zu misstrauisch" und "äusserst misstrauisch" entsteht die Rechtschaffenheit in der Gelehrten-Republik.
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G run d der U n f r u e h t bar k e i t. - Es giebt höchst begabte Geister, welche nur desshalb immer unfruchtbar sind, weil sie, aus einer Schwäche des Temperamentes, zu ungeduldig sind, ihre Schwangerschaft abzuwarten.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 213-219
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21 7. Ver k ehrt eWe lt der T h r ä n e n. - Das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen, verkehrt endlich die Natur so weit, dass er , für gewöhnlich starr und stoisch sich hält und nur noch für die seltenen Anfälle des Glücks die Thränen übrig hat, ja dass Mancher schon bei dem Genusse der Schmerzlosigkeit weinen muss: - nur im Glücke schlägt sein Herz noch.
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Die Griechen als Dolmetscher.-Wennwirvon den Griechen reden, reden wir unwillkürlich zugleich von Heute und Gestern: ihre allbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer Etwas wiederstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist. Wir benützen die Freiheit, von ihnen zu reden, um von Anderen schweigen zu dürfen, - damit jene nun selber dem sinnenden Leser Etwas in's Ohr sagen. $0 erleichtern die Griechen dem modernen Menschen das Mittheilen von mancherlei schwer Mittheilbarem und Bedenklichem. 21 9.
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Vom e r w 0 rb e n e n C h ara k t erd erG r i e ehe n. Wir lassen uns leicht durch die berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch das Krystallhaft-Natürliche und zugleich Krystallhaft-Künstliche griechischer Werke verführen, zu glauben, das sei alles den Griechen geschenkt: sie hätten zum Beispiel gar nicht anders gekonnt als gut schreiben, wie diess Lichtenberg einmal ausspricht. Aber Nichts ist voreiliger und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias bis Demosthenes zeigt ein Arbeiten und Ringen aus dem Dunklen, Ueberladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte hin, dass man an die Mühsal der Heroen erinnert wird,
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welme die ersten Wege durm Wald und Sümpfe zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche T hat der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage, welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte, und durch die grosse chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war: wie es die That Homer's ist, die Griechen von dem asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die Helle der Architektur, im Grossen und Einzelnen, errungen zu haben. Es galt auch keineswegs für leicht, Etwas recht rein und leuchtend zu sagen; woher sonst die hohe Bewunderung für das Epigramm des Simonides, das ja so schlicht sich giebt, ohne vergoldete Spitzen, ohne Arabesken des Witzes, - aber es sagt, was es zu sagen hat, deutlich, mit der Ruhe der Sonne, nicht mit der Effecthascherei eines Blitzes. Weil das Zustreben zum Lichte aus einer gleichsam eingeborenen Dämmerung griechisch ist, so geht ein Frohlocken durch das Volk beim Hören einer lakonischen Sentenz, bei der Sprache der Elegie, den Sprüchen der sieben Weisen. Desshalb wurde das Vorschriftengeben in Versen, das uns anstössig ist, so geliebt, als eigentlime apollinische Aufgabe für den hellenischen Geist, um über die Gefahren des Metrum's, über die Dunkelheit, welche der Poesie sonst eigen ist, Sieger zu werden. Die Schlichtheit, die Gesmmeidigkeit, die Nüchternheit sind der Volksanlage an ger u n gen, nicht mitgegeben, - die Gefahr eines Rückfalles in's Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsterniss. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überfluthet - denn Europa war damals sehr klein -, aber immer kommen sie auch wieder an's Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus.
1. Vermisdtte Meinungen und Sprüdte 219-220
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Z20.
Das ei gen tl ich H eid n i s ehe. - Vielleicht giebt es nichts Befremdenderes für Den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, dass die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staatswegen einrichteten: es ist diess das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christenthume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste bekämpft und ver10 achtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Cultus' zu geben: ja, alles, was im Menschen Mac h t hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände 15 ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Culte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben 20 zu können. Diess ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altherthums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht 25 nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfasste der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin consuuirt war. In seinem Baue zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Thatsäch30 liehe, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes, priesterliches oder kastenmässiges Sitten gesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Cultus' zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wir k-
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Menschliches, Allzumenschliches II
lichkeit alles Menschlichen. - Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden je der Art und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, dass es sich mässige und nicht Alles todtschlage oder innerlich giftig mache - das heisst, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen. 221.
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Aus nah m e - G r i e c h e n. - In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme: der Instinct des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden - das ist griechisch: nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zu künstlerischer Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen - so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Aussenseite, pomphaftes Wort, begeisterte Gebärde sind, und sich an lauter ausgehöhlte schein-, klang- und effectlüsterne Seelen wenden. - Und nun würdige man die Grösse jener Ausnahme-Griechen, welche die W iss e n s c h a f t schufen! Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen Geistes!
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Das Einfache nicht das Erste, noch das Let z ted erZ e i t na c h. - In die Geschichte der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwickelung und Allmählich-
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 220-222
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keit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch im Rufe, das Aelteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch Subtraction und Division und gerade nicht durch Verdoppelung, Zusatz, Zusammenbildung. Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche Entwickelung der G ö t t erd ars tell u n g von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade so, dass, so I a n g e die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Thiere hinein verlegt und -empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom Cultus und dem Banne der religiösen S c harn, die innere Phantasie der Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen: überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluss der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor auf Seite des Ungethümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen. Selbst aber Vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch noch, in äussere, leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich wirken: das innere Auge ist um Vieles kühner und weniger schamhaft: als das äussere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und theilweise Unmöglichkeit ergiebt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie will lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem Bilde glauben: das Bild soll das Numen der Gottheit in irgend einer geheimnissvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als thätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott b erg e n und zug lei c h ver b erg e n, - ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Stein klumpen an g es c hau t ; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Ver-
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Menschliches, Allzumenschliches II
anschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Ueberzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Uebervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche a b weh ren soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so Etwas bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deut10 licher reden, sinnfälliger darstellen k ö n n e n. Vielmehr scheut man gerade Eines: das directe Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche Numen der Gottheit birgt und in geheimnissvolles Halbdunkel versteckt, d 0 c h n ich t ga n z ; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleich15 sam mit einern Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, ab ern ich t ga n z : so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit. - Erst als ausserhalb des Cultus', in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, dass die hier erregten 20 Wellen in den See der religiösen Empfindung hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick mc n s chI ich e r Schönheit und Ueberkraft gewöh25 nen musste, so dass, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung in einander überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der grosse Tummelplatz für die grosse Plastik wird aufgethan: auch jetzt noch mit der 30 Beschränkung, dass überall wo a n g e b e t e t werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der w e i h end e und s c h e n k end e Hellene darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 222-223
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Wo hin man r eis e n mus s. - Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit's Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss. Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem eben so kräftig und nahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse, - dass man re i sen müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen - diese sind ja nur festgewordene ältere Cu I tu r s tu f e n, auf die man sich s t e 11 e n kann -, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften namentlich, dorthin wo der Mensch das Kleid Europa's ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. Nun giebt es aber noch eine fe i n e r e Kunst und Absicht des Reisens, welche es nicht immer nöthig macht, von Ort zu Ort und über Tausende von Meilen hin den Fuss zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte in allen ihren Culturfärbungen und -Strahlenbrechungen auch in uns e r erN ä h e noch fort: sie wollen nur e n t d eck t werden. In manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich noch übereinander: anderswo giebt es schwieriger zu verstehende Verwerfungen des Gesteins. Gewiss hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger betretenen Gebirgsthälern, umschlosseneren Gemeinwesen ein ehrwürdiges Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können und muss hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche Entdeckungen zu machen. Wer nach langer Uebung in
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Menschlidles, Allzumenschliches 11
dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird sei n e I 0 - ich meine sein ego - endlich überall hinbegleiten und in Aegypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge, die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. - So wird Selbst-Erkenntniss zur AIl-Erkenntniss in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach einer andern, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschenthum werden könnte.
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BaI sam und G i f t. - Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das Christenthum ist die Religion des altgewordenen Alterthums, seine Voraussetzung sind entartete alte Culturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen "voller 20 Schlamm" sind, so dass sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die "Posaune des jüngsten Gerichts" wirken, 25 um solche Völker noch zu einem ans t ä n d i gen Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenal's, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus: - da lernt man, was es heisst, ein Kreuz vor der" Welt" schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Ueberwuchern des 30 griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohlthat, jenen Wesen 15
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 223-224
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zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das "bessere Leben" und dadurch so anspruchslos, so stillverachtend, so stolz-geduldig geworden! - Diess Christenthum als Abendläuten des gut e n Alterthums, mit zersprungener, müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für Den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muss es für jene Menschen selber gewesen sein! - Dagegen ist das Christenthum für junge frische Barbarenvölker Gi f t ; in die Helden-, Kinder- und Thierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammniss hineinpflanzen, heisst nichts Anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische Gährung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urtheilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten musste die Folge sein und also, im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. - Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Cultur! was von der ganzen Cultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts! - denn die vom Christenthume u n a n g eta s t e t e n Barbaren verstanden gründlich mit alten Culturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisirten Britannien mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christenthum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike" Welt" unsterblich zu machen. - Nun bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, im Stande gewesen, allmählich von selber eine höhere Cultur zu finden, eine eigene, neue? - von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren gegangen wäre? - So steht es auch hier, wie überall: man weiss nicht, um christlich
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Mensdtlidtes. Allzumensdtlidtes 11
zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, dass Alles so gekommen ist, wie es ist.
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Glaube macht selig und verdammt. - Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge geräth, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich n ö t h i g, dass es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sünden lamme, wirklich g i e b t, wenn schon der G lau b e an das Das ein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? 10 Sind es nicht übe r f I ü s s i geWesen, falls sie doch existiren sollten? Denn alles Wohlthuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen Seele giebt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. 15 Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind die sei ben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber 20 umsonst erwartet weil es keinen Gott giebt - ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. - Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon diess ich weiss nicht wer behauptet hat; aber 25 er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.
226.
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T rag i kom ö die von R e gen s bur g. - Hier und da kann man mit einer erschreckenden Deutlichkeit das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an Einen Ort, an die Zustände und Stimmungen Eines Kopfes das Seil der
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 224-226
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nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängniss der neueren deutsdlen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg: der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation; der tiefe, milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italiänischen Frömmigkeit, welche die Morgenröthe der geistigen Freiheit auf ihren Schwin10 gen wiederstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luther's, voller Verdächtigungen und unheimlicher Aengste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch die Gnade ihm als sei n grösster Fund- und Wahlspruch erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italiänern: während diese ihn, wie es bekannt ist, 1$ schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Uebereinstimmung die Tücken des Teufels, und verhinderte das Friedenswerk so gut er konnte: wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts brachte. - Und nun nehme 20 man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben, hinzu, dass keiner der Sätze, über welche man sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist, oder auch nur 2$ mit der Wahrheit zu thun hat, dass sie alle jetzt als undiscutirbar erkannt sind: - und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen; während in Betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs30 Worte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo Nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren. - Zuletzt bleibt Nichts übrig zu sagen, als dass damals allerdings K r a f t q u e lI e n entsprungen sind, so mächtig, dass ohne sie alle Mühlen
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Mensddimes, Allzumensmlimes II
der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit, oder auch dann nodl lange nicht, - nicht wahr, meine lieben Zeitgemässen?
227·
Go e t h e's Irr u n gen. - Goethe ist darin die grosse Ausnahme unter den grossen Künstlern, dass er nicht in der Bornirtheit seines wirklichen Vermögens lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das We10 sentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besass - und irrte sim, in der z w e i t e n Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Ueberzeugung ersmeint, einer der grössten w iss e n s c h a f t I ich e n Ent15 decker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der er s t e n Hälfte seines Lebens: er wollt e von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien - und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bi 1den den Künstler mamen wollen - das war sein innerlich glühendes und versen%0 gendes Geheimniss, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlim entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie %5 er von der grössten Leidenschaft seines WoHens sich losbinden und Ab s chi e d nehmen müsse. Die schmerzlim schneidende und wühlende Ueberzeugung, es sei nöthig, Ab s chi e d zu ne h m e n, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem "gesteigerten Werther", liegt das Vorgefühl von 30 Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich Einer sagt: "nun ist es aus - nam diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!" - Diese beiden Grundirrthümer
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 226-228
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seines Lebens gaben Goethe, angesichts einer rein litterarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen von der Zeit, wo Schiller - der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit liess - ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem litterarischen Wesen und Handwerk heraustrieb - erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an: die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten - und er meint vielleicht immer nur den Verwandlungen Einer Göttin auf der Spur zu sein - wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne die Umschweife des Irrthums wäre er nicht Goethe geworden: das heisst, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist, - weil er eben so wenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.
228. 10
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Re i sen d e und ihr e G rad e. - Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei gesehen werden, - sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben Etwas in Folge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. - Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die niedrigsten
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Menschliches, Allzumenschliches II
als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurü~bleibender innerer Vorgänge.
229· Im Höher-Steigen. - Sobald man höher steigt 5 als Die, welche Einen bisher bewunderten, so erscheint man eben Denen als gesunken und herabgefallen: denn sie vermeinten unter allen Umständen, bisher mit uns (sei es auch durch uns) auf der Höhe zu sein.
23°· Maass und Mitte. - Von zwei ganz hohen Dingen: Maass und Mitte, redet man am besten nie. Einige Wenige kennen ihre Kräfte und Anzeichen aus den Mysterien-Pfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen: sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute Wort. Alle Uebrigen hören I5 kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmässigkeit: Jene etwa noch ausgenommen, welche einen anmahnenden Klang aus jenem Reiche einmal vernommen, aber gegen ihn sich die Ohren verstopft haben. Die Erinnerung daran macht sie nun böse und 20 aufgebracht. IO
23 1 • H um a n i t ä t der Fr e und - und Me ist e r s eh a f t. "Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen" so zu empfinden ist das hohe Merkmal von Humanität im enge15 ren Verkehre: ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft irgendwann einmal zur Heuchelei.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 228-235
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23 2 •
Die Ti e f e n. Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit Andern als Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen.
233·
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Für die Ver ä c h t erd e r "H e erd e n - Me n sc hh e i t". - Wer die Menschen als Heerde betrachtet, und vor ihnen so schnell er kann flieht, den werden sie gewiss einholen und mit ihren Hörnern stossen.
234·
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Hauptvergehen gegen die Eitelen. - Wer einem Andern in der Gesellschaft Gelegenheit macht, sein Wissen, Fühlen, Erfahren glücklich darzulegen, stellt sich über ihn und begeht also, falls er nicht als Höherstehender von Jenem ohne Einschränkung empfunden wird, ein Attentat auf dessen Eitelkeit, - während er gerade derselben Befriedigung zu geben glaubte.
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E n t t ä u s c h u n g. - Wenn ein langes Leben und Thun, sammt Reden und Schriften, von einer Person öffentlich Zeugniss ablegt, so pflegt der Umgang mit ihr zu enttäuschen, aus doppeltem Grunde: einmal, weil man zu viel von einer kurzen Zeitspanne Verkehrs erwartet - nämlich alles Das, was erst die tausend Gelegenheiten des Lebens sichtbar werden liessen -, und sodann, weil jeder Anerkannte sich keine Mühe giebt, im Einzelnen noch um Anerkennung zu buhlen. Er ist zu nachlässig - und wir sind zu gespannt.
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Menschliches, Allzumenschliches II
23 6. Z w e i Q u e 11 end erG ü t e. - Alle Menschen mit gleichmässigem Wohlwollen behandeln und ohne Unterschied der Person gütig sein, kann eben so sehr der Ausfluss tiefer Menschenverachtung als gründlicher Menschenliebe sein.
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237· Der Wa n der e r im Ge bi r g e zu sie h seI b er. Es giebt sichere Anzeichen dafür, dass du vorwärts und höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher um dich als vordem, die Luft weht dich kühler, aber auch milder an, - du hast ja die Thorheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln -, dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Muth und Besonnenheit sind zusammen gewachsen: - aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlicher sein als dein früherer, wenn auch gewiss nicht in dem Maasse, als Die glauben, welche dich Wanderer vom dunstigen Thale aus auf dem Gebirge schreiten sehen. 23 8. Aus gen 0 m m end erN ä c h s t e. - Offenbar steht mein Kopf nur auf meinem eigenen Halse nicht recht; denn jeder Andere weiss bekanntlich besser, was ich zu thun und zu lassen habe: nur mir selber weiss ich armer Schelm nicht zu rathen. Sind wir nicht All e wie Bildsäulen, denen falsche Köpfe aufgesetzt wurden? - nicht wahr, mein geliebter Nachbar? - Doch nein, du gerade bist die Ausnahme. 239· Vor sie h t. - Mit Menschen, denen die Scheu vor dem Persönlichen fehlt, muss man nicht umgehen oder unerbittlidl ihnen vorher die Handschellen der Convenienz anlegen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 236-243
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24°· Eitel erscheinen wollen. - Im Gespräche mit Unbekannten oder Halbbekannten nur ausgewählte Gedanken äussern, VOn seinen berühmten Bekanntschaften, bedeutenden Erlebnissen und Reisen reden, ist ein Anzeichen davon, dass man nicht stolz ist, mindestens dass man nicht so scheinen möchte. Die Eitelkeit ist die Höflichkeits-Maske des Stolzen.
24 1 • Die gute F re und s c ha ft. - Die gute Freundschaft 10 entsteht, wenn man den Anderen sehr achtet und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten Ans tri c h und Flaum der Intimität hinzuzuthun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigent15 lichen Intimität und der Verwechselung von Ich und Du weislich enthält.
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242. Die Freunde als Gespenster. - Wenn wir uns stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht verwandelten, zu Gespenstern unserer eigenen Vergangenheit: ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns heran - als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter, ungereifter.
243· Ein A u g e und z w e i B I i c k e. - Die seIben Personen, 15 welche das Naturspiel des gunst- und gönnersuchenden Blicks haben, haben gewöhnlich auch, in Folge ihrer häufigen Demüthigungen und Rachegefühle, den unverschämten Blick.
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Menschliches, Allzumenschliches II
244·
Die b lau e Fe r n e. - Zeitlebens em Kind - das klingt sehr rührend, ist aber nur das Urtheil aus der Ferne; in der Nähe gesehen und erlebt, heisst es immer: zeitlebens knabenhaft 245·
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Vortheil und Nachtheil im gleichen Missver s t ä n d n iss. - Die verstummende Verlegenheit des feinen Kopfes wird gewöhnlich von Seiten der Unfeinen als schweigende Ueberlegenheit gedeutet und sehr gefürchtet: während die Wahrnehmung von Verlegenheit Wohlwollen erzeugen würde. 246 .
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Der We i ses ich als N a r ren g e ben d. -- Die Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter, sich erregt, erzürnt, erfreut zu s tell e n, um seiner Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines w a h ren Wesens nicht weh zu thun. 247·
10
S ich zur Auf m e r k sam k e i t z w i n gen. - Sobald wir merken, dass Jemand im Umgange und Gespräche mit uns sich zur Aufmerksamkeit z w i n gen muss, haben wir einen vollgültigen Beweis dafür, dass er uns nicht oder nicht mehr liebt.
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248.
Weg z u ein e reh r i s tl ich e n Tu gen d. - Von seinen Feinden zu lernen ist der beste Weg dazu, sie zu lieben: denn es stimmt uns dankbar gegen sie.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 244-253
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149· K r i e g s I ist des Z u d r i n gI ich e n. - Der Zudringliche giebt auf unsere Conventionsmünze in Goldmünze heraus und will uns dadurch nachträglich nöthigen, unsere Convention als Versehen und ihn als Ausnahme zu behandeln.
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15°· G run d der A b n e i gun g. - Wir werden manchem Künstler oder Schriftsteller feindlich, nicht weil wir endlich merken, dass er uns hintergangen hat, sondern weil er nicht feinere Mittel für nöthig befand, um uns zu fangen.
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151· I m Sc h eid e n. - Nicht darin, wie eine Seele sich der andern nähert, sondern wie sie sich von ihr entfernt, erkenne ich ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit mit der andern.
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151· Si I e n t i u m. - Man darf über seine Freunde nicht reden: sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft.
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153· Unh ö f I ich k e i t. - Unhöflichkeit ist häufig das Merkmal einer ungeschickten Bescheidenheit, welche bei einer Ueberraschung den Kopf verliert und durch Grobheit diess verbergen möchte.
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Menschliches, Allzumenschliches Ir
254·
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Ver r e c h nun gin der E h rl ich k e i t. - Das bisher von uns Verschwiegene erfahren mitunter gerade unsere neuesten Bekannten zuerst: wir meinen dabei thörichterweise, es sei unser Vertrauens-Beweis die stärkste Fessel, mit welcher wir sie festhalten könnten, - aber sie wissen nicht genug von uns, um das Opfer unseres Aussprechens so stark zu empfinden, und verrathen unsere Geheimnisse an Andere, ohne an Verrath zu denken: so dass wir vielleicht darüber unsere alten Bekannten verlieren.
255·
I m Vor z i m m erd erG uns t. - Alle Menschen, die man lange im Vorzimmer seiner Gunst stehen lässt, gerathen in Gährung oder werden sauer.
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25 6.
Warnung an die Verachteten. - Wenn man unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist, so halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre fest: sonst verräth man den Andern, dass man auch in seiner eigenen Achtung gesunken ist. DerCynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.
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Man ehe Unk e n n t n iss ade I t. - In Hinsicht auf die Achtung der Achtung-Gebenden ist vortheilhafter, gewisse Dinge ersichtlich ni c h t zu verstehen. Auch die Unwissenheit giebt Vorrechte.
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 254-261
491
2.5 8•
Der Widersacher der Grazie. - Der Unduldsame und Hochmüthige mag die Grazie nicht und empfindet sie wie einen leib haft sichtbaren Vorwurf gegen sich; denn sie ist die Toleranz des Herzens in Bewegung und Gebärde.
259·
10
Beim Wiedersehen. - Wenn alte Freunde nach langer Trennung einander wiedersehen, ereignet es sich oft, dass sie sich bei Erwähnung von Dingen theilnahmsvoll stellen, die für sie ganz gleichgültig geworden sind: und mitunter merken es beide, wagen aber nicht den Schleier zu heben - aus einem traurigen Zweifel. So entstehen Gespräche wie im Todtenreiche. 260.
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Nur Ar bei t sam e sie h zu F r e und e n mac h e n. Der Müssige ist seinen Freunden gefährlich: denn weil er nicht genug zu thun hat, redet er davon, was seine Freunde thun und nicht thun, mischt sich endlich hinein und macht sich beschwerlich: wesshalb man kluger Weise nur mit Arbeitsamen Freundschaft schliessen soll. 26I.
25
Ein e Wa ff e d 0 p p e I t s 0 v i e I als z w e i. - Es ist ein ungleicher Kampf, wenn der Eine mit Kopf und Herz, der Andere nur mit dem Kopfe für seine Sache spricht: der Erstere hat gleichsam Sonne und Wind gegen sich und seine beiden Waffen stören sich gegenseitig: er verliert den Preis in den Augen der W a h r h e i t. Dafür ist freilich der Sieg des Zweiten mit seiner Einen Waffe selten ein Sieg nach dem Herzen aller an der n Zuschauer und macht bei ihnen unbeliebt.
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Menschliches, Allzumenschliches II 262.
Ti e f e und T r übe. - Das Publicum verwechselt leicht Den, welcher im Trüben fischt, mit Dem, welcher aus der Tiefe schöpft. 26 3.
10
An Freund und Feind selne Eitelkeit demon s tri ren. - Mancher misshandelt aus Eitelkeit selbst seine Freunde, wenn Zeugen zugegen sind, denen er sein Uebergewicht deutlich machen will: und Andere übertreiben den Werth ihrer Feinde, um mit Stolz darauf hinzuweisen, dass sie solcher Feinde werth sind. 2 6 4.
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Ab k ü h I u n g. - Die Erhitzung des Herzens ist gewöhnlich mit der Krankheit von Kopf und Urtheil verbunden. Wem für einige Zeit an der Gesundheit des letzteren gelegen ist, der muss also wissen, was er abzukühlen hat: unbesorgt für die Z ukunft seines Herzens! Denn ist man überhaupt der Erwärmung fähig, so wird man auch wieder warm werden und seinen Sommer haben müssen. 265.
Zur M i s c h u n g de r G e f ü h 1e. - Gegen die Wissenschaft empfinden Frauen und selbstsüchtige Künstler Etwas, das aus Neid und Sentimentalität zusammengesetzt ist.
266. 25
Wen n die Ge f a h r am g r ö s s te n ist. - Man bricht das Bein selten, so lange man im Leben mühsam aufwärts steigt, aber wenn man anfängt, es sich leicht zu machen und die bequemen Wege zu wählen.
1. Vermischte Meinungen und Spruche 262-270
493
267.
N ich t zu z e I t 1 g. - Man muss sim in Amt nehmen, nimt zu zeitig smarf zu werden, - weil man zugleim damit zu zeitig dünn wird. 268.
10
F r e u d e a m W i der s p ä n s t i gen. - Der gute Erzieher kennt Fälle, wo er stolz darauf ist, dass sein Zögling w i der ihn sim selber treu bleibt: da nämlim, wo der Jüngling den Mann nimt verstehen darf oder zu seinem Smaden verstehen würde. 269.
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)0
Versuch der Ehrlichkeit. - Jünglinge, die ehrlimer werden wollen als sie waren, sumen sich einen anerkannt Ehrlichen zum Opfer, das sie zuerst anfallen, indem sie sim zu seiner Höhe hinauf zu schimpfen suchen - mit dem Hintergedanken, dass dieser erste Versuch jedenfalls ungefährlich sei; denn gerade Jener dürfe die Unverschämtheit des Ehrlichen nicht züchtIgen. 2.7°· Das e w i g e Kin d. - Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen's und empfinden's freilich anders, aber gerade diess spricht dafür, dass es das Selbe ist - denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren - als ob jedes etwas Neues brämte - und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den der wirklich ohne Märchen und Spiel lebt, vorführen.
494
Mensmli<:nes, A!1zumensmlimes II
27 1 •
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Jede Philosophie ist Philosophie eines Leben s alt e r s. - Das Lebensalter, in dem ein Philosoph seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und Stunde fühlen mag. So bleibt Schopenhauer's Philosophie das Spiegelbild der hitzigen und schwermüthigen J u gen d , - es ist keine Denkweise für ältere Menschen; so erinnert Plato's Philosophie an die mittlern dreissiger Jahre, wo ein kalter und ein heisser Strom auf einander zuzubrausen pflegen, so dass Staub und zarte Wölkchen und, unter günstigen Umständen und Sonnenblicken, ein bezauberndes Regenbogenbild entsteht.
27 2. 15
Vom Gei s ted e r Fra u e n. - Die geistige Kraft einer Frau wird am besten dadurch bewiesen, dass sie aus Liebe zu einem Manne und dessen Geiste ihren eigenen zum Opfer bringt, und dass trotzdem ihr auf dem neuen, ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart des Mannes sie drängt, s 0 f 0 r t ein z w e i t erG eis t nachwächst.
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273·
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Erhöhung und Erniedrigung im Geschlechtli ehe n. - Der Sturm der Begierde reisst den Mann mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde schweigt: dort wo er wirklich li e b t und noch mehr in einem besseren Sein als besserem Wollen lebt. Und wiederum steigt ein gutes Weib häufig aus wahrer Liebe bis hinab zur Begierde und ern i e d r i g t sich dabei vor sich selber. Namentlich das Letztere gehört zu dem Herzbewegendsten, was die Vorstellung einer guten Ehe mit sich zu bringen vermag.
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüme 271-277
495
274· Das We i b e rf ü 11 t , der Man n ver h eis s t. Durch das Weib zeigt die Natur, womit sie bis jetzt bei ihrer Arbeit am Menschenbilde fertig wurde; durch den Mann zeigt sie, was sie dabei zu überwinden hatte, aber auch, was sie noch Alles mit dem Menschen vor hat. - Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Cultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke.
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275· Um p f I a n z u n g. - Hat man seinen Geist verwendet, um über die Maasslosigkeit der Affecte Herr zu werden, so geschieht es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, dass man die Maasslosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin im Denken und Erkennenwollen ausschweift. 276. Das L ach e n als Ver rät her e i. - Wie und wann eine Frau lacht, das ist ein Merkmal ihrer Bildung: aber im Klange des Lachens enthüllt sich ihre Natur, bei sehr gebildeten Frauen vielleicht sogar der letzte unlösbare Rest ihrer Natur.Desshalb wird der Menschenprüfer sagen wie Horaz, aber aus verschiedenem Grunde: ridete puellae.
277· Aus der See I e der J ü n gl i n g e. - Jünglinge wechseln, in Bezug auf die seI be Person, mit Hingebung und Unver15 schämtheit ab: weil sie im Grunde nur sich in dem Andern verehren und verachten, und zwischen beiden Empfindungen, in Bezug auf sich seIber, hin und her taumeln müssen, so lange sie noch nicht in der Erfahrung das Maass ihres Wollens und Könnens gefunden haben.
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Menschliches, AIIzumenschliches II
27 8.
Zur Ver b e s s e run g der We I t. - Wenn man den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte, so könnte man schon die Erde in einen Garten des Glücks verzaubern. - Dieser Satz gehört in eine practische Philosophie für das weibliche Geschlecht.
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Sei n em G e f ü h I e n ich t m iss t rau e n. - Die frauenhafte Wendung, man solle seinem Gefühle nicht misstrauen, bedeutet nicht viel mehr als: man solle essen, was Einem gut schmeckt. Diess mag auch, namentlich für maassvolle Naturen, eine gute Alltagsregel sein. Andere Naturen müssen aber nach einem andern Satze leben: "du musst nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem Kopfe essen, damit dich nicht die Naschhaftigkeit des Mundes zu Grunde richte."
280.
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G rau sam e r Ein f a 11 der L i e b e. - Jede grosse Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der Liebe zu tödten, damit er ein für alle Mal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei: denn vor dem Wechse! graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung.
28r. T h ü ren. - Das Kind sieht ebenso wie der Mann in Allem, was erlebt, erlernt wird, Thüren: aber Jenem sind es Zugänge, Diesem immer nur Durchgänge.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 278-285
497
282.
Mit lei d i g e Fra u e n. - Das Mitleiden der Frauen, welches geschwätzig ist, trägt das Bett des Kranken auf offenen Markt.
28 3.
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F r ü h z e i t i g e s Ver die n s t. - Wer jung schon sich ein Verdienst erwirbt, verlernt gewöhnlich dabei die Scheu vor dem Alter und dem Aeltern, und schliesst sich damit, zu seinem grössten Nachtheil, von der Gesellschaft der Reifen, Reife Gebenden aus: so dass er trotz frühzeitigerem Verdienste länger als Andere grün, zudringlich und knabenhaft bleibt.
28 4.
Bau s c h - und Bog e n - See I e n. - Die Frauen und die Künstler meinen, dass wo man ihnen nicht widerspreche, If man nicht widersprechen könne; Verehrung in zehn Puncten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen zehn scheint ihnen neben einander unmöglich, weil sie Bausch- und BogenSeelen haben.
28 5.
J u n ge Tal e n t e. - In Hinsicht auf junge Talente muss man streng nach der Goethe'schen Maxime verfahren, dass man oft dem Irrthum nicht schaden dürfe, um der Wahrheit nicht zu smaden. Ihr Zustand ist gleich den Krankheiten der Schwangerschaft und bringt seltsame Gelüste mit sich: welme man ihnen, Jf so gut es gehen will, befriedigen und nachsehen sollte, um der Frucht willen, die man von ihnen erhofft. Freilich muss man, als Krankenwärter dieser wunderlimen Kranken, die schwere Kunst der freiwilligen Selbst-Demüthigung verstehen.
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498
Menschliches, Allzumenschliches II
286. E k e I a n der W a h r h e i t. - Die Frauen sind so geartet, dass alle Wahrheit (in Bezug auf Mann, Liebe, Kind, Gesellschaft, Lebensziel) ihnen Ekel macht und dass sie sich an Jedem zu rächen suchen, welcher ihnen das Auge öffnet.
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28 7. Die Quelle der grossen Liebe. - Woher die plötzlichen Leidenschaften eines Mannes für ein Weib entstehen, die tiefen, innerlichen? Aus Sinnlichkeit allein am wenigsten: aber wenn der Mann Schwäche, Hülfsbedürftigkeit und zugleich Uebermuth in Einem Wesen zusammen findet, so geht Etwas in ihm vor, wie wenn seine Seele überwallen wollte: er ist im selben Augenblicke gerührt und beleidigt. Auf diesem Punete entspringt die Quelle der grossen Liebe.
288. Re i n I i e h k e i t. - Man soll den Sinn für Reinlichkeit im Kinde bis zur Leidenschaft entfachen: später erhebt er sich, in immer neuen Verwandlungen, fast zu jeder Tugend hinauf und erscheint zuletzt. als Compensation alles Talentes, wie eine Lichtfülle von Reinheit, Mässigkeit, Milde, Charakter, Glück in sich tragend, Glück um sich verbreitend.
28 9. Von ei tl e n alt e n M ä n n ern. - Der Tiefsinn gehört der Jugend, der Klarsinn dem Alter zu: wenn trotzdem alte 15 Männer mitunter in der Art der Tiefsinnigen reden und schreiben, so thun sie es aus Eitelkeit, in dem Glauben, dass sie damit den Reiz des Jugendlichen, Schwärmerischen, Werdenden, Ahnungs- und Hoffnungsvollen annehmen.
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüme 286-293
499
2.9°· Benutzung des Neuen. - Männer benutzen NeuErlerntes oder -Erlebtes fürderhin als Pflugschar, vielleicht auch als Waffe: aber Weiber machen sofort daraus einen Putz für sich zurecht.
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2.91. R e c h t hab e n bei den z w e i G e s chi e c h t ern. Giebt man einem Weibe zu, dass es Recht habe, so kann es sich nicht versagen, erst noch die Ferse triumphirend auf den Nacken des Unterworfenen zu setzen, - es muss den Sieg auskosten; während Mann gegen Mann sich in solchem Falle gewöhnlich des Rechthabens schämt. Dafür ist der Mann an das Siegen gewöhnt, das Weib erlebt damit eine Ausnahme.
2.92.· Entsagung im Willen zur Schönheit. - Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen: das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben, zu gefallen, um Ein Mal das Entzücken Dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen.
2.93· U n beg r e i f I ich, u n aus s t e h I ich. - Ein Jüngling kann nicht begreifen, das ein Aelterer seine Entzückungen, Gefühls-Morgenröthen, Gedanken-Wendungen und -Aufschwünge auch einmal durchlebt habe: es beleidigt ihn schon, zu denken, dass sie zweimal existirt hätten, - aber ganz feindselig stimmt es ihn, zu hören, dass, um fr u c h t bar zu werden, er jene Blüthen verlieren, ihren Duft entbehren müsse.
500
Menschliches, Allzumenschliches II
294· Partei mit der Miene der Dulderin. - Jede Partei, die sich die Miene der Dulderin zu geben weiss, zieht die Herzen der Gutmüthigen zu sich hinüber und gewinnt dadUr<:n selber die Miene der Gutmüthigkeit, zu ihrem grössten Vortheil.
295·
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B eh au p t e n sie her e r als be w eis e n. - Eine Behauptung wirkt stärker als ein Argument, wenigstens bei der Mehrzahl der Menschen; denn das Argument weckt Misstrauen. Desshalb suchen die Volksredner die Argumente ihrer Partei durch Behauptungen zu sichern.
29 6 . Die be s t e n He h I e r. - Alle regelmässig Erfolgreichen besitzen eine tiefe Verschlagenheit darin, ihre Fehler und Schwächen immer nur als anscheinende Stärken zum Vorschein zu bringen: wesshalb sie dieselben ungewöhnlich gut und deutlich kennen müssen.
297· Von Z e i t zu Z e i t. - Er setzte sich in das Stadtthor und sagte zu Einem, der hindurchgieng, diess eben sei das Stadtthor. Jener entgegnete, es sei das eine Wahrheit, aber man dürfe nicht zu viel Recht haben, wenn man Dank dafür haben wolle. Oh, antwortete er, ich will auch keinen Dank; aber von Zeit zu Zeit ist es doch sehr angenehm, nicht nur Recht zu haben, sondern auch Recht zu behalten.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 294-300
501
29 8.
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Die Tugend ist nicht von den Deutschen erfun den. - Goethe's Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven's edle einsiedlerisme Resignation, Mozart's Anmuth und Grazie des Herzens, Händel's unbeugsame Männlimkeit und Freiheit unter dem Gesetz, Bam's getrostes und verklärtes Innenleben, welmes nimt einmal nöthig hat, auf Glanz und Erfolg zu verzimten, - sind denn diess d eu t s c he Eigensmaften? - Wenn aber nicht, so zeigt es wenigstens, wonam Deutsme streben sollen und was sie erreimen können.
299·
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Pia fraus oder etwas Anderes. - Möchteichmich irren; aber midt dünkt, im gegenwärtigen Deutsdtland werde eine doppelte Art von Heudtelei für Jedermann zur Pflidtt des Augenblicks gemadtt: man fordert ein Deutsdtthum aus reidtspolitisdter Besorgniss, und ein Christenthum aus socialer Angst, beides aber nur in Worten und Gebärden und namentlidt im Sdtweigenkönnen. Der Ans tri c h ist es, der jetzt so viel kostet, so hodt bezahlt wird: die Zu s c hau e r sind es, derentwegen die Nation ihr Gesidtt in deutsdt- und dtristenthümelnde Falten legt. 300 • Inwiefern auch im Guten das Halbe mehr sei n k a n n als das G a n z e. - Bei allen Dingen, die auf Bestand eingerichtet werden und immer den Dienst vieler Personen erfordern, muss mandtes wen i ger Gut e zur Re gel gemacht werden, obsdton der Organisator das Bessere (und Sdtwerere) sehr gut kennt: aber er wird darauf rechnen, dass es nie an Personen fehle, welche der Regel entsprechen k ö n n e n , und er weiss, dass das Mittelgut der Kräfte die Regel ist. -
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Menschliches, Allzumenschliches TI
Diess sieht ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer, Wunder wie sehr er im Rechte und wie seltsam die Blindheit der Andern sei.
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30 I. Der Par t ei man n. - Der ächte Parteimann lernt nicht mehr, er erfährt und richtet nur nom: während Solon, der nie Parteima'nn war, sondern neben und über den Parteien oder gegen sie sein Ziel verfolgte, bezeimnender Weise der Vater jen~s schlichten Wortes ist, in welchem die Gesundheit und Unausschöpflichkeit Athen's beschlossen liegt: "alt wercl' ich und immer lern' ich fort." 3°2. Was, n ach G 0 e t h e, cl e u t s chi s t. - Es sind die wahrhaft Unerträglichen, von denen man selbst das Gute nicht annehmen mag, welche F re i he i t der G e s i n nun g haben, aber nicht merken, dass es ihnen an Ge s c h mac k s - und Gei s t e s - F r e i he i t fehlt. Gerade diess ist aber, nach Goethe's wohl erwogenem Urtheil, d e u t sc h. - Seine Stimme und sein Beispiel weisen darauf hin, dass der Deutsche me h r sei n müsse, als ein Deutscher, wenn er den andern Nationen nützlich, ja nur erträglich werden wolle - und in w eie her R ich tun ger bestrebt sein solle, über sidl und ausser sich hinaus zu gehen. 3°3· Wann es Noth thut, stehen zu bleiben. Wenn die Massen zu wüthen beginnen und die Vernunft sich verdunkelt, thut man gut, sofern man der Gesundheit seiner Seele nicht ganz sicher ist, unter einen Thorweg unterzutreten und nach dem Wetter auszuschauen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 300-304
503
3°4·
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Ums t u r z gei s t e run cl Be s i t z gei s t e r. - Das einzige Mittel gegen den Socialismus, das noch in eurer Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das he isst selber mässig und genügsam leben, die Schaustellung jeder Ueppigkeit nach Kräften verhindern und dem Staate zu Hülfe kommen, wenn er alles Ueberflüssige und Luxus-Aehnliche empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt diess Mittel nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch "liberal" nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigene Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Socialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten lasst, wie als ob sie dort etwas Anderes wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Ver m ö gen und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Socialisten machen: nur der Besitz unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müsst ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt. - Und wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äusserlich und neidherausfordernd, er wäre mittheilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unächte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass Andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen - eure Wohnungen, Kleider, Wägen, Schauläden, Gaumen- und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opernund Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend: - das sind die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als socialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mittheilt, aber i neu c h ihren ersten Sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch auf? -
504
Menschliches, Allzumenschliches II
10
3°5· Ta c t i k der Par t eie n. - Wenn eine Partei merkt, dass ein bisheriger Zugehöriger aus einem unbedingten Anhänger ein bedingter geworden ist, so erträgt sie diess so wenig, dass sie, durch allerlei Aufreizungen und Kränkungen, versucht, jenen zum entschiedenen Abfall zu bringen und zum Gegner zu machen: denn sie hat den Argwohn, dass die Absicht, in ihrem Glauben etwas Re I at i v - Werthvolles zu sehen, das ein Für und Wider, ein Abwägen und Ausscheiden zulässt, ihr gefährlicher sei als ein Gegnerthum in Bausch und Bogen.
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306 . Zur Stärkung von Parteien. - Wer eine Partei innerlich stärken will, biete ihr Gelegenheit, um ersichtlich u n ger e c h t behandelt werden zu müssen: dadurch sammelt sie ein Capital guten Gewissens, das ihr vielleicht bis dahin fehlte.
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3°7· Für sei n e Ver g a n gen h e i t s 0 r gen. - Weil die Menschen eigentlich nur alles Alt-Begründete, Langsam-Gewordene achten, so muss Der, welcher nach seinem Tode fortleben will, nicht nur für Nachkommenschaft, sondern nom mehr für eine Ver g a n gen h e i t sorgen: wesshalb Tyrannen jeder Art (auch tyrannenhafte Künstler und Politiker) der Geschichte gern Gewalt anthun, damit diese als Vorbereitung und Stufenleiter zu ihnen hin erscheine. 308. Par t e i - S ehr i ft s tell e r. - Der Paukenschlag, mit welchem sich junge Schriftsteller im Dienste einer Partei so wohlgefallen, klingt Dem, welcher nicht zur Partei gehört, wie Kettengerassel und erweckt eher Mitleiden als Bewunderung.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 305-311
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3°9· Ge gen sie h Par t eie r g r e i f e n. - Unsere Anhänger vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen: denn diess heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen.
31°· Gefahr im Reichthum. - Nur wer Geist hat, sollte Be s i t z haben: sonst ist der Besitz gern ein g e f ä h rli c h. Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche 10 der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer f 0 rtf a h ren, nach Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langenweile sein. So entsteht zuletzt, aus mässigern Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigentlS liehe Reichthum: und zwar als das gleissende Ergebniss geistiger Unselbständigkeit und Armuth. Nun er s ehe i n t er aber ganz anders, als seine armselige Abkunft: erwarten lässt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskiren kann: er kann eben die Maske kau f e n. Dadurch erweckt er Neid bei den Aermeren 10 und Ungebildeten welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen - und bereitet allmählich eine sodale Umwälzung vor: denn vergoldete Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen "Genusse der Cultur" giebt jenen den Gedanken ein "es liegt nur 15 am Gelde", - während allerdings E t was am Gelde liegt, aber v i e I m ehr am Gei s t e. 3I I •
30
F r e u dei m G e b i e t e nun d Geh 0 reh e n. - Das Gebieten macht Freude wie das Gehorchen, ersteres wenn es noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, letzteres aber wenn
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Menschliches, Allzumenschliches II
es zur Gewohnheit geworden ist. Alte Diener unter neuen Gebietenden fördern sich gegenseitig im Freude machen.
312• Ehr gei z des ve rl 0 r n e n Pos t e n s. - Es giebt einen Ehrgeiz des verlornen Postens, welcher eine Partei dahin drängt, sich in eine äusserste Gefahr zu begeben.
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3 1 3. Wa n n E sei not h t h u n. - Man wird die Menge nicht eher zum Hosiannah-Rufen bringen, bis man auf einem Esel in die Stadt einreitet.
15
3 1 4. Par t e i - S i t t e. - Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das ausser ihr gewachsen ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.
20
315· Lee r wer den. - Von Dem, der sich den Ereignissen hingiebt, bleibt immer weniger übrig. Grosse Politiker können desshalb ganz leere Menschen werden und doch einmal voll und reich gewesen sein.
316. Er w ü n s c h t e F ein d e. - Die socialistischen Regungen sind den dynastischen Regierungen jetzt immer noch eher angenehm als furchteinflössend, weil sie durch dieselben Re c h t
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 311-318
507
und Sc h wer t zu Ausnahme-Maassregeln in die Hände bekommen, mit denen sie ihre eigentlichen Schreck gestalten, die Demokraten und Anti-Dynasten, treffen können. - Zu Allem, was solche Regierungen öffentlich hassen, haben sie jetzt eine heimliche Zuneigung und Innigkeit: sie müssen ihre Seele verschleiern. 3 I 7·
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Der B e s i t z b es i t z t. - Nur bis zu einem gewissen Grade macht der Besitz den Menschen unabhängiger, freier; eine Stufe weiter - und der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sclaven: als welcher ihm seine Zeit, sein Nachdenken zum Opfer bringen muss und sich fürderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen Ort angenagelt, einem Staate einverleibt fühlt: Alles vielleicht wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedürfniss. 3 I8 . Von der Her r s c haft der W iss end e n. - Es ist leicht, zum Spotten leicht, das Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung: aus ihnen wiederum müssten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich für jeden einzelnen Fall nur die Stimmen und Urtheile der speciellsten Sachverständigen entscheiden, und die Ehrenhaftigkeit all e r Uebrigen gross genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur Jenen zu überlassen: so dass im strengsten Sinne das Gesetz
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Menschliches, Allzumenschliches II
aus dem Verstande der Verständigsten hervorgienge. - Jetzt stimmen Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muss es Hunderte von beschämten Gewissen geben, - die der SchlechtUnterrichteten, Urtheils-Unfähigen, die der Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende Schamroth der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so Etwas aufzustellen: keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen, - es sei denn, dass der Glaube an die höchste Nützlichkeit der Wissenschaft und der Wissen den endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung: "Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!"
31 9.
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Vom "Volke der Denker" (oder des schlechte n Den k e n s). - Das Undeutliche, Schwebende, Ahnungsvolle, Elementarische, Intuitive - um für unklare Dinge auch unklare Namen zu wählen - was man dem deutschen Wesen nachsagt, wäre, wen n es thatsächlich noch bestünde, ein Beweiss, dass seine Cultur um viele Schritte zurückgeblieben und noch immer von Bann und Luft des Mittelalters umschlossen wäre. - Freilich liegen in einer solchen Zurückgebliebenheit auch einige Vortheile: die Deutschen wären mit diesen Eigenschaften - wenn sie dieselben, nochmals gesagt, jetzt noch besitzen sollten - zu einigen Dingen, und namentlich zum Verständniss einiger Dinge, befähigt, zu welchen andere Nationen alle Kraft verloren haben. Und sicherlich geht viel verloren, wenn der Man gel a n Ver nun ft - das heisst eben, das Gemeinsame in jenen Eigenschaften - verloren geht: aber hier giebt es auch keine Einbusse ohne den höchsten Gegengewinn,
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 318-320
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so dass jeder Grund zum Jammern fehlt, vorausgesetzt, dass man nicht wie Kinder und Leckerhafte die Früchte aller Jahreszeiten zugleich genies sen will.
3 20 •
Eu I e n n ach A t h e n. - Die Regierungen der grossen Staaten haben zwei Mittel in den Händen, das Volk von sich abhängig zu erhalten, in Furcht und Gehorsam: ein gröberes, das Heer, ein feineres, die Schule. Mit Hülfe des ersteren bringen sie den Ehr gei z der höheren und die K r a f t der niede10 ren Schichten, soweit beide thätigen und rüstigen Männern mittlerer und minderer Begabung zu eigen zu sein pflegen, auf ihre Seite: mit Hülfe des andern Mittels gewinnen sie die begab t e Armuth, namentlich die geistig-anspruchsvolle Halbarmuth der mittlern Stände für sich. Sie machen vor Allem aus 15 den Lehrern allen Grades einen unwillkürlich nach "Oben" hin blickenden geistigen Hofstaat: indem sie der Privatschule und gar der ganz und gar missliebigen Einzelerziehung Stein über Stein in den Weg legen, sichern sie sich die Verfügung über eine sehr bedeutende Anzahl von Lehrstellen, auf welche sich nun 10 fortwährend eine gewiss fünfmal grössere Anzahl von hungrig und unterwürfig blickenden Augen richten, als je Befriedigung finden können. Diese Stellungen dürfen ihren Mann aber nur k ä r g I ich nähren: dann unterhält sich in ihm der Fieberdurst nach B e f ö r der u n g und schliesst ihn noch enger an die Ab15 sichten der Regierung an. Denn eine mässige Unzufriedenheit zu pflegen ist immer vortheilhafter als Zufriedenheit, die Mutter des Muthes, die Grossmutter des Freisinns und des Uebermuthes. Vermittelst dieses leiblich und geistig im Zaum gehaltenen Lehrerthums wird nun, so gut es gehen will, alle Jugend des 30 Landes auf eine gewisse, dem Staate nützliche und zweckmässig abgestufte Bildungshöhe gehoben: vor Allem aber wird jene Gesinnung fast unvermerkt auf die unreifen und ehrsüchtigen
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Menschliches, Allzumenschliches II
Geister aller Stände übertragen, dass nur eine vom Staate anerkannte und abgestempelte Lebensrichtung sofort ge s e 11sc h a f t I ich e Auszeichnung mit sich führt. Die Wirkung dieses Glaubens an Staats-Prüfungen und -Titel geht so weit, dass selbst unabhängig gebliebenen, durch Handel oder Handwerk emporgestiegenen Männern so lange ein Stachel der Unbefriedigung in der Brust bleibt, bis auch ihre Stellung durch eine begnadigende Verleihung von Rang und Orden von Oben her bemerkt und anerkannt ist, - bis man "sich sehen lassen xo kann". Endlich verknüpft der Staat alle jene Hundert und Aberhundert ihm zugehöriger Beamtungen und Erwerbsposten mit der Ver p f I ich tun g , durch die Staatsschulen sich bilden und abzeichnen zu lassen, wenn man je in diese Pforten eingehen wolle: Ehre bei der Gesellschaft, Brod für sich, Ermög15 lichung einer Familie, Schutz von Oben her, Gemeingefühl der gemeinsam Gebildeten, - diess Alles bildet ein Netz von Hoffnungen, in welches jeder junge Mann hineinläuft: woher sollte ihm denn das Misstrauen angeweht sein! Ist zu guter Letzt gar noch bei Jedermann die Verpflichtung, einige Jahre Sol d a t 20 zu sein, nach Ablauf weniger Generationen, zu einer gedankenlosen Gewohnheit und Voraussetzung geworden, auf welche hin man frühzeitig den Plan seines Lebens zurechtschneidet, so kann der Staat auch noch den Meistergriff wagen, Schule und Heer, Begabung, Ehrgeiz und Kraft durch Vortheile in ein a n der 25 zu flechten, das heisst, den h ö her Beg abt e n und Ge b i 1d e t e n durch günstigere Bedingungen zum Heere zu locken und mit dem Soldatengeiste des freudigen Gehorsams zu erfüllen: so dass er vielleicht dauernd zur Fahne schwört und durch seine Begabung ihr einen neuen, immer glänzenderen Ruf ver30 schaff!:. - Dann fehlt Nichts weiter als Gelegenheit zu grossen Kriegen: und dafür sorgen, von Berufswegen, also in aller U nsc h u I d, die Diplomaten, sammt Zeitungen und Börsen: denn das" Volk", als Soldatenvolk, hat bei Kriegen immer ein gutes Gewissen, man braucht es ihm nicht erst zu machen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 320-323
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321 • Die P res s e. - Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen ver5 deckt werden und in ihrer Nähe klein erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern lassen, - welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehen, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen Aufwand von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu 10 erregen, zu erschrecken, ist sie mehr als der per man e n t e b 1i n d e L ä r m, der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt?
3 22 • 15
Nach einem grossen Ereigniss. - Ein Volk und Mensch, dessen Seele bei einem grossen Ereigniss zu Tage gekommen ist, fühlt gewöhnlich darauf das Bedürfniss nach einer Kin der e i oder Roh h e i t, eben so aus Scham als um sich zu erholen.
32 3.
Gut d e u t s c h seI n h eis s t s ich e n t d e u t s c h e n. Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Cu I t urs tu f e n und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). Dess15 halb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für Den, welcher an der Ums c h a f fun g der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel was Alles schon deutsch g ewe sen ist, so wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? 30 sofort durch die Gegenfrage verbessern: "was ist jet z t 10
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
deutsch?" - und jeder gut e Deutsche wird sie practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein n a t i 0 na I e s Ansehen gab: bleibt es bestehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängniss herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar Mon urne n t werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpuncte an das Aegypterthum war. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wen dun g zum Und e u t s ehe n ist desshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.
32 4.
Aus I ä n der eie n. - Ein Ausländer, der in Deutschland reiste, missfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt. Alle Schwaben, die %0 Geist haben pflegte er zu sagen - sind kokett. - Die anderen Schwaben aber meinten noch immer, Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen. - Das Beste an den deutschen Romanen, welche jetzt berühmt würden, sei, dass man sie nicht zu lesen brauche: man kenne sie schon. - Der Berliner %5 erscheine gutmüthiger als der Süddeutsche, denn er sei allzu sehr spottlustig und vertrage desshalb Spott: was Süddeutschen nicht begegne. - Der Geist der Deutsmen werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten: er empfehle ihnen Thee und Pamphlete, zur eur natürlich. - Man sehe sich, so rieth er, doch 30 die verschiedenen Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders gut zur Smau trägt, zum Vergnügen für Die, welme vor dieser
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüme 323-324
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grossen Bühne sitzen: wie die Franzosen das Kluge und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene und Zurückhaltende, die Italiäner das Unschuldige und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn die anderen Masken des Alters 5 fehlen? Wo ist derhochmüthige Alte? Wo der herrschsüchtige Alte? Wo der habsüchtige Alte? - Die gefährlichste Gegend in Deutschland sei Sachsen und Thüringen: nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntniss, nebst Freigeisterei, und Alles sei so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige 10 Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmem zu thun zu haben. - Der Hochmuth der Norddeutschen werde durch ihren Hang zu gehorchen, der der Süddeutschen durch ihren 15 Hang, sich's bequem zu machen, in Schranken gehalten. - Es schiene ihm, dass die deutschen Männer in ihren Frauen ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen hätten: sie redeten so beharrlich gut von sich, dass sie fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens deutschen Hausfrauen20 Tugend überzeugt hätten. Wenn sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach Aussen und Innen wendete, so pflegte er zu erzählen - er nannte es: verrathen -, dass Deutschlands grösster Staatsmann nicht an grosse Staatsmänner glaube. - Die Zukunft der Deutschen fand er bedroht und be25 drohlich: denn sie hätten verlernt, sich zu fr e u e n (was die Italiäner so gut verstünden), aber sich durch das grosse Hazardspiel von Kriegen und dynastischen Revolutionen an die E m 0 ti 0 n ge w ö h n t, folglich würden sie eines Tages die Erneute haben. Denn diess sei die stärkste Emotion, welche ein Volk sich 30 verschaffen könne. - Der deutsche Socialist sei eben desshalb am gefährlichsten, weil ihn keine be s tim m te Noth treibe; sein Leiden sei, nicht zu wissen, was er wolle; so werde er, wenn er auch viel erreiche, doch noch im Genusse vor Begierde verschmachten, ganz wie Faust, aber vermuthlich wie ein sehr
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Menschliches, Allzumenschliches II
pöbelhafter Faust. "Den Fa u s t - Te u f e 1 nämlich, rief er zuletzt, von dem die gebildeten Deutschen so geplagt wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben: nun ist der Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je vorher.«
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M ein u n gen. - Die meisten Menschen sind Nichts und gelten Nichts, bis sie sich in allgemeine Ueberzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben, nach der SchneiderPhilosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Mensehen aber muss es heissen: er s t der T r ä ger mac h t die T r ach t; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas Anderes als Masken, Putz und Verkleidung.
32 6. 15
Zwei Arten der Nüchternheit. - Um Nüchternheit aus Erschöpfung des Geistes nicht mit Nüchternheit aus Mässigung zu verwechseln, muss man darauf Acht haben, das die erstere übellaunig, die andere frohmüthig ist.
327· 20
Verfälschung der Freude. - Keinen Tag länger eine Sache gut heissen als sie uns gut scheint, und vor Allem: k ein e n Tag fr ü her, - das ist das einzige Mittel, sich die Fr e u d e ächt zu erhalten: die sonst allzu leicht fade und faul im Geschmacke wird und jetzt für ganze Schichten des Volkes zu den verfälschten Lebensmitteln gehört.
328 . Der Tu gen d - B 0 c k. - Beim Allerbesten, was Einer
1. Vermismte Meinungen und Sprüme 324-332
515
thut, suchen Die, welche ihm wohlwollen, aber seiner That nicht gewachsen sind, schleunigst einen Bock, um ihn zu schlachten, wähnend, es sei der Sündenbock - aber es ist der Tugend-Bock.
3.19· Sou ver ä n i t ä t. - Auch das Schlechte ehren und sich zu ihm bekennen, wenn es Einem g e fäll t, und keinen Begriff davon haben, wie man sich seines Gefallens schämen könne, ist das Merkmal der Souveränität, im Grossen und Kleinen.
10
15
20
33°· Der Wirkende ein Phantom, keine Wirk1ich k e i t. - Der bedeutende Mensch lernt allmählich, dass er, so f ern er wir k t, ein P h a n tom in den Köpfen Anderer ist, und geräth vielleicht in die feine Seelenqual, sich zu fragen, ob er das Phantom von sich zum Be s t e n seiner Mitmenschen nicht aufrecht erhalten müsse.
33 I. N e h m e nun d g e ben. - Wenn man von Einem das Geringste weg (oder vorweg) genommen hat, so ist er blind dafür, dass man ihm viel Grösseres, ja das Grösste gegeben hat.
33.1· Der gut e Ac k e r. - Alles Abweisen und Negiren zeigt einen Mangel an Fruchtbarkeit an: im Grunde, wenn wir nur gutes Ackerland wären, dürften wir Nichts unbenützt umkommen lassen und in jedem Dinge, Ereignisse und Menschen willkommenen Dünger, Regen oder Sonnenschein sehen.
516
Mensthlithes, Allzumensthlithes II
333· Ver k ehr als Gen u s s. - Hält sich Einer, mit entsagendem Sinne, absichtlich in der Einsamkeit, so kann er sich dadurch den Verkehr mit Menschen, selten genossen, zum Lekkerbissen machen.
334· zu 1eid e n ver s t ehe n. - Man muss sein Unglück affichiren und von Zeit zu Zeit hörbar seufzen, sichtbar ungeduldig sein: denn liesse man die Andern merken, 10 wie sicher und glücklich in sich man trotz Schmerz und Entbehrung ist, wie neidisch und böswillig würde man sie machen! Aber wir müssen Sorge dafür tragen, dass wir unsre Mitmenschen nicht verschlechtern; überdies würden sie uns in jenem Falle harte Steuern auferlegen, und unser ö f f e n t I ich e s Lei15 den ist jedenfalls auch unser p r i v at e r Vortheil.
o e ff e n tl ich
335· Wärme in den Höhen. - Auf den Höhen ist es wärmer als man in den Thälern meint, namentlich im Winter. Der Denker weiss, was alles diess Gleichniss besagt.
20
25
33 6 . Das Gut e woll e n, das S c h ö n e k ö n n e n. - Es genügt nicht, das Gut e zu üben, man muss es gewollt haben und, nach dem Wort des Dichters, die Gottheit in seinen Will e n aufnehmen. Aber das S c h ö n e darf man nicht wollen, man muss es k ö n n e n, in Unschuld und Blindheit, ohne alle Neubegier der Psyche. Wer seine Laterne anzündet, um vollkommene Menschen zu finden, der achte auf diess Merkmal: es sind die, welche immer um des Guten willen handeln und
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 333-339
517
immer dabei das Schöne erreichen, ohne daran zu denken. Viele der Besseren und Edleren bleiben nämlich, aus Unvermögen und Mangel der schönen Seele, mit allem ihren guten Willen und ihren guten Werken, unerquicklich und hässlich anzusehen; sie 5 stossen zurück und schaden selbst der Tugend durch das widrige Gewand, welches ihr schlechter Geschmack derselben anlegt.
10
337· G e f a h r der E n t sag end e n. - Man muss sich hüten, sein Leben auf einen zu schmalen Grund von Begehrlichkeit zu gründen: denn wenn man den Freuden entsagt, welche Stellungen, Ehren, Genossenschaften, Wollüste, Bequemlichkeiten, Künste mit sich bringen, so kann ein Tag kommen, wo man merkt, statt der We i s h e i t, durch diese Verzichtleistung den Leb e n s - U e b erd ru s s zum Nachbarn erlangt zu haben.
33 8.
Let z t e Me i nun g übe r Me i nun gen. - Entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört zum Orden der heiligen Tollkühnheit.
339·
30
"Gaudeamus igitur". - Die Freude muss auch für die sittliche Natur des Menschen auferbauende und ausheilende Kräfte enthalten: wie käme es sonst, dass unsere Seele, sobald sie im Sonnenschein der Freude ruht, sich unwillkürlich gelobt "gut sein!" "vollkommen werden!" und dass dabei ein Vorgefühl der Vollkommenheit, gleich einem seligen Schauder, sie erfasst?
518
Menschliches, Allzumenschliches II
340.
An ein enG e lob te n. - So lange man dim lobt, glaube nur immer, dass du noch nimt auf deiner eigenen Bahn, sondern auf der eines Andern bist.
341.
Den M eis t e r I i e ben. anders der Meister den Meister.
Anders liebt der Gesell,
34 2 • 10
15
Allzuschönes und Menschliches. - "Die Natur ist zu smön für dich armen Sterblimen" - so empfindet man nicht selten: aber ein paarmal, bei einem innigen Anschauen alles Mensmlimen, seiner Fülle, Kraft, Zartheit, Verflomtenheit, war es mir zu Muthe, als ob im sagen müsste, in aller Demuth: "aum der M e n sc h ist zu schön für den betrachtenden Mensmen!" - und zwar nimt etwa nur der moralisme Mensm, sondern jeder.
343·
~o
~s
B ewe g I ich e Hab e und G run d b e s i t z. - Wenn Einen das Leben einmal remt räuber haft behandelt hat, und an Ehren, Freuden, Anhang, Gesundheit, Besitz aller Annahm, was es nehmen konnte, so entdeckt man vielleimt hinterdrein, nam dem ersten Schrecken, dass man re ich e r ist, als zuvor. Denn jetzt erst weiss man, was Einem so zu eigen ist, dass keine Räuberhand dann zu rühren vermag: und so geht man vielleimt aus aller Plünderung und Verwirrung mit der Vornehmheit eines grossen Grundbesitzers hervor.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 340-347
519
344·
U n f r e i w ill i gel d e a lf i gur e n. - Das peinlichste Gefühl, das es giebt, ist, zu entdecken, dass man immer für etwas Höheres genommen wird als man ist. Denn man muss sich dabei eingestehen: irgend Etwas an dir ist Lug und Trug, dein Wort, dein Ausdruck, deine Gebärde, dein Auge, deine Handlung und dieses trügerische Etwas ist so nohtwendig wie deine sonstige Ehrlichkeit, hebt aber deren Wirkung und Werth fortwährend auf.
10
345·
Idealist und Lügner. - Man soll sich auch von dem schönsten Vergnügen - dem, die Dinj1;e in's Ideal zu heben - nicht tyrannisiren lassen: sonst trennt sich eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen Worte "du Lügner von Grund 15 aus, was habe ich mit dir zu schaffen!"
34 6 .
10
Missverstanden werden. - Wenn man als Ganzes missverstanden wird, so ist es unmöglich, ein einzelnes Missverstandenwerden von Grund aus zu heben. Diess muss man einsehen, um nicht überflüssig Kraft in seiner Vertheidigung zu verschwenden.
347·
15
Der Wassertrinker spricht. - Trinke deinen Wein nur weiter, der dich dein Leben lang gelabt hat, - was geht es dich an, dass ich ein Wassertrinker sein muss? Sind Wein und Wasser nicht friedfertige, brüderliche Elemente, die ohne Vorwurf bei einander wohnen?
520
Menschliches, Allzumenschliches 11
34 8•
Aus dem La n d e der Me n s ehe n f res s e r. - In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.
349·
10
15
~o
~5
I m G e f ri e r p une t des Will e n s. - "Endlich einmal kommt sie doch, die Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeit einhüllen wird: wo die Seele ihre eigene Müdigkeit geniesst und glücklich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines See's gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze eines buntgefärbten Abendhimmels, am Ufer schlürfen, schlürfen und wieder stille sind - ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürfniss, - ganz Ruhe, die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben und Einfluthen in den Pulsschlag der Natur." Diess ist Empfindung und Rede aller Kranken: erreichen sie aber jene Stunden, so kommt, nach kurzem Genusse, die Langeweile. Diese aber ist der Thauwind für den eingefrorenen Willen: er erwacht, bewegt sich und zeugt wieder Wunsch auf Wunsch. - Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung.
35°· Das ver leu g ne tel d e a 1. - Ausnahmsweise kommt es vor, dass Einer das Höchste erst dann erreicht, wenn er sein Ideal verleugnet: denn diess Ideal trieb ihn bisher zu heftig an, so dass er in der Mitte der jedesmaligen Bahn ausser Athem kam und stehen bleiben musste.
351·
Ver rät her i s ehe N e i gun g. -
Man beachte es als
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 348-355
521
Merkmal eines neidischen, aber höherstrebenden Menschen, wenn er sich von dem Gedanken angezogen fühlt, dass es dem Vortrefflichen gegenüber nur eine Rettung giebt: Liebe. 35 2 •
10
15
T r e p p e n - G I ü c k. - Wie der Witz mancher Menschen nicht mit der Gelegenheit. gleichen Schritt hält, so dass die Gelegenheit schon durch die Türe hindurch ist, während der Witz noch auf der Treppe steht: so giebt es bei Andern eine Art von Treppen-GIUck, welches zu langsam läuft, um der schnellfüssigen Zeit immer zur Seite zu sein: das Beste, was sie von einem Erlebniss, einer ganzen Lebensstrecke zu geniessen bekommen, fällt ihnen erst lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher gewürzter Duft, welcher Sehnsucht erweckt und Trauer, - als ob es möglich gewesen wäre, irgendwann in diesem Element sich recht satt zu trinken. Nun aber ist es zu spät.
353·
W ü r m e r. - Es spricht nicht gegen die Reife emes Geistes, dass er einige Würmer hat.
354· 10
Der sie g r eie h e Si t z. - Eine gute Haltung zu Pferd stiehlt dem Gegner den Muth, dem Zuschauer das Herz, - wozu willst du erst noch angreifen? Sitze wie Einer, der gesiegt hat.
15
Gefahr in der Bewunderung. - Man kann aus allzugrosser Bewunderung für fremde Tugenden den Sinn für seine eigenen und, durch Mangel an Uebung, zuletzt diese selbst verlieren, ohne die fremden dafür zum Ersatz zu erhalten.
355·
522
Menschliches, Allzumenschliches II
35 6 •
5
10
15
Nut zen der K r ä n k I ich k e i t. - Wer oft krank ist, hat nicht nur einen viel grösseren Genuss am Gesundsein, wegen seines häufigen Gesundwerdens: sondern auch einen höchst geschärften Sinn für Gesundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und fremden: so dass zum Beispiel gerade die kränklichen Schriftsteller - und darunter sind leider fast alle grossen - in ihren Schriften einen viel sicherem und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben pflegen, weil sie besser als die körperlich Robusten, sich auf die Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung und ihre Lehrmeister: Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle verstehen.
357· U n t r e u e, B e d i n gun g der M eis t e r s c h a f t. Es hilft Nichts: Jeder Meister hat nur Einen Schüler - und der wird ihm untreu, - denn er ist zur Meisterschaft auch bestimmt.
35 8. 20
25
Nie ums 0 n s t. - Im Gebirge der Wahrheit k1etterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können.
359· Vor g rau e n F e n s t e r s ehe i ben. - Ist denn Das, was ihr durch diess Fenster von der Welt seht, so schön, dass ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr blicken wollt, - ja selbst Andere davon abzuhalten den Versuch macht?
1. Vermisdlte Meinungen und Sprüme 356-364
523
360. A n z eie h e n s t a r k e r Wa n d lu n gen. - Es ist ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Todten träumt, dass man eine starke Wandlung in sich durchlebt hat und dass der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben worden ist: da stehen die Todten auf und unser Alterthum wird Neuthum.
36 1.
10
A r z n ei cl e r See I e. - Still-liegen und Wenig-denken ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer.
362 . Zur Rangordnung der Geister. - Es ordnet dich tief unter Jenen, dass du die Ausnahmen festzustellen 15 suchst, Jener aber die Regel.
20
36 3. Der F a t a li s t. - Du mus s t an das Fatum glauben, - dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst - Feigheit, Ergebung oder Grossartigkeit und Freimuth - das legt Zeugniss von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn gestreut wurde; nicht aber vom Samenkorn selbst, denn aus ihm kann Alles und Jedes werden.
36 4. 25 Grund vieler Verdriesslichkeit. - Wer im Leben das Schöne dem Nützlichen vorzieht, wird sich gewiss zu-
524
Mensmlimes, Allzumensmlimes II
letzt, wie das Kind, welches Zuckerwerk dem Brode vorzieht, den Magen verderben und sehr verdriesslich in die Welt sehen.
36 5.
U e b e r m aas s als H eil mit tel. - Man kann sich seine eigene Begabung dadurch wieder schmackhaft machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermässig verehrt und geniesst. Das Uebermaass als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.
366 . 10
15
" Woll e ein SeI b s t." Die thätigen erfolgreichen N aturen handeln nicht nach dem Spruche "kenne dich selbst", sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: wo I I e ein Selbst, so wir s t du ein Selbst. - Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die Unthätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes Eine Mal, beim Eintritt in's Leben, gewählt hab e n.
367. Wo m ö g I ich 0 h n e A n h an g 1 e ben. - Wie wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst, wenn man aufzo gehört hat, der Anhänger seiner Anhänger zu sein.
368 .
Sie h ver dun k ein. - Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzulästiger Bewunderer loszuwerden.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 364-373
525
36 9.
L a n g ewe i I e. - Es giebt eine Langeweile der feinsten und gebildetsten Köpfe, denen das Beste, was die Erde bietet, schaal geworden ist: gewöhnt daran, ausgesuchte und immer ausgesuchtere Kost zu essen und vor der gröberen sich zu ekeln, sind sie in Gefahr, Hungers zu sterben, - denn des Allerbesten ist nur Wenig da, und mitunter ist es unzugänglich oder steinhart geworden, so dass es auch gute Zähne nicht mehr beissen können.
10
370.
Die G e fa h r i n der B e w und e run g. - Die Bewunderung einer Eigenschaft oder Kunst kann so stark sein, dass sie uns abhält, nach ihrem Besitz zu streben.
371. 15
10
Was man von der K uns t will. - Der Eine will vermittelst der Kunst sich seines Wesens freuen, der Andere will mit ihrer Hülfe zeitweilig über sein Wesen hinaus, von ihm weg. Nach beiden Bedürfnissen giebt es eine doppelte Art von Kunst und Künstlern.
372 •
Ab fall. - Wer von uns abfällt, beleidigt damit vielleicht nicht uns, aber sicherlich unsere Anhänger.
373· 15
N ach dem Tod e. - Wir finden es gewöhnlich erst lange nach dem Tode eines Menschen unbegreiflich, dass er fehlt: bei ganz grossenMenschen oft erst nach Jahrzehnden. Wer
526
Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
ehrlich ist, meint bei einem Todesfalle gewöhnlich, dass eigentlich nicht viel fehle und das der feierliche Leichenredner ein Heuchler sei. Erst die Noth lehrt das Nöthig-sein eines Einzelnen, und das rechte Epitaph ist ein später Seufzer.
374·
10
I m H ade s las sen. - Viele Dinge muss man im Hades halbbewussten Fühlens lassen und nicht aus ihrem Schatten-Dasein erlösen wollen, sonst werden sie, als Gedanke und Wort, unsere dämonischen Herrn und verlangen grausam nach unserm Blute.
IS
Näh e des B e t tl e r t h ums. - Auch der reichste Geist hat gelegentlich den Schlüssel zu der Kammer verloren, in der seine aufgespeicherten Schätze ruhen und ist dann dem Aermsten gleich, der betteln muss, um nur zu leben.
375·
37 6 .
K e t t e n - Den k e r. - Einem, der viel gedacht hat, erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort in Gestalt einer Kette. 377·
Mit lei d. - In der vergoldeten Scheide des Mitleides steckt mitunter der Dolch des Neides.
37 8. ~s
Was ist Gen i e? dazu wollen.
Ein hohes Ziel und die Mittel
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 373-382
527
379·
Ei tel k e i t der K ä m p fe r. - Wer keine Hoffnung hat, in einem Kampfe zu siegen, oder ersichtlich unterlegen ist, will umsomehr, dass die Art seines Kämpfens bewundert werde.
10
380 . Das philosophische Leben wird missged e u te t. - In dem Augenblicke, wo Jemand anfängt mit der Philosophie Ernst zu machen, glaubt alle Welt das Gegentheil davon. 38r • Na c h ahm u n g. - Das Schlechte gewinnt durch die Nachahmung an Ansehen, das Gute verliert dabei, - namentlich in der Kunst.
382 . Let z teL ehr e der His tor i e. - "Ach, dass ich damals gelebt hätte!" - das ist die Rede thörichter und spielerischer Menschen. Vielmehr wird man, bei jedem Stück Geschichte, das man ern s t I ich betrachtet hat, und sei es das ge10 lobteste Land der Vergangenheit, zuletzt ausrufen: "nur nicht dahin wieder zurückl Der Geist jener Zeit würde mit der Last von hundert Atmosphären auf dich drücken, des Guten und Schönen an ihr würdest du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen können." - Zuverlässig wird die Nachwelt 15 ebenso über unsre Zeit urtheilen: sie sei unausstehlich, das Leben in ihr unlebebar gewesen. - Und doch hält es Jeder in seiner Zeit aus? - Ja und zwar desshalb, weil der Geist seiner Zeit nicht nur auf ihm liegt, sondern auch in ihm ist. Der Geist der Zeit leistet sich selber Widerstand, trägt sich selber.
528
Menschliches, Allzumenschliches 11
3 8 3.
10
G r 0 s s h e i tal s M a s k e. - Mit Grossheit des Benehmens erbittert man seine Feinde, mit Neid, den man merken lässt, versöhnt man sie sich beinahe: denn der Neid vergleicht, setzt gleich, er ist eine unfreiwillige und stöhnende Art von Bescheidenheit. - Ob wohl hier und da, des erwähnten Vortheils halber, der Neid als Maske vorgenommen worden ist, von Solchen, welche nicht neidisch waren? Vielleicht; sicherlich aber wird Grossheit des Benehmens oft als Maske des Neides gebraucht, von Ehrgeizigen, welche lieber Nachtheile erleiden und ihre Feinde erbittern wollen, als merken lassen, dass sie sich innerlich ihnen gleich setzen. 3 84.
15
U n ver z ei h I ich. - Du hast ihm eine Gelegenheit gegeben, Grösse des Charakters zu zeigen, und er hat sie nicht benutzt. Das wird er dir nie verzeihen.
3 8 5. 20
25
G e gen - 5 ätz e. - Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze "das Ich ist immer hassenswerth"; das Kindlichste in dem noch berühmteren "liebe deinen Nächsten, wie dich selbst". - Bei dem einen hat die Menschenkenntniss aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.
3 86 .
30
Das feh I end e 0 h r. - "Man gehört noch zum Pöbel, so lange man immer auf Andere die Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich selber verantwortlich macht; aber der Weise findet Niemanden schuldig, we-
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 383-389
$
10
If
20
529
der sich noch Andere." - Wer sagt diess? - Epiktet, vor achtzehnhundert Jahren. - Man hat es gehört, aber vergessen. Nein, man hat es nicht gehört und nicht vergessen: nicht jedes Ding vergisst sich. Aber man hatte das Ohr nicht dafür, das Ohr Epiktet's. - So hat er es also sich selber in's Ohr gesagt? - So ist es: Weisheit ist das Gezischel des Einsamen mit sich auf vollem Markte. 387. Feh I erd e s S t a n d p une t es, nie h t des A u g e s. Man sieht sich selber immer einige Schritte zu nah; und den Nächsten immer einige Schritte zu fern. So kommt es, dass man ihn zu sehr in Bausch und Bogen beurtheilt und sich selber zu sehr nach einzelnen gelegentlichen unbeträchtlichen Zügen und Vorkommnissen.
388.
Die I g n 0 r a n z in Wa ff e n. - Wie leicht nehmen wir es, ob ein Andrer von einer Sache weiss oder nicht weiss, während er vielleicht schon bei der Vorstellung Blut schwitzt, dass man ihn hierin für unwissend halte. Ja, es giebt ausgesuchte Narren, welche immer mit einern vollen Köcher von Bannflüchen und Machtsprüchen einhergehen, bereit, Jeden niederzuschiessen, der merken lässt, es gebe Dinge, worin ihr Urtheil nicht in Betracht komme.
389. 25
Am Trinktisch der Erfahrung. Personen, welche aus angeborener Mässigkeit jedes Glas halbausgetrunken stehen lassen, wollen nicht zugeben, dass jedes Ding in der Welt seine Neige und Hefe habe.
530
Mensdtliches, Allzumenschliches II
39°·
Si n g v ö gel. - Die Anhänger eines grossen Mannes pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu können.
39 1 •
Nie h t ge wach sen. - Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.
39 2 •
10
Die R e gel als Mut t e rod e r als Kin d. - Ein anderer Zustand ist der, weicher die Regel gebiert, ein anderer der, welchen die Regel gebiert.
393·
I5
Kom ö die. - Wir ernten mitunter Liebe und Ehre für Thaten oder Werke, welche wir längst wie eine Haut von uns abgestreift haben: da werden wir leicht verführt, die Komödianten unserer eigenen Vergangenheit zu machen und das alte Fell noch einmal über die Schultern zu werfen - und nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch aus Wohlwollen gegen unsere Bewunderer.
394· 20
Feh 1erd erB i 0 g rap h e n. - Die kleine Kraft, welche Noth thut, einen Kahn in den Strom hineinzustossen, soll nicht mit der Kraft dieses Stromes, der ihn fürderhin trägt, verwechselt werden: aber es geschieht fast in allen Biographien.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 390-398
531
395·
Nicht zu theuer kaufen. - Was man zu theuer kauft, verwendet man gewöhnlich auch noch schlecht, weil ohne Liebe und mit peinlicher Erinnerung, - und so hat man einen doppelten Nachtheil davon.
39 6 .
10
15
Welche Philosophie immer der Gesellschaft not h t hut. - Der Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ruht auf dem Grunde, dass ein Jeder auf Das, was er ist, thut und erstrebt, auf seine Gesundheit oder Krankheit, seine Armuth oder Wohlstand, seine Ehre oder Unansehnlichkeit, mit Heiterkeit hinblickt und dabei empfindet "i c h tau s c h e d 0 c h mit K ein e m". - Wer an der Ordnung der Gesellschaft bauen will, möge nur immer diese Philosophie der heiteren Tauschablehnung und Neidlosigkeit in die Herzen einpflanzen.
397·
10
A n z e ich end e r vor n eh m e n See 1e. - Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber i m m e r in einer freieren durchleuchteteren Luft und Höhe wohnt.
15
Das Grosse und sein Betrachter. - Die beste Wirkung des Grossen ist, dass es dem Betrachter ein vergrösserndes und abrundendes Auge einsetzt.
39 8•
532
Menschliches, Allzumenschliches 11
399· Sie h gen ü gen las sen. - Die erlangte Reife des Verstandes bekundet sich darin, dass man dorthin, wo seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der Erkenntniss stehen, nicht mehr geht und sich an Garten, Wald, Wiese und Ackerfeld genügen lässt, in Anbetracht wie das Leben für das Seltene und Aussergewöhnliche zu kurz ist.
10
4°°· V 0 rt h eil i n der E n tb ehr u n g. - Wer immerdar in der Wärme und Fülle des Herzens und gleichsam in der Sommerluft der Seele lebt, kann sich jenes schauerliche Entzücken nicht vorstellen, welches winterlichere Naturen ergreift, die ausnahmsweise von den Strahlen der Liebe und dem lauen Anhauche eines sonnigen Februartages berührt werden.
15
401.
lO
Recept für den Dulder. - Dir wird die Last des Lebens zu schwer? - So musst du die Last deines Lebens vermehren. Wenn der Dulder endlich nach dem Flusse Lethe dürstet und sucht, - so muss er zum Hel den werden, um ihn gewiss zu finden. 4°2. Der R ich t e r. - Wer Jemandes Ideal geschaut hat, ist dessen unerbittlicher Richter und gleichsam sein böses Gewissen.
l5
4°3· Nut zen der g r 0 s sen E n t sag u n g. - Das Nützlichste an der grossen Entsagung ist, dass sie uns jenen Tugend-
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 399-408
533
stolz mittheilt, vermöge dessen wir von da an leicht viele kleine Entsagungen von uns erlangen.
404· Wie die Pflicht Glanz bekommt. - Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von Jedermann in Gold zu verwandeln, heisst: halte immer etwas mehr, als du versprichst.
4°5· Gebet zu Menschen. - "Vergieb uns unsere Tugenden" - so soll man zu Menschen beten.
10
4 06 .
S c haff end e und Gen i e s sen d e. - Jeder Geniessende meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen. - Hierin besteht der Unterschied zwischen allen Schaffenden und Geniessenden.
15
20
4°7· Der Ruhm aller Grossen. - Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mittheilt, dass er des Genie's nicht mehr bedarf! - S ich übe r f I ü s s i g mac h e n das ist der Ruhm aller Großen.
408 .
Die Ha des f a h r t. - Auch ich bin In der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden
534
10
15
Menschliches, AJlzumenschliches II
zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. - Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während Jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, na c h dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am "ewigen Leben" und überhaupt am Leben gelegen!
Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten.
Zweiter und letzter Nachtrag zu der früher erschienenen Gedankensarnrnlung .M e ns chi ich es, All z urnens c h li c h es. Ein Buch für freie Geister." [Zur Erstausgabe IBBoJ
10
IS
10
Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben. Der Wanderer: Er redet - wo? und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die meine ist. Der Schatten: (nach einer Weile): Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben? Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht. Der Schatten: Nehmen wir es hin und denken wir nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist Alles vorbei. Der Wanderer: Ganz so dachte ich, als ich in einem Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kameele sah. Der Schatten: Es ist gut, dass wir Beide auf gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht: so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem Andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal unverständlich klingt. Weiss man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon, Etwas zu sagen: das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit Jemandem unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum Narren und dreimal zum Tropf.
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
Der Wanderer: Deine Genügsamkeit ist nicht schmeichelhaft für Den, welchem du sie eingestehst. Der Schatten: Soll ich denn schmeicheln? Der Wanderer: Ich dachte, der menschliche Schatten sei seine Eitelkeit; diese würde aber nie fragen: "soll ich denn schmeicheln?" Der Schatten: Die menschliche Eitelkeit, soweit ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal that, ob sie reden dürfe: sie redet immer. 10 Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich f r e u e, dich zu hören und nicht blos zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der 15 Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nöthig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach. Der Schatten: Und ich hasse das Selhe, was du hassest, die 10 Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind, und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniss auf sie fällt, - jener Schatten bin 15 ich auch. Der Wanderer: Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest Recht: gute Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses, welches für jeden Drit30 ten ein Räthsel sein soll. Und wir sind gute Freunde. Desshalb genug des Vorredens! Ein paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit mit einander zusammenkommen.
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Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner, als die Menschen: du wirst Niemandem mittheilen, wie wir zusammen gesprochen haben! Der Wanderer: Wie wir zusammen gesprochen haben? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspectiven: Alles ist zu lang oder zu kurz. - Doch werde ich vielleicht mittheilen dürfen, wo r übe r wir übereingekommen sind? Der Schatten: Damit bin ich zufrieden; denn Alle werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des Schattens wird Niemand gedenken. Der Wanderer: Vielleicht irrst du, Freund! Bis jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen, als mich. Der Schatten: Mehr den Schatten, als das Licht? Ist es möglich? Der Wanderer: Sei ernsthaft, lieber Narr! Gleich meine erste Frage verlangt Ernst. -
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Menschliches, Allzumenschliches II
I.
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Vom Bau m der Er k e n n t n iss. - Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, - diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann. 2.
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Die Ver nun f t der Welt. - Dass die Welt nie h t der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes S t ü c k We 1t, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluss a minori ad majus, aparte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. 3· "A mAn fan g war". - Die Entstehung verherrlichen das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste.
4· M aa s s für den Wer t h der W a h r h e i t. - Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maassstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! - sagen uns Einige, die für eingeweiht gelten wollen -, die Mühsal um
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die Wahrheit soll gerade über den Werth der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die" Wahrheiten" eigentlich Nichts weiter seien, als Turngeräthschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hät5 ten, - eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.
5· S p r ach g e b rau c h und Wir k I ich k e i t. - Es giebt eine erheuchelte Missachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, a 11 ern ä c h s t e n 10 D i n g e. Man sagt zum Beispiel "man isst nur, um zu leben", - eine verfluchte Lüg e , wie jene, welche von der Kinderzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung der" wichtigsten Dinge" fast niemals ganz ächt: die Priester und Metaphysiker haben uns zwar 15 auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden S p r ach g e b rau c h gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt, wie jene verachteten nächsten Dinge. - Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei aber ist immerhin, dass man 10 die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht zum Object des stätigen unbefangenen und all ge me i n e n Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil diess für herabwürdigend gilt, seinen intellectuellen und künstlerischen Ernst davon abwendet; so dass hier die Gewohn15 heit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend leichten Sieg haben: während andererseits unsere fortwährenden Verstösse gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes uns Alle, Jüngere und Aeltere, in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, 30 ich meine in jene im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Aerzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt.
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Menschliches, Allzumenschliches II
6. Die irdische Gebrechlichkeit und ihre Hau p tu r s ach e. - Man triffi, wenn man sich umsieht, immer auf Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, dass die länglichten die wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, dass ein Gewitter dem Unterleib förderlich ist, dass Wohlgerüche in kalter klarer Luft am stärksten riechen, dass unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich ist, dass jede Mahlzeit, bei der man gut spricht 10 oder gut hört, dem Magen Nachtheil bringt. Man mag mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen, dass die a 11 e r n ä c h s t enD i n g e von den Meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden. Und ist diess gleichgültig? - Man 15 erwäge doch, dass aus diesem Mangel sich f ast a 11 eie i b I ich e nun d see I i s c h enG e b re ehe n der Einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Vertheilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Musse, Befehlen ~o und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken; im K lei n s t e nun d All t ä g I ich s t e n u n w iss end zu sein und keine scharfen Augen zu haben das ist es, was die Erde für so Viele zu einer" Wiese des Unheils" macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der mensch~5 lichen U n ver nun f t : vielmehr - Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird f als c h gerichtet und k ü n s t I ich von jenen kleinen und allernächsten Dingen a b gel e n k t. Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren, reden schon dem Kinde 30 ein, es komme auf etwas ganz Anderes an: auf das Heil der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfniss des Einzelnen, seine grosse und kleine Noth innerhalb der vierundzwanzig
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Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. Sokrates schon wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmüthige Vernachlässigung des Menschlichen zu Gunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homer's, an den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen: Das ist es und nur Das, sagt er, "was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet".
7· Z w e i T r 0 s t mit tel. - Epikur, der Seelen-Beschwich10 tiger des späteren Alterthums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu finden ist, dass zur Beruhigung des Gemüths die Lösung der letzten und äussersten theoretischen Fragen gar nicht nöthig sei. So genügte es ihm, Solchen, welche "die Götterangst" quälte, zu sagen: "Wenn es 15 Götter giebt, so bekümmern sie sich nicht um uns," - anstatt über die letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputiren. Jene Position ist viel günstiger und mächtiger: man giebt dem Andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Hören und Beherzigen gutwilliger. Sobald er 10 sich aber anschickt, das Gegentheil zu beweisen dass die Götter sich um uns bekümmern -, in welche Irrsale und Dorngebüsche muss der Arme gerathen, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug Humanität und Feinheit haben muss, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu ver15 bergen. Zuletzt kommt jener Andere zum Ekel, dem stärksten Argument gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung: er wird kalt und geht fort mit der selben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat: "was gehen mich eigentlich die Götter an! Hole sie der Teufel!" - In anderen Fällen, na30 mentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemüth verdüstert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, dass es wohl so sein könne: aber es
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gebe no ehe i n e z w e i t e Hypothese, um die selbe Erscheinung zu erklären; vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten. Die Me h r h e i t der Hypothesen genügt auch in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die Herkunft der Gewissenss bisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. - Wer also Trost zu spenden wünscht, an Unglückliche, Uebelthäter, Hypochonder, Sterbende, möge sich der beiden beruhigenden 10 Wendungen Epikur's erinnern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten Form würden sie etwa lauten: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns Nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.
8. In der Na c h t. - Sobald die Nacht hereinbricht, verändert sich unsere Empfindung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie Etwas suchend, verdrossen, weil er's nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem, röthlichem Scheine, ermüdet blik:0 kend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sclave des wachen Menschen. Da sind die Athemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Tact, zu dem eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, - wir hören sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns 2S geschnürten Herzens, und wenn der Athem sinkt und fast in's Todtenstille erstirbt, sagen wir uns "ruhe ein Wenig, du armer gequälter Geist!" - wir wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht überredet zum Tode. - Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mond30 licht und Oel den Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie würde um sie ihren Schleier hüllen! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon zu sehr an, IS
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wie es dun.h die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung, von der das Leben umflort wird. im Ganzen verdüstert ist.
9· Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. - Ueber dem Einen steht die Nothwen d i g k e i t in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem Andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem Dritten als logisches Gewissen, über dem Vierten als Laune und muthwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen Vieren 10 wird aber gerade da die Fr e i h e i t ihres Willens gesucht. wo Jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt diess? Ersichtlich daher. dass Jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein Leb e n s ge f ü h I am 11 grössten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntniss, bald im Muthwillen. Das. wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn. 10 Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige Paare zusammen. - Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemamt hat, fälsmlim auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann aum der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud 21 und Leid, Höhe des Hoffens, Künheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sc!ave. gedrückt und stumpf lebt. - Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung her r s ehe n der Stände.
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K ein e neu e n K e t t e n f ü h I e n. - Solange wir nicht f ü h 1e n, dass wir irgend wovon abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluss, welcher zeigt, wie stolz s und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, dass er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, dass er in der Unabhängigkeit für ge w ö h n I ich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der 10 Empfindung spüren werde. Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: dass er im m e r in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber für fr e i hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch: - "Freiheit des Willens" heisst eigent15 lich Nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen. IX.
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Die Freiheit des Willens und die Isolation der Fa c t a. - Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als Eins und nennt sie ein Factum: zwischen ihm und einem andern Factum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie iso 1i r t jedes Factum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Facten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluss. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungetheilten, untheilbaren Fliessens unverträglich: er setzt voraus, dass j e d e ein z ein e H a n d I u n gis 0 I i r tun dun t h eil bar ist; er ist eine At 0 m ist i k im Bereiche des Wollens und Erkennens. - Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Facten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Facten: bei d e gi e b t es ni c h t. Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, dass
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es gl e ich e Facta gebe, dass eine abgestufte Ordnung von Ga t tun gen der Facten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Werthordnung entspreche: also wir iso I ire n nicht nur das einzelne Factum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Facten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen u.s.w.) - beide Male irrthümlich. - Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, wesshalb wir an diese Isolation von Handlungen-Gruppen glauben: mit ihnen be z e ich n e n wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das Wes e n derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der S pr ach e versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das he isst der gl e ich e n Facten und der iso I i rt e n Facten, - hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt.
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Die G run dir r t h ü m e r. - Damit der Mensch irgend eine seelische Lust oder Unlust empfinde, muss er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein: e n t w e der glaubt er an die GI e ich h e i t gewisser Facta, gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung Statt findet) eine seelische Lust oder Unlust; ode r er glaubt an die Will e n s - F r e i h e i t, etwa wenn er denkt "diess hätte ich nicht thun müssen," "dies hätte anders auslaufen können," und gewinnt daraus ebenfalls Lust oder Unlust. Ohne die Irrthümer, welche bei jeder seelischen Lust und Unlust thätig sind, würde niemals ein Menschenthum entstanden sein, - dessen Grundempfindung ist und bleibt, dass der
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Menschliches, Allzumenschliches II
Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige W und e r t h ä t er, sei es dass er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Ueberthier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort 5 des kosmischen Räthsels, der gros se Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte We I t g e s chi c h t e nennt! - Vanitas vanitatum homo.
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13· Z w e i mal sag e n. - Es ist gut, eine Sache sofort doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuss zu geben. Auf Einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen.
14· Der M e n s eh, der Kom ö dia n t der We I t. - Es 15 müsste geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen sind, blos um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, dass der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht, und die Menschheit sich ernstlich nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission zufrieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, 20 so schuf er den Menschen zum A f f enG 0 t t es, als fortwährenden Anlass zur Erheiterung in seinen allzu langen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem S c h m erz kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche 25 sein Lieblingsthier, um an den tragisch-stolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der geistigen Erfindsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben als Erfinder dieses Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaasse ersann, hatte mehr Geist, als dieser, und auch mehr 30 Freude am Geist. - Selbst hier noch, wo sich unser Menschen-
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thum einmal freiwillig demüthigen will, spielt uns die Eitelkeit einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in die s e r Eitelkeit etwas ganz Unvergleichliches und Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der Welt! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache! Die Astronomen, denen mitunter wirklich ein erdentrückter Gesichtskreis zu Theil wird, geben zu verstehen, dass der Tropfen Leb e n in der Welt für den gesammten Charakter des ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen ohne Bedeutung ist; dass ungezählte Gestirne ähnliche Bedingungen zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde, sehr viele also, - freilich kaum eine Handvoll im Vergleich zu den unendlich vielen, welche den lebenden Ausschlag nie gehabt haben oder von ihm längst genesen sind; dass das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an der Zeitdauer seiner Existenz, ein Augenblick, ein Aufflackern gewesen ist, mit langen, langen Zeiträumen hinterdrein, - also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht ihrer Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, dass sie Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir diess thun, wenn wir an den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den Erduntergang anknüpfen: ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei stehen bleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine Welt- und Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste Astronom selber kann die Erde ohne Leben kaum anders empfinden, als wie den leuchtenden und schwebenden Grabhügel der Menschheit.
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B es ehe i den h e i t des M e n s ehe n. - Wie wenig Lust genügt den Meisten, um das Leben gut zu finden, wie bescheiden ist der Mensch!
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16. Wo r i n G lei c h g ü I t i g k e i t not h t hut. - Nichts wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird, und bis dahin auf die her köm m 1ich e Weise denken (und namentlich glauben!) - wie diess so oft angerathen wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus nur Sie her h e i t e n haben zu wollen, ist ein re 1 i g i öse r Na c h tri e b, nichts Besseres, - eine versteckte und nur scheinbar skeptische Art des "metaphysischen Bedürfnisses," mit dem Hintergedanken verkuppelt, dass noch lange Zeit keine Aussicht auf diese letzten Sicherheiten vorhanden, und bis dahin der "Gläubige" im Recht ist, sich um das ganze Gebiet nicht zu kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die alleräussersten Horizonte gar nicht n Ö t h i g, um ein volles und tüchtiges Menschenthum zu leben: ebenso wenig als die Ameise sie nöthig hat, um eine gute Ameise zu sein. Vielmehr müssen wir uns darüber in's Klare bringen, woher eigentlich jene fatale Wichtigkeit kommt, die wir jenen Dingen so lange beigelegt haben, und dazu brauchen wir die His tor i e der ethischen und religiösen Empfindungen. Denn nur unter dem Einfluss dieser Empfindungen sind uns jene allerspitzesten Fragen der Erkenntniss so erheblich und furchtbar geworden: man hat in die äussersten Bereiche, wo hin noch das geistige Auge dringt, ohne ins i e einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und Strafe (und zwar ewige Strafe!) hineinverschleppt: und diess um so unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man hat seit Alters mit Verwegenheit dort phantasirt, wo man Nichts feststellen konnte, und seine Nachkommen überredet, diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen, zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe: dass Glaube mehr werth sei, als Wissen. Jetzt nun thut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben noth, sondern Gleichgültigkeit gegen Glauben und angebt ich e s W iss e n auf jenen Gebieten! - A 11 e s Andere muss
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uns näher stehen, als Das, was man uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat: ich meine jene Fragen: wozu der Mensch? Welches Loos hat er nach dem Tode? Wie versöhnt er sich mit Gott? und wie diese Curiosa lauten mögen. Ebensowenig, wie diese Fragen der Religiösen, gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten oder Realisten sein. Sie allesammt sind darauf aus, uns zu einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch Wissen noth thut; selbst für die grössten Liebhaber der 10 Erkenntniss ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wissens15 Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werthe. - Wir müssen wieder gut e N ach bar n der n ä c h s t enD i n g e werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter be20 deckten Himmeln da hat der Mensch als auf den Culturstufen ganzer Jahrtausende allzulange gelebt, und dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst ve r ach te n ge I ern t - und wir, wir Bewohner der li c h t e ren Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen 25 jetzt noch, durch Erbschaft, Etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das Nächste in unser Blut mit.
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Il· Tiefe Erklärungen. - Wer die Stelle eines Autors "tiefer erklärt", als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern ver dun k e I t. So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der Natur; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie sich häufig den Text erst
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daraufhin zu: das heisst, sie ver der ben ihn. Um ein curioses Beispiel für Textverderbniss und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier Schopenhauer's Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Coitus; das Anzeichen des diesem Willen auf's Neue zugesellten, die Möglichkeit der Erlösung offen haltenden Lichtes der Erkenntniss, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei, ja stolz einhergeht, während der Coitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er behauptet, dass j e des We i b , wenn beim Generationsact überrascht, vor Scham vergehn möchte, aber "ihre Schwangerschaft, ohne eine Spur von Scham, ja, mit ein e rAr t S t 0 I z, zur Sc hau t r ä g t." Vor Allem lässt sich dieser Zustand nicht so leicht m ehr zur Schau tragen, als er sich selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade nur die Absichtlichkeit des zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereit gehaltenen "Erklärung" passe. Sodann ist Das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von "jedem Weibe": viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der That sich auf jenen Zustand Etwas zu Gute thun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, dass sie n 0 c h von ihren Männern begehrt werden. Dass bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder sagt oder denkt: "sollte es möglich sein -", dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauer's Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich
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frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellects zu gebären, in welchem "der Wille" sich zum allgemeinen Besten wieder einmal "verneinen" kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen, als Alles, was sie verbergen. - Man kann nicht sagen, dass diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im Allgemeinen darin Recht, dass die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand, als die seinige. Man könnte sich ein Gackern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht seht! ich werde ein Ei legen! ich werde ein Ei legen!
I8. 15 Der moderne Diogenes. - Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben. - Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen?-
I9· Im m 0 r a I ist e n. - Die Moralisten müssen es sich jetzt ~o gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral sec iren. Wer aber seciren will, muss tödten: jedoch nur, damit besser gewusst, besser geurtheilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt secire. Leider aber meinen die Menschen immer noch, dass jeder Moralist auch durch sein gesammtes Han15 deln ein Musterbild sein müsse, welches die Anderen nachzuahmen hätten; sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten secirten nicht genug und predigten allzuhäufig: daher rührt jene Verwechselung und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten.
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Nie h t z u ver w e c h sei n. - Die Moralisten, welche die grossartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarch's, oder den reinen, erleuchteten, wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Männer und Frauen, als schwere Probleme der Erkenntniss behandeln und der Herkunft derselben nachspüren, indern sie das Complicirte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten BegriffsTäuschungen und die von Alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, - diese Moralisten sind am meisten gerade von denen ver s chi e den, mit denen sie doch am meisten ver w e c h sei t werden: von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweise und See1enzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glanze von Grösse und Reinheit versteckt wähnen. Die Moralisten sagen: "hier sind Probleme", und die Erbärmlichen sagen: "hier sind Betrüger und Betrügereien"; sie 1e u gn e n also die E xis t e n z gerade dessen, was jene zu e r k I ä ren beflissen sind.
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Der Me n s c hai s der Me s sen d e. - Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie 25 das Maass und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort "Mensch" bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner grössten Entdeckung ben e n n e n wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmessbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein 30 schienen.
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P r i n c i p des G lei c h g e wie h t s. - Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen Vortheil anders, als der erste erreicht: nämlich durch regelmässige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältniss wie zwischen Handeismann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und die selbe 10 Person sind: wo ihr die eine Function nicht räthlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Ver k lüg e run g der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen - womöglich für Nichts, als die Unternehmungskosten -, so theuer wie möglich verkaufen.) 15 Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber GI eie h g e wie h t zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit, zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gl eie h wie gen den Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Lei20 stungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde z w e i gefährliche Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunct des Vortheils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich 25 zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Thatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Ver nie h tun g athmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. - Die Gemeinde ist im 30 Anfang die Organisation der Schwachen zum GI eie h ge wie h t mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Uebergewicht wäre räthlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenrnacht auf einmal zu ver nie h te n : und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadenthuer, so wird
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diess gewiss ver s u c h t. Ist aber der Eine ein Stammhaupt oder hat er grossen Anhang, so ist die sdmelle, entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Feh d e zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten 5 wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nöthigen Regelmässigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Desshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Vertheidigung und Angriff gen au auf die Höhe zu bringen, 10 auf Jer die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen geben, dass in ihrer Wagschale jetzt gleichviel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund mit einander sein? GI eie h g e wie h t ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der 15 Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt "Auge um Auge, Zahn um Zahn", so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung er hai t e n : sodass, wenn jetzt der Eine sich gegen den Andern vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Son20 dern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse wie der her g e s tell t: denn ein Auge, ein Arm me h r ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. - Innerhalb einer Gemeinde, in der Alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, 25 das heisst gegen Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichtes, Sc h a n d e und S t r a f e da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden Einzelnen, der durch den Uebergriff sich Vortheile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachtheile erfährt, die den früheren Vortheil aufheben 30 und übe r wie gen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Uebergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel grösseres Gegengewicht auf, gegen Gewaltthat den Kerkerzwang, gegen den Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler er i n n e r t, dass er mit seiner
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Handlung aus der Gemeinde und deren Moral-Vor t h eil e n ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, ausser ihr Stehenden; desshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Me h r , ein Etwas von der H ä r t e des N a t u r z u s t a n des; an die sen will sie eben e r in n er n. 23· Ob die Anhänger der Lehre vom freien Will e n s t r a f end ü r f e n? - Die Menschen, welche von Be10 rufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Uebelthäter überhaupt für seine That verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden k 0 n n t e, ob er aus G r ü n den handelte und nicht unbewusst oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, dass er die schlechteren Gründe den IS besseren vorzog: welche er also ge k a n n t haben muss. Wo diese Kentniss fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, dass seine Unkenntniss, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er 10 also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, und muss jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büssen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, lS die Wahl gefehlt, er handelte als Thier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber Jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muss? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Mo30 tiven belastet sind? Also nicht vom Irrthum, von der Blindheit her, nicht von einem äusseren, auch von keinem inneren Zwange her (man erwäge übrigens, dass jeder sogenannte näussere Zwang" Nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und
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des Schmerzes). Woher? fragt man immer wieder. Die Vernun f t soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den "freien Willen" zu Hülfe: es soll das voll end e t e Bel i e ben entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die That als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche Bel i e b i g k e i t, in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom "freien Willen" Gebrauch macht, das he isst weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber war u m that er diess? Diess eben darf nicht einmal mehr ge fra g t werden: es war eine That ohne "darum", ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. - Ein e sol ehe T hat d ü r f t e man ab er, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit, aue h nie h t s t r a f e n! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier Etwas nie h t gethan, Etwas unterlassen, von der Vernunft nie h t Gebrauch gemacht sei; denn unter allen Umständen geschah die Unterlassung 0 h n e Ab sie h t ! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber 0 h n e Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht, dass er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, - gerade sie ist bei der Annahme des "freien Willens" aufgehoben. Ihr d ü r f t nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom "freien Willen", nach euern eigenen Grundsätzen nicht! - Diese sind aber im Grunde Nichts, als eine sehr wunderliche BegriffsMythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.
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24· Zur Beurtheilung des Verbrechers und sein es R ich t e r s. - Der Verbrecher, der den ganzen Fluss der Umstände kennt, findet seine That nicht so ausser der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grade von Er s tau n e n zugemessen, welches jene beim Anblick der That als einer Unbegreiflichkeit befällt. - Wenn die Kenntniss, welche der Vertheidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte 10 hat, weit genug reicht, so m ü s sen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und Strafe zumessende E r s tau n e n m i I der n und zuletzt ganz aufIS heben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniss nöthigt: »er musste so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen." - Den Grad der Strafe abmessen nach dem G rad der K e n n t n iss, welchen man von der Historie eines Ver10 brechens hat 0 der übe r hau p t ge w i n n e n k a n n, streitet diess nicht wider alle Billigkeit? -
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Der Tau s c h und die Bill i g k e i t. - Bei einern Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn 15 Jeder der bei den Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache werth scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit u. s. w. in Anschlag gebracht, nebst dem Affectionswerthe. Sobald er den Preis i n Hin s ich tau f das Be d ü rf ni s s des An der n macht, ist er ein feinerer 30 Räuber und Erpresser. - Ist Geld das eine Tauschobject, so ist zu erwägen, dass ein Frankenthaler in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten
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ganz verschiedene Dinge sind: Jeder wird, je nachdem er fast Nichts oder Viel that, ihn zu erwerben, Wenig oder Viel dafür empfangen dürfen, - so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In der grossen Geldwelt ist der Thaler des faulsten Reichen gewinnbringender, als der des Armen und Arbeitsamen.
26. Re c h t s z u S t ä nd e als Mit tel. - Recht, auf Verträgen zwischen G lei ehe n beruhend, besteht, solange die Macht 10 Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nut z los e n Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist e ben s 0 end g ü I t i g ein Ende gemacht, wenn der eine Theil entschieden s c h w ä ehe r , 15 als der andere, ge w 0 r den ist: dann tritt Unterwerfung ein und das Recht hör tau f, aber der Erfolg ist der selbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die K lug h e i t des Ueberwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu sc h 0 n e n und nicht nutzlos zu vergeuden ~o anräth: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. - Rechtszustände sind also zeitweilige Mit tel, welche die Klugheit anräth, keine Ziele. -
27· E r k I ä run g der S c h ade n f r eu d e. - Die Schaden~5 freude entsteht daher, dass ein Jeder in mancher ihm wohl bewussten Hinsicht sich schlecht befindet, Sorge oder Reue oder Schmerz hat: der Schaden, der den Andern betriffi:, stellt diesen ihm gl eie h, er versöhnt seinen Neid. - Befindet er gerade sich selber gut, so sammelt er doch das Unglück des Nächsten als 30 ein Capital in seinem Bewusstsein auf, um es bei einbrechendem
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eigenen Unglück gegen dasselbe einzusetzen; auch so hat er "Schadenfreude." Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung wirft also ihren Maassstab aus auf das Gebiet des Glücks und des Zufalls: Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den Sieg und die Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb der höheren Weltordnung. Erst seitdem der Mensch gelernt hat, in anderen Menschen seines Gleichen zu sehen, also erst seit Begründung der Gesellschaft, giebt es Schadenfreude. 28. 10
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Das Will k ü r1 ich e im Zum e s sen der S t r a f e n. Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal das SeI be gethan, ohne übele Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der That, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen; es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen, wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmässigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft; die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird Alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit einesMenschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addirt, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (diess im ersten Fall, wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehen und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und be-
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lohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u. s. w.; in vielen Fällen wird man dann die R ich t er irgendwie bei der Schuld betheiligt finden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die Vergangenheit straft: man sollte, wenn man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben und nicht weiter zurückblicken: also die Schuld iso li ren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen, sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den nothwendigen Schluss aus eurer Lehre von der "Freiheit des Willens" und decretirt kühnlich: "k ein e T hat hat ein e Ver g a n gen h e i t."
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Der Neid und sein edlerer Bruder. - Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im Ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Ne i d. Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maass und will ihn bis dahin herabdrüdten - oder sich bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, dass es einem Anderen u n t e r seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht, einem Zweiten über seiner Gleichheit gut: es sind diess Affecte e dIe r er Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das heisst: sie verlangen, dass jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde; sie zürnen darüber, dass es den Gleichen nicht gleich ergeht.
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3°· Ne i d der G ö t t e r. - Der "Neid der Götter" entsteht, wenn der niedriger Geachtete sich irgendworin dem Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm 1 gleichgesetzt wir d (wie Niobe als überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der g e seIl s c h a f t 1ich e n Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung auf, dass ein Jeder kein Verdienst übe r seinem Stande habe, auch dass sein Glück diesem gemäss sei und namentlich dass sein Selbstbewusstsein jenen Schranken 10 nicht entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den "Neid der Götter", ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf. 31.
Eitelkeit als Nachtrieb des ungesellschaftDa die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber als einander g lei c h gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung aber im Grunde wider die Natur des Einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue 10 Schösslinge des alten Triebes nach Uebergewicht geltend: in der Abgränzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache u. s. w.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche ihr 15 Uebergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, geräth Alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbeküm30 merte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie diess auf Korkyra geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht. I1 li ehe n Zu s t a n des. -
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Bill i g k e i t. - Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter Solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstossen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz Nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt, und deren Maxime ist" wie du mir, so ich dir" . Aequum heisst eben "es ist gem ä s s uns e r erG 1eie h h e i t; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, dass wir Manches uns nachsehen, was wir nicht müssten."
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Elemente der Rache. - Das Wort "Rache" ist so schnell gesprochen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als Eine Begriffs- und Empfindungswurzel. Und so bemüht man sich immer noch, dieselbe zu finden: wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte "Werth" eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzel-Begriff des Werthes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Diess, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch "Rache" bald Diess, bald Jenes, bald etwas sehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch dass wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die Stärke des Gegenschlags muss mitunter, um diess zu erreichen, so stark sein, dass er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom Einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, - gleichsam als einen letzten Ver-
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such. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Act einen Rache-Act nennen, so mag es sein; nur erwäge man, dass hier allein die Sei b s t - E r hai tun g ihr VernunftRäderwerk in Bewegung gesetzt hat, und dass man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, 0 h n e wieder schaden zu wollen, sondern nur, um noch mit Leib und Leben davonzukommen. - Man braucht Z e i t , wenn man von sich mit seinen Gedanken zum JO Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. Diess geschieht bei der zweiten Art von Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Andern ist ihre Voraussetzung; man will wehe thun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern, liegt J1 hier so wenig im Gesichtskreis des Rachenehmenden, dass er fast regelmässig den weiteren eignen Schaden zu Wege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier fast 10 völlige Gleichgültigkeit gegen Das, was der Gegner thun wir d; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch Das, was er uns gethan hat, bestimmt. - Was hat er denn gethan? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben? Es handelt sich um eine Wie der h e rs tell u n g: wäh25 rend der Rache-Act erster Art nur der Sei b s t - E r hai tun g dient. Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder, - diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Ne ben ver I u s t bei allen den erwähnten Ver30 lusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, - ausser in Einem Falle. Wenn unsere Ehr e durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie wie der her z u S tell e n. Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden erlitten,
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wenn man uns absichtlich ein Leid zufügte: denn der Gegner bewies damit, dass er uns nicht für c h t e t e. Durch die Rache beweisen wir, dass wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den völligen Mangel an F ure h t zu zeigen, geht bei einigen Personen so weit, dass ihnen die Gefährlichkeit der Rache für sie selbst (Einbusse der Gesundheit oder des Lebens, oder sonstige Verluste) als eine unerlässliche Bedingung jeder Rache gilt. Desshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so Genugthuung für die Beleidigung zu erhalten: sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) - Bei der ersterwähnten Art der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt: hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche, wie gesagt, durch den Gegenschlag sie h be w eis e n will. - Nichts scheint also verschiedener, als die innere Motivirung der beiden Handlungsweisen, die mit Einem Wort "Rache" benannt werden: und trotzdem kommt es sehr häufig vor, dass der Rache-Uebende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur That bestimmt hat; vielleicht, dass er aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte, hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunct der verletzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: - dieses Motiv ist ja jedenfalls vor ne h m er, als das andere. Dabei ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der Anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den Augen des Beleidigers: im letztern Falle wird er die geheime Rache vorziehen, im erstern aber die öffentliche. Je nachdem er sich stark oder schwach in die Seele des Thäters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese Art Phantasie ganz, so wird er gar nicht an Rache denken; denn das Gefühl der "Ehre" ist dann bei ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an Rache denken, wenn
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er den Thäter und die Zuschauer der That ver ach t e t: weil sie ihm keine Ehre geben können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, dass er den Thäter liebt: freilich büsst er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten, ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem geliebten Wesen nur nicht weh e t h u n mus s : diess hiesse sich selber mehr wehe thun, als jenes Opfer wehe thut. - Also: Jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: ne ben bei aber noch, als weiterdenkender vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht ehr t. So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wie der her g e s tell t: das heisst - Strafe ist Rache. - Es giebt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere, zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer Sei b s t - E r haI tun g dient und der Not h weh r halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das w e i t e r e Schädigen verhüten, sie will absc h r eck e n. Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und diess mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiss, was er eigentlich will.
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Die Tu gen den der Ein bus s e. - Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die grösste Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Ver-
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fehlende aller Art, - überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vortheil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Collegium darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein: dem König, als ein em Ein z e lne n, hat man diess Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, dass man gern gnädig sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vortheilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbusse oder gar mit Zinsen geübt wer10 den, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden der Einbusse können demnach in der Ge seil s c h a f t nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem 15 U eberlegenen, Einzelnen, es sind Her r s ehe r - Tugenden, mit dem Hintergedanken, "ich bin mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbusse gefallen zu lassen, diess ist ein Beweis meiner Macht" - also mit S t 0 1z verwandte Tugenden.
35· C a s u ist i k des Vor t h eil s. - Es gäbe keine Casuistik der Moral, wenn es keine Casuistik des V ortheils gäbe. Der freieste und feinste Verstand reicht oft nicht aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, dass der grössere Vortheil nothwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil man wählen 25 muss, und hat hinterdrein eine Art Seekrankheit der Empfindung.
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36 . Zum Heuchler werden. - Jeder Bettler wird zum Heuchler; wie Jeder, der aus einem Mangel, aus einem Nothstand (sei diess ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Be-
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ruf macht. - Der Bettler empfindet den Mangel lange nicht so, wie er ihn empfinden mac h e n muss, wenn er vom Betteln leben will.
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Ein e Art Cu I tu s der Lei den s c haft e n. - Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem f ure h tb are n C h ara k t e r der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müsste! - Durch eine Vernachlässigung im K lei n e n, durch Mangel an Selbstbeobachtung und Beobachtung Derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Unthieren anwachsen lassen, dass euch jetzt schon beim Worte "Leidenschaft" Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu ne h m e n und dermaassen vorzubeugen, dass sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. - Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlidl mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.
38. G e w iss e n s bis s. - Der Gewissensbiss ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.
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Urs p run g der Re c h t e. - Die Rechte gehen zunächst auf Her kom m e n zurück, das Herkommen auf ein einmal i-
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes II
ges Ab kom m e n. Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen m ü s s e. Das Herkommen war jetzt Z w a n g , auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. - Die Sc h w ach e n haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung, zu ver e w i gen.
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Die Bedeutung des Vergessens in der morali s ehe n E m p f in dun g. - Die selben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nut zen eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin gethan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, ver g e s sen worden ist, heissen dann mo r a I i s ehe: nicht etwa, weil sie aus jenen a n der e n Motiven, sondern weil sie nie h t aus bewusster Nützlichkeit gethan werden. - Woher dieser H ass gegen den Nutzen, der h i e r sichtbar wird, wo sich alles lobenswerthe Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschliesst? - Offenbar hat die Gesellschaft, der Heerd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handeins, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne
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des Einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt j e des a n der e Motiv sittlich höher zu taxiren, als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nie h t aus dem Nutzen herausgewachsen sei: während sie ursprünglich der GesellschaftsNutzen ist, der grosse Mühe hatte, sich gegen alle die PrivatNützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.
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Die Erb r eie h end e r M 0 r a li t ä t. - Es giebt auch im Moralischen einen Erb reichthum: ihn besitzen die Sanften, Gutmüthigen, Mitleidigen, Mildthätigen, welche Alle die gute Ha n d 1u n g s w eis e, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichthum ist, dass man von ihm fort11 während darreichen und mittheilen muss, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und dass er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar, was das Merkwürdigste und Beste ist, nie h t zu Gunsten eines der einstigen Mittelmaasses zwi10 schen arm und reich, sondern zu Gunsten eines a 11 gern ein e n Reich- und Ueberreich-werdens. - So wie hier geschehen ist, lässt sim etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichthum zusammenfassen: aber es scheint mir, dass dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der 11 Wahrheit aufrecht erhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen s t a r k e n 30 Ha n g zum M a as s h al te n, werden die Moralisch-Erbreimen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildthätigen, versöhnenden, beschwichtigen10
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Mensmlimes, Allzumensmlimes 11
den Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger. begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht - und wie leider zu sagen ist, bestenfalls - angenehme schwächliche Taugenichtse. 42 •
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Der R ich t e run d die M i I der u n g s g r ü n d e. "Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine Schulden bezahlen''. sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, "Faust gehört in die Hölle!" - "Oh, ihr schrecklichen Männer!" rief seine Gattin aus, "wie ist das nur möglich! Er hat ja Nichts gethan, als keine Tinte im Tinfenfass gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber desshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?"
43· Pro b I emd e r P f I ich t zur Wa h r h e i t. - Pflicht ist ein zwingendes, zur That drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiscutirbar halten (- über Ursprung, zo Gränze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber Alles für geworden und alles Gewordene für discutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, - solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht Z5 anerkennen und diess Gefühl nicht fühlen; er fragt: woher kommt sie? wohin will sie?, aber diess Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte diess aber nicht zur Folge, dass die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Acte des Erkennens wirklich u n ver p f I ich t e t 30 f ü h I e n könnte? Insofern scheint hier zur He i z u n g das selbe Element nöthig zu sein, das vermittelst der Maschine
2. Der Wanderer und sein Smatten 41-45
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untersucht werden soll. - Die Formel würde vielleicht sein: an gen 0 m m e n, es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in Bezug auf jede andere Art von Pflicht? - Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn? -
4+ S tu f end e r Mo r a 1. - Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer 10 gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind F u r c h t und Hoff nun g: und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste thun, so lange noch keine milI5 deren wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders erreichen lässt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Da muss es Foltern der Seele geben und Henkersknechte dafür. Weitere Stufen der Moral, und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die 20 Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem »du sollst", - Alles noch ziemlich grob zugehauene, aber b re i te Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren, ihren Fuss noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine 25 Moral der Neigung, des Geschmacks, endlich die der Ein s ich t , - welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte.
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45· Moral des Mitleidens im Munde der Unmäss i gen. - Alle Die, welche sich selber nicht genug in der Ge-
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Menschliches, Allzumenschliches II
walt haben und die Moralität nicht als fortwährende, im Grossen und Kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instictiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hülfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen.
4 6• Kloaken der Seele. - Auch die Seele muss ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfliessen lässt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich - für die ganz Hoffährtigen (ich meine unsere lieben modernen "Pessimisten") - der 1 5 liebe Gott. 10
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47· Eine Art von Ruhe und Beschaulichkeit.Hüte dich, dass deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen lässt: und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.
48. Das Ver bot 0 h n e G r ü n d e. - Ein Verbot, dessen Grund wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnissdurstigen fast ein Geheiss: man lässt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, wes s halb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote,
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wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft: jetzt würde ein Verbot "du sollst nicht tödten", "du sollst nicht ehebrechen ", ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche, als eine nützliche Wirkung haben.
10
49· eh ara k t erb i I d. - Was ist das für ein Mensch, der vOn sich sagen kann: "ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen finde ich sofort Etwas heraus, das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre; die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an."
5°· M i tl eid e nun d Ver ach tun g. - Mitleiden äussern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der F ure h t zu sein, 15 sobald Einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes der menschlichen Eitelkeit nicht genugthut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflössen der Seele das erwünschteste aller Gefühle giebt. Desshalb ist es ein Problem, wie die 10 S c h ätz u n g des Mitleides aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muss, warum jetzt der Uneigennützige gelobt wird: ursprünglich wird er ver ach t e t oder als tückisch gefür c h t e t.
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Klein sein können. - Man muss den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nahe sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinwegreicht. Wir Aelteren dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen uns zu ihnen herablassen;
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Menschliches, Allzumenschliches I I
ich meine, die Gräser h ass e n uns, wenn wir unsere Liebe für sie bekennen. - Wer an a 11 e m Guten Theil haben will, muss auch zu Stunden klein zu sein verstehen.
p.
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I n haI t des G e w iss e n s. - Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmässig g e f 0 r der t wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt ("dieses muss ich thun, dieses lassen"), welches nicht fragt: war u m muss ich? - In allen Fällen, wo eine Sache mit "weil" und "warum" gethan wird, handelt der Mensch 0 h n e Gewissen; desshalb aber noch nicht wider dasselbe. - Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen. 53·
U e b e r w i n dun g der Lei den s c h a f t e n. - Der Mensch, der seine Leidenschaften überwunden hat, ist in den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten: wie der Colonist, 20 der über die Wälder und Sümpfe Herr geworden ist. Auf dem Boden der bezwungenen Leidenschaften den Samen der guten geistigen Werke säe n, ist dann die dringende nächste Aufgabe. Die Ueberwindung selber ist nur ein Mit tel, kein Ziel; wenn sie nicht so angesehen wird, so wächst schnell allerlei Un25 kraut und Teufelszeug auf dem leergewordenen fetten Boden auf, und bald geht es auf ihm voller und toller zu, als je vorher. 54·
Ge s chi c k zum Die n e n. - Alle sogenannten praktischen Menschen haben ein Geschick zum Dienen: das eben
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macht sie praktisch, sei es für Andere oder für sich selber. Robinson besass noch einen besseren Diener, als Freitag war: das war Crusoe. 55·
Gefahr der Sprache für die geistige Freihe i t. - Jedes Wort ist ein Vorurtheil.
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Gei s tun d La n g ewe i I e. - Das Sprüchwort: "Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen", giebt zu denken. Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langenweile fähig. - Ein Vorwurf für einen grossen Dichter wäre die La n g ewe i leG 0 t t e s am siebenten Tage der Schöpfung.
57·
Im Verkehr mit den Thieren. - Man kann das 15 Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden ni c h t in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insecten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. zo Wir sind so plump, dass schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Thiere fast immer mörderisch sind: was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. - Es ist heute das Fest der kleinen Thiere, der schwülste Tag des Jahres: es wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wolZ5 len, ab e rau c h ohne Acht zu geben, bald hier, bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. - Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Ver n ichtun g, die Mittel sind oft grausam genug ohne dass wir diess
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Menschliches, Allzumenschliches II
eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so be u t e n wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entS steht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den ge me ins a m e n Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Wer in 10 der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den indirecten Schaden für sich: und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des Landbaues und der Verkehrsmittel, wenn wir die Hausthiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, 15 ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein; er gilt als unedel, des feineren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von moralischem Urtheilen und Empfinden: das Beste thut nun der Aberglaube hinzu. Manche Thiere reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie hin ein z u die h 20 te n, und manche Religionen lehren im Thiere unter Umständen den Wohnsitz von Menschen- und Götterseelen sehen: wesshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Thieren anempfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten 25 Empfindungen fort und reifen und blühen aus. - Das Christenthum hat sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildende Religion bewährt.
30
58. Neue Schauspieler.- Es giebt unter den Menschen keine grössere Banalität, als den Tod; zu zweit im Range steht die Geburt, weil nicht Alle geboren werden, welche doch sterben; dann folgt die Heirath. Aber diese kleinen abgespielten
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Tragikomödien werden bei jeder ihrer ungezählten und unzählbaren Aufführungen immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören desshalb nicht auf, interessirte Zuschauer zu haben: während man glauben sollte, dass die ge5 sammte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich längst, aus Ueberdruss daran, ~n allen Bäumen aufgehängt hätte. So viel liegt an neuen Schauspielern, so wenig am Stück.
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Was ist ,,0 b s tin a t"? - Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen: so sagt die Lehre der Schifffahrer. Ihr nicht zu folgen he isst 0 b s tin at sein: die Festigkeit des Charakters ist da durch Dummheit verunreinigt.
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Das W 0 r t "E i tel k e i t". - Es ist lästig, dass einzelne Worte, deren wir Moralisten schlechterdings nicht entrathen können, schon eine Art Sittencensur in sich tragen, aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und natürlichsten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeugung, dass wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch Das, was wir gel t e n , als durch Das, was wir s i n d, gutes Fahrwasser haben oder Schiffbruch leiden - eine Ueberzeugung, die für alles Handeln in Bezug auf die Gesellschaft das Steuerruder sein muss - mit dem allgemeinsten Worte "Eitelkeit", "vanitas" bezeichnet und gebrandmarkt, eines der vollsten und inhaltreichsten Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Grosses mit einem Deminutivum, ja mit den Federstrichen der Carricatur. Es hilft Nichts, wir müssen solche Worte gebrauchen, aber dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter Gewohnheit verschliessen.
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6r. Tür k e n fa tal i sm u s. - Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, dass er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schliesslich behalte es immer den Sieg; wesshalb das Vernünftigste sei, zu resigniren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht 10 sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. - Die Angst, welche die Meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde 15 schwächlich, resignirt und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr Nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schi essen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Thorheiten des Menschen sind 20 ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Aengstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für Alles, was da kommt; du bist der Segen oder Fluch, und jedenfalls die Fessel, in welcher der 25 Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der MenschenWelt vorherbestimmt, es hift dir Nichts, wenn dir vor dir selber graut.
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62. Advocat des Teufels. - "Nur durch eigenen Schaden wird man k lug, nur durch fremden Schaden wird man gut", - so lautet jene seltsame Philosophie, welche alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellectualität aus der Isolation
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des Menschen ableitet: damit ist sie unbewusst die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nöthig, und die Isolation die Verachtung der Anderen.
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63· Die m 0 r a I i s ehe n C h ara k t e r m a s k e n. - In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber, gelten, werden die Moralisten verführt sein, auch die mo r a I i s ehe n Charaktermasken für absolut zu halten lind sie so zu zeichnen. So ist Moliere als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwig's XIV. verständlich; in unserer Gesellschaft der Uebergänge und Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen.
64· Die vor n e h m s te Tu gen d. - In der ersten Aera des höheren Menschenthums gilt die Tapferkeit als die vornehmste der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit, in der dritten die Mässigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Aera leben wir? In welcher lebst du?
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Was vor her n ö t h i gis t. - Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gall- und Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgend worin sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann) der neben einem Wildbach seine Aecker anlegt, ohne sich gegen ihn zu schützen.
66. Was ist Wa h r h e i t ? - S c h war z e rt (Melanchthon):
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"Man predigt oft seinen Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sumt, - und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten!"-L u t her: Du redestheut'wahr wie ein Engel, Bruder! - Sc h war zer t: "Aber es ist der Gedanke deiner Feinde, und sie machen auf dich die Nutzanwendung." - Lu t her: So war's eine Lüge aus des Teufels Hinterm.
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G e w 0 h n he i t der G e gen sät z e. - Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. "warm und kalt"), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaassung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen, dadurch dass man Gegensätze an Stelle der Uebergänge zu sehen meinte.
68 . 0 b man ver g e ben k ö n n e? - Wie k a n n man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie thun! Man hat gar Nichts zu vergeben. - Aber w eis s ein Mensch jemals v ö 11 i g, was er thut? Und wenn diess immer mindestens fra g I ich bleibt, so haben also die Menschen einander 2S nie Etwas zu vergeben, und Gnade-üben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt: wen n die Uebelthäter wirklich gewusst hätten, was sie thaten, - so würden wir doch nur dann ein Recht zur Ver g e b u n g haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und Strafe hätten. Diess aber 30 haben wir nicht.
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69· H abi tu elle Scham. - Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, "nicht verdient haben"? Es scheint uns dabei, dass wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuss unbetretbar ist. Durch den Irrthum Anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns theils Furcht, theils Ehrfurcht, theils Ueberraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vortheile geniessen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle G n ade erzeugt Scham. - Erwägt man aber, dass wir überhaupt niemals Etwas" verdient haben", so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesammt-Betrachtung der Dinge sich hingiebt, das Gefühl der Sc h a m habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung, wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der hab i tu elle n Sch a m möglich: wenn man ihn behandelt, als 0 b er diess und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt Etwas ver die n e n, welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt "du hast es verdient", scheint ihm zuzurufen "du bist kein Mensch, sondern ein Gott".
7°· Der ungeschickteste Erzieher. - Bei Diesem sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle seine wirk-
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lichen Tugenden angepflanzt, bei Jenem auf seiner Unfähigkeit, Nein zu sagen, als auf seinem Zustimmungsgeiste; ein Dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein Vierter die seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun, durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen Vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das böse Verhängniss dieser vier Menschen gewesen sein? Der moralische Fanatiker, welcher meint, dass das Gute nur aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne.
71 • 15 Schreibart der Vorsicht. - A: Aber, wenn Alle diess wüssten, so würde es den M eis t e n schädlich sein. Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch theilst du sie öffentlich mit? B: Ich schreibe so, dass weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art 20 mich lesen mögen. Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A: Aber wie schreibst du denn? B: Weder nützlich noch angenehm - für die genannten Drei.
72.· G ö t tl ich e M iss ion ä r e. - Auch Sokrates fühlt sich 25 als göttlichen Missionär: aber ich weiss nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaassen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und anmaassende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon: seine Bilder, von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, 30 und die eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf hunderterlei Weise auf die Pro b e zu s t e 1-
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I e n, 0 b er die Wahrheit geredet habe, lässt auf eine kühne und freimüthige Gebärde smliessen, mit der hier der Missionär seinem Gotte an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen des Gottes ist einer der feinsten Compromisse zwismen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes, welme je erdamt worden sind.Jetzt haben wir aum diesen Compromiss nimt mehr nöthig.
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E h r1 ich e s Mal e rt h u m. - Raffael, dem viel an der Kirme (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig, gIeim den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des kirmlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen ekstatischen Frömmigkeit manmer seiner Besteller nicht einen Schritt weit nachgegangen: er hat seine Ehrlimkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich für eine Processions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne "Glauben" aue h haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, smweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleim dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welme mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betramtern des Bildes sagt: "Nimt wahr? diese Mutter und ihr Kind - das ist ein angenehmer einladender Anblick?" Diess Gesimt und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesimtern der Betrachter wieder; der Künstler, der diess Alles erfand, geniesst sich auf diese Weise selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der KunstEmpfangenden hinzu. - In Betreff des "heilandhaften" Ausdrucks im Kopfe eines Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der kei-
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nen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte, seine g I ä u b i gen Betrachter auf eine artige Weise überlistet; er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren hülfereichen Mannes, der einen Nothstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; dass dieser fehlt und dass zwei verschiedene Lebensalter hier aus Einem Gesichte sprechen, diess ist die angenehme Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet haben: so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten durfte. 74· Das Gebet. - Nur unter zwei Voraussetzungen hatte alles Beten - jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten - einen Sinn: es müsste möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende müsste selber am Besten wissen, was ihm noth thue, was für ihn wahrhaft wünschenswerth sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen angenommen und hergebracht, wurden aber gerade vom Christenthum geleugnet; wenn es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise und allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben diess Gebet im Grunde sinnlos, ja gotteslästerlich wird, - so zeigte es auch darin wieder seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein klares Gebot "du sollst nicht beten" hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristenthum geführt. Im christlichen ora et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des Ver g n ü gen s : und was hätten ohne das ora jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich das labora versagten, die Heiligen! - aber mit Gott sich unterhalten, ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein Wenig darüber lustig machen, wie man so thöricht sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so vortrefflichen Vater, - das war für Heilige eine sehr gute Erfindung.
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Eine heilige Lüge. - Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb (Paete, non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige Lüg e, die berühmt geworden ist; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an Irr t h ü me r n haften blieb.
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76. Der nöthigste Apostel. - Unter zwölf Aposteln muss immer einer hart wie ein Stein sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne.
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Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der K ö r per? - In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten Da u er: sie ist der Lei b , zu dem immer eine neu e See I e hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.
7 8.
Der Glaube an die Krankheit, als Krankhe i t. - Erst das Christenthum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christenthum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen 25 anbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der GI a u b e an die Kr a n k he i t, welchen es gelehrt und verbreitet hat.
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79· Red e und Sc h r i ft der Re I i g i öse n. - Wenn der Stil und Gesammtausdruck des Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den r e I i g i öse n Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zu Gunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber kr a f t los gewesen, wenn er, wie sein Stil verräth, Ironie, Anmaassung, Bosheit, Hass und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch;um wieviel kraftloser werden sie erst für seine Hörer und Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu machen.
80. G e f a h r i n der Per s 0 n. - Je mehr Gott als Person für sich galt, um so weniger ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher, als ihren geliebt esten Geliebten: desshalb opfern sie sich für den Staat,die Kirche, und auch für Gott - sofern er eben ihr Erzeugniss, ihr G e dan k e bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede "mein Gott, warum hast du mich verlassen!"
8r. Die w el tl ich e Ger e c h t i g k e i t. - Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben - mit der 25 Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Versd1Uldung Jedermannes. Der Stifter des Christenthums war es, der die 30 weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen
2. Der Wanderer und sein Schatten 79-83
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aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als "Sünde", das heisst als Frevel an Go t t und ni c h t als Frevel an der Welt, andererseits hielt er Jedermann im grössten Maassstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresGleichen sein: so urtheilte seine Billigkeit. All e Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurtheilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Ueberdiess sah er auf die Motive der Handlungen, und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurtheilung der Motive nur einen Einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).
82. Eine Affectation beim Abschiede. Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nöthig, sie zu widerlegen. Aber diess ist sehr hochmüthig gedacht. Nöthig ist nur, dass er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und dass sie es nicht mehr thun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und dass sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind n ich taus s t ren gen E r k e n n t n iss g r ü n den auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen diess, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht a f fee t ire n.
83· He i la n dun dAr z t. - Der Stifter des Christenthums war, wie es sich VOn selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die grössten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz
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Menschliches, Allzumenschliches II
durch Ausreissen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft:" Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus." - Aber es bleibt doch noch der Unterschied, dass jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel 5 erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so plumpe Art, dass er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.
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84· Die G e fan gen e n. - Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof ; der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor 15 und sagte laut: "Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an's Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sin20 nes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt; ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir g lau ben, dass ich der Sohn des Gefängniss25 wärters bin; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten." "Nun, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener, was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du Das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns Alle ein: es 30 wäre wirklich recht gutmüthig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber lass' beiSeite!" "Und, rief ein jüngerer Mann dazwischen, ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur
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Etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefäng~isswärter weiss Nie h t s." "Und wenn er Etwas gewusst hat, so weiss er's nicht mehr", sagte der Letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof hinabkam; "der Gefängnisswärter ist eben plötzlich gestorben". - Holla, schrien Mehrere durcheinander, holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt dei n e Gefangenen? - "Ich habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werden Jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiss als mein Vater noch lebt". - Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und liessen ihn stehen.
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Der V e rf 0 I ger G 0 t t e s. - Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, dass Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammniss zuer kann t ist und dass dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, - um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen I Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muss in der Seele Dessen geflackert haben, der so Etwas sich zuerst oder zuzweit ausdachte! - Paulus ist also doch Saulus geblieben, - der Ve rf 0 1ger Gott e s.
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So k rat e s. - Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss des einfachsten und unvergänglichsten Mitt30 ler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die lS
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Mensmlimes, Allzumensmlimes II
Strassen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurü~, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesammt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schliessen möchte, dass das Eigenthümlichste an Sokrates ein Antheilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. - Vor dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene We i s h e i t voll e r S ehe I m e n s t r eie h e voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Ueberdiess hatte er den grösseren Verstand.
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Gut sc h r e i b en I ern e n. - Die Zeit des gut-Redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. Die letzte 1$ Gränze, welche Aristoteles der grossen Stadt erlaubte es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen -, diese Gränze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden ~o werden wollen. Desshalb muss jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und im m erb e s s e r sc h r e i ben lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das schlecht-Schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber he isst zugleich auch besser denken; ~$ immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, dass alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe; endlich, 30 jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vor b e r e i t e n , wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur. -
2. Der Wanderer und sein Smatten 86-90
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Wer das Gegentheil predigt, sich nie h t um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kümmern - beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab -, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr na t ion a I werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.
88. Die L ehr e vom b e s t e n S t i I e. - Die Lehre vom 10 Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man j e d e Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswertheste Stimmung eines Menschen zu finden, deren Mittheilung und Uebertragung also auch am meisten zu wünschen ist: 15 für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Diess wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.
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89· Auf den G a n g Ach t g e ben. - Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessen ungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft dictirte, wenn er müde war.
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S c h 0 nun d n 0 c h. - A: "Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, dass Wieland ihr Vater sei.« B: So
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Menschliches, Allzumenschliches II
jung und schon so hässlich! C: "Aber - soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen fünfzehnhundert Jahre alt." B: So alt, und noch so hässlich!
o r i gin a 1- d eu t s c h. -
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Die deutsche Prosa, welche in der That nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugniss des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen originalen deutschen Cultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirkliche deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. - Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: "Aber, um des Himmels willen, vielleicht haben wir schon diese originale Cultur, - man spricht nur nicht gerne davon!"
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Ver bot e n e B ü ehe r. - Nie Etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie, haben: sie wenden die log i s ehe n Formen gerade dort an, wo Alles im Grunde frech improvisirt und in die Luft gebaut ist. ("Also" soll bei ihnen heissen, "du Esel von Leser, für dich giebt es diess "also" nicht, - wohl aber für mich" - worauf die Antwort lautet: "du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn?")
93· Gei s t z e i gen. Jeder, der seinen Geist zeigen will, lässt merken, dass er auch reichlich vom Gegentheil hat.
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Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dedain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
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94· D e u t s c heu n d fra n z ö si s c heL i t t e ra tu r. Das Unglück der deutschen und französischen Litteratur der letzten hundert Jahre liegt darin, dass die Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind - und die Franzosen, späterhin, zu zeitig i n die Schule der Deutschen.
95· Uns e r e Pro s a. - Keines der jetzigen Culturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geist15 reiche und verwöhnte Franzosen sagen: es gi e b t keine deutsche Prosa, - so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebniss, dass der Deutsche nur die improvisirte Prosa 10 k e n n t und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiäner sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei, als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim 25 hat man sich redlich zu bemühen, - das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreifdichtung einen besonders hohen Werth zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? - es ist ihm, als ob man ihm Etwas aus dem Fabelland vorerzählte.
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Menschliches, Allzumenschliches II
9 6. Der g r 0 s seS t i 1. - Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.
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97· Aus w eie h e n. - Man weiss nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches WOrt jeder mitteImässige Schriftsteller beim Ausdrücken der selben Sache unvermeidlich gerathen sein würde. Alle grossen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt, - doch nicht zum Umfallen.
9 8. E t was wie B rod. - Brod neutralisirt den Geschmack anderer Speisen, wischt ihn weg; desshalb gehört es zu jeder 15 längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muss es Etwas wie Brod geben, damit es verschiedene Wirkungen in ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausiren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen würden, so dass eine 1 ä n ger e Mahl20 zeit der Kunst unmöglich wäre.
99· ] e a n Pa u 1. - ]ean Paul wusste sehr viel, aber hatte keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe Nichts ungeniessbar, 25 aber hatte keinen Geschmack, besass Gefühl und Ernst, goss aber, wenn er davon zu kosten gab, eine widerliche Thränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, - aber leider für seinen Heisshunger darnach viel zu wenig: wesshalb er den Leser gerade
2. Der Wanderer und sein Schatten 96.,...103
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durch seine Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im Ganzen war er das bunte starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern Schiller's und Goethe's aufschoss; er war ein bequemer guter Mensch, und doch ein Verhängniss, - ein Verhängniss im Schlafrock.
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Aue h den Ge gen s atz zu sc h m eck e n w iss e n. Um ein Werk der Vergangenheit so zu geniessen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muss man den damals herrschenden Geschmack, gegen den es sich a b hob, auf der Zunge haben.
101.
We i n gei s t -A u tor e n. - Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen gerathen und geben dann Wärme.
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Der Mit t I e r - S i n n. - Der Sinn des Gesmmacks, als der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansimten der Dinge überredet und ihnen seine Gesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufsmlüsse erhalten: man beamte, was smmeckt, wann es smmeckt, wonam und wie lange es smmeckt.
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L e s s i n g. - Lessing hat eine ämt französisme Tugend und ist überhaupt als Smriftsteller bei den Franzosen am fleissigsten in die Schule gegangen: er versteht seine Dinge im Smau-
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MensdIlidIes, AllzumensdIlidIes II
laden gut zu ordnen und aufzustellen. Ohne diese wirkliche K uns t würden seine Gedanken, so wie deren Gegenstände, ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne dass die allgemeine Einbusse gross wäre. An seiner K uns t haben aber Viele gelernt (namentlich die letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. - Freilich hätten jene Lernenden nicht nöthig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und Biederkeit, abzulernen. Ueber den .. Lyriker" Lessing ist man jetzt einmüthig: über den Dramatiker wird man es werden.-
r04· Unerwünschte Leser. - Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den dicklichten ungeschickten Seelen, welche immer, wenn sie woran anstossen, auch umfallen und sich jedesmal dabei wehe thun.
r05· D ich t e r - G e dan k e n. - Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher, wie die Aegypterinnen: nur das tiefe Au g e des Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. - Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel werth als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.
r06. 25 Schreibt einfach und nützlich. - Uebergänge, Ausführungen, Farbenspiele des Affects, - Alles das schenken wir dem Autor, weil wir diess mitbringen und seinem Buche zu Gute kommen lassen, falls er selber uns Etwas zu Gute thut.
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r07· Wie I a n d. - Wieland hat besser, als irgend Jemand, deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen gehabt (seine Uebersetzungen der Briefe Cicero's und des Lucian sind die besten deutschen Uebersetzungen); aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken. Wir vertragen seine heitern Moralitäten eben so wenig wie seine heiteren Immöralitäten: beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere Menschen als wir, - aber auch um ein gut Theil schwerfälligere, denen ein solcher Schriftsteller eben not h t hat. - Go e t h e that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, - nicht haben können. r08. Sei t e ne Fes t e. - Körnige Gedrängtheit, Ruhe und Reife, - wo du diese Eigenschaften bei einem Autor findest, da mache Halt und feiere ein langes Fest mitten in der Wüste: es wird dir lange nicht wieder so wohl werden.
1°9· Der S c hat z der d e u t s ehe n Pro s a. - Wenn man von Goethe's Schriften absieht und namentlich von 15 Goethe's Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg's Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling's Lebensgeschichte, Adalbert Stifter's Nach30 sommer und Gottfried KelIer's Leute von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am Ende sein.
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Menschliches, Allzumenschliches II 110.
Schreibstil und Sprechstil. - Die Kunst, zu schreiben, verlangt vor Allem Er s atz mit tel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, s Accente, Töne, Blicke. Desshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: - er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders, als wir sie lesen; er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet. - Cicero's Reden 10 sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden: jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.
I I I.
Vor sie h tim Ci t ire n. - Die jungen Autoren wis15 sen nicht, dass der gute Ausdruck, der gute Gedanke sich nur unter Seinesgleichen gut ausnimmt, dass ein vorzügliches Citat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint: "Gieb Acht, ich bin der Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches, schmähliches 2Q Blei. " Jedes Wort, jeder Gedanke will nur in sei n erG e s e 11sc h a f t leben: das ist die Moral des gewählten Stils.
IIZ.
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Wie soll man Irrthümer sagen? - Mann kann streiten, ob es schädlicher sei, wenn Irrthümer schlecht gesagt werden oder so gut wie die besten Wahrheiten. Gewiss ist, dass sie im erstern Fall auf doppelte Weise dem Kopfe schaden und schwerer aus ihm zu entfernen sind; aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im zweiten Falle: sie sind weniger anstekkendo
2. Der Wanderer und sein Schatten 110-115
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II3· B e s ehr ä n k e nun d ver g r Ö s s ern. - Homer hat den Umfang des Stoffes beschränkt, verkleinert, aber die einzelnen Scenen aus sich wachsen lassen und vergrössert - und so machen es später die Tragiker immer von Neuern: jeder nimmt den Stoff in noch k lei n e ren Stücken, als sein Vorgänger, jeder aber erzielt eine re ich e r e Blüthenfülle innerhalb dieser abgegränzten umfriedeten Gartenhecken.
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L i t t e rat u run d M 0 r a I i t ä t sie her k I ä ren d. Man kann an der griechischen Litteratur zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er in verschiedene Bahnen gerieth und woran er schwach wurde. Alles das giebt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechischen M 0 r a I i t ä t zugegangen ist und wie es mit jeder Moralität zugehen wird: wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Conventionen und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum Alleinbesitz derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerben den füllt und überfüllt, wie Uebersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht, veraltete in's Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen scheint - und dann kommt ein Stillestehen, ein Ausathmen: die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens ein Ende.
I15· W eie h e G e gen den d aue r n d e rf r e u e n. Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem Gemälde, aber
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Menschlidles, Allzumenschliches II
ich kann die Formel für sie nicht finden, als Ganzes bleibt sie mir unfassbar. Ich bemerke, dass alle Landschaften, die mir dauernd zusagen, unter aller Mannichfaltigkeit ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben. Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine Gegend etwas künstlerisch Erfreuendes. Und vielleicht gestattet diese Regel eine gleichnisshafte Anwendung auf den Menschen.
116. V 0 rl e sen. - Vorlesen können setzt voraus, dass man 10 vor t rag e n könne: man hat überall blasse Farben anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen zu dem immer vorschwebenden und dirigirenden, voll und tief gefärbten Grundgemälde, das heisst nach dem Vor t rag e der selben Partie, zu bestimmen. Also muss man dieses letzteren 15 mächtig sein.
117· Der dramatische Sinn. - Wer die feineren vier Sinne der Kunst nicht hat, sucht Alles mit dem gröbsten, dem fünften zu verstehen: diess ist der dramatische Sinn.
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II8.
Her der. - Herder ist Alles das nicht, was er von sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte): kein grosser Denker und Erfinder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft. Aber er besass in 25 höchstem Maasse den Sinn der Witterung, er sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit früher, als alle Anderen, welche dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und
2. Der Wanderer und sein Smatten 115-118
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überall dort wie ein Jäger auf der Lauer, wo es Uebergänge, Senkungen, Erschütterungen, die Anzeichen inneren Quellens und Werdens gab: die Unruhe des Frühlings trieb ihn umher, aber er selber war der Frühling nidtt! - Das ahnte er wohl zu Zeiten, und wollte es dodt sidt selber nidtt glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre! Diess ist sein Leiden: er sdteint lange als Prätendent mehrerer Königthümer, ja eines Universalreiches, gelebt zu haben und hatte seinen Anhang, weldter an ihn glaubte: der 10 junge Goethe war unter ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, gieng er leer aus: Kant, Goethe, sodann die wirklidten ersten deutsdten Historiker und Philologen nahmen ihm weg, was er sidt vorbehalten wähnte, - oft aber audt im Stillsten und Geheimsten nie h t wähnte. Gerade wenn 15 er an sidt zweifelte, warf er sidt gern die Würde und die Begeisterungum: diess waren bei ihm allzu oft Gewänder, die viel verbergen, ihn selber täuschen und trösten mussten. Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel grösser! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, dass es flackerte, knisterte %0 und raudtte sein S t i I flackert, knistert und raudtt - aber er wünsdtte die g r 0 s s e Flamme, und diese brach nie hervor! Er sass nicht an der Tafel der eigentlidt Sdtaffenden: und sein Ehrgeiz liess nidtt zu, dass er sidt bescheiden unter die eigent!idt Geniessenden setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vor15 koster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einern halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreidten zusammenholten. Nie wirklidt satt und froh, war Herder überdiess allzu häufig krank; da setzte sidt bisweilen der Neid an sein Bett, audt die Heudtelei madtte ihren Besuch. Etwas Wundes und Unfreies 30 blieb an ihm haften: und mehr als irgend einem unserer sogenannten Classiker geht ihm die einfältige wackere Mannhaftigkeit ab.
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Menschlimes, Allzumenschliches II
119· Geruch der Worte. - Jedes Wort hat seinen Geruch: es giebt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte.
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Der g e s u c h t e S t i 1. - Der gefundene Stil ist eme Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils.
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Gel ö b n iss. - Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden.
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Die k ü n s t1 e r i s c h e Co n v e n ti 0 n. - Dreiviertel Homer ist Convention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswuth keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Convention; durch diese hiengen sie ja mit ihrem Publicum zusammen. Conventionen sind nämlich die für das Verständniss der Zuhörer er 0 b e r t e n Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mit t he i I e n kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke so f 0 r t siegen will - da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist -, so ist die erste Bedingung, dass er so f 0 r tauch ver s t a n den werde: was aber nur durch die Convention möglich ist. Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass er
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eine neue Convention sc h a f f t. Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heisst: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?
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11.3· Affectation der Wissenschaftlichkeit bei K ü n s tl ern. - Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl mit der Fe der im pro vi sir e n. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da, - in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral n ich t angreifen dürfe, - und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. - Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der W iss e n sc h a f t ein Wort mitzusprechen - der Tüchtigste nämlich findet zeitweilig sein Handwerk und seine Werkstätte unausstehlich -, diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich, dass es in seinem Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht - warum auch nicht? er wohnt ja nicht darin! -, dass die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind - warum auch nicht? es steht diess sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel an -, namentlich aber, dass selbst für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind - und auch dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen! - Dagegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten
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Menschliches, Allzumenschliches 11
und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen, na c h z u ahm e n, im Glauben, diess eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und diess gerade ist das Lustige an solchen KünstlerSchriften, dass hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch thut, was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu par 0 dir e n. Eine andere Stellung zur Wissenschaft, als die parodische, sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der Künstler ist.
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Die F aus t - I d e e. - Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. - Sollte diess wirklich der grösste deutsche "tragische Gedanke" sein, wie man unter Deutschen sagen hört? - Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin, "die gute Seele, die nur einmal sich vergessen," nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja, selbst den grossen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn "den guten Menschen" mit dem "dunklen Drange": - dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. - Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine Natur zu concili.lnt gewesen.
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Gi e b t es "d e u ts eh e Cl as s ik er"? - Sainte-Beuve bemerkt einmal, dass zu der Art einiger Litteraturen das Wort
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"Classiker" durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von "deutschen Classikern" reden! - Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu, welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Classiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur dreissig Jahre lang todt zu sein und als erlaubte Beute öffentlich da zu liegen brauche, um unversehens plötzlich als Classiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und diess in einer Zeit und unter einern Volke, wo selbst von 10 den sechs grossen Stammvätern der Litteratur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, - 0 h ne dass diese Zeit und dieses Volk sich gerade des sen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den S t ä r k e n dieser Zeit zurückgewichen, - man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! - Von Goethe, wie an15 gedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Litteraturen, als "National-Litteraturen" sind: desshalb steht er auch zu seiner Na t ion weder im Verhältniss des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare ~o der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Gränze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und grosser Mensch, sondern eine C u I t ur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum ~5 Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing thätig gewesen ist). Aber jene andern Fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise: und so gründlich, dass das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, 30 die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von Niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, dass seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder's Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte
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Menschliches, AIIzumenschliches II
der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, - aber unter jungen S und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben gerathen! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, dass ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. - Und was hat diese Fünf zurückgedrängt, sodass gut unterrichtete und 10 arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen; also lauter Tugenden, welche gerade durch jene Fünf (und durch zehn und zwanzig Andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland an g e p f I a n z t worden 15 sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. - Aber C las s i k e r sind nicht A n p f I a n zer von intellectuellen und litterarischen Tugenden, sondern Voll end e r und höchste Lichtspitzen derselben, 20 welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zu Grunde gehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreissig sehr alten, nie veralteten Büchern 1 e b t : in den Classi25 kern. 126. I n t e res san t, ab ern ich t s c h ö n. -
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Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiss nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.
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12 7. Ge gen die S p r ach - Neu e r e r. - In der Sprache neuern oder alterthümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichthum des Wortschatzes anstatt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edele Armuth, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen wen i ger haben, als das Volk hat - denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem - aber sie wollen diess Wenige be s s erhaben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.
128.
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Die t rau r i gen und die ern s t e n Au tor e n. Wer zu Papier bringt was er lei d e t , wird ein trauriger Autor: aber ein ern s t er, wenn er uns sagt, was er 1 i t t und wesshalb er jetzt in der Freude ausruht.
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12 9. G e s und h e i t des G es c h mac k s. - Wie kommt es, dass die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten - überhaupt, und namentlich im Geschmack? Oder giebt es Epidemien der Gesundheit?-
13°·
Vor s atz. - Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.
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Mensdllidles, Allzumensdllidles II
13I. Den G e dan k e n ver b e s s ern. - Den Stil verbessern - das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nidlts weiter! - Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.
132· Cl ass i s ehe B ü ehe r. - Die schwächste Seite jedes classischen Buches ist die, dass es zu sehr in der Mutterprache seines Autors geschrieben ist.
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133· Schi e c h t e B ü ehe r. - Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Desshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.
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134· S i n n e s g e gen war t. - Das Publicum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am re c h t e n Sinn, :0 nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.
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135· G e w ä hit e G e dan k e n. - Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, - und zwar beide aus dem U e b I ich e n und Her r s ehe nd e n: die gewagten und allzufrischriechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider,
2. Der Wanderer und sein Schatten 131-138
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als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht Beides - der gewählte Gedanke und das gewählte Wort leicht nach Mittelmässigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Uebliche und 5 Alltägliche daran geschmeckt wird.
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13 6. Hauptgrund der Verderbniss des Stils. Mehr Empfindung für eine Sache z e i gen wollen, als man wirklich hat, verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle grosse Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht ganz an's Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner giebt, als sie ist.
137· Zur Entschuldigung der schwerfälligen S t i Ii s t e n. - Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer in's Gehör, als die Sache wirklich wiegt - das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch Das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heisst der Red e , übergehen müssen.
13 8. 25 Vo g e lp e r s p ec t i ve. - Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reisst das Auge so mit sich fort, dass die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern
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Mensmlimes, Allzumensmlimes 11
Wie hin a b z u f I i ehe n scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem Alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, dass man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspective nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.
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139· Gewagte Vergleichungen. - Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise vom Muthwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes.
14°· In K e t t e n ta n zen. - Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neu e Z w a n g, den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (sodass er Nachahmer findet)? Denn was man "Erfindung" (im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine 1.0 solche selbstgelegte Fessel. "In Ketten tanzen", es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, - das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, i n n e r hai b deren 1.5 er tanzen musste: und er selber schuf neue Conventionen für die Kommenden hinzu. Diess war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen, durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmuthig 30 besiegen: sodass Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden. I5
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14 1 •
Fü lle der Au tore n. - Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegen aus ruh e n dürfen.
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Keuchende Helden. - Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte Athmen nicht.
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Der Halb-Blinde. - Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, dass sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzutheilen: jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. Ein Halb-Blinder sagte: all e Autoren haben sich gehen lassen. - "Auch der heilige Geist?" - Auch der heilige Geist. Aber der durfte es; er schrieb für die Ganz-Blinden.
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144·
Der S t i I der Uns t erb I ich k e i t. - Thukydides sowohl wie Tacitus, - beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: diess würde, wenn man es sonst nicht wüsste, schon aus ihrem Stile zu errathen sein. Der Eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der Andere durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und Beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.
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Menschliches, Allzumenschliches II
145· G e gen B i I der und G lei c h n iss e. - Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Desshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Ueberzeugende, das GI au b I ich - Machende n ich t und fordert vielmehr das kälteste Misstrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Winde heraus: weil das Misstrauen der Prüfstein für das Gold der Gewissheit ist.
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146. Vor s ich t. - Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht: "er ist unwissend", sondern: "er ist von zweifelhaftem Charakter." - Dieser übereilte Schluss macht übrigens den Deutschen alle Ehre.
147· Be mal t e Ger i p p e. - Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren, welche Das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch künstliche Farben ersetzen möchten.
14 8. Der g r 0 s s art i g e S t i I und das H ö her e. - Man lernt es schneller grossartig schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich in's Moralische.
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149· Sebastian Bach. - Sofern man Bach's Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Contrapunctes
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und aller Arten des fugirten Stiles hört, und demgemäss des eigentlichen artistischen Genusses entrathen muss, wird es uns als Hörern seiner Musik zu Muthe sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Go t t die We I t se huf. Das heisst: wir fühlen, dass hier etwas Grosses im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere g ross e moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch dass sie die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunct überwand. In Bach ist noch zu viel erude Christlichkeit, crudes Deutschthum, erude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um. 15°· H ä n deI. - Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein V 0 I k fähig ist, - wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel, und war froh, wenn er fertig war, aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktags gewesen sind.
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Ha y d n. - Soweit sich Genialität mit einem schlechthin gut e n Menschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt. Er geht gerade bis an die Gränze, welche die Moralität dem Intelleet zieht; er macht lauter Musik, die "keine Vergangenheit" hat. 152·
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Beethoven und Mozart. - Beethoven's Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte Be t ra eh tun g beim un-
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Mensd!liches, AlIzumensd!Iid!es II
erwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes "Unschuld in Tönen"; es ist Musik übe r Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiäner, beim Tanze in der Dorfsmenke oder in den Nämten des Carnevals, - da entdeckte er seine "Melodien": er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhasmt. Es sind ihm verklärte Er i n n e run gen aus der "besseren Welt": ähnlim wie Plato es sim von den Ideen damte. - Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine Inspirationen nimt beim Hören von Musik, sondern im Smauen des Lebens, des bewegtesten süd I ä n dis ehe n Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nimt dort war.
153· IS
Re c i ta t i v. - Ehemals war das Recitativ trocken; jetzt leben wir in der Zeit des na s sen Re c i tat iv s : es ist in's Wasser gefallen, und die Wellen reissen es, wohin sie wollen.
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" He i t e r e" Mus i k. - Hat man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein allzusmnell in's Blut und hinterlässt eine narkotisch betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich thut diess gerade die he ite r e Musik, welche zusammen Bitterkeit und Verwundung, Ueberdruss und Heimweh giebt und Alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nöthigt. Dabei scheint der Saal der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren und bräuner zu werden: zuletzt ist es Einem zu Muthe, als ob die Musik wie in ein Gefängniss hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.
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155· Fra n z Sc hub e r t. - Franz Schubert, ein geringerer Artist als die andern grossen Musiker, hatte doch von Allen den grössten Erb r eie h t h u m an Musik. Er verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen: sodass die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu zeh ren haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von u n ver b rau c h t e n Erfindungen; Andere werden ihre Grösse im Verbrauchen haben. - Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heissen.
15 6. M 0 der n s t e r Vor t rag der Mus i k. - Der grosse 15 tragisch-dramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des g r 0 s sen S ü n der s, wie ihn das Christenthum sich denkt und wünscht: des langsam schreitenden, leidenschafHich Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehen20 den, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden - und was sonst Alles die Merkmale des grossen Sünderthums sind. Nur unter der Voraussetzung des Christen, dass alle Menschen grosse Sünder sind und gar Nichts thun, als sündigen, liesse es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf all e Mu15 sik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Thuns und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des grossen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt 30 ausrufen: "Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!"
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Menschliches, Allzumenschliches II
157· Fe I i X Me n deI s s 0 h n. - Felix Mendelssohn's Musik ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel" Vorsich", viel Zukunft haben! - Aber hat er sie denn haben wo lI e n ? Er besass eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer hinter sich.
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Ein eMu tt erd e r K ü n s t e. - In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur eigentlichen D e v 0 t ion fast ein brutaler Ji:eroismus des Ehr gei z e S; das fanatische Augenschliessen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, dass der Ehrgeiz, in der Devotion der letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist? (Man nennt ihn Jesuitenstil.)
159· Freiheit in Fesseln - eine fürstliche Freihe i t. - Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche - alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf diess Beiwort kein Anrecht - Chopin hatte die selbe fürstliche Vornehmheit der Convention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichen einfachsten Farben zeigt, - aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese liess er gelten, als geboren in der Etiquette, aber wie der freieste und anmuthigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend - und zwar 0 h n e sie zu verhöhnen.
2. Der Wanderer und sein Sdtatten 157-163
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160.
C h 0 p in' s Bar c a r 0 I e. - Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen seI i gen Moment. Den wissen die guten Künstler herauszufischen. So hat einen solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige, schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lä,"mendsten und habgierigsten Gesindels sich abspinnende; - diesen seligen Moment hat Chopin, in der Barcarole, so zum Ertönen gebracht, dass selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen.
10
161.
R 0 b e rt Sc h u man n. - Der "Jüngling", wie ihn die romantischen Liederdimter Deutsmlands und Frankreims um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, - dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden - durch 15 Robert Smumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte: es giebt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige "alte Jungfer" erinnert.
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Die d r a m a t i s ehe n Sä n ger. - "Warum singt dieser Bettler?" - Er versteht wahrsmeinlich nimt zu jammern. "Dann thut er Remt: aber unsere dramatismen Sänger, welme jammern, weil sie nimt zu singen verstehen - thun sie auch das Remte?" 16 3.
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D ra m a t i s ehe Mus i k. - Für Den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding; so gut der fortlaufende Commentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz eigentlim, dass man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen; da-
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Menschliches, Allzumenschliches II
mit ist aber an Euterpe Gewalt geübt: diese arme Muse will, dass man ihre Augen und Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie auch haben.
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164. Sie gun d Ver n ü n f t i g k e i t. - Leider entscheidet auch bei den ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken und deren Schutzreden erregen, zuletzt die Kraft, und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als historische Tatsache an, dass Gluck im Kampfe mit Piccini Re eh t gehabt habe: jedenfalls hat er ge sie g t; die Kraft stand auf seiner Seite. 16 5.
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Vom P r i n c i p e des V 0 rt rag s i n der Mus i k. Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel Hoc h r e I i e f zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine d r am a ti s ehe Sprache reden zu lassen? Ist diess zum Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozart's, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit "Musik des steinernen Gastes"? Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik? - Aber ihr entgegnet, die grössere Wir k u n g spreche zu Gunsten eures Princips - und ihr hättet Recht, wofern nicht die Gegenfrage ifbrig bliebe, auf wen da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken woll end ü r f e! Niemals auf das Volk! Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen! Niemals auf die Krankhaften! Vor Allem aber: niemals auf die Abgestumpften!
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166.
Mus i k von heu t e. - Diese modernste Musik, mit ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber. 167.
Wo die Mus i k h e i m i s chi s t. - Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, welche nicht discutiren können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges sind desshalb Fürsten, welche wollen, dass in ihrer Nähe nicht viel kritisirt, 10 ja, nicht einmal viel gedacht werde; sodann Gesellschaften, welch.e, unter irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Sch.weigen gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich. die ewige Verliebtheit und die ewige Musik); drit15 tens ganze Völker, in denen es keine "Gesellschaft" giebt, aber um so mehr Einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen: es sind die eigentlichen Musikseelen. - Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben desshalb die Musik nur als 20 Zu k 0 S t zu Künsten vertragen, über welche sich wirklich streiten und reden lässt: während über die Musik sich. kaum reinlich. den k e n lässt. - Die Pythagoreer, jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch grosse Musiker: die selben, welche das fünf jährige Schweigen, aber nie h t die 25 Dialektik erfunden haben.
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Sen tim e n tal i t ä tin der Mus i k. - Man sei der ernsten und reichen Musik noch. so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück der30 selben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich
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Menschliches, Allzumenschliches II
meine: von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, dass es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. - Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er ver10 führte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals - es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens - hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst ver s t a nd e n , die einfachste und kind15 lichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muss nämlich auch für die geringsten "Offenbarungen" der Kunst erst vor b e r e i t e t und ein gel ern t werden: es giebt durchaus keine "unmittelbare" Wirkung der Kunst, so schön auch die 20 Philosophen davon gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen - die stärksten unseres Lebens - knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes, lS - das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. - Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt "Sentimentalität" zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffährtig, wie mir scheint, - es 0 3 ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Scene - diese "Sentimentalität" der Hörenden kommt der italiänischen Musik zu Gute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen "Aesthetiker", zu ignoriren lieben. - Uebrigens wirkt fast jede Musik erst von da an z au b e r h a f t, wo
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wir aus ihr die Sprache der eigenen Ver g a n gen h e i t reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig werth zu sein: denn sie erregt noch keine "Sentimentalität", welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für Jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.
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169. Als F r eu n d e der Mus i k. - Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, - sie wollen nur, so gut sie es können, unsere N ä c h te erhellen. Aber nichtwahr? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein Wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit? Ueber den Mann im Monde! Ueber das Weib in der Musik!
17°· Die Kunst in der Zeit der Arbeit. - Wir haben das Gewissen eines ar bei t sam e n Zeitalters: diess erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, 20 und wenn diese Kunst selber die grösste und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Musse, der Erholung: wir weihen ihr die Res t e unserer Zeit, unserer Kräfte. - Diess ist die allgemeinste Thatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist: sie hat, wenn sie ihre g r 0 s sen Zeit- und 25 Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen g e gen sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der g r 0 s sen Kunst nicht zugethan sind und ihre Ansprüche als Anmaassungen empfinden. Es dürfte 30 desshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Athem fehlt: oder - die grosse Kunst versucht, in einer Art
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes 11
Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die k lei n e Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Diess geschieht jetzt allerwärts; auch die Künstler der grossen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die Abendstunden seines Arbeitstages, - ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das VerJO sunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer grösseren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muss; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, ThränenJ5 krämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Ueberlebendigkeit, in ein Aussersich-sein des Entzückens und des Schreckens. Dürfte man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der gros sen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik, lebt, - dürfte man ihr als einer 20 arglistigen Sünderin zürnen? Gewiss nicht: sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraft gefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken wir ihr, dass sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: 2S aber gestehen wir uns auch ein, dass für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, uns e r e grosse Kunst unbrauchbar sein wird.
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Die Angestellten der Wissenschaft und die An der e n. - Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als .. Angestellte" bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr
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Gedächtniss gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie noth thun. Diese Naturen allesammt sind um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, »um derentwillen die Wissenschaft da ist" 10 wenigstens scheint es ihnen selber so - : oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften 15 Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigem Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese Anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Be20 sc h r ä n k t h e i t eigenthümlich, die Jenen fehlt, und derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, - sie können nur in ihr e r e i gen e n L u f t , auf ihrem eigenen Boden leben. Diese Beschränktheit giebt ihnen ein, was Alles von einer Wissenschaft 25 »zu ihnen gehöre", das heisst, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes »Eigenthum" zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zu Grunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der 30 Wissenschaft in der Art jener Anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nöthigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im Ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede unp e r s ö n I ich e Theilnahme an einem Pro-
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blem der Erkenntniss: wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. - Solche Naturen bringen, mit diesen ihren per s 0 n e n h a f t e n Erkenntniss-Gebilden, jene T ä u s c h u n g hervor, dass eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leb e n in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zu Zeiten sehr verhängnissvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen erquicklichen Raststätte gewirkt hat. Gewöhnlich nennt man solche Menschen Phi los 0 p he n.
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A n e r k e n nun g des Tal e n t s. - Als ich durch das Dorf S. gieng, fieng ein Knabe aus Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, - er hatte es schon weit in dieser Kunst gebracht und wusste es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung zu, - im Grunde that mir's bit t e r weh e. - So machen wir es bei der Anerkennung vieler Talente. Wir thun ihnen wohl, wenn sie uns wehe thun.
173. La ehe nun d L ä ehe I n. - Je freudige!' und sicherer der Geist wird, umsomehr verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.
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174· U n t e r haI tun g der K r a n k e n. - Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt, oder gar wie Oedipus die Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hülfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: dass ein Teufel den andern austreibt, - aber man hat dann den andern. - Darum sei den Kranken jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern scheinen: über Wohlthaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen kann.
175· M e d i 0 c ri t ä tal s M a s k e. - Die Mediocrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann, weil sie die grosse Menge, das heisst die Medioeren, nicht an Maskirung denken lässt - : und doch nimmt er sie gerade ihretwegen vor, - um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte. 17 6. Die G e du I d i gen. - Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu warten; und beide ohne Ungeduld: - sie denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.
177· Die b es t e n S ehe r z e. -
Der Scherz ist mlr am
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willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem Finger und Blinzeln des Auges.
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Z u b e hör a 11 e r Ver ehr u n g. - U eberall, wo die Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne ein Wenig Staub, Unrath und Unflath nicht wohl.
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Die grosse Gefahr der Gelehrten. - Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühle davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer missmuthiger und unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann giebt es Augenblicke wie im Leben der grossen entdeckenden Schifffahrer, - Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, dass die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie 0 h n e Res t gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der Elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Räthsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so grösser wird auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in
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Bezug auf Das, was hier "ohne Rest" genannt ist. Er legt Alles bei Seite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muss, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das HalbLösbare, - gegen Alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten in dieser so nützlichen, ·so rastlosen Thätigkeit überfällt ihn, den Aeltergewor10 denen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Missmuth, eine Art Gewissensqual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Z wer gen geschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im Kleinen eine Bequemlichkeit sei, 15 eine Ausflucht vor der Mahnung zur Grösse des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr hin übe r , - die Zeit ist um.
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Die Lehrer im Zeitalter der Bücher. - Dadurch dass die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs-Erziehung allgemeiner wird, muss der Lehrer in seiner jetzt gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren und natürlicheren Weg, als "Schule" und "Lehrer" sind.
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Die E i tel k e i tal s die g r 0 s seN ü t z 1ich k e i t. Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und 30 geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen
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Hunger und Ueberfluss, so tödtet er mehr Thiere, als er verzehren kann, und plündert und misshandelt die Menschen mehr, als nöthig wäre. Seine Machtäusserung ist eine Racheäusserung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann 5 will er für mächtiger gelten, als er ist, und missbraucht desshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, dass nicht Das, was er ist, sondern Das, was er g i I t, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der Ei tel k e i t. Der Mächtige sucht mit allen 10 Mitteln Vermehrung des GI a u ben s an seine Macht. Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, dass sie genau so viel werth sind als sie ihm gel t e n : wesshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den 15 abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimirungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die g r 0 s seN ü t zli c h k e i t, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist: weil 20 die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für Den, der Geist hat, - oder, wie es für Urzustände heissen muss, der li s t i g und hinterhaltig ist.
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W e t t erz eie h end e r Cu I tu r. - Es giebt so wenig entscheidende Wetterzeichen der Cultur, dass man froh sein muss, für seinen Haus- und Gartengebrauch wenigstens Ein untrügliches in den Händen zu haben. Um zu prüfen, ob Jemand zu uns gehört oder nicht - ich meine zu den freien Geistern -, so prüfe man seine Empfindung für das Christenthum. Steht er irgend wie anders zu ihm als kr i t i s eh, so kehren wir ihm den Rücken: er bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter.
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- Uns e r e Aufgabe ist es nicht mehr, solche Menschen zu lehren, was ein Scirocco-Wind ist; sie haben Mosen und die Propheten des Wetters und der Aufklärung: wollen sie diese nicht hören, so -
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Z Ü rn e nun d s t r a f e n hat sei n e Z e i t. - Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Thierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er diess Wiegen geschenk den Thieren zuruckgiebt. - Hier liegt einer der grössten Gedanken vergraben, welche Menschen haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte. - Gehen wir einige Jahrtausende mit einander vorwärts, meine Freunde! Es ist se h r vi e I Freude noch den Menschen vorbehalten, wovon den gegenwärtigen noch kein Geruch zugeweht ist! Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Nothwendiges verheissen und beschwören, im Fall nur die Entwickelung der menschlichen Vernunft nie h t s t i 11 e s t e h t! Einstmals wird man die log i s ehe Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, nie h t me h r übe r's Her z bringen: einstmals, wenn Herz und Kopf so nahe bei einander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen. Dass sie nie h t m ehr s 0 fe r ne stehen, wie ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der Menschheit ziemlich ersichtlich; und der Einzelne, der ein Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung bewusst werden, um daraufhin noch grössere Hoffnungen wagen zu dürfen.
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Ab k u n f t der "P es s i m ist e n«. -
Ein Bissen guter
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Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: diess reicht in's Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit und Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte von den ehemaligen Hun5 gerleidern her ver erb t. Auch unsern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, dass sie von keiner guten Herkunft sind, dass sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren Mancherlei in's Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand 10 und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird. Die Cultur der Griechen ist die der Vermögenden, und zwar der Altvermögenden: sie lebten ein paar Jahrhunderte hindurch be s s er, als wir (in jedem Sinne besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank): da wurden endlich die Gehirne so 15 voll und fein zugleich, da floss das Blut so rasch hindurch, einem freudigen hellen Weine gleich, dass das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und sonnenhaft heraustrat. 18 5. ~o
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Vom vernünftigen Tode. - Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, - oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heisst bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thäte? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? - Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich u n ver n ü n f t i g e Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der
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Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnisswärter der Herr ist, der den Punet bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft JO sich zu fügen hat. Ausserhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. - Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches Glück J5 sein muss.
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Zur ü e k b i I den d. - Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Cultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht: sie wirken zurückbildend. Man denke 10 an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Nothwehr halber sich schaffen und unterhalten muss: an den verschmitzten Polizisten, den Gefängnisswärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advoeaten nicht; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber und die Strafe und das 15 ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende Erscheinungen sind; es wird eben nie gelingen, der Nothwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen; und so oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und 30 opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber.
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18 7. Kr i e g als H eil mit tel. - Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzurathen sein: falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es giebt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Cur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahin zu geben. Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nöthig.
188. Geistige und leibliche Verpflanzung als H eil mit teL - Die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem 1 $ Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die H i S tor i e im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Cu 1turen, ist die H eil mit tell ehr e , nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der A r z t ist erst recht noch nöthig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um Jeden in sein ihm gezo rade erspriessliches Klima zu senden - zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Cultur, genügt nicht als allgemeines Recept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund athmen können. Mit der Historie muss man ihnen Lu f t Z5 machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Culturen haben ihren Werth. - Dieser Cur der Geister steht zur Seite, dass die Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muss, durch eine medicinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten 30 jede Gegend der Erde Anlass giebt, und umgekehrt welche Heilfactoren sie bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden,
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bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein. 18 9.
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Der Bau m der Me n s c h h e i tun d die Ver nun ft. Das, was ihr als Uebervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoffnungsvolleren eben die grosse Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Dass der jetzige no c h k lei n e Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, dass in unzähligen Canälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme, - aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der M aas s s tab zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich gross und kühn: wir Alle wollen dazu thun, dass der Baum nicht vor der Zeit verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im Ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns Allen das Ameisen-Wesen mit seinen kunstvoll gethürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurtheilt, würde auch das gesammte Menschenthum gleich dem Ameisenthum von "Instinct" reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und aus z u pro bi ren, womit man einem grossen menschlichen Ganzen und zuletzt dem grossen Gesammt-Fruchtbaume der Menschheit wohlthun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobiren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal Einzelne k lug geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maass-
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regeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Thorheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es giebt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden InS stinet. Wir müssen vielmehr der grossen Aufgabe i n's Gesie h t s ehe n, die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit vor z u b e r e i t e n, - einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!
19°· Das Lob des Une i gen n ü t z i gen und sei nUr s p run g. - Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Heerden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. 15 Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitzthums von diesen Fehden sich fern halten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Uebergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen 10 und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem Einzelnen zu verstehen gab, fürderhin gegen Den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem Andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine Hand 15 die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzu oft die Ursache des Hasses gewesen waren, - und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt 30 eines tückischen oder offen höhnenden Uebelthäters hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Nothfällen, man sich gegenseitig aus der Noth ziehen konnte, an statt, wie es bisher geschehen, 10
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diese Noth des Nachbars auszunutzen und auf's Höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, Allen war das Vertrauen zur Zukunft zu eigen geworden, - und Nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als diess Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang, und zwar vor dem Angesicht des Mittlers: dessen Handlungsweise man, je 10 grösser der Nutzen war, den man ihr verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie une i gen n Ü t z i g , - man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, zeither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als dass sein Zustand in Folge derselben 15 sich nicht so verändert habe, wie der eigene: er war vielmehr der selbe geblieben, und so schien es, dass Jener den Nutzen nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, dass die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiss mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet 10 haben, aber man hatte das Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz grosser Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen, sind die moralischen Eigenschaften erst 15 von dem Augenblicke an, da sie sie h tb ar über Glück und Verhängniss ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei V i eie n so gross, dass man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom Besten, was Jeder hat. Der 30 Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füssen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens: der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, giebt ihr einen Stammbaum, und betet zuletzt, wie es Künstler thun,
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das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an, - er 1ehr t sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit Aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine Ans a m m 1u n g des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttliche Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzige Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Uebermensdllichkeit aus. - Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen "Ideenhimmel" inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, dass dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend eine althomerische Gottheit.
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Dun k e 1- Z e i t e n. "Dunkel-Zeiten« nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. Ein schönes Gleichniss für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist.
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Der Phi los 0 p h der U e pp i g k e i t. - Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, das war die Ueppigkeit Epikur's.
193·
Die E p 0 c h end e s Leb e n s. Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurzen Zeiten des Stillstandes, mitten innen zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regie-
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ren den Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal S a t t he i t da: alles Andere ist Durst und Hunger - oder Ueberdruss. 194·
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Der T rau m. - Unsere Träume sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden - für gewöhnlim ist der Traum eine Pfusmer-Arbeit -, symbolisme Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden DimterSprache, sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterismer Kühnheit und Bestimmtheit, dass wir dann morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer Träume erinnern. Wir verbraumen im Träumen zu viel Künstlerismes - und sind desshalb am Tage oft zu arm daran. I95·
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Na t u run d W iss e n s c h a f t. - Ganz wie in der Natur, werden auch in der Wissensmaft die schlechteren, unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut, - weil hierfür eben die Mittel der an geh end e n Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der frudltbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte ungeheure Kraft von Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisirte Smaar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus; - diess Alles findet sim erst spät zusammen. - Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die Ergebnisse sind dann gleich Null. In der Natur würden sim soldle Versume dadurch rämen, dass die Ansiedler verhungerten.
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Ein f ach leb e n. -
Eine einfame Lebensweise ist
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jetzt schwer: dazu thut viel mehr Nachdenken und Erfindungsgabe noth, als selbst sehr gescheute Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen: "ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben."
197· S p i t zen und S p i t zeh e n. - Die geringere Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlecht10 liche Kühle der höchsten und cultivirtesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Classen, ist wesentlich in der Oekonomie der Menschheit; die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, dass bei einem äussersten Puncte der geistigen Entwickelung die Gefahr einer ne r v öse n Nachkommenschaft sehr 15 gross ist: solche Menschen sind S p i t zen der Menschheit, sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.
19 8. K ein e Na t u r mac h t S p r ü n g e. - Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den ~o andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Ver z ahn u n gen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Diess ist die Aufgabe des Biographen: er muss nach dem Grundsatze über das Leben denken, dass keine Natur Sprünge macht.
199· Z war re i n I ich. - Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.
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Der Ein sam e s p r ich t. - Man erntet als Lohn für vielen Ueberdruss, Missmuth, Langeweile - wie diess alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muss - jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.
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F als ehe B e r ü h m t h e i t. - Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, Etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Montblanc von Genf aus - etwas Unbedeutendes ohne die zu Hülfe eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, - aber "lange nicht so hoch", wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soU es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!
201.
Ver g n ü gun g s - R eis end e. - Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es unterwegs schöne Aussichten gebe.
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Z u v i e I und z u wen i g. - Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heisshunger und Kolik zugleich und werden desshalb immer mage-
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Menschliches, Allzurnenschliches Il
rer, soviel sie auch essen. - Wer jetzt sagt: »ich habe Nichts erlebt" - ist ein Dummkopf.
2°4· End e und Z i e 1. - Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichniss.
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2°5· Neutralität der grossen Natur. - Die Neutralität der grossen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig. »Wollen denn diese Dinge gar nichts zu uns sagen? Sind wir für sie nicht da?" Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae.
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Die A b sie h t e n ver g e s sen. - Man vergisst über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.
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2°7· S 0 n n e n b ahn der I d e e. - Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heissesten ist diese (das heisst sie thut ihre grössten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.
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z08. Wo dur c h man Alle w i der sie h h ä t t e. - Wenn jetzt Jemand zu sagen wagte: "wer nicht für mich ist, der ist wider mich", so hätte er sofort Alle wider sich. - Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre.
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Sich des Reichthums schämen. - Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichthums sc h ä m e n. Hört man von Jemandem "er ist sehr reich", so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer widerlich ansmwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersumt: man muss sim gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, dass er von unserm Ekelgefühle Nichts merkt. Sobald er aber gar sim Etwas auf seinen Reichthum zu Gute thut, so mismt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlimen Unvernunft: sodass man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte "armer Entstellter, Ueberbürdeter, hundertfam Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt ode r b r i n gen k an n, in dessen Gliedern je des Ereigniss von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben mamen, dass du dim in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo öffentlim erscheinst, - so wissen wir, dass es eine Art Spiessruthenlaufen ist, unter lauter Blicken, welche für dich nur kalten Hass oder Zudringlimkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein, als das der Anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welmes wenig Freude macht, und dein B e w a h ren alles Erworbenen ist jedenfalls jet z t ein mühseligeres Ding, als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest f 0 r t w ä h ren d, denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, dass man dir immer neues künstliches Blut zuführt:
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desshalb thun doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen! - Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich für dich, nie h t reich zu sein: du mus s t bewahren, mus s t neu erwerben, der vererbte Hang deiner Natur ist das Joch über dir, - aber desshalb täusche uns nicht und s c h ä m e dich ehrlich und sichtlich des Joches, das du trägst; da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht." 10
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Aus s c h w e i fun gin der A n m aas s u n g. - Es giebt so anmaassende Menschen, dass sie eine Grösse, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu ihn e n führt, darstellen. ZII.
Auf dem B 0 den der Sc h mac h. Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, thut sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen 20 Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen, vielmehr wirft er, nachdem der Wurm getödtet ist, die ganze Frucht auch noch in den Koth, um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflössen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche" Wiederauf25 erstehung am dritten Tage" unmöglich zu machen. - Er irrt sich, denn gerade auf dem B 0 den der S c h mac h, inmitten des Unflathes, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime -. Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll auf Eis 30 leg e n, immer und immer wieder, in Anbetracht, dass Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muss man nach der Maxime handeln: "Eine Widerlegung ist keine Widerlegung".
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zu. L 0 0 s der M 0 r a I i t ä t. - Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die vererbte, überlieferte, instincthafte Handlungsweise na c h mo r a I i s ehe n Ge f ü h I e n) ebenfalls in Abnahme: nicht aber die einzelnen Tugenden, Mässigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, - denn die grösste Freiheit des bewussten Geistes führt einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin und räth sie sodann auch als n ü t z li chan.
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Der Fanatiker des Misstrauens und seine B ü r g s c h a f t. - Der Alt e: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Grossen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? - P y r rho n : Hier ist sie: ich will die Menschen 15 vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Uebereilungen, Widersprüche und Dummheiten vor aller Augen bIosstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die 20 Wahrheit, solange ihr nur könnt, aus Ekel vor Dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. - Der Alt e: Du versprichst zu viel; du kannst diese Last nicht tragen. - P y r rho n : So will ich auch diess 25 den Menschen sagen, dass ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je grösser meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit misstrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. - Der Alt e : Willst Du denn der Lehrer des Misstrauens gegen die Wahrheit sein? - P y r rho n : Des Miss30 trauens, wie es noch nie in der Welt war, des Misstrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird
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eine Zeitlang Finsterniss heissen müssen: dies! ist der Weg, den ihr gehen müsst. Glaubt nicht, dass er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, - das sind die Wahrheiten: Jahrzehende lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, dass es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht giebt es einmal einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn ver s p r e c h e n, er sei denn ein Fanatiker. Der Alt e: Freund! Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! - P y r rho n : Du hast Recht! Ich will gegen alle Worte misstrauisch sein. - Der Alt e : Dann wirst du schweigen müssen. - P y r rho n: Ich werde den Menschen sagen, dass ich schweigen muss und dass sie meinem Schweigen misstrauen sollen. - Der Alt e : Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? - P y r rho n : Vielmehr, - du hast mir eben das Thor gezeigt, durch welches ich gehen muss. - Der Alt e : Ich weiss nicht -: verstehen wir uns jetzt noch völlig? P y r rho n: Wahrscheinlich nicht. - Der Alt e: Wenn du dich nur selber völlig verstehst! - P y r rho n dreht sich um und lacht. - Der Alt e : Ach Freund! Schweigen und Lachen, - ist das jetzt deine ganze Philosophie? - P y r rho n: Es wäre nicht die schlechteste. -
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Europäische Bücher. - Man ist beim Lesen von Montaigne, Larochefoucauld, Labruyere, Fontenelle (namentlich der dialogues des morts) Vauvenargues, Champfort dem Alterthum näher, als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene Sechs ist der Gei s t der let z t e n J a h r h und e r t e der alt e n Zeitrechnung wieder erstanden, - sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der grossen noch fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher
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erheben sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich jetzt jedes Buch schillert und schillern muss, um berühmt zu werden: sie enthalten mehr wir k I ich e G e dan k e n , als alle Bücher deutscher Philosophen zusammengenommen: Gedanken von der Art, welche Gedanken macht, und die - ich bin in Verlegenheit zu Ende zu definiren; genug dass es mir Autoren zu sein scheinen, welche weder für Kinder noch für Schwärmer geschrieben haben, weder für Jungfrauen noch für Christen, 10 weder für Deutsche noch für ich bin wieder in Verlegenheit, meine Liste zu schliessen. - Um aber ein deutliches Lob zu sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden. Wie viel hätte dagegen selbst ein Plato von den Schriften unserer besten deutschen Denker, zum Beispiel 15 Goethe's, Schopenhauer's, überhaupt verstehen k ö n n e n, von dem Widerwillen zu schweigen, welchen ihre Schreib art ihm erregt haben würde, nämlich das Dunkle, Uebertriebene und gelegentlich wieder Klapperdürre, - Fehler, an denen die Genannten noch am \Venigsten von den deutschen Denkern und 20 doch noch allzuvielleiden (Goethe, als Denker, hat die Wolke lieber umarmt, als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge, statt unter den Dingen selber). - Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten 25 auch die feinohrigsten Griechen gutheissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks: so Etwas 1i e b t e n sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein.
15. P Mo d e und mo der n. - Ueberall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwan ge sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirthschaft armselig, die Prie2
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Menschliches, Allzumenschliches II
sterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die Na t ion a 1t r ach t e n. Dagegen herrscht die M 0 d e, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tu gen den des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich 5 deren Schattenseite sein? - Zunächst sagt die m ä n n I ich e Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von Dem, der sie trägt, aus, dass der Europäer nicht als Ein z e ln er, noch als S t a n des - und V 0 I k s gen 0 s s e auf fall e n will, dass er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von 10 Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat; dann dass er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Ueppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich dass er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hin15 weist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesammtcharakters der männ20 lichen Mode giebt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtsthuer der grossen Städte hervorbringt, also Der er, w e Ich e als europäische Menschen noch nicht reif geworden si n d. - Die europäischen Frauen sind diess n 0 c h vi e I 25 wen i ger, wesshalb die Schwankungen bei ihnen viel grösser sind: sie wollen auch das Nationale nicht, und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als Einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll Niemand schon durch ihre Bekleidung in Zweifel gelassen wer30 den, dass sie zu einer angeseheneren Classe der Gesellschaft (zur "guten" oder "hohen" oder "grossen" Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Classe gehören. Vor Allem aber will die junge Frau Nichts tragen, was die etwas
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ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, - aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen BIosstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Culturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen costümirten Erdkreis zu Rathe gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inscenirung des schönen Fleisches zusammengekoppelt, so entdeckt man endlich immer wieder, dass man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vortheil verstanden habe, dass, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckenspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, dass ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von Neuem. Je me h r aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersclassen den Vorrang zugestehen, desto geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, desto einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urtheil sprechen darf, also nie h t nach dem Maassstab der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europa's, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europa's seine liebste Heimath hat. - Im Ganzen wird also gerade nie h t das W e c h seI n d e das charakteristische Zeichen der Mo d e und des Mo der n e n sein, denn gerade der Wechsel
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Menschliches, Allzumenschliches II
ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch u n ger e i f te n männlichen und weiblichen Europäer: sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. Dem entsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europa's für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, dass der Formensinn nicht Jedermann geschenkt zu sein pflegt: auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Hass gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, dass er dann ein Costüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, - es hat nie eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache thut. - Hier, wo die Begriffe "modern" und "europäisch" fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien's, umfasst: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das TochterIand unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff "Europa"; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.
216.
Die "d e u t s ehe Tu gen d". - Es ist nicht zu leugnen, dass vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein Strom
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moralischer Erweckung durch Europa floss. Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes: so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften fast könnte man wieder sagen: seiner mythisch ausgelegten Schriften - und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (er und sein Publicum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-grossen Römerthums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das Würdigste weitergeführt haben. Sie giengen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über: sodass sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland: welches in Folge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Grösse des Wollens und Sich-beherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen gerieth und den Begriff "deutsche Tugend" in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigeneres geben könnte, als diese. Die ersten grossen Männer, welche jene französische Anregung zur Grösse und Bewusstheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergassen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kant's woher kommt er? Er giebt es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der Moralismus Schiller's: gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethoven's in Tönen: er ist das ewige
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Menschliches, Allzumenschliches II
Loblied Rousseau's, der antiken Franzosen und Schiller's. Erst "der deutsche Jüngling" vergass die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewusstheit, als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schiller's, Fichte's und Schleiermacher's denken: aber seine Grossväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig, zu 10 glauben, was er glaubte: dass die Tugend nicht älter als dreissig Jahre sei. Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, dass beim Worte "deutsch" auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde, - und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt. - Nebenbei bemerkt, jene genannte 15 moralische Erweckung hat für die E r k e n n t n iss der moralischen Erscheinungen, wie sich fast errathen lässt, nur Nachtheile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italiänischen Ausläu20 fern und Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der best beschimpfte 25 aller guten Moralisten und guten Menschen.
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217· C 1ass i sc h und rom a n t i s c h. - Sowohl die classisch als auch die romantisch gesinnten Geister - wie es diese beiden Gattungen immer giebt - tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer S t ä r k e ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren S c h w ä ehe.
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218.
Die M ase hin e als L ehr er i n. - Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Actionen, wo Jeder nur Eins zu thun hat: sie giebt das Muster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen ein e Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu ein e m Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, den Nutzen der Centralisation zu lehren. 10
21 9.
Nie h t ses s h a f t. - Man wohnt gerne in der kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste Natur: dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, um 15 uns wieder von dieser Natur zu er hol e n, in die grosse Stadt. Einige Züge aus derselben - und wir errathen den Bodensatz ihres Bechers, - der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von Neuem. - So leben die Modernen: welche in Allem etwas zug r ü n d I ich sind, um ses s h a f t zu sein 20 wie die Menschen anderer Zeiten.
220.
Reaction gegen die Maschinen-Cultur. Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niede25 ren gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht t h ä t i g und einf ö r m i g, - das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwir30 kung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt.
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Mensdtlidtes, Allzumensdtlidtes 11 221.
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Die G e f ä h rl ich k e i t der Auf k 1ä run g. - Alles das Halbverrückte, Sdtauspielerisdte, Thierisdt-Grausame, Wollüstige, namentlidt Sentimentale und Sidt-selbst-Berausdtende, was zusammen die eigentlich re v 0 I u t ion ä r e Sub s t a n z ausmadtt und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, - dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die Auf k I ä run g auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durdt Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: sodass sie nur sehr langsam audt die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, weldte durdt sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermisdtung man sie herauszuziehen, von weldter Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, ans ich seI b er, das Wer k der Aufklärung fortzu set zen und die Revolution nadtträgl.idt in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu madten. 222.
Die Lei den s c ha f tim Mi tt el alte r. - Das Mittelalter ist die Zeit der grössten Leidenschaften. Weder das Alterthum noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der Seele: ihre R ä u m I ich k e i t war nie grösser und nie ist mit längeren Maassstäben gemessen worden. Die physisdte Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die überseelenhaften, überwadten, allzuglänzenden Augen von dtristlichen Mysterien-
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Jüngern, das Kindlichste, Jüngste und ebenso das Ueberreifste, Altersmüdeste, die Rohheit des Raubthiers und die Verzärtelung und Ausspitzung des spätantiken Geistes, - Alles diess kam damals an Einer Person nicht selten zusammen: da musste, wenn Einer in Leidenschaft gerieth, die Stromschnelle des Gemüthes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer sein, als je. - Wir neue ren Menschen dürfen mit der Einbusse zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.
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Rau ben und s par e n. - Alle geistigen Bewegungen gehen vorwärts, in Folge deren die Grossen zu rau ben, die Kleinen zu s par e n hoffen können. Desshalb gieng zum Beispiel die deutsche Reformation vorwärts.
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Fr ö h I ich e See I e n. - Wenn auf Trunk, Trunkenheit und eine übelriechende Art von Unflätherei auch nur von ferne hingewinkt wurde, dann wurden die Seelen der älteren Deutschen fröhlich, - sonst waren sie verdrossen; aber dort hatten sie ihre Art von Verständniss-Innigkeit.
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Das aus s c h w e i fe n d e A t h e n. - Selbst als der Fischmarkt Athen's seine Denker und Dichter bekommen hatte, besass die griechische Ausschweifung immer noch ein idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische oder die deutsche Ausschweifung hatte. Die Stimme Iuvenal's hätte dort wie eine hohle Trompete geklungen: ein artiges und fast kindliches Gelächter hätte ihm geantwortet.
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Menschliches, Allzumenschliches II 226.
K lug h e i t der G r i e ehe n. - Da das Siegen- und Hervorragenwollen ein unüberwindlicher Zug der Natur ist, älter und ursprünglicher, als alle Achtung und Freude der Gleich5 stellung, so hatte der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanctionirt, also einen Tummelplatz abgegränzt, wo jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wett10 kampfes gerieth der griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung.
2:l.7.
"Der ewige Epikur." - Epikur hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt Denen, welche sich Epikureer IS nannten und nennen, und ohne Ruf bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat.
228. Stil der U e b erle gen h e i t. - Studentendeutsch, die 10 Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren Ursprung unter den nicht-studierenden Studenten, welche eine Art von Uebergewicht über ihre ernsteren Genossen dadurch zu erlangen wissen, dass sie an Bildung, Sittsamkeit, Gelehrtheit, Ordnung, Mässigung alles Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus 25 jenen Bereichen zwar fortwährend ebenso im Munde führen, wie die Besseren, Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der Ueberlegenheit - der einzigen, die in Deutschland original ist reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die Zei30 tungs-Kritiker: es ist ein beständiges ironisches Citiren, ein un-
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ruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach rechts und links, ein Gänsefüsschen- und Grimassen-Deutsch.
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Die Ver g r a ben e n. - Wir ziehen uns in's Verborgene 5 zurück: aber nicht aus irgend einem persönlichen Missmuthe, als ob uns die politischen und sodalen Verhältnisse der Gegenwart nicht genugthäten, sondern weil wir durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln wollen, welche s p ä t e r einmal der Cultur ganz noth thun werden, je mehr diese 10 Gegenwart die s e Gegenwart ist und als solche ihr e Aufgabe erfüllt. Wir bilden ein Capital und suchen es sicher zu stellen: aber, wie in ganz gefährlichen Zeiten, dadurch dass wir es verg ra be n.
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T y r a n n end e s Gei s t e s. - In unserer Zeit würde man Jeden, der so streng der Ausdruck Eines moralischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrast's und Moliere's es sind, für krank halten, und von "fixer Idee" bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts würde uns, wenn wir dort einen Be20 such machen dürften, wie von Narren bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die Demokratie der Beg r i f fein jedem Kopfe, - v i eIe zu sam m e n sind der Herr: ein einzelner Begriff, der Herr sein w 0 I I t e , heisst jetzt, wie gesagt, "fixe Idee". Diess ist uns e r e Art, die Tyrannen zu morden, - wir winken 25 nach dem Irrenhause hin. 15
23 1 •
G e f ä h rl ich s t e Aus w a n der u n g. - In Russland giebt es eine Auswanderung der Intelligenz: man geht über die
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Menschliches, Allzumenschliches II
Gränze, um gute Bücher zu lesen und zu schreiben. So wirkt man aber dahin, das vom Geiste verlassene Vaterland immer mehr zum vorgestreckten Rachen Asiens zu machen, der das kleine Europa verschlingen möchte.
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Die S t a a t s - N a r ren. - Die fast religiöse Liebe zum Könige gi eng bei den Griechen auf die Polis über, als es mit dem Königthum zu Ende war. Und weil ein Begriff mehr Liebe erträgt, als eine Person, und namentlich dem Liebenden nicht so 10 oft vor den Kopf stösst, wie geliebte Menschen es thun (- denn je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riss entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung grösser, als irgend je vorher die Fürsten-Verehrung. Die 15 Griechen sind die S t a a t s - N ar ren der alten Geschichte, - in der neue ren sind es andere Völker.
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233· G e gen die Ver n ach I ä s s i gun g der A u gen. Ob man nicht bei den gebildeten Classen Englands, welche die Times lesen, alle zehn Jahre eine Abnahme der Sehkraft nachweisen könnte?
234· Grosse Werke und grosser Glaube. - Jener hatte die grossen Werke, sein Genosse aber hatte den grossen 15 Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hieng der Erstere völlig vom Zweiten ab.
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Der Ge seil i g e. - "Ich bekomme mir nicht gut" sagte Jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. "Der Magen der Gesellschaft ist stärker, als der meinige, er verträgt mich."
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A u gen s chI i e s sen des Gei s t e s. - Ist man geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so muss man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere Auge schliessen. Ja im Gespräch mit Durchschnittsmenschen muss man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen zu den k e n, - um nämlich das Durchschnittsdenken zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schliessen ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Act.
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Die f u r c h t bar s te R ach e. - Wenn man sich an einem Gegner durchaus r ä c h e n will, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtig20 keiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: sodass Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der Rache, denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch appellirt werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, 25 Schaffen und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so rädlte sich der Sei be an Friedrich dem Grossen (in emem Briefe an ihn von Ferney aus).
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Menschliches, Allzumenschliches II
23 8.
Lux u s - S t e u e r. - Man kauft in den Läden das Nöthige und Nächste und muss es theuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat: das Luxushafte und Gelüstartige. So legt der Luxus dem Einfachen, der seiner enträth, doch eine fortwährende Steuer auf.
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War u m die B e t t I ern 0 chI e ben. - Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesammt verhungert. 240. War u m die B e t tl ern 0 chI e ben. Almosenspenderin ist die Feigheit.
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Die grösste
24 1 • Wie der Den k e r ein G e s prä c h ben u tz t. Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei Weitem zu viel Aufmerksamkeit auf Das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirkliche Hör e r sich oft begnügt, vorläufig zu antworten und Etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zu sag e n , dagegen mit seinem hinterhaitigen Gedächtnisse Alles davonträgt, was der Andere geäussert hat, nebst der Art in Ton und Gebärde, wie er es äusserte. - Im gewöhnlichen Gespräche meint Jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die neben einander fahren und sich hier und d; einen kleinen Stoss geben, beiderseits im guten Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.
2. Der Wanderer und sein Schatten 238-246
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24 2. Die Ku n s t, sie h zu e n t s c h u 1d i gen. - Wenn sich Jemand vor uns entschuldigt, so muss er es sehr gut machen: sonst kommen wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.
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243· U n m ö g I ich e rUm g a n g. - Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als dass du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren könntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und Jene würden alsbald auch in Verlegenheit gerathen - über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht errathen können.
244· F u c h s der F ü c h s e. - Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und Anderen vorweggenommen hat.
245· zo I m n ä c h s t e n Ver k ehr e. - Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören: es giebt innerhalb ihres gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.
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24 6. Das Sc h w e i gen des E k eis. - Da macht Jemand als Denker und Mensch eine tiefe schmerzhafte Umwandlung durch
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Menschliches, AIIzumenschliches II
und legt dann öffentlich Zeugniss davon ab. Und die Hörer merken Nichts! glauben ihn noch ganz als den Alten! - Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchem Schriftsteller schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellectualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrthum wahrnahmen, das Schweigen an.
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247· G e s c h ä f t s - Ern s t. - Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine Art Aus ruh e n s von allzulangem gewohnheitsmässigem M ü s si g g a n g : er nimmt sie desshalb so ernst und passionirt, wie andere Leute ihre seltenen MusseErholungen und -Liebhabereien.
24 8. D 0 P P eis i n n des Au g e s. - Wie das Gewässer zu deinen Füssen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so giebt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln? ist's Beides?
249· Pos i t i v und ne g a t i v. - Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.
25°· Die Ra ehe der lee ren Ne tz e. - Man nehme sich vor allen Personen in Acht, welche das bittere Gefühl des Fi15 schers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt.
2. Der Wanderer und sein Schatten 246-255
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251·
Sei n Re c h t ni c h t gel t end mac h e n. - Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Muth. Desshalb machen so Viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil diess Recht 5 eine Art Mac h t ist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben. Na c h s ich t und Ge d u I d heissen die DeckmantelTugenden dieser Fehler. 252· 10
Li c h t t r ä ger. - In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen.
253·
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A m m i I d t h ä t i g s t e n. - Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein Wenig gegessen hat, so ist er am mildthätigsten. 254·
Zum L ich t e. - Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. - Vor wem man glänzt, den lässt man gerne als Licht gelten.
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255· Der Hypochonder. - Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er 25 weidet es so ab, dass er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muss. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals, - und dann erst ist er unausstehlich.
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Menschliches, Allzumenschliches II
25 6.
Zurückerstatten. - Hesiod räth an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maasse und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmüthigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch Der, welcher zurückgiebt, hat seine Freude, insofern er die kleine einstmalige Demüthigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Uebergewicht, als Schenkender, zurückkauft. 10
257·
Fe i n e r als n ö t h i g. - Unser Beobachtungssinn dafür, ob Andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen Anderer: woraus sich also ergiebt, dass er feiner ist, als nöthig wäre. 25 8.
Ein e li c h t e A rt von S ch a t t e n. - Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen. zo
259·
5 ich n ich t r ä c h e n ? - Es giebt so viele feine Arten der Rache, dass Einer, der Anlass hätte, sich zu rächen, im Grunde thun oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, dass er sich gerächt hab e. zs Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: dass er es nicht woll e , darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfindliche Rache gedeutet und e m p fun den wird. - Woraus sich ergiebt, dass man nichts U e b e r f 1ü s s i g e s thun soll - -
2. Der Wanderer und sein Schatten 256-263
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260.
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Irr t h u m der Ehr end e n. - Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes zu sagen, wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf den selben Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck gerathen sei; und doch wird bei solchen Mittheilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck misstrauisch: er beschliesst im Stillen, beide einmal zu revidiren. - Man muss, wenn man Jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck der Uebereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches Niveau. In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie nicht die unsrige, ja als gienge sie über unsern Horizont hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse aufschliesst.
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B r i e f. - Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Ueberfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen.
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261.
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Der Voreingenommene. - Jemand sagte: ich bin gegen mich vor ein gen 0 m m e n von Kindesbeinen an: desshalb finde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit und in jedem 15 Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt.
26 3.
Weg zur G lei c h h e i t. -
Einige Stunden Bergstei-
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Menschliches, AIIzumenschliches 11
gens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur G lei c h h e i t und B r ü der 1ich k e i t - und die F re i h e i t wird endlich durch den Schlaf hinzu gegeben.
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26 4. Ver leu m dun g. - Kommt man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen F ein den; denn diese würden, wenn sie so Etwas über uns erfänden, als Feinde keinen Glauben finden. Aber jene, denen wir eine Zeit lang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einern Grunde im Geheimen sicher darüber sein dürfen, Nichts mehr von uns zu erlangen, - Solche sind im Stande, die Infamie in's Rollen zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man annimmt, dass sie Nichts erfinden würden, was ihnen selber Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher kennen gelernt haben. Zum Troste mag sich der so schlimm Verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten Anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, dass die Gesellschaft Ein (moralischer) Körper ist, sodass du an dir die Cur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll.
26 5. Das Kinder-Himmelreich. - Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus, wie das Glück der Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. Wen n das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiss möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wen n der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiss möglichst fern von uns e rem Alter, an den Gränzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen
2. Der Wanderer und sein Schatten 263-267
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ist der Anblick der Kinder, dur c h den Sdtleier dieses Mythus' hindurdt, das grösste Glück, dessen er theilhaftig werden kann: er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreidts, wenn er sagt »lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das 5 Himmelreidt." - Der Mythus vorn Kinder-Himmelreidt ist überall irgendwie thätig, wo es in der modernen Welt Etwas von Sentimentalität giebt.
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Die U n g e du 1 d i gen. - Gerade der Werdende will das Werdende nicht: er ist zu ungeduldig dafür. Der Jüngling will nidtt warten, bis, nach langen Studien, Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen und Dingen voll werde: so nimmt er ein anderes, das fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und Glauben an, als müsse es ihm die Linien und Farben sei n e s Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einern Philosophen, einern Dichter an's Herz und muss nun eine lange Zeit Frohndienste thun und sich selber verläugnen. Vieles lernt er dabei: aber häufig vergisst ein Jüngling das Lernens- und Erkennenswertheste darüber: sidt selber; er bleibt Zeitlebens ein Parteigänger. Adt, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiss nöthig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat! - Und dann ist man nodt lange nicht Meister seiner Lebenskunst, - aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt.
267.
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Es giebt keine Erzieher. - Nur von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden. Die Jugend-Erziehung durch Andere ist entweder ein Experiment, an einern noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzlidte Nivellirung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohn-
Menschliches, Allzumenschliches II
beiten und Sitten, welche herrschen, gemäss zu machen: in beiden Fällen also Etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern und Lehrer, welche Einer der verwegenen Ehrlichen nos ennemis natureIs genannt hat. - Eines Tages, wenn man längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, e n td eck t man sich seI b er: da beginnt die Aufgabe des Denkers, jetzt ist es Zeit, ihn zu Hülfe zu rufen - nicht als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen, der Erfahrung hat.
268. Mitleiden mit der Jugend. - Esjammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem Andern die Augen erblinden. Wüssten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie gross würde erst der Jammer sein! - Wesshalb leiIS den wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft uns e rem Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder, wenn wir uns nur als Vollstrecker ~o der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, dass diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muss.
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26 9. Die Leb e n s alt e r. - Die Vergleichung der vier JahreslS zeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten zwanzig, noch die letzten zwanzig Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit: vorausgesetzt dass man sich bei der Ver gleichung nicht mit dem Weiss des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten 30 zwanzig Jahre sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt,
2. Der Wanderer und sein Smatten 267-269
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auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages; und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur Alles vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maasse, an jedem Sylvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre thut. Zwischen inne liegt aber in der That ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahe legt: der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehen den zu rechnen, während es sich von selber versteht, dass IO Jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muss). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, dass man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einI5 samen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren K r a n k h e i t s z e i te n die Winterzeiten des Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre: heiss, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre, in denen die 20 Arbeit uns hart, aber nothwendig dünkt, diese zwanziger Jahre sind der So m m e r des Lebens. Die dreissiger dagegen sind sein Fr ü h I i n g: die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend, quellender Saft, Blätterfülle, Blüthenduft überall, viele bezaubernde Morgen und Nächte, die 25 Arbeit, zu der der Vogel gesang uns weckt, eine rechte Herzensarbeit, eine Art Genuss der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgeniessende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre: geheimnissvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen weiten BergEbene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft; mit einem 30 klaren wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit, - es ist der Her b s t des Lebens.
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Menschliches, Allzumenschliches II 270.
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Der Geist der Frauen in der jetzigen Gesellsc h a f t. - Wie die Frauen jetzt über den Geist der Männer denken, erräth man daraus, dass sie bei ihrer Kunst des Smmükkens an Alles eher denken, als den Geist ihrer Züge oder die geist reimen Einzelnheiten ihres Gesimts nom besonders zu unterstreimen: sie verbergen Derartiges vielmehr und wissen sim dagegen, zum Beispiel durch Anordnung des Haars über der Stirn, den Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Ueberzeugung, dass der Geist bei Weibern die Männer ersmrecke, geht so weit, dass sie selbst die Schärfe des geistigen Sinnes gern verleugnen und den Ruf der Kur z s ich t i g k e i t absichtlich auf sich laden; dadurch glauben sie wohl die Männer zutraulicher zu machen: es ist, als ob sim eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite.
271.
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Gross und vergänglich. - Was den Betramtenden zu Thränen rührt, das ist der schwärmerisme Glückes-Blick, mit dem eine smöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmuth dabei, über die Grösse sowohl, als über die Vergänglichkeit des mensmlimen Glückes.
27 2 •
o p f e r - S i n n. -
Manche Frau hat den intelletto deI sacri25 fizio und wird ihres Lebens nimt mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiss dann mit ihrem Verstande nimt mehr wohin? und wird unversehens aus dem Opferthier der Opferpriester selber.
2. Der Wanderer und sein Schatten 270-275
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273· Das U n w e i b I ich e. - "Dumm wie ein Mann" sagen die Frauen: "feige wie ein Weib" sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das U n w e i b I ich e.
10
274· Männliches und weibliches Temperament und die S t erb I ich k e i t. - Dass das männliche Gesdllecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergiebt sich auch daraus, dass die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter "aus der Haut fahren": ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Uebel leicht bis in's Tödtliche.
275· Die Z e i t der C y klo p e n bau t e n. - Die Demo15 kratisirung Europa's ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturz geister) 20 scheinen nur desshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es Einem angesichts Derer, welche jetzt bewusst und ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der That bange werden: es liegt etwas Oedes 25 und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hineingeweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, dass die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Stein30 dämmen und Schutzmauern - als an eine Thätigkeit, die noth-
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Menschliches, Allzumenschliches II
wendig viel Staub auf Kleider und Gesimter breitet und unvermeidlim wohl auch die Arbeiter ein Wenig blödsinnig mamt; aber wer würde desswegen solches Thun ungethan wünsmen? Es scheint, dass die Demokratisirung Europa's ein Glied in der Kette jener ungeheuren pro p h y 1akt i s ehe n M aas s re gel n ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Cyklopenbauten! Endliche Simerheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann! Unmöglimkeit fürderhin, dass die Frumtfelder der Cultur wieder über Namt von wilden und sinnlosen Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen 1e i b 1ich e und gei s t i ge Ver k n e c htun g ! Und diess Alles zunächst wörtlim und gröblim, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, sodass alle hier angedeuteten Maassregeln die geist reime Gesammtvorbereitung des hömsten Künstlers der Gartenkunst zu sein smeinen, der sich dann erst zu seiner eigentlimen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist! - Freilim: bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwismen Mittel und Zweck liegen, bei der grossen, übergrossen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die smon noth thut, um nur jedes einzelne Mittel zu smaffen oder herbeizusmaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nimt zu hart an remnen, wenn sie laut decretiren, die Mauer und das Spalier sei smon der Zweck und das letzte Ziel; da ja nom Niemand den Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, um der e n t w i 11 e n das Spalier da ist. 2.76• Das R e c h t des a 11 g e m ein e n S tim m re c h t e s. Das Volk hat sim das allgemeine Stimmremt nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und
2. Der Wanderer und sein Schatten 275-277
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vorläufig angenommen: jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genugthut. Diess scheint jetzt allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist diess ein Votum ge gen das ganze Stimm system überhaupt. - Man muss hier sogar noch viel strenger urtheilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, dass die Majorität über das Wohl Aller die letzte Entscheidung 10 habe, kann nicht auf der selben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden: es bedarf nothwendig einer noch breiteren, und diess ist die Ein s tim m i g k e i t All e r. Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muss es wollen. 15 Desshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als unthunlich wieder bei Seite zu stellen: und die Nie h t b e t h eil i gun g an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das "absolute Veto" des Einzelnen oder, um nicht in's 20 Kleinliche zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Consequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muss es, laut der Art von Betheiligung, erst beweisen, dass es noch zuR e c h t besteht.
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277· Das sc h lee h te Sc h I i e s sen. - Wie schlecht schliesst man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist, selbst wenn man als Mann der Wissenschaft noch so sehr an das gute Schliessen gewöhnt ist! Es ist beschämend! Und nun ist klar, dass im grossen Welttreiben, in Sachen der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie es fast jeder Tag heraufführt, eben dieses sc h lee h t e Sc h I i es sen entscheidet: denn Niemand ist
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Menschliches, AIIzumensdlliches II
völlig in dem zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist; alles Politisiren, auch bei den grössten Staatsmännern, ist Improvisiren auf gut Glück.
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Prä m iss end e s M ase hin e n - Z e i tal t e r s. - Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.
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De r Hem mse h u h cl er Cu I tu r. - Wenn wir hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den produetiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muss sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals bunt und voll Narrheiten; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die Einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts, oder werden doch als Gleiche behandelt; dort verlangt und giebt man Gehorsam ohne Verständniss: man befiehlt, aber man hütet sich, zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten; dort gilt der Verrath als das grösste Verbrechen, schon die Kritik der Uebelstände wird nur von den Muthigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, dass er das Leben in Gefahr bringt; - wer diess Alles hört, wird sofort sagen: "es ist das Bild einer bar bar i s ehe n, In Gefahr schwebenden Gesellschaft." Vielleicht dass der Eine hinzufügt: "es ist die Schilderung Sparta's"; ein Anderer wird aber nachdenklich werden und vermeinen, es sei uns e r m 0 der n e s M i I i t ä r wes e n beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen Cultur und Soeietät dasteht, als
2. Der Wanderer und sein Schatten 277-280
675
ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der Gegenwart nur den Werth eines Hemmschuhes haben kann. - Mitunter 5 thut aber auch ein Hemmschuh der Cultur auf das Höchste noth: wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, b erg auf geht.
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M ehr Ach tun g vor den W iss end e n! - Bei der Concurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das Pub I i c u m zum Richter über das Handwerk gemacht: das hat aber keine strenge Sachkenntniss und urtheilt nach dem Sc h ein e der Güte. Folglich wird die Kunst des Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der Herrschaft der Concurrenz steigen, da15 gegen die Qualität aller Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird, wofern nur die Vernunft nicht im Werthe fällt, irgend wann jener Concurrenz ein Ende gemacht werden und ein neues Princip den Sieg über sie davontragen. Nur der Handwerksmeister sollte über das Handwerk urtheilen, und dasPubli10 cum abhängig sein vom Glauben an die Person des Urtheilenden und an seine Ehrlichkeit. Demnach keine anonyme Arbeit! Mindestens müsste ein Sachkenner als Bürge derselben dasein und sei n e n Namen als Pfand einsetzen, wenn der Name des Urhebers fehlt oder klanglos ist. Die Wo h 1f eil h e i teines Wer15 kes ist für den Laien eine andere Art Schein und Trug, da erst die Da u e r h a f t i g k e i t entscheidet, dass und inwiefern eine Sache wohlfeil ist; jene aber ist schwer und von dem Laien gar nicht zu beurtheilen. - Also: was Effect auf das Auge macht und wenig kostet, das bekommt jetzt das Uebergewicht, 30 und das wird natürlich die Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das heisst die Ursache der grössten Schnelligkeit und Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits 10
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Menschliches, Allzumenschliches II
die ver k ä u f 1ich s t e Sorte: sonst ist kein erheblicher Gewinn mit ihr zu machen; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber entscheidet das Publicum, wie gesagt: es muss das Täuschendste sein, das heisst Das, was einmal gut scheint und sodann auch wohlfeil sc he in t. Also auch auf dem Gebiete der Arbeit muss unser Losungswort sein: "Mehr Achtung vor den Wissenden!"
28r.
Die Ge f a h r der K ö n i g e. - Die Demokratie hat es 10 in der Hand, ohne alle Gewaltmittel, nur durch einen stätig geübten gesetzmässigen Druck, das König- und Kaiserthum ho h I zu machen: bis eine Null übrig bleibt, vielleicht, wenn man will, mit der Bedeutung jeder Null, dass sie, an sich Nichts, doch an die rechte Seite gestellt, die Wir k u n g einer 15 Zahl verzehnfacht. Das Kaiser- und Königthum bliebe ein prachtvoller Zierrath an der schlichten und zweckmässigen Gewandung der Demokratie, das schöne Ueberflüssige, welches sie sich gönnt, der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrathes, ja das Symbol der Historie selber, - und in dieser Einzigkeit ~o etwas höchst Wirksames, wenn es, wie gesagt, nicht für sich allein steht, sondern richtig ge s tell t wird. - Um der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als Kr i e g s für s t e n fest: dazu brauchen sie Kriege, das heisst Ausnahmezustände, in denen jener lang~5 same gesetzmässigeDruck der demokratischen Gewaltenpausirt. 282.
Der Lehrer ein nothwendiges Uebel. - So wenig wie möglich Personen zwischen den productiven Geistern und den hungernden und empfangenden Geistern! Denn die JO Mit t I e r wes e n fälschen fast unwillkürlich die Nahrung, die
2. Der Wanderer und sein Schatten 280-283
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sie vermitteln: sodann wollen sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel für sie h, was also den originalen, pro ductiven Geistern entzogen wird: nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und Anderes. - Also: man sehe immerhin den L e hre r als nothwendiges Uebel an, ganz wie den Handelsmann: als ein Uebel, das man so k lei n wie möglich machen muss! Wenn vielleicht die Noth der deutschen Zustände jetzt ihren Hauptgrund darin hat, dass viel zu Viele vom Handel leben und gut leben wollen (also dem Erzeugenden die Preise möglichst zu verringern und dem Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am möglichst grossen Schaden Beider den Vortheil zu haben): so kann man gewiss einen Hauptgrund der geistigen Nothstände in der Ueberfülle von Lehrern sehen: ihretwegen wird so wenig und so schlecht gelernt.
2.83.
Die Achtungssteuer. - Den uns Bekannten, von uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker, der Etwas für uns thut und arbeitet, bezahlen wir gern so hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen: dagegen bezahlt man 20 den Unbekannten so niedrig es nur angehen will; hier ist ein Kampf, in welchem Jeder um den Fussbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht. Bei der Arbeit des Bekannten für uns ist etwas U n b e z a h I bar es, die in seine Arbeit u nse r t weg e n hineingelegte Empfindung und Erfindung: wir 25 glauben das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine Art Auf 0 p f e run g unsererseits ausdrücken zu können. - Die stärkste Steuer ist die Ach tun g s s te u e r. Je mehr die Concurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, für Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer, während sie 30 gerade der Maassstab für die Höhe des menschlichen SeelenVer k ehr e s ist.
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28 4. Das Mit tel zum wir k I ich e n F r i e den. - Keine Regierung giebt jetzt zu, dass sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Vertheidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Nothwehr billigt, wird als ihre· Fürsprecherin angerufen. Das heisst aber: sim die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedamt werden muss, wenn unser Staat nothwendig an die Mittel der Nothwehr 10 denken soll; überdiess erklärt man ihn, der gen au ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Nothwehrgründen unterhält, durm unsere Erklärung, wesshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welmer gar zu gern ein harm15 loses und ungesmicktes Opfer ohne allen Kampf übe r fall e n mömte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegen einander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine I n h u m a ni t ä t, so smlimm und smlimmer als der Krieg: ja, im Grunde 2.0 ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nambar die Immoralität untersmiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr muss man ebenso gründlich absmwören, als den Eroberungsgelüsten. 2.5 Und es kommt vielleimt ein grosser Tag, an welmem ein Volk, durch Kriege und Siege, durm die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeimnet, und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: "w i r zer b r e ehe n das Sc h wer t" - und sein ge30 sammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sie h weh rio s mac h e n, w ä h ren d man der Weh rh a f t e s t e war, aus einer H ö h e der Empfindung heraus, - das ist das Mittel zum wir k 1ich e n Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss: wäh-
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rend der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zu Grunde gehen, als hassen und fürchten, und z w e i mal 1i e b erz u G run d e geh e n , als s ich h ass e nun d für c h t e n mac h e n , - diess muss einmal auch die oberste .Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden! - Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, dass sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine »allmähliche Herabminderung der Militärlast" arbeiten. Vielmehr: erst wenn diese Art Noth am grössten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr wisst es ja, aus der Wolke - und von der Höhe.-
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Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit ausgeg I ich e n wer den k a n n. - Wird die Ungerechtigkeit des zo Besitzes stark empfunden - der Zeiger der grossen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle -, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche VertheiIung, und sodann die Aufhebung des Eigenthums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich Z5 nach dem Herzen unserer SociaIisten, welche jenem alterthümlichen Juden darüber gram sind, dass er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen. - Die Versuche nach dem ersten Recepte sind im Alterthum oft gemacht worden, zwar immer nur in 30 kleinem Maassstabe, aber doch mit einem Misserfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. »Gleiche Ackerloose" ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nöthig
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werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wieviel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Gränzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wiewiel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerloose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Loos auf fünf Köpfe, dort waren fünf Loose auf Einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschaftsgesetze solchen Missständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerloose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche Nichts besassen, ausser der Missgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. - Will man aber nach dem z w e i t e n Recepte das Eigenthum der Ge m ein d e zurückgeben und den Einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen Alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als lüderlicher Verschwender. Wenn P!ato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, dass, nach Abzug der Selbstsucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Cardinaltugenden übrig bleiben werden, - wie man sagen muss: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit und Selbstsucht - was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit ni~t von ferne gesagt sein soll, dass es nur Namen und Masken von jenen seien. Plato's utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Socialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntniss des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nütz-
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lichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Alterthum, an gut und böse wie an weiss und schwarz: also an eine radicale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften. - Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflösse und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum k lei n e n Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung g r 0 s s e r Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften - und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen. 286.
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Der Werth der Arbeit. - Wollte man den Werth der Arbeit darnach bestimmen, wieviel Zeit, Fleiss, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Werth niemals ger e c h t sein; denn die ganze Person müsste auf die Wagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heisst es »Richtet nicht!" Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von Denen hören, welche mit der Absmätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter, so findet man jede Persönlimkeit unverantwortlim für ihr Product, die Arbeit: ein Ver die n s t ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der nothwendigen Constellation von Kräften und Smwämen, Kenntnissen und Begehrungen sein muss. Es steht nimt im Belieben des Arbeiters, ober arbeitet; auch nicht, wie er arbeitet. Nur die Gesimtspuncte des Nut zen s, engere und weitere, haben Werthschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine hömst verfeinerte Nützlimkeit, welche nicht auf den Moment nur
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Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt, und desshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit in's Auge fasst, - da mit er und seine Nachkommen gut auch s für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werden. Die Aus b e u tun g des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den 10 Krieg: und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schliessen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr gross sein, weil die Thorheit der Ausbeutenden sehr gross und langdauernd war.
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28 7. VO m .s t u d i um des Ge s e llsc h a f t s - Kö r per s.Das Uebelste für Den, welcher jetzt in Europa, namentlich in Deutschland, Oekonomik und Politik studieren will, liegt darin, dass die thatsächlichen Zustände, anstatt die Re gel n zu exemplificiren, die Aus nah m e oder die U e b erg a n g s und Aus g a n g s s t a die n exemplificiren. Man muss desshalb über das thatsächlich Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den Blick fernhin auf Nordamerika ridlten, - wo man die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers noch mit Augen se h e n und aufsuchen kann, wenn man nur will, - während in Deutschland dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein Fernglas nöthig sind. 288.
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I n wie f ern die M ase hin e dem ü t h i g t. - Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gut e sund Feh I e rh a f t es, was an
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jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, - also sein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Ausz e ich n e n von Per s 0 n e n , mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sc1aventhums zu leben scheinen. - Man muss die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen.
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H und e r t jäh r i g e Qua r a n t ä n e. - Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig. 19°·
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Der gefährlichste Anhänger.-Dergefährlichste Anhänger ist Der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.
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Das Sc h i c k s alu n d der Mag e n. - Ein Butterbrod mehr oder weniger im Leibe des Jokey entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. - So lange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quousque tandem191 .
Sie g der Dem 0 k rat i e. - Es versuchen jetzt alle poli-
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tischen Mächte, die Angst vor dem Socialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vortheil davon: denn alle Parteien sind jetzt genöthigt, dem" Volke" zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Socialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigenthumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die grossen Majoritäten seiner Parlamente, dann 10 wird es mit der Progressivsteuer dem Capitalisten-, Kaufmannsund Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit ver g e s sen darf. - Das praktische Ergebniss dieser um sich greifenden Demokratisirung wird zu15 nächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmässigkeiten abgegränzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätlO volle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Princips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Correcturen der Gränzen, welche dabei sich nöthig zeigen, werden so ausgeführt, dass sie dem Nut zen der grossen Cantone und zugleich dem des lS Gesammtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit; die Gesichtspuncte für diese Correcturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen D i pI 0 m a t e n sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe 30 und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die ä u s s e r e Politik mit der in n e ren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben.
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293· Z i e I und Mit tel der Dem 0 k rat i e. - Die Demokratie will möglichst Vielen U n a b h ä n gig k e i t schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nöthig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenclassen, an deren Beseitigung sie stätig arbeiten muss, weil Diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muss sie Alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei grossen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. - Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heisst, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, dass es mit neu e n P f erd e n fährt: die Strassen sind nodt die alten, und die Räder sind auch noch die alten. - Ist die Gefahr bei die sen Fuhrwerken des Völkerwohles wirklich geringer geworden?
294· Die B e s 0 n n e n h e i tun d der E rf 0 I g. - Jene gros se Eigensdtaft der Besonnenheit, weldte im Grunde die Tugend der Tugenden, ihre Urgrossmutter und Königin ist, hat im gewöhnlidten Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sidt getäusdtt finden, der nur des Erfolges wegen sich um jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlidt unter den pr akt i s ehe n Leuten für verdädttig und wird mit der Hinterhaltigkeit und heudtierischen Schlauheit verwedtselt: wem dagegen ersidttlidt die Besonnenheit abgeht, - der Mann, der rasdt zugreift und audt einmal danebengreift, hat das Vorurtheil für sidt, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nidtt, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits nimmt
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man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch, - die unpraktischen und geniessenden Leute gerade finden ihn unbequem, w eil er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftiges Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Troste sagen: "so hoch sind eben die S t e u ern, welche du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen musst, - er ist es werth!"
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E tin Are a dia ego. - Ich sah hinunter, über HügelWellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindunn: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; Alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Heerde war in den weissen schäumenden Bach getreten und gieng langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, - Alles gross, still und hell. Die gesammte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man musste
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wie Poussin und sein Sdtüler empfinden: heroisdt zugleich und idyllisch. - Und so haben einzelne Menschen auch gel e b t , so sidt dauernd in der Welt und die Welt in sich ge f ü hIt, und unter ihnen einer der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophiren: Epikur.
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29 6. R e c h n e nun d m e s sen. - Viele Dinge sehen, mit einander erwägen, gegen einander abredtnen und aus ihnen einen schnellen Sdtluss, eine ziemlidt sidtere Summe bilden, - das madtt den grossen Politiker, Feldherrn, Kaufmann: - also die Geschwindigkeit in einer Art von Kopfrechnen. Ein e Sache sehen, in ihr das einzige Motiv zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handeins finden, macht den Helden, auch den Fanatiker, - also eine Fertigkeit im Messen mit einem Maassstabe.
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Nie h tun z e 1t 1 g S ehe n woll e n. - So lange man Etwas erlebt, muss man dem Erlebniss sich hingeben und die Augen schliessen, also nicht dar i n schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon.
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Aus der Pr a xis des We i sen. - Um weise zu werden, muss man gewisse Erlebnisse erleben woll e n , also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist diess freilich; mancher "Weise" wurde dabei aufgefressen.
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Die Ermüdung des Geistes. - Unsere gelegentlidte Gleidtgültigkeit und Kälte gegen Mensdten, we1dte uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine t Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleidtgültig oder lästig.
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3°0. "Eins ist Noth." - Wenn man klug ist, ist Einem allein darum zu thun, dass man Freude im Herzen habe. - Adt, setzte Jemand hinzu, wenn man klug ist, thut man am Besten, weise zu sem. 3°1. Ein Zeugniss der Liebe. - Jemand sagte: .,Ueber zwei Personen habe idt nie gründlich nachgedadtt: es ist das Zeugniss meiner Liebe zu ihnen."
3°2. Wie man schlechte Argumente zu verbesse r n s u c h t. - Mandter wirft seinen sdtledtten Argumenten nodt ein Stück seiner Persönlidtkeit hinten nadt, wie als ob jene dadurdt richtiger ihre Bahn laufen würden und sidt in gerade und gute Argumente verwandeln liessen; ganz wie die Kegelsdtieber audt nadt dem Wurfe nodt mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Ridttung zu geben sudten.
3°3· Die Re c h t 1ich k ei t. - Es ist nodt wenig, wenn man in Bezug auf Rechte und Eigenthum ein Muster-Mensch ist;
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wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nimt über ungemähte Wiesen läuft, - um kleine Dinge zu nennen, welche, wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben, als grosse. Es ist nom wenig: man ist dann immer erst eine "juristische Person", mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine "Gesellschaft", ein Menschen-Klumpen fähig ist.
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3°4· Me n s eh! - Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, dass er sim in der Natur und Welt als "Mensch" fühlt!
3°5· N ö t h i g s t e G y m n ast i k. - Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrsmung bröckelt die Fähigkeit zur grossen an. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich Etwas im Kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlim, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
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Sie h seI b e r v e rl i e ren. - Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu ver I i e ren - und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immerdar an Eine Person gebunden zu sein.
3°7· Wa n n A b s chi e d n e h m e n not h t hut. -
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dem, was du erkennen und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Thürme über die Häuser erheben.
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Am Mit tag. - Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesumt, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klin10 gen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will Nichts, er sorgt sidl um Nichts, sein Herz steht still, nur sein 1S Auge lebt, - es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glü,k Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vor10 bei, das Leb e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Geniessen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war. - Den eigentlich thätigen Menschen er2S scheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.
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Sie h vor sei n e m Mal e r h ü te n. - Ein grosser Maler, der in einem Portrait den vollsten Ausdruck und Augen30 blick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat,
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wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Carricatur zu sehen glauben.
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Die z w e i G run d sät z e des neu e n Leb e n s. Er s t erG run d s atz: man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin. Z w e i ter Grundsatz: man soll sich die Reihenfolge des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
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G e f ä h r 1ich e R e i z bar k e i t. - Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit - oder vielmehr, sie befürchten, der Thätige verachte sie gegenwärtig noch me h r, als sonst. In dieser Stimmung kritisiren sie das neue Werk - und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
3 IZ • Zer s t öre n der I 11 u s ion e n. - Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger - als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.
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Das Ein tön i g e des We i sen. - Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Fra gestehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.
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31 4. Nie h t z u I a n g e kr a n k sei n. - Man hüte sich, zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zu viel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten - und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse: "ihr verdie n t es, krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen."
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Wink für Enthusiasten. - Wer gern hingerissen werden will und sich leicht nach Oben tragen lassen möchte, soll zusehen, dass er nicht zu sc h wer werde, das heisst zum Beispiel, dass er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht er füll e n lasse. Diese macht schwerfällig! nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
316. Sie h z u übe r ras ehe n w iss e n. - Wer sich selber :5 sehen will, so wie er ist, muss es verstehen, sich selber zu übe rras ehe n , mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt
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ist, sich im Spiegel zu schauen, vergisst immer seine Hässlichkeit: erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergisst seine Hässlichkeit zum zweiten Male. - Diess nach dem allgemeinen Gesetze, dass der Mensch das Unveränderlich-Hässliche nie h t e r t r ä g t : es sei denn auf einen Augenblick; er vergisst es oder leugnet es in allen Fällen. - Die Moralisten müssen auf jenen Augenblick rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen. 10
3 1 7. M ein u n gen und Fis ehe. - Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, - insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muss fischen gehen und Glück haben, - dann hat man sei n e Fische, sei n e Mei15 nungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Cabinet besitzen - und, in ihrem Kopfe, nUeberzeugungen." -
3 18 . A n z eie h e n von F r e i h e i tun dUn f r e i h e i t. ~o Seine nothwendigen Bedürfnisse so viel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf F r e i h e i t von Gei s tun d Per s 0 n. Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, - erzieht zur U n f r e i he i t. Der Sophist Hippias, 15 der Alles, was er trug, innen und aussen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, dass Alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist: der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
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Sie h sei b erg lau ben. - In unserer Zeit misstraut man Jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Reeept, um jet z t Glauben zu J finden, heisst: "Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!" 32 0 •
Re i ehe run d ä r m erz u g lei c h. - Ich kenne einen 10 Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intelleetualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in Bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urtheil, Gedächtniss, Geistesgegen15 wart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich Nichts aus sich, wenn er sich mit Anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Punete umzulernen, - man sollte denken zu seiner grossen Freude und Genugthuung. Es 20 gab auch in der That Etwas davon; aber »doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber in Hinsicht auf geistige Bedürfnisse gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit 25 kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die sdlreckliche Kluft zwischen dem Hülfreichen und dem Hülfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Noth, meinen Geist für mich haben und allein geniessen zu müssen, so weit er geniessbar 30 ist. Aber ge ben ist seliger als hab e n : und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!"
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31 I. Wie man a n g r e i f e n soll. - Die Gründe, um derentwillen man an Etwas glaubt oder nimt glaubt, sind bei den allerseltensten Mensmen überhaupt so stark, als sie sei n k ö n ne n. Für gewöhnlim hat man, um den Glauben an Etwas zu ersmüttern, durmaus nimt nöthig, ohne Weiteres das smwerste Gesmütz des Angriffs vorzufahren; bei Vielen führt es smon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm mamt: sodass oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die Mi e n e des allersmwersten Angriffs aus: sie sehen sim sehr ernst genommen - und geben gern nam. 322 • Tod. - Durm die simere Aussimt auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlimer, wohlriemender Tropfen von Leimtsinn beigemismt sein - und nun habt ihr wunderlimen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemamt, durch den das ganze Leben widerlim wird! 323·
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Re u e. - Niemals der Reue Raum geben, sondern sim sofort sagen: diess hiesse ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. - Hat man Smaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. - Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit smon etwas Gutes zu stiften: man smreckt die Anderen ab, in die gleime Thorheit zu verfallen. Jeder gestrafte Uebelthäter darf sim als Wohlthäter der Mensmheit fühlen. 324·
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Zu m Den ke r we rd e n. - Wie kann Jemand zum Denker werden, wenn er nimt mindestens den dritten Theil jeden Tages ohne Leidensmaften, Mensmen und Bümer verbringt?
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Menschliches, Allzumenschliches II
32 5. Das b e s t eHe i 1 mit tel. - Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.
32 6.
Nie h t an r ü h ren! - Es giebt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für Alle, welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen.
10
32 7.
Die vergessene Natur. - Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand m~me-. Folglich ist Natur etwas ganz Anderes als Das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden. 15
32 8•
20
Ti e f e und L a n g w eil i g k e i t. - Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange bis Etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart - oder auch für langweilig.
3 2 9.
Wa n n es Z e i t ist, sie h T r e u e zug e lob e n. Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung, welcher unsre Begabung widerspricht; eine Zeit lang kämpft man 25 heroisch wider die Fluth und den Wind an, im Grunde gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man vollbringt, macht
2. Der Wanderer und sein Schatten 325-332
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Einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüsst zu haben. Ja, man ver z w e i f e I t an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich k ehr t man u m - und jetzt weht der Wind in unser Segel und treibt uns in uns er Fahrwasser. Welches Glück! Wie sie g e s g e w iss fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und d ü r f e n es - als Wissende.
33°· 10
IS
W e t t e r pro p h e t e n. - Wie die Wolken uns verrathen, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von Heute bedeuten Nichts für Das, was kommt, sondern nur für Das, was war.
331.
~
Stätige Beschleunigung. - Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stätigen Beschleunigung, - sodass zuletzt Niemand weiss, wohin der Strom sie noch reissen kann.
33 2 •
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Die gut enD r e i. - Ruhe, Grösse, Sonnenlicht, - diese drei umfassen Alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten, seine Ansprüche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal e r heb end e Gedanken, sodann b e r u -
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Menschliches, Allzumenschliches II
h i gen d e, drittens auf hell end e, - viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die grosse D r e i f alt i g k e i t der F re u d e herrscht.
333· Für die .. W a h r h e i tU s t erb e n. - Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.
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334· Sei n eTa x e hab e n. - Wenn man gerade so viel ge 1te n will, als man ist, muss man Etwas sein, das sei n eTa x e hat. Aber nur das Gewöhnliche hat eine Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge einsichtiger Bescheidenheit oder dummer Unbescheidenheit.
335· Moral für Häuserbauer. - Man muss die Gerüste wegnehmen. wenn das Haus gebaut ist.
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33 6. Sophokleismus. - Wer hat mehr Wasser in den Wein gegossen als die Griechen! Nüchternheit und Grazie verbunden - das war das Adels-Vorrecht des Atheners zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer da kann! Im Leben und Schaffen!
2. Der Wanderer und sein Schatten 332-339
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337·
Das Her 0 i s ehe. - Das Heroische besteht darin, dass man Grosses thut (oder Etwas in grosser Weise nie h t thut), ohne sidl im Wettkampf mit Anderen, vor Anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Gränzbezirk immer mi~ sich, wohin er auch gehe.
33 8.
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IS
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D 0 pp e I g ä n ger eid erN a t u r. - In mancher NaturGegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. - Wie glücklich muss Der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Octoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von früh bis Abend, in dieser reinsten Helle und mässigsten Kühle, in dem gesammten anmuthig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hin gelagert hat, hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimath aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint: wie glücklich Der, welcher sagen kann: "es giebt gewiss viel Grösseres und Schöneres in der Natur, die s s aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr."
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Leutseligkeit des Weisen. - Der Weise wird unwillkürlich mit den andern Menschen leutselig umgehen, wie ein Fürst, und sie, trotz aller Verschiedenheit der Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als gleichartig behandeln: was man, sobald es bemerkt wird, ihm sehr übel nimmt.
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Menschliches. AIIzumenschliches II
34°· Goi d. - Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen.
34 1 • Rad und He m m sc h u h. - Das Rad und der Hemmschuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine gleiche: einander wehe zu thun.
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34 2 • S t ö run gen des Den k e r s. - Auf Alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muss er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur Thür hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen.
343· Viel Geist haben. - Viel Geist haben erhält jung: aber man muss es ertragen, damit gerade für ä I t e r zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der Leb e n s e r f a h run g, das heisst des Vielund Schlimm-gelebt-habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man gilt ihnen für älter sowohl, als für sc h lee h t er, als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.
344· Wie man sie gen mus s. - Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Ha are s 15 B r e i t e seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muss den Besiegten freudig stimmen, er muss etwas Göttliches haben, welches die Be s c h ä m u n gerspart.
2. Der Wanderer und sein Schatten 340-349
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Wa h n der übe r leg e n enG eis t e r. - Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen: sie bilden sich nämlich ein, dass sie bei den Mittelmässigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Thatsächlid! aber werden sie als Das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde.
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F 0 r der u n g der R ein I ich k e i t. - Dass man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, dass man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit. 347·
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Aue h ein e s Her 0 s w ü r d i g. - Hier ist ein Heros, der Nichts gethan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch diess zu wenig? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.
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Wo r a n die We i s h e i t zum e s sen ist. - Der Zuwachs an Weisheit lässt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen. 349·
Den Irr t h u m u n a n gen e h m sag e n. - Es ist nicht 25 nach Jedermanns Geschmack, dass die Wahrheit angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens Niemand glauben, dass der Irrthum zur Wahrheit werde, wenn man ihn u n a n gen e h m sage.
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Menschliches, Allzumenschliches II
35°· Die goI den e L 0 0 s u n g. - Dem Mensmen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sim wie ein Thier zu gebärden: und wirklim, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er nom daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: - diese Ketten aber sind, im wiederhole es immer und immer wieder, jene smweren und sinnvollen Irrthümer der moralismen, der reli10 giösen, der metaphysismen Vorstellungen. Erst wenn aum die K e t t e n - K r a n k h e i t überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreimt: die Abtrennung des Mensmen von den Thieren. - Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die hömste Vorsimt nöthig. Nur I S dem ver e deI t e n M e n s ehe n darf die F r e i h e i t des Gei s t e s gegeben werden; ihm allein naht die Er 1eie h t erun g des Leb e n s und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der F r e u d i g k e i t willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde ~o wäre sein Wahlsprum gefährlim: Fr i e den um mi c h und ein Wo h 1g e fall e n a n a 11 e n n ä c h s t enD i n gen. Bei diesem Wahlsprum für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches A 11 engalt, und das über der gesammten Mensmheit stehen geblieben ist als ein ~s Wahlsprum und Wahrzeimen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner smmückt, - an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist e s nie h t Z e i t, dass es a 11 e n Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sim erhellt sahen und 30 jenes Wort hörten: "Friede auf Erden und den Mensmen ein Wohlgefallen an einander." - Immer nom ist es die Z e i t der Ein z eIn e n.
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Der Schatten: Von Allem, was du vorgebracht hast, hat mir Nichts me h r gefallen, als eine Verheissung: ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. Diess wird auch uns armen Schatten zu Gute kommen. Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern verleumdet. Der Wanderer: Verleumdet? Aber warum habt ihr euch nie vertheidigt? Ihr hattet ja unsere Ohren in der Nähe. Der Schatten: Es schien uns, als ob wir euch eben zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen. 10 Der Wanderer: Delicat! sehr delicat! Ach, ihr Schatten seid "bessere Menschen" als wir, das merke ich. Der Schatten: Und doch nanntet ihr uns "zudringlich", uns, die wir mindestens Eines gut verstehen: zu schweigen und zu warten - kein Engländer versteht es besser. Es ist wahr, man 15 findet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen: so weit geht doch unsere Freiheit. Der Wanderer: Ach, das Licht scheut noch viel öfter den Menschen, und dann verlasst ihr ihn auch. JO Der Schatten: Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen: es ist mir, der ich wissbegierig bin, an dem Menschen Vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen Menschen-Erkenntniss möchte ich auch wohl dein Sclave sein.
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Der Wanderer: Weisst du denn, weiss ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sc1aven zum Herrn würdest? Oder zwar Sclave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels führtest? Seien wir Beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben ist - dir und mir! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen m ü s s t e, - ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen "hündisch" geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie seinDer Schatten: Wie sein Schatten, so sagen sie. Vielleicht folgte ich dir heute auch schon zu lange? Es war der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe eine kleine Weile noch Geduld. Der Rasen ist feucht, mich fröstelt. Der Wanderer: Oh, ist es schon Zeit zu scheiden? Und ich musste dir zuletzt noch wehe thun; ich sah es, du wurdest dunkler dabei. Der Schatten: Ich erröthete, in der Farbe, in welcher ich es vermag. Mir fiel ein, dass ich dir oft zu Füssen gelegen habe wie ein Hund, und dass du dann Der Wanderer: Und könnte ich dir nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun? Hast du keinen Wunsch? Der Schatten: Keinen, ausser etwa den Wunsch, welchen der philosophische "Hund" vor dem grossen Alexander hatte: gehe mir ein Wenig aus der Sonne, es wird mir zu kalt. Der Wanderer: Was soll ich thun? Der Schatten: Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt. Der Wanderer: - Wo bist du? Wo bist du?
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Nachwort
Menschliches, Allzumenschliches I Die aphoristische oder jedenfalls fragmentarische Form, in der sich Menschliches, Allzumenschliches darbietet, ist ein Novum, das dieses Werk Nietzsches eindeutig von den vorhergegangenen abhebt. Der Vergleich der Inhalte bestätigt diesen spontanen, beim ersten Lesen gewonnenen Eindruck; im übrigen haben die Biographen und Interpreten Nietzsches stets mit Nachdruck auf diesen Einschnitt hingewiesen. Es fiel auch nicht schwer, dafür eine Erklärung im persönlichen Bereich zu finden, in erster Linie in der Abkühlung (die später zum Bruch werden sollte) der Freundschaft mit Wagner. übereilt, ja unrichtig ist dagegen die Behauptung, Menschliches, Allzumenschliches sei durch diese Fakten bedingt. Bei genauerem Hinsehen läßt sich ihnen eher eine katalysierende Wirkung zuschreiben. Mit anderen Worten: Menschliches, Allzumenschliches ist nicht als Reaktion auf eine stark von Wagner beeinflußte Weitsicht zu verstehen, begünstigt durch das Brüchigwerden der Freundschaft, sondern als Ausdruck einer neuen geistigen Reife, die durch die Beziehung zu Wagner zunächst gefördert, zum Schluß jedoch behindert worden war. Hier wie in anderen Schriften läßt sich in Nietzsches Denken jenseits der antinomischen, widersprüchlichen, heterogenen Äußerungen eine innere übereinstimmung entdecken, ein durchgehender Faden, an Hand dessen sich die krassesten Gegensätze zum stufenweisen Ausdruck einer einheitlichen Persönlichkeit ordnen, deren Reichtum anders nicht ans Licht kommen konnte. Der auffallendste Gegensatz zwischen den in Menschliches, Allzumenschliches und den vorhergehenden Werken vertretenen Anschauungen betrifft die Stellung von Wissenschaft und Kunst. Der Primat, der
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Nachwort
in der Periode der Geburt der Tragödie und der Unzeitgemässen Betrachtungen der Kunst zugestanden wurde, wird jetzt mit klaren Worten auf die Wissenschaft übertragen. Aber ist das wirklich eine Absage? In Menschliches, Allzumenschliches heißt es etwas rätselhaft: "Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen." (Aph. 222) Und genau genommen schwört Nietzsche Wagner (der in Menschliches, Allzumenschliches überhaupt nicht genannt wird) nicht ausdrücklich ab; das, was sich uns bietet, ist ein ruhiges über ihn Hinausgehen. Wagner war wütend, als er sich das Buch, das Nietzsche ihm zugesandt hatte, vornahm. Er hat es nie zu Ende gelesen, und wahrscheinlich fand in diesem Moment sein Bruch mit Nietzsche statt. Er war darauf eingestellt gewesen, das Werk eines Jüngers zu lesen, und fand diesen Jünger nun plötzlich seiner Vormundschaft entwachsen. Tatsächlich bezeichnet Menschliches, Allzumenschliches den übergang von einer einseitigen und eingeengten Phase in Nietzsches Denken, in der sich Originales und übernommenes noch nicht deutlich voneinander trennen lassen, zu einer neu gewonnenen Unabhängigkeit, zur Auflösung einer inneren Disharmonie durch eine philosophische Vertiefung, die ihn plötzlich eine unabhängige Sprache finden läßt und sein Denken zu einer Weite führt, die all das harmonisch umschließt, was ihm zuerst unvereinbar erschienen war. Aber was bedeutet für Nietzsche Wissenschaft? Sicher nicht Wissenschaft im antiken Sinn, also ein System von Behauptungen, die sich auf universale Prinzipien gründen, fest miteinander verkettet sind und von denen die einen mit Hilfe der anderen abgeleitet und bewiesen werden. Aber auch nicht Wissenschaft im modernen Sinn, also Erkenntnisse, gewonnen aus dem Sammeln, der Induktion, dem Experiment und dann ebenfalls in den deduktiven Mechanismus überführt - wenn, wie es scheint, die Thesen und Erörterungen in Menschliches, Allzumenschliches von Nietzsche als Beispiele wissenschaftlicher Tätigkeit gedacht sind. Bereits hier und noch ausgeprägter in den späteren Schriften entwickelt Nietzsche eine gedrängte Kritik des logischen und deduktiven Denkens, und die aphoristische Form selbst, die er in Menschliches, Allzumenschliches einführt, deutet auf sein Mißtrauen hinsichtlich der Ergiebigkeit von Beweisketten. Man kann sogar einen paradoxen Gegensatz feststellen zwischen der Prosa von Richard Wagner in Bayreuth, in der Nietzsche zum Lobpreis der Kunst und der Lei-
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denschaft in ausgeklügelter, fast penibler Weise zu erklären, abzuleiten und zu beweisen versucht, und der von Menschliches, Allzumenschliches, in welcher der Vorrang der Wissenschaft oder allgemein der Vernunft in aufblitzenden Erkenntnissen oder allenfalls in überlegungen abgehandelt wird, bei denen die Gedanken sehr viel mehr koordiniert als subordiniert erscheinen. Unter wissenschaftlicher Fähigkeit versteht Nietzsche vor allem die Fähigkeit zum Urteil, zu einem Urteil, dessen Bestandteile sich nicht durch eine der Vernunft aller Menschen inhärente Notwendigkeit zusammenfügen, sondern durch ein Band, das zu erfassen nicht allen gegeben ist. Damit erreicht er das Wesentliche im Begrenzten. Was dieses Urteil auszeichnet, ist seine Konkretheit: Subjekt und Prädikat werden direkt dem intuitiven, sinnlichen Bereich entnommen oder sind Bestimmungen ethischer Natur, die sich auf die Wurzeln des Angenehmen und des Schmerzlichen, des Wünschenswerten und des Vermeidbaren berufen; und soweit sie abstrakt sein müssen, sind sie keine logischen Universalien, sondern ethische oder jedenfalls auf eine zukünftige Welt bezogene. Zur Verwirklichung dieser "Wissenschaft", die wahrlich dem Spiel nähersteht als der Notwendigkeit (weshalb Nietzsche behauptet, die Wissenschaft sei dazu bestimmt, die Kunst weiterzuführen), ist jedoch eine äußerste Ausweitung des Untersuchungsfeldes nötig. Da dieses lebendig, im Werden begriffen sein soll, muß die ganze Menschheitsgeschichte konsultiert werden. Das bedeutet den Abschied von der Metaphysik, die den Glauben an das "Objekt" postuliert, an die Substanz, im allgemeinen an das Unveränderliche, und überdies, von der formalen Seite her, an die Systematik. Für Nietzsche wird die Metaphysik fast ausschließlich von Schopenhauer repräsentiert, der auf jeder Seite von Menschliches, Allzumenschliches gegenwärtig ist und gegen den hier noch kein Groll zu spüren ist, sondern nur ein melancholisches SichEntfernen. Schwierig ist es, Nietzsches neue Position zu charakterisieren, und sicher befindet man sich dabei nicht auf dem rechten Weg, wenn man die Haltung dieses ·Buches und der folgenden, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft, als positivistisch bezeichnet. Die positivistische Betrachtungsweise ist einzig auf das systematische und deduktive Denken ausgerichtet. Aber man wird Nietzsche auch nicht gerechter, wenn man ihn völlig aus dem Bereich der Philosophie herauslöst (es sei denn, um ihm die Gaben
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Nachwort
eines hetvorragenden Psychologen oder Moralisten zuzuerkennen) und ihn als Historiker abstempelt. Trotz der Analogien und übereinstimmungen mit Historikern ersten Ranges, wie Burckhardt und Taine oder sogar Machiavelli und Thukydides, fehlt ihm etwas, was diese besessen haben, und sei es nur die erschöpfende Kenntnis der Tatsachen, das methodische Sammeln des Materials. Dafür besitzt Nietzsche anderes, was sich bei diesen nicht findet. Genau das ist der springende Punkt. Das konkrete Urteil, das in Menschliches, Allzumenschliches zutage tritt, ist eine Entscheidung, vielleicht eine Eroberung, typisch philosophischer Art und verdient die gleiche Einschätzung wie eine neue heuristische Methode. Das allein genügt, um Nietzsche einen Platz in der Geschichte der Philosophie zu sichern. Es ist schwierig, ihm Vorläufer zuzuschreiben (vielleicht müßte man Heraklit nennen), und es steht fest, daß bis heute noch keine Fortsetzer aufgetaucht sind. Nietzsches Position ist in der Tat nicht irrationalistisch, und um ihr die Rationalität abzusprechen, muß die Philosophie ihr gutes Recht demonstrieren, abstrakte Vorstellungen deduktiv miteinander zu verbinden (was später auch von den sich als antimetaphysisch bezeichnenden Philosophen praktiziert wurde), und dabei in jedem Fall Nietzsches Kritik an der demonstrativen Vernunft widerlegen. Müssen wir also in Nietzsches Aphorismus den Ausdruck eines rationalen oder sogar wissenschaftlichen Erkennens sehen? Wenn wir die Betrachtung über die Urteilsfähigkeit des erkennenden Individuums, das bei rechtem Gebrauch darin den Schlüssel zum Verständnis des Lebens finden soll, auf die gesamte Menschheit ausweiten, die aus dem falschen Gebrauch (dem Irrtum) Nahrung für ihren Glauben, ihre Leidenschaften und Torheiten bezieht, scheint die Antwort des Autors klar. Die Instinkte, die scheinbare Unmittelbarkeit des Willens (das ist der tödliche Angriff gegen Schopenhauer), erwachsen aus den ursprünglichen Werturteilen des Menschen. Der Instinkt ist dem Intellekt untergeordnet, folgt ihm und wird von ihm determiniert. Der Irrtum des Urteils bedingt die Unnatürlichkeit des Instinktes, und diese wiederum die Petversion des Glaubens. Es ist letztlich der sokratische Zug in Nietzsches Seele, der hier siegt. Doch es muß daran erinnert werden, daß dies nur eine Station in Nietzsches Denken ist, auch wenn sie sich durch die Werke der folgenden Jahre festigen und nicht mehr in Vergessenheit geraten
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wird. Der organische Zusammenhang mit der vorausgegangenen Epoche kann so deutlicher in Erscheinung treten. Die Entschiedenheit von Menschliches, Allzumenschliches in Form und Inhalt setzt die Gegensätzlichkeit selbst gelebter Erfahrungen voraus. Auf der einen Seite die Beschäftigung mit der Antike, der passionierte Fleiß eines frühreifen Altphilologen, die reiche Sammlung an historischem Material, das überdenken der Gegenwart und die Loslösung von ihr; auf der anderen Seite das unmittelbare Eintauchen in den wagnerischen Rausch, die Befreiung der unbeschwerten, künstlerischen, improvisatorischen Triebe, der Bereich des Gefühls, der Modernität, des Pessimismus und der Dekadenz. Aus beiden Erfahrungsbereichen zieht Nietzsehe sich erschreckt zurück; einmal angesichts der Beschränktheit der Philologen, der Versteinerung des Geistes unter toten Dingen, zum anderen vor dem Fanatismus, den verrückten Ansichten der Gegenwart, den Gefahren der Unmittelbarkeit und der Aussicht, sich in einer Masse von Jüngern zu verlieren. Aber soweit es ihn selbst betraf, mußten diese Instinkte erhalten bleiben, und nach mühevollen Jahren findet er endlich seine Form der Unabhängigkeit. An Hand der nachgelassenen Fragmente aus der Periode von Menschliches, Allzumenschliches (s. Bd. 8, S. 287486) läßt sich die Entwicklung dieser Themen aus der Nähe verfolgen. Das heißt: näher an der Person Nietzsches, denn diese in ihrer chronologischen Folge vorgelegten Texte belegen die einzelnen Gedanken und Seelenzustände jener zwei Jahre. Wir nehmen so an der fast täglichen Diskussion mit Schopenhauer teil. Auch Wagner kehrt hier häufig wieder; die Gedanken über ihn enthüllen eine unerbittliche, kritische Vertiefung, zeigen jedoch keine Animosität. Daneben finden wir Arbeitsentwürfe und Lebensprogramme, zusammen mit autobiographischen Notizen, poetische Ansätze, alles in einer meditativen Atmosphäre, ohne Heftigkeit - und schließlich, in statu nascendi, die Ausbildung des Begriffs "freier Geist".
Menschliches, Allzumenschliches II Die in wenig mehr als einem Jahr niedergeschriebenen Vermischten Meinungen und Sprüche und Der Wanderer und sein Schatten sind im Schaffen Nietzsches Zeugnisse eines Rückzugs auf sich
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selbst: Das ist ein zyklisch wiederkehrender Seelenzustand in seinem Leben, auch wenn es, wie in diesem Fall, manchmal kaschiert wird. Die Gegenstände regen ihn nicht an, und die Menschen haben ihn allein gelassen, so daß sich der Autor mehr für sich selbst zu interessieren vermag - wie hier der Wanderer, der gezwungen ist, mit seinem Schatten zu sprechen. Im Gespräch mit sich spricht man leichter von sich. Das wird nicht ohne weiteres deutlich, denn wir finden uns mit Objekten konfrontiert, mit konkreten Themen aus der Geschichte, der Kunst und der Moral. Im übrigen ist diese Periode unbestritten die unparteiischste, wissenschaftlichste, kurz die objektivste in Nietzsches gesamtem Schaffen. Paradoxerweise wird diese Objektivität jedoch - und es ist gar nicht leicht, den Mechanismus zu erkennen - durch Konzentration auf sich und innere Schau erreicht. Und das ist vielleicht eine List Nietzsches. seine eigenste Art, objektiv zu sein. Er gibt es selbst zu: "Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich. eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes - einzelnes ist mir aufgegangen. anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen. auch wo sie nichts erlebt haben." (Bd. 8,30 [60]) Ohne die nachgelassenen Fragmente (Bd. 8) wäre es schwierig, diese produktive Haltung in Nietzsches Entwicklung wiederzufinden. Die Notizbücher von 1878-1879 sind voll von persönlichen, rasch hingeschriebenen Erinnerungen aus seiner Kindheit oder fruhen Jugend. Häufig finden sich auch Erinnerungen an Landschaften oder bestimmte Örtlichkeiten. Aus den tiefen Eindrucken der eigenen Vergangenheit bezieht Nietzsehe den Impuls, Meinungen und Urteile über die Vergangenheit des Menschen zu äußern. Die Fesseln der gewohnten Darstellungsweisen werden gesprengt, selbst die Gefühle zum Schweigen gebracht: Augenblicke traumhafter Erinnerung befreien den Geist, bringen ihn zur Hellsichtigkeit. Das ist das genaue Gegenstück zu dem. was in der Geburt der Tragödie als "apollinischer" Zustand bezeichnet wurde. Die Weh, die aus einer solchen Sicht entsteht, bleibt gespenstisch, und die Hadesfahrt, mit der die Vermischten Meinungen und Sprüche enden, ist nicht nur ein Zeugnis für den dominierenden Seelenzustand des Verfassers, sondern auch für seine schattenhafte Philosophie, zumindest in dieser Phase: eine schweigsame Philosophie,
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in der die "Objekte" ihre Körperlichkeit verlieren, und die zu einem Menschen paßt, der gerade jetzt den Ruf und das Schicksal der Einsamkeit entdeckt hat. Ein rätselhaftes Fragment aus dem Nachlaß dieser Epoche deutet in diese Richtung: "Wir gleichen den lebenden Thieren auf dem Schild des Häphest - aesthetische Phänomene aber grausam!" (Bd. 8, 30 [42]) Im übrigen werden die konkreten Fragen, in denen solche Grübeleien ihren Niederschlag finden, nur angeschnitten und sofort wieder aufgegeben, unterbrochen, in der Schwebe gelassen, ohne sie in irgendeiner Weise systematisch zu entfalten. Die behandelten Gegenstände entstammen entweder dem Themenbereich von Menschliches, Allzumenschliches I, zu dem Nietzsehe selbst erklärte, er wolle ihm eine Fortsetzung geben, oder der Erweiterung moralischer Probleme, die zur Morgenröthe hinführt. Einzelne Themen werden mit besonderer Beharrlichkeit vorgetragen, zum Beispiel die Freiheit des Willens, die strafende Gerechtigkeit und die Theorie des Verbrechers; in anderen Fällen finden sich, wie beim Begriff der Rache, angedeutete und zersplitterte Vorwegnahmen. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Methode (das uns vor allem wegen seiner erzieherischen Wirkung aus der Nähe interessiert) ist die Vertiefung, zeitliche Ausweitung und neue Darstellung des Triebs zur "Unzeitgemäßheit". Die historische und psychologische Sprache wird zum Instrument, um eine unzeitgemäße Vision zu vermitteln; eine Vision, die dem Leser für gewöhnlich schwer zugänglich bleibt, allein schon durch die Tatsache, daß der, der sie zum Ausdruck bringt, zwangsläufig von den Bildern, Begriffen und Personen der Gegenwart absehen muß. Nietzsche entgeht dieser Gefahr (das heißt dem Desinteresse seiner Zeitgenossen), und indem er vorgibt, ganz in die Gegenwart eingetaucht zu sein, realisiert er gerade darin die Distanz von der Gegenwart. Das ist eines seiner Geheimnisse, eine seiner geheimnisvollsten Leistungen; und seine Kunst, durch das Unzeitgemäße zu fesseln, gelangt gerade in dieser Zeit zu ihrer Perfektion. In der Basler Periode hatte Nietzsehe versucht, eine unzeitgemäße Position auf einem direkteren Weg auszudrucken, indem er die weit zurückliegende und unwiederbringliche Erfahrung der griechischen Tragödie zum Modell erhob. Der radikale Bruch mit der Gegenwart war die Voraussetzung für diese Flucht ins antike Griechenland, aber die Glaubwürdigkeit dieses Unterfangens wurde schon bald ge-
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trübt durch die Vermengung mit der Wagnerschen Musikauffassung, also mit etwas, das, wie Nietzsche später selbst einmal erklärte, zu diesem Zeitpunkt die Quintessenz des "Zeitgemäßen" war. Sich von der eigenen Zeit gerade deshalb zu lösen, weil man ihr zu sehr anhängt, das könnte man mit Fug und Recht von den Basler Schriften sagen - so wie für die jetzt betrachtete Periode vielleicht die Charakterisierung möglich wäre: sich mit einem wachen Blick auf die Gegenwart aus ihr in die Tiefe zu entfernen. Hier kann man von "Nietzsche als Erzieher" sprechen. Das Leben des Menschen wird, mit dem Auge Schopenhauers, als eine unwandelbare Naturgegebenheit angesehen, aber seine Erscheinung in der Zeit, kurz die Geschichte, ist nicht Schein, sondern die einzige Realität, die uns gewährt wird. Nietzsche versucht, sich und seine Leser von der eigenen Zeit loszulösen; das tut er als Philosoph, ja das ist es, was den philosophischen Blick überhaupt ausmacht. Aber die Realität besteht darin, die gegenwärtige Zeit zu leben und zu beurteilen, und zwar nicht durch die Vorstellungen der Gegenwart und die von ihr gestellten Probleme, sondern indem man bei all dem die "Last" der Vergangenheit auf sich nimmt; das bedeutet, um Jahrhunderte und Jahrtausende nach rückwärts zu gehen und sich dabei einen neuen Blick, den klaren Blick der Vergangenheit, zu erwerben. In Menschliches, Allzumenschliches I/ ist diese Position neu gewonnen, und wie der damit einhergehende Seelenzustand die Erschöpfung eines "Genesenden" ist, so ist der expressive Grundton mild, flüsternd, gebrochen, sanft. Der Schriftsteller der akzentuierten Mannigfaltigkeit, der Umkehrungen und Umstürze, kann hier in einem Zwischenmoment erlebt werden, in einer der seltenen Pausen der Ausgewogenheit, in denen der seinem Wesen immanente Radikalismus unter Kontrolle gehalten wird. eingetaucht in eine Atmosphäre der Erkenntnis. Sein unzeitgemäßer Trieb, der sich bald in heftigen Fehden endaden sollte (schon in Morgenräthe wird man auf schärfere Akzente stoßen, obwohl man dort einen weiteren Augenblick der Objektivität findet, der jedoch durch einen weniger innerlichen Impuls bedingt ist). beruft sich jetzt oft auf Epikur und Epiktet. Typisch rur diese Phase ist die Vorliebe rur das Bild, mit dem Xenophon die Gestalt des Sokrates beschrieben hat: Es handelt sich, wie bekannt, um die "vernünftige", fast sanfte Interpretation einer Figur, die sonst in Nietzsches Leben einen
Nachwort
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enremen und fatalen Aspekt seines Radikalismus verkörpert. Im übrigen bewegt sich in den Schriften aus dieser Zeit sogar Nietzsches Kritik am Christentum in kontemplativ zurückhaltenden Bahnen. So beginnt der 84. Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten: "Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof; der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor und sagte laut: ,Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an's Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt; ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir glauben, dass ich der Sohn des Gefängnisswärters bin; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten'." (S.590) Giorgio Colli
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung Menschliches, Allzumenschliches
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An Stelle einer Vorrede Vorrede Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen (1-34)
9 II
13 23
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen (35- 1 °7) 57 Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben (108-144) 107 Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller (145-223) 141 Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer 187 Cultur (224-292) Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr (293-376) 239 Siebentes Hauptstück. Weib und Kind (377-437) 265 Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat (438-482). 285 Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein (483 bis 638) 317 Unter Freunden. Ein Nachspiel . . . . . . . . . . 365
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Inhalt
Menschliches, Allzumenschliches
I I
367
Vorrede 369 Erste Abtheilung : Vermischte Meinungen und Sprüche 379 Zweite Abtheilung : Der Wanderer und sein Schatten 535 Nach~ort
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