Lawrence Sanders
McNallys Glück
Inhaltsangabe 50.000 Dollar Lösegeld für eine entführte Katze? Für den steinreichen I...
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Lawrence Sanders
McNallys Glück
Inhaltsangabe 50.000 Dollar Lösegeld für eine entführte Katze? Für den steinreichen Immobilienhai Harry Willigan eine unbedeutende Summe, und für seine heißgeliebte Perserdame Peaches geradezu gar nichts. Archy McNally, der junge Privatdetektiv der Kanzlei McNally & Sohn beginnt diskret mit seinen Ermittlungen und stellt sehr bald fest, daß es um viel mehr geht, als um einen launischen Stubentiger. Als wenige Tage später die reiche Lydia Gillsworth, ebenfalls eine Klientin der McNallys, nach einer spirituellen Sitzung ermordet wird, muß McNally feststellen, daß ein Drohbrief an Lydia offensichtlich auf derselben Maschine getippt wurde wie der Erpresserbrief der Katzenentführer. Der Verdacht fällt auf Roderick, den exzentrischen Mann der Ermordeten, der ihr gesamtes Vermögen erbt. Aber auch ihn findet man wenige Tage später mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Badewanne. McNally tappt im Dunkeln: Zwielichtige Gestalten wie das Medium Hertha Gloriana oder die Ehefrau Harry Willigans und deren Schwester stellen ihn vor schier unlösbare Rätsel. Da läuft ihm völlig unerwartet die entführte Peaches über den Weg, abgemagert zwar, aber höchst lebendig…
Genehmigte Ausgabe 2000 für Serges Medien GmbH, 50667 Köln © der Originalausgabe 1992 bei Lawrence A. Sanders Enterprises Inc. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›McNally's Luck‹ bei G.P. Putnam's Sons, New York. © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 Wilhelm Goldmann Verlag GmbH Übersetzung: Hartmut Huff Titelfoto: PhotoDisc Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten www.serges.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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ie Katze hieß Peaches. Es war eine fette Perserkatze, die widerwärtig veranlagt war. Ich weiß das genau, weil dieses elende Tier einmal sein Futter auf meine Schuhe erbrochen hat. Ich bin sicher, daß Peaches nicht unter Verdauungsstörungen litt. Ihr Gekotze war eindeutig ein feindseliger Akt. Aus irgendeinem lächerlichen Grund haßte die schlechtgelaunte Katze meine Fußbekleidung, die zufällig aus einem schicken Paar lavendelfarbener Schweinsledertreter bestand. Die waren natürlich hin. Als deshalb mein Vater erzählte, daß Peaches entführt worden sei und ein Lösegeld für sie verlangt wurde, war ich höchst erfreut und begann, an göttliche Gerechtigkeit zu glauben. Unglücklicherweise aber war der Besitzer der Katze ein Klient von McNally & Sohn, Rechtsanwalt (Vater war der Anwalt, ich war der Sohn), und von mir wurde erwartet, daß ich das ekelhafte Vieh unverletzt wiederbeschaffte. »Warum melden die das nicht der Polizei?« fragte ich. »Weil«, erklärte mein alter Herr, »in dem Erpresserbrief ganz deutlich steht, daß das Tier getötet werden wird, falls die Polizei ins Spiel gebracht wird. Sieh also zu, was du tun kannst, Archy.« Ich bin kein Anwalt, da ich in Yale von der juristischen Fakultät verwiesen wurde, sondern statt dessen einziger Mitarbeiter einer Abteilung von McNally & Sohn, die sich mit diskreten Ermittlungen befaßt. Dazu muß man wissen, daß wir einige sehr wohlhabende Einwohner der Stadt Palm Beach vertreten, und die Probleme un1
serer Klienten erfordern häufig private Ermittlungen statt Hilfe durch die Polizei. Die meisten Einwohner von Palm Beach scheuen das Licht der Öffentlichkeit, zumal dann, wenn dadurch bekannt würde, daß sie ebenso töricht und lasterhaft wie gewöhnlichere Zeitgenossen sind. Die Besitzer von Peaches waren Mr. und Mrs. Willigan, die ein Anwesen am Ocean Boulevard besaßen, etwa eine halbe Meile südlich vom Wohnhaus der McNallys entfernt. Willigan hatte ein Vermögen mit dem Kauf und der Erschließung von Bauland in Palm Beach und Umgebung gemacht. Er war auf den Bau von Häusern in der Preislage zwischen fünfzig- und hunderttausend Dollar spezialisiert. Über seine Bauweise hieß es, daß er die Gerüste erst abbauen ließ, wenn die Tapeten geklebt waren – aber das mochte eine üble Nachrede sein, die neidische Konkurrenten in die Welt gesetzt hatten. Mit dem Reichtum hatte sich das Luxusleben eingestellt: Landhaus, vier Automobile, eine Jacht, drei Diener als Personal und die weltgrößte Sammlung antiker Korkenzieher. Und der Zaster hatte ihm seine zweite Frau beschert, die vierzig Jahre jünger als er war. Die McNallys hatten gelegentlich in seinem Haus gegessen – schließlich war er ein Klient –, aber ich hielt ihn für einen primitiven Mann, der von protzigem Konsum begeistert war. Er schien zu glauben, daß das Auftischen von Belugakaviar auf Toastecken seine Überlegenheit gegenüber Nachbarn von altem Geldadel bewies, von denen viele Hering in Tomatensoße auf Salzkräckern zu servieren pflegten. Laverne, seine junge Frau, war nicht ganz so blöd. Aber sie stellte auf ihren Fingernägeln chartreusefarbenen Nagellack zur Schau. Willigan hatte von seiner ersten Frau Kinder, doch er und Laverne waren kinderlos und würden es wahrscheinlich auch bleiben, wenn man ihren häufigen öffentlichen Erklärungen zu diesem Thema Glauben schenken wollte. Sie hatten Peaches, und Harry überschüttete diesen verschrobenen Vierfüßler mit all jener Hingabe 2
und Nachsicht, die man normalerweise einem Einzelkind schenkt. Laverne tolerierte die Katze, nannte sie aber meines Wissens nie Schätzchen, wie es ihr Herrchen häufig tat. Ich verließ Vaters Büro im McNally-Gebäude und fuhr mit meinem feuerwehrroten Miata ostwärts Richtung Ozean. Kurze Zeit fühlte ich mich zutiefst gekränkt, weil meine einzigartigen Talente zur Rettung einer bösartigen Katze benutzt wurden, deren Abscheu mir gegenüber nur von meinem ihr gegenüber übertroffen wurde. Aber ich bin ein sonniger Bursche und neige dazu, überall nur das Positive zu sehen. So währte mein Grimm nicht lange. Dazu lief meine Romanze mit Consuela Garcia prächtig. Connie hatte keine beunruhigenden Anspielungen auf den heiligen Bund der Ehe gemacht – Auslöser für unsere vorangegangene Entfremdung –, und wir hatten einander geschworen, uns völlige Freiheit beim Verkehr mit anderen zuzubilligen. Ich war in Hochstimmung, weil sich der Tag absolut umwerfend gab: heiße Sonne, blanker Himmel, niedrige Luftfeuchtigkeit und eine frische Brise von der See, die so willkommen wie ein Kuß war. Ich fand, Gott hatte prächtige Arbeit geleistet, und ich dankte Ihm. Wie meine Mutter liebevoll zu sagen pflegt: Höflichkeit kann nie schaden. Das Landhaus der Willigans war eine unechte spanische Hazienda mit rotem Ziegeldach, freiliegenden Eichenbalken und einer Unmenge von Terracottatöpfen. Das Anwesen trug den Namen Casa Blanca, und wenn man auf den Messingknopf an der Eingangstür drückte, rechnete man damit, drinnen Kastagnetten klappern zu hören und daß ein mit Sombrero und Serpa bestückter Butler auftauchte. Tatsächlich aber läutete es, und der Butler, der die Tür öffnete, trug eine schwarze Alpakajacke zu weißer Segeltuchhose. Er war ein 3
Australier namens Leon Medallion. Als er für die Willigans zu arbeiten begann, mußte man ihn davon abhalten, alle Gäste mit ›Kumpel‹ anzureden. »Guten Morgen, Leon«, sagte ich. »Wie geht's Ihnen an diesem wundervollen Tag?« »Großartig, Mr. McNally«, sagte er. »Könnte nicht besser sein.« Das war ein Schock. Leon pflegte das menschliche Sein im allgemeinen und das Leben an der Gold Coast im besonderen äußerst düster zu betrachten. Mehr als einmal hatte ich ihn murmeln hören: »Florida ist zum Kotzen.« »Und was machen die Allergien?« fragte ich. Er schaute sich vorsichtig um. »Sie werden's nicht glauben«, flüsterte er heiser, »aber seit diese miese Katze weg ist, hab' ich nicht einmal geniest.« »Freut mich, das zu hören«, erwiderte ich, »aber es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich aus diesem Grund hier bin. Ich habe den Auftrag, Peaches zu finden.« Er stöhnte. »Bitte, Mr. McNally«, sagte er, »geben Sie sich nicht zu viel Mühe. Ich nehme an, Sie wollen die Dame des Hauses sprechen.« »Wenn sie da ist.« »Das ist sie, aber ich muß fragen, ob sie bereit ist, jemand zu empfangen.« Er ließ mich in dem gekachelten Foyer stehen und schlurfte davon. Nach wenigen Augenblicken kam er zurück. »Sie ist am Pool und möchte, daß Sie dorthin kommen«, berichtete er. »Sie sagte auch, ich soll Sie fragen, ob Sie einen Drink wollen.« Ich schaute auf meine Armbanduhr: fast halb zwölf. »Ja, Leon«, sagte ich. »Können Sie mir einen Daiquiri mixen?« »Sicher«, meinte er. »Mein Lieblingsgesöff. Reine Muttermilch.« Ich spazierte durch die lange Eingangshalle, die mit zahllosen Schwertern, Keulen, Hellebarden und einigen alten Musketen dekoriert war, deren Mündungen wie Trompetentrichter funkelten. Der 4
Gang führte zu einer geschlossenen Veranda, deren Hintertür sich zu einer Rasenfläche und dem Swimmingpool öffnete. Laverne Willigan saß neben einem Tisch unter einem Sonnenschirm auf dem Gras. Ihr Gesicht war von einem breitkrempigen Pflanzerhut beschattet. Der Bikini, den sie trug, mag zwar nicht der kleinste der Welt gewesen sein, aber für eine hungrige Motte wäre er eine ausgesprochen karge Mahlzeit gewesen. Sie hatte ihre sonnengebräunten Beine übereinandergeschlagen und wippte mit einem nackten Fuß im Takt der Musik, die aus einem Kofferradio dröhnte, das auf dem Tisch stand. Natürlich ein Rocksender. Sie hatte den Anstand, die Lautstärke herunterzudrehen, als ich näherkam, wofür ich dankbar war. Ich bin kein Liebhaber von Rockmusik. Ich bevorzuge vielmehr Klassiker wie ›I Wish I Could Shimmy Like My Sister Kate‹. »Hallo, Archy«, sagte Laverne fröhlich. »Holen Sie sich einen Sessel her. Haben Sie einen Drink bestellt?« »Ja«, erwiderte ich, wobei ich mich meiner pinkfarbenen, leinenen Golfmütze entledigte. Ich zog einen Regiestuhl heran und nahm ihr gegenüber Platz. »Sie sehen wirklich umwerfend aus. Tolle Bräune.« »Danke«, meinte sie. »Ich arbeite dran. Was muß ich noch tun?« Ich hoffte, daß sie darauf keine Antwort erwartete, wurde aber davor bewahrt zu entgegnen, weil Leon mit meinem Daiquiri in einem Brandyglas nahte, das problemlos eine Hyazinthenblüte gefaßt hätte. »Gütiger Himmel«, rief ich, »das muß ja ein Dreifacher sein.« »Nee«, antwortete Leon, »ist überwiegend Eis.« »Also wenn ich zu singen anfange, schicken Sie mich nach Hause. Trinken Sie nichts, Laverne?« »Sicher.« Sie hob ein Glas, das ebenso groß wie meines war, aus dem Gras neben ihrem Stuhl. »Bloody Mary, mit frischem Meerrettich zubereitet. Ich mag's gern scharf.« Sie sagte häufig derartige Dinge. Ich hatte den Eindruck, daß sie fortwährend Männer herausforderte, und wenn ein erwartungsvol5
ler Hengst glaubte, sie fahre auf ihn ab, würde sie nicht beleidigt sein. Aber ich bezweifelte, daß das je über einen intensiven Flirt hinausging. Sie hatte es zur Herrin von Casa Blanca gebracht, und ich hoffte, sie war klug genug, das zu wissen. Wir prosteten einander zu und tranken. Plötzlich registrierte ich eine Aktivität in dem Swimmingpool hinter mir und drehte mich um. Eine junge Frau in eng anliegendem schwarzen Badeanzug schlug mit fehlerlosem Kraulschlag Wellen. Braune Arme blitzten über ihrem Kopf, lange Beine bewegten sich aus den Hüften in perfektem Flattertritt, und ihr Kopf hob und senkte sich im Rhythmus mit dem Schlag ihrer Arme aus dem Wasser und wieder hinein. Ich schaute fasziniert zu, wie sie den Pool der Länge nach durchschwamm, dann eine Rollwende machte und den entgegengesetzten Weg begann. Es gab kaum Spritzer, und ihr Tempo war beeindruckend. »Wer ist denn das?« fragte ich. »Meine Schwester«, erwiderte Laverne. »Margaret Trumble. Wenn Sie wollen, können Sie sie Meg nennen, aber sagen Sie bloß nicht Maggie zu ihr, sonst ist sie imstande, Ihnen den Arm zu brechen. Sie ist sehr stark.« »Das sehe ich«, sagte ich. »Welch ein Delphin!« »Und sie joggt, hebt Gewichte, läuft Ski, steigt auf Berge. Sie bleibt bei uns, bis sie entschieden hat, was sie machen will. Im Augenblick unterrichtet sie Aerobic in Pennsylvanien, trägt sich aber mit dem Gedanken, nach Florida zu ziehen. Sie meint, hier geb's genügend Stinkreiche, so daß sie gut als persönliche Trainerin arbeiten könnte. Das liefe dann so, daß sie in die Häuser der Leute geht, sie lehrt, wie man trainiert, ihre Diätpläne aufstellt und individuelle Fitneßprogramme für sie entwickelt. Meg sagt, alle großen Film- und Fernsehstars haben private Trainer, und die ganz großen Firmenbosse auch. Sie glaubt, allein in Palm Springs könnte sie viele Kunden finden.« 6
»Wahrscheinlich könnte sie das«, sagte ich, während ich zuschaute, wie Miss Trumble durch das grünliche Wasser hin- und hersauste. »Sie scheint eine sehr disziplinierte, entschlossene junge Dame zu sein.« »Gar nicht so jung«, wandte Laverne ein. »Sie ist drei Jahre älter als ich.« »Für mich ist das dennoch jung«, meinte ich. »Aber ich wurde schon alt geboren. Jedenfalls muß es erfreulich sein, daß Sie Ihre Schwester zur Gesellschaft hier haben.« »Ja.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink, nahm plötzlich ihren Strohhut ab und warf ihn auf das Gras. Sie schüttelte ein paarmal den Kopf, so daß ihr langes blondes Haar frei fiel. Es war nicht chemisch gebleicht, sondern leicht gefärbt, mit einem Hauch von Rot. Ich fand es ausgesprochen attraktiv. Ihr von diesem Winzigbikini kaum verhüllter Körper war etwas anders. Es wäre nicht sehr fein gewesen, ihn als vulgär zu bezeichnen, aber es war etwas Übertriebenes an ihrem Fleisch. Es war einfach zu viel davon. »Sagen Sie, Archy«, fragte sie, wobei sie die Augen schloß, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, »glauben Sie, Sie werden Peaches zurückbekommen?« »Ich werde es versuchen. Könnten Sie mir den Erpresserbrief zeigen, den Sie erhalten haben?« »Harry hat ihn. Er bewahrt ihn im Bürosafe auf. Im Lager.« Das war wahrscheinlich korrekt, da ich wußte, daß sie ein Jahr als Empfangsdame in Harry Willigans Büro gearbeitet hatte. Dann, nachdem sie entdeckt hatte, daß der Sohn des Bosses glücklich verheiratet war, Kinder hatte und in Denver lebte, hatte sie das Zweitbeste getan: Sie hatte den Boß geheiratet. »In Ordnung«, erwiderte ich, »ich werde ihn später besuchen. Wieviel verlangen die Katznapper?« Sie öffnete die Augen und starrte mich an. »Fünfzigtausend.« 7
»Das ist eine Menge Geld für eine Katze.« »Harry wird es bezahlen, wenn er muß. Manchmal glaube ich, er liebt dieses dumme Tier mehr als mich.« »Das bezweifle ich«, widersprach ich, war mir dessen aber keineswegs sicher. »Wann ist Peaches verschwunden?« »Letzten Mittwoch. Harry war im Büro, ich war im Schönheitssalon, und Ruby Jackson – das ist unsere Haushälterin und Köchin – hatte ihren freien Tag. So waren nur Leon und Julie Blessington hier. Sie ist das Dienstmädchen.« »Wo war Ihre Schwester?« »In die Stadt gefahren, um nach einer Wohnung zu suchen. Sie will eine eigene. Jedenfalls war es gegen ein Uhr mittags, als Leon und Julie feststellten, daß Peaches verschwunden war. Sie suchten überall nach ihr, konnten sie aber nicht finden.« »Vielleicht ist sie einfach herumgestromert oder jagt Mäuse und Eidechsen.« Laverne schüttelte den Kopf. »Peaches ist eine Hauskatze. Wir lassen sie nie hinaus, weil ihr die Krallen gezogen worden sind und sie sich nicht verteidigen kann. Manchmal ging sie auf die Veranda, um frische Luft zu schnappen oder auf den Fliesen zu schlafen, aber sie ging nie hinaus. Die hintere Verandatür wird immer geschlossen gehalten.« »Verschlossen?« »Nein. Aber nachts wird die Tür, die vom Korridor zur Veranda führt, verschlossen, verriegelt und zugekettet. Wenn also jemand nachts in die Veranda eindringt, was sollte er stehlen – Aluminiummöbel?« »Aber tagsüber, wenn Peaches auf der Veranda war und sich niemand in der Nähe aufhielt, hätte jeder reinmarschieren, sie in einen Sack stecken und wegschleppen können?« »So ungefähr. Harry hat eine Stinkwut. Er schrie Leon und Julie wie ein Wahnsinniger an, aber es war wirklich nicht ihre Schuld. Sie 8
konnten diese verdammte Katze ja nicht jede Minute im Auge behalten. Wer wäre auch auf die Idee gekommen, daß sie gekidnappt werden würde?« »Gekatznappt«, sagte ich. »Leon und Julie sind sicher, daß die Außentür der Veranda geschlossen war?« »Sie schwören, daß es so war.« »Keine Löcher in der Wand, durch die Peaches hätte schlüpfen können?« »Nein. Schauen Sie ruhig selbst nach.« »Ich verlasse mich auf Ihr Wort. Wann traf der Erpresserbrief ein?« »Donnerstagmorgen. Leon fand ihn unter der Vordertür.« »Ich schaue ihn mir in Harrys Büro an, aber Sie können mir erzählen, was drinsteht.« Sie nahm ihren Strohhut vom Gras auf, stülpte ihn sich auf den Kopf und bog ihn vorne tief herunter, um ihre Augen zu beschatten. Sie wand sich, um eine bequemere Position auf ihrem Tuchsessel zu finden. Sie atmete tief ein und streckte sich, wobei sie ihren Rücken durchbog. Ich wünschte, sie hätte das nicht getan. »In dem Brief stand, sie hätten Peaches entführt und würden sie kerngesund gegen fünfzigtausend Dollar zurückgeben. Falls wir zur Polizei gingen, würden sie das erfahren, und wir würden Peaches lebend nie wiedersehen.« »Hat man auch mitgeteilt, wie die Zahlung geleistet werden soll?« »Nein, sie schrieben, wir würden wieder von ihnen hören.« »Sie reden dauernd im Plural. Stand in dem Brief wirklich: ›Wir haben die Katze, und Sie werden von uns hören‹?« »Genau das stand drin.« »Hat der Brief in einem Umschlag gesteckt?« »Ja. In einem einfachen weißen Umschlag.« »War er mit der Maschine oder mit der Hand geschrieben?« »Ich habe gemeint, er sei maschinengeschrieben, aber Harry hat 9
gesagt, er sei auf einem Computer getippt.« »Das ist interessant. Bekommt Peaches was Besonderes zu fressen?« »Sie frißt, was Menschen essen, wie sautierte Hühnerleber und pochierten Lachs.« »Glückliche Peaches! Na ja, im Augenblick fallen mir keine weiteren Fragen ein.« »Was werden Sie jetzt tun, Archy?« »Wahrscheinlich in Harrys Büro gehen und mal einen Blick auf diesen Erpresserbrief werfen. Er könnte –« Ich hörte auf zu sprechen und stand auf, weil ich bemerkte, daß sich Margaret Trumble vom Pool näherte. Sie trocknete ihr Haar mit einem Handtuch ab. Viel abzutrocknen gab's da nicht. Ihr Haar war blonder als das ihrer Schwester, fast silbern, und ganz kurzgeschnitten. Sie hatte ausgeprägte Wangenknochen und ein Kinn, das energisch war, ohne aggressiv zu wirken. Laverne machte uns miteinander bekannt und pries mich als ›einen meiner liebsten Freunde‹ – was völlig neu für mich war. Meg Trumbles Händedruck war fest, aber kurz. Mit kühlem Nicken gab sie ihrer Zustimmung zu meiner Anwesenheit Ausdruck – offensichtlich war das eine ungemeine Freude für sie – und begann, sich ihre nackten Arme und Beine abzutrocknen. »Wie gefällt Ihnen Südflorida, Miss Trumble?« erkundigte ich mich höflich. Sie hielt inne, um den azurblauen Himmel, den grünen Rasen, die Palmen und eine üppige Poinciana zu betrachten. »Im Augenblick ist es wunderschön.« Ihre Stimme war tief und volltönend, völlig anders als Lavernes mädchenhaftes Gepiepse. »Sie sind eine exzellente Schwimmerin«, erklärte ich. »Machen Sie bei Wettkämpfen mit?« »Nein. Damit ist kein Geld zu verdienen. Schwimmen Sie?« 10
»Man könnte das eher als Wälzen bezeichnen«, gestand ich. Sie nickte wieder, als ob Wälzen bei einem Burschen zu erwarten sei, der eine pinkfarbene, leinene Golfmütze, ein Polohemd im Krickentenchange und eine Madrashose trug. »Laverne«, sagte sie, »ich würde gerne heute nachmittag den Porsche nehmen. Kann Leon mich fahren?« Ihre Schwester schmollte. »Ich möchte, daß Leon mit dem Silberputzen beginnt. Es ist so angelaufen.« Sie wandte sich an mich. »Archy, der Porsche ist in der Werkstatt in West Palm zur Inspektion. Man hat angerufen, daß er fertig sei. Könnten Sie Meg hinfahren?« »Natürlich. Es ist mir ein Vergnügen.« »Sie sind ein guter Junge. Meg, Archy wird dich zur Werkstatt fahren, und du kannst den Porsche den ganzen Nachmittag benutzen. Wie findest du das?« »Gut«, meinte Meg Trumble, die mir gegenüber keine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. »Ich ziehe mich an. Es dauert nicht lange, Mr. McNally.« »Hört mal, ihr beiden«, sagte Laverne. »Genug mit diesem ›Miss Trumble‹ und ›Mr. McNally‹. Seid nett. Sagt Meg und Archy. Okay?« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, erwiderte ich. Die Schwester schenkte mir ein frostiges Lächeln und begab sich zum Haus. »Seien Sie nicht böse auf sie«, riet Laverne mir. »Sie verarbeitet gerade eine große Liebesaffäre, die geplatzt ist.« »Ach? Was ist passiert?« »Es hat sich herausgestellt, daß der Kerl verheiratet ist. Gehen Sie vorsichtig mit ihr um, Archy.« »So behandle ich Frauen, die Gewichte stemmen, immer«, sagte ich. »Danke für den Drink, Laverne. Rufen Sie mich bitte in meinem Büro oder zu Hause an, wenn Sie etwas von den Katznappern 11
hören. Und ich werde Sie informieren, wenn ich etwas über Peaches erfahre.« »Das ist mir ziemlich egal. Aber wenn Harry sich unglücklich fühlt, sorgt er dafür, daß auch andere nichts zu lachen haben, wenn Sie wissen, was ich meine. Also finden Sie diese lausige Katze.« Ich verabschiedete mich von ihr und stand neben dem Miata, wobei ich meine erste English Oval des Tages rauchte, als Meg Trumble aus dem Haus kam. Sie trug ein enganliegendes safrangelbes Leinenkleid, und ich sah wieder, wie schlank und muskulös sie war. Die nackten Arme und Beine waren leicht gebräunt, und sie hatte die Haltung einer attraktiven Herzogin. Ich schenkte ihr das Hundert-Watt-Lächeln, das ich als Supercharmer zu bezeichnen pflege. Mein Jumbocharmer kommt auf hundertfünfzig Watt, aber ich wollte sie nicht entnerven. »Sie sehen absolut wundervoll aus«, sagte ich. »Ich würde es begrüßen, wenn Sie nicht rauchten«, entgegnete sie. Ich hätte eine beißend-witzige Retourkutsche ablassen und diese arrogante Frau mit einem Blick vernichten können, verlor aber die berühmte McNally-Gelassenheit nicht. »Natürlich«, sagte ich, schnippte meinen Glimmstengel auf eine Zwergpalme und überlegte, warum ich mich bereit erklärt hatte, Miss Kaktus zu chauffieren. Wir fuhren auf dem Ocean Boulevard nordwärts, und als wir an dem NcNally-Heim vorbeikamen, richtete ich meinen Daumen darauf. »Meine Hütte.« Sie wandte den Kopf. »Groß.« »Ich wohne bei meinen Eltern«, erklärte ich. »Wir haben Platz genug für meine Schwester und ihre Sippe, wenn sie zu Besuch kommen. Laverne hat mir erzählt, daß Sie sich mit dem Gedanken tragen, hierher zu ziehen.« »Möglich«, meinte sie. Und darin erschöpfte sich unsere Unterhaltung. Gewöhnlich bin 12
ich ein gesprächiger Bursche und genieße das Geben und Nehmen einer lebhaften Konversation. Aber Meg Trumble schien in unkommunikativer Stimmung zu sein. Vielleicht glaubte sie, stille Wasser seien tief. Pah! Stille Wasser sind dumm. Dann waren wir in West Palm Beach und näherten uns unserem Ziel. Sie starrte geradeaus, als sie plötzlich sagte: »Tut mir leid.« Das war fürwahr ein Schock! Nicht nur, daß sie einen aus drei Worten bestehenden Satz von sich gab, sondern sie entschuldigte sich tatsächlich. Das Eismädchen hatte zu schmelzen begonnen. »Was tut Ihnen leid?« fragte ich. »Ich bin in so mieser Stimmung. Aber es gibt keinen Grund, das an Ihnen auszulassen. Bitte, verzeihen Sie mir.« Hätte ich das mit einem vergebenden Nicken akzeptiert und nichts weiter gesagt, hätte ich mir und vielen anderen Leuten eine Menge Ärger erspart. Aber ihr plötzliches Auftauen machte mich neugierig. »Hören Sie, Meg«, sagte ich, »eigentlich hatte ich vor, eine Kleinigkeit zu essen und dann in mein Büro zurückzukehren, wenn ich Sie abgesetzt habe. Aber warum essen Sie nicht zuerst mit mir und ich fahre Sie dann zur Werkstatt?« Sie zögerte, aber nicht lange. »In Ordnung.« Wir fuhren zum Pelican Club. Das ist vornehmlich eine Einrichtung zum Essen und Trinken. Ich war eines der Gründungsmitglieder. Die Drinks sind beachtlich, und das Essen ist schmackhaft und vollgepfropft mit Kalorien und Cholesterin. Der Laden war gerammelt voll, und ich winkte mehreren Freunden und Bekannten zu. Sie musterten Meg ausgiebig, die Männer ihre Beine, die Frauen ihre Frisur. Das ist der Lauf der Welt. Ich stellte sie Simon Pettibone vor, einem Farbigen, der in Personalunion Clubmanager und Barkeeper war. Seine Frau Jas (für Jasmine) war Wirtschafterin und Mutter der Höhle. Sein Sohn, Leroy, war unser Koch, und Tochter Priscilla arbeitete als Kellnerin. Diese talentierte Familie war der Hauptgrund für unseren Erfolg. 13
Wir hatten eine Warteliste von Alleinstehenden und verheirateten Paaren, die versessen darauf waren, Vollmitglieder zu werden. Priscilla führte uns zu einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants. »Ich mag Ihr Haar«, sagte sie. »Danke«, erwiderte ich. »Ich meine nicht Sie, Dummchen«, gab Priscilla lachend zurück. »Ich rede mit der Dame. Vielleicht lass' ich mir auch so eine Frisur machen. Wollen die Herrschaften Hamburger?« »Meg?« fragte ich. »Könnte ich etwas Leichteres haben? Einen Salat vielleicht?« »Sicher doch, Süße«, sagte Priscilla. »Shrimps oder Sardinen?« »Shrimps, bitte.« »Archy?« »Hamburger mit einer Scheibe Zwiebel. Pommes Frites.« »Drinks?« »Meg?« »Haben Sie Diät-Cola?« »Bei Ihrer Figur?« rief Priscilla. »Sie sollten ein Stout trinken. Ja, wir haben kalfrei. Archy?« »Einen eiskalten Daiquiri, bitte.« »Oho, jetzt weiß ich, daß es Sommer ist.« Sie ging mit unserer Bestellung. Meg schaute sich im Restaurant um. »Komisches Lokal«, stellte sie fest. »Wirkt in gewisser Hinsicht etwas baufällig«, gab ich zu. »Wieso essen Sie keine Hamburger? Sind Sie Vegetarierin?« »Nein, aber ich esse kein rohes Fleisch.« »Wie steht's mit Alkohol?« »Nein.« »Dann müssen Sie ein heimliches Laster haben«, sagte ich leichthin. »Sammeln Sie Keksdosen oder Plastiktüten?« Sie begann plötzlich zu weinen. Es war eines der erstaunlichsten 14
Dinge, die ich je gesehen habe. Den einen Augenblick saß sie völlig gefaßt da, und im nächsten Moment strömten Tränen über ihre Wangen, eine perfekte Flut. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Ich kann mit weinenden Frauen nicht umgehen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich saß hilflos da, während sie leise schluchzte. Priscilla brachte unsere Drinks, starrte erst Meg an und funkelte dann mich wütend an. Ich weiß, daß sie glaubte, ich sei die Ursache der Flut. Sie glaubte, daß Herzenbrechen mein Hobby sei. Das ist natürlich lächerlich. Ich mag ein Schürzenjäger sein, aber wenn es etwas gibt, das ich von meinem Großvater geerbt habe (er war Varietekomiker), dann das unbeugsame Gebot: »Laß sie immer lachend zurück, wenn du Lebewohl sagst.« »Meg«, meldete ich mich verlegen, »habe ich etwas Falsches gesagt?« Sie schüttelte den Kopf und betupfte ihr Gesicht mit einer Papierserviette. »Es tut mir leid«, sagte sie heiser. »Es war dumm von mir.« »Was war's?« fragte ich. »Eine böse Erinnerung?« Sie nickte und versuchte ein Lächeln. Der Versuch war lobenswert, aber er klappte nicht. »Wollen Sie darüber reden?« fragte ich. »Es ist so banal. Sie würden lachen.« »Ich lache nicht. Ich verspreche es.« Priscilla brachte unser Essen, warf Meg einen kurzen Blick zu, warf mir einen finsteren Blick zu und verließ uns wieder. Während wir aßen, erzählte Meg mir die Geschichte ihrer zerbrochenen Romanze. Sie hatte recht gehabt: Es war banal. Es war eine Starkstromaffäre mit einem gut aussehenden Schurken aus einer Nachbarstadt gewesen. Er hatte unsterbliche Liebe geschworen und ihr die Ehe versprochen. Aber er schob das Datum immer wieder hinaus: Er wollte erst sein Bankkonto aufstocken, sei15
ne Mutter war krank, sein Betrieb mußte reorganisiert werden usw. Fast zwei Jahre kam er mit Ausflüchten. Dann brachte eine Freundin Meg eine Zeitung aus der Heimatstadt ihres Liebhabers mit. Er hatte in der Staatslotterie ein beachtliches Sümmchen gewonnen. Das Foto auf der Titelseite zeigte, wie er in die Kamera grinste, den Arm um die Taille einer Frau geschlungen, die der Bildunterschrift zufolge seine Frau war. Das war's. »Ich war eine Närrin«, sagte Meg kläglich. »Ich mache ihm nicht so viel Vorwürfe wie mir – weil ich so eine Idiotin war. Ich glaube, das schmerzt am meisten, daß ich mich so leicht habe übertölpeln lassen.« »Haben Sie die Beziehung genossen?« fragte ich. Sie spielte einen Moment mit ihrem Salat, hielt den Kopf gesenkt. »O ja«, meinte sie schließlich. »Das habe ich. Ich habe ihn wirklich gemocht, und wir haben eine wundervolle Zeit zusammen verbracht. Ich bedaure nichts.« »Also bringt Sie eigentlich Ihr lädiertes Ego zum Weinen.« Sie seufzte. »Ich glaube, ich habe immer eine hohe Meinung von meiner Intelligenz gehabt. Eine zu hohe. Ich weiß es jetzt besser.« »Unsinn«, sagte ich. »Mit Intelligenz hat das überhaupt nichts zu tun. Ihre Gefühle waren einbezogen, und Sie waren zu offen, zu vertrauensvoll, und deshalb waren Sie verwundbar und wurden verletzt. Aber möchten Sie lieber eine verkrustete Zynikerin sein, die die Möglichkeit leugnet, daß Hoffnungen wahr werden können?« »Nein, so möchte ich nicht sein.« »Meg, wenn man vom Pferd abgeworfen wird, soll man schnellstens wieder aufsteigen und weiterreiten, lautet eine alte Weisheit.« »Ich glaube nicht, daß ich dazu bereit bin.« »Sie werden es sein«, versicherte ich ihr. »Sie sind zu jung, zu gesund und zu attraktiv, um liegen zu bleiben.« Wir beendeten schweigend unsere Mahlzeit. Es war schön zu be16
merken, daß sie trotz ihrer Sorge einen guten Appetit hatte: Sie leerte die wirklich gewaltige Salatschüssel. »Archy, sind Sie wirklich einer von Lavernes liebsten Freunden?« fragte sie mich, als sie fertig war. »Nicht ganz. Ihre Schwester hat einen Hang zur Übertreibung.« »Sie meinen, sie lügt?« »Natürlich nicht. Sie übertreibt nur zuweilen, um das Leben ein bißchen würziger zu machen. Das ist nichts Schlechtes. Nein, meine Beziehung zu Ihrer Schwester und Ihrem Schwager ist mehr beruflicher als privater Art.« Ich reichte ihr meine Visitenkarte und erklärte ihr, daß ich von McNally & Sohn beauftragt sei, die vermißte Katze aufzuspüren – der Grund für meinen Besuch in der Casa Blanca. Ich fragte Meg, wann sie Peaches zuletzt gesehen habe, und sie bestätigte, was Laverne mir erzählt hatte: An dem Tag, an dem die Katze verschwunden war, war sie auf Wohnungssuche gewesen. »Meg, glauben Sie, daß jemand vom Personal bei diesem Katznapping seine Hand im Spiel haben könnte?« »Das weiß ich wirklich nicht. Keiner von denen mochte Peaches. Und ich mochte sie auch nicht.« »Freut mich, das zu hören.« Ich erzählte ihr die Geschichte, wie dieses Untier sich auf meine lavendelfarbenen Schweinslederschuhe erbrochen hatte. Sie lachte und beugte sich vor, um eine Hand leicht auf meinen Arm zu legen. »Danke, daß Sie mich zum Lachen gebracht haben, Archy. Ich fürchtete schon, vergessen zu haben, wie das geht.« »Lachen ist die beste Medizin«, dozierte ich. »Sogar besser als Hühnerbrühe. Sie müssen mir versprechen, daß Sie wenigstens einmal täglich herzhaft lachen, vorzugsweise kurz vorm Schlafengehen.« »Ich werd's versuchen, Herr Doktor«, schwor sie. Zum Kaffee sagte sie ebenfalls nein. Dessert wollten wir beide nicht, und so unterschrieb ich die Rechnung, und wir gingen zu 17
dem Miata. Ich fuhr Meg zur Werkstatt, und kurz bevor sie aus dem Wagen stieg, bedankte sie sich fürs Essen. »Und dafür, daß Sie so einfühlsam zugehört haben«, setzte sie hinzu. »Ich fühle mich besser. Ich hoffe, ich sehe Sie wieder.« »Das werden Sie in der Tat.« Damit meinte ich, daß ich bei meiner Suche nach Peaches wahrscheinlich in der Casa Blanca herumschnüffeln würde. Sie aber schaute mir aufmerksam in die Augen und wiederholte: »Ich möchte Sie wiedersehen«, und dann ging sie davon. Eine Mißdeutung war unmöglich. Es schien offensichtlich, daß Meg Trumble bereit war, wieder ein Pferd zu reiten, und ich war der auserkorene Gaul. Ich wußte nicht, ob ich mich geehrt fühlen oder mißtrauisch sein sollte, erfreut oder erschreckt. Aber ich war sicher, daß ich nicht klug handeln würde. Wie bei den meisten Männern ist mein Leben oftmals ein Wettkampf zwischen Hirn und Drüsen. Ich fuhr auf dem Royal Palm Way zum McNally-Gebäude zurück, parkte in unserer Tiefgarage und winkte Herb zu, unserem Wachmann. Ich nahm den Aufzug nach oben, zu meinem winzigen Büro, und siehe da! Auf meinem Schreibtisch lag eine Telefonnotiz. Ich wurde gebeten, Consuela Garcia schnellstmöglich anzurufen. Das tat ich. »Hallo, Connie«, sagte ich. »Was gibt's?« »Wer war diese Kahle, mit der du im ›Pelican‹ zu Mittag gegessen hast?« wollte sie wissen.
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ch verbrachte mindestens fünfzehn Minuten mit dem Versuch, Connie zu beschwichtigen. Ich erklärte ihr, daß der Mittagsimbiß rein geschäftlich gewesen sei, Teil einer Ermittlung in einem Fall von Katznapping. Ich sagte, daß Margaret Trumble, Schwester von Mrs. Laverne Willigan, wertvolle Aussagen zu bieten gehabt habe und daß ich sie fern vom Tatort habe befragen müssen. »Wohnt sie bei den Willigans?« fragte Connie. »Sie ist da zu Besuch.« »Für wie lange?« »Ich habe keine Ahnung.« »Wirst du sie wiedersehen?« »Wenn meine Ermittlungen das erforderlich machen. Connie, ich bin schockiert – wirklich schockiert! – ob deines mißtrauischen Tones. Ich habe Meg erst heute morgen kennengelernt und –« »Oho«, meinte sie bitter. »Es heißt also schon Meg, nicht wahr?« »Heiliger Strohsack!« platzte ich heraus. »Laverne bestand darauf, daß ich ihre Schwester mit Meg anrede, und ich bin dem aus Höflichkeit nachgekommen. Connie, dieses Verhalten ist deiner unwürdig. Was ist eigentlich aus unserer Entscheidung geworden, eine offene Beziehung zu führen? Wir haben beide die Freiheit, uns zu treffen, mit wem wir wollen.« »Du wirst sie also wiedersehen?« »Nur, wenn es geschäftlich erforderlich ist.« »Mach bloß keine krummen Touren, Sportsfreund«, sagte sie düster. »Hüte dich. Meine Spione sind überall.« Und sie legte auf. Ich nahm ihre Warnung von wegen der ›Spione‹ keineswegs auf die leichte Schulter. Consuela Garcia war Sekretärin von Lady Cyn19
thia Horowitz, einer unserer reichsten und gesellschaftlich attraktivsten Matriarchinen. Connie kannte jeden in Palm Beach, den man kennen mußte, und viele, bei denen es sich eigentlich erübrigte. Ich hatte keinen Zweifel, daß sie imstande war, genau Buch über mein Tun und Lassen zu führen. Schließlich ist Palm Beach eine Kleinstadt, besonders außerhalb der Saison. Es war eine heikle Situation, aber es gab ja immer mehrere Möglichkeiten, einer Katze das Fell über die Ohren zu ziehen. Und dabei fiel mir ein, daß ich ja die vermißte Peaches zu suchen hatte. Ich hoffte nur, daß die Katznapper sich dieser Möglichkeit auch bewußt waren. Ich rief Harry Willigans Büro an. Eine Männerstimme meldete sich. Daß ein Empfangsherr eingestellt worden war, war wohl Lavernes Werk. Nachdem sie den Boss geheiratet hatte, wollte sie das Büro ihrer besseren Hälfte von weiteren Versuchungen frei wissen. Kluge Dame! Harry stand in dem Ruf, ein Opfer von Satyriasis zu sein. Ich sagte, wer ich sei, und bat schnellstmöglich um einen Termin für ein persönliches Gespräch mit Mr. Willigan. Der Empfangsherr war wenige Augenblicke weg und kam dann wieder ans Telefon, um zu sagen, daß mir eine Audienz von nicht mehr als einer halben Stunde gewährt werden würde, wenn ich sofort käme. Ich unterdrückte den Impuls zu schreien: »Mann, ist das stark!«, weil mir klar war, daß Sarkasmus mich nicht weiterbringen würde. Also sagte ich: »Ich bin schon unterwegs.« Willigans Büro war nur einen Block vom McNally-Gebäude entfernt. Zehn Minuten später saß ich vor dem unordentlichen Schreibtisch des Magnaten und versuchte angestrengt, meinen Ekel vor einem Mann zu verbergen, der offensichtlich glaubte, ein seidenes Cowboyhemd mit Boloschleife, ein Silberkettchen mit Namensschild und ein fünfkarätiger Ludenring seien Beweis für Persönlichkeit und Vornehmheit. 20
Er war wie ein Mahagonistumpf gebaut. Ich stellte mir vor, daß er als junger Mann ganz gut ausgesehen haben mochte, doch ein Leben voller Whisky und Rinderhochrippe hatte seinen Tribut gefordert, und jetzt war sein Gesicht eine zerknitterte Straßenkarte geplatzter Kapillaren. Die Nase hatte Farbe und Form einer großen Pflaume. »Was unternehmen Sie wegen Peaches?« schrie er mich an. Ich erklärte ruhig, daß ich kaum mit den Ermittlungen begonnen hätte, doch bereits bei ihm zu Hause gewesen sei und alle Einzelheiten über das Katznapping von seiner Frau habe. Ich beabsichtigte, wieder dorthin zu fahren, um das Personal zu befragen und das Anwesen gründlicher zu durchsuchen. »Keine Bullen!« brüllte er. »Diese Bastarde drohen, Peaches zu töten, wenn ich mich an die Bullen wende!« Ich versicherte ihm, daß ich die Polizei nicht informieren würde, und bat ihn, den Erpresserbrief sehen zu dürfen. Er hatte ihn kurz vor meiner Ankunft aus dem Safe genommen und warf ihn mir über den Schreibtisch zu. Ich fragte, wieviel Personen ihn in der Hand gehabt hätten. Die Antwort: Er, Laverne, sein Empfangsherr, Leon Medallion und vielleicht die anderen Bediensteten der Casa Blanca. Das schloß so ungefähr jede Möglichkeit aus, von diesem Brief irgendwelche brauchbaren Fingerabdrücke zu nehmen. Der Text war sauber auf einem Blatt guten Papiers gedruckt und schien tatsächlich auf einem Computer entstanden zu sein, wie Willigan seiner Frau erzählt hatte. Was mir auffiel, war der rechte Rand. Der Wortabstand war so eingestellt worden, daß alle Zeilen dieselbe Breite hatten. Etwas eigenartig für einen Erpresserbrief. Er war kurz und beinhaltete nicht mehr als das, was ich bereits erfahren hatte. Ich fragte, ob er irgendwelche weiteren Mitteilungen von den Katznappern erhalten habe, und Willigan verneinte das. Dann erkundigte ich mich, ob er einen Verdacht habe, wer die Katze geklaut haben könne. Ob er Feinde habe? 21
Er funkelte mich an. »Ich habe mehr Feinde, als Sie Freunde haben«, schrie er. »Sicher habe ich Feinde. Man kommt nicht so weit wie ich, ohne sich Feinde zu machen. Aber das sind alles harte Burschen. Die würden mir vielleicht in den Rücken schießen, aber wegen lausiger fünfzig Riesen würden die nicht meine Peaches stehlen. Das ist für die Brüder ein Taschengeld.« Mir fielen keine weiteren Fragen mehr ein, und so dankte ich Willigan dafür, daß er sich Zeit für mich genommen hatte, und erhob mich, um zu gehen. Er begleitete mich zur Tür. »Hören Sie, Archy«, sagte er, »wenn Sie Peaches gesund wiederbringen, ist 'ne anständige Summe für Sie drin.« »Danke«, erwiderte ich förmlich, »aber mein Vater zahlt mir ein angemessenes Gehalt.« »Gewiß«, meinte er und versuchte, jovial zu sein, »aber ein junger Hengst wie Sie kann immer was nebenher gebrauchen. Hab' ich recht?« Erbärmlicher Kerl. Wie Laverne diesen totalen Mangel an Takt ertragen konnte, verstand ich nicht. Aber ich vermutete, daß Bloody Marys mit frischem Meerrettich halfen. Ich spazierte zum McNally-Gebäude zurück, stieg in den Miata und fuhr nach Hause. In Gedanken wandte ich mich Meg Trumble und Laverne Willigan zu. Ich fand es erstaunlich, daß die beiden Schwestern waren. Ich konnte eine entfernte Ähnlichkeit in ihren Gesichtszügen feststellen, doch ihre Körper waren sich absolut unähnlich. Wenn sie Seite an Seite standen, Meg links, mußten sie wie die Zahl 18 aussehen. Und ihre Persönlichkeiten waren so verschieden. Laverne war eine muntere Extrovertierte, Meg mehr introspektiv, eine ernste Frau. Ich war zwar nicht von ihr auf der Stelle hingerissen, aber sie faszinierte mich. Sie war von einem Geheimnis umgeben, das mich herausforderte. Laverne hingegen war etwa so geheimnisvoll wie eine 22
gebackene Kartoffel. Ich nahm die Auffahrt zur McNally-Festung, einem großen Bauwerk im Tudorstil mit einem kupferbeschlagenen Mansardendach, das leckte. Ich parkte auf dem kiesbestreuten Wendeplatz vor unserer Garage, die drei Wagen Platz bot, und vergewisserte mich, daß ich nicht die Zufahrt zur linken Garage blockierte, in der mein Vater immer seinen großen Lexus abstellte. Auf dem mittleren Platz stand ein alter Ford Kombi mit Holzaufbau, der meistens zum Einkaufen und für den Transport der Pflanzen meiner Mutter zu Gartenausstellungen benutzt wurde. Ich fand sie in ihrem kleinen Gewächshaus, wo sie wie üblich mit ihren Begonien sprach. Ihr Vorname war Madeleine, und sie war überzeugtes Mitglied der Union verrückter Mütter. Aber sie war eine absolut großartige Frau, herzlich und liebevoll. Ich hatte ihre Hochzeitsfotos gesehen, als sie Mrs. Prescott McNally wurde, und damals war sie strahlend schön gewesen. Jetzt, wo sie auf die siebzig zuging, war sie sogar noch schöner. Ihre Brille war ihr auf die Nase gerutscht, und sie sah nicht, daß ich mich heranschlich. Ich küßte sie auf ihre samtene Wange, und sie schloß die Augen. »Ronald Colman?« fragte sie. »John Barrymore?« »Tyrone Power«, erwiderte ich. Sie tätschelte meine Wange. »Ursi backt heute abend Jakobsmuscheln. Ist das nicht nett?« »Perfekt«, sagte ich. »Ich bin in Jakobsmuschelstimmung. Bitte Vater doch, eine der Flaschen Muscadet zu öffnen, die er hamstert.« »Warum fragst du ihn nicht selbst, Archy?« »Weil er mir erzählen wird, daß ein Krug Chablis gut genug sei. Aber wenn du ihn fragst, wird er mit dem guten Stoff rausrücken. Er ist Wachs in deinen Händen.« »Tatsächlich? Seit wann?« 23
Ich küßte sie wieder und ging in meine Suite, um mich umzuziehen. ›Suite‹ ist ein hochtrabendes Wort, wenn ein kleines Wohnzimmer, ein winziges Schlafzimmer und ein Badezimmer, in dem man klaustrophobische Anfälle bekommt, beschrieben werden sollen, die im zweiten Stock liegen. Aber gegen die Miete war absolut nichts einzuwenden. Null. Und es war mein eigenes Reich. Ich hatte keinen Grund zur Klage. Ich zog meine Badehose an (schockpinkfarben), meinen Frotteemantel und Sandalen. Dann nahm ich mein Handtuch und ging zum Strand hinunter. Der Atlantik leckte praktisch an unserer Haustür. Er lag direkt auf der anderen Seite des Ocean Boulevard und schimmerte in der Spätnachmittagssonne. Die Brandung war nicht stark genug, um mich zu erschrecken. Ich versuche, täglich zwei Meilen zu schwimmen, parallel zum Ufer, etwa fünfzehn Meter weit draußen. Ich schwimme eine Meile nordwärts oder südwärts und dann zurück. Ich wälze mich nicht, wie ich Meg Trumble erzählt hatte, sondern bewege mich pflügend vorwärts. Das wirkt Wunder für den Appetit. Mein Vater legt größten Wert auf Tradition. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, der Strapse trägt – oder Sockenhalter, wie man früher zu sagen pflegte. Eine der Zeremonien, auf denen er besteht, ist die Cocktailstunde, eine Zusammenkunft vor Tisch, die gewöhnlich dreißig Minuten währt, wobei wir Martinis schlucken, die er nach dem Originalrezept aus drei Teilen Gin und einem Teil Wermut mixt. »Gehst du heute abend aus, Archy?« fragte mein Vater bei der Familienzusammenkunft an diesem Abend. »Nein«, erwiderte ich. »Das habe ich nicht vor.« »Gut«, fuhr er fort. »Roderick Gillsworth rief heute nachmittag an und möchte um neun Uhr herkommen. Es betrifft eine Angelegenheit, über die er im Büro nicht sprechen wollte.« »Und du möchtest, daß ich dabei anwesend bin?« fragte ich etwas 24
überrascht. Der Chef kaute auf seiner Olive. »Ja«, sagte er, »Gillsworth bat ausdrücklich darum, daß du dabei bist.« »Und wie geht es Lydia?« fragte Mutter, womit sie die Gattin des Klienten meinte. Vater zog seine Brauen zusammen, aus denen sich unter Berücksichtigung der starken Behaarung ohne weiteres ein Pullover hätte fertigen lassen können. »Ich habe ihn gefragt«, meinte er, »aber der Mann gab keine direkte Antwort darauf. Sehr eigenartig. Sollen wir zum Abendessen hinuntergehen?« Die Jakobsmuscheln waren großartig, und der Geschmack wurde durch einen Muscadet verfeinert, den der Herr des Hauses zu entkorken eingewilligt hatte. Er neigt dazu, mit seinen alten Weinen etwas knickerig zu sein. Für meine Mutter ist das kein Unterschied, da sie zum Essen nur Sauterneswein trinkt – eine gräßliche Angewohnheit, von der mein Vater und ich sie nie haben abbringen können. Aber ich mag gelegentlich einen seltenen Wein, etwas, das nicht in einer Flasche mit Griff und Schraubverschluß kommt. Als Dessert servierte Ursi Olson, unsere Haushälterin und Köchin, große Scheiben einer saftigen Honigmelone mit Schnitzen frischer Limonen. Übersättigt stieg ich nach oben in meine Höhle und arbeitete ein bißchen, bevor Roderick Gillsworth eintraf. Während früherer diskreter Ermittlungen hatte ich gelernt, den Stand meiner Untersuchungen in einem Tagebuch festzuhalten. Ich neige nämlich dazu, Dinge zu vergessen, die sich als wichtig herausstellen könnten. Der Grund für meine Zerstreutheit ist der, daß mein Gehirn gewöhnlich von faszinierenden Rätseln in Anspruch genommen ist. Zum Beispiel, warum einzelne Büroklammern, die in einem kleinen Behälter aufbewahrt sind, über Nacht zu kopulieren scheinen und am Morgen untrennbar miteinander verbunden sind. Und andere Mysterien ähnlicher Natur. So kritzelte ich also Kurznotizen zu den Fällen, mit denen ich be25
faßt war. An diesem Abend begann ich ein neues Kapitel über die Entführung der böswilligen Peaches. Ich schrieb alles nieder, was ich im Lauf des Tages erfahren hatte – was nicht viel war. Ich muß auch gestehen, daß ich während meiner Arbeit als Tagebuchschreiber eine Lesebrille aufgesetzt habe: vergrößernde Gläser in schwarzer Hornfassung. In der Öffentlichkeit trage ich die natürlich nie. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, Gynäkologe zu sein. Ich legte meine vervollständigten Notizen beiseite und warf einen Blick auf meine Micky-Maus-Armbanduhr. Ich sah, daß mir noch eine Viertelstunde blieb, bevor meine Anwesenheit im Arbeitszimmer meines Vaters erforderlich war, damit ich hörte, was unserem Klienten Sorgen machte. Ich verbrachte die Zeit damit zu überlegen, was ich über Roderick Gillsworth wußte. Er war ein selbsternannter Poet. Sein erstes Buch war so unverständlich, daß die Kritiker überzeugt waren, er sei ein Genie, und wegen ihrer geradezu ekstatischen Besprechungen wurden ein halbes Tausend verkauft. Doch seine folgenden Werke verkauften sich nicht so gut, und er nahm eine Stelle als Hauspoet in einem exklusiven College der freien Künste für Frauen in New Hampshire an. Dort heiratete er eine seiner Studentinnen, Lydia Barkham. Sie war Erbin eines beträchtlichen alten Vermögens, das eine Familie aus Rhode Island angehäuft hatte. Begonnen hat dies mit der Anfertigung von Schnur, dann war man zur Herstellung von Seil übergegangen, hatte dann auf Stahlkabel umgestellt und schließlich den Betrieb an einen japanischen Großkonzern zu einem gigantischen Preis verkauft, den ein Wirtschaftskommentator mit den Worten ›teilweise Rache für Pearl Harbor‹ kommentierte. Lydia und Roderick Gillsworth zogen Ende der siebziger Jahre nach Palm Beach und kauften trotz ihres Reichtums ein relativ bescheidenes Heim an der Via Del Lago, etwa einen Block vom Strand entfernt. Sie lebten zurückgezogen, pflegten unregelmäßig Gäste einzuladen und hatten offensichtlich wenig Interesse an Tennis, Golf 26
oder Polo. Das machte sie natürlich nicht zu Parias, doch man betrachtete sie als etwas wunderlich. Den Klatschmäulern von Palm Beach zufolge führten die Gillsworths das, was im Französischen als ›mariage blanc‹ bezeichnet wird und was meine Großmutter wahrscheinlich eine ›Ehe nur dem Namen nach‹ genannt hätte. Aber dafür kann ich mich natürlich nicht verbürgen. Roderick schrieb weiterhin Gedichte. Jetzt aber wurden seine schmalen Bände privat gedruckt, kostbar in Kalbsleder gebunden und persönlichen Freunden als Weihnachtsgeschenk überreicht. Die Familie McNally besaß acht seiner Bücher. Die Seiten waren noch unaufgeschnitten. Als ich das im Erdgeschoß liegende Arbeitszimmer meines Vaters betrat, saß Gillsworth bereits in einem ledernen Ohrensessel. Ich ging zu ihm, um ihm die Hand zu schütteln, und er machte sich nicht die Mühe aufzustehen. Ich war Angestellter und zehn Jahre jünger als er, aber dennoch hielt ich das für schlechte Manieren. Mein Vater saß hinter seinem großen, lederbezogenen Schreibtisch, und ich zog einen Lehnstuhl heran und stellte ihn so, daß ich beide Männer beobachten konnte, ohne den Kopf hin und her drehen zu müssen. »Archy«, sagte mein Vater, »Mr. Gillsworth hat offensichtlich ein persönliches Problem, über das er zu sprechen wünscht. Er ist sich deiner Zuständigkeit für diskrete Ermittlungen bewußt und des Erfolges, den du bei mehreren Untersuchungen mit einem Minimum an Publicity erzielt hast.« »Keine Publicity«, warf der Dichter ein. »Darauf muß ich bestehen: absolut keine Publicity. Lydia würde mir es niemals verzeihen, wenn es bekannt wird.« Vater strich mit einem Knöchel über seinen Schnurrbart. Dieser Schnurrbart war ebenso buschig wie seine Augenbrauen, aber beträchtlich breiter. »Wir werden jede Anstrengung unternehmen, damit diese Angelegenheit vertraulich bleibt, Mr. Gillsworth. Was ge27
nau ist es?« Unser Klient atmete schwer ein. »Vor drei Wochen etwa«, begann er, »traf ein Brief in unserem Haus ein, der an meine Frau adressiert war. Ein schlichter weißer Umschlag, kein Absender. Zu der Zeit war Lydia im Norden zu Besuch bei einigen Basen. Glücklicherweise hatte sie die Anweisung hinterlassen, daß ich ihre Post öffnen und ihr alles, was mir wichtig erschien und sie unverzüglich lesen müsse, nach Rhode Island nachschicken sollte. Ich sage ›glücklicherweise‹, weil dieser spezielle Brief eine bösartige Drohung gegen Lydias Leben war. Er enthielt eine Schilderung der Art, wie sie ermordet werden soll, in so gräßlichen und widerlichen Einzelheiten, daß er offensichtlich das Werk eines kranken Verstandes war.« »Fürchterlich«, bemerkte mein Vater. »Enthielt der Brief irgendeinen Grund für die Drohung?« fragte ich. »Nur sehr vage«, sagte Gillsworth. »Darin stand, sie müsse sterben, um für das zu bezahlen, was sie tue. Genau diese Formulierung wurde benutzt: ›für das, was sie tut.‹ Natürlich ist das kompletter Wahnsinn. Lydia ist die unschuldigste aller Frauen. Ihr Verhalten ist untadelig.« »Haben Sie den Brief dabei, Mr. Gillsworth?« fragte mein Vater. Der Poet stöhnte. »Ich habe ihn vernichtet. Und auch den Umschlag, in dem er kam. Ich hoffte, es würde ein einmaliger Vorfall sein, und ich wollte nicht, daß Lydia ihn las. Deshalb verbrannte ich ihn.« Dann saßen wir schweigend da. Gillsworth hatte den Kopf abgewendet, so daß ich ihn einen Augenblick studieren konnte. Er war ein großer, magerer Mann mit einem knochigen Gesicht, aus dem eine lange Nase ragte. Er trug einen kurzärmligen Freizeitanzug aus schwarzem Leinen. Mit seinem Nasenschnabel, den langen Armen und seinen schlaffen Gesten sah er mehr wie ein Vogel als wie ein Barde aus. Ich fragte mich, was eine junge Studentin an ihm gefun28
den haben mochte, das sie dazu bewogen hatte, ihm das Eheversprechen zu geben. Aber es ist hoffnungslos, wissen zu wollen, was Ehepartner aneinander finden. Es ist besser, Ursi Olsons Philosophie zu akzeptieren. Sie zuckt nur die Schultern und sagt: »Es gibt für jeden Topf einen Deckel.« Die Stille zog sich hin, und als mein Vater die Frage nicht stellte, die gestellt werden mußte, tat ich es. »Aber Sie haben einen weiteren Brief bekommen?« wandte ich mich an Gillsworth. Er nickte, und der Blick, den er mir zuwarf, schien verwirrt, als könne er den unerklärlichen Schicksalsschlag nicht ganz begreifen, der ihn und seine Frau ereilt hatte. »Ja«, sagte er mit einer Stimme, der es an Festigkeit mangelte, »vor zwei Tagen. Lydia ist wieder zu Hause, und sie öffnete den Brief, las ihn und zeigte ihn mir. Ich fand ihn noch ekelhafter und erschreckender als den ersten. Wieder stand darin, daß sie sterben müsse für das, was sie tue, und in grauenvollen Einzelheiten wurde ihre Ermordung beschrieben. Offensichtlich das Werk eines gemeingefährlichen Irren.« »Wie hat Ihre Frau auf den Brief reagiert?« fragte mein Vater behutsam. Gillsworth rutschte unbehaglich in seinem Ohrensessel hin und her. »Meine Frau war immer schon am Okkulten und an psychischen Phänomenen interessiert. Sie glaubt an übernatürliche Kräfte, an die Existenz von Geistern, außersinnliche Wahrnehmung und derartige Dinge.« Er machte eine Pause. Ich war neugierig und fragte: »Glauben Sie auch an diese Dinge?« Er machte eine seiner schlaffen Gesten. »Ich glaube nicht, und ich bin auch nicht ungläubig. Ganz offen gesagt, interessiert mich das Übernatürliche wenig. Meine Arbeit konzentriert sich auf den Konflikt zwischen dem begrenzten Ausdruck der menschlichen Psyche und der darin verschlossenen Ur-Realität. Ich bezeichne das als göttliche Dichotomic.« Mein Vater und ich nickten nachdenklich. Was konnten wir 29
anderes tun? »Um Ihre Frage zu beantworten, Mr. McNally«, fuhr Gillsworth fort, wobei er sich an meinen Vater wandte, »meine Frau reagierte mit völliger Gelassenheit auf den Brief. Sie werden es vielleicht bemerkenswert finden – ich tue das gewiß –, aber sie hat absolut keine Furcht vor dem Tod, gleich wie schmerzhaft und entsetzlich er sein mag. Sie glaubt, Tod sei nur eine andere Form der Existenz und daß wir von einem Zustand in einen anderen übergehen, ohne Verlust, ohne Schmälerung unserer Kräfte, sondern im Gegenteil mit größerer Weisheit und stärkerer Kraft. Dieser Glaube befähigt sie, ihrem eigenen Tod mit Gleichmut entgegenzusehen. Und deshalb konnte dieser Brief sie nicht erschrecken – wenn das sein Zweck gewesen sein sollte. Aber er erschreckt mich. Das kann ich Ihnen sagen. Ich sagte Lydia, es sei vielleicht klug, wenn sie zu einem längeren Besuch nach Rhode Island zurückkehre, bis die ganze Angelegenheit aufgeklärt ist.« »Ja«, meinte Vater, »das wäre angemessen.« »Sie weigerte sich«, sagte Gillsworth. »Dann schlug ich vor, wir sollten gemeinsam eine Reise machen, vielleicht auf längere Zeit ins Ausland gehen. Aber auch das lehnte sie ab. Sie will sich nicht durch das Gerede eines Wahnsinnigen eine Änderung ihres Lebens aufzwingen lassen. Und sie besteht hartnäckig darauf, daß die Angelegenheit nicht der Polizei gemeldet wird. Sie nimmt die ganze Situation mit einer Kaltblütigkeit hin, die mich erstaunt. Ich kann das nicht so leicht nehmen. Schließlich habe ich aber ihr Einverständnis bekommen, bei Ihnen Rat suchen zu dürfen, allerdings unter der Voraussetzung, daß Sie ohne Erlaubnis nichts der Polizei oder sonst jemand von dieser widerlichen Sache erzählen.« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte mein Vater ernst. »Gut«, erwiderte der Dichter. »Legen Sie Wert darauf, den zweiten Brief zu sehen?« »Unbedingt.« 30
Gillsworth stand auf und zog einen weißen Umschlag aus der Außentasche seiner Jacke. Er reichte ihn meinem Vater. »Einen Augenblick, bitte«, sagte ich. »Mr. Gillsworth, ich nehme an, daß nur Sie und Ihre Gattin den Brief angefaßt haben, seit er bei Ihnen eintraf.« »Das ist richtig.« »Vater«, fuhr ich fort, »ich schlage vor, du faßt ihn vorsichtig an, vielleicht an den Ecken. Vielleicht kommt der Zeitpunkt, an dem wir uns wünschen, ihn auf Fingerabdrücke untersuchen zu können.« Er nickte und hob die Klappe des geöffneten Umschlages mit der Spitze eines stählernen Brieföffners, den er von seinem Schreibtisch nahm. Dasselbe Gerät benutzte er, um den Brief herauszuziehen und ihn auf der Schreibtischplatte zu entfalten. Er rückte den grünen Glasschirm seiner Messinglampe zurecht und begann zu lesen. Ich trat hinter ihn und schaute über seine Schulter, konnte aber nichts erkennen, da ich meine Lesebrille nicht trug. Mein Vater beendete seine sorgfältige Durchsicht und blickte zu dem Mann auf, der vor seinem Schreibtisch stand. »Sie haben nicht übertrieben, Mr. Gillsworth«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Könntest du ihn laut vorlesen?« bat ich ihn. »Ich habe meine Brille oben gelassen.« Er las ihn mit unbewegter Stimme vor, was aber den Schock dieser Worte nicht minderte. Ich werde den Inhalt des Briefes nicht wiederholen. Die Feststellung genüge, daß er genauso widerwärtig war, wie Gillsworth gesagt hatte: eine nackte, unerträgliche Morddrohung. Mein Vater beendete die Verlesung. Der Klient und ich kehrten zu unseren Plätzen zurück. Schweigend saßen wir da, erschüttert davon, diese verabscheuungswürdigen Worte gehört zu haben. »Mr. Gillsworth«, sagte ich dann, so ernst ich konnte, »ich muß Ihnen in aller Aufrichtigkeit sagen, daß dieser Fall, so sehr ich auch 31
Ihr Vertrauen in mich zu schätzen weiß, meine Kompetenz weit übersteigt. Hier ist eine Ermittlung der hiesigen Polizei, der Ermittler der Post und möglicherweise des FBI erforderlich. Die Aussendung einer Androhung physischer Gewalt durch die Post ist ein Bundesvergehen. Der Brief sollte von Experten analysiert werden: welche Schreibmaschine benutzt wurde, das Papier, das psychologische Profil des Schreibers und so weiter. Es ist möglich, daß andere Einwohner von Palm Beach in jüngerer Zeit ähnliche Briefe erhalten haben. Der Ihre ist vielleicht eine wichtige Spur zu der Person, die dahintersteckt. Ich bitte Sie dringend, damit so schnell wie möglich zu den zuständigen Behörden zu gehen.« Mein Vater sah mich zustimmend an. »Ich bin völlig Archys Meinung«, sagte er zu Gillsworth. »Dies ist ein Fall für die Polizei.« »Nein«, sagte der Dichter steinern. »Unmöglich. Lydia hat das ausdrücklich verboten, und ich kann ihre Wünsche nicht mißachten.« Der Blick, den mein Vater mir jetzt zuwarf, war verzweifelt. Ich wußte, daß er kurz davor war, Gillsworths Bitte um Hilfe abzulehnen, auch wenn das bedeutete, einen Klienten zu verlieren. »Mr. Gillsworth«, sagte ich, wobei ich mich zu ihm vorbeugte, »wären Sie damit einverstanden, folgendes zu tun? Gestatten Sie mir, mich mit Ihrer Frau zu treffen und mit ihr zu sprechen. Lassen Sie mich versuchen, ihr klarzumachen, wie ernst mein Vater und ich diese Drohung nehmen. Vielleicht kann ich sie davon überzeugen, daß es wirklich das Beste wäre, die Behörden um Hilfe zu ersuchen.« Der Dichter starrte mich übertrieben lange an. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, daß es auch nur die Bohne nützt, aber es ist einen Versuch wert.« »Archy kann sehr überzeugend sein«, meinte mein Vater trocken. »Können wir den Brief behalten, Mr. Gillsworth?« Der Poet nickte und erhob sich, um zu gehen. Händeschütteln 32
ringsum. Mein Vater schob den geöffneten Brief vorsichtig in eine neue Dokumentenmappe und überreichte sie mir. Dann begleitete er Roderick Gillsworth zu seinem Wagen hinaus. Ich trug die Mappe in meine Höhle hoch und schaltete die Schreibtischlampe ein. Ich setzte meine Brille auf und las den Brief. Es war wirklich schreckliches Zeug. Aber das war es nicht, was mich fassungslos machte. Ich sah, daß es gutes Briefpapier war, daß der Text auf einem Computer geschrieben worden war und daß er einen gleichmäßigen rechten Rand hatte.
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ch ging an diesem Abend in der Überzeugung zu Bett, daß der Brief an die Willigans und der an die Gillsworths auf derselben Maschine geschrieben worden waren, wenn nicht sogar von demselben Schurken. Aber was das Klauen einer verschrobenen Katze mit einer Morddrohung gegen die Frau eines Dichters zu tun hatte, das wußte ich nicht. Ich erwachte am nächsten Morgen den Kopf voller aberwitziger Gedanken und darauf erpicht, einen Tag der Detektivarbeit zu widmen, wobei ich bedauerte, keine Meerschaumpfeife und keine Jagdmütze zu besitzen. Unglücklicherweise erwachte ich auch eine Stunde zu spät, und als ich schließlich treppabwärts tappte, war mein Vater bereits mit seinem Lexus ins Büro gefahren, und Mutter und Ursi hatten den Ford genommen, um Lebensmittel zu beschaffen. Jamie Olson saß in der Küche und schlürfte einen Becher schwarzen Kaffee. 33
Wir tauschten unsere Morgengrüße, und Jamie, unser Hausmeister und Ursis Gatte, fragte, ob ich ein ›solides‹ Frühstück wolle. Jamie ist ein Siebzigjähriger mit dem Appetit eines Teenagers. Unter ›solidem‹ Frühstück versteht er vier Eier auf Bratkartoffeln, Schweinswürstchen, ein paar Scheiben Roggentoast und einen Viertelliter schwarzen Kaffee mit einem Schuß Aquavit zur Aromaverbesserung. Ich begnügte mich mit einem Glas Orangensaft, einem gebutterten Brötchen und einer Tasse seines Kaffees. »Jamie«, sagte ich, während ich ihm gegenüber am Tisch saß, »kennst du Leon Medallion, den Butler der Willigans?« »Ja.« Unser aus Schweden stammender Hausmeister war so wortkarg, daß Gary Cooper neben ihm wie eine Plaudertasche wirkt. Aber Jamie hatte ein geradezu enzyklopädisches Wissen über lokale Skandale – vergangene, gegenwärtige und solche, die sich wahrscheinlich ereignen würden. Die meisten seiner Informationen bezog er von dem Korps der dienstbaren Geister von Palm Beach, die es genossen, Klatschhäppchen über ihre Brötchengeber auszutauschen. Es war zum Teil eine Entschädigung für langweilige Stunden, die damit verbracht wurden, die Polostiefel des Herrn auf Hochglanz zu wienern oder Myladys Juwelen zu polieren. »Hast du je was Schlechtes über Leon gehört?« fragte ich. »Vielleicht, daß er dazu neigt, ein paar Schekel aus Mrs. Willigans Börse abzuzwacken, oder vielleicht Prozente von ihrem Metzger bekommt?« »Nee.« »Wie ist es mit dem Koch und dem Dienstmädchen? Auch ehrlich?« Jamie nickte. »Ich weiß, daß Harry Willigan manchmal vom rechten Weg abkommt«, fuhr ich fort. »Jeder weiß das. Was ist mit seiner Frau? Schlägt die über die Stränge?« 34
Der Hausmeister stopfte und entzündete langsam seine Pfeife, eine alte, verfärbte Bruyère, deren Holm mit Klebeband umwickelt war. »Vielleicht«, sagte er. »Ich hab' so Andeutungen gehört.« »Schön. Wenn du was Bestimmtes erfährst, sag es mir bitte. Ihre Katze ist geklaut worden.« »Ich weiß.« »Hast du irgendwas über die Gillsworths gehört, den Dichter und seine Frau?« »Sie hat das Geld«, sagte Jamie. »Das weiß ich.« »Und sie ist knauserig. Er kriegt sein Geld zugeteilt.« »Was ist mit ihrer persönlichen Lebensweise? Sucht eines oder suchen beide anderswo Entspannung?« »Hab' nichts gehört.« »Hör dich um, ja?« drängte ich. »Einfach so ganz beiläufig.« »Ja. – Der Miata könnte eine Wäsche gebrauchen. Das Salz muß runter. Werden Sie heute vormittag hier sein?« »Nein, ich muß rumfahren. Aber ich müßte am späten Nachmittag wieder zurück sein. Ich würd's begrüßen, wenn du es dann machen könntest.« »Sicher«, meinte er und nahm mit einem Nicken den Zehner, den ich ihm zugeschoben hatte. Eigentlich hätte ich das nicht tun dürfen, und mein Vater wäre außer sich vor Wut geraten, wenn er das gesehen hätte. Aber Jamie und ich betrachteten das als Trinkgeld für die Information, die er lieferte, nicht als häusliche Routinearbeit. Die Olsons wurden für die Führung des Haushalts der McNallys reichlich bezahlt. Ich fuhr südwärts zu der Hazienda der Willigans. Der Drohbrief, der Lydia Gillsworth zugeschickt worden war, hatte meiner Suche nach den Entführern von Peaches neue Dringlichkeit gegeben. Es schien mir nicht unglaublich, daß die beiden Fälle in einem Zusammenhang standen. Ich hatte erfahren, wie bizarr das Leben war. 35
Auf mein Läuten öffnete Leon Medallion die Tür, und wenn es nicht so früher Vormittag gewesen wäre, hätte ich geschworen, daß der Bursche angedröhnt war. Seine blaßblauen Augen waren trübe, und seine Begrüßung fiel so undeutlich aus, als hätte er einen Becher Feuerwasser gefrühstückt. Er mußte mein Erstaunen bemerkt haben, weil er sagte: »Ich bin nicht betrunken, Mr. McNally. Ich hab' meine Allergien wieder. Ich niese wie ein Weltmeister, und jetzt bin ich mit Antihistaminen vollgepumpt.« »Dann war es also überhaupt nicht die Katze?« »Ich denke nicht«, erwiderte er kläglich. »Aber hier gibt es soviel Schimmelarten und Pollen, daß mein Riechkolben für den Rest meines Lebens lecken wird. Haben Sie Peaches gefunden?« »Noch nicht, Leon. Darum komme ich vorbei – um mit Ihnen und dem Rest des Personals zu sprechen. Ist Mrs. Willigan zu Hause?« »Nee, die ist vor 'ner halben Stunde weggefahren.« »Und Miss Trumble?« »Die schwimmt im Pool ihre Bahnen. Die Frau ist ein richtiger Fisch. Wollen Sie mit uns allen gemeinsam reden?« »Warum nicht?« gab ich zurück. »Hat keinen Sinn, dieselben Fragen dreimal zu wiederholen.« Wir versammelten uns in der großen Küche: Leon, Ruby Jackson, die Haushälterin und Köchin, und das Dienstmädchen Julie Blessington sowie meine Wenigkeit. Ruby war eine kleine ältliche Frau, die zu zerbrechlich wirkte, um Scaloppini klopfen zu können, Julie war jünger, größer und ausgesprochen farblos. Natürlich würde Laverne keinen Dienstbolzen einstellen, der das Öl ihres Gatten entzünden konnte. Ich befragte die drei etwa zwanzig Minuten und fand nichts heraus. An dem Nachmittag, als Peaches verschwunden war, waren nur Julie und Leon im Haus gewesen. Sie schworen, daß die Hintertür 36
der Veranda sicher geschlossen gewesen sei. Es gab keine Löcher in den Wänden, durch die die Katze hätte verschwinden können. Keiner der drei hatte in letzter Zeit Fremde herumlungern sehen. Niemand hatte im Gebüsch gelauert, nichts dergleichen. Und keiner von ihnen hatte auch nur ansatzweise eine Vermutung, wer Peaches entführt haben könnte. Sie bezeugten Harry Willigans geradezu verrückte Liebe zu seinem Schoßtier und gaben durch die Blume zu verstehen, daß sie alle glücklich darüber seien, den Verlust dieser reizbaren Katze ertragen zu dürfen. Das konnte ich verstehen. Ich hatte nicht erwartet, etwas Neues zu erfahren, und so war es auch. Ich dankte ihnen für ihre Mithilfe und wanderte zu dem Rasen hinter dem Haus hinaus. Meg Trumble kraulte im Pool noch immer hin und zurück. Sie trug den glänzenden schwarzen Badeanzug, der wie gemalt aussah. Sie sah mich kommen, hielt kurz inne, um zu winken, und schwamm dann diszipliniert weiter. Ich schob einen Segeltuchsessel in den Schatten und wartete. Nach ungefähr fünf Minuten beendete sie ihr Training. Mir gefiel die Art, wie sie aus dem Pool stieg. Sie benutzte die Leiter nicht. Sie legte einfach die Hände flach auf den gekachelten Beckenrand und stemmte sich mit einem rhythmischen Stoß hinaus, wobei sie ein Bein schwang, um Halt zu finden. Es war eine Freude, das zu sehen. Sie kam über den Rasen zu mir getrottet, ihre Handflächen benutzend, um Wasser aus Haar, Gesicht und von den Armen zu streifen. »Guten Morgen, Archy«, sagte sie lächelnd. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?« »Zum Anbeißen«, sagte ich und starrte sie bewundernd an. Sie war wirklich eine gut gebaute junge Dame. »Hätten Sie Lust, heute mit mir zu Abend zu essen?« »Was?« »Abendessen. Heute. Mit mir.« 37
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie verwirrt. »Ich sollte nicht… Es wäre besser, wenn ich…« Ich wartete geduldig. »Kann ich selbst bezahlen?« fragte sie schließlich. »Nein, Sie dürfen nicht bezahlen. Ich lade Sie zu einem Abendessen mit mir ein. Folglich sind Sie mein Gast.« »In Ordnung«, meinte sie zaghaft. »Was soll ich anziehen?« »Etwas Legeres. Ein Flanell-Muumuu in schwarzbeigem Schottenmuster wäre hübsch.« »Sind Sie verrückt?« fragte sie. »Total«, versicherte ich ihr. »Ich hole Sie gegen sieben ab.« Ich verließ sie eilends, bevor sie es sich anders überlegte. Ich ging in das Haus und den Korridor hinunter, der mit antiken Waffen gesäumt war. Sie veranlaßten mich zu der Vorstellung, daß vielleicht jemand gerade in diesem Augenblick mit einem Krummsäbel auf Peaches losging. Die Notlage dieser Bestie begann mir langsam Sorgen zu machen. Ich ging hinaus, schloß die Eingangstür hinter mir, machte zwei Schritte auf den Miata zu und blieb stehen. Dann machte ich kehrt und läutete wieder. Schließlich tauchte der Butler auf. »Tut mir leid, Sie nochmals behelligen zu müssen, Leon«, sagte ich, »aber gerade fiel mir eine Frage ein, die ich vorhin zu stellen vergessen hatte. Wurde Peaches je zum Veterinär gebracht?« »Gewiß. Einmal im Jahr wegen der Impfungen, aber häufiger, um gebadet zu werden, und wegen der Reinigung ihrer Zähne und Ohren. Und einmal, als sie einen Bandwurm hatte.« »Wie wurde sie transportiert? Habt ihr einen Transportbehälter – eins von diesen Kofferdingen mit Luftlöchern und vielleicht mit Maschendraht an einem Ende?« »Ja, wir haben ein Transportbehältnis.« »Könnte ich mir das bitte mal ansehen?« »Ich werde es holen.« Er ging und ließ mich in der Halle stehen. 38
Ich wartete. Es mußten wenigstens zehn Minuten verstrichen sein, als er schließlich zurückkehrte. Er sah sehr verwirrt aus. »Kann das verdammte Ding nicht finden«, berichtete er. »Es wurde immer im Geräteraum aufbewahrt, aber da ist es jetzt nicht. Wahrscheinlich steht's irgendwo anders herum.« »Ganz bestimmt ist das so«, erwiderte ich, wohl wissend, daß es nicht so war. »Rufen Sie mich an, wenn Sie's finden, ja?« Ich fuhr bürowärts, ohne allzu viel über die Bedeutung des unauffindbaren Katzentransportbehälters nachzudenken, sondern vielmehr darüber, was mich veranlaßt hatte, diese Frage zu stellen. Ich habe häufig im Verlauf einer Ermittlung ganz verrückte Einfälle. Die meisten erweisen sich als Schwachsinn, aber gelegentlich führen sie zu etwas Wichtigem. Ich hatte das unheimliche Gefühl, daß diese spezielle Eingebung sich als Treffer erweisen würde. Mein Büro im McNally-Gebäude hatte die Größe und das Ambiente eines Sarges. Ich vermute, daß mein Vater mich zu dieser Besenkammer verurteilt hat, um den anderen Angestellten zu beweisen, daß es in seiner Firma keine Vetternwirtschaft gab. Aber mir auch nur ein einziges winziges Fenster zuzugestehen wäre doch kaum als Beweis für die Bevorzugung seines Sohnes zu werten gewesen, oder? Alles, was ich hatte, war der Abzugsschacht der Klimaanlage. So war es verständlich, daß ich mich selten in meinem Loch aufhielt und es vorwiegend als Nachrichtensammelstelle benutzte. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich gezwungen war, einen Geschäftsbrief zu schreiben, tippte die Privatsekretärin meines Vaters, Mrs. Trelawney, ihn und lieferte auch die dazugehörige Briefmarke. Die liebe Frau informierte mich auch, wenn mein Gehaltsscheck bereitlag. An diesem Morgen stand in der Mitte meines unberührten Schreibblocks die Nachricht, daß angerufen worden sei und ich Mrs. Lydia Gillsworth anrufen möchte. Ich entzündete und rauchte 39
meine erste Zigarette dieses Tages, während ich überlegte, was ich einer Frau sagen sollte, die eine schreckliche Vorhersage für ihr Ende erhalten hatte. Doch als ich sie anrief, hätte sie kaum liebenswürdiger und unbeschwerter sein können. Sie erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand und dem meiner Eltern. Sie gab ihrem Bedauern darüber Ausdruck, daß sie die McNallys nicht öfter sah. Sie sagte, sie habe eigens für meine Mutter aus Rhode Island eine kleine Wimpernbegonie mitgebracht und werde sie ihr so bald wie möglich zustellen. Ich dankte ihr. »Also, Archy«, fuhr sie fort, »Roderick sagt, Sie wollen mit mir über den albernen Brief sprechen, den ich erhalten habe.« »Bitte, wenn ich darf. Ich glaube wirklich nicht, daß dies auf die leichte Schulter genommen werden sollte.« »Viel Lärm um nichts«, meinte sie entschlossen. »Menschen, die derartige Briefe schreiben, erschöpfen all ihre Feindseligkeit im Schreiben. Sie tun nie etwas.« »Ich würde ja zu gern glauben, daß Sie recht haben, Mrs. Gillsworth«, äußerte ich. »Aber es wird doch gewiß nicht schaden, wenn ich mich ein wenig darum kümmere.« »Rod sagte, Sie meinen, daß die Polizei hinzugezogen werden sollte. Das werde ich nicht zulassen. Ich möchte nicht, daß diese Angelegenheit in der Öffentlichkeit bekannt wird und möglicherweise noch in die Boulevardpresse kommt.« Sie sprach so entschlossen, daß ich wußte, es würde vergebens sein, wenn ich sie bäte, die Behörden um Hilfe zu ersuchen. Aber ich dachte mir, daß ihre Anweisung raffiniert umgangen werden könnte. »Keine Polizei«, stimmte ich zu. »Nur eine private, ganz dezente Ermittlung.« »Also gut. Können Sie heute nachmittag um zwei Uhr kommen?« »Mit Vergnügen. Danke.« »Und ich werde noch mal einen Blick auf die Wimpernbegonie 40
werfen«, fügte sie hinzu. »Wenn sie transportfähig wirkt, können Sie sie für Ihre Mutter mitnehmen.« »Mit Freuden«, bemerkte ich tapfer. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm ich die Schachtel mit den English Ovals aus meiner Jacke, betrachtete sie einen Augenblick und steckte sie ungeöffnet wieder ein. Ich versuchte, mich in Enthaltsamkeit zu üben, und hatte den Punkt erreicht, wo mir der Verzicht auf eine Zigarette fast ebenso viel Befriedigung verschaffte wie eine zu rauchen. Fast – aber nicht ganz. Ich rief Sergeant Al Rogoff im Polizeipräsidium von Palm Beach an. Wir hatten bei mehreren Fällen zusammengearbeitet, gewöhnlich zu beiderseitigem Nutzen. Ich muß gestehen, daß ich zuweilen mehr Nutzen davon hatte als er. Polizeiarbeit kann ebenso langweilig wie gefährlich sein, und Langeweile wie Risiko gehören nicht zu meinen Lieblingszeitvertreiben. »Sergeant Rogoff«, meldete er sich. »Archy McNally«, erwiderte ich. »Wie war der Urlaub?« »Toll. Ich hab' eine Woche vor den Keys Grätenfisch geangelt.« »Lügner. Du hast eine Woche in Manhattan verbracht und warst jeden Abend im Ballett.« »Pst, nicht so laut. Du weißt, welche Witze die Brüder ablassen, wenn sich das herumspricht.« »Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Wie wär's mit einem gemeinsamen Lunch in einer Stunde?« »Abgelehnt«, erwiderte er prompt. »Ich könnt's zwar einrichten, aber ich werde nicht kommen.« »Al!« sagte ich schockiert. »Seit wann lehnst du ein anständiges Mittagessen ab? Ich werde die Rechnung bezahlen.« »Du wirst die Rechnung fürs Essen bezahlen«, entgegnete er, »aber jedes Mal, wenn ich mit dir essen war, zahle ich am Ende 'ne Menge mehr – beispielsweise mehr Arbeit, mehr Streß, mehr Kopfschmerzen. Nein, danke. Lös du deine Probleme selber.« 41
»Ich habe keine Probleme«, protestierte ich. »Ich arbeite an keinem Fall. Ich hatte mich nur auf ein freundschaftliches Zusammensein gefreut.« »Aber gewiß doch«, meinte er. »Ich weiß die Einladung zu schätzen, aber ich passe.« »Na schön, aber würdest du mir dann bitte wenigstens eine kleine Frage beantworten?« »Spuck's aus, dann sag' ich's dir.« »Hat das Präsidium in jüngster Zeit Klagen von Leuten bekommen, die Erpresserbriefe erhalten? Bösartiges Zeug. Morddrohungen.« »Ich hab's gewußt!« rief Al. »Ich wußte, daß du mir nie ein Essen spendierst, ohne daß ich in eine deiner beknackten Ermittlungen reingezogen werde. Wer hat den Brief bekommen?« »Das kann ich dir nicht erzählen. Der Klient will Verschwiegenheit. Und ich versuche nicht, dich reinzuziehen. Ich will einfach nur wissen, ob das Teil einer größeren Geschichte in der Gegend ist.« »Meines Wissens nicht. Ich werde aber herumfragen.« »Al, die Irren, die solchen Unrat verschicken – machen die je ihre Drohungen wahr?« »Manchmal tun sie's, und manchmal tun sie's nicht.« »Vielen Dank. Das ist eine große Hilfe.« »Wir sind stets zu Diensten«, sagte er und erwiderte dann mürrisch: »Halt mich in der Sache auf dem Laufenden, Archy. Mir gefällt das nicht.« »Mir auch nicht.« Wir legten auf. Ich fuhr zum Mittagessen nach Hause und dachte dabei, daß Al recht hatte. Früher oder später würde ich ihn reinziehen müssen. Bei den Briefen, die Willigan und Gillsworth bekommen hatten, brauchte ich professionelle Hilfe: Analyse des Papiers und des ver42
wendeten Druckers, vielleicht ein psychologisches Profil des Schreibers. Ich lachte laut bei dem Gedanken, wie Als Reaktion sein würde, wenn er erfuhr, daß ich seine Hilfe wollte, um eine entführte Katze zurückzubekommen. Meine Mutter war zu dem monatlichen Treffen ihres Gärtnerclubs gefahren. So aß ich mit Ursi und Jamie Olson in der Küche zu Mittag. Wir vertilgten eine große Platte kalten Aufschnitt, eine Schüssel mit deutschem Kartoffelsalat und dazu das wunderbare gesäuerte Roggenbrot, das Ursi einmal die Woche backt. Wir machten uns Sandwiches mit scharfem Senf darauf und tranken dazu kaltes St.-Pauli-Girl-Bier, um das Feuer zu löschen. Das war alles so befriedigend, daß ich in mein Reich hinaufging, um ein kurzes Nickerchen zu halten. Ich hatte einen verrückten Traum, in dem Peaches einen Pyjama mit Sträflingsstreifen trug. Dann verwandelte sich der Pyjama in einen engen schwarzen Badeanzug. Ich erwachte pünktlich, um mich frisch zu machen, rauchte eine Zigarette (Nummer 2) und stieg in den frisch gewaschenen Miata, um zum Haus der Gillsworths zu fahren. Ich freute mich auf meine Unterhaltung mit Lydia, die eine prächtige Frau war. Sie war etwa zehn Jahre jünger als ihre Ehemann, womit sie ungefähr mein Alter haben mußte, und einzigartig. Sie hatte einen so extremen Überbiß, daß ich einmal die gemeine Bemerkung hörte, sie sei die einzige Frau in Palm Beach, die einen Maiskolben durch einen Palisadenzaun essen könne. Doch als Kompensierung dieser Anatomie hatte sie die wundervollsten Augen im ganzen Bezirk. Es waren sogenannte Schlafzimmeraugen: riesig, tiefliegend und leuchtend. ›Umwerfend‹ ist das richtige Wort. Es war fast unmöglich, den Blick von ihnen abzuwenden. Sie hatte ferner die seltene Fähigkeit, einen glauben zu machen, sie halte einen für das faszinierendste Geschöpf auf Gottes grüner Erde. Sie hörte aufmerksam zu, sie stellte Fragen, drückte ihr Mit43
gefühl aus und bot Trost, wenn es nötig war. Ich wußte, daß die Gillsworths kein im Haus wohnendes Personal hatten, sondern eine haitianische Haushälterin beschäftigten, die dreimal die Woche dort arbeitete. Deshalb war ich nicht überrascht, als auf mein Klopfen die Dame des Hauses persönlich die Tür öffnete. Sie zog mich mit einer halben Umarmung hinein und küßte mich auf die Wange. »Kommen Sie, wir gehen auf die Terrasse. Es ist ein prächtiger Tag.« Sie ging durch das Haus voran. Es war im französischen Stil eingerichtet: alles hell, luftig, in gedämpften Farben. Frische Blumen standen im Überfluß herum, und die hohen Räume schienen im Licht der Nachmittagssonne zu schweben. Deckenventilatoren blähten hauchdünne Vorhänge, und auf dem auf Hochglanz gewachsten Parkettboden, auf dem keine Teppiche lagen, spiegelten sich die Bilder, die an den weißgetünchten Wänden hingen. Die Terrasse war klein, aber edel. Sie lag nach Westen, wurde jedoch durch eine gestreifte Markise vor dem grellen Licht der Sonne geschützt. Wir saßen an einem Tisch mit Glasplatte und tranken eisgekühlte rosa Limonade aus Gläsern, in die Rebenmotive eingraviert waren. Sie vergeudete keine Zeit mit höflichen Floskeln. »Archy«, sagte sie, »ich wünschte, Roderick hätte sich wegen dieses Briefes nicht an Ihren Vater und Sie gewandt. Es ist so beschämend.« »Beschämend? Mrs. Gillsworth, ohne eigenes Verschulden haben Sie eine sehr widerwärtige Nachricht erhalten. Ich könnte verstehen, wenn Sie besorgt wären. Aber warum sollten Sie beschämt sein?« »Weil ich so ein Tütelü zu verursachen scheine. Ist das nicht ein süßes Wort? Ich wollte es schon immer mal benutzen. Der Brief macht mir nicht zu schaffen. Das ist so ein dummes Ding. Aber ich bin aufgebracht über die Unruhe, die er verursacht. Der arme Rod war außerstande, auch nur eine Zeile zu schreiben, seit er ge44
kommen ist, und jetzt müssen Sie auch noch versuchen, den Schreiber zu finden. Und dabei bin ich mir ganz sicher, daß es Dutzende anderer, wichtigerer Dinge gibt, die Sie lieber täten. Darum bin ich so beschämt – weil ich so viel Ärger verursache.« »Erstens«, erwiderte ich, »muß ich nicht. Das mache ich freiwillig. Zweitens: Es gibt nichts, was ich lieber täte, als dieser Sache auf den Grund zu kommen. Drittens: Ihr Wohlergehen ist Ihrem Gatten und McNally und Sohn wichtig. Keiner von uns nimmt die Angelegenheit auf die leichte Schulter. Um für meinen Vater und mich zu sprechen: Wir würden unsere Pflicht vernachlässigen, wenn wir nicht jede nur mögliche Anstrengung unternähmen, den Absender zu identifizieren. Und nur Sie können uns dabei helfen.« »Ich wüßte nicht, wie ich das könnte, Archy«, sagte sie, während sie uns Limonade nachschenkte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer mich ermorden will.« »Sind Sie jemals persönlich bedroht worden?« »Nein.« »Haben Sie in letzter Zeit mit jemand Streit gehabt?« »Nein.« »Gibt es irgendwelche Ereignisse in der Vergangenheit? Fällt Ihnen jemand ein, der einen Groll gegen Sie hegen könnte, auch wenn das schon Jahre zurückliegt?« »Nein.« »Haben Sie, wenn auch unbeabsichtigt, jemand Anlaß gegeben zu glauben, er oder sie sei durch Sie verletzt, gekränkt, beleidigt oder gar herabgesetzt worden?« »Nein.« Ich seufzte. »Mrs. Gillsworth, der Verfasser dieses abscheulichen Papiers spielt offensichtlich nicht mit offenen Karten. Bitte denken Sie scharf nach. Gibt es jemand unter Ihren Freunden oder Bekannten, von dem Sie gelegentlich oder oft den Eindruck gewonnen haben, er sei gefühlsmäßig oder geistig nicht ganz gesund?« 45
Sie blieb einen Augenblick stumm, und ich hoffte, sie werde meiner Bitte, scharf nachzudenken, Folge leisten. »Nein«, sagte sie schließlich, »ich wüßte niemand, der so ist.« »Wie steht es mit der Möglichkeit, daß es ein Ihnen Unbekannter sein könnte? Ein Verkäufer in einem Geschäft zum Beispiel. Ein Parkwächter. Ein Kellner. Haben Sie Probleme mit Menschen im öffentlichen Dienst gehabt? Irgendwelche Meinungsverschiedenheiten, gleich, wie banal? Beschwerden, die Sie eingelegt haben?« »Nein, ich kann mich an nichts Derartiges erinnern.« Ich konnte nicht glauben, daß diese Frau vorsätzlich log, aber ihr Leugnen jeder Auseinandersetzung, gleich ob mit einem Verkäufer, Kellner oder Bürokraten, fiel mir schwer zu glauben. Da die Welt so ist, wie sie ist, haben wir alle zuweilen Streitigkeiten mit denen, die dafür bezahlt werden, daß sie uns dienen. Ich bin ein friedfertiger Knabe, aber sogar ich habe zuweilen eine scharfe Tonart anschlagen müssen, was sogar soweit führte, daß ich unanständige Worte wie »Pfui!« oder »Na, na!« in den Mund genommen habe. Ich trank meine Limonade aus. Sie war etwas zu süß für meinen Geschmack. Lydia versuchte, mein Glas wieder zu füllen, doch ich schüttelte den Kopf und hielt meine Hand über das Glas. »Köstlich«, sagte ich zu ihr, »aber ich führe einen aussichtslosen Kampf gegen Kalorien. Mrs. Gillsworth, kennen Sie jemand, der Sie beneidet?« Sie war verblüfft und sah mich dann mit einem schiefen Lächeln an. »Das ist aber eine seltsame Frage, die Sie da stellen.« »Gar nicht so seltsam. Sie sind eine attraktive Frau. Jeder in Palm Beach weiß, daß Sie wohlhabend, wenn nicht sogar reich sind. Sie sind mit einem intelligenten, kreativen Mann glücklich verheiratet. Ihr Leben scheint ruhig und sorgenfrei zu sein. Sie haben ein wunderschönes Heim, und Sie kleiden sich elegant. Mir scheint, daß es viele Gründe gibt, warum man Sie beneiden könnte, so sehr, daß es krankhaft sein könnte.« 46
Das brachte sie aus der Fassung, und sie zeigte ihre Beunruhigung dadurch, daß sie plötzlich aufstand, um die Markise über der Terrasse tiefer herabzulassen, damit wir im Schatten saßen. »Wissen Sie, Archy«, antwortete sie stirnrunzelnd, »mir ist nie der Gedanke gekommen, daß ich beneidet werden könnte. Aber wenn Sie die Segnungen, die ich genieße, so aufzählen, kann ich verstehen, warum es sein könnte. Doch ich versichere Ihnen, daß ich nie jemand habe etwas sagen hören, was als Neid ausgelegt werden könnte. Oh, ich habe Komplimente wegen meiner Kleidung oder zu dem Haus bekommen, aber das waren ganz konventionelle gesellschaftliche Bemerkungen. Nichts, was auch nur eine Andeutung hätte sein können, daß der Sprecher krankhaft eifersüchtig ist.« Darauf saßen wir schweigend da. Durch all ihre negativen Antworten auf meine Fragen war ich entmutigt. Sie hatte mir nichts gegeben, nicht einen Hinweis, nicht einmal den Hauch einer Spur, die meine diskreten Ermittlungen in eine konkrete Richtung führen konnten. Sie bemerkte meine Stimmung, beugte sich vor und legte eine Hand leicht auf meinen Arm. »Es tut mir leid, Archy«, sagte sie weich. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann. Ich glaube wirklich, Sie sollten die Sache sein lassen.« »Nein«, widersprach ich. »Das will ich nicht. Der Brief, den Sie erhalten haben, erschreckt mich, und ich muß weitermachen.« Sie schenkte mir ein Lächeln, das mich überraschte. Es war ein amüsiertes Lächeln, als ob sie meine Besorgnis schätzte, aber meine Entschlossenheit für übertrieben und ungerechtfertigt hielt. »Lassen Sie mich versuchen zu erklären, wie ich fühle«, sagte sie, »und Ihnen den Grund nennen, warum dieser Brief mich nicht entsetzt. Ich weiß nicht, ob mein Mann mit Ihnen über meinen Glauben gesprochen hat oder nicht, aber ich glaube fest, daß ein Leben nichts weiter als eine Form der Existenz ist und das, was wir Tod nennen, eine andere. Ich glaube, daß wir, wenn wir sterben, in eine andere 47
Welt gehen, die ebenso belebt ist wie diese, aber viel wundervoller, da sie von all denen bewohnt wird, die vor uns gegangen sind. Die Seele stirbt niemals. Niemals! So ist körperliche Existenz nur ein vorübergehender Zustand. Wenn wir diese aufgeben, ob freiwillig oder nicht, gelangen wir auf eine höhere spirituelle Ebene, so wie ein Schmetterling aus einem Kokon schlüpft. Ich versuche nicht, Sie zu bekehren, Archy, das tue ich wirklich nicht! Ich versuche nur zu erklären, warum der Tod keinen Schrecken für mich birgt.« Ich verzichtete darauf, sie daran zu erinnern, daß der Tod, der ihr in dem Drohbrief angekündigt worden war, Folter und Qualen für sie bedeutete. Ihr Übergang auf eine höhere spirituelle Ebene würde nicht friedlich sein. Aber ich war neugierig. »Sagen Sie, Mrs. Gillsworth, gibt es nach Ihrer Meinung viele Menschen, die Ihren Glauben teilen?« Sie lachte. »Mehr als Sie denken, das versichere ich Ihnen. Ich bezeichne sie als ›verwandte Seelen‹. Das ist ein hübscher, altmodischer Begriff, nicht wahr? O ja, es gibt viele, die so fühlen wie ich, gerade hier in Palm Beach. Das ist wirklich so. Einige von uns treffen einander häufig, um über außerkörperliche Erfahrungen zu sprechen, und versuchen, mit denen zu kommunizieren, die bereits hinübergegangen sind.« Ich wurde so aufmerksam wie ein Jagdhund auf der Pirsch. »Ach?« sagte ich, so beiläufig ich konnte. »Diese Versammlungen – das ist so etwas wie ein Club, ja? Man trifft sich in den Häusern der Mitglieder?« »Das nicht«, sagte sie, spürbar erfreut über mein Interesse. »Die Versammlungen werden von unserer Beraterin organisiert und finden in ihrem Heim statt. Mrs. Gloriana ist eine wundervolle Frau. So sensitiv.« »Das ist faszinierend. Ist sie ein Medium? Eine Seherin?« »Keine Seherin«, widersprach Lydia entschieden. »Hertha versucht nicht, die Zukunft oder Ihr Schicksal vorherzusagen. Aber ich den48
ke, man kann sie als Medium bezeichnen. Wir ziehen es allerdings vor, sie als einen Kanal anzusehen. Das ist unser Kommunikationsweg zu dem großen Danach.« Sie sprach so einfach und ernsthaft, daß ich keine Neigung verspürte zu kichern. Ich selbst bin so etwas wie ein Ungläubiger, aber ich verachte Glauben niemals. »Und das ist Mrs. Glorianas Beruf?« fragte ich. »Ich meine, sie verdient damit ihr Geld?« »O ja. Aber kommen Sie nicht auf die Idee, daß es ein Schwindel sei! Hertha ist konzessioniert und angemeldet.« »Aber sie nimmt etwas für ihre Dienste?« »Natürlich tut sie das. Und warum sollte sie das auch nicht, wo ihre Talente doch so groß sind? Aber ihre Honorare sind angemessen, und sie nimmt Kreditkarten an.« »Und diese Treffen – sind die so etwas wie Seancen?« »Nun«, meinte sie zögernd, »in gewisser Hinsicht. Aber es gibt kein Tischrücken, keine im Raum schwebenden Protoplasmatropfen oder unheimliche Geräusche. Keinen derartigen Unsinn. Wir treffen uns in einem hellerleuchteten Raum, sitzen im Kreis um einen Tisch und halten uns an den Händen. Um unsere psychische Kraft zu verstärken, wissen Sie. Dann versucht Hertha mit der anderen Welt zu kommunizieren. Ihr Kontaktmann ist ein Mayaschamane, der vor Hunderten von Jahren hinübergegangen ist. Er heißt Xatyl. Durch ihn versucht Hertha Leute zu erreichen, denen ihre Klienten Fragen stellen wollen. Manchmal sind es berühmte Persönlichkeiten, meistens aber sind es Verwandte. Ich habe viele Male mit meiner Urgroßmutter gesprochen.« »Und die Kommunikation mit den, äh, Verstorbenen findet durch Xatyl via Mrs. Gloriana statt?« »Nicht immer«, sagte Lydia scharf. »Der Kontakt schlägt ebenso oft fehl, wie er gelingt. Manchmal ist die hinübergegangene Person, mit der gesprochen werden soll, nicht erreichbar, oder das Kommunikationsband ist zu schwach, als daß es zu Ergebnissen 49
käme, weil unsere vereinte psychische Kraft an diesem bestimmten Abend einfach nicht so stark ist, daß Lydia Xatyl erreichen kann.« »Unglaublich«, bemerkte ich kopfschüttelnd, »und wirklich hinreißend. Hält Mrs. Gloriana auch private, äh, Beratungen ab?« »Natürlich. Aber sie wird Sie warnen, denn die Chancen eines erfolgreichen Kontaktes sind für einen einzelnen geringer als für eine Gruppe. Weil die psychische Kraft gewöhnlich nicht ausreicht, wissen Sie. Eine Versammlung von Gläubigen mit verketteten Händen erzeugt mehr Energie als eine Person.« Das erschien mir einleuchtend. Wenn man das originelle Gebäude akzeptierte, klang es sogar logisch. »Verraten Sie mir noch etwas, Mrs. Gillsworth«, bat ich, »und das ist bloß reine Neugier meinerseits. Hat Ihr Gatte je diese Treffen bei Mrs. Gloriana besucht?« »Oh, Rod kam drei- oder viermal mit«, antwortete sie leichthin, »aber dann entzog er sich uns. Er hat sich nie darüber lustig gemacht, verstehen Sie, aber er hat das Ganze nie rückhaltlos akzeptiert. Rods Interessen sind mehr intellektueller denn spiritueller Art. Und er fühlt sich in Gruppen nicht wohl. Er braucht Einsamkeit, um kreativ zu sein.« »Das kann ich verstehen. Er hat seine Arbeit zu tun, und es ist zudem eine sehr wichtige Arbeit.« Ich erhob mich. »Mrs. Gillsworth, ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft und die Zeit, die Sie für mich geopfert haben.« »Beabsichtigen Sie, Ihre Ermittlungen fortzusetzen?« Ich nickte. »Ich kann Ihnen keinen Erfolg versprechen, aber ich muß es versuchen.« »Ich war keine große Hilfe, nicht wahr?« »Ich bin sicher, Sie haben mir alle Informationen gegeben, die Sie mir geben konnten.« »Und Sie versprechen, sich wegen dieser lächerlichen Sache nicht an die Polizei zu wenden? Es ist wirklich bedeutungslos.« Ich erwiderte darauf nichts. 50
Sie führte mich durch das Haus zurück, blieb dann plötzlich stehen und legte eine Hand auf meinen Arm. »Warten Sie einen Augenblick, Archy. Ich muß Ihnen etwas zeigen, das ich aus Rhode Island für Rods Sammlung mitgebracht habe. Ich hab's in einem Krämerladen in der Nähe von Woonsocket gefunden.« So wie Harry Willigan antike Schraubenzieher sammelte, sammelte Roderick Gillsworth antike Spazierstöcke. Tatsächlich war Sammeln eine absolute Manie in Palm Beach, und je absurder die Sammelstücke waren, desto heftiger die Leidenschaft. Ich kannte Leute, die gläserne Aspirinflaschen, Zuckerwürfelpapier, Dietriche und Armbanduhrenzifferblätter anhäuften. Ich selbst hatte mich dem Wahnsinn hingegeben und kaufte jedes kristallene Schnapsglas, dessen ich habhaft werden konnte. Ich hatte Gillsworths Sammlung schon einmal gesehen, und er hatte Prachtexemplare darunter: Schwertstöcke, einen, in dem ein Dolch versteckt war, einen, der einen Viertelliter Whisky aufnahm, und einen, der, wenn man durch ein kleines Loch im Griff spähte, das winzige Foto einer üppigen Maid preisgab, die nichts trug außer langen schwarzen Strümpfen und einem gezierten Lächeln. Der Stock, den Lydia ihrem Mann aus Rhode Island mitgebracht hatte, war ein polierter, spitz zulaufender Eschenstock, der von einem schweren silbernen Kopf in Gestalt eines Einhorns gekrönt wurde. Es war ein wirklich eindrucksvolles Stück, wahrscheinlich an die zweihundert Jahre alt, und ich hätte zu gerne gewußt, was es gekostet hatte, aber ich fragte natürlich nicht. Ich machte Lydia ein Kompliment zu ihrer Erwerbung und dankte ihr nochmals für die Limonade. Aber so leicht sollte ich ihr nicht entkommen. Sie brachte mir die Wimpernbegonie, die sie meiner Mutter zugedacht hatte. Ich bedankte mich nochmals bei Lydia, schleppte das Ding zu dem Miata, fuhr langsam heim und dachte über alles nach, was ich soeben erfahren hatte. Mutter war noch immer abwesend, als ich zu Hause ankam. So 51
ließ ich die monströse Pflanze auf ihrer Arbeitsbank im Gewächshaus stehen. Vor der familiären Cocktailstunde blieb mir noch viel Zeit für mein Bad im Ozean. Während ich so durch die dunkle See schwamm, hatte ich eine Idee, die absolut schwachsinnig war. Was, wenn Lydia den Drohbrief selbst geschrieben und an sich geschickt hatte? Mir fielen mehrere mögliche Motive ein. Erstens: Sie wünschte sich, das Mitgefühl von Freunden zu gewinnen. Zweitens: Sie wollte Aufmerksamkeit von ihrem Mann, der offensichtlich seine Zeit vorwiegend damit verbrachte, sich von seiner Muse küssen zu lassen. Drittens: Sie sehnte sich nach ein wenig Dramatik in ihrem Leben, das hoffnungslos eintönig geworden war. Viertens: Sie selbst war nicht ganz dicht und folgte jetzt irrationalen Impulsen. Einiges sprach dafür, Lydia als Täterin zu verdächtigen, doch kam ich davon ab, als ich mich des identisch gedruckten Erpresserbriefes erinnerte, der den Willigans zugegangen war. Ich bezweifelte, daß Lydia die Willigans überhaupt kannte, und es war absurd zu glauben, sie habe sich des Diebstahls von deren Katze schuldig gemacht. Ich duschte und kleidete mich für mein Rendezvous mit Meg Trumble an. Ich trug total schwarz: Rohseidenjacke, Denimjeans, Rollkragenpullover, Socken und Schuhe. Mein Vater warf mir einen Blick zu, hob eine Braue und kommentierte: »Du siehst wie ein Schatten aus.« Wir nippten unsere Martinis, und Mutter erzählte uns, wie begeistert sie von Lydias Geschenk sei. Mein Vater fragte beiläufig, ob ich irgendwelche Fortschritte im Fall Gillsworth gemacht hätte, und ich sagte, nein, hätte ich nicht. »Und die vermißte Katze von Willigan?« fügte er hinzu. »Negativ«, sagte ich und war versucht, ihm zu erzählen, daß ich von einem Zusammenhang der beiden Fälle überzeugt sei. Doch das tat ich nicht, weil ich befürchtete, er werde mich für unzurech52
nungsfähig erklären. Wir leerten unsere Gläser, und meine Eltern gingen nach unten zum Essen. Ich ging zu meinem Miata und blieb so lange sitzen, bis ich meine dritte English Oval an diesem Tag geraucht hatte, wohl wissend, daß ich in Meg Trumbles Gesellschaft auf Nikotin zu verzichten hatte. Dann fuhr ich zum Haus der Willigans und überlegte, wohin ich Meg zum Essen entführen könnte. Es mußte ein so weit entferntes Restaurant sein, daß meine dortige Anwesenheit in Begleitung einer anderen Frau der Aufmerksamkeit von Consuela Garcias Informantenbataillon entging. Am Ende beschloß ich, nach Fort Lauderdale zu fahren.
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ch hatte Meg vorgeschlagen, sich leger zu kleiden, und das tat sie: blauseidene Bermudashorts, ein hautenges Top in der Farbe von Gischt und eine Jacke in gedämpftem Hirtenkaro, die sie wie einen Umhang um ihre Schultern gelegt hatte. »Umwerfend«, sagte ich zu ihr. »Haben Sie je Modell gestanden?« »Ich hab's einmal versucht«, entgegnete sie, »aber ich bin nicht sehr fotogen. Ich wirke sehr eckig, ja kantig. Der Fotograf sagte, ich sähe aus wie ein Stapel Schieferplatten.« »Dämlicher Fotograf«, knurrte ich. Ich hielt mich südwärts, und sie fragte, wohin wir führen. Ich erzählte ihr, daß ich ein gutes Restaurant in Fort Lauderdale kannte, und fragte, ob es sie störe, daß wir etwa eine Stunde fahren müß53
ten. »Das ist mir völlig egal«, meinte sie. »Ich bin so froh, daß ich aus dem Haus komme.« »Probleme?« »Mein Schwager. Ich kann die Art nicht ertragen, wie er Laverne behandelt. Der Mann ist wirklich ein widerlicher Bursche. Ich weiß nicht, wie meine Schwester es bei ihm aushält.« »Vielleicht liebt sie ihn.« Meg lachte. »Laverne liebt die Annehmlichkeiten, die es mit sich bringt, Mrs. Harry Willigan zu sein. Aber sie bezahlt dafür gebührend. Ich würde das nie tun. Wenn ein Mann mich so anbrüllte, wie Harry es tut, würde ich ihm eine scheuern.« »Das werde ich mir merken.« »Sollten Sie auch besser.« Ich hatte gehofft, es werde eine klare Nacht, die Luft wie Kristall und der Himmel glitzernd. Aber es sollte nicht sein. Dieser dunkle Ozean hätte mich warnen sollen. Draußen brauten sich Böen zusammen, und die Wolkendecke wurde zunehmend dichter. »Ich glaube, es wird regnen«, sagte Meg. Ihre Vorhersage war akkurat. Als wir Deerfield Beach erreichten, spritzten die ersten Regentropfen. »Wir können anhalten und das Dach draufsetzen«, schlug ich Meg vor, »und dann weiter nach Lauderdale fahren. Oder wir können uns überraschen lassen und halten beim ersten Restaurant, das wir sehen. Was darf's sein?« »Ihre Entscheidung.« So fuhren wir im offenen Miata weiter, und der Regen wurde stärker. Dann entdeckte ich bei Lighthouse Point ein mexikanisches Restaurant. »Gute Wahl«, sagte Meg. »Ich liebe Chili.« Eine wundervolle Frau! Nicht die leiseste Klage darüber, daß ihre Jacke halb durchnäßt war und ihr kurzes Haar an ihrem Schädel 54
klebte. Wir gingen lachend in das Restaurant. Es war gefüllt, was ich als gutes Omen wertete. Es gab keinen Oberkellner, der seinen Bückling machte und uns an einen Tisch führte. Deshalb beschlagnahmten wir die einzige freie Nische und rutschten hinein. Papierservietten waren in einen stählernen Serviettenspender geklemmt, und die Bestecke sahen aus wie Restbestände der Armee. Doch die Gläser waren sauber, und dazu stand eine Schale mit eingelegten Tomaten und Pilzen auf dem Tisch, dazu Tortilla-Chips, alles für umsonst, bis wir unsere Bestellung aufgegeben hatten. Die Speisekarte, mit Klebeband an die Wand geheftet, war der Wirklichkeit gewordene Traum jedes guten Essers. Die Vorspeisen und Gerichte waren in rhapsodischer Prosa beschrieben, die die Speicheldrüsen in freudige Erwartung versetzte. Wir studierten das Angebot mit kleinen Seufzern des Entzückens. Der untersetzte Kellner, der kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, hatte eine lange weiße Schürze unter seine Achselhöhlen gebunden. »Die Spezialität des heutigen Abends«, verkündete er stolz, »ist Schweinelende, flambiert in roter Sirupsauce, und als Beilage schwarze Bohnen in einer Tortilla mit gebratener Tomatenchilisauce. Sehr gut.« »Mild?« fragte ich ihn. »Sind Sie verrückt?« erwiderte er. Aber wir verzichteten auf die Spezialität. Meg bestellte als Vorspeise ein Chili. Ihr Hauptgericht war eine Fischplatte in einer scharfen kreolischen Sauce und mit nach Knoblauch riechendem Reis. Ich entschied mich für gebackene Froschschenkel mit Pfeffersauce als Vorspeise und nahm als Hauptgericht ein gegrilltes, mariniertes Steak, mit Jack Daniels flambiert und serviert mit sautierten Pfefferschoten und Zwiebeln. Meg bat um eine Diät-Cola, und ich bestellte ein Bier. 55
Ich will gar nicht erst versuchen, den Verzehr dieses Mahles zu beschreiben. Er war von Keuchen, dem Abwischen der Stirn mit Papierservietten und dem häufigen Schlucken von Diät-Cola und Bier begleitet. Mein Magen begann zu glühen. »Gute Nachrichten«, sagte Meg, während sie an ihrem Chili arbeitete. »Ich habe eine Wohnung gefunden. Ich habe schon die Schlüssel. Morgen ziehe ich ein.« »Wundervoll! Wo?« »Riviera Beach. Es ist nur eine kleine Wohnung, und ich habe sie nur bis Oktober. Aber die Miete außerhalb der Saison ist angemessen. Ich werde nach Pennsylvania fliegen, Kleider und Sachen einpacken und dann mit meinem Toyota herfahren. Jetzt muß ich endlich nicht mehr bei meiner Schwester nassauern.« »Und Sie sind von Harry weg«, fügte ich hinzu. »Das ist das Beste daran. Ich werde Laverne natürlich noch sehen. Aber nicht in diesem Haus.« Wir sprachen über ihre Hoffnung, private Trainerin für Einwohner von Palm Beach zu werden, die ewige Jugend durch Diät und Gymnastik zu erlangen trachteten. Ich wollte ihr eine Liste von Freunden und Bekannten geben, die potentielle Klienten sein konnten. »Das wäre eine große Hilfe, Archy«, sagte sie dankbar. »Laverne hat mir bereits einige Namen genannt, aber ich brauche mehr. Wie steht's mit Ihnen?« Ich lachte. »Ich versuche, täglich zu schwimmen, wie ich Ihnen bereits erzählt habe, und ich spiele gelegentlich Tennis und Golf. Regelmäßiges Training ist nicht meine Sache. Zu träge, vermute ich. Meg, ich bin überrascht, daß Sie bereit sind, Männer als Klienten zu nehmen. Ich dachte, Sie würden Ihre Bemühungen darauf beschränken, weiblichen Speck zu vermindern.« »O nein«, sagte sie. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Männer zu trainieren. Tatsache ist, daß Harry Willigan sich freiwillig bereit er56
klärt hat, mein erster Kunde zu sein. Aber er ist nicht daran interessiert, seine Gesundheit und seine Fitneß zu verbessern.« »Nein? Woran ist er denn interessiert?« Ich wußte die Antwort darauf, und sie fiel so aus, wie ich erwartet hatte. »An mir«, meinte Meg. Unsere Hauptgerichte kamen, und wir stürzten uns darauf. »Ich hoffe, Ihre Schwester merkt nichts von den Interessen ihres Mannes«, sagte ich. »Natürlich merkt sie das. Sie vertraut mir, aber insgeheim wird sie wahrscheinlich erleichtert sein, mich aus dem Haus zu haben.« Das amüsierte mich. »Wenn zwischen Ihnen und Harry etwas liefe, wäre das ja nicht damit zu Ende, daß Sie ausziehen. Es würde die Sache sogar erleichtern.« »Nun, da läuft aber nichts«, erwiderte sie verärgert, »und es wird auch nie so sein. Ich habe Ihnen ja gesagt, was ich von dem Mann halte.« »Ich teile Ihre Meinung«, versicherte ich ihr. »Er kann grimmig sein. Es ist erstaunlich, daß Laverne sich ihn gefallen läßt.« »Oh, sie ignoriert ihn, so gut sie kann. Und sie hat andere Interessen. Sie nimmt zum Beispiel Tennisunterricht. Und sie ist sehr aktiv in hiesigen Clubs. Sie hat an zwei oder drei Abenden die Woche Treffen. Das hilft – nur, um von diesem Schwachkopf wegzukommen. Aber genug von Laverne und Harry. Wie kommen Sie mit der Suche nach Peaches weiter?« »Überhaupt kein Fortschritt, abgesehen von einer Eigentümlichkeit, mit der ich mich eingehender befassen muß.« Ich dachte, es würde nicht schaden, ihr von dem unauffindbaren Katzentransportbehälter zu erzählen. Es würde sie überraschen, und sie würde sofort vermuten, was ich bereits annahm: Jemand aus dem Haushalt der Willigans hatte Peaches in den Behälter gesteckt und sie wegbefördert. Doch Meg hielt den Kopf gesenkt, stocherte auf der Suche nach 57
Krabben in ihrem Jambalaya und sagte nur: »Oh, ich bin sicher, daß er irgendwo im Haus auftauchen wird.« Wir beendeten unser Abendessen mit Limonensorbet. Ich bezahlte die Rechnung, und wir gingen zu dem Miata hinaus. Ich nahm eine Handvoll Papierservietten mit und wischte die Sitze einigermaßen trocken. Der Regen hatte aufgehört, die Nachtluft war frisch, und es gab sogar ein paar Sterne, die hinter den ziehenden Wolken hervorlugten. »Leckeres Essen«, sagte Meg. »Vielen Dank. Ich habe es wirklich genossen.« Die Heimfahrt war eine Freude. Wir sangen mehrere Songs neueren Datums. Meg hatte eine kehlige Altstimme, und ich fand, wir harmonierten wunderbar. Dann begann sie ihre neue Wohnung zu beschreiben. Plötzlich hielt sie inne. »Archy, möchten Sie sie gerne sehen? Es ist doch noch nicht zu spät, oder?« »Es ist überhaupt nicht spät, und ich würde sie gern sehen.« Es dauerte eine gute Stunde nach Riviera Beach, aber das Wetter wurde während der Fahrt besser. Eine salzige Brise wehte, die Palmwedel rauschten, und die See lieferte mit ihrer flüsternden Brandung einen angenehmen Hintergrund. Es wurde doch noch die reine, klare Nacht, die ich erhofft hatte. Ich wünschte, ich hätte das Gleiche von meinen Gedanken sagen können. Meg hatte ihre eigene Bude. Das war herausfordernd. Noch anregender war die Tatsache, daß sie in Riviera Beach lag, so weit von Connie Garcias Spionagering entfernt, wie ich mir nur wünschen konnte. Mein Glück schien anzudauern, und ich beschloß, es nicht zu verscherzen. Glück ist doch wirklich ein kostbares Gut, oder? Besonders in Gesellschaft einer jungen Frau, deren Schlüsselbeine mich vor Verlangen wahnsinnig machten. Ich log mutig und sagte Meg, wie reizend ich ihre Wohnung fände. In Wahrheit fand ich sie absolut uncharmant. Sie war offensichtlich möbliert vermietet. Alles darin war funktionell und so ge58
baut, daß es auch härtester Benutzung standhielt. Teppichboden und Polsterung glänzten von einem aufgesprühten Überzug, der Flecken abhalten sollte. Undefinierbare Bilder waren an die Wände geschraubt, und das Geschirr in den offenen Küchenregalen war aus weißem Kunststoff. »Natürlich ist es hier im Augenblick ein bißchen öde«, gab Meg zu. »Hier gehören ein paar persönliche Dinge hinein. Aber die Klimaanlage funktioniert gut, und es gibt sogar eine Geschirrspülmaschine. Ich kann bis Oktober hier wohnen. Ich hoffe, bis dahin etwas Besseres gefunden zu haben.« »Das werden Sie sicher«, gab ich zurück. »Ist dieses Telefon schon angeschlossen?« »Noch nicht. Das werde ich nach meiner Rückkehr machen lassen. Ich hoffe, Sie kommen mal zum Abendessen zu mir, wenn ich eingezogen bin und den Kühlschrank gefüllt habe.« »Aber gerne. Dann feiern wir Ihren Einzug.« Sie schaute mich abschätzend an. »Den könnten wir auch gleich feiern«, sagte sie unvermittelt. »Es ist ein Riesenbett.« Man ist allgemein der Auffassung, daß stark gewürzte Speisen als Aphrodisiaka wirken. Aber ich glaube nicht, daß unser Verhalten in jener Nacht auf den rauhen Laken, die an Motelbettwäsche erinnerten, auf das Chili und das Steak zurückzuführen war. Ich denke, daß Megs Inbrunst zum Teil die Folge ihrer Entschlossenheit war, schmerzliche Erinnerungen zu verdrängen, und meine Erregung fachte ihre Leidenschaft weiter an. Es war kurz nach Mitternacht, als wir von Riviera Beach aufbrachen und heimwärts fuhren. Wir hatten in ihrer Wohnung lang genug verweilt, um uns in einer wundervoll engen Duschkabine gemeinsam zu waschen, wobei wir ein Seifenscheibchen benutzten, das so dünn wie ein Kartoffelchip war. Die Handtücher hatten die Saugfähigkeit von Frischhaltefolie, aber inzwischen konnte nichts mehr unser Glück trüben. 59
Ich hielt auf der Auffahrt zum Anwesen der Willigans, zwängte mich aus dem Wagen und ging auf die andere Seite, um Megs Tür zu öffnen. Ich reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen. »Vielen Dank für einen wundervollen Abend, Miss Trumble«, sagte ich mit absolutem Pokergesicht. »Das Vergnügen Ihrer Gesellschaft beim Abendessen wurde nur von Ihrer freundlichen Gastlichkeit übertroffen.« »Vielen Dank, Mr. McNally«, erwiderte sie ebenso unbewegt. »Ich hoffe, unsere Wege werden sich wieder einmal kreuzen.« »Ein Wunsch, auf dessen Erfüllung ich nur inständig hoffen kann«, sagte ich, und dann küßten wir uns. Anhaltend. Ich fuhr in ekstatischer Stimmung heim, in dem Wissen, daß in dieser Nacht weder Schlaflosigkeit noch Alpträume meiner harrten. Und so war es auch. Ich schlief den Schlaf des Gerechten. Am nächsten Morgen erwachte ich, angesteckt von galoppierender Lebensfreude, die ich mir offensichtlich in der Nacht zuvor von meiner Begleiterin eingehandelt hatte. Beim Frühstück machte meine Mutter eine Bemerkung über meine Hochstimmung. »Hattest du eine angenehme Gesellschaft bei deinem Abendessen, Archy?« fragte sie. »Sehr.« »Connie?« »Nein. Margaret Trumble, die Schwester von Laverne Willigan. Ich glaube, ich bin verliebt.« Ich sagte zu meinem Vater, daß ich an diesem Morgen nicht mit ihm ins Büro fahren würde, wie ich es manchmal tat, sondern mit diskreten Ermittlungen beschäftigt sein würde. »Die Katze?« »Nein, der Brief an Mrs. Gillsworth.« Er nickte. »Der wichtigere. Hast du eine Spur?« »Ja. Aber das ist alles, was ich habe.« Er machte sich auf den Weg ins Büro, Mutter ging zum Gewächs60
haus, um ihren Begonien einen guten Morgen zu wünschen, und ich stieg zu meiner Höhle hinauf. Ich brachte mein Tagebuch auf den aktuellen Stand, was nicht lange dauerte, und telefonierte dann. »Consuela Garcia am Apparat.« »Connie, wie wär's mit Mittagessen heute?« »Würde ich gern, aber ich kann nicht. Ich bereite die Fete von Lady Horowitz am vierten Juli vor, und ich esse mit den Feuerwerksleuten zu Mittag.« Ihr Tonfall war erfreulich. Offensichtlich war sie nicht über meine Verabredung zum Abendessen am Vortag informiert worden. Und da wir uns auf eine offene Beziehung verständigt hatten, sah ich absolut keinen Grund, mich schuldig zu fühlen. Weshalb also fühlte ich mich dann schuldig? »Also, dann ein anderes Mal«, sagte ich unbekümmert. »Wann?« fragte sie. Meg Trumble hatte gesagt, sie habe vor, nach Rhode Island zurückzufliegen, so daß diese Romanze bis zu ihrer Rückkehr warten mußte. Es schien mir eine ideale Zeit zu sein, Connie zu versichern, daß unsere Bindung intakt geblieben sei. »Abendessen heute?« schlug ich vor. »Aber gern«, meinte sie. »Wie wär's mit mexikanischem Essen?« Einen Augenblick wankte meine Welt, dann fuhr sie fort: »Es gibt ein neues Restaurant in Lantana. Das Chili dort soll riesig sein. Sollen wir's probieren?« »Klingt gut«, sagte ich tapfer. »Soll ich dich gegen sieben abholen?« »Ich werde warten.« »Connie, noch was! Hast du je von einer Frau namens Mrs. Hertha Gloriana gehört?« »Diese Seancen-Lady? Natürlich habe ich von ihr gehört. Eine Menge Leute schwören, sie sei eine Kanone.« »Du hast nicht zufällig ihre Adresse und Telefonnummer?« 61
»Nein, aber ich denke, sie steht im Branchentelefonbuch. Unter ›psychische Beratung‹. Warum lachst du?« »Ich weiß nicht. Es scheint mir einfach seltsam, daß psychische Berater in den Gelben Seiten aufgeführt sind. Ich meine, wenn du einen Tumor hättest, würdest du dann in den Gelben Seiten nach Gehirnchirurgen schauen?« »Weißt du, Archy, du hast schon einen sehr schrägen Humor.« »Das denke ich auch«, seufzte ich. »Danke, Connie. Bis heute abend.« Ich ging nach unten ins Arbeitszimmer meines Vaters. All seine Telefonbücher steckten in ledernen Schutzhüllen. Da stand sie in den Gelben Seiten, unter der Rubrik ›psychische Berater‹. Eine zweispaltige Anzeige verkündete, daß Mrs. Hertha Gloriana konzessioniert sei, für ›Rat und Hilfe‹ sorge und alle wichtigen Kreditkarten annehme. Ich fand, daß eine persönliche Begegnung einem Anruf vorzuziehen sei, bestieg deshalb den Miata und fuhr Richtung West Palm Beach. Diese Stadt hat die siebenfache Bevölkerung von Palm Beach und ist, während dies geschrieben wird, dabei, ihr Image als arme Verwandte vom Land abzuschütteln. Mrs. Gloriana war an der Clematis Street zu finden, in einem Viertel, das jetzt von neuen Bürogebäuden, teuren Boutiquen und seltsamen Läden aller Art überschwemmt wurde. Die Worth Avenue würde es natürlich nie werden, aber was kommt da schon hin? Ich hatte mir vorgestellt, die Behausung eines Mediums ähnele einem Dracula-Schloß. Doch Mrs. Gloriana hatte eine Suite im vierten Stockwerk eines neuen Bürogebäudes aus Glas und Chrom. Darin gab es automatische Fahrstühle und teure Teppichböden. Ihr Büro war beeindruckend. Hinter dem Schreibtisch am Empfang saß ein Mann. Er blätterte müßig in einem Exemplar von ›Vanity Fair‹ und blickte nicht auf, als ich eintrat. Er war etwa in meinem Alter, gut aussehend und elegant gekleidet. Er trug einen An62
zug aus taubengrauem Flanell, der nicht von der Konfektionsstange kam. Sein Hemd hatte weiße französische Manschetten und einen Kragen, der eine zu einem Windsorknoten gebundene Krawatte aus gestrickter schwarzer Seide aufnahm. Das Hemd selbst war lavendelfarben gestreift. Mann, war das ein Dandy! Er blickte schließlich auf. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte er einigermaßen freundlich. »Könnte ich bitte Mrs. Gloriana sprechen?« Er lächelte. »Haben Sie einen Termin?« »Bedauerlicherweise nicht.« »Mrs. Gloriana bevorzugt Termine. Macht es Ihnen etwas aus, einen zu vereinbaren?« »Besteht keine Möglichkeit, sie jetzt aufzusuchen?« Er schürzte die Lippen und schien meine Bitte ernsthaft zu überdenken. »Im Augenblick hat Mrs. Gloriana einen Klienten bei sich. Darf ich fragen, wie Sie von uns erfahren haben?« »Mrs. Lydia Gillsworth schlug vor, ich solle Mrs. Gloriana zu Rate ziehen.« Er strahlte sofort. »Mrs. Gillsworth, natürlich. Eine wundervolle Dame.« Er stand auf und trat hinter dem Schreibtisch hervor. Er war groß und schlank wie ein Fechter. Er trug, wie ich bemerkte, einen schweren Ring aus Navajosilber, der mit einem riesigen Türkis in teurer himmelblauer Schattierung besetzt war. »Ich bin Frank Gloriana«, sagte er. »Herthas Mann.« Wir schüttelten uns die Hände. Er hatte einen festen, knochigen Griff. »Archibald McNally«, stellte ich mich vor. »Erfreut, Sie kennenzulernen.« Er starrte mich einen Augenblick an. »McNally?« wiederholte er. »Die Anwaltskanzlei auf der anderen Seite des Sees?« »Das ist richtig. McNally und Sohn. Ich bin der Sohn.« Sein Lächeln war kühl. »Ich habe Gutes über Ihre Firma gehört. 63
Tatsache ist, daß ich sehr bald juristischen Rat brauche, und McNally und Sohn stehen auf meiner kleinen Liste der in Frage kommenden Anwälte ganz obenan.« »Freut mich, das zu hören. Wir haben zahlreiche Spezialabteilungen, und ich bin sicher, wir können die Dienste leisten, die Sie benötigen.« »Dessen bin ich sicher. Ihr Besuch – betrifft er einen Rechtsfall Ihres Hauses?« »O nein«, erwiderte ich hastig, »nichts dergleichen. Es ist eine persönliche Angelegenheit, und ich fürchte, Sie werden sie ziemlich albern finden.« »Sprechen Sie.« »Ein guter Freund von mir hat seine Katze verloren«, sagte ich ernst. »Verloren, verirrt oder gestohlen. Er liebt dieses Tier und ist krank vor Sorge, seit es verschwunden ist. Er hat eine Anzeige aufgegeben, aber ohne Erfolg. Mir kam der Gedanke, daß Mrs. Gloriana möglicherweise imstande ist, mir Hinweise zu geben oder Vorschläge zu machen, wo sein Schoßtier zu finden sein könnte.« »Es ist möglich«, entgegnete er sofort. »Hertha hat bemerkenswerte Erfolge darin erzielt zu erraten, wo vermißte Gegenstände oder Menschen zu finden sind. Ich glaube nicht, daß sie das je zuvor mit einem Tier versucht hat, aber ich sehe keinen Grund, warum sie das nicht könnte. Sie hat eine wirklich einzigartige und erstaunliche Gabe. Einmal half sie einem Bauunternehmer in Atlanta, seinen verschwundenen Bulldozer wiederzufinden.« »Wundervoll. Wo war er?« »In der Garage seines Vorarbeiters«, sagte Gloriana mit einem etwas sardonischen Lächeln. »Hören Sie, warum machen Sie's sich nicht hier bequem, und ich gehe hinein und sehe nach, wie lange Hertha noch braucht? Vielleicht hat sie Zeit, Sie vor ihrem nächsten Termin dranzunehmen.« »Das würde mich sehr freuen.« 64
Er verschwand durch eine Tür und schloß sie sorgfältig hinter sich. Ich machte es mir in einem Armsessel neben einem gläsernen Cocktailtisch bequem. Darauf lag eine Auswahl von Broschüren und Magazinen, die sich überwiegend mit Astrologie, Kristallen, Mystizismus und okkulten Philosophien des Fernen Ostens beschäftigten. Daneben lagen in einem Behälter Prospekte, Werbeschriften, die aussahen, als seien sie für den Postversand gedacht. Auf einem kleinen Schild stand: ›Zum Mitnehmen‹. Angeboten wurde, daß Mrs. Hertha Gloriana, eine konzessionierte Beraterin, jedem ein ›psychisches Profil‹ ausarbeite, der ihr Zeit, Datum und Ort der Geburt sowie die Namen der Eltern und Großeltern zukommen lasse und ein Foto oder einen Gegenstand aus persönlichem Besitz beifüge. Die Kosten des psychischen Profils betrugen hundert amerikanische Dollar, zahlbar im voraus. Ich steckte ein Exemplar dieses faszinierenden Angebotes in meine Jackentasche, als Frank Gloriana zurückkehrte. Er sah sofort, was ich tat. »Unser neues Projekt«, sagte er. »Was halten Sie davon?« »Darin wird nichts versprochen«, stellte ich fest. »O nein«, erwiderte er schnell, »keine Versprechen. Die Profile analysieren nur und machen Vorschläge, welche Richtung die Betreffenden einschlagen könnten, die ihr Leben vielleicht bereichert. Es ist ein ernsthafter Versuch, psychische Beratung zu geben und so Herthas außerordentliche Talente zu nutzen. Ich versichere Ihnen, daß das kein Schwindel ist.« »Das habe ich keine Sekunde gedacht.« »Wir haben gerade erst angefangen, aber die Reaktion auf Anzeigen in Zeitungen und Magazinen hat mich ermutigt, eine Direktwerbekampagne zu starten. Es gibt Adreßlisten von Leuten, die an dem interessiert sein könnten, was wir anbieten. Ich denke, es könnte sich als ein sehr erfolgreiches Unternehmen erweisen, und das ist 65
der Grund, warum ich vielleicht juristischen Rat für die Gründung einer besonderen Firma brauche, und um die nötigen Genehmigungen zu bekommen.« Er hielt inne und lachte, ein tonloses Haha. »Aber Sie sind nicht gekommen, um sich meine geschäftlichen Probleme anzuhören. Hertha steht Ihnen jetzt zur Verfügung. Folgen Sie mir bitte.« Er ging durch einen kurzen Korridor, der zu einem anderen Raum führte. Die Tür stand auf, und ich konnte sehen, daß der Raum eher wie der Audienzsaal einer Residenz eingerichtet war als wie ein Büro. Eine junge Frau – mindestens fünf Jahre jünger als Frank Gloriana, wie ich schätzte – erhob sich von einem hochlehnigen Ohrensessel, als wir eintraten. »Liebling«, sagte Frank, »dieser Herr ist Archibald McNally. Mr. McNally, meine Frau Hertha. Ich lasse Sie jetzt allein.« Und er verließ uns und schloß die Tür zum Korridor leise hinter sich. Sie schwebte auf mich zu und reichte mir eine Hand, die so weich und zart war, daß ich fürchtete, ich würde sie mit meiner kraftvollen Pranke zerquetschen. »Mrs. Gloriana«, sagte ich, »es ist mir ein Vergnügen.« Ich hatte mir ein Medium immer als ältere Frau vorgestellt, mit üppigem Busen und schweren Hüften, mit gefärbtem, gekraustem Haar, aufgepapptem Make-up und dem überwältigenden Geruch von Patchouli. In diesem Fall lag ich völlig falsch. Hertha Gloriana war ein präraffaelitischer Typ mit einem Kranz von kastanienbraunem Haar, einer Haut so weiß und glatt wie Wachs und so klassischen Gesichtszügen, daß sie eine Münze hätten zieren können. Es war etwas Ätherisches an ihrer Schönheit, etwas Sensibles und Weltabgewandtes. Sie bewegte sich mit einer trägen Leichtigkeit, und wenn sie plötzlich zur Decke emporgeschwebt wäre, wäre ich nicht die Spur überrascht gewesen. »Mr. McNally«, murmelte sie, »Frank hat mir erzählt, warum Sie hier sind. Vielleicht kann ich helfen. Vielleicht. Aber ich kann es 66
nicht versprechen. Das verstehen Sie doch, oder?« »Natürlich«, meinte ich, während ich versuchte, den exakten Farbton ihrer Augen zu bestimmen. Schneckenhausblau, entschied ich schließlich. »Ich würde einen Versuch sehr begrüßen.« »Wie heißt die Katze?« »Peaches.« »Weibchen?« »Ja.« »Welche Rasse?« »Perser, glaube ich.« »Beschreiben Sie sie bitte.« »Dick. Silbergrau mit Tigerflecken.« »Wie alt?« »Das weiß ich nicht«, gestand ich. »Vielleicht fünf Jahre.« »Anhänglich?« »Nicht bei Fremden.« Sie nickte. »Bitte, hinterlassen Sie Ihre Adresse und Telefonnummer bei meinem Gatten. Wenn ich imstande bin, etwas zu tun, wird er Kontakt mit Ihnen aufnehmen.« Offensichtlich war unser Gespräch beendet, aber sie starrte mich weiter an. Ihr Blick war so intensiv, daß ich wegschauen wollte, das aber nicht konnte. Sie kam näher, einen leichten Blumenduft ausströmend. Sie legte sanft eine Hand auf meinen Arm. »Sie sind beunruhigt«, sagte sie. »Wegen der Katze? Nun, ja. Dieser gute Freund von mir ist sehr –« »Nein«, unterbrach sie mich, »wegen einer anderen Sache.« »Nein«, erwiderte ich, wobei mir mein kurzes Lachen etwas nervös erschien. »Ich weiß von nichts, mit dem ich nicht fertig werden könnte.« Sie starrte mich weiter an. »Zwei Frauen, zwei Lieben. Das macht Ihnen Sorgen.« 67
Ich war nicht beeindruckt. Das schmeckte mir zu sehr nach einer Wahrsagerin in einer Jahrmarktsbude. Viele Männer haben Beziehungen zu mehr als einer Frau. Das ist kaum einzigartig. Mrs. Gloriana demonstrierte kein besonderes hellseherisches Talent. Sie trat zurück und lächelte, ein zaghaftes Lächeln, das sehr verletzlich wirkte. »Sorgen Sie sich nicht. Das Problem wird schließlich gelöst werden.« »Es freut mich, das zu hören.« »Aber nicht von Ihnen«, fügte sie hinzu. »Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Mr. McNally. Ich werde mein Bestes tun, etwas über Peaches zu erfahren.« »Vielen Dank«, sagte ich und wandte mich ab. Ich war an der Tür, als ich noch einmal zurückschaute. Ich hatte nicht gehört, daß sie sich bewegt hatte, doch sie saß wieder in ihrem hochlehnigen Ohrensessel und betrachtete mich ernst. Ich faßte einen Entschluß. »Mrs. Gloriana, Lydia Gillsworth hat mir von den Zusammenkünften erzählt, an denen sie teilnimmt, während derer Sie zuweilen imstande sind, Kontakt herzustellen zu den… zu den…« »Toten«, vollendete sie. »Ja«, sagte ich, ein bißchen schockiert durch ihre Direktheit. »Ich wollte fragen, ob ich vielleicht zu einer Ihrer Zusammenkünfte kommen dürfte. Ich finde das alles faszinierend.« Ihr Blick wankte nicht. »Bitten Sie Lydia, Sie zu unserer nächsten Sitzung mitzubringen. Sie kennt Zeit und Ort.« »Vielen Dank«, wiederholte ich und verließ sie. Ein Paar mittleren Alters saß Händchen haltend im Warteraum. Frank thronte teilnahmslos hinter dem Schreibtisch und tat nichts. »Ihre Frau sagte, sie werde mich wissen lassen, ob sie in der Lage sei zu helfen«, sagte ich zu ihm und reichte ihm meine Karte. Er warf einen Blick darauf. »Wünschen Sie die Rechnung auf Ihr Büro ausgestellt, Mr. McNally?« Ganz geschäftlich, dieser Bursche. 68
»Bitte. Und danke für Ihre Unterstützung.« Ich ging auf den Korridor hinaus. Ich hatte eine Menge Eindrücke gewonnen, die ich erst einmal sortieren mußte, aber es gab etwas, das ich zuerst tun wollte. Als ich das Büro betreten hatte, hatte Frank mich damit aufgehalten, daß er sagte, das Medium sei mit einem Klienten beschäftigt. Dann, nach einer gewissen Zeit, hatte er mir mitgeteilt, daß sie jetzt zur Verfügung stehe. Aber ich hatte keinen Klienten das Büro verlassen sehen. Das war verständlich, wenn es einen anderen Ausgang aus der Suite gab. Psychiater haben häufig eine solche Vorkehrung, um die Privatsphäre ihrer Patienten zu schützen. Bevor ich den Fahrstuhlknopf drückte, wanderte ich durch den Korridor des vierten Stocks, um nach einer weiteren Eingangstür zu der Suite der Glorianas zu suchen. Es gab keine – was wahrscheinlich bedeutete, daß Hertha keineswegs mit einem anderen Klienten beschäftigt war, als ich eintraf.
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uf dem Rückweg zum McNally-Gebäude fuhr ich bei Harry Willigans Büro vorbei. Er war in seiner üblichen widerwärtigen Stimmung, und ich überlegte, ob er seine Art von Peaches hatte oder ob die Katze ihre Ekelhaftigkeit von ihrem Herrn gelernt hatte. Er wollte wissen, welche Fortschritte ich bei der Suche nach seinem geliebten Schoßtier gemacht hätte. Sehr wenig, erzählte ich 69
ihm, aber es werde eine Hilfe für meine Ermittlungen sein, wenn er mir eine Fotokopie des Erpresserbriefes zur Verfügung stelle. »Wozu, zum Teufel?« schrie er mich an. Ich erklärte so geduldig, wie ich konnte, daß ich den Brief von einem Experten analysieren lassen wolle. Vokabular und Grammatik böten dem Spezialisten vielleicht die Chance, scharfsinnige Folgerungen zu Ausbildung, Beruf, Nationalität und sozialem Status des Schreibers zu ziehen. Das war natürlich kein völliger Blödsinn. Es gibt Analytiker, die derartige Informationen der Sprache eines Dokumentes entnehmen können. Schließlich ließ Willigan mürrisch seinen Empfangsherrn eine Fotokopie für mich anfertigen. Ich faltete sie sorgfältig und steckte sie in meine Jackentasche zu dem Prospekt, der psychische Profile feilbot. Dann ging ich, so schnell ich konnte, dieweil Willigan obszöne Drohungen von sich gab und verkündete, welche Körperteile er brechen würde, sollte er je diese Scheiß-Katznapper in die Hände bekommen. Ich glaubte ihm. In meinem Büro fand ich eine Nachricht auf meinem Schreibtisch mit der Bitte, Connie Garcia so schnell wie möglich anzurufen. »Archy«, klagte sie, »wegen heute abend – Lady Horowitz möchte, daß ich nach dem Abendessen wiederkomme und mit ihr noch einmal das Budget für die Sause am vierten Juli durchgehe.« »Ach«, sagte ich, »zu schade! Willst du unser Rendezvous verschieben?« »Nein«, sagte sie entschieden. »Ich habe dich seit Jahren nicht gesehen. Statt nach Lantana zum Chili-Essen zu fahren, nehmen wir einen Bissen im Pelican Club. Dann kannst du mich gegen halb neun wieder absetzen. Okay?« »Sicher. Aber ich vermute, das bedeutet, anschließend gibt's keine Freuden. Ich bin enttäuscht.« »Ich auch«, gestand sie. »Es ist schon so lange her, daß jedesmal 70
beim Niesen Staub aus meinen Ohren kommt.« »Dagegen müssen wir etwas unternehmen.« »Du hast doch wohl nicht mit dieser Meg Trumble rumgemacht, Archy?« fragte sie mißtrauisch. »Mit wem?« Sie seufzte. »Du weißt doch, was mit dir passiert, wenn ich herausbekomme, daß du mich betrogen hast, nicht wahr? Nun, bis heute abend.« Sie legte auf, und ich saß einige Minuten da und erinnerte mich, daß man ihr südländisches Temperament besser nicht herausforderte. Einmal während unserer ersten Liaison hatte sie mich beim Abendessen mit einer jungen Dame erwischt und mir eine Schüssel Spaghetti über den Kopf gekippt. Ich zog das Werbeblatt der Glorianas aus der Tasche und las es noch einmal. Meine erste Reaktion war, daß dieses Angebot eines Psycho-Profils ein betrügerischer Schwindel sei, um die Leichtgläubigen zu melken. Ich vermutete, die Glorianas hatten ein Einheitsprofil gedruckt, das sie all diesen Deppen zuschickten. Doch trotz meines Zynismus fiel es mir schwer zu glauben, daß Hertha Gloriana eine durchtriebene Betrügerin war. Ehemann Frank – der Manager des Geschäfts – konnte ein Trickkünstler sein, der unsaubere Dinge trieb. Aber nicht Hertha, nicht dieses weiche, verletzliche Kindchen. Ihre Augen waren zu blau. Aber es gab eine Möglichkeit, Hertha zu testen, und ich beschloß, mein Minikomplott an diesem Abend zu starten. Ich war sicher, daß Connie Garcia mitmachen würde. Während ich so über die Glorianas und das offensichtlich blühende Geschäft sinnierte, das sie betrieben, wurde mir klar, wie wenig ich über Parapsychologie wußte. Eine Menge intelligenter Leute glaubte an ASW, Präkognition und ähnliche Merkwürdigkeiten. Ich fand, daß es höchste Zeit war, mehr über das zu erfahren, woran ich ermittelte. Ich rief Lydia Gillsworth an. Inzwischen war es fast 71
Mittag. »Archy«, sagte sie nach herzlicher Begrüßung, »ich hoffe, es geht nicht um diesen dummen Brief, den ich erhalten habe.« »Überhaupt nicht«, log ich tapfer. »Dieser Anruf ist ein Geständnis und eine Bitte zugleich. Ich war so interessiert an dem, was Sie mir gestern über Hertha Gloriana erzählt haben, daß ich sie heute morgen besucht habe. Ich habe schamlos Ihren Namen gebraucht. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Natürlich nicht. Ist sie nicht eine bemerkenswerte Frau?« »Das ist sie. Und wunderschön.« »Vorsicht, Archy«, sagte Lydia lachend. »Hertha ist glücklich verheiratet, und Frank trägt eine Pistole.« Das erschütterte mich. »Warum?« »Er sagt, es sei nur eine Vorsichtsmaßnahme. Manchmal haben sie mit irrationalen oder sehr gestörten Leuten zu tun.« »Das kann ich mir vorstellen. Extremisten.« »Genau. Darf ich fragen, weshalb Sie Hertha aufgesucht haben?« Ich ließ meine Geschichte von dem engen Freund ab, dessen geliebte Katze verschwunden war, und daß ich Mrs. Gloriana gebeten hatte, den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Schoßtieres festzustellen. Lydia hielt mein Anliegen keineswegs für ungewöhnlich. »Ich bin sicher, daß Hertha Ihnen helfen kann. Im Auffinden verlorener Dinge ist sie sehr gut. Sie hat Laverne Willigan gesagt, wo sie ihre Perlenohrringe finden würde.« »Und wo waren die Ohrringe?« fragte ich heiser. »In ihrer Kommodenschublade. Sie waren an einer Innenleiste hängengeblieben.« »Ich kenne Mrs. Willigan«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Ihr Gatte ist einer unserer Klienten. Besucht Laverne auch diese Seancen, die Mrs. Gloriana abhält?« »O ja, sie läßt nie eine Zusammenkunft aus.« 72
Ich wollte nicht weiter nachhaken. »Ich fragte Hertha, ob ich zu einer ihrer Zusammenkünfte kommen könne. Sie war einverstanden und sagte, Sie sollten mich zum nächsten Treffen mitbringen.« »Natürlich«, erwiderte sie. »Übrigens, heute abend um sieben findet eins statt.« »Ach, so ein Pech«, rief ich. »Ich habe eine Verabredung zum Abendessen, die ich unmöglich absagen kann. Aber ich bin sicher, daß ich mit Ihrer freundlichen Hilfe der nächsten Zusammenkunft beiwohnen kann. Ich würde gern mehr über Spiritismus erfahren, und ich habe mich gefragt, ob Sie Bücher über das Thema haben, die Sie mir vielleicht leihen könnten. Rückgabe garantiert. Mich fasziniert besonders die Möglichkeit, Kontakt zu denen aufzunehmen, die – äh – aus diesem Leben gegangen sind, um auf einer anderen Ebene zu existieren.« »Zu diesem Thema habe ich eine ganze Bibliothek. Sie werden die Bücher faszinierend finden, dessen bin ich sicher. Ich schlage vor, ich suche Ihnen drei oder vier heraus, die Ihnen Basisinformationen über unseren Glauben geben.« »Dafür wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar. Wann könnte ich sie abholen?« »Lassen Sie mich überlegen… Ich muß noch ein paar Einkäufe machen, aber gegen zwei Uhr werde ich zurück sein. Können Sie dann vorbeikommen?« »Gern. Ganz herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Mrs. Gillsworth.« Ich fuhr zum Mittagessen nach Hause und stellte fest, daß ich den McNally-Herrensitz für mich allein hatte. Mutter und die Olsons waren auf eine Einkaufssafari gegangen, um unsere Speisekammer aufzustocken, doch auf dem Küchentisch lag eine Nachricht, die mich darüber informierte, daß ein Salat im Kühlschrank meiner harre. Ich trank ein Glas kalifornischen Chablis zum Salat und naschte als Nachtisch ein paar frische Erdbeeren. Dann trabte ich nach 73
oben in mein Reich, setzte meine Lesebrille auf und legte die Fotokopie des Erpresserbriefes in Sachen Peaches neben den Drohbrief, der Lydia zugeschickt worden war. Ich verglich sie sorgfältig, und meinem Laienauge schien es, als seien sie auf derselben Maschine geschrieben worden. Noch bedeutungsvoller war, daß beide Dokumente das Wort ›entsetzlich‹ enthielten. Was sollte ich anderes denken, als daß beide Briefe wahrscheinlich von ein und derselben Person geschrieben worden waren? Es war kein schlüssiger Beweis, das gebe ich zu, aber ich war mehr denn je davon überzeugt, daß das Katznapping und die Drohungen gegen Lydia irgendwie zusammenhingen. Ich begann, in mein Journal Notizen über die vormittägliche Begegnung mit Hertha und Frank Gloriana zu kritzeln, legte dann aber meinen goldenen Mont-Blanc beiseite, weil ich unfähig war, mich zu konzentrieren. Was mich durcheinanderbrachte, war Laverne Willigans offensichtliches Interesse an Spiritismus. Sie hatte auf mich immer den Eindruck gemacht, eine Frau zu sein, deren Hauptinteressen Schokoladen-Eclairs, Sonnenbäder und das Sammeln teuren Talmis waren. Es war für mich ein Schock zu erfahren, daß sie Seancen beiwohnte, um mit Geistern plaudern zu können. Offensichtlich hatte ich Laverne falsch eingeschätzt. Sie war mehr als ein Spatzenhirn mit üppigem Körper. Das veranlaßte mich darüber nachzudenken, ob ich mit meiner Meinung über die anderen Akteure in diesem Drama ähnlich falsch lag. Vielleicht verbarg sich hinter dem brüllenden Harry Willigan in Wirklichkeit ein hingebungsvoller Macraméeknüpfer, und Frank Gloriana war eifrig bemüht, das Baßlautenspiel zu erlernen. Alles, folgerte ich verdrießlich, war möglich. Aber meine miese Stimmung verflog, als ich südwärts zu meinem Treffen mit Lydia fuhr. Das war eine Frau, die keine verborgenen Leidenschaften hegte, die ohne Schuld war. Dies zu schwören, wäre ich jederzeit bereit gewesen. Sie war vollkommen und ohne Arg. 74
Was man sah, war das, was man bekam: eine offene und erfrischend reine Frau, im Frieden mit sich und der Welt ringsum. Sie hatte gerade mehrere Weidenkörbe mit getrockneten Blumen eingekauft, durch die das Wohnzimmer wie ein Bauerngarten wirkte. Sie zeigte eine so unschuldige Freude an den Hortensien, Moosbeeren und Jungfern im Grünen, daß ihr Entzücken ansteckend war. Ich bat sie um eine pinkfarbene Strohblume, die ich auch erhielt und in das Knopfloch meiner Jacke steckte. Sie hatte drei Bücher für mich bereitgelegt, die sauber in einem kleinen Einkaufsbeutel gestapelt waren. »Archy«, sagte sie, »Sie müssen mir versprechen, diese drei Bände langsam und komplett zu lesen.« »Das verspreche ich«, schwor ich. »Ihre erste Reaktion«, fuhr sie fort, »wird Gelächter sein. Sie werden sich sagen: ›Was ist das bloß für ein Unsinn!‹ Aber wenn Sie Ihren Verstand und Ihr Herz diesen neuen Gedanken öffnen – für Sie zumindest sind sie neu –, hoffe ich, daß Sie sich selbst die Frage stellen, ob sie nicht Wirklichkeit werden können. Versuchen Sie zu staunen, Archy.« »Das werde ich.« »Über Spiritismus dürfen Sie nicht logisch denken«, sagte sie ernst. »Er ist keine Philosophie, sondern ein Glaube. Versuchen Sie also nicht zu analysieren. Lassen Sie den Glauben einfach in sich dringen und warten Sie ab, ob er nicht vielleicht eine Menge Fragen beantwortet, die Sie sich immer gestellt, und Ihnen ein friedfertiges Verständnis schenkt, das Sie immer gesucht haben.« Sie war so herzlich und ehrlich, daß ich von ihr beeindruckter war als von ihren Worten. Ihre eifrigen Bemühungen bemerkend, mich auf den rechten Weg zu bringen, empfand ich große Zuneigung zu ihr. Ich dankte für die Bücher und erhob mich zum Gehen. Sie trat dicht zu mir und faßte mich bei den Schultern. Sie 75
schenkte mir ein Lächeln von unvergleichlicher Herzlichkeit. »Seien Sie gewarnt, Archy«, sagte sie fast schelmisch. »Diese Bücher werden vielleicht Ihr Leben ändern.« »Jede Veränderung wäre eine Verbesserung«, erwiderte ich, und sie lachte und küßte meine Wange. Wieder in meiner Höhle angekommen, tat ich wenig mehr, als einen flüchtigen Blick in die Bücher zu werfen, die sie mir geliehen hatte. Ich las die Einleitungen und überflog die Kapitelüberschriften. Dann legte ich die Bände beiseite. Oh, ich plante, sie irgendwann ganz zu lesen, aber ich wußte, daß das schwer sein würde. Ich ging zum Schwimmen, wohnte pflichtbewußt der familiären Cocktailstunde bei und wartete an diesem Abend um sieben Uhr an der Auffahrt von Lady Horowitz' Anwesen, nachdem ich die Haushälterin von meiner Anwesenheit in Kenntnis gesetzt hatte. Zehn Minuten später kam Consuela Garcia herausgehuscht, glitt in den Miata, und wir fuhren los. An diesem Abend trug Connie eine weiße Seidenbluse zu weißen Jeans. Ihr Kopf wurde von einem kecken Strohhut gekrönt, der mit einem kirschroten Seidenband geschmückt war. Dieser Hut hatte einmal mir gehört, und es wurmte mich noch immer, daß er ihr besser stand als mir. Alles in allem sah sie so einnehmend aus, daß ich mir wegen meiner Flirterei wieder Vorwürfe machte. Ich vermute, es muß auf ein fehlerhaftes Gen zurückzuführen sein. Als wir im Pelican Club eintrafen, war ich froh zu sehen, daß das Restaurant nicht zu voll war. Priscilla konnte uns einen Ecktisch geben. »Genau das Richtige für Turteltauben«, sagte sie und schaute mich an. »Oder sollte ich sagen, für eine Turteltaube und einen Kuckuck?« »So eine Frechheit!« rief ich. »Pris, was empfiehlt Leroy denn heute abend?« »Gelbschnapper mit Safranreis und einem Endiviensalat.« Das bestellten wir beide, und nachdem uns Drinks serviert wor76
den waren, begann ich sofort, meinen ruchlosen Plan in die Tat umzusetzen. Ich reichte Connie den Prospekt der Glorianas, mit dem psychische Profile feilgeboten wurden. Sie überflog ihn und blickte dann zu mir auf. »Ein Schwindel?« fragte sie. »Das glaube ich. Ich möchte das gerne beweisen, und du könntest mir helfen. Hast du Hertha oder Frank Gloriana je kennengelernt?« »Nee.« »Meinst du, daß die je von dir gehört haben?« »Das bezweifle ich.« »Gut. Ich möchte, daß du folgendes tust: Schreibe auf diese Werbung unter deinem Namen und gib deine Privatanschrift an. Aber mach aus dir eine völlig getürkte Frau. Verfälsche Datum und Ort deiner Geburt. Erfinde Namen von Eltern und Großeltern. Kauf billigen Schund und schick ihn als persönlichen Besitz dieser nicht existierenden Frau mit. Ich möchte sehen, wie dieses psychische Profil ausfällt, das du für eine imaginäre Person bekommst.« Connie lachte. »Du bist ein listiges Kerlchen, weißt du das? Glaubst du wirklich, die Glorianas werden die Analyse einer Phantasiefrau liefern?« »Für hundert Dollar werden sie's, darauf wette ich. Füge dem Brief einen Scheck bei. Ich sorge dafür, daß du das Geld erstattet bekommst. Machst du das?« »Natürlich. Das wird lustig. Aber warum machst du dir diese ganze Mühe, Archy?« Ich hatte einen Schwindel parat. »Ein älterer Herr ist süchtig nach diesem Mumpitz, mit dem die Glorianas hausieren gehen. Er gibt ein Vermögen für Seancen, vorgetäuschte Demonstrationen von Telepathie und Psychokinese und ähnlichen Quatsch aus. Seine erwachsenen Kinder, unsere Klienten, sind wütend, da sie schätzen, daß der alte Mann ihr Erbe vergeudet. Sie glauben, die Glorianas 77
sind Betrüger. Mein Vater beauftragte mich zu ermitteln.« Connie kaufte mir das ab. »Okay, ich werde ein psychisches Profil für eine Frau bestellen, die nicht existiert. Ah, da kommt unser Essen. Jetzt halt den Mund und laß mich essen.« Wir aßen in Rekordzeit, hockten uns kurz an die Bar, um zwei weitere Drinks zu schlürfen, und dann fuhr ich Connie zum Horowitzschen Anwesen zurück. »Tut mir leid, daß du so spät arbeiten mußt«, sagte ich. »Beim nächsten Mal wird's aber eine richtige Nacht.« »Das will ich hoffen. Archy, sag mir die Wahrheit: Bist du mir treu gewesen?« »Connie«, sagte ich ernst, »ich muß ehrlich sein. Letzte Woche habe ich beim Friseur den ›Playboy‹ durchgeblättert, und ich gestehe, daß ich Lust in meinem Herzen hatte.« Sie versuchte, nicht zu lachen, was ihr aber mißlang. »Dann sorge dafür, daß sie in deinem Herzen bleibt. Danke fürs Abendessen, Liebling.« Sie gab mir einen Kuß und rutschte aus dem Miata. Ich wartete, bis sie im Haus war, und fuhr dann heim. Als ich in unsere Auffahrt einbog, sah ich Roderick Gillsworths grauen Bentley auf dem Wendeplatz stehen. Aus den Fenstern des Arbeitszimmers meines Vaters fiel Licht, und er kam in die Halle heraus, als ich eintrat. »Archy«, sagte er, »Gillsworth ist gerade gekommen. Er bringt schlechte Nachrichten. Leiste uns bitte Gesellschaft.« Der Dichter saß in einem ledernen Clubsessel und kaute an einem Daumennagel. Der Herr des Hauses ging hinter seinen massiven Schreibtisch, und ich zog einen hochlehnigen Stuhl heran. »Heute ist wieder ein Brief gekommen«, sagte mein Vater grimmig und deutete auf ein Kanzleipapier, das auf seiner Schreibunterlage lag. »Sogar noch verabscheuungswürdiger als die anderen. Und noch furchterregender.« Seinen letzten Satz nahm ich kaum wahr. Ich fragte mich, warum 78
Lydia das nicht erwähnt hatte. Aber vielleicht hatte sie das. Ich erinnerte mich, daß sie während unseres Telefonats sagte: »Ich hoffe, es geht nicht um diesen albernen Brief, den ich bekommen habe.« Ich hatte angenommen, sie spreche von dem ersten Brief und nicht, daß sie einen neuen meinte. »Nun, Archy?« fragte mein Vater ungeduldig, und ich merkte, daß er mich etwas gefragt hatte. »Entschuldige bitte vielmals«, sagte ich. »Würdest du die Frage wiederholen?« Er starrte mich an, offensichtlich betrübt über den Schwachkopf, den er gezeugt hatte. »Ich fragte, ob du Fortschritte bei der Identifizierung des Schreibers dieser Schmierereien gemacht hast.« »Nein«, erwiderte ich und ließ es dabei bewenden. Gillsworth stöhnte. »Was sollen wir denn tun?« Ich hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Nicht nur, daß er an dem Nagel kaute – er blinzelte heftig und schien außerstande, ein eigenartiges Zittern seines Kiefers unter Kontrolle zu bekommen. »Mr. Gillsworth«, sagte ich, »ich meine wirklich, daß die Polizei hinzugezogen werden sollte. Wenn Ihre Frau das weiterhin verbietet, sollten private Leibwächter eingestellt werden. Rund um die Uhr. Das wird einiges kosten, aber ich halte das für notwendig, bis der Übeltäter gefunden worden ist.« Mein Vater fiel in einen Zustand von Halbtrance, was bedeutete, daß er angestrengt über meinen Vorschlag nachdachte, das Für und Wider abwog und alle dazwischen liegenden Möglichkeiten bedachte. »Ja«, sagte er schließlich, »ich denke, das wäre klug. Mr. Gillsworth, wir haben in der Vergangenheit mehrere Male mit einem Sicherheitsdienst zusammengearbeitet, der Leibwächter stellt. Wir haben immer festgestellt, daß sie vertrauenswürdig und zuverlässig waren. Darf ich um die Erlaubnis bitten, Leibwächter für Ihre Frau einzustellen, die sie vierundzwanzig Stunden täglich bewachen?« »O Gott, ja!« rief der Dichter. »Genau dies! Warum bin ich nicht 79
selbst darauf gekommen?« »Wo ist Mrs. Gillsworth im Augenblick?« fragte ich. »Sie ist heute abend zu einer Seance gegangen«, erwiderte er. »Sie müßte jetzt wieder zu Hause sein. Darf ich Ihr Telefon benutzen?« »Natürlich«, meinte mein Vater. Gillsworth stand auf, ging zu dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand, und wählte seine Nummer. Er hielt den Hörer dicht an das Ohr gepreßt. Während wir warteten, bemerkte ich, daß er schwitzte. Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Schließlich legte er auf. »Sie ist nicht zu Hause«, sagte er mit hohler Stimme. »Kein Grund zur Beunruhigung«, versetzte mein Vater. »Vielleicht ist sie etwas länger bei der Seance geblieben. Ist sie mit ihrem eigenen Wagen gefahren?« »Ja. Sie hat einen Caprice. Ich verstehe nicht, warum sie nicht zu Hause ist. Sie verspätet sich selten.« »Vielleicht ist sie im Verkehr steckengeblieben. Versuchen Sie's in fünf oder zehn Minuten nochmal. Ich schlage vor, daß wir inzwischen alle einen Brandy trinken. Archy, schenkst du bitte ein?« Ich ging zu dem von einer Marmorplatte gekrönten Tischchen und schenkte großzügig bemessene Drinks in drei Gläser. Gillsworth leerte sein Glas mit einem Schluck zur Hälfte und keuchte. »Ja, das hilft. Danke.« »Vater«, sagte ich, »wenn du mit diesem Sicherheitsdienst wegen der Leibwächter sprichst, dann wäre es klug, denke ich, darum zu bitten, daß weibliches Personal eingesetzt wird. Ich glaube, daß Mrs. Gillsworth eher geneigt sein dürfte, die ständige Anwesenheit von Frauen als die von Männern zu akzeptieren.« »Ja, ja!« rief Gillsworth, vom Cognac angeregt. »Sie haben völlig recht. Eine prächtige Idee!« Mein Vater nickte. »Gut gedacht, Archy. Mr. Gillsworth, hätten Sie irgendwelche Einwände, wenn ein oder mehrere weibliche Leibwächter in Ihr Haus kämen? Natürlich nur vorübergehend.« 80
»Überhaupt nicht. Wir haben Gästezimmer. Ich würde die Anwesenheit einer Person begrüßen, die jede Minute, die ich nicht bei Lydia bin, über sie wacht. Darf ich noch einmal das Telefon benutzen?« »Natürlich«, erwiderte mein Vater. Gillsworth rief an, und einen Augenblick später entspannte sich sein ganzer Körper, und er lächelte. »Du bist daheim, Lydia«, sagte er herzlich. »Wohlauf und gesund? Gut. Türen und Fenster verschlossen? Freut mich, das zu hören. Ich bin bei den McNallys, Liebling, und werde in etwa fünfzehn Minuten zu Hause sein. Bis gleich.« Er legte auf und rieb sich die Hände. »Alles in Ordnung«, berichtete er. »Ich werde bei ihr bleiben, bis Ihre Leibwächter kommen. Wann, denken Sie, wird das sein?« »Wahrscheinlich morgen in aller Frühe«, erwiderte mein Vater. »Ich werde mit dem Leiter der Nachtschicht sprechen. Dann kann er bereits einen Plan erarbeiten. Ich werde darum bitten, daß man gleich morgen früh eine Leibwächterin zu Ihnen schickt. Wird das genügen?« »Ja.« Gillsworth leerte seinen Brandy. »Ich fühle mich jetzt erheblich besser. Ich werde Lydia sagen, daß ich darauf bestehe, daß die Leibwächter bleiben, bis diese entsetzlichen Dinge wieder in Ordnung gebracht sind. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. McNally – und auch Ihnen, Archy. Ich gehe jetzt besser.« »Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen«, sagte mein Vater. »Bitte, warte hier auf mich, Archy.« Er ging mit seinem Klienten hinaus, kam zurück und nahm wieder auf seinem Thron Platz. »Leibwächter sind eine exzellente Idee«, meinte er. »Ich hoffe nur, daß Mrs. Gillsworth sich nicht weigert.« »Ich glaube nicht, daß sie das tun wird«, bemerkte ich. »Vor allem, wenn ihr erläutert wird, daß die Öffentlichkeit nichts von ihrer Anwesenheit erfährt. Aber ich meine trotzdem, daß die Polizei über die Briefe informiert werden sollte. Natürlich kann sie keine Über81
wachung rund um die Uhr stellen, ist aber vielleicht in der Lage, die Herkunft des benutzten Papiers und des benutzten Druckers festzustellen.« Mein Vater schaute mich unverwandt an. »Dann hast du also keinen Fortschritt erzielt?« »Das ist nicht ganz richtig«, gab ich zu, »aber was ich habe, ist so dürftig, daß ich es in Gillsworths Anwesenheit nicht erwähnen wollte.« Dann erzählte ich ihm von Hertha und Frank Gloriana, die Betrüger sein konnten oder auch nicht, und daß Lydia ihre Seancen besuche. Ich sagte nichts von Laverne Willigans Verbindung zu den Glorianas, und ebenso wenig erwähnte ich, daß ich glaubte, die Drohbriefe und der Erpresserbrief seien auf derselben Maschine vom selben Autor geschrieben worden. Er schaute mich etwas bestürzt an. »Du glaubst, die Glorianas sind für diese Drohbriefe verantwortlich?« »Ich weiß nicht. Aber Mrs. Gillsworth hat mir keine anderen Namen genannt. Offensichtlich ist sie davon überzeugt, daß niemand aus ihrer Umgebung – weder Verwandte, Freunde noch Bekannte – zu so etwas fähig ist. Hertha Gloriana ist also die einzige Spur, die ich habe.« »Das ist nicht viel.« »Nein«, pflichtete ich ihm bei, »das ist es nicht.« Er schenkte mir ein säuerliches Lächeln. »Schön, bleib dran«, befahl er, »und halte mich auf dem Laufenden. Aber jetzt muß ich diesen Sicherheitsmenschen anrufen.« In diesem Augenblick läutete das Telefon. »Wer zum Himmel kann das sein?« fragte er und nahm ab. »Prescott McNally«, sagte er kurz. Dann: »Was? Was? Mein Gott! Ja. Ja, natürlich. Wir werden sofort dort sein.« Er legte langsam auf und wandte sich dann mit düsterer Miene mir zu. »Lydia Gillsworth ist tot«, sagte er. »Ermordet.« 82
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ir erfuhren später, daß Roderick Gillsworth die Polizei angerufen hatte, bevor er meinen Vater anrief. Als wir schließlich das Haus des Dichters erreichten, war die Polizei bereits da, und wir durften nicht hinein. Ich war froh, als ich sah, daß Al Rogoff der ranghöchste Beamte und offensichtlich verantwortlich für die Ermittlungen war. Vater und ich setzten uns in den Lexus und warteten, so geduldig wir konnten. Ich glaube nicht, daß wir ein Dutzend Worte wechselten. Wir waren beide durch die Tragödie erschüttert. Sein Gesicht war verschlossen, und ich starrte blicklos zu dem sternenübersäten Himmel empor und hoffte, daß Lydia auf eine höhere Ebene gewechselt war. Schließlich, kurz vor Mitternacht, kam Al aus dem Haus und trottete zu dem Lexus herüber. Al spielte den netten alten Kumpel, weil er dachte, das sei seiner Karriere zuträglich. Aber ich wußte zufällig, daß er ein heimlicher Intellektueller und Ballettenthusiast war. »Mr. McNally«, sagte er zu meinem Vater, »wir wollen die Aussage von Roderick Gillsworth auf Band aufzeichnen. Er möchte, daß Sie dabei anwesend sind. Das möchte ich auch, nur um sicherzustellen, daß alles koscher ist.« »Natürlich«, erwiderte mein Vater und stieg aus dem Wagen. »Danke, daß Sie das vorgeschlagen haben.« »Al –«, setzte ich an. »Du bleibst hier, Archy«, befahl er im Amtston. »Wir haben drinnen bereits genug Gaffer.« »Ich muß dir etwas Wichtiges erzählen«, rief ich verzweifelt. »Später«, beschied er mich, und er und mein Vater gingen in das 83
Haus der Gillsworths. So saß ich eine Stunde allein da und schaute zu, wie Polizeibeamte und Techniker eines Feuerwehrwagens das Gelände mit Scheinwerfern und großen Laternen absuchten. Schließlich kam Al allein aus dem Haus, baute sich neben meinem offenen Fenster auf und schälte die Zellophanhülle von einer seiner großen Zigarren ab. »Dein Vater wird hier die Nacht verbringen«, berichtete er. »Bei Gillsworth. Er trug mir auf, dir zu sagen, daß du nach Hause fahren sollst. Er wird anrufen, wenn er abgeholt werden möchte.« Ich war schockiert. »Du meinst, Gillsworth will heute nacht in diesem Haus schlafen? Wir könnten ihn mit zu uns nehmen, oder er könnte in ein Hotel gehen.« »Dein Vater hat das vorgeschlagen, aber Gillsworth will hier bleiben. Das ist in Ordnung. Ich werde ein paar Männer auf dem Gelände lassen.« Dann schwiegen wir und schauten zu, wie eine Trage aus dem Haus gebracht wurde. Der Leichnam war mit einem schwarzen Gummi zugedeckt. Die Trage wurde in einen Krankenwagen der Polizei geschoben, die Türen zugeschlagen. Das Fahrzeug rollte langsam an, und die Sirene begann zu heulen. »Al«, sagte ich, so ruhig ich konnte, »wie ist sie getötet worden?« »Durch mehrere Schläge mit einem Spazierstock auf den Kopf. Ein schwerer Silberhaken bildet den Griff. Er hat den Schädel durchlöchert.« »Erzähl mir nicht, daß er die Form eines Einhorns hat.« Er starrte mich an. »Woher weißt du das?« »Sie hat ihn mir gezeigt. Sie brachte ihn aus dem Norden als Geschenk für ihren Mann mit. Er sammelt antike Spazierstöcke.« »Ja, ich habe seine Sammlung gesehen. Wolltest du mir das erzählen?« »Nein. Etwas anderes. Erinnerst du dich an meine Frage wegen 84
der Briefe? Lydia Gillsworth war die Person, die sie erhalten hat.« »Hurensohn«, sagte er bitter. »Warum hast du mir das nicht erzählt?« »Weil sie sich weigerte, damit zur Polizei zu gehen. Und hätten wir das getan, hättet ihr für sie eine Bewachung für vierundzwanzig Stunden abstellen können?« »Wahrscheinlich nicht«, räumte er ein. »Wo sind die Briefe jetzt?« »Zu Hause bei mir.« »Wie wär's, wenn du mich dorthin fährst und sie mir gibst? Dann kannst du mich wieder herfahren. Okay? Du hattest doch nicht vor, früh schlafen zu gehen, oder?« »Heute abend nicht. Fahren wir.« Ich fuhr, und Al saß neben mir und lutschte an seiner Zigarre. »Erzähl mir, was passiert ist«, bat ich ihn. »Ist nicht viel zu erzählen«, brummte er. »Gillsworth war bei euch im Haus, telefonierte mit seiner Frau und sagte ihr, er komme bald. Er sagt, er sei direkt nach Hause gefahren. Er fand die Eingangstür offen vor, obwohl sie ihm erzählt hatte, alle Türen und Fenster seien verschlossen. Sie lag bäuchlings im Wohnzimmer. Spuren eines heftigen Kampfes. Überall Blutspritzer. Körbe mit Blumen waren auf den Boden geworfen. Eine Standuhr umgekippt. Sie ist auf etwa zehn Minuten vor dem Zeitpunkt von Gillsworths Ankunft stehengeblieben.« »Mein Gott«, sagte ich, »er wäre ja fast Zeuge des Mordes geworden.« »Ja.« »Hat er jemand gesehen, als er vorfuhr?« »Er sagt, nein.« »Irgendwas gestohlen?« »Sieht nicht so aus. Er konnte nicht feststellen, daß was fehlt.« »Wie nimmt er's auf?« »Schwer. Er versucht, auf gefaßt zu machen, aber das haut nicht 85
hin.« »Sie war eine wundervolle Frau, Al.« »Jetzt nicht mehr«, meinte er mit dem ausdruckslosen Tonfall, den er immer dann hatte, wenn er seine Gefühle verbergen wollte. Als wir das Haus betraten, wartete Mutter im Korridor. Sie trug ein Nachthemd unter einem Flanellmorgenmantel, und ihre Füße steckten in pinkrosa Hausschuhen. Sie warf Al, der in Uniform war, einen Blick zu und stützte sich dann mit einer Hand an die Wand. »Archy«, fragte sie, »was ist los? Wo ist Vater? Ist er verletzt?« »Mit ihm ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Er ist im Haus der Gillsworths. Mutter, tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß Lydia tot ist.« Sie schloß die Augen und schwankte. Ich trat zu ihr und nahm ihren Arm. »Ein Autounfall?« fragte sie schwach. Ich antwortete darauf nicht. Ein Schock genügte. »Vater wird heute nacht bei Gillsworth bleiben«, fuhr ich fort. »Ich bin mit dem Sergeant hergekommen, um einige Papiere zu holen.« Sie erwiderte darauf nichts. Ihre Augen blieben geschlossen, und ich spürte, wie sie zitterte. »Mutter«, sagte ich, »es war ein schlimmer Abend, und der Sergeant und ich könnten eine Tasse schwarzen Kaffee brauchen. Würdest du uns einen machen?« Sie öffnete die Augen und richtete sich auf. »Natürlich«, sagte sie. »Ich werde gleich den Kessel aufsetzen. Möchten Sie ein Sandwich, Sergeant?« »Danke, nein«, erwiderte er freundlich. »Der Kaffee genügt mir völlig.« Mutter eilte geschäftig in die Küche, und ich führte Al in das Arbeitszimmer meines Vaters. Der Brief lag noch immer auf der Schreibtischunterlage. 86
»Da ist er«, sagte ich. »Die beiden Gillsworths haben ihn angefaßt, aber mein Vater und ich nicht. Vielleicht findest du ein paar brauchbare Fingerabdrücke darauf.« »Kaum eine Chance«, knurrte er, setzte sich hinter den Schreibtisch und begann zu lesen. »Das war der dritte Brief, den sie erhielt«, sagte ich. »Den ersten hat Gillsworth vernichtet. Der zweite ist oben in meinem Zimmer. Ich hole ihn dir.« Ein paar Augenblicke später kehrte ich mit dem zweiten Brief zurück. Die Fotokopie des Erpresserbriefes in Sachen Peaches brachte ich nicht mit. Willigan hatte uns gesagt: »Keine Polizei!« Und er zahlte schließlich die Gage. Al hatte seine dicke Zigarre angesteckt und saß zurückgelehnt im Sessel meines Vaters. Er las den zweiten Brief und warf den Umschlag auf den Schreibtisch. »Widerliches Zeug!« »Ein Geisteskranker?« fragte ich. »Vielleicht«, antwortete er. »Vielleicht versucht jemand, den Eindruck zu erwecken, ein Verrückter habe das geschrieben.« »Was wirst du mit den Briefen tun?« »Sie ans FBI-Labor schicken. Versuchen, die Herkunft der benutzten Maschine, des Papiers, der Druckfarbe und so weiter festzustellen. Die werden nachsehen, ob sie eine ähnliche Type in ihren Akten haben.« »Der rechte Rand ist glatt«, machte ich ihn aufmerksam. »Ah, das hast du bemerkt? Muß ein Computer oder eine elektrische Schreibmaschine sein. Wir werden sehen. Wie steht's mit dem Kaffee?« Als wir in die Küche traten, füllte Mutter unsere Tassen. Und sie hatte einen Teller mit Ursi Olsons Schokoladenplätzchen herausgestellt, die gute Seele. »Es ist Expreßkaffee«, sagte sie entschuldigend zu Al. »Das ist der einzige, den ich trinke«, meinte er und lächelte sie 87
an. »Danke für Ihre Mühe, Mrs. McNally.« »Das ist doch keine Mühe«, versicherte sie ihm. »Ich lasse Sie jetzt allein.« Wir setzten uns einander gegenüber an den Küchentisch, über unseren Kaffee gebeugt, und naschten Plätzchen. »Du hast den Ehemann im Verdacht, nicht wahr?« fragte ich. Der Sergeant zuckte die Schultern. »Das muß ich, Archy. Fünfundsiebzig Prozent aller Morde werden vom Ehegatten, einem Verwandten, Freund oder Bekannten begangen.« »Sie lebte noch, als er hier aufbrach, Al«, erinnerte ich ihn. »Er telefonierte mit ihr. Glaubst du, er ist heimgefahren und hat sie ermordet?« »Scheint nicht sehr wahrscheinlich zu sein«, sagte er langsam. »Aber was wirklich für ihn spricht, ist, daß keine Blutflecken an seinen Kleidungsstücken sind. Ich erzählte dir, daß der Raum wie ein Schlachthaus aussieht. Überall Blut. Der Mörder muß bespritzt worden sein. Was hatte Gillsworth an, als er hier wegfuhr?« Ich überlegte einen Augenblick. »Eine weißleinene Sportjacke, ein blaßblaues Polohemd und eine hellgraue Flanellhose.« Al nickte. »Das trug er auch, als wir hinkamen. Seine Kleidung war absolut fleckenlos. Und er hatte ganz sicher nicht genug Zeit, sich identische Kleidungsstücke anzuziehen. Zudem haben wir das Haus durchsucht. Nirgendwo blutbespritzte Kleidung.« Wir nippten unseren Kaffee und aßen weiter Plätzchen. Al steckte seine erloschene Zigarre wieder an. »Dann ist Gillsworth also außen vor?« fragte ich. »Das würde ich nicht sagen. Er ist wahrscheinlich sauber, aber ich muß den Zeitablauf überprüfen. Davon hängt eine Menge ab. Wie lange hat er gebraucht, um von hier zu seinem Haus zu fahren? Und außerdem, um wieviel Uhr hat das Opfer die Seance verlassen? Wie lange hat sie gebraucht, um nach Hause zu fahren? Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß. Wenn ich das alles herausge88
funden habe, ist Gillsworth vielleicht außer Verdacht. Im Augenblick ist er alles, was ich habe.« »Al, du kannst mir befehlen, mich da herauszuhalten. Das Recht dazu hast du. Aber ich sage dir gleich, daß ich das nicht tun werde. Diese Frau hat mir eine Menge bedeutet. Egal, was du sagst, ich werde weiter wühlen.« »Das ist in Ordnung«, erwiderte er. »Bleib dran. Aber halte mich auf dem Laufenden – in Ordnung?« Wir tranken unseren Kaffee aus und gingen ins Arbeitszimmer, wo Al die Briefe an sich nahm. Als wir in den Korridor traten, wartete Mutter mit einer kleinen Reisetasche auf mich. »Ich habe Vaters Schlafanzug, den Morgenmantel und seine Hausschuhe eingepackt«, sagte sie. »Und sein Rasierzeug und ein frisches Hemd für morgen früh.« Al nahm die kleine Tasche und versprach, sie Vater zu geben. Dieses Mal fuhr ich den offenen Miata. Nachdem ich Als Zigarre inhaliert hatte, wollte ich frische Luft. Auf der Rückfahrt zum Haus der Gillsworths sprachen wir nicht. Aber als wir dort eintrafen und Al im Aussteigen begriffen war, hielt er kurz inne. »Archy, ich weiß, daß Roderick Gillsworth Klient deines Vaters ist. Was war mit Mrs. Gillsworth?« »Ja, sie auch.« »Ich höre, daß sie viel Geld hatte. Hat dein Vater ihr Testament aufgesetzt?« »Das weiß ich nicht, Al. Wahrscheinlich.« »Wer erbt?« »Das weiß ich auch nicht. Frag meinen Vater.« Dann fuhr ich zum letzten Mal in dieser Nacht zu unserem Haus zurück. Das Wochenende hatte schlecht begonnen, und es wurde nicht bes89
ser. Der Samstagmorgen war trübe und freudlos – genau so, wie ich mich fühlte, als ich erwachte. Mutter und Ursi hatten gefrühstückt und gingen im dritten Stock die Wäsche durch, um das Zeug auszusortieren, das Spuren von Stockflecken zeigte – in Südflorida ein ständiges Problem. Ich nahm einen Orangensaft, ein Zimthörnchen und Kaffee in der Küche, wo Jamie Olson saß. Er wickelte ein frisches Stück Klebeband um den gesprungenen Holm seiner alten Bruyère. Ich hatte ihm zu Weihnachten eine Dupont mit goldenem Band geschenkt, doch die pflegte er nur sonntags zu rauchen. »Hab' das von Mrs. Gillsworth gehört«, sagte er leise. »Sehr schlimm.« »Hat es in der Zeitung gestanden?« »Ja. Und es kam im Fernsehen.« »Jamie, wenn du was über Feinde hörst, die sie gehabt haben könnte, oder vielleicht über einen Streit mit irgendwem, dann gib mir bitte Bescheid.« »Sicher«, meinte er. »Sie haben wegen dieser Mrs. Willigan gefragt.« »Das hab' ich. Was ist mit ihr?« »Sie hat einen Kerl.« »Ach?« sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee. »Wo hast du das gehört?« »Weiß jeder.« »Weiß man, wer's ist?« »Nee. Weiß niemand.« »Woher weiß man dann, daß sie einen Kerl hat?« Er sah mich an. »Die Frauen wissen das. Die wissen's immer.« »Das denke ich auch.« Ich seufzte. Ich verzog mich nach oben, um an meinem Tagebuch zu arbeiten. Mein Telefon läutete gegen halb elf, und ich dachte, es sei mein Vater, der mich bitten wollte, ihn abzuholen. Doch es war 90
Leon Medallion, der Butler der Willigans. »Hallo, Mr. McNally«, sagte er fröhlich. »Mieses Wetter – was?« »Ja. Was gibt's, Leon?« »Erinnern Sie sich, daß Sie mich nach diesem Katzentransportbehälter gefragt haben? Ich hab' ihn gefunden. Er war im Vorratsraum, wo er ja auch hingehört. Ich denke, ich hab' ihn übersehen, als ich das erste Mal nachgeschaut hab'.« »Wahrscheinlich war's so«, erwiderte ich. »Danke für den Anruf, Leon.« Ich legte auf. Keinen Augenblick glaubte ich, daß Medallion Peaches' Transportbehälter bei seiner ersten Suche im Vorratsraum übersehen hatte. Seinerzeit war er verschwunden gewesen. Jetzt war er wieder aufgetaucht. Rätselhaft. Ich dachte noch immer an dieser Geschichte herum, als mein Telefon wieder klingelte. Dieses Mal war es mein Vater, der verkündete, daß er bereit sei zurückzukehren. Er bat ausdrücklich darum, daß ich den Lexus nähme. Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Ich wußte sehr gut, daß er meinte, es schade seinem Ansehen, wenn er in meinem roten Zweisitzer fuhr. Er wartete draußen, als ich das Haus der Gillsworths erreichte. Er legte die Reisetasche auf den Rücksitz und bedeutete mir, auf den Beifahrersitz zu rutschen, damit er sich hinter den Lenker klemmen konnte. »Ich werde dich zu Hause absetzen, Archy«, sagte er, »und dann ins Büro fahren. Gillsworth möchte, daß ich die Angehörigen seiner Frau informiere.« »Sollte er das nicht selbst tun?« »Das sollte er, aber er ist noch immer außerordentlich erschüttert und bat mich darum, das zu erledigen. Keine Aufgabe, die ich gerne erfülle. Außerdem möchte ich mir Lydias Testament ansehen.« »Hat Sergeant Rogoff dich darum gebeten?« »Hat er. Und Gillsworth hatte gegen eine völlige Offenlegung nichts einzuwenden. Soweit ich mich erinnere, hat sie mehrere spe91
zielle Zuwendungen Nichten, Neffen, einer Tante und ihrer Alma Mater vermacht. Doch die Masse ihres Vermögens geht an ihren Gatten.« »Viel?« fragte ich. »Ziemlich. Das alles habe ich dem Sergeant erzählt, und er fragte nach den Namen und Adressen der Bedachten. Er ist ein sehr gründlicher Mann.« »Ja, das ist er. Er möchte, daß ich meine Ermittlungen wegen dieser Drohbriefe fortsetze.« »Das sagte er. Ich möchte auch, daß du das tust, Archy. Lydia war eine feine Dame, und mir ist wichtig, daß dieses Verbrechen weder unaufgeklärt noch ihr Mörder unbestraft davonkommt.« »Mir auch, Vater. Weißt du, wo Rogoff jetzt ist?« »Er kam heute morgen ins Haus der Gillsworths. Er hatte einen Transporter dabei und lud mit Rodericks Erlaubnis die Standuhr in den Wagen und fuhr damit weg.« »Die Uhr, die während des Mordes umgekippt ist?« »Ja.« »Was zum Himmel will Al damit?« »Das sagte er nicht. Aber da wären wir. Nimm bitte die Reisetasche mit ins Haus und sag Mutter, daß ich im Büro sein werde. Ich rufe sie nachher an.« Ich befolgte seine Anweisungen, ging in sein Arbeitszimmer und benutzte sein Telefon, um das Büro der Glorianas anzurufen. Ich war mir nicht sicher, ob Medien samstags arbeiten, doch Frank Gloriana meldete sich, und ich nannte meinen Namen. »Ach, ja, Mr. McNally«, sagte er. »Wegen der vermißten Katze … Ich hatte die Absicht, mich mit Ihnen am Montag in Verbindung zu setzen.« »Dann haben Sie Neuigkeiten für mich?« »Meine Frau hat Neuigkeiten«, berichtigte er mich. »Wann könnten Sie denn vorbeischauen?« 92
»Jetzt gleich. Wenn Ihnen das recht ist.« »Lassen Sie mich eben mal in den Terminkalender schauen«, erwiderte er so aalglatt, daß ich überzeugt war, er halte mich wieder hin. »Also, ich sehe, daß uns ein sehr geschäftiger Nachmittag bevorsteht, aber wenn Sie binnen einer Stunde hier sind, bin ich sicher, daß wir Sie zwischendurch reinnehmen können.« »Ich danke Ihnen vielmals. Ich werde da sein.« Mutter wollte, daß ich zum Mittagessen blieb, aber ich hatte überhaupt keinen Appetit. Und außerdem hatte ich kürzlich bemerkt, daß der Bund meiner Hose alarmierend eng wurde. So ging ich nach oben und streifte eine silbergraue Sportjacke über mein violettes Polohemd. Dann ging ich hinaus und schwang mich in den Miata, um nach West Palm Beach zu fahren. Tatsächlich hatte ich die Glorianas nicht angerufen, um mich wegen Peaches zu erkundigen. Das Schicksal dieser elenden Katze war Kleinkram, gemessen an der Aufgabe, den Mörder von Lydia zu finden. Aber das Verschwinden der Katze würde ein guter Vorwand sein, das Medium wiederzusehen. Nicht nur, daß ich mehr über ihre Beziehung zu Lydia erfahren wollte, sondern die Frau selbst faszinierte mich. Sie war unleugbar unter den Lebenden und doch so geisterhaft wie diese Gespenster, die sie angeblich aus dem Großen Jenseits beschwor. Als ich die Suite der Glorianas betrat, war nicht die Spur von den Klienten zu sehen, die Frank während unseres Telefonats vorhergesagt hatte. Tatsächlich saß er allein in seinem Büro, durchblätterte lustlos die Seiten eines Magazins und wirkte außerordentlich gelangweilt. Er blickte auf, als ich eintrat, legte das Magazin beiseite und erhob sich, um mich zu begrüßen. Er trug einen Gabardinzweireiher von Armani und dazu eine Regimentskrawatte. Zufällig war es das Muster des Royal Glasgow Yeomanry, und ich bezweifelte, daß er diesem Regiment jemals angehört hatte. Wir schüttelten uns die Hände, und er strich über den 93
Ärmel meiner Jacke. »Hübsch«, sagte er. »Verraten Sie mir, was die gekostet hat?« Jetzt wußte ich, daß er kein Herr war. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Sie war ein Geschenk.« Er glaubte wohl, daß ich log, aber das war mir egal. Er nickte und ging wieder zu seinem Schreibtisch zurück. »Ich werde Hertha sagen, daß Sie da sind«, meinte er und legte die Hand aufs Telefon. Dann aber hielt er inne. »Wir haben das mit Lydia Gillsworth gehört. Eine schreckliche Geschichte.« Er drückte auf einen Knopf, sprach leise in die Muschel und legte auf. »Sie erwartet sie«, berichtete er. »Hier entlang, bitte.« Wieder führte er mich durch den Korridor zu dem Zimmer seiner Frau. Auf diesem Korridor befanden sich zwei weitere geschlossene Türen. Doch darauf stand nichts, und ich hatte keine Ahnung, was dahinter lag. Frank führte mich in das Sanktum des Mediums und zog sich zurück. Sie stand neben ihrem hochlehnigen Sessel, und als die Tür geschlossen war, kam sie zu mir geschwebt, um ihre Hände auf meine Schultern zu legen. Ich staunte, wie klein sie war: ein sehr kleiner Geist, in der Tat, und offenkundig sehr zerbrechlich. »Lydia ist hinübergegangen«, sagte sie mit ihrer gedämpften Stimme, »und Sie sind verzweifelt.« »Es war ein Schock«, stimmte ich zu. »Es fällt mir noch immer schwer, das zu akzeptieren.« Sie nickte, führte mich zu ihrem Ohrensessel und bestand darauf, daß ich mich hineinsetzte. Sie blieb vor mir stehen. Ich fand die Position etwas unbeholfen für eine Konversation, aber es schien sie nicht zu kümmern. »Hat Lydia Ihnen erzählt, wie sie über physischen Tod dachte?« fragte sie. »Ja, das hat sie.« »Dann müssen Sie glauben, daß der Geist, den wir beide kannten, 94
noch existiert. Dies ist nicht die einzige Welt, wissen Sie.« Sie sagte das mit solcher Überzeugung, daß ich ihre Aufrichtigkeit nicht bezweifeln konnte. Aber ich hielt sie für einen erstklassigen Leckerbissen. Seltsamerweise wirkte sie durch ihre Entrücktheit noch attraktiver auf mich. Ich persönlich bin ein Hedonist, war aber schon immer von weltfremden Typen gefesselt. »Mrs. Gloriana«, begann ich, doch sie hob eine Hand. »Bitte, sagen Sie Hertha. Ich fühle eine enge Verwandtschaft mit Ihnen. Darf ich Sie Archy nennen?« »Natürlich«, erwiderte ich erfreut. »Hertha, Lydia versprach mir, mich zu einer Ihrer Seancen mitzunehmen. Sie hat es sogar für gestern abend vorgeschlagen, aber ich konnte leider nicht. Vielleicht hätten sich die Dinge ganz anders entwickelt, wenn ich mitgekommen wäre.« »Nein«, widersprach sie und starrte mich an, »nichts hätte sich geändert. Machen Sie sich keine Vorwürfe.« Das hatte ich nicht getan, aber es war nett von ihr, mich zu trösten. »Ich würde noch immer gern an einer Ihrer Zusammenkünfte teilnehmen. Wäre das möglich?« Sie schwieg eine Weile, und ich fragte mich, ob ich zurückgewiesen werden würde. »Bis Oktober wird es keine weiteren Treffen geben, Archy«, sagte sie schließlich. »Viele Leute sind über den Sommer in den Norden gefahren.« Die Urlaubszeit schien ein merkwürdiger Grund für eine Pause bei der Kommunikation mit Geistern zu sein, aber ich vermutete, das Medium rechnete pro Kommunikant ab, so daß es kommerziell völlig gerechtfertigt erschien. »Veranstalten Sie auch Einzelseancen?« fragte ich. »Ließe sich das arrangieren?« Sie drehte sich um und begann auf und ab zu gehen, wobei sie 95
ihre Arme verschränkte. Sie trug ein geblümtes Kleid aus einem hauchdünnen Stoff, der wehte, während sie ging. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber die Erfolgschancen wären erheblich vermindert. Die psychische Kraft eines Kreises von Gläubigen ist viel stärker als die eines einzelnen. Ich könnte Frank und seine Mutter bitten, uns Gesellschaft zu leisten. Wäre Ihnen das recht?« »Natürlich.« »Und haben Sie einen oder zwei Freunde, die Sie mitbringen könnten? Individuen, die dem Spiritismus gegenüber aufgeschlossen sind, selbst wenn sie noch keine wirklichen Gläubigen sind?« »Ja, ich denke, daß ich zumindest eine solche Person mitbringen könnte.« »Also gut«, sagte sie. »Ich werde eine Seance planen und Sie informieren, wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind.« Sie redete, als hätte sie die Telefonkonferenz eines Großunternehmens zu terminieren. »Schön«, sagte ich. »Ich freue mich darauf. Und jetzt zu Peaches … Haben Sie Hinweise auf den Aufenthaltsort der Katze erhalten?« Sie blieb stehen und wandte sich mir zu. Doch statt des erwarteten durchdringenden Blickes schloß sie langsam die Augen. »Schwach und undeutlich«, sagte sie, und jetzt wurde ihre Flüsterstimme zu etwas, das ich nur als Singsang bezeichnen kann. »Die Katze lebt und ist gesund. Ich sehe sie in einem sehr schlichten Zimmer. Es ist ein Raum mit Bett, Kommode, kleinem Schreibtisch und einem Lehnsessel.« Sie öffnete die Augen. »Es tut mir leid, Archy, aber das ist alles, was ich habe. Ich kann nicht sehen, wo sich dieser Raum befindet. Aber wenn Sie es wünschen, werde ich es weiter versuchen.« »Bitte, tun Sie das«, drängte ich. »Ich glaube, Sie haben bisher schon viel vollbracht.« Ich erhob mich, ging zur Tür und blieb stehen. »Hertha«, sagte ich, »wenn wir unsere Seance haben – glauben 96
Sie, wir könnten Kontakt mit Lydia Gillsworth aufnehmen?« Sie schaute mich ernst an. »Es könnte möglich sein.« »Könnten wir sie nach dem Namen ihres Mörders fragen?« »Ja. Wir werden fragen.« »Danke. Lassen Sie mich bitte wissen, wann die Seance abgehalten wird.« Sie nickte und trat dann nah zu mir. Sehr nah. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte mich voll auf den Mund. Es war ein physischer Kuß, einfühlsam und erregend. Ihre Lippen waren weich und warm. So viel zu meiner Vision von ihr als Geist. Sie trat zurück und mußte meine Überraschung bemerkt haben, denn sie lächelte, öffnete die Tür und schob mich behutsam hinaus. Im Empfangsraum war niemand. Die Suite schien verlassen zu sein. Ich fuhr äußerst verwirrt nach Hause. Für gewöhnlich haben Küsse eine Bedeutung: Sie können ein Versprechen signalisieren, eine Verlockung sein, eine Leidenschaft demonstrieren. Herthas Kuß war ein Rätsel, das ich nicht lösen konnte. Es mußte bedeutungsvoll sein, aber worin seine Bedeutung lag, vermochte ich nicht zu entscheiden. Frauen werden durch meine Erscheinung nicht unbedingt abgeschreckt, aber andererseits werden sie in meiner Gegenwart auch nicht ohnmächtig oder haben den unwiderstehlichen Drang, an meinen Lippen zu hängen. Ich versuchte noch immer, das Rätsel dieses unerklärlichen Kusses zu lösen, als ich daheim ankam. Eben jetzt fuhr mein Vater seinen Lexus in die Garage. Wir gingen auf der kiesbestreuten Auffahrt auf und ab, bevor wir ins Haus traten. »Hast du etwas von Sergeant Rogoff gehört?« fragte er. »Nein, Vater. Ich denke, er ist beschäftigt.« »Hast du irgendwelche Fortschritte gemacht?« Ich war versucht zu erwidern: »Ja. Ein Medium hat mich geknutscht.« Aber ich sagte: »Nein. Nichts von Bedeutung. War Ly97
dias Testament so, wie du es in Erinnerung hattest?« Er nickte. »Roderick ist der Haupterbe – was ein Problem verursacht. Wir haben auch sein Testament aufgesetzt: ein einfaches Dokument, da sein Besitz kaum als beträchtlich zu bezeichnen ist. Das bißchen Bargeld, das er besitzt, und seine persönliche Habe hinterläßt er seiner Frau. Die Originalmanuskripte seiner Gedichte vermacht er der Kongreßbibliothek.« »Die wird hocherfreut sein.« »Sei nicht gemein, Archy. Du und ich mögen sie für Unsinn halten, aber andere betrachten sie vielleicht als Kunstwerke.« Ich sagte dazu nichts. »Das Problem«, fuhr mein Vater fort, »ist, daß Roderick jetzt ein wohlhabender Mann ist. Das bedeutet, daß er sein Testament so schnell wie möglich ändern muß. Sollte er sterben, bevor er sein neues Testament aufgesetzt hat, würde das Vermögen für Jahre unantastbar sein. Ich möchte ihn gern darauf hinweisen, wie nötig ein neues Testament ist, doch er ist im Augenblick so durcheinander, daß ich zögere, dieses Thema anzusprechen. Ich habe ihn für heute abend zu uns zum Essen eingeladen, aber er hat das abgelehnt. Er sei zu erregt, sagte er. Das ist verständlich.« »Ja«, meinte ich. »Glaubst du, daß er den letzten Willen seiner Frau kennt?« »Er war dabei, als wir die Einzelheiten mit Lydia besprochen haben. Gehen wir jetzt hinein. Unter Berücksichtigung der jüngsten Ereignisse, denke ich, sollten wir die familiäre Cocktailstunde heute für etwas früher ansetzen.« »Ein ausgezeichneter Gedanke.« Doch trotz der Drinks vor Tisch und einem ausgezeichneten Abendessen (Ente in Kirschsauce) war es ein trübseliger Abend. Die Unterhaltung verlief stockend. Der Tod unserer Nachbarin schien gutes Essen und einen ausgezeichneten Wein unmöglich zu machen. 98
Nach dem Abendessen zog ich mich in mein Nest zurück und arbeitete eine Weile an meinem Tagebuch. Dann versuchte ich, die Bücher über Spiritismus zu lesen, die Lydia mir geliehen hatte. Nicht einfach. Aber ich begann die Grundlagen des Glaubens zu verstehen. Er verspricht so eine Art Unsterblichkeit. Es war alles schrecklich ernstes Zeug, und wie ich schon bei mehr als einer Gelegenheit festgestellt habe, bin ich nicht der ernste Typ. Offen gestanden ist meine Vision von der letzten Seligkeit ein Ort, der dem Pelican Club ähnelt und in dem alle Drinks auf Kosten des Hauses gehen. So legte ich die Bücher beiseite und dachte wieder darüber nach, welches Motiv Hertha Gloriana für ihren Kuß gehabt haben mochte. Ich fand darauf keine Antwort, faßte aber den Entschluß, auf männlichere Weise zu reagieren, falls es eine Wiederholung geben sollte. Natürlich nur, um die Ermittlungen voranzubringen.
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as Bemerkenswerteste, was sich am folgenden Sonntag ereignete, war, daß ich meine Eltern zur Kirche begleitete. Ich bin kein fleißiger Kirchgänger. Tatsache ist, daß ich nicht mehr beim Gottesdienst war, seit eine dralle Chorsängerin, mit der ich ein Verhältnis hatte, einen Marineflieger geheiratet hatte und nach Pensacola gezogen war. Danach war mein Glaube geschwunden. An diesem Morgen aber saß ich in der Kirchenbank der McNallys, sang Choräle und blieb während der ganzen Predigt wach, die auf Jesu Ausspruch basierte, daß Geben seliger sei denn Nehmen. 99
Das letzte Gebet war Lydia gewidmet, einem verblichenen Mitglied der Gemeinde. Ich war froh, daß ich anwesend war und es hörte. Wir kehrten nach Hause zurück und sahen, daß an der Hintertür ein Polizeiauto parkte. Al Rogoff saß in Zivil mit den Olsons in der Küche und trank Kaffee. Er stand auf, als wir eintraten, und entschuldigte sich für seine Anwesenheit an einem Sonntag. »Es gibt etwas, worüber ich mit Ihnen reden muß«, sagte er zu meinem Vater. »Natürlich, Sergeant«, erwiderte mein Vater. »Ich schlage vor, Sie kommen ins Arbeitszimmer. Ich werde Gillsworth anrufen und fragen, welche Wünsche er hat.« Al sah mich an, bevor er meinem Vater folgte. »Wirst du noch eine Weile hier sein?« fragte er. »Ich möchte mit dir reden.« »Ich bin im dritten Stock. Komm nach oben, wenn ihr fertig seid.« Ich trabte treppaufwärts, legte mein sonntägliches Vorzeigekostüm ab und zog eine Flanellhose und ein fuchsienrotes Hemd an. Während ich noch überlegte, ob ich Zeit hätte, nach unten zu gehen, um Eiswürfel zu holen, klopfte es an die Tür. Es war das erste Mal, daß Al meine Räumlichkeiten betrat, und er schaute sich interessiert um. »Nicht schlecht.« »Das Beste daran ist die Miete.« Ich schenkte zwei Gläser Brandy ein, und Al kostete davon. Er keuchte und kniff die Augen zusammen. »Das zieht mir ja die Beläge von den Zähnen«, sagte er. Ich hatte nur wenig Sitzgelegenheiten für Besucher. So setzte sich der Sergeant in den Drehsessel hinter meinem Schreibtisch, wogegen ich eine ziemlich schäbige Ottomane heranzog. »Wie seid du und mein Vater mit Gillsworth verblieben?« »Alles klar. Er wird den Sarg nach Norden bringen lassen. Offensichtlich gibt's auf dem Friedhof in Rhode Island eine Familiengruft. Sie wird dort begraben.« 100
»Al, ich habe gehört, du hast die Standuhr vom Tatort wegholen lassen.« »Das ist richtig. Ist ein hübsches antikes Stück. Gebleichtes Pinienholz. Ich wollte feststellen, ob die Uhr funktionsfähig war, bevor sie umgekippt wurde.« »Und war sie's?« »Ja. Das sagt jedenfalls der Experte, der sie untersucht hat. Als sie umkippte, löste sich eines der Zahnräder, und die Uhr blieb stehen.« »Also ist die Zeit, die sie anzeigte, die Mordzeit?« »Wahrscheinlich.« Ich seufzte. »Du erzählst einem freiwillig aber auch nichts! Bist du jetzt endlich überzeugt davon, daß Gillsworth sauber ist?« »Er scheint's zu sein«, sagte Al widerwillig. »Mit der Zeit, die man braucht, um von hier mit normaler Geschwindigkeit zu seinem Haus zu fahren, haut's hin. Normalerweise wäre seine Frau früher von der Seance nach Hause gekommen, aber sie blieb noch eine Weile, um mit einer der Frauen zu sprechen.« »Wer hat dir das erzählt?« »Die Frau.« »Das ist, als würde man Zähne ziehen. Würdest du mir freundlicherweise den Namen der Frau nennen, Al?« »Mrs. Irma Gloriana, die Schwiegermutter des Mediums. Kennst du sie?« »Mrs. Irma Gloriana?« sagte ich vorsichtig. »Nein, dieser Dame bin ich nie begegnet. Wie ist sie?« »Eine willensstarke Vertreterin des weiblichen Geschlechts.« »Hast du das Medium kennengelernt?« »Nee. Sie und ihr Mann waren nicht zu Hause. Ich werde sie morgen besuchen, wie die anderen, die bei der Seance waren. Ich habe ihre Namen.« »Wo fand die Seance statt?« 101
»In der Wohnung der Glorianas. Ist in einem Hochhaus in der Nähe des Currie Park.« »Ein Luxustempel?« »Kaum. Ich schätze, die Kommunikation mit den lieben Verstorbenen ist nicht ein so florierendes Geschäft wie der Verkauf von Pizzas.« »Das denke ich auch. Wie bist du auf diese Mrs. Irma Gloriana gekommen?« »Gillsworth nannte mir ihren Namen. Er war mit seiner Frau auf drei oder vier Seancen und wußte, wo sie veranstaltet wurden. Nach einer Weile aber ging er nicht mehr hin. Er sagt, die ganze Idee des Spiritismus gefalle ihm einfach nicht.« »Hast du überprüft, wie lange Lydia gebraucht haben könnte, um von der Seance nach Hause zu fahren?« »Natürlich. Wenn Lydia zu dem Zeitpunkt gefahren ist, den die Schwiegermutter genannt hat, dann muß sie ungefähr zu dem Zeitpunkt zu Hause gewesen sein, als ihr Mann vom Arbeitszimmer deines Vaters aus mit ihr telefonierte.« »Dann paßt also alles zusammen, und Gillsworth ist sauber?« »Ich schätze schon«, meinte Al trübselig. »Könnte ich noch einen Schuß von dieser Batteriesäure haben?« Ich schenkte ihm ein und sagte: »Al, was beschäftigt dich? Ich bin sicher, du hast die Zeit selbst nachgeprüft. Aber du scheinst nicht überzeugt zu sein.« Er atmete schwer ein und dann wieder aus. »Was mich beschäftigt, ist die Tatsache, daß ich nur die Aussage eines Zeugen zu dem Zeitpunkt habe, als das Opfer nach Hause fuhr. Ich hätte lieber mehrere. Aber alle anderen, die bei der Seance anwesend waren, sind vorher aufgebrochen, und das Medium und ihr Mann sind zum Essen ausgegangen. Also kann nur Mrs. Irma Gloriana sagen, wann Lydia den Heimweg angetreten hat.« »Glaubst du, daß sie lügt?« 102
Er rutschte unruhig in dem Drehstuhl hin und her. »Warum sollte sie das, zum Teufel? Was für ein Motiv könnte sie haben zu lügen? Nein, wahrscheinlich sagt sie die Wahrheit. Aber jetzt zu dir. Was hast du herausgefunden?« »Nicht viel«, sagte ich ganz unschuldig. Ich hatte überlegt, wieviel ich ihm erzählen sollte. Natürlich nicht alles, weil ich sicher war, daß er mir auch nicht alles erzählte. In der Vergangenheit hatten wir bei mehreren Ermittlungen zu unser beider Nutzen zusammengearbeitet, aber ich war stets der Meinung – und Al wohl auch –, daß unser Erfolg zum Teil darauf zurückzuführen war, daß wir uns ebenso als Konkurrenten wie als Partner betrachteten. Ich glaube, wir genossen das beide. Nichts geht über eine solche Rivalität. »Al«, sagte ich ernsthaft, »ich hatte gerade eine Idee, die dir gefallen wird, wie ich glaube.« »Schieß los.« »Bis du den FBI-Bericht über diese Drohbriefe hast, sind die Seance und alle, die damit in Verbindung stehen, unsere beste Spur – richtig?« »Nicht unbedingt«, wandte er ein. »Archy, wir haben mit der Sache gerade erst angefangen. Wir müssen sämtliche Nachbarn, Freunde und Bekannte des Opfers identifizieren und befragen und feststellen, wo sie sich zum Zeitpunkt des Mordes aufgehalten haben.« »Einverstanden«, sagte ich. »Eine Menge Rennerei. Aber während du das tust, kann ich mich doch auf die Glorianas konzentrieren, oder? Ich habe folgendes überlegt. Ich will zu ihnen gehen, mich ihnen als halbgläubigen Spiritisten präsentieren und eine Seance mit dem Medium durchziehen. Damit will ich nicht sagen, daß du sie völlig ignorieren sollst, aber laß mich die Sache als interessierter Klient angehen.« Er starrte mich nachdenklich an. »Warum habe ich das Gefühl, über den Tisch gezogen zu werden?« »Du wirst nicht über den Tisch gezogen«, widersprach ich hitzig. 103
»Je länger ich darüber nachdenke, desto besser finde ich es. Ich kann der Insider sein, und du gehst als Outsider heran. Die Glorianas werden nie erfahren, daß wir zusammenarbeiten. Sie werden nicht mal merken, daß wir uns kennen. Gemeinsam aber sollten wir in der Lage sein, ein komplettes Bild von dem zu bekommen, was sie treiben.« Er schwieg ziemlich lange, und ich fürchtete schon, er werde nicht mitspielen. Schließlich aber seufzte er, leerte sein Glas und stand auf. »In Ordnung«, sagte er. »Ich wüßte nicht, was das schaden könnte. Geh du auf deine Seance und versuche an das Medium heranzukommen.« »Ich werd's versuchen.« »Und du hältst mich über alles auf dem Laufenden, was du herausbekommst?« »Absolut. Und du informierst mich über die Fortschritte, die du machst?« »Ja.« Wir lächelten uns an. Nachdem er gegangen war, setzte ich mich in den Drehsessel. Ich war mit dem Plan zufrieden, den ich ausgebrütet hatte. Ich betrog Al nicht direkt, hatte aber jetzt den offiziellen Segen dafür, etwas zu tun, was ich bereits getan hatte. Ich kritzelte ein paar Notizen in mein Tagebuch und versuchte mich an alles zu erinnern, was der Sergeant mir erzählt hatte. Ein sofort offensichtlicher Widerspruch war die Tatsache, daß die Wohnung der Glorianas bescheiden war, wohingegen ihre glitzernden Büroräume in einem neuen Hochhaus auf ein profitables Unternehmen schließen ließen. Aber ihre Suite konnte natürlich Fassade sein, sagte ich mir. Während meiner beiden Besuche hatte ich keine Horden von Klienten gesehen, die sich darum rissen, psychische Beratung zu bekommen. Und trotz Franks eleganter Klamotten hielt ich ihn eher für anrüchig. 104
Das Wetter war noch immer mies. Aber diszipliniert, wie ich nun mal bin, stiefelte ich unverdrossen los, um im Ozean zu schwimmen. Überraschenderweise war die See ganz ruhig. Die Oberfläche kräuselte sich kaum. Und während ich lospaddelte, konnte ich über die bevorstehende Seance nachdenken und meine Vorgehensweise planen. Als Hertha Gloriana vorgeschlagen hatte, ich solle einen Freund mitbringen, der sich dem Kreis der Gläubigen anschlösse, um die psychischen Kräfte zu verstärken, hatte ich sofort daran gedacht, Consuela Garcia zu bitten, mich zu begleiten. Connie war ein Mädchen, das überall mitspielte, und sie würde die ganze Geschichte als ein Abenteuer betrachten, über das sie noch wochenlang plaudern konnte. Dann aber fiel mir ein, daß ich Connie gebeten hatte, auf den Prospekt der Glorianas zu antworten. Das Risiko, daß sie über ihren Namen stolperten, war zu groß, und das würde gegebenenfalls den Nachweis unmöglich machen, daß ihre Direktwerbung ein Schwindel war. Ich beschloß, Meg Trumble statt Connie zu bitten, mich zu dieser Seance zu begleiten. Ich kehrte rechtzeitig genug vom Schwimmen zurück, um mich für die familiäre Cocktailstunde umzuziehen – es war mein dritter Klamottenwechsel an diesem Tag. Während wir unseren ersten Martini schlürften, kam mein Vater mit unerwarteten Neuigkeiten. »Roderick Gillsworth möchte dich sprechen, Archy.« Ich blinzelte. »Weshalb denn das?« »Das sagte er nicht. Er schlug vor, du sollst heute nach dem Abendessen zu ihm kommen. Ich denke, es ist besser, wenn du vorher anrufst.« »In Ordnung«, meinte ich zweifelnd. »Trotzdem seltsam. Findest du das nicht?« »Schon. Aber ich möchte, daß du diese Zusammenkunft dazu 105
nutzt, dann, wenn du den Zeitpunkt für geeignet hältst, die Notwendigkeit zu erwähnen, daß er ein neues Testament aufsetzen sollte. Natürlich solltest du das nur ganz beiläufig erwähnen. Vielleicht trägt das dazu bei, daß er beginnt, über seine finanzielle Verantwortung nachzudenken.« »Ich werde tun, was ich kann. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er mit mir reden will.« Mutter blickte auf. »Vielleicht ist er einsam«, sagte sie ruhig. Kurz nach halb neun waren wir mit unserem Abendessen fertig. Ich rief Gillsworth an, und er fragte, ob ich gegen neun kommen könne. Er hörte sich ziemlich gefaßt an. Ich sagte, ich würde da sein, und erkundigte mich, ob er vielleicht etwas brauche, das ich mitbringen könne. Zuerst dankte er mir und sagte, es gebe nichts. Dann aber, nach einer Pause, fragte er schüchtern, ob die McNallys eine Flasche Wodka entbehren könnten. Sein Vorrat sei erschöpft. Er würde das wiedergutmachen, sobald er in einen Schnapsladen komme. Ich fand an seiner Bitte nichts Ungewöhnliches, fürchtete aber, daß es meinen Vater beunruhigen könne – Schlagzeile in der Sensationspresse: ›Trauernder Gatte besäuft sich mit Anwaltsschnaps bis zur Bewußtlosigkeit.‹ So stibitzte ich einen Liter Sterling aus unserer Reserve im Vorratsraum und brachte ihn heimlich zu dem Miata, ohne erwischt zu werden. Absperrbänder waren noch immer rund um das Haus gespannt, aber Polizeiwagen waren nicht zu sehen. Gillsworth öffnete auf mein Klopfen hin persönlich und begrüßte mich mit einem matten Lächeln. Er sagte mir, er sei endlich allein, und dankte mir dafür, daß ich den Wodka mitgebracht hatte. »Haben die Reporter Sie sehr belästigt?« fragte ich, während er mich in sein Arbeitszimmer führte. (Ich war froh, daß er sich nicht für das Wohnzimmer entschieden hatte, wo die Leiche aufgefunden worden war.) 106
»Nicht allzu sehr. Ihr Vater hat sich um die meisten gekümmert, und ich habe es abgelehnt, Fernsehinterviews zu geben. Machen Sie es sich bequem, während ich Eis hole. Mögen Sie einen Mix?« »Wasser wäre schön«, sagte ich, und als er gegangen war, setzte ich mich in einen abgenutzten Lehnsessel und schaute mich interessiert um. Ich war noch nie zuvor in den heiligen Hallen eines Dichters gewesen, und es war irgendwie eine Enttäuschung: ein kleiner, mit Büchern gefüllter Raum, mit abgenutztem Schreibtisch, einem angeschlagenen Karteischrank und einem unlackierten Arbeitstisch, der mit Nachschlagewerken und einer Schreibmaschine bedeckt war. Es war eine alte Remington, nicht elektronisch und kein Computer. Ich weiß nicht, was ich im Sanktum dieses Dichters zu finden erwartet hatte – der triste Raum konnte das Büro jedes Hausbesitzers sein: Ein Loch, das zu deprimierend war, um für etwas anderes benutzt zu werden, als Drohbriefe des Finanzamtes zu beantworten. Er kam mit einem Eimer voller Eiswürfel, einer Flasche Wasser und zwei Highballgläsern zurück. Er stellte sie neben meiner Flasche Sterling auf den Tisch. »Ich bin ein schlechter Barkeeper«, gestand er. »Würden Sie Ihren selbst mixen?« »Aber gewiß.« »Das ist auch noch eine Sache«, fügte er hinzu. »Ihr ›Mr. Gillsworth‹ ist zwar nett, aber wirklich nicht nötig. Ich habe Sie immer mit Archy angesprochen. Wenn Sie mich Rod nennen, wird mein Ego nicht für alle Zeiten angeschlagen sein.« »Macht der Gewohnheit«, meinte ich. Ich mixte mir meinen Drink: ein bißchen Wodka, eine Menge Wasser. Er mixte sich seinen: eine Menge Wodka, ein bißchen Wasser. Ich nahm wieder auf dem Sessel Platz, und er ließ sich auf einen quietschenden Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. »Rod«, sagte ich, »ich habe bisher keine Gelegenheit gehabt, Ihnen mein Beileid zum Tode Ihrer Frau auszusprechen. Es war eine 107
schreckliche Tragödie, die meine Eltern und mich sehr bekümmert hat. Wir werden Lydia immer als eine gute Nachbarin und eine liebenswürdige Frau in Erinnerung behalten.« »Ja«, murmelte er. »Das war sie. Danke.« Ich nippte, aber er kippte, und ich fragte mich, ob er sich das Zeug deshalb so hineingoß, um sicher zu gehen, daß er in dieser Nacht schlafen konnte. »Das läßt meine Gedichte so bedeutungslos wirken«, sinnierte er in sein Glas starrend. »So vergeblich.« »Diese Auswirkung sollte das nicht haben«, bemerkte ich. »Gewiß könnte der tragische Tod Ihrer Frau Ihnen die Inspiration für elegische Verse geben.« »Vielleicht. Wenn die Zeit kommt. Im Augenblick ist mein Kopf bis auf Kummer völlig leer. Ich hoffe, Sie haben recht. Ich hoffe, daß ich am Ende imstande sein werde, meine Trauer zum Ausdruck zu bringen und, indem ich darüber schreibe, meinen Schmerz zu vertreiben und eine gewisse Gelassenheit wiederzugewinnen.« Er nahm einen weiteren tiefen Schluck von seinem Drink und sackte auf seinem Stuhl zusammen. Seine Augen waren gerötet, als habe er geweint, und sein ganzes Gesicht wirkte eingefallen. »Archy«, sagte er, »es ist doch richtig, daß Sie wegen der Drohbriefe weiter ermitteln?« »Ja.« »Werden Sie mit Sergeant Rogoff zusammenarbeiten?« Ich nickte. »Was halten Sie von ihm? Ist er der richtige Mann?« »Mehr als das«, sagte ich. »Al ist ein ausgesprochen erfahrener und talentierter Polizeibeamter.« Gillsworth gab ein kleines Geräusch von sich, das wohl ein Lachen sein sollte. »Ich glaube, er verdächtigt mich.« »Das ist sein Job, Rod«, erklärte ich. »Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Der Sergeant muß jeden verdächtigen, der mit 108
Mrs. Gillsworth zu tun hatte, bis der Aufenthaltsort jeder Person zu dem Zeitpunkt, als das Verbrechen begangen wurde, definitiv festgestellt worden ist.« »Nun, mein Aufenthaltsort ist festgestellt worden. Ich war bei Ihnen und Ihrem Vater.« »Das weiß Rogoff«, sagte ich so beruhigend, wie ich konnte. »Aber er kann nichts als selbstverständlich hinnehmen. Jedes Alibi muß überprüft werden.« Er trank sein Glas aus und schenkte sich einen weiteren Drink ein, ebenso wuchtig wie den vorhergehenden. »Was mich am meisten ärgert«, fuhr er fort, »ist, daß er mir keinerlei Informationen geben will. Ich fragte ihn, was getan worden ist, um den Wahnsinnigen zu finden, der meine Frau ermordet hat, und er murmelte: ›Wir arbeiten daran.‹ Ich betrachte das nicht als ausreichend.« »Ich bezweifle, daß es in diesem Stadium etwas gibt, das Ihnen mitzuteilen wäre. Und selbst wenn Fortschritte gemacht werden, ist die Polizei mit deren Preisgabe sehr vorsichtig. Sie will nicht riskieren, falsche Hoffnungen zu wecken, und sie ist sehr vorsichtig mit der Nennung einer verdächtigen Person, solange seine oder ihre Schuld nicht bewiesen werden kann.« Gillsworth schüttelte den Kopf. »Es bringt mich um den Verstand. Jetzt muß ich Lydias Sarg nach Norden zu der Beerdigung begleiten. Ihre Familie wird sicher fragen, was getan worden ist, um den Mörder zu finden, und alles, was ich ihr erzählen kann, ist, daß die Polizei daran arbeitet.« »Ich weiß, daß das frustrierend ist«, sagte ich mitfühlend. »Es ist schwer, geduldig zu sein, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß die Polizei sich erst seit achtundvierzig Stunden mit dem Fall beschäftigt.« »Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, ihn zu lösen?« »Rod, es gibt absolut keine Möglichkeit, das vorherzusagen. Es können Tage, Wochen, aber auch Monate oder gar Jahre sein.« 109
Er stöhnte. »Bei der Aufklärung eines Mordes gibt es keine gesetzliche Befristung der Ermittlungszeit. Die Polizei wird dranbleiben, solange es erforderlich ist – und ich werde das auch.« »Danke dafür. Ich sehe, Ihr Glas ist leer. Bitte, bedienen Sie sich.« Während ich das tat, sagte er: »Archy, werden Sie mit Rogoff Informationen tauschen?« »Das hoffe ich.« »Wenn ich im Norden auf Lydias Beerdigung bin, darf ich Sie anrufen, um zu erfahren, ob irgendwelche Fortschritte gemacht worden sind? Ich will Rogoff nicht anrufen. Er wird mir nichts erzählen.« »Natürlich können Sie mich anrufen«, erwiderte ich. Ich wollte hinzufügen, daß ich natürlich außerstande war, etwas ohne Rogoffs Erlaubnis preiszugeben. Doch Gillsworths Widerwillen gegen Al schien offensichtlich, und da ich diesen Widerwillen nicht verschärfen wollte, sagte ich nichts weiter. »Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten könnten.« »Wie lange werden Sie fort sein, Rod?« »Zwei oder drei Tage. Archy, bevor Sie heute abend gehen, möchte ich Ihnen gern einen Satz Hausschlüssel geben. Wären Sie so freundlich, hier ein- oder zweimal nach dem Rechten zu sehen, während ich weg bin?« »Aber natürlich.« »Danke. Unsere Putzfrau, Marita, hat zwei Wochen frei bekommen. Sie wird also nicht da sein. Und ich habe auch einen Satz Schlüssel der Polizei gegeben. Ich weiß nicht, warum sie die haben wollte, aber der Sergeant knurrte irgendwas von Sicherheit. O Gott, ist das alles ein Durcheinander!« »Rod, ich belaste Sie nur ungern, doch mein Vater bat mich, Ihnen gegenüber etwas zur Sprache zu bringen. Es ist wichtig, daß Sie 110
ein neues Testament aufsetzen. Unglücklicherweise haben die Umstände sich geändert, und Ihr gegenwärtiges Testament ist einfach unzulänglich.« Sein Kopf flog hoch, als hätte ich ihn geschlagen. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht damit gekränkt, daß ich das erwähnt habe«, sagte ich hastig. »Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Ich war einfach schockiert, weil ich nicht selbst auf den Gedanken gekommen bin. Ihr Vater hat recht. Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat Lydia eine beträchtliche Summe Geld geerbt, und ich nehme an, daß ich das jetzt bekomme. Welch widerliche Weise, reich zu werden!« »Es war ihr Wille«, erinnerte ich ihn. »Ich weiß, aber trotzdem… Gut denn, Sie können Ihrem Vater sagen, daß ich darüber nachdenken werde, und wenn ich von der Beerdigung zurückgekommen bin, werde ich mich mit ihm zusammensetzen.« »Gut. Ein Testament ist etwas, das man nicht hinauszögern sollte.« Er schaute mich mit einem verqueren Lächeln an. »Ein Eingeständnis der eigenen Sterblichkeit, das ist ein Testament doch, oder?« »Ich denke schon. Aber für einen Mann in Ihrer Position ist es eine Notwendigkeit.« Er schenkte sich mit zitternder Hand einen weiteren Drink ein. Ich fragte mich, wie viele dieser Bomben er noch schlucken konnte, ohne aufs Gesicht zu fallen. Ich wollte ihn warnen, aber es ging mich nichts an. Er muß geahnt haben, was ich dachte, weil er albern grinste und sagte: »Ich werde heute nacht schlafen.« »Das werden Sie.« »Wissen Sie, das sind die ersten Drinks, die ich seit Lydias Tod genommen habe. Ich brauche Frieden, selbst wenn er aus einer Flasche kommt und sogar wenn er nur vorübergehend ist. Können Sie 111
das verstehen?« »Natürlich. Solange Sie nicht die Absicht haben, das Haus heute abend zu verlassen.« »Keine Absicht«, murmelte er. Seine Stimme begann undeutlich zu werden. »Wirklich keine Absicht.« »Das ist klug.« Ich leerte mein Glas und stand auf. Ich hatte nicht den Wunsch, Zeuge des Zusammenbruchs dieses schmerzerfüllten Mannes zu werden. »Wenn Sie mir Ihre Hausschlüssel geben, mache ich mich auf den Weg.« Er kramte in der oberen Schublade seines Schreibtisches und reichte mir schließlich drei Schlüssel, die an einer riesigen Büroklammer hingen. »Vordertür, Hintertür und Garage.« »Ich werde nach dem Rechten sehen, während Sie fort sind«, versprach ich. »Und kann ich meinem Vater erzählen, daß Sie ihn nach Ihrer Rückkehr wegen eines neuen Testamentes zu Rate ziehen werden?« »Ja«, sagte er. »Neues Testament. Ich werde darüber nachdenken.« Er wankte nicht, als er mich zur Eingangstür begleitete, doch er bewegte sich sehr langsam und stützte sich einmal mit einer Hand an der Wand ab. Am Eingang wandte er mir sein Gesicht zu. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Archy«, rief er, »mögen Sie mich? Tun Sie das?« »Natürlich mag ich Sie.« Er ergriff meine Hand und umfing sie fest mit seinen beiden Händen. »Guter Mann«, sagte er mit schwerer Zunge. »Guter Mann.« Draußen wartete ich, bis ich hörte, daß sich ein Schlüssel im Schloß drehte und die Kette eingehängt worden war. Dann atmete ich die kühle Nachtluft tief ein und fuhr nach Hause. Ich stellte den Miata in der Garage ab und sah Licht im Arbeitszimmer meines Vaters. Die Tür war offen, was ich als Einladung zum Eintreten wertete. Er saß in dem ledernen Clubsessel und hatte ein Glas Port neben sich stehen. Er las einen der Bände seiner le112
dergebundenen Dickens-Gesamtausgabe. Das Buch war schwer, und ich vermutete, daß es ›Dombey und Sohn‹ war. Er las sich wacker durch das ganze Œuvre von Dickens, und ich bewunderte seine Beharrlichkeit. Er blickte auf, als ich eintrat. »Archy, warst du bei Gillsworth?« »Ja. Er gab mir einen Satz Hausschlüssel und bat mich, ein- oder zweimal nach dem Rechten zu sehen, während er im Norden auf der Beerdigung ist.« Ich wartete darauf, daß er mich aufforderte, Platz zu nehmen, aber das tat er nicht. »Hast du ihn auf das Testament angesprochen?« »Das habe ich. Er sagte, er wolle darüber nachdenken und dich nach seiner Rückkehr aufsuchen.« »Ich denke, das ist das Beste, worauf zu hoffen ist. In welchem Zustand ist er?« »Als ich ihn verließ, war er halb abgefüllt und trank noch immer.« Eine von Vaters Augenbrauen wölbte sich. »Das ist untypisch für Gillsworth. Ich habe ihn nie unbeherrscht erlebt.« Er wandte sich wieder seinem Dickens zu. Ich erklomm die Treppe zu meinen Räumen und dachte darüber nach, was für ein kompromißloser Mann mein Vater war. Und wie ich nur zu gut wußte, war sein Biß schlimmer als sein Bellen. Ich zog mich aus, duschte und schrubbte meine Beißerchen. Dann zog ich einen seidenen Morgenmantel an, den ich unlängst in einer Männerboutique an der Worth Avenue erstanden hatte. Er trug ein Design von vielfarbigen Papageien, die vor einem Dschungelhintergrund herumtobten. Einer dieser verrückten Vögel hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Roderick Gillsworth. Ich bedachte mich mit einem bescheidenen Marc und entzündete eine English Oval – meine erste Zigarette an diesem Tag! Ich setzte mich in den gepolsterten Drehsessel, legte meine nackten Füße auf den Schreibtisch und grübelte darüber, warum der Dichter mich ge113
fragt hatte, ob ich ihn möge. Seine Frage war ebenso verwirrend wie Hertha Glorianas Kuß. Gillsworth suchte Bestätigung. Aber wofür – und warum von mir? Ich konnte nur daraus schließen, daß er durch den Tod seiner Frau so sehr getroffen war, daß er einfach versucht hatte, in Kontakt mit einem anderen menschlichen Wesen zu kommen. Zufällig war ich zur Stelle gewesen. Als der Dichter gefragt hatte: »Mögen Sie mich?«, hatte ich automatisch geantwortet: »Natürlich mag ich Sie.« Das war die höfliche und angemessene Reaktion auf die intime Frage eines Mannes, der offensichtlich litt und moralische Unterstützung brauchte. Und ich hatte sie pflichtbewußt gegeben. Doch um die Wahrheit zu sagen, ich mochte ihn nicht. Ich empfand einfach überhaupt nichts für ihn. Das war mein Geheimnis und somit kaum etwas, das ich ihm enthüllen würde. Ich grübelte noch immer über die Seltsamkeiten der menschlichen Natur, als mein Telefon klingelte. Inzwischen war es fast Mitternacht geworden, und ein Anruf um diese Stunde war nicht dazu geeignet, meine Stimmung zu heben. Mein erster Gedanke war: Wer ist jetzt gestorben? »Hallo?« fragte ich argwöhnisch. »Archy?« Eine Frauenstimme, die ich nicht sofort identifizieren konnte. »Ja. Mit wem spreche ich?« »Mit Meg Trumble!« »Meg! Wie geht's dir?« »Sehr gut, danke. Ich hab' dich doch nicht aufgeweckt, oder?« »Natürlich nicht. Ist ja noch früh am Abend.« »Ich hätte ja früher angerufen, aber ich dachte, du bist unterwegs. Ich hoffe, du hast dich anständig benommen. Morgen früh fahre ich los. Und ich meine wirklich früh. Ich müßte am Dienstag in Florida sein.« »Ich kann's gar nicht erwarten«, erwiderte ich. »Hör zu, wenn du 114
pünktlich eintriffst, ruf mich an. Dann essen wir beide zu Abend. Nach all der Fahrerei wirst du eine Entspannung nötig haben.« »Ich hoffte, daß du das sagen würdest. Ich werde nicht mal Laverne sagen, wann ich mit meiner Ankunft rechne, aber ich rufe dich an, sobald ich da bin. Wir sehen uns am Dienstagabend.« »Gut«, bekräftigte ich. Sie legte auf. Es war unglaublich, was dieser Telefonanruf stimmungsmäßig bei mir bewirkte. Ich war augenblicklich davon überzeugt, daß ich Peaches retten, den Mörder von Lydia Gillsworth finden und mindestens fünf Pfund abnehmen würde.
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ch glaube nicht, daß ich schon meine Vernarrtheit in Hüte erwähnt habe. Ich liebe Hüte. Ein hutloser Mann ist nur halb angezogen. Als ich die juristische Fakultät von Yale besuchte, trug ich Mützen aus Schweinsleder und Tweed, Federhüte, Bowler, Homburger und einmal, in einem Anflug von Wahnsinn, einen Fez. Doch all diese Kopfbedeckungen waren für Südflorida reichlich schwer. Als ich nach Palm Beach zurückkehrte, bevorzugte ich deshalb Seemannsstrohhüte und einen wundervollen Pflanzersombrero mit einer fünfzehn Zentimeter breiten Krempe. Unlängst hatte ich an eine Hutmanufaktur in Danbury, Conn., geschrieben und drei Leinenbarette in weiß, flohbraun und smaragdgrün bestellt. Sie trafen am Montagmorgen ein, und ich war höchst erfreut. Sie waren so weich, daß man sie zusammenrollen und in 115
eine Hüfttasche stecken konnte. Ich ging zu einem verspäteten Frühstück nach unten und hatte mein neues flohbraunes Barett aufgesetzt. Glücklicherweise war mein Vater schon ins Büro gefahren, so daß ich nicht sein ungläubiges Starren über mich ergehen lassen mußte. Mutter warf mir einen Blick zu, lachte erfreut und klatschte in die Hände. »Archy, dieses Barett paßt zu dir!« Ich war so dankbar für ihre Reaktion, daß ich die Kopfbedeckung trug, während ich frischen Grapefruitsaft, drei Scheiben von Ursi Olsons wundervollem französischen Toast mit Aprikosenmarmelade und eine Tasse schwarzen Kaffee frühstückte. Als ich meine zweite Tasse leerte, bemerkte meine Mutter beiläufig: »Übrigens, Archy, Harry Willigan hat angerufen, kurz bevor du herunterkamst. Er möchte, daß du ihn so bald wie möglich anrufst. Er hörte sich an, als habe er schreckliche Laune.« Geliebte Mutter! Sie sorgte dafür, daß ich ein nahrhaftes Frühstück zu mir genommen hatte, bevor sie mir die schlechten Neuigkeiten verkündete. Ich ging in Vaters Arbeitszimmer und rief im Haus der Willigans an. Julie Blessington, das Dienstmädchen, meldete sich am Telefon. Ich meldete mich und bat, den Herrn sprechen zu dürfen. In Windeseile war unser unwirscher Klient am Apparat und begann mich anzubrüllen. Er schnaubte und schrie so laut, daß es schwer war, die Ursache seines verbitterten Ausbruchs zu verstehen. Schließlich begriff ich, daß an diesem Morgen ein zweiter Erpresserbrief gefunden worden war, den jemand unter die Eingangstür des Williganschen Hauses geschoben hatte. »Wann wurde er gefunden?« fragte ich. »Das sagte ich Ihnen bereits – heute morgen.« »Wie früh heute morgen?« »Sehr früh. Als Ruby Jackson herunterkam, um Frühstück zu machen.« 116
»Glauben Sie, er wurde letzte Nacht vorbeigebracht?« »Woher soll ich das wissen? Sie sind doch der Detektiv, oder?« »Ein glatter weißer Umschlag?« »Ja, genau wie vorher.« »Wer aus Ihrem Haus hat ihn angefaßt?« »Ruby hat den Umschlag angefaßt. Ich habe den Umschlag und den Brief darin angefaßt.« »Sorgen Sie dafür, daß ihn kein anderer berührt, Mr. Willigan. Was steht in dem Brief?« »Peaches jammert viel. Sie fehlt mir so.« »O je. Was sonst?« »Sie wollen, daß ich fünfzigtausend Dollar bereithalte. Gebrauchte Scheine, nicht markiert, nicht fortlaufend numeriert, kleine Scheine, keine über hundert.« »Gibt es Anweisungen für die Übergabe?« »Nee. Ich soll nur das Geld bereithalten. Sie werden mir sagen, wann und wo ich es ihnen geben soll.« »Ich komme besser zu Ihnen und hole den Brief. Werden Sie da sein?« »Nein, ich werde nicht da sein«, sagte er verärgert. »Ich habe eine Besprechung, zu der ich ohnehin schon zu spät komme. Ich werde den Brief bei Laverne hinterlegen. Sie bekommen ihn von ihr.« »Sagen Sie ihr bitte, daß sie ihn nicht anfassen soll.« »Schon gut, schon gut«, meinte er wütend. »Ich werd's ihr sagen. Hören Sie, Archy, Sie müssen bei dieser Geschichte härter arbeiten. Soweit ich sehen kann, schlagen Sie nur Ihre Zeit tot.« »Nicht ganz. Ich habe eine sehr wichtige Spur, über die ich aber nicht am Telefon reden kann.« »Ach ja? Hoffentlich ist was dran, denn sonst engagiere ich einen professionellen Privatdetektiv. Wenn ich von Ihnen keine Ergebnisse bekomme, werde ich vielleicht sogar McNally und Sohn die Betreuung meiner Geschäfte entziehen.« 117
Und mit dieser nackten Drohung knallte er den Hörer auf die Gabel, bevor ich eine Chance hatte, überhaupt zu antworten. Die Antwort, die ich parat hatte, hätte meinen Vater schockiert. Er glaubt, daß eine freundliche Antwort jede Wut wandelt. Aber manchmal ist es besser, etwas gepfefferter zu reagieren. Ich ging nach oben, um mein flohbraunes Barett gegen das weiße zu tauschen, da ich fürchtete, das flohbraune beiße sich mit dem feuerwehrroten Miata. Dann fuhr ich zum Anwesen der Willigans. Mein Ärger verebbte, als ich bemerkte, daß die Sonne strahlend schien. Ein prachtvoller Tag! Die Tür der Williganschen Hazienda wurde von Leon Medallion geöffnet. Sein Gesichtsausdruck war verdrießlich, die Augen verquollen von irgendeiner Allergie, die ihn an diesem Morgen heimgesucht hatte. »Ein weiterer Erpresserbrief, Leon«, sagte ich. Er nickte düster. »Der Alte war in einer schrecklichen Stimmung. Wenn er anfängt, so herumzubrüllen, verschwinde ich. Er kann gemein sein.« »Ich soll den Brief bei Mrs. Willigan abholen. Ist sie hier?« »Draußen am Pool. Sie finden ja dahin, oder? Ich poliere noch das Silber, versuche, den Beschlag herunterzukriegen. Dieses Klima ist der reine Mord für Silber, Messing und Kupfer.« »Vielleicht sollten wir alle auf Plastik umstellen«, schlug ich vor. Er strahlte. »Wäre 'ne tolle Sache, Kumpel.« Laverne lag bäuchlings auf einer Polsterliege, die sie in die Sonne gezogen hatte. Sie trug einen Schnürbikini und hob den Kopf, als ich herantrat. Es war klug von ihr, ihn nicht weiter zu heben, da sie ihren BH ausgehakt hatte. »Hallo, Archy«, sagte sie fröhlich. »Ich mag Ihre Schottenmütze.« »Barett«, berichtigte ich. »Aber danke. Ich hoffe, Sie benutzen Sonnencreme.« »Babyöl.« 118
»Sie werden braten. Darf ich mir einen Stuhl nehmen?« »Sicher. Und wenn Sie ein lieber Junge sind, dürfen Sie mir den Rücken einölen.« Sie war also schon wieder beim Thema, und ich kam zu dem Urteil, daß sie eine Dame war, die es genoß anzumachen. »Ein neuer Brief von den Katznappern«, fuhr ich fort. »Das stimmt. Harry sagte, ich solle ihn Ihnen geben. Er liegt auf dem Tischchen im Korridor. Man verlangt von ihm, daß er das Geld bereithält.« »Das habe ich gehört. Ich vermute, daß der nächste Brief Anweisungen für die Übergabe enthält.« »Archy, haben Sie eine Ahnung, wer Peaches entführt haben könnte?« »Ich habe ein paar schwache Spuren, aber nichts Gewisses. Laverne, ich habe eine phantastische Idee, die ich gerne bei Ihnen ausprobieren möchte. Wissen Sie, was ein Sensitiver ist?« Ihr Gesicht war halb in dem Polster vergraben, so daß ich ihre Reaktion nicht beobachten konnte. »Sicher«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Das ist jemand, der das zweite Gesicht haben soll. Solche Leute behaupten, sie könnten die Zukunft vorhersagen und ähnliche Dinge.« »Sie können auch vermißte Personen oder Gegenstände finden. Ich will Kontakt zu einem hiesigen Sensitiven aufnehmen. Vielleicht hat er oder sie eine Vision, wo Peaches jetzt ist.« Laverne hob den Kopf und starrte mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht zu deuten vermochte. »Das ist die verrückteste Idee, die ich je gehört habe«, meinte sie. »Sie glauben doch nicht etwa an diesen Voodoozauber?« »Ich glaube nicht, aber ich bin auch kein Ungläubiger. Es ist aber einen Versuch wert. Meinen Sie nicht?« »Nein, das meine ich nicht«, sagte sie auf eine Art, die mir übermäßig heftig erschien. »Es ist beknackt. Tun Sie's nicht, Archy. 119
Wenn Harry rausbekommt, daß Sie sich an jemand gewandt haben, der aus Kaffeesatz liest oder was die sonst machen, dann wird er Sie und Ihren Vater feuern.« »Ich schätze, Sie haben recht. Wie ich sagte, es war nur so eine plötzliche Idee. Ich vergesse sie wohl besser.« »Das ist klug«, erwiderte sie. »Übrigens, ich habe was von Meg gehört. Sie kommt diese Woche zurück. Sie hat jetzt ihre eigene Wohnung in Riviera Beach. Werden Sie froh sein, sie wiederzusehen, Archy?« »Natürlich. Sie ist eine sehr attraktive Frau.« Ihr Kopf ruckte wieder hoch, und diesmal lächelte sie mich an. »Ich denke, Sie sollten sich in der Richtung einen Ruck geben. Ich glaube, Meg ist bereit.« Ich war erfreut zu erfahren, daß Meg Laverne nicht alles erzählte. »Laverne«, rief ich, als sei ich schockiert, »sie ist Ihre Schwester!« »Deshalb möchte ich ja, daß sie ihren Spaß bekommt. Geben Sie ihr eine Chance, mein Lieber. Muß ja nichts Ernstes sein. Nur zur Entspannung.« »Ich weiß nicht«, sagte ich zweifelnd. »Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt Augen für mich hat. Ich könnte mich aufs Glatteis begeben.« »Versuchen Sie's«, drängte Laverne. »Ihr würde das wahnsinnig gut tun. Sie ist ja ziemlich mager, aber vergessen Sie nicht: Das süßeste Fleisch sitzt immer dicht am Knochen!« Ja, genau das sagte sie. Gab es eine vulgärere Frau in Palm Beach? Falls es sie geben sollte, war ich ihr noch nicht begegnet und hatte auch nicht das Verlangen danach. »Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte ich und erhob mich. »Ich nehme jetzt wohl besser diesen Brief an mich und sehe, ob er uns hilft, die Katznapper zu finden.« »Und Sie vergessen diesen Quatsch – einen Sensitiven aufzusuchen?« 120
»Ich hab's schon vergessen«, versicherte ich ihr. »Bleiben Sie nicht zu lange in der Sonne, sonst fangen Sie noch an, sich zu pellen.« Ich fand den zweiten Erpresserbrief auf dem Tischchen im Korridor. Ich faßte ihn vorsichtig an den Ecken an und schob ihn in meine Jackentasche. Da niemand zu sehen war, ging ich allein hinaus und fuhr heimwärts. Dabei lächelte ich über Lavernes abschließende Bemerkung und überlegte, warum sie es für nötig hielt, ihre Bekanntschaft mit den Glorianas zu verheimlichen. Zu Hause begab ich mich unverzüglich in meine Räumlichkeiten, setzte mich an meinen Schreibtisch und bestückte mich mit meiner Lesebrille. Ich entfaltete den zweiten Erpresserbrief vorsichtig und untersuchte ihn. Er schien in derselben Schrift wie der erste und die Schreiben, die Lydia Gillsworth erhalten hatte, gedruckt zu sein. Der rechte Rand war bündig. Farbe und Papier schienen bei allen Briefen identisch zu sein. Die Nachricht selbst war so, wie Harry Willigan gesagt hatte. Ich war über die beiläufige Bemerkung amüsiert, daß Peaches bei guter Gesundheit sei, aber laut schreie. Dies war eindeutig in der Absicht geschrieben, das Herz des Katzenbesitzers zu erweichen, der zwar die Persönlichkeit eines Drachen hatte, offensichtlich aber von Liebe zu seinem widerlichen Schoßtier troff. Ich legte den zweiten Brief zu meiner Fotokopie des ersten, schob beide in einen Umschlag und machte mich wieder auf den Weg. Dieses Mal ließ ich mein neues Barett daheim, nahm aber meine Lesebrille mit. Bevor ich ging, rief ich Mrs. Trelawney an, die Privatsekretärin meines Vaters. Ich erzählte ihr, daß ich auf dem Weg ins Büro sei, und fragte sie, ob sie den Boss dazu überreden könne, mir mindestens fünfzehn Minuten seines peinlich genau terminierten Tagesablaufs zu gewähren. Ich wartete, während sie nachforschte. Sie kam wieder ans Telefon, um mir zu berichten, daß er sich großmütig herabgelassen habe, meiner Bitte zu entsprechen, falls ich pünktlich 121
um halb zwölf einträfe. »Ich bin schon unterwegs«, versprach ich. Das McNally-Gebäude am Royal Palm Way ist ein ödes Bauwerk aus Glas und Chrom – so modern, daß ich davon Zahnschmerzen bekomme. Doch es ist unleugbar beeindruckend – was der Grund dafür war, daß mein Vater dem Entwurf des Architekten zustimmte, wenn er auch den Nachbau eines Herrenhauses in georgianischem Stil – durchgehend mit Eiche getäfelt – bevorzugt hätte. Die Hauptattraktion seines Büros war ein gewaltiger Rolldeckelschreibtisch – ein Original, keine Reproduktion –, der sechsunddreißig Fächer und vier verborgene Kämmerchen (von denen ich wußte) enthielt. Mein Vater stand vor diesem prächtigen antiken Stück, als ich eintrat, und sah selbst wie ein prächtiges altes Stück aus. Er schaute mich finster an, und ich war froh, daß ich das Leinenbarett zu Hause gelassen hatte. »Und das hätte nicht warten können?« wollte er wissen. »Nein«, sagte ich. »Nach meiner Beurteilung ist dies eine Angelegenheit, die keinerlei Aufschub duldet. Harry Willigan hat einen zweiten Erpresserbrief von den Katznappern bekommen.« »Das weiß ich«, erwiderte er gereizt. »Willigan hat mich heute morgen angerufen. Er war wie üblich in abscheulicher Laune.« »Aber ich glaube nicht, daß du die beiden Briefe gesehen hast. Ich habe sie mitgebracht. Der erste ist eine Fotokopie, der zweite ist das Original. Bitte, sieh sie dir an, Vater.« Ich breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Noch immer stehend, beugte er sich über sie, um sie zu untersuchen. Er brauchte nicht lange, bis er es merkte, richtete sich auf, starrte mich an. »Sie scheinen den Drohbriefen ähnlich zu sein, die die verstorbene Lydia Gillsworth erhalten hat«, sagte er steinern. »Mehr als ähnlich. Es ist dieselbe Schrifttype. Der gleiche rechte 122
Rand und das gleiche Papier.« Er holte tief Luft und steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Wo sind die Briefe an Lydia Gillsworth jetzt?« »Sergeant Rogoff hat sie. Er hat sie zur Analyse an das FBI-Labor geschickt.« »Weiß er etwas von diesen Briefen?« »Meines Wissens nicht. Ich habe ihm nichts über das Verschwinden von Peaches erzählt.« Die Hände noch immer in den Taschen, begann er langsam durch das Büro zu laufen. »Ich sehe das Problem«, sagte er. »Der Klient hat uns ausdrücklich untersagt, die Polizei von dem Katznapping zu informieren.« »Und wir sind verpflichtet, die Wünsche unserer Klienten zu achten und ihre Anweisungen zu befolgen«, fügte ich hinzu. »Aber indem wir das tun, behindern wir damit nicht die Aufklärung eines Mordfalles? Das natürlich unter der Voraussetzung, daß all diese Briefe mit demselben Computer oder derselben elektrischen Schreibmaschine erstellt wurden, was ich glaube.« Er blieb stehen und schaute mich an. »Und du glaubst auch, daß sie alle von ein und derselben Person aufgesetzt wurden?« »Ich halte das für sehr wahrscheinlich.« »Mir gefällt das nicht, Archy. Mir gefällt das überhaupt nicht. Als Mitglied des Gerichts habe ich nichts dafür übrig, in eine Position gebracht zu werden, in der ich gerechterweise wegen Unterschlagung von Beweismaterial angeklagt werde.« »Möglicherweise entscheidendem Beweismaterial«, sagte ich. Er nahm eine Hand aus der Tasche und begann an seinem dicken Schnurrbart zu zupfen, ein sicheres Zeichen seiner Beunruhigung. Wenn er sanftmütig ist, streicht er darüber. »Darf ich einen Vorschlag machen, Vater?« »Du darfst.« »Ich meine, die Pflicht überwiegt in diesem Fall moralische Erwä123
gungen. Ich glaube, daß die Polizei über die Briefe an Willigan informiert werden muß. Vielleicht haben sie mit dem Mord an Lydia Gillsworth nichts zu tun, aber das Risiko können wir nicht eingehen. Erlaube, daß ich sie Sergeant Rogoff zeige. Ich werde ihm klarmachen, wie wichtig absolute Diskretion seinerseits ist. Er ist ein kluger Mann und ganz gewiß kein Schwätzer. Ich denke, wir können mit Bestimmtheit davon ausgehen, daß Willigan nie erfahren wird, daß wir der Polizei von dem Katznapping erzählt haben.« »Ich mache mir nicht so sehr wegen Willigan Sorgen, sondern wegen der Katznapper. Wenn die erfahren, daß die Polizei informiert ist, ist es durchaus möglich, daß sie ihre Drohung wahr machen und Peaches töten. Und dann könnte unser streitsüchtiger Klient Klage gegen McNally und Sohn erheben. Es wäre schwierig, unsere Verhaltensweise zu verteidigen: ein klarer Verstoß gegen vereinbarte Vertraulichkeit.« Darauf schwiegen wir beide und überdachten alle möglichen Auswirkungen des Problems. Natürlich hatte nicht ich die Entscheidung zu treffen. Es war mein Vater, der unter Beschuß geraten konnte, und es wäre anmaßend von mir gewesen, ihn zu einem bestimmten Verhalten zu drängen. Er brauchte mehrere Minuten intensiven Nachdenkens, bevor er sich entschied. »Also gut«, sagte er. »Zeige Sergeant Rogoff die Briefe an Willigan, erkläre die Umstände des Katznapping und versuche ihm zu verdeutlichen, daß die Zukunft von Peaches von seiner Umsicht abhängt.« Er hielt inne und lächelte schief. »Ganz zu schweigen von der Zukunft von McNally und Sohn.« »Ich werde ihn überzeugen«, versicherte ich, während ich die Briefe auflas. »Ich glaube, du hast die richtige Entscheidung getroffen, Vater.« »Danke, Archy. Ich bin glücklich, daß du sie billigst.« Ich wollte durchs Vorzimmer hinausgehen, als Mrs. Trelawney mich an ihren Schreibtisch winkte. Die Sekretärin meines Vaters 124
ist einer der Menschen, die ich am liebsten mag, eine bezaubernde alte Frau mit einer schlechtsitzenden Grauhaarperücke und einer Schwäche für schmutzige Witze. »Was ist los mit Ihnen, Junge?« fragte sie anklagend. »Sie treffen sich mit verheirateten Frauen, höre ich. Warum war ich nicht die erste auf Ihrer Liste?« »Das tue ich nicht«, versicherte ich ihr, »aber wenn ich's täte, würden Sie gewiß die erste, letzte und einzige sein. Aber, meine Liebe, könnten Sie mir verraten, wovon Sie eigentlich reden?« Sie schaute auf eine Notiz, die sie gerade auf einen Block gekritzelt hatte. »Während Sie bei Ihrem Vater waren, kam ein Anruf für Sie von einer Mrs. Irma Gloriana, die Sie persönlich zu sprechen wünschte. Ihrer Stimme nach zu urteilen, würde ich sie in die Kategorie ›ein gewisses Alter‹ einordnen. Sie besteht darauf, daß Sie sie sofort anrufen. Was geht hier vor, Archy?« »Eine rein geschäftliche Beziehung«, sagte ich hochmütig. »Die Dame ist zufällig meine Akupunkteurin.« Mrs. Trelawney lachte und reichte mir die Telefonnotiz. Ich hatte beabsichtigt, Al in dem Augenblick anzurufen, sobald ich in meinem Büro war, doch der Anruf von Mrs. Irma Gloriana schien mir wichtiger. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, der wie Sperrmüll der Heilsarmee aussieht, und wählte die Telefonnummer, die die Schwiegermutter des Mediums Mrs. Trelawney gegeben hatte. Es war nicht, wie ich bemerkte, die Nummer des Büros der Glorianas an der Clematis Street. »Hier bei Glorianas«, sagte eine Frau scharf. Eine tiefe Stimme, sehr kräftig, mit einem rauhen Timbre. »Hier Archibald McNally. Spreche ich mit Mrs. Irma Gloriana?« »Sie sind Mr. McNally?« Ihre Stimme war jetzt eine Spur weicher, nicht ganz so gebieterisch. »Danke, daß Sie so prompt auf meinen Anruf reagieren. Hertha hat mich darüber informiert, daß Sie eine Seance arrangiert haben möchten.« »Das stimmt. So wie ich das verstanden habe, sollen Hertha, ihr 125
Gatte, Sie, ich und ein Freund, der mich begleitet, dabei sein.« »Mr. McNally, ich ziehe es vor, neue Klienten persönlich kennenzulernen, bevor ich Pläne mache. Sie müssen wissen, daß vielen Menschen, die sich an uns wenden, mit Herthas einzigartigen Talenten einfach nicht geholfen werden kann. Das erspart uns viel Zeit – und potentiellen Klienten natürlich auch viel Geld. Können wir also ein Gespräch führen, in dessen Verlauf ich Ihnen exakt beschreibe, was bei unseren Seancen geschieht, was wir zu erreichen hoffen und was wir nicht tun können? Ich muß wissen, was Sie sich davon erhoffen. Ich nehme an, daß Sie wegen dieses Vorgesprächs nicht beleidigt sind, Mr. McNally.« »Überhaupt nicht. Ich kann durchaus verstehen, warum –« »Wissen Sie«, unterbrach sie mich, »manchmal treten Leute an uns heran, die Unmögliches erwarten oder die die blanke Neugier zu uns treibt, die gar kein echtes Interesse daran haben, die Segnungen des Spiritismus zu teilen.« »Das scheint eine –« »Und dann gibt es welche, die nur kommen, um zu spotten«, fuhr sie düster fort. »Meine Schwiegertochter ist viel zu sensibel, um sich mit arrogantem Unglauben auseinanderzusetzen.« »Ich versichere Ihnen, daß –« »Wann kann ich Sie erwarten, Mr. McNally?« wollte sie wissen. Mir hatte es die Sprache verschlagen. »Und Sie werden alle Anweisungen befolgen!« hörte ich, und ich fragte mich, welche Konsequenzen es haben mochte, wenn ich es nicht tat. »Ich kann sofort zu Ihnen kommen, Mrs. Gloriana«, sagte ich. »Ich könnte in einer halben Stunde bei Ihnen sein.« »Das wird genügen. Schreiben Sie sich bitte die folgende Adresse auf. Zudem möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Rauchen in unserem Heim nicht gestattet ist.« So notierte ich mir ihre Adresse, legte auf und entzündete sofort eine Zigarette. Ich rauchte sie völlig auf, bevor ich mich in das 126
Wagnis der Begegnung mit dieser Furie stürzte. Auf der Fahrt über die Brücke nach West Palm Beach versuchte ich, einen Sinn in dem zu finden, was Mrs. Irma Gloriana mir erzählt hatte. Ihr Beharren auf Vorgesprächen mit potentiellen Klienten erschien mir verdächtig. Warum sollten das Medium und ihr Gefolge die Motive potentieller Kunden in Frage stellen? Ihr Vermögen, den geforderten Tarif zu bezahlen, schien mir die einzig nötige Voraussetzung zu sein. Dann aber wurde mir klar, daß hinter diesem Wahnsinn Methode stecken mochte. Mrs. Gloriana wollte wissen, was ich mit dieser Seance zu erreichen hoffte. Das Gebäude, in dem sich die Wohnung der Glorianas befand, strahlte eine Spur verblichener Eleganz aus, doch ich hätte gewettet, daß es in den Korridoren nach Essen roch und die Teppichböden durchgetreten waren. Ich hätte die Wette gewonnen. Die Matrone, die die Tür von Wohnung 1102 öffnete, war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: groß, breit in den Hüften, aber mehr muskulös als dick. An ihr war eine gewisse Massigkeit. Ein großer Kopf saß aufrecht auf einem stämmigen Hals. Eindeutig eine dominante Frau. Worauf ich aber nicht vorbereitet war, war ihre Sinnlichkeit, die ich als so unverhüllt empfand, daß man sie fast riechen konnte. Diese wurde, wie ich fand, durch ihre tiefen Augen, die vollen roten Lippen, das glänzende schwarze Haar, das sich wie ein Knäuel von Schlangen um ihren Kopf wand, den üppigen Busen und eine gewisse Lockerheit ihrer Bewegungen nahegelegt. Es war leicht, sich auszumalen, daß sie unter ihrem Hängekleid, einem Gewand aus geblümtem Nylon, nackt war. Sie schüttelte fest meine Hand und ließ mich auf einem Lehnsessel Platz nehmen, der mit verschlissenem Brokat bezogen war. Sie fragte mich, ob ich einen Eistee wolle. Ich sagte, daß ich mich darüber sehr freuen würde. Und nachdem sie verschwunden war, hat127
te ich Gelegenheit, die Wohnung zu inspizieren, oder zumindest das Wohnzimmer, in das ich gebeten worden war. Es war ein trister Raum. Dunkle Farben, monströse Möbel. Es fiel mir schwer zu glauben, daß dies das Daheim der direkten Irma, des schmucken Frank und der zerbrechlichen Hertha war. Es gab nichts, was Luxus verriet oder auch nur Komfort. Sie waren ehrgeizige Menschen. Die Wohnung mußte ein vorübergehendes Domizil sein, das sie ertrugen, bis sie etwas Besseres fanden. Mrs. Gloriana kam mit einem Eistee zurück, setzte sich in die Mitte einer roten Couch und sah mich an. Sie vergeudete keine Zeit mit großen Vorreden. »Sie sind an Spiritismus interessiert, Mr. McNally?« fragte sie. Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. Er schmeckte nach einem Hauch Minze und war recht gut. »Ich lese darüber, so viel ich kann.« »Ach? Und was lesen Sie?« Ich erwähnte die Titel der Bücher, die Lydia Gillsworth mir geliehen hatte. »Sehr gut«, sagte Mrs. Gloriana billigend. »Aber Ihnen muß klar sein, daß dies nur Einführungen sind. Wahrer Glaube muß aus dem Herzen und aus der Seele kommen.« Doch sie verzichtete darauf, mich zu bekehren. »Hertha hat mir erzählt, Sie hätten sie um ihre Hilfe gebeten, da Sie eine vermißte Katze finden wollen.« »Die Katze eines Freundes.« »Sie kann Ihnen vielleicht helfen. Meine Schwiegertochter hat erstaunliche psychische Kräfte. Und wollen Sie während der Seance Fragen nach der Katze stellen?« »Nein, etwas anderes. Ich hoffe eine Botschaft von Lydia Gillsworth zu erhalten. Ich bin sicher, Sie kennen sie und haben gehört, was ihr zugestoßen ist.« Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Natürlich kannte ich Lydia. Eine sensible Seele. An dem Abend, als sie getötet wurde, 128
hat sie eine Zusammenkunft besucht. Ein brutaler, sinnloser Tod.« »Glauben Sie, daß Hertha imstande sein könnte, Kontakt mit dem Geist von Lydia Gillsworth aufzunehmen?« »Diese Möglichkeit besteht immer«, erwiderte sie, fügte dann aber nachdrücklich hinzu: »Aber natürlich können wir keine Garantien geben. Wollen Sie Lydia nach der Identität ihres Mörders fragen?« »Ja, genau das war meine Absicht.« »Einen Versuch ist es wert«, meinte sie nachdenklich. »In der Vergangenheit hat Hertha bei vielen polizeilichen Ermittlungen geholfen. Mit einigem Erfolg, wie ich hinzufügen darf. Unser übliches Honorar für eine Seance beträgt fünfhundert Dollar, Mr. McNally. Doch das wird für gewöhnlich von mehreren Teilnehmern geteilt. Da nur Sie und Ihr Freund anwesend sind, wird ein Honorar von zweihundert Dollar gerechter sein. Ist das angemessen?« »Aber total«, versicherte ich. »Und nehmen Sie Kreditkarten?« »O ja. Dieser Freund, der Sie begleitet – ist das ein Mann oder eine Frau?« »Eine Frau.« »Könnten Sie mir bitte ihren Namen nennen? Ich interessiere mich sehr für Numerologie, und ich genieße es, Namen in ihre numerischen Äquivalente umzuwandeln und daraus psychische Profile zu entwickeln.« »Sie heißt Meg Trumble.« »Kommt sie aus dieser Gegend?« »Sie ist gerade hergezogen.« »So viele fliehen aus dem Norden, nicht wahr?« Sollte sie erwartet haben, daß ich ihr Meg Trumbles Heimatstadt verraten würde, mußte sie enttäuscht sein. Ich nickte nur. »Mein Sohn sagte mir, daß Sie für eine Anwaltskanzlei arbeiten, Mr. McNally.« »Ja, für McNally und Sohn. Mein Vater ist der Anwalt.« »Aber Sie sind keiner?« 129
»Bedauerlicherweise nicht«, gestand ich, unfähig, den Blick von ihrem nackten Hals abzuwenden, dessen Haut so makellos und zart erschien, daß er einfach darauf wartete, von einem Kuß gestreift zu werden. »Und was machen Sie bei McNally und Sohn?« »Überwiegend Recherche. Gewöhnlich sehr stumpfsinniger Kram.« Ich trank meinen Eistee aus, aber sie fragte nicht, ob sie mir nachschenken dürfe. Sie schien zu überlegen. Ihre schimmernden Augen waren halb geschlossen. »Kannten Sie Lydia Gillsworth lange?« fragte sie. »Mehrere Jahre. Sie und ihr Gatte waren Klienten. Und außerdem Nachbarn.« »Ich habe Roderick Gillsworth kennengelernt. Er besuchte mit seiner Frau einige unserer Seancen. Mit seiner verstorbenen Frau, sollte ich sagen. Ich hielt ihn für einen sehr intelligenten und kreativen Mann. Ein Dichter.« »Ja, ich weiß.« »Er war so freundlich, mir handsignierte Ausgaben seiner Gedichte zu schenken. Haben Sie seine Werke gelesen, Mr. McNally?« »Einiges«, sagte ich vorsichtig. »Was halten Sie von seiner Poesie?« »Oh, sehr zerebral.« »Das ist sie«, erwiderte sie mit ihrer schwingenden, tiefen Stimme. »Aber ich glaube, er ist mehr als intellektuell. Ich spüre in seinen Gedichten einen wilden, primitiven Geist, der darum ringt, sich zu befreien.« »Sie mögen recht haben«, meinte ich diplomatisch, wobei ich dachte, noch nie einen solchen Blödsinn gehört zu haben. Roderick Gillsworth ein wilder, primitiver Geist? Dann bin ich Graf Dracula! Sie erhob sich und streckte sich. »Ich werde versuchen, Ihre Seance gegen Ende dieser Woche zu arrangieren, Mr. McNally. Ich 130
werde Ihnen mindestens einen Tag vorher Bescheid geben. Wird das genügen?« »Natürlich. Ich spreche vielleicht vorher mit Ihrer Schwiegertochter noch darüber. Möglicherweise ist sie in der Lage, zusätzliche Informationen über Peaches zu bekommen.« »Peaches?« »Die vermißte Katze.« Unerwartet lächelte sie. Ein schelmisches Lächeln, das sie jünger wirken ließ. Und attraktiver. Ich zögere, das Adjektiv ›verführerisch‹ zu gebrauchen, um eine Frau zu beschreiben, aber für Mrs. Gloriana fällt mir nichts Passenderes ein. Ich will damit nicht andeuten, daß sie sich absichtlich so lockend verhielt, aber ich konnte nicht glauben, daß sie sich ihres körperlichen Charmes total unbewußt war. Doch vielleicht war es so. Jedenfalls strahlte sie eine starke Sexualität aus, die unmöglich zu übersehen war. »Peaches«, wiederholte sie. »Ein zauberhafter Name. Ist die Katze bezaubernd?« »Die Katze ist entsetzlich.« Sie lachte laut. »Aber mein Freund liebt sie.« »Liebe«, sagte sie plötzlich ernst. »Das ist ein so unerklärliches Gefühl, nicht wahr, Mr. McNally?« »Das ist es in der Tat«, bekräftigte ich. Ihr Händedruck beim Abschied war weich und warm, völlig anders als der harte, kühle Handschlag, mit dem sie mich begrüßt hatte. Ich fuhr zum Büro zurück und versuchte meine Eindrücke von Mrs. Irma Gloriana zu sortieren. Ich hielt sie für eine sehr ernste Frau, deren Widersprüchlichkeiten ich nicht sofort durchschaute. Ich hatte das Gefühl, daß sie eine Rolle spielte, hatte aber keine Ahnung, nach welchem Drehbuch. 131
Das erste, was ich nach meiner Rückkehr ins McNally-Gebäude tat, war, Al anzurufen. Er war nicht da, und so hinterließ ich meinen Namen und meine Telefonnummer und bat um schnellstmöglichen Rückruf. Dann stapfte ich über die Hintertreppe zu unserer im zweiten Stock gelegenen Immobilienabteilung. Diese berät Klienten beim Erwerb und Verkauf von Bürogebäuden und Bauland, bei Verträgen für Privathäuser, bei der Beschaffung von Hypotheken und Ähnlichem. Leiterin der Abteilung war Mrs. Evelyn Sharif, eine herzliche Dame, die mit einem Libanesen verheiratet war, der an der Worth Avenue Orientteppiche verkaufte. Da Evelyn wegen ihrer Schwangerschaft abwesend war (sie erwartete Zwillinge!), sprach ich mit ihrem Assistenten Timothy Hogan, einem Iren, der italienische Anzüge, englische Hemden, französische Krawatten und spanische Schuhe trug. Der Mann war die wandelnden Vereinten Nationen. Ich erklärte Tim, was ich brauchte: alles, was er über das Büro der Glorianas an der Clematis Street und ihre Wohnung in der Nähe des Currie Park herausbekommen könne. Das umfaßte auch Miete, Mietdauer, Betriebskosten, Kaufpreis der Wohnung, wenn sie ihnen tatsächlich gehörte und sie nicht nur Mieter waren. »Und du bist sicher, daß du nicht auch den Namen ihres Zahnarztes wissen willst?« fragte Hogan. »Ich weiß, daß es eine Menge Arbeit ist, Tim, aber versuche, was du kannst, ja?« »Was springt für mich dabei raus?« »Ich werde dem alten Herrn nicht erzählen, daß du während der Geschäftszeit irische Lotterielose verhökerst.« »So etwas nennt man Druck ausüben.« »Ach, wirklich? Nun, tu dein Bestes, Tim.« Als ich wieder in meinem Privatschrank war, telefonierte ich eifrig und rief etliche Kontaktleute bei Banken, in Maklerfirmen und in Agenturen an, die die Kreditwürdigkeit von Kunden überprüften. 132
Die meisten Leute, bei denen ich's läuten ließ, waren Mitglieder des Pelican Club, und der einzige Preis, den ich für das Wissen zu zahlen hatte, wie es finanziell um die Glorianas stand, war das Versprechen, ein Abendessen im Pelican zu spendieren. Am späten Nachmittag war ich schließlich mit meinen Telefonaten durch, und ein gedämpftes Knurren aus der Unterrippengegend erinnerte mich daran, daß meine einzige Nahrungsmittelaufnahme an diesem Tag außer dem Frühstück nur eine Tasse Eistee und eine Zigarette gewesen war. Ich war auf dem Weg aus der Tür, um im nächstgelegenen Atzplatz einzukehren, als ein klagendes Telefon mich wieder zurück an den Schreibtisch brachte. Es war Al. »Ich rufe vom Flughafen an«, sagte er. »Ich habe mich gerade mit dem Revier in Verbindung gesetzt, und man sagte mir, du habest angerufen.« »Was machst du am Flughafen?« fragte ich. »Ich wollte mich vergewissern, ob Roderick Gillsworth seinen Flug antritt. Er bringt den Sarg in den Norden.« »Und ist er weg?« »Ja, er ist abgeflogen. Ich bin ein bißchen kribblig, ihn einfach fliegen zu lassen, aber er schwört, daß er in ein paar Tagen wieder zurück sei. Hoffentlich ist er das, sonst sehe ich nämlich wie ein erstklassiger Dämlack aus, weil ich ihn habe laufen lassen.« »Al, erzähl mir nicht, daß du ihn noch immer verdächtigst.« »Nein, aber er ist doch ein wichtiger Zeuge.« »In welchem Zustand war er?« »Ich vermute, daß er mit einem Kater fertig zu werden versuchte.« »Richtig vermutet! Als ich ihn gestern abend verließ, schüttete er Schnaps in solchen Mengen in sich hinein, als stünde jeden Augenblick die Prohibition bevor. Al, ich muß mit dir sprechen.« »Genau das tun wir zur Zeit.« Ich seufzte. »Du willst, daß ich ins Einzelne gehe? Also gut. Es ist außerordentlich dringend, daß ich mich mit dir treffe, da es gewisse 133
Briefe gibt, die ich dir zeigen möchte. Und diese Briefe sind möglicherweise von Wichtigkeit für unsere derzeitigen Mordermittlungen. Nun, wie ist das?« »Welche Briefe?« fragte er. »Al«, erwiderte ich, »du bringst mich noch mal um.« »Mit Freuden«, sagte er.
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l erzählte mir, er wolle zu dem Haus von Gillsworth fahren, um sich zu vergewissern, daß der Dichter abgeschlossen habe, als er verreiste. Ich sagte, ich käme in einer Stunde. »Laß dir Zeit«, meinte er. »Ich werde eine Weile dort bleiben.« Ich fand diese Bemerkung recht seltsam, gab dazu aber keinen Kommentar ab. Ich nahm den Umschlag mit den Briefen an Willigan und fuhr mit dem Fahrstuhl in unsere Tiefgarage hinunter. Ich winkte dem Wachmann zu und bestieg den Miata, um nach Hause zu kutschieren. Dort war niemand, und so eilte ich in die Küche und machte mir ein dickes Sandwich, Salami auf Roggenbrot, so dick mit scharfem Senf bestrichen, daß es mir die Tränen in die Augen trieb. Ich kühlte das Feuer mit einer gekühlten Dose alkoholfreiem Bier und stieg dann nach oben, um die Hausschlüssel von Gillsworth zu holen, für den Fall, daß ich vor Al eintraf. Aber als ich dort ankam, stand ein Polizeiwagen in der Auffahrt, und die Eingangstür des Hauses war offen. Ich ging hinein und rief: »Al?« 134
»Hier bin ich«, schrie er, und ich fand ihn in einem blumengemusterten Armsessel in dem Wohnzimmer, wo Lydia ermordet worden war. Er hatte seine Mütze nicht abgenommen und rauchte eine seiner dicken Zigarren. »Nun laß mal diese schwachsinnigen Briefe sehen, von denen du gesprochen hast.« Ich warf ihm den Umschlag zu. »Fotokopie vom ersten, den Harry Willigan bekam. Der zweite ist das Original. Sei vorsichtig damit. Da könnten Fingerabdrücke drauf sein.« Er las langsam beide Briefe, während ich mich auf eine Korbcouch setzte und mir eine English Oval ansteckte. Dann schaute er zu mir auf. »Das gleiche Papier. Sieht aus, als sei's die gleiche Farbe, die gleiche Schriftart und sogar der gleiche nach rechts ausgeschlossene Rand.« »Das stimmt. Der Grund, warum ich dir die nicht vorher gezeigt habe, ist, daß der Klient es verboten hat. Du kennst Willigan?« »Den kenne ich«, sagte er grimmig. »Ein Arsch ohnegleichen.« »Ich pflichte dir bei«, meinte ich. »Und wenn er je herausbekommt, daß ich dir von dem Katznapping erzählt habe, wird er wahrscheinlich McNally und Sohn wegen Amtsvergehens verklagen. Al, würdest du das bitte absolut vertraulich behandeln und für dich behalten? Mein Vater weiß, daß ich dir die Briefe zeige. Es war seine Entscheidung. Alles, worum wir als Gegenleistung bitten, ist deine Diskretion.« »Sicher«, sagte er. »Darin bin ich gut. Was hast du bisher unternommen, um diese verdammte Katze zu finden?« »Nicht sehr viel. Aber was soll ich tun – ganz Palm Beach nach Peaches' Scheiße absuchen?« Der Sergeant grinste mich an. »Du könntest über die Worth Avenue flanieren, mit den Fingern schnippen und rufen: ›Komm, Muschi, Muschi, Muschi.‹ Was meinst du, was das für einen Menschenauflauf gäbe!« 135
»Eins habe ich getan – und du wirst wahrscheinlich darüber lachen. Ich bin zu Hertha Gloriana gegangen, dieser Sensitiven, und bat sie, Peaches zu lokalisieren.« Aber er lachte nicht. »Gar nicht so dumm«, bemerkte er. »Bullen scheuen es, das zuzugeben, aber Psychologen und Medien werden öfter um Hilfe gebeten, als du glaubst, vor allem in Fällen, wo Personen vermißt werden. Was hat sie gesagt?« Ich wiederholte Herthas Beschreibung des Raumes, in dem sie Peaches gefangen gesehen hatte. »Sie konnte mir keinen eindeutigen Ort nennen, aber sie sagte, sie versucht's weiter. Al, glaubst du, daß diese Erpresserbriefe irgend etwas mit dem Mord an Lydia Gillsworth zu tun haben?« »Eindeutig. Es gibt zu viele Ähnlichkeiten bei den Briefen, als daß es Zufall sein könnte. Ich werde sie ans FBI schicken und um einen Vergleich bitten. Ich vermute, daß sie auf demselben Drucker ausgedruckt wurden.« »Und was machen wir jetzt?« »Bis wir den FBI-Bericht haben, nichts. Wenn Willigan Anweisungen wegen der Übergabe der Fünfzigtausend bekommt, laß es mich wissen. Dann werden wir versuchen, eine Falle zu stellen. Ich frage mich, ob's irgendwo in diesem Haus was zu trinken gibt.« »Laß mich nachsehen«, sagte ich. »Gillsworth wird nichts dagegen haben, wenn ich einen oder zwei Drinks abzapfe.« Ich ging in die Küche und fand meine Flasche mit dem SterlingWodka im Kühlschrank. Sie war noch zu einem Drittel voll. Ich brachte sie und zwei Gläser ins Wohnzimmer und ging dann noch einmal los, um Eiswürfel und einen Krug Wasser zu holen. »Bediene dich«, sagte ich zu Al. »Es ist Sprit von McNally. Ich habe ihn gestern Gillsworth geliehen, weil er auf dem Trockenen saß.« Wir mixten unsere Drinks und lehnten uns zurück. Es war wirklich ein sehr hübscher, behaglicher Raum – wenn man nicht auf die Blutflecken schaute, die noch nicht weggeschrubbt oder übermalt 136
worden waren. »Dieser Spazierstock, mit dem sie getötet wurde«, sagte Al, »du hast mir erzählt, Mrs. Gillsworth habe ihn dir gezeigt.« »Das ist richtig.« »Hast du ihn angefaßt?« »Nein, sie hielt ihn, während sie mir etwas darüber erzählte.« »Auf dem Stock sind viele Fingerabdrücke, ihre, die von Gillsworth und einige andere.« »Wahrscheinlich von dem Antiquitätenhändler, der ihn ihr verkauft hat.« »Wahrscheinlich, und von irgendwelchen anderen Kunden, die ihn sich in seinem Laden angesehen haben. Aber darauf befinden sich auch interessante Abdrücke. Unsere Fingerabdruckexperten sagen, sie stammen von jemand, der Gummihandschuhe getragen hat.« »Von dem Mörder?« »Wahrscheinlich. Die Gummihandschuhabdrücke lagen über den anderen. Deshalb nehme ich an, daß sie als letzte gemacht wurden.« »Und worauf bringt dich das?« »Ins Nichts – es sei denn, du entdeckst im Pelican Club einen Burschen, der Gummihandschuhe trägt.« »Chirurgen benutzen die.« »Und Anstreicher, Fensterputzer, Leute, die Fußböden schrubben, Zahnärzte. Wie kommst du mit den Glorianas zurecht?« »Sie bereiten diese Woche für mich eine Seance vor. Irma arrangiert das.« »Du hast also dieses Flittchen kennengelernt. Hat sie dich angemacht?« »Ich halte sie nicht für ein Flittchen, Al, und sie hat mich nicht angemacht.« Er schaute mich spöttisch an. »Aber du hattest nicht das Gefühl, 137
daß sie beleidigt gewesen wäre, wenn du sie angemacht hättest?« »Vielleicht«, sagte ich mißtrauisch. »Aber ich glaube, sie ist eine sehr komplexe Frau.« »Du und deine Scheißkomplikationen«, meinte er angewidert. »Für dich ist ein Spaten kein Spaten. Das ist für dich ein scharfkantiges Gerät, das zum Graben benutzt wird, und man kann es mit Hilfe von Fußdruck in den Boden stechen. Für mich ist Irma Gloriana eine ganz aufgebuffte Type mit Unterleibsmentalität.« »Ich weiß, daß du die Glorianas überprüft hast«, erwiderte ich. »Irgendwas in den Akten gefunden?« »Sie sind nicht in der Fahndungsliste«, berichtete er. »Ich hab' eine Menge Anfragen gestellt und warte. Vielleicht ergibt sich was.« Ich erzählte ihm von meinen Nachforschungen über den finanziellen Status der Glorianas. »Gute Idee«, sagte er. »Ich wette, daß es denen prächtig geht – aber das ist nur eine Vermutung. Nobler Wodka, Archy.« »Er gehört dir.« Ich trank mein Glas aus und erhob mich. »Ich muß nach Hause, um pünktlich zur Cocktailstunde der Familie da zu sein. Was ich dir noch sagen wollte, Al: Du bist nicht Roderick Gillsworths Lieblingspolizist.« »Erzähl mir was, was ich nicht weiß. Und du meinst, deswegen hätte ich schlaflose Nächte?« »Er fragte, ob er mich aus dem Norden anrufen könne, um etwas über den Stand der Ermittlungen zu erfahren. Er glaubt, du verschweigst ihm etwas.« »Das tue ich«, sagte Al mit einem harten Lächeln. »Tu mir einen Gefallen, ja? Wenn er dich anruft, dann erzähle ihm, daß ich mich sehr mysteriös verhalte und daß du glaubst, ich hätte eine heiße Spur, über die ich nicht sprechen will.« »Hast du eine?« »Nein.« »Warum soll ich ihm das dann erzählen?« 138
»Einfach, um ihn zu beunruhigen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Als ich ging, schenkte er sich einen weiteren Sterling ein, nicht zu knapp. Ich ließ den Miata an und fuhr über die Via Del Lago Richtung Strand. Während ich das tat, bog ein Wagen vom Ocean Boulevard ab und fuhr mir entgegen. Ich erkannte die Karosse. Es war ein uralter Chevy, der eigentlich auf den Schrott gehört hätte. Als er an mir vorbeifuhr, erkannte ich die Fahrerin an ihrem karottenroten Haar. Es war Marita, die haitianische Haushälterin der Gillsworths, die, Roderick zufolge, zwei Wochen beurlaubt worden war. Ich fuhr an den Bordstein, hielt an und schaute in den Außenspiegel. Marita parkte völlig unbeeindruckt neben dem Polizeiwagen, stieg aus und ging ins Haus. Sie war eine pummelige kleine Frau. Ihr gefärbtes Haar war unverwechselbar. Ich fuhr Richtung Heimat weiter. Keinen Augenblick zweifelte ich daran, daß Al sie zu sich beordert hatte. Ihr Treffen war abgesprochen gewesen, doch ich ahnte nicht, welchem Zweck das dienen konnte. Offensichtlich erzählte Al mir nicht alles über seine Ermittlungen. Andererseits erzählte ich ihm auch nicht alles über meine. Beispielsweise über die Beziehung zwischen Laverne Willigan und den Glorianas. Und es gab noch etwas, das ich ihm nicht erzählt hatte, etwas, das ich mir nicht einmal selbst erzählt hatte, da es keine Tatsache, ja nicht einmal ein Gedanke war. Es war eine unbestimmbare Ahnung, ein Gefühl, so zart und schwebend wie ein Spinnengewebe. Die familiäre Cocktailstunde und das Abendessen gingen vorüber, ohne daß sich Überraschendes oder Unerwartetes ereignet hätte. Nach dem Kaffee setzte sich Mutter im Wohnzimmer im zweiten Stock vor den Fernseher, Vater widmete sich in seinem Arbeitszimmer seinem Dickens, und ich trabte nach oben und arbeitete. Ich brachte mein Tagebuch auf Vordermann und trug alles 139
ein, was sich seit dem letzten Eintrag ereignet hatte. An diesem Abend wurde ich durch zwei Anrufe unterbrochen. Zuerst meldete sich Connie Garcia. »Du Schwein«, begann sie. »Warum hast du nicht angerufen?« »Arbeit, Arbeit, Arbeit«, sagte ich. »Ich bin nicht irgendein Schöntuer.« Sie kicherte. »Ich bin gern bereit, das zu bezeugen. Hast du dich in letzter Zeit mit Meg Trumble getroffen?« »Die habe ich seit Tagen nicht gesehen.« Ich fühlte mich außerordentlich tugendhaft, weil ich ehrlich sein konnte. »Kann sein, daß sie zurück in den Norden gefahren ist.« »Ich hoffe, sie bleibt dort«, sagte Connie. »Hör zu. Morgen abend findet eine Familienfeier statt, aber zum Mittagessen stehe ich zur Verfügung. Mach mir ein Angebot.« »Connie, würdest du vielleicht die Güte haben, mit mir morgen zu Mittag zu essen?« »Eine hervorragende Idee! Hol mich gegen Mittag ab – okay?« »Worauf du dich verlassen kannst. Ich habe eine neue Kopfbedeckung, die ich dir unbedingt zeigen muß – ein flohbraunes Barett.« »Mein Gott«, seufzte sie. Ich widmete mich wieder meinem Tagebuch und schrieb vor mich hin, bis ich an den Punkt gelangte, wo ich mich über meine Begegnung mit Irma Gloriana auslassen wollte. Da hielt ich inne und lehnte mich zurück. Ich versuchte sie deutlich vor Augen zu haben. Ich hatte geglaubt, Frank Gloriana sei der Manager, der Herthas Geschäfte verwalte. Doch Irmas Rolle bei der Vorbereitung der Seance und ihre Autorität veranlaßten mich zu glauben, daß vielleicht sie die Vorstandsvorsitzende des Unternehmens sei und mit ihrer Energie und Entschlossenheit sowohl Sohn als auch Schwiegertochter beherrsche. Wenn die Glorianas einen Riesenschwindel durchzogen, woran 140
ich langsam zu glauben begann, dann war Irma die geistige Mutter der Bande. Womit Sohnemann Frank zu ihrem geckenhaften Gefolgsmann degradiert war. Welche Rolle aber spielte Hertha? Ich mochte einfach nicht glauben, daß sich diese Unschuldige irgendeiner Missetat schuldig gemacht hatte. Ihre Lippen waren für eine Kriminelle zu weich und zu warm. Meine Überlegungen wurden durch einen zweiten Telefonanruf unterbrochen. Diesmal war's Roderick Gillsworth, der von Rhode Island aus anrief. »Wie geht es Ihnen, Roderick?« fragte ich. »Den Umständen entsprechend. Das sagen die Ärzte doch, wenn der Zustand des Patienten kritisch ist, oder? Die Beerdigung ist für morgen anberaumt. Mittags geht ein Gottesdienst voraus. Anschließend erwartet man von mir, daß ich einem Büffet im Hause einer ältlichen Tante beiwohne. Ich fürchte, daß sie Löwenzahnwein oder Kamillentee serviert. Deshalb werde ich mich vorher hinreichend stärken. Das können Sie mir glauben. Irgendwie überstehe ich das schon.« »Natürlich werden Sie das überstehen. Wann kommen Sie wieder?« »Ich habe einen Flug für Mittwochmorgen gebucht. Sagen Sie, Archy, hat sich bei den Ermittlungen etwas Neues ergeben?« Ich zögerte lange genug, um ihn fragen zu lassen: »Nun?« »Nichts Bestimmtes«, erwiderte ich. »Aber ich habe mit Sergeant Rogoff gesprochen, und er wirkte recht geheimnisvoll. Er schien mit sich selbst zufrieden zu sein, so, als sei er auf etwas gestoßen. Aber als ich ihn direkt fragte, wich er mir aus.« »Ein schrecklicher Mann«, meinte Gillsworth. »Wenn er mir nach meiner Rückkehr am Mittwoch nicht umfassende Auskunft gibt, werde ich mich an seinen Vorgesetzten wenden und verlangen, daß mir gesagt wird, was vorgeht.« »Ich habe heute abend kurz in Ihr Haus geschaut, Roderick«, 141
sagte ich. »Nur um zu prüfen, ob alles verschlossen ist. Alles in Ordnung.« »Danke, Archy. Ich rufe Sie vielleicht morgen wieder an, um zu fragen, ob Sie Neues erfahren haben.« »Natürlich.« »Ich weiß alles zu schätzen, was Sie und Ihr Vater für mich getan haben. Sie können ihm sagen, daß ich über mein neues Testament nachgedacht habe. Wahrscheinlich werde ich einen Entwurf fertig haben, wenn ich zurückkehre.« »Gut. Er wird sehr erfreut sein, das zu hören.« Ich legte auf und fragte mich, was Al damit bezweckte, in Gillsworth die falsche Hoffnung zu wecken, daß die Ermordung seiner Frau kurz vor der Aufklärung stehe. Manchmal verhält sich Al sehr mysteriös. Es war fast Mitternacht, als ich meine Tagebucheinträge beendete. Ich beschloß, nicht zu rauchen oder zu trinken, und so ging ich ins Bett und dachte glückselig daran, daß Meg Trumble am Morgen eintreffen werde. Am Dienstagmorgen wurde ich früh durch das Heulen von etwas geweckt, das wie eine ganze Brigade von Rasenmähern dröhnte. Ich wankte ans Fenster und schaute nach unten. Dort sah ich die Mannschaft unseres Landschaftsgärtners heftig bei der Arbeit. Die tauchte periodisch auf, um den Rasen zu mähen, Sträucher zu stutzen, abgestorbene Palmwedel zurückzuschneiden und alles einzusprühen, was sich in Reichweite befand. Die Burschen machten einen solchen Lärm, daß ich wußte, es würde vergebliche Mühe sein, wenn ich versuchte, wieder in meinen traumlosen Schlummer zu sinken. Das erklärt, warum ich duschte, mich rasierte und anzog und so zeitig nach unten kam, daß ich mit meinen Eltern im Eßzimmer frühstücken konnte. Das geschah sehr selten. Folglich schauten sie mich erstaunt an, und 142
Mutter fragte besorgt: »Archy, bist du krank?« Mit dem Verzehr einer wahrlich herkulischen Portion Rührei mit Zwiebeln und Räucherlachs sowie einem Berg von geröstetem Haferschrot bewies ich, daß ich mich in guter Verfassung befand. Beim Kaffee erzählte ich meinem Vater, daß Gillsworth am Abend zuvor angerufen habe und daß er am Mittwoch zurückkehren werde, bereit, sein neues Testament zu machen. Mein Vater blickte lange genug vom ›Wall Street Journal‹ auf, um zu nicken. Daraufhin setzte ich ihn davon in Kenntnis, daß ich einen hektischen Tag erwartete und deshalb mit meinem eigenen Wagen ins Büro führe, statt ihn im Lexus zu begleiten. Das brachte mir ein zweites Nicken ein, bevor er sich wieder seiner Zeitung zuwendete. Nach diesem morgendlichen Zusammensein wetzte ich die Treppen hoch, um eine neue Schachtel meiner English Ovals, meine Lesebrille und das flohbraune Barett zu holen. Letzteres rollte ich zusammen und steckte es in meine Jackentasche. Mein Minibüro erreichte ich gerade noch rechtzeitig, um einen Anruf von Mrs. Irma Gloriana persönlich entgegennehmen zu können. »Guten Morgen, Mr. McNally«, sagte sie fröhlich und wartete meine Antwort gar nicht ab. »Ich habe eine Seance für Sie und Ihre Freundin morgen abend um neun arrangiert. Ist Ihnen das recht?« »Absolut«, sagte ich. »Sollen wir –« »Sie wird hier, in dieser Wohnung, stattfinden«, fuhr sie fort. »Wir haben festgestellt, daß ein zwangloses Miteinander wahrscheinlich erfolgversprechender ist als eine Zusammenkunft in einem Büro.« »Ich kann –« »Seien Sie bitte pünktlich«, fuhr sie erneut fort, worauf ich daran zweifelte, einen Beitrag zur Konversation leisten zu können. »Wie Sie sich vorstellen können, sind diese Sitzungen für Hertha eine erhebliche Anstrengung. Wenn Sie sich verspäten, wird ihre spirituelle Anspannung noch verstärkt.« 143
»Wir werden pünktlich sein«, sagte ich eilig, und bekam das gerade noch heraus, bevor sie auflegte. An diesem Morgen arbeitete ich an meiner Spesenabrechnung, einer monatlich zu erledigenden Aufgabe, die meine ganze Kreativität forderte. Meine Arbeit wurde durch drei Telefonanrufe von Informanten unterbrochen, die ich nach dem finanziellen Status und der Kreditwürdigkeit der Glorianas befragt hatte. Als ich schließlich zum Mittagessen mit Connie Garcia aufbrechen mußte, war ich davon überzeugt, daß Al recht gehabt hatte: Die Glorianas waren keine Kandidaten für die Wohlfahrt, aber ihre Bankkonten zeigten sich beunruhigend abgeräumt, und sie standen in dem unschönen Ruf, Schecks platzen zu lassen. Am Ende glichen sie das immer wieder aus, doch ungedeckte Schecks bringen Bankiers ziemlich in Harnisch. Ich fuhr an den Strand, um Connie abzuholen, und suchte dabei einen Zusammenhang zwischen der knappen Kasse der Glorianas und der Entführung von Peaches herzustellen. Die Verbindung schien offensichtlich. Sie zu beweisen war eine völlig andere Geschichte. Als Connie Garcia aus ihrem Büro in Lady Horowitz' Landhaus hüpfte, lehnte ich nonchalant an dem Miata; mein Barett saß schneidig auf eine Seite gezogen auf meinem Schädel. Connie warf einen langen Blick darauf und bog sich dann in einem Lachkrampf. »Bitte!« keuchte sie. »Archy, bitte, nimm das ab! Ich ertrage das nicht! Mir tun alle Rippen weh!« Gekränkt steckte ich die Kopfbedeckung in meine Tasche. Es war ein schwüler Tag. Der erste Tropensturm der Jahreszeit lag bei Yukatan auf der Lauer, und als Ergebnis dessen hatten wir einen glasigen Himmel, feuchten Wind und einen Seegang, der ölig wogte. Die Bar des Pelican Club war besetzt, doch im Restaurantbereich saßen überraschend wenig Mitglieder. Wir nahmen unseren Lieb144
lingsecktisch, und Priscilla kam zu uns geschlendert, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. »Archy«, sagte Connie, »zeig Pris deinen neuen Hut.« Gehorsam zupfte ich das Barett aus meiner Jackentasche und setzte es, kühn zur Seite gezogen, auf. Priscilla starrte mich erschrocken an. »Eins ist mir völlig klar«, sagte ich, während ich das Barett abnahm, »nämlich, daß ihr zwei zwar Sklaven der Mode seid, aber kein Stilempfinden habt. Glaubt mir, Leinenbarette sind die kommende Mode.« »Wenn die kommen«, meinte Priscilla, »gehe ich. Aber wollt ihr jetzt hier über bescheuerte Kopfbedeckungen debattieren oder einfach eine Bestellung aufgeben?« Zum Auftakt nahmen Connie und ich Wodka Gimlets und bestellten beide Leroys Tagesspezialität: ein gegrilltes Delphin-Sandwich mit scharf gewürzten Pommes Frites. Dazu wurde ein Salat serviert, bestehend aus Eichblättern, roten Zwiebeln und einer köstlichen Sauce. Connie nahm ihren Teller mit Begeisterung in Angriff und erwähnte Proteine, Cholesterin oder zu viel Fett mit keiner Silbe, wofür ich ihr dankbar war. »Übrigens«, sagte sie und schaute von ihrem Salat auf, »ich habe den Auftrag an die Glorianas abgeschickt und um ein psychisches Profil gebeten.« »Danke, Connie. Ich hoffe, du hast es nicht zu lächerlich formuliert.« »Nicht doch. Ich habe lediglich alle wichtigen Dinge wie Geburtsort, Namen der Eltern und so weiter erfunden. Und ich habe in einer Geschenkboutique ein kleines rotes Plastikherz erstanden und es als meinen liebsten persönlichen Besitz mitgeschickt. Glaubst du wirklich, daß die Glorianas mir ein erfundenes Profil schicken werden?« »So erfunden wie dein Brief«, versicherte ich ihr. »Gib mir Be145
scheid, sobald du eine Antwort erhältst. Inzwischen werde ich dir einen Scheck von McNally und Sohn für geleistete Dienste besorgen.« Sie war wirklich eine Klassefrau, und an ihr war nichts falsch. Man bekam, was man sah. Ich glaube, unser Problem – oder besser mein Problem – war die Tatsache, daß wir im Lauf der Jahre so vertraut miteinander geworden waren, daß etwas Rätselhaftes fehlte. Wir kannten uns einfach zu gut. Eigentlich waren wir mehr Kumpels als ein Liebespaar und somit mehr zufrieden als leidenschaftlich. Aber Zufriedenheit ist ja nie genug, oder? Ich denke, das ist der Grund, warum Männer und Frauen einander betrügen. Ich unterschrieb die Essensrechnung, und Connie ging voran, als wir das Restaurant verließen und dabei an der Bar vorbeispazierten. Es war erfreulich zu sehen, wie viele Männerköpfe sich in ihre Richtung wandten, und die verlangenden Blicke zu registrieren. Sie lenkte sogar die Blicke mehrerer anwesender Frauen auf sich, denn Connie war eine enorm attraktive Dame, die eine ungemeine Lebendigkeit dadurch ausstrahlte, daß sie so frisch, jung und voller Feuer war. Ich wußte sehr wohl, daß ich ein Narr war, weil ich ihr die Treue nicht hielt. Doch diese Erkenntnis erschreckte mich nicht. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß die Welt ziemlich langweilig wäre, wenn wir uns alle diszipliniert verhielten. Wir kehrten zum Horowitzschen Anwesen zurück und saßen ein paar Augenblicke im Wagen, bevor Connie sich wieder an ihre Arbeit begab. Sie wirkte sehr ernst. »Archy«, sagte sie mit fester Stimme, »du willst doch nicht wieder Schluß machen?« »Schluß machen?« rief ich. »Natürlich will ich nicht Schluß machen. Was redest du denn da für einen Unsinn?« »Du benimmst dich in letzter Zeit so seltsam, du wirkst so distanziert.« 146
»Ich hab' dir doch erzählt, wie beschäftigt ich bin. Du weißt, daß Lydia Gillsworth ermordet worden ist. Sie war unsere Klientin, und Vater will, daß ich der Polizei dabei helfe, den Mörder zu finden. Wir waren durch ihren Tod sehr betroffen.« »Das kann ich verstehen, aber du bist doch sicher nicht vierundzwanzig Stunden täglich beschäftigt. Wir haben seit langem keine Nacht mehr miteinander verbracht.« »Das ist aber nicht allein meine Schuld«, erklärte ich. »Wir hatten ein kleines Bacchanal geplant, aber dann mußtest du länger arbeiten. Daran erinnerst du dich doch vielleicht noch, oder?« Sie nickte. »Das bedeutet aber nicht, daß wir nicht eine andere Miniorgie planen können. Archy, erinnerst du dich an die Zeit, als wir um Mitternacht nackt in den Ozean sprangen?« »Das ist eine Erinnerung, die ich für immer bewahren werde. Ich wurde von einem Krebs gezwickt.« »Die Wunde war nur sehr klein.« »Ja, aber er zwickte mich in einen sehr empfindlichen Körperteil. Doch du hast recht, Connie. Es ist lange her, seit wir beide eins waren.« »Morgen abend?« schlug sie vor. »Oh, das geht bedauerlicherweise nicht. Ich treffe mich mit Sergeant Al Rogoff, um eine Presseerklärung über den derzeitigen Stand der Ermittlungen vorzubereiten. Wie wär's mit dem Wochenende? Vielleicht Samstagabend?« »Klingt gut. Ich werde es einplanen. Enttäusche mich nicht, Archy!« »Habe ich das je getan?« Sie schenkte mir ein reumütiges Lächeln. »Darauf antworte ich besser nicht.« Sie beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. »Danke für das Mittagessen, Süßer. Wir sehen uns Samstagabend. Aber versuche, mich vorher anzurufen – okay?« »Natürlich.« 147
Sie ging in ihr Büro, und ich fuhr verängstigt heim. Eines fernen Tages, dachte ich, werden alle Frauen, denen ich Unrecht getan habe, einen Kongreß veranstalten, vergleichen, was sie an Beschwerden vorzubringen haben, und zu dem Ergebnis kommen, daß ein sofortiges Lynchen meiner Wenigkeit völlig angemessen ist. Ich hatte keine Ahnung, wann Meg Trumble anrufen würde, um ihre Ankunft anzukündigen, und beschloß deshalb, in der Nähe des Telefons zu bleiben und sogar auf mein Schwimmen im Ozean zu verzichten, um sie nicht zu verpassen. Ich begab mich direkt in mein Quartier und schaltete die Klimaanlage auf eiskalt. Es war drückend schwül, so daß ich mich bis auf die Unterhose auszog, bevor ich mich an die Arbeit machte. Ich erinnerte mich, Meg eine Liste von Freunden und Bekannten versprochen zu haben, die daran interessiert sein könnten, einen Gymnastiklehrer zu engagieren. Mein Adreßbuch befragend, stellte ich eine Auswahl von Männern und Frauen zusammen, wobei ich mich auf die Fetten und die notorischen Nichtstuer konzentrierte. Und am Ende fügte ich noch den Namen Al Rogoff hinzu. Einfach nur so – zum Scherz. Es wurde Zeit, sich für die familiäre Cocktailstunde anzuziehen, und ich hatte noch immer nichts von Meg gehört. Es war durchaus möglich, daß sie aus dem einen oder anderen Grund auf der Straße festsaß. Deshalb hielt ich es für das Beste, mit meinen Eltern zu Abend zu essen. Wenn sie anrief, nachdem ich gegessen hatte, konnte ich sie noch immer zum Essen ausführen, meinen Verzehr aber auf die Einnahme frischen Obstes beschränken, beispielsweise auf eine Limonenscheibe, eingetaucht in einen gekühlten Daiquiri. Tatsächlich rief sie dann erst kurz nach neun an. Dichter Verkehr und Baustellen hatten ihren Zeitplan völlig umgeworfen. »Ich hoffe, du hast nicht gewartet und schon zu Abend gegessen, Archy«, sagte sie. »Das habe ich«, gestand ich. »Aber das bedeutet nicht, daß wir 148
unsere Verabredung zum Essen platzen lassen müssen.« »Das mußt du doch nicht«, protestierte sie. »Ich gehe einfach kurz raus und besorge mir einen Imbiß. Wir sehen uns dann morgen abend, wenn du Zeit hast.« »Genau darüber möchte ich mit dir sprechen«, sagte ich. »Hör zu. Ich schlage folgendes vor. Ich besorge eine Pizza und etwas zu trinken, und dann sause ich zu dir, solange sie noch warm ist. Oder du wärmst sie in deinem Ofen auf. Wie findest du das?« »Wundervoll – wenn du das wirklich tun willst.« »Das will ich«, erklärte ich entschlossen. »Innerhalb einer Stunde bin ich bei dir.« Unlängst hatte eine neue Pizzeria am Federal Highway südlich vom Hafen von Palm Beach aufgemacht. Dort bekam man Pizzas, die entweder im Haus selbst gegessen oder in Isolierpackungen mitgenommen werden konnten. Ich fuhr zu der Pizza-Boutique, um eine Pizza für Meg zu erwerben. Ich entschied mich für eine mit Auberginen, Tomaten und Gorgonzola auf dünner Kruste. Dazu kaufte ich einen Sechserpack Diät-Pepsi. Meg öffnete mir die Tür mit einem breiten Lächeln und einem Kuß auf die Wange, genau auf die Stelle, die Connie Garcia nicht allzu viele Stunden zuvor bevorzugt hatte. Meg sah umwerfend aus. Offensichtlich hatte sie gerade geduscht. Ihr Stoppelhaar war noch naß, und ihr Gesicht glänzte. Sie trug eine superkurze Bootsmannshose und ein Top, bei dem an Wolle so gespart worden war, daß ihr Bauch freilag. Und dazu duftete sie gut. Ihre Wohnung war mit Koffern, Kartons und schwellenden Einkaufstüten vollgestopft. Sie machte auf dem Cocktailtisch etwas Platz für den Pizzakarton und stellte uns zwei gekühlte Pepsi hin. Sie machte sich nicht die Mühe, die Pizza aufzuwärmen, sondern begann augenblicklich, die Stücke zu essen, wobei sie gelegentlich 149
die Augen verdrehte und ein »Mmm!« von sich gab. »Mein Gott«, sagte ich, »hast du heute denn noch gar nichts zu essen gehabt?« »Ein Landfrühstück um sieben Uhr morgens. Ich bin wirklich ausgehungert.« »Das kann ich mir denken. Meg, hast du mich von hier aus angerufen?« Sie schüttelte den Kopf. »Von einer Tankstelle. Aber mein Telefon wird morgen angeschlossen. Das hat man mir versprochen.« »Schön. Könnte sein, daß ich anrufen muß. Wegen morgen abend, Meg – was hältst du davon, mich zu einer Seance zu begleiten?« Ich fürchtete, sie werde sich weigern oder die ganze Idee so absolut bescheuert finden, daß ich außerstande wäre, sie den Glorianas als ernsthafte Studentin des Spiritismus vorzustellen. Doch sie überraschte mich. »Liebend gern«, sagte sie prompt. »Laverne und ich sind früher immer zu so was gegangen. Ich wußte nicht, daß du an solchen Sachen interessiert bist.« »Aber ja doch«, log ich kühn. »Ich bin ganz versessen darauf. Ich habe mit einem Medium, ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter für morgen abend eine Seance vereinbart. Diese Sensitive soll sehr talentiert sein. Ich habe noch nie eine Seance besucht, deshalb bin ich ganz gespannt darauf. Du wirst mich also begleiten?« »Natürlich. Um wieviel Uhr?« »Um neun. Ich dachte, wir essen vorher zu Abend. Ich schlage vor, ich hole dich um sieben ab.« »Ich werde fertig sein«, sagte sie. Sie leckte sich die Finger ab, schlug ihre schlanken Beine übereinander und lehnte sich mit ihrem Drink zurück. »Die Pizza war köstlich«, erklärte sie. »Danke, Archy. Du hast mir das Leben gerettet. Ich werde morgen den Kühlschrank auffüllen, die Wohnung auf Vordermann bringen und mich dann langsam um Klienten kümmern.« 150
»Ich bin froh, daß du das erwähnt hast.« Ich überreichte ihr die Liste potentieller Kunden, die ich zusammengestellt hatte. »Wundervoll«, sagte sie, während sie die Namen überflog. »Ich bin so froh, daß du das nicht vergessen hast. Wie kann ich dir je danken?« Ich spendierte ihr einen anzüglichen Blick. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.« Sie lachte. »Archy, du bist ein Clown. Fändest du's sehr schlimm, wenn wir die heutige Nacht kippen? Im Augenblick möchte ich nichts anderes als auspacken und dann nur schlafen.« »Natürlich. Nach all der Fahrerei mußt du erschöpft sein.« Ich erhob mich zum Gehen. »Ich sehe dich dann morgen abend um sieben, Meg.« Sie trat dicht zu mir und umarmte mich fest. Atemlos spürte ich ihre muskulösen Arme. »Morgen wird es anders sein«, flüsterte sie. »Das verspreche ich.« »Schlaf gut«, sagte ich, so unbekümmert ich konnte. Roderick Gillsworth rief an diesem Abend nicht an – wofür ich dankbar war.
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en Mittwochvormittag verbrachte ich damit, langsam mein Tagebuch durchzugehen, jede Eintragung zweimal zu lesen und so nach einer Lösung zu suchen. Ich entdeckte nichts, was auch nur ansatzweise einen Hinweis auf ein teuflisches Komplott oder eine Erklärung für eine vermißte Katze und den Tod der Frau eines 151
Dichters gegeben hätte. Alles, was mein Tagebuch enthielt, war ein Durcheinander von Fakten, Vermutungen und Eindrücken. Ich fuhr ins Büro und fand auf meinem Schreibtisch in einem versiegelten Umschlag ein Memo von Tim Hogan, unserem zeitweiligen Leiter der Immobilienabteilung. Es betraf das Büro und die Wohnung der Glorianas. Die Bürosuite an der Clematis Street war für ein Jahr gemietet worden. Die Glorianas hatten zwei Monatsmieten als Sicherheit hinterlegt, waren derzeit aber mit ihren Zahlungen einen Monat im Rückstand. Ihre Wohnung war ebenfalls kein Eigentum, sondern auf monatlicher Basis gemietet. Im Augenblick waren die Glorianas mit ihrer Miete auf dem Laufenden. In beiden Fällen waren eine Bank und Personen in Atlanta als Referenzen angegeben. Hogan hatte umsichtigerweise diese Namen und Adressen gleich mitgeliefert, wies aber darauf hin, daß er keinen Hinweis darauf finden könne, daß die Referenzen je überprüft worden seien. Das war im Immobilienwesen von Südflorida zwar ungewöhnlich, aber keineswegs einmalig. Ich rief Al an und erzählte ihm, was ich hatte. »Warum überprüfst du sie nicht, Al?« schlug ich vor. »Einfach spaßeshalber.« »Das werde ich. Aber ich denke, ich werde zuerst mal Kontakt mit den Bullen in Atlanta aufnehmen. Nur für alle Fälle.« »Tu das«, drängte ich. »Es ist unser erster wirklicher Hinweis darauf, wo die Glorianas operiert haben, bevor sie hierher kamen.« Ich nannte ihm die Namen und die Adressen der Referenzpersonen der Glorianas, und er versprach mir, sich zu melden, sobald er etwas hätte. An diesem Punkt hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, wo ich mit meinen diskreten Ermittlungen weitermachen sollte. Deshalb beschloß ich, zur Worth Avenue zu fahren, um dort für Connie ein Tennisarmband zu einem Preis zu erstehen, der mich nicht in den Schuldturm bringen würde. 152
Dann griff das Schicksal sehr wohlwollend in die Ermittlungen ein – was beweist, daß einem Gutes widerfahren kann, wenn man reinen Herzens ist und jeden Morgen seinen Haferbrei ißt. Ich ging in die Garage, um den Miata für die kurze Fahrt zur Worth zu besteigen. Herb, unser kräftiger Wachmann, war aus seinem gläsernen Schilderhäuschen gekommen und bückte sich, um den Kopf einer Katze zu streicheln, die sich an seinem Schienbein rieb. Ich schlenderte zu ihm hinüber. »Haben Sie einen neuen Freund, Herb?« fragte ich. Er blickte zu mir auf. »Ein Streuner, Mr. McNally. Er ist gerade die Auffahrt heruntergekommen.« Es war die längste und dürrste Katze, die ich je gesehen hatte. Sie war staubschwarz und hatte einen schmutzigweißen Fleck auf der Brust. Ein Ohr hing schlaff herab und sah blutverschmiert aus. Die Rippen und die Beckenknochen stachen heraus. Doch trotz ihres jämmerlichen Zustandes schien sie in froher Stimmung zu sein. Sie schnurrte laut, während Herb sie streichelte, und kam dann zu mir, um meine Schuhe zu beschnüffeln. Ich bückte mich, um sie unter dem Kinn zu kraulen. Das gefiel ihr. »Sieht hungrig aus, Herb«, sagte ich. »Na sicher. Ich geh' vielleicht hoch in die Cafeteria und besorge ihr was zu futtern.« »In unsere Cafeteria?« fragte ich. »Wollen Sie sie adoptieren?« »Schon möglich. Aber wenn ich sie mit nach Hause nehme, springt sie wahrscheinlich in mein Tropenfischaquarium. Ist es Ihnen recht, wenn ich sie hier lasse? Ich wette, daß sie eine hervorragende Mäusejägerin ist.« »Soll mir recht sein, wenn Sie sich um sie kümmern.« »Ich denke, ich sollte mit ihr erst einmal zum Tierarzt gehen«, meinte er besorgt. »Ich werde ihr Ohr verarzten lassen und sie baden. Du wirst schon wieder gesund werden«, sagte er zu seiner 153
neuen Gefährtin. »Der Arzt wird dich so richten, daß du wie neu bist.« In dem Augenblick kam's über mich. Ich schlug Herb auf die Schulter. »Gott segne Sie!« rief ich heiser, und er dachte wahrscheinlich, ich sei von seiner Freundlichkeit zu einem verletzten, heimatlosen Tier angetan. Ich kehrte sofort in mein Büro zurück, zog die Gelben Seiten der Region heraus und schlug die Seiten auf, auf denen die Tierärzte aufgelistet waren. Ich hatte folgendes überlegt. Mal angenommen, Peaches erkrankte, während sie im Gewahrsam der Katznapper war. Das war immerhin möglich. Tatsächlich war das sogar wahrscheinlich, wenn dieses reizbare Tier sich in völlig fremder Umgebung als Gefangene von Unbekannten wiederfand. Die Diebe würden die Gesundheit ihrer kostbaren Geisel nicht aufs Spiel setzen wollen und sie folglich zu einem Tierarzt bringen. Ich brauchte lediglich Kontakt zu den hiesigen Tierärzten aufzunehmen und zu fragen, ob sie in letzter Zeit eine fette, silbergraue Katzenperson mit ausgesprochen widerwärtigem Charakter behandelt hatten. Aber meine Begeisterung über den genialen Einfall schwand, als ich einen Blick auf die Liste der Tierärzte warf. Davon gab es offensichtlich Hunderte. Eine gute Idee, entschied ich, aber unmöglich umsetzbar. Dann fiel mein schweifender Blick auf einen Kasten, in dem die Namen von Tierärzten hervorgehoben waren. Überschrieben war er mit ›Tierärztlicher Notdienst‹, und darunter waren Tierkliniken aufgeführt, die rund um die Uhr Dienst taten. Darin standen lediglich fünfzehn Namen und Adressen; einige waren weit entfernt. Mir schien der Gedanke einleuchtend, daß Peaches' Henkersknechte den nächstgelegenen Notdienst aufsuchen würden, falls sie krank wurde. Ich schnitt diesen Teil aus und kreiste mit meinem goldenen 154
Mont-Blanc sorgfältig die Nottierärzte im Großraum West Palm Beach ein. Davon gab es sieben. Es wurde immer besser! Ich schätzte, daß ich sie in zwei Tagen besuchen konnte. Doch konnte ich bei ihnen nicht einfach reintraben, Peaches beschreiben und dann Auskunft darüber verlangen, ob man in letzter Zeit eine solche Katze behandelt habe. Die Ärzte würden ganz sicher die Polizei rufen und ihr nahelegen, ein großes Schmetterlingsnetz mitzubringen. Nein, was ich brauchte, war eine wunderbare Geschichte, die ihr Interesse wecken würde. Und dazu fiel mir folgendes ein: »Guten Morgen! Mein Name ist Archibald McNally, und hier ist meine Visitenkarte. Ich habe ein Problem, bei dessen Lösung Sie mir hoffentlich werden helfen können. Gestern abend kehrte ich von einer Geschäftsreise zurück und fand auf meinem Anrufbeantworter die Nachricht einer Freundin vor, die offensichtlich während meiner Abwesenheit in West Palm Beach eingetroffen ist. Die Nachricht war beunruhigend. Ihre Katze – sie reist immer mit ihrer geliebten Peaches – war plötzlich erkrankt, und meine Freundin ist zu einer Tierklinik geeilt. Doch war sie so aufgeregt, daß sie versäumte, mich zu informieren, in welche Klinik sie ihren kranken Liebling gebracht hat. Können Sie mir vielleicht sagen, ob Sie kürzlich ein solches Tier behandelt haben? Es wäre eine große Hilfe.« Daraufhin wollte ich Peaches beschreiben. Am Mittwochnachmittag fuhr ich zu vier Tierkliniken und zog meine Schau ab. In allen vier Häusern saß eine junge Frau am Empfang, und ich ließ jeder mein gewinnendstes Lächeln zuteil werden und gab meinen Sermon von mir. Das Ergebnis war gleich Null. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Tatsächlich war es so, daß ich, als ich an den Strand fuhr, um zu schwimmen, beglückt darüber war, daß mein Gerede in den Häusern, die ich besucht hatte, willig akzeptiert worden war. Alle schauten in ihren Unterlagen nach und bedauerten aufrichtig, die erbetene Hilfe nicht geben zu 155
können. Ich schwamm meine Meilen und kehrte dann in meine Gemächer zurück, um mich auf die familiäre Cocktailstunde, mein Abendessen mit Meg Trumble und die Seance mit den Glorianas, die darauf folgen würde, vorzubereiten. Ich entschied, mich solide, wenn nicht gar dunkel zu kleiden: marineblauer Tropenanzug aus Kammgarn, weißes Hemd, maronenfarbene Krawatte. Doch als ich mich im Spiegel betrachtete, wurde mir klar, daß ich ein wenig zu sehr wie ein Leichenbestatter aussah. Deshalb tauschte ich die maronenfarbene Krawatte gegen einen Jacquardbinder mit handgemaltem asiatischen Lilienmuster aus. Mutter bemerkte bei den Martinis an diesem Abend, ich sähe ›sehr smart‹ aus. Mein Vater warf einen Blick auf die Lilien, und eine Augenbraue wanderte nach oben. Doch alles, was er sagte, war: »Gillsworth ist zurückgekehrt. Er hat mich heute nachmittag angerufen.« »Ist er bereit, ein neues Testament zu machen?« fragte ich. Mein Vater runzelte die Stirn. »Er sagte, er werde mich nächste Woche anrufen und einen Termin vereinbaren. Ich hätte einen früheren Termin bevorzugt – wenn möglich, morgen – und habe ihm das gesagt. Aber er erwiderte, daß er noch keine speziellen Legate beschlossen habe und mehr Zeit brauche. Ich glaube, der Mann wich mir aus, aber ich kann nicht verstehen, warum.« »Prescott«, sagte meine Mutter sanft, »manchen Menschen fällt es schwer, ein Testament zu machen. Es kann eine sehr qualvolle Erfahrung sein.« »Unsinn«, erwiderte er. »Wir müssen alle sterben, und es ist nur klug, darauf vorbereitet zu sein. Ich habe mein erstes Testament gemacht, als ich neun war.« Ich lachte. »Welche Besitztümer hattest du in diesem Alter, die du hättest vererben können, Vater?« »Meine Murmeln.« 156
Später, als ich nordwärts Richtung Riviera Beach fuhr, wurde das Problem von Roderick Gillsworths letztem Willen von einem viel naheliegenderen Problem überschattet: Wohin sollte ich Meg Trumble zum Abendessen entführen? Es mußte nah genug sein, damit wir pünktlich zu der Seance kamen, die Mrs. Irma Gloriana angesetzt hatte. Und doch mußte es weit genug entfernt und relativ versteckt sein, so daß ich eine gute Chance hatte, nicht von Connie Garcia oder jemand aus ihrer Spionagetruppe in Megs Begleitung gesehen zu werden. Ich entschied mich schließlich für ein orientalisches Restaurant an der 45th Street. Es war ein sehr kleines Bistro mit nur sechs Tischen, aber ich war schon einmal dort gewesen und fand das Essen hervorragend, vorausgesetzt, man mochte Weinblätter. Allerdings hatte es einen Nachteil. Es gab keine Bar, und im Ausschank waren nur Bier und Wein. Meg war fertig, als ich eintraf, was eine angenehme Überraschung war. Eine andere war ihr Aussehen. Sie trug ein kurzärmliges Kleid aus Crêpe de Chine, das in zwei Farbstreifen geteilt war, fuchsienrot und orange. Es sah toll aus. Der Ausschnitt hätte eigentlich nach Schmuck verlangt, doch sie trug nur goldene Ohrringe in Seepferdchenform. Sie wirkte so schlank, dynamisch und gesund, daß ich auf der Stelle beschloß, abzunehmen, Muskeln zu entwickeln und nichts anderes als Seltzer on the Rocks zu trinken. Ich entführte sie zum Café Istanbul und versicherte ihr, daß es das In-Restaurant kritischer Gourmets geworden sei. Das war keine Lüge, sondern nur eine kleine Übertreibung, die ihre Freude am Abendessen mehren sollte. Es zeigte sich, daß Meg von dem Lokal fasziniert war und ihre vegetarische Zurückhaltung soweit aufgab, daß sie Moussaka bestellte. Ich nahm gegrilltes Lamm auf Curryreis. Gemeinsam aßen wir einen großen Salat, der überwiegend aus schwarzen Oliven bestand, die in Wirklichkeit Strünke und eingelegte Knospen von Blumen157
kohl waren. Dazu bestellte ich eine halbe Flasche gekühlten Retsina. Meg probierte einen kleinen Schluck, entschied sich dann aber für eine Coke, so daß ich gezwungen war, die halbe Flasche allein zu trinken. Während dieses Genusses kam ich schließlich auf die Seance zu sprechen, die wir zu besuchen gedachten. »Ich wußte nicht, daß du und deine Schwester an Spiritismus interessiert seid«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Laverne mehr als ich. Sie fährt auf diesen ganzen Kram ab. Ich glaube, sie hat sich von einem Dutzend Astrologen ihr Horoskop stellen lassen und schläft immer mit einem Kristall unter dem Kopfkissen.« »Ob sie vielleicht Hertha Gloriana kennt, das Medium, das wir heute abend besuchen?« »Ich habe sie diesen Namen nie erwähnen hören, aber das ist verständlich. Harry geht an die Decke, wenn jemand das Thema Parapsychologie anschneidet. Er glaubt, das alles sei ein einziger Schwindel. Was meinst du dazu, Archy?« Die Frage veranlaßte mich zum Grübeln. »Ich weiß es einfach nicht«, gestand ich. »Das ist einer der Gründe, warum ich mich auf die Zusammenkunft heute abend freue. Meg, glaubst du, daß es möglich ist, mit Geistern zu kommunizieren?« »Natürlich«, erwiderte sie prompt. »Ich bin einmal zu einer Seance gegangen und habe mit meiner Großmutter gesprochen. Ich habe sie nie kennengelernt. Sie ist seit fünfzig Jahren tot. Doch ihr Geist wußte Dinge über unsere Familie, die wahr waren, und das Medium kann sie unmöglich gewußt haben.« »Hat der Geist deiner Großmutter dir erzählt, wo sie ist?« »Im Himmel.« Zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit trafen wir bei den Glorianas ein. Die Familie war in diesem etwas schäbigen Wohnzimmer versammelt, und ich stellte Meg vor. Die Begrüßung von Irma und 158
Frank fiel recht höflich aus, wenngleich sie nicht überschwenglich herzlich war. Hertha indes begrüßte Meg wärmstens und hielt ihre Hand fest, während sie ihr tief in die Augen schaute. »Sie sind Widder, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Meg. »Woher wissen Sie das?« Hertha lächelte nur und wandte sich an mich. »Und wie geht es Ihnen heute abend, Fisch?« Sie lag wieder richtig. Aber natürlich wäre es leicht für sie gewesen, mein Geburtsdatum herauszubekommen. In aller Bescheidenheit muß ich zugeben, daß die wesentlichen Angaben über meine Person in einem dünnen Büchlein enthalten sind, das den beziehungsreichen Titel trägt: ›Die begehrtesten Junggesellen von Palm Beach.‹ Und ich ahnte, woher sie Megs Geburtsdatum kannte. Hertha trug ein langes, fließendes Kleid aus lavendelblauem Georgette, das ich passender für eine Gartenparty als für eine Seance hielt. Irma Gloriana trug einen schwarzen Hosenanzug, dazu ein Herrenhemd. Sohn Frank, dieser Dandy, prangte in einem weißwollenen doppelreihigen Blazer mit goldenen Knöpfen. Im Vergleich zu ihm sah ich wie ein Buchprüfer des Finanzamtes aus. Es wurden keine Erfrischungen angeboten, und es gab auch keine einführenden Belehrungen. Wir begaben uns in das schwach erleuchtete Eßzimmer. Dort war der Eichentisch zu einem runden Tisch zusammengeschoben worden, an dem wir fünf bequem sitzen konnten. Die Stühle waren hochlehnig, die Sitze dünn gepolstert. Ich wurde zwischen Irma und Frank gesetzt. Er hielt Herthas linke Hand, Meg ihre rechte. Die Sitzfolge im Uhrzeigersinn war so: Hertha, Frank, Archy, Irma und Meg. Eine eigenartige Sitzordnung, dachte ich. Die beiden Männer nebeneinander. Aber vielleicht gab es dafür einen Grund. Hertha blickte sich mit starrem Blick langsam im Kreis um. Und dann sprach sie, ebenso langsam, mit ihrer leisen, hauchenden Stim159
me. »Bitte«, sagte sie, »faßt euch alle ganz fest bei den Händen. Schließt die Augen und richtet eure Gedanken auf Xatyl, den Mayaschamanen, der mein Kanal zum Jenseits ist. Mit all eurer spirituellen Kraft werde ich versuchen, Xatyl dazu zu bewegen, mir zu erscheinen.« Das erste, wessen ich mir bewußt wurde, nachdem ich die Augen fest geschlossen hatte, war Franks kräftiger Händedruck und dann die weichere, wärmere, feuchte Hand seiner Mutter. Dann aber versuchte ich an Xatyl zu denken. Ich hatte keine Ahnung, wie ein Mayaschamane aussah, also konzentrierte ich mich auf den Namen und wiederholte in einem fort: »Xatyl, Xatyl, Xatyl!« Fünf Minuten vergingen in völligem Schweigen, bevor Hertha wieder sprach, diesmal mit einer Stimme, die zu einem ausdruckslosen Summen geworden war. »Xatyl erscheint«, berichtete sie. »Düster. Aus den Nebeln. Sei gegrüßt, Xatyl, von deinen Bittstellern.« Die nächsten Worte, die ich hörte, trafen mich wie ein Schock – nicht ihre Bedeutung als vielmehr der Tonfall, in dem sie ausgestoßen wurden. Es war die dünne, brüchige Stimme eines alten Mannes, eine verbrauchte Stimme, die zitterte und manchmal vor Schwäche versagte. »Grüße aus dem Jenseits«, sagte Xatyl. »Ich bringe euch Liebe von einem Hohepriester der Maya.« Ich öffnete die Augen, um Hertha anzustarren. Die Worte kamen zweifellos aus ihrem Mund, aber ich konnte kaum glauben, daß diese alte, zitternde Stimme die ihre war. Ich schloß die Augen wieder und war dankbar, daß Irma und Frank mich mit ihrem Händedruck in der Wirklichkeit verankerten. »Wer wünscht Kontakt zu einem der Verschiedenen?« fragte Hertha mit ihrer normalen Stimme. »Ich«, erwiderte Meg Trumble sofort. »Ich möchte gern mit meinem Vater sprechen, mit John Trumble, der vor acht Jahren hinübergegangen ist.« 160
»Ich habe es gehört«, meinte die Xatylstimme. »Habe Geduld, mein Kind.« Lange Augenblicke lang warteten wir schweigend. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich nicht wußte, was ich von all dem halten sollte. Doch ich gebe zu, daß mich das, was geschah, mitriß. »Meg«, sagte ein Mann, »bist du es?« Jetzt war die Stimme kraftvoll, fast dröhnend, und ich öffnete die Augen weit genug, um sehen zu können, daß Hertha diese Worte sprach. Ich hörte, wie Meg plötzlich scharf einatmete. »Ja, Papi«, rief sie. »Ich bin hier. Geht es dir gut?« »Ich bin zufrieden, seit Mutter sich letztes Jahr zu mir gesellt hat. Jetzt sind wir wieder beisammen. Es ist geschehen, worum wir gebetet haben. Meg, machst du noch deine Gymnastik?« »Ja, Papi, ich bin noch immer dabei. Was macht deine Arthritis?« »Hier gibt es keinen Schmerz, Tochter. Wir sind befreit von den Leiden deiner Welt. Hast du geheiratet, Meg?« »Nein, Vater, noch nicht.« »Du mußt heiraten«, sagte er sanft. »Deine Mutter und ich möchten, daß du so glücklich bist, wie wir es waren und sind. Ich muß jetzt gehen, Meg. Wenn du mich brauchst, bin ich hier.« Die Stimme verebbte, und ich konnte hören, wie Meg lautlos weinte. »Bitte«, flüsterte Hertha, »laßt eure physische Kraft nicht schwach werden. Haltet euch fest bei den Händen und denkt nur an die andere Welt.« Einige Augenblicke herrschte Stille. Dann hörte ich wieder die zitternde Stimme von Xatyl. »Einer ist unter euch, der in großer Sorge ist. Laßt ihn jetzt sprechen.« »Ja«, sagte ich impulsiv. Ich hielt die Augen fest geschlossen. »Mein Name ist Archibald McNally. Ich möchte Kontakt mit Ly161
dia Gillsworth, einer Freundin. Sie ist vor wenigen Tagen hinübergegangen.« »Ich werde sie rufen«, erwiderte Xatyl. »Geduld, mein Sohn.« Wieder warteten wir mehrere Minuten. Ich merkte, daß ich die Hände von Irma und Frank so fest gefaßt hielt, daß meine Finger schmerzten, und ich war mir bewußt, daß ich schwer atmete. »Archy?« fragte eine Frauenstimme. »Sind Sie es?« Nachdem ich meinen Namen gehört hatte, öffnete ich die Augen, um mich zu vergewissern, daß Hertha es war, die sprach, aber ich schwöre, daß es Lydia Gillsworths zarte, liebe Stimme war. »Ich bin es, Lydia«, hörte ich mich sagen, obwohl ich an den Worten fast erstickte. »Geht es Ihnen gut?« »O ja, Archy.« Ein Hauch von Lachen schwang in ihrer Stimme mit. »Es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe, daß es sein würde. Haben Sie die Bücher gelesen, die ich Ihnen geliehen habe?« »Einige. Nicht alle.« »Sie müssen Sie alle lesen, mein Lieber. Darin steckt die Wahrheit, Archy.« »Lydia«, rief ich, eifrig darauf bedacht, die Frage zu stellen, »Sie müssen mir eine andere Wahrheit sagen. Wer hat Sie getötet?« Was als Nächstes geschah, schockierte uns. »Caprice!« kreischte Lydias Stimme. »Caprice!« Die Kette der Hände löste sich. Vier von uns standen auf und starrten Hertha an. Sie saß noch immer und hatte den Kopf so zurückgeworfen, daß ihre Kehle sich spannte. Und sie schrie weiter: »Caprice! Caprice! Caprice!« Jetzt aber war es ihre Stimme, nicht die Lydias. Meg Trumble war als erste bei ihr, nahm sie in die Arme und sprach tröstende Worte. Wir sammelten uns um sie, und allmählich wurden diese durchdringenden Schreie leiser und schwanden schließlich ganz. Hertha öffnete die Augen und schaute wild um sich. Sie war aschfahl und zitterte. 162
Frank ging eilends hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Glas zurück, in dem sich Brandy zu befinden schien. Meg nahm es ihm ab und führte es behutsam an die Lippen des Mediums. Hertha nahm einen kleinen Schluck, hustete und starrte uns und ihre Umgebung an, als werde ihr endlich klar, wo sie sei. Sie nahm Meg das Glas aus den Händen und schluckte gierig. Wir blieben im Eßzimmer, bis Hertha wieder Farbe hatte und aufrecht stehen konnte, wenngleich sie etwas wackelig war. Sie schenkte uns allen ein entschuldigendes Lächeln, und dann begaben wir uns ins Wohnzimmer zurück. Frank brachte uns Brandy, und da Meg ihren nicht anrühren wollte, trank ich einen doppelten. Den brauchte ich auch. Ich saß mit Irma und Frank in einer Ecke. Auf der anderen Seite des Zimmers, auf einer Couch sitzend, tröstete Meg das Medium. Sie hatte einen ihrer muskulösen Arme um die Schultern der anderen Frau gelegt. Sie sprach zu ihr und streichelte ihr Haar. »Was ist passiert, um Himmels willen?« fragte ich Irma. Sie zuckte die Schultern. »Hertha hat etwas gehört oder gesehen, was ihr Angst machte, und ist hysterisch geworden. Das ist ihr schon ein paarmal passiert. Ich sagte Ihnen ja, daß sie eine sehr empfindsame und verwundbare Seele ist.« »Caprice«, meinte Frank und sah mich an. »Sagt Ihnen das etwas, Mr. McNally?« Ich schüttelte den Kopf. »Eine Caprice ist eine Laune, etwas nicht Geplantes, Willkürliches. Vielleicht versuchte Lydia Gillsworth uns zu sagen, daß der Mörder einem plötzlichen Impuls folgte und daß ihre Ermordung nicht geplant war.« »Ja«, sagte Irma. »Ich bin sicher, daß es das war.« »Jetzt tut es mir leid, daß ich die Frage gestellt habe«, fuhr ich fort. »Ich hatte nicht die Absicht, Hertha zu erschrecken. Aber ich habe sie davon in Kenntnis gesetzt, daß ich die Absicht hatte, diese Frage zu stellen.« 163
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, erwiderte Irma. »Es gibt viele Dinge auf dieser Welt und in der anderen, die unser Erkenntnisvermögen überschreiten.« »Sie haben ja so recht, Mrs. Gloriana«, bemerkte ich. Sie nickte. »Haben Sie Ihre Kreditkarte zur Hand, Mr. McNally?« Ich reichte sie ihr, und sie und Frank verließen den Raum, um meine Rechnung fertigzumachen. Ich blieb sitzen, trank Megs Brandy aus und beobachtete die beiden Frauen auf der Couch. Hertha schien sich jetzt völlig erholt zu haben. Sie und Meg saßen dicht beieinander, hielten Händchen und kicherten wie Schulmädchen. Ich fand es ein bißchen abstoßend. Irma kam mit meiner Rechnung wieder. Ich unterschrieb den Beleg, nahm meine Karte in Empfang und steckte die Quittung ein. »Tut mir leid, daß die Seance so endete«, sagte sie. »Aber ich würde sie nicht als totalen Fehlschlag bezeichnen.« »Alles andere als das«, gab ich zurück. »Meg konnte mit ihrem Vater sprechen, und ich habe einen Kontakt mit Lydia Gillsworth gehabt. Ich bin absolut zufrieden.« »Gut«, meinte sie. »Dann werden Sie vielleicht eine weitere Seance haben wollen.« »Natürlich will ich das. Lassen Sie mich auf meinen Terminplan schauen und mit Meg einen Termin vereinbaren, der ihr angenehm ist. Werden Sie den ganzen Sommer über hier sein?« »O ja. Wir sind sehr beschäftigt.« »Dann werden Sie von mir hören.« »Wann?« fragte sie. Die Frau war eine tierische Verkäuferin. »Bald«, sagte ich, stand auf und gab Meg ein Zeichen. Ich schüttelte allen Glorianas die Hand, Meg tat das Gleiche. Dann aber umarmte Hertha sie, küßte sie auf die Lippen und hielt sie einen Augenblick fest umschlungen. Kein Zweifel, aus Dankbarkeit für Megs mitleidsvolle Tröstungen. 164
Auf der Fahrt zurück nach Riviera Beach war Meg so redselig, daß ich kaum glauben konnte, daß dies dieselbe Frau war, die sich auf unserer ersten gemeinsamen Fahrt so zurückhaltend gezeigt hatte. »Welch ein wundervolles Medium sie ist, Archy«, schwatzte sie. »So begabt. Sie wußte so viele Dinge über mich. Und es war ja so toll, mit Papi zu reden. War es nicht unglaublich, all diese Stimmen aus ihr reden zu hören? Und denk dir nur: Ich erzählte ihr, daß ich hoffe, Gymnastiktrainerin zu werden, und sie bestand darauf, meine erste Klientin zu sein. Ist das nicht fabelhaft?« »Doch.« »Und sie wird mir mein Horoskop stellen – völlig kostenlos! Es muß schaurig sein, ins Jenseits schauen zu können. Sie sagte, sie weigere sich normalerweise, die Zukunft vorherzusagen, aber wenn sie mein Horoskop erstellt hat, wird sie mir erzählen, was sie für mich sieht. Ist das nicht phantastisch?« Ich wollte ihr nicht in die Parade fahren, und deshalb sprach ich weder meine Zweifel aus, noch warnte ich sie davor, sich auf die Vorhersagen eines Mediums zu verlassen. Wenn ich auch ein Ungläubiger bin, halte ich es für unter meiner Würde, über den Glauben anderer zu spotten. Wir hielten vor Megs Wohnung. Inzwischen hatte ihr erster Überschwang nachgelassen, und sie sprach ruhig und ernst über Spiritismus, daß sie diese Seite ihres Naturells bisher vernachlässigt habe und wirklich damit beginnen sollte, Antworten auf das zu suchen, was sie als die ›großen Fragen‹ bezeichnete. Ich vermutete, daß diese Leben und Tod einschlossen und vor allem, warum immer nur eine Socke in der Wäscherei verloren ging. Irgendwie schien es mir nicht der rechte Augenblick zu sein, sie an ihr fleischliches Versprechen vom Vorabend zu erinnern. Statt also eine Abweisung zu riskieren, sagte ich: »Meg, wäre es sehr schlimm, wenn ich nicht mit hineinkäme? Ich fühle mich durch die 165
Ereignisse des heutigen Abends völlig zerschlagen, besonders nachdem ich Lydia Gillsworths Stimme gehört habe. Ich denke, es ist besser, wenn ich nach Hause fahre und versuche, über all dies nachzudenken.« Sie stimmte dem prompt zu, so prompt, daß sie mein Ego empfindlich verletzte. »Ich glaube, das wäre das Beste, Schatz«, meinte sie auf die freundlichste Art, die man sich vorstellen kann, wobei sie meine Hand tätschelte. »Ich bin ebenso aufgewühlt wie du. Wir machen es ein anderes Mal, Archy.« So fuhr ich allein nach Hause, heulte Flüche in Richtung Vollmond und überlegte, warum Hertha Gloriana Meg einen Abschiedskuß gewährt hatte und nicht dem lachenden Kavalier, der die Rechnung bezahlt hatte. Als ich zu Hause eingetroffen war, begab ich mich sofort in meine Räumlichkeiten. Ich legte das alberne Kostüm ab, das ich trug, und zog meinen Lieblingskimono an, ein Stück aus Seide, dessen Muster aus springenden Gazellen bestand. Dann setzte ich meine Lesebrille auf, nahm an meinem Schreibtisch Platz und machte mich an die Arbeit. Ich war entschlossen, die Ereignisse des Abends als ein Zyniker zu betrachten, der absoluten Unglauben gegenüber den angeblichen Manifestationen des Okkulten hegt und eine völlig rationale Erklärung für das hat, was andere als Beweis des Übernatürlichen betrachten. Ich kritzelte wütend, und das kam dabei heraus: »Herthas Kenntnisse über Meg Trumble: Megs Schwester, Laverne, ist Klientin der Glorianas und hat sich wahrscheinlich ihr Horoskop von dem Medium stellen lassen. Hertha kann so leicht erfahren haben, wann Meg geboren worden ist, daß ihre Eltern tot sind und daß Meg Interesse an Gymnastik hat. Die Stimmen: Natürlich kennt niemand die Stimme von Xatyl, dem Mayaschamanen, und für eine Schauspielerin, die über ent166
sprechendes Talent verfügt, ist es eine Leichtigkeit, die Sprechweise eines alten Mannes nachzuahmen. Die Stimme von John Trumble ist zwar ein Problem, aber der Mann ist seit acht Jahren tot, und es ist zu bezweifeln, daß Meg sich an den genauen Klang seiner Stimme erinnert. Wichtiger ist, daß sie glauben wollte und geradezu darauf versessen war, jede männliche Stimme für die ihres verstorbenen Vaters zu halten. Lydia Gillsworths Stimme nachzuahmen dürfte Hertha leichtfallen, da Lydia bei mehreren Seancen anwesend und dem Medium gut bekannt war. Herthas Kenntnisse über Archy McNally: Ich habe mich bereits darüber ausgelassen, wie die Glorianas mein Geburtsdatum erfahren haben könnten. Und ich habe Irma gegenüber bei unserer ersten Begegnung erwähnt, daß ich Bücher über Spiritismus gelesen habe. Ich habe nicht verraten, daß Lydia sie mir geliehen hat, aber sie hat ihre letzte Seance besucht, nachdem sie mir die Bücher geliehen hatte, und kann beiläufig erwähnt haben, daß sie mir half.« Ich las noch einmal durch, was ich geschrieben hatte. Ich behaupte nicht, daß alle Überlegungen hundertprozentig exakt waren. Aber sie konnten es sein. Freilich, die Ereignisse der Seance mit kalter Logik anzugehen gelang mir in einem wichtigen Punkt verwirrenderweise nicht. Das waren die »Caprice! Caprice!«-Schreie des Mediums als Antwort auf meine Frage, was die Identität des Mörders von Lydia Gillsworth betraf. Diese entsetzlichen Schreie waren von den Stimmen Lydias wie Herthas ausgestoßen worden. Ich hatte Irma und Frank Gloriana gesagt, daß dieser Ausbruch wahrscheinlich bedeutete, daß der Mörder einer Laune, einem plötzlichen Impuls gefolgt und der Mord nicht geplant gewesen sei. Das war natürlich reines Geschwafel. Ich glaubte zu wissen, was dieses gekreischte ›Caprice! Caprice!‹ tatsächlich bedeutete. Es war der Wagen, in dem Lydia nach Hause gefahren war, um zu sterben. 167
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m Donnerstagmorgen machte ich mich ohne mein Barett an die Detektivarbeit. Ich hatte die Absicht, die übrigen Tierkliniken auf meiner Liste zu besuchen, und fürchtete, daß ein solcher Kopfputz dem Eindruck, den ich erwecken wollte, schaden könne: ein besorgter Freier zu sein, der seine verlorene Liebste und ihre kränkelnde Katze suchte. Zuerst aber rief ich Roderick Gillsworth an. »Guten Morgen, Rod«, sagte ich. »Archy McNally. Willkommen daheim.« »Danke, Archy. Sie glauben ja gar nicht, wie wundervoll es ist, zu Hause zu sein.« »War's schwer?« forschte ich. »Ziemlich schwer. Ich wollte Sie eigentlich am Dienstagabend nach der Beisetzung anrufen, aber ich hatte ein Duell mit einer Flasche kalifornischen Brandys. Die Flasche hat gewonnen.« »Das ist völlig in Ordnung«, bemerkte ich. »Neues gab's ohnehin nicht zu berichten. Rod, ich möchte Ihnen gern die Hausschlüssel zurückbringen. Sind Sie heute vormittag daheim?« Eine kurze Pause. Dann: »Nur noch eine halbe Stunde. Ich muß im Supermarkt einkaufen, und ich muß zu einem Schnapsladen, damit ich Ihnen den Wodka wiedergeben kann.« »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Könnte ich jetzt vorbeikommen? Es dauert nur eine Minute. Ich werde Sie nicht aufhalten.« »Ja, kommen Sie.« Als ich vor seinem Haus eintraf, war sein grauer Bentley auf der Auffahrt geparkt. Ich bewunderte das Vehikel. Gedämpfte Eleganz. Ich läutete, Rod öffnete die Tür, und ich blinzelte. Normalerweise 168
kleidete er sich in solides Blau, Weiß und Schwarz und trug nichts Buntes. An diesem Morgen aber steckte er in einer limonengrünen Hose und trug dazu gelbe Kunstlederschuhe mit gefransten Laschen. Über ein pinkfarbenes Polohemd hatte er eine geblümte Sportjacke gestreift. Er bemerkte meine Überraschung und lächelte mich verlegen an. »Eine Verwandlung«, sagte er. »Lydia entdeckte diese Jacke in einer Discountboutique, aber ich hatte nie den Mut, sie anzuziehen. Ich trage sie jetzt für sie. Verstehen Sie?« Ich nickte. »Kommen Sie herein, Archy«, fuhr er fort. »Ich denke, es ist wohl zu früh am Morgen, Ihnen einen Augenöffner anzubieten.« »Ungefähr zwei Stunden zu früh«, meinte ich. »Aber danke, daß Sie daran gedacht haben.« »Hier sind die Schlüssel, Rod«, sagte ich im Korridor und reichte sie ihm. »War bei Ihrer Rückkehr im Haus alles in Ordnung?« »Ja. Danke, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Und Sie haben von Sergeant Rogoff nichts Neues erfahren?« »Kein Wort. Die Drohbriefe, die Lydia erhielt, sind zur Analyse an das FBI-Labor geschickt worden. Rogoff müßte bald einen Bericht erhalten.« »Meinen Sie, er wird Ihnen erzählen, was in dem Bericht steht?« »Wahrscheinlich.« »Ich möchte, daß Sie mir das dann erzählen.« Er fügte gereizt hinzu: »Dieser Mann weigert sich einfach, mir zu sagen, was vorgeht.« Ich hatte nicht den Wunsch, wieder seine Beschwerden über Al zu hören, und wechselte deshalb das Thema. »Übrigens, Rod, ich habe gestern abend eine ungewöhnliche Erfahrung gemacht. Ich habe einer Seance bei den Glorianas beigewohnt.« Er verzog das Gesicht zu einem angespannten Lächeln. »Gott, ich war seit Jahren nicht mehr auf solchen Veranstaltungen. Ich wußte 169
gar nicht, daß Sie sich für Spiritismus interessieren.« »War vor allem Neugier. Und die Glorianas sind faszinierende Leute.« Er überlegte einen Augenblick. »Ja«, meinte er schließlich. »Ich denke, man kann sie als faszinierend bezeichnen. Lydia sagte immer, das Medium habe eine echte psychische Begabung. Hat Hertha Ihnen etwas gesagt?« »Nichts, was ich nicht schon wußte.« Dann fiel mir eine Frage ein. »Sagen Sie, Rod, wissen Sie zufällig, ob Irma, die Schwiegermutter, verwitwet, geschieden oder sonst was ist? Ich habe darüber nachgedacht, wollte sie aber nicht fragen. Das hätte zu sehr nach Aushorchen geklungen.« Wieder entstand eine Pause, bevor er antwortete. »Ich glaube, Lydia erwähnte, daß Irma Witwe ist. Ja, jetzt erinnere ich mich. Ihr Mann war Armeeoffizier. Er fiel im Koreakrieg.« »Eine starke Frau«, meinte ich. »Herrisch.« »Finden Sie das wirklich? Stark ja, aber nicht herrisch.« Ich fuhr nachdenklich und glücklich davon. Nachdenklich, weil mich die Frage beschäftigte, warum der Vogel sich plötzlich von einer Krähe in einen Pfau verwandelt hatte, und glücklich, weil ich etwas gefunden hatte, was ich in mein Tagebuch eintragen konnte: Mrs. Irma Gloriana war Witwe. Ich fuhr nach West Palm Beach und begann meine Suche. Schon in der ersten Tierklinik hatte ich Erfolg. Der Tierarzt, mit dem ich sprach, sagte zu mir: »Ich habe vor kurzem eine Katze behandelt, auf die Ihre Beschreibung paßt. Aber ein Mann hat sie hergebracht, keine Frau.« »Ein Mann?« meinte ich nachdenklich. »Das war zweifellos ihr Onkel. Er reist häufig mit ihr, um zu verhindern, daß sie von flegelhaften Fremden angemacht wird. Sie ist eine außergewöhnlich attraktive junge Frau. Könnten Sie den Mann bitte beschreiben, Doktor?« 170
»Groß. Rötliches Haar. Breitschultrig. Sehr gut gekleidet. Um die fünfundsechzig, schätze ich.« »Ihr Onkel, aber haargenau«, rief ich. »Ich bin wahnsinnig erleichtert. Und war Peaches ernstlich krank?« »Diese Information kann ich Ihnen nicht geben«, erwiderte er streng. »Ärztliche Schweigepflicht.« »Natürlich. Das verstehe ich absolut. Würden Sie mir bitte ihre Adresse geben?« Er kehrte in sein Büro zurück und kam ein paar Minuten später wieder, um mir einen Zettel zu überreichen, auf den er etwas geschrieben hatte. »Der Name des Mannes ist Charles Girard«, sagte er. »Wohnt am Federal Highway. Eine seltsame Adresse für jemand, der so wohlhabend ist, wie er zu sein scheint.« »Ein vorübergehender Wohnsitz, dessen bin ich sicher«, gab ich zurück. »Ich glaube, Mr. Girard und seine Nichte sind zu den Kleinen Antillen unterwegs. Haben Sie vielen Dank für Ihre Auskunft, Doktor.« Ich hatte einen Glasbehälter auf dem Schreibtisch der Empfangsdame bemerkt. Darauf klebte ein Etikett, mit dem um Spenden für die Behandlung streunender Katzen gebeten wurde. Der Behälter war zur Hälfte mit Münzen gefüllt. Ich zupfte eine ZwanzigDollar-Note aus meiner Brieftasche und steckte sie in den Behälter. »Für die hungrigen Kätzchen«, sagte ich scheinheilig. »Sie sind sehr großzügig«, kommentierte der Tierarzt. »Es ist mir eine Freude«, antwortete ich und meinte es wirklich so. Ich tänzelte zu dem Miata hinaus. Ich war sehr erfreut über meinen Erfolg. Der Arzt hatte recht, was die Adresse betraf, die Charles Girard ihm gegeben hatte. Die Gebäude an diesem Abschnitt des Federal Highway mußten vor fünfzig Jahren errichtet worden sein und waren seitdem nie gestrichen worden. Es waren überwiegend ein171
oder zweistöckige Ladenbauten, die eine Vielzahl von Geschäften beherbergten: Kneipen, Gebrauchtwagenhändler, Schnellimbisse und eine Menge Läden, in denen Krankenhausbedarf feilgeboten wurde. Doch gab es auch eine Menge leerer Läden, in deren staubigen Fenstern ›Zu vermieten‹-Schilder hingen. Die ganze Gegend strahlte etwas unaussprechlich Verlorenes und Kaputtes aus, gerade so, als ob das Florida der strahlenden Einkaufspassagen und leuchtenden Plazas daran vorübergegangen sei, es dem Verfall in heißer Sonne und salzigem Wind überlassen habe. Ich fand die Adresse, die der Tierarzt mir gegeben hatte. Es war ein Motel, und wenn ich Ihnen erzähle, daß es aus einem Dutzend einzelner Bungalows bestand, können Sie sich ausrechnen, wann es erbaut worden war. Ich schätze Ende der vierziger Jahre. Ich fuhr daran vorbei und stellte den Miata auf einem kleinen Parkplatz neben einem offensichtlich verlassenen Laden ab, in dem Garten- und Terrassenmöbel aus Plastik verkauft worden waren. Ich ging langsam zu dem Motel zurück und betrat das Büro. Eine Klimaanlage gab es nicht, aber ein Deckenventilator mit hölzernen Schwingen rotierte langsam. Eine große Frau hockte hinter dem Tresen und war in eine Boulevardzeitung vertieft. Sie blickte nicht auf, als ich eintrat. »Verzeihen Sie bitte«, sagte ich laut, »aber ich suche Mr. Charles Girard.« »Südreihe, Haus vier«, erwiderte sie, weiter auf ihre Zeitung konzentriert. Ich trat wieder in das gleißende Sonnenlicht hinaus und fand die Häuser der Südreihe. Dann blieb ich stehen, starrte. Neben Haus vier stand der graue Bentley von Roderick Gillsworth. Ich machte kehrt und ging hastig zu meinem Miata zurück. Ich fuhr zum McNally-Gebäude und dachte daran, daß ich an diesem Morgen Gillsworths Einladung zu einem Augenöffner abge172
lehnt hatte. Jetzt aber hatte er mir doch einen eingeschenkt. Ich war völlig platt. Ich konnte mir nicht erklären, warum der Dichter einen Mann besuchte, der offensichtlich Harry Willigans ganzen Stolz und ganze Freude gekatznappt hatte. Das ergab für mich keinen Sinn, wie ich es auch drehte und wendete. Ich bog vom Federal Highway ab, als mir plötzlich einfiel, daß der Pelican Club nur wenige Autominuten entfernt war. Ich kam zu dem Entschluß, daß eine solide Erfrischung in einem kühlen, dunklen Hafen nötig sei, um meinen Wirrkopf aufzuklaren und meine Nervenzellen wieder auf Touren zu bringen. Ich aß allein zu Mittag und wurde von Priscilla bedient. Sie merkte, in welcher Stimmung ich war, und ließ mich mit meinen Problemen allein, nachdem sie meine Bestellung aufgenommen hatte. Ich arbeitete mich entschlossen durch einen riesigen Cheeseburger, eine Schüssel kalten Kartoffelsalat und etwas geöltes Grünzeug und beendete mein Mittagsmahl mit dem Genuß eines Stücks Limonentorte. Ich bezahlte meine Rechnung an der Bar. Simon Pettibone trug ein gestreiftes Hemd mit Ärmelhaltern und eine kleine Fliege aus schwarzem Leder. Mit seinen eckigen Brillengläsern und dem dichten Schopf grauen Haares strahlte er die Weisheit eines rechtschaffenen Gastwirtes aus, der mit allen Rätseln dieser Welt vertraut war. »Mr. Pettibone«, sagte ich, »ich brauche Ihren Rat.« »Kostet nichts, Mr. McNally.« »Ich habe da ein kleines Rätsel, das ich zu lösen versuche: zwei Männer, die sich berufsmäßig völlig unähnlich sind und sich wahrscheinlich ebenso in Erziehung und Vermögen unterscheiden. Was könnten diese beiden Männer gemeinsam haben?« Pettibone starrte mich einen Augenblick an. »Cherchez la femme«, sagte er dann einfach. Ich hätte ihn umarmen können! Ich war davon überzeugt, daß er genau richtig lag, und entschlossen, seinen Rat zu befolgen. Un173
glücklicherweise wählte ich die falsche Femme, wie die Ereignisse später zeigten. Ich schaute kurz beim Büro vorbei und hoffte, Al habe die Bitte hinterlassen, daß ich ihn zurückrufen solle. Ich wollte wissen, ob der FBI-Bericht eingetroffen war und was er enthielt. Ebenso wollte ich in Erfahrung bringen, ob er mit dem Polizeipräsidium von Atlanta über die Glorianas gesprochen hatte. Aber es lag keine Nachricht von dem Sergeant vor. Deshalb rief ich ihn an. Er war nicht greifbar, und so bat ich ihn um Rückruf. Dann fuhr ich, Pettibones Rat befolgend, zum Ocean Boulevard hinüber und bog nach Süden zum Haus der Willigans ab. Ich fand, es sei an der Zeit, so viel Druck auf Laverne zu machen, daß sie ihre Beziehung zu Hertha, diesem küssenden Medium, offen zugab. Die Dame war daheim, doch Leon Medallion informierte mich, daß sie gerade ihr Bad nehme, er aber das Dienstmädchen fragen werde, wann Mrs. Willigan empfangsbereit sei. Alles wirklich Oberklasse und beeindruckend, solange man sich nicht daran erinnerte, daß der Herr des Hauses ein ausgemachter Flegel war. So wartete ich in dem gefliesten Foyer, bis der Butler wiederkam und mich davon in Kenntnis setzte, daß mir eine Audienz bei Mylady gewährt sei. Ich fand Laverne in der großen Suite, die aussah, als sei sie von einem auf persische Bordelle spezialisierten Innenarchitekten eingerichtet. Noch nie hatte ich eine solche Menge von seidenen Vorhängen, Porzellanschnickschnack und bestickten Kissen gesehen. »Hallo, Archy«, zirpte die Sirene. »Was gibt's?« »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie Hertha Gloriana kennen?« fragte ich und dachte, das werde sie umhauen. Aber sie ließ sich überhaupt nicht durcheinanderbringen. »Weil ich fürchtete, Sie würden das Harry erzählen«, erwiderte sie ruhig. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie sehr er dies alles haßt. Er bezeichnet das als ›Wahrsagescheiße‹. Wenn er wüßte, daß ich zu den 174
Seancen der Glorianas gehe, würde er mir den Schädel einschlagen.« »Waren Sie auch bei der Seance, die Lydia Gillsworth an dem Abend besuchte, an dem sie getötet wurde?« »Nein.« Sie schaute mich mit großen Augen an. »An dem Abend mußte ich mit Harry zu einem Abendessen des Bauunternehmervereins gehen. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie die Glorianas. Sie werden Ihnen sagen, daß ich nicht dort war. Aber warum so plötzlich dieses Interesse an Spiritismus?« »Weil ich Hertha gebeten habe, Peaches finden zu helfen.« Ich dachte, sie werde wütend werden, weil ich ihre Anweisungen übergangen hatte, doch sie schien unbeeindruckt zu sein. »Ach?« sagte sie. »Und was hat Hertha Ihnen erzählt?« »Nicht sehr viel. Sie sah Peaches in einem einzelnen Raum, aber sie konnte ihn nicht lokalisieren.« Laverne studierte den chartreusefarbenen Lack ihrer Fingernägel. »Nun ja, Hertha ist sehr talentiert, aber sie kann nicht immer ins Schwarze treffen.« »Hat sie Ihnen je ein Horoskop erstellt?« »Na, sicher. Und?« »Haben Sie ihr persönliche Einzelheiten über Ihr Leben erzählt, über Meg und Ihre Eltern?« »Natürlich. Hertha muß diese Dinge wissen, um ein psychisches Profil zu erstellen.« »Laverne, kennen Sie vielleicht einen Mann namens Charles Girard?« »Nee«, sagte sie prompt. »Noch nie gehört. Wer ist denn das?« »Er könnte einer der Katznapper sein.« »Ehrlich? Wie sind Sie denn auf den gekommen?« »Haben Sie je gehört, daß Ihr Mann ihn erwähnte?« »Nicht, daß ich mich erinnere. Fragen Sie lieber Harry.« »Das werde ich. Laverne, wie lange kennen Sie die Glorianas 175
schon?« »Ach, das muß jetzt fast schon ein Jahr sein.« »Woher kommen die – wissen Sie das?« »Aus Chicago, glaube ich.« »Ist Mrs. Irma Gloriana verwitwet oder geschieden?« »Geschieden. Sie sagte, ihr Exmann lebe irgendwo mit ihrer Tochter in Kalifornien. Frank blieb bei seiner Mutter. Die Tochter lebt bei ihrem Vater.« »Wie lange sind Hertha und Frank verheiratet?« »Ich glaube, vier Jahre. Das erwähnten sie mal. Warum all diese Fragen über die Glorianas, Archy?« Ich zuckte die Schultern. »Ich finde, es sind interessante Leute. Mysteriös.« »Mysteriös?« Sie lachte. »Sie versuchen nur, an Kohle zu kommen, wie jeder andere auch.« »Sie sind drangekommen«, meinte ich kühn. Sie war nicht beleidigt. Sie sah sich befriedigt um und strich dann über die goldene und silberne Stickerei ihrer Robe. »Darauf können Sie Ihren hübschen Arsch verwetten, daß ich drangekommen bin«, sagte sie. »Aber ich habe meine Schulden bezahlt. Übrigens, Meg ist wieder in der Stadt. Sie hat mich heute morgen angerufen. Werden Sie sie wiedersehen?« Daraus schloß ich, daß Meg ihrer Schwester nichts von der Seance erzählt hatte, bei der sie meine Begleiterin gewesen war. Zunächst war ich dankbar dafür. Dann aber fiel mir ein, daß Laverne das wahrscheinlich von den Glorianas erfahren würde. »Ja, ich möchte sie gern wiedersehen«, sagte ich. »Guter Junge«, stimmte sie zu. »Sie muß endlich lernen, daß nicht alle Männer Scheißer sind. Die meisten, aber nicht alle.« Mir fielen keine weiteren Fragen mehr ein, die ich hätte stellen können. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich. »Ich werde Harry anrufen und ihn fragen, ob er Charles Girard kennt.« 176
»Wo wohnt Girard? Wissen Sie das?« Das hätte sie nicht fragen sollen. Ich hatte vermutet, daß sie log, als sie leugnete, Charles Girard zu kennen. Ihre Frage überzeugte mich, daß sie sehr wohl wußte, wer er war, und jetzt versuchte sie zu verheimlichen, wieviel sie von ihm wußte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte ich, »aber ich werde ihn schon finden. Und Peaches.« »Überanstrengen Sie sich nicht, Archy«, riet sie mir. »Die fünfzig Riesen, die die verlangen, kann Harry sich locker leisten.« »Laverne«, protestierte ich, »lassen Sie bloß nicht Ihren Mann hören, was Sie da gerade gesagt haben! Er will seinen Liebling zurück, ohne dafür zu zahlen, und er möchte, daß die Katznapper an ihren Daumen gehängt werden, oder was sonst an Gliedmaßen zur Verfügung steht.« »Mein Mann«, wiederholte sie düster. »Was er will und was er bekommt, sind zwei verschiedene Dinge.« Ich hielt das für einen geeigneten Augenblick, Lebewohl zu sagen. Während ich heimfuhr, dachte ich, daß Laverne Willigan mehr als ein Loch zwischen den Ohren hatte. Sie hatte raffiniert gelogen, dessen war ich sicher. Doch was ihre Motive waren, dessen war ich mir nicht sicher. Abgesehen von der Sache mit Girard hatte sie mir ein anderes Rätsel aufgegeben. Roderick Gillsworth hatte gesagt, Irma Gloriana sei verwitwet. Laverne hatte mir gerade erzählt, sie sei geschieden. Ich konnte nicht glauben, daß Irma verschiedenen Leuten unterschiedliche Dinge über ihr früheres Leben erzählte. Dazu war sie viel zu schlau. Was bedeutete, daß entweder Gillsworth log oder Laverne. Oder beide. Ich benutzte das Telefon im Arbeitszimmer meines Vaters, um Harry Willigan anzurufen. Er begrüßte mich mit Geschrei, und ich mußte warten, bis ihm die Luft ausging, bevor ich meine Frage 177
nach Girard stellen konnte. »Von dem Clown habe ich noch nie gehört«, bellte er und begann wieder mit seinem Gebrüll. Ich legte auf und hoffte, er würde noch fünf Minuten weiter krakeelen, bevor er merkte, daß er gegen ein Besetztzeichen anschrie. Ich ging nach oben und schrieb über eine Stunde in meinem Tagebuch. Das Dossier über den Fall Peaches-Gillsworth hatte enorm an Umfang gewonnen, aber ich konnte noch immer kein Muster in all diesen unterschiedlichen Informationshäppchen erkennen. Ich war von meinem Bad im Meer zurückgekommen und kleidete mich für den Abend an, als Al anrief. Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Ich habe etwas Stoff für dich. Interessanten Stoff.« »Und ich habe ein paar ausgesuchte Häppchen für dich. Wann und wo können wir uns treffen?« »Ich stecke bis zur Halskrause in Papierkram und werde erst in den Puppen hier herauskommen. Wie wär's, wenn du so gegen halb zehn zu meinem Wagen kommst?« »Bis heute abend dann.« An diesem Abend servierte Ursi Olson ein Essen bestehend aus Meeresschneckensuppe, gegrilltem Schwertfisch und Kochbananen mit Mangosalsa und Palmenherzsalat. Mein Vater spendierte statt des üblichen Chablis aus der Henkelflasche einen steintrockenen alten Muscadet. Nach dem Abendessen kehrte ich in meine Räumlichkeiten zurück und fügte meinem Tagebuch einige Bemerkungen hinzu. Dann rief ich die Auskunft an und erkundigte mich, ob es einen Neueintrag für Margaret Trumble in Riviera Beach gebe. Man teilte mir die Nummer mit, und ich rief an. Ich ließ es siebenmal klingeln, bevor ich auflegte. Wo konnte sie sein? Ich wußte nicht, warum ich mich unwohl fühlte, aber ich tat es. 178
Dann nahm ich meine Golfjacke und trabte zu meinem Miata hinaus. Es war ein prachtvoller Abend, klar und kühl genug, um ohne Klimaanlage zu schlafen. Aber dazu bekam ich in dieser Nacht nicht viel Gelegenheit. Was Al als seinen ›Wagen‹ bezeichnete, war in Wirklichkeit ein Wohnwagen in einem an der Belvedere Road gelegenen Park, in dem etliche derartige Behausungen standen. Es war eine ganz nette Gegend – mit weitläufigen Rasenflächen und Palmen, einem kleinen Swimmingpool und einem kleinen Fitneßraum. Die meisten Bewohner waren Pensionäre, und ich hatte seit je vermutet, daß Al für seine Anwesenheit Rabatt bekam, weil der Parkbesitzer es toll fand, einen Bullen als Stellplatzmieter auf seinem Grundstück zu haben. Ich meine, wenn irgendein Ganove auf die Idee kam, in eines dieser Mobilheime einzubrechen, würde er sich das zweimal überlegen, wenn er einen Gesetzeshüter entdeckte, der da mit umgeschnallter Flak herumspazierte. Als Heim war rein äußerlich proper, drinnen aber urgemütlich. Es hatte Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad, alles hintereinander wie in einem Eisenbahnwaggon. Eingerichtet hatte er sein Domizil selber, und obwohl nichts luxuriös oder auch nur teuer war, hielt ich es für eine überaus attraktive und behagliche Junggesellenbude – genau der Platz, an dem man seine Schuhe abstreifte und sich einfach gehen ließ. Als ich eintraf, hatte er eine gekühlte und entkorkte Flasche 87er Sterling Cabernet parat. Wir setzten uns in Sessel an einem eichenen Eßtisch, der in einer Ecke des Wohnzimmers untergebracht war. Ich kostete den Wein. Er war genau richtig. »Wer schießt los?« fragte Al. »Fang du an«, erwiderte ich. »Meine Enthüllungen können warten.« Er stand auf, um sein Notizbuch zu holen. Er trug gelbbraune Jeans und ein T-Shirt. Schuhe hatte er nicht an, aber seine Füße 179
steckten in weißen Sportsocken. Mir fiel auf, daß er Bauch ansetzte, nicht sehr, aber immerhin. Die meisten Bullen essen nicht sehr viel. Sie halten eine Anchovis-Pizza und eine Dose Bier für eine durchaus ausgewogene Diät. »Okay«, sagte er und beugte sich über sein Notizbuch, »hier ist, was wir aus Atlanta haben. Die Leute, die die Glorianas als Referenzpersonen angegeben haben, existieren einfach nicht unter den angegebenen Adressen. Die Bank in Atlanta, die sie benannt haben, war eine Spar- und Darlehensbank, die vor drei Jahren Pleite gemacht hat.« »Herrlich«, meinte ich. »Dann habe ich einen Detektiv vom Polizeipräsidium in Atlanta an die Strippe bekommen, der alles über die Glorianas wußte. Jerry Weingartner. Ein netter Kerl. Er ist Zigarrenraucher wie ich. Er war eine große Hilfe, und deshalb werde ich ihm eine Kiste von der besten Marke schicken.« »McNally und Sohn übernehmen die Rechnung«, warf ich ein. Al grinste. »Das habe ich mir gedacht. Jedenfalls erzählte mir besagter Weingartner, daß Irma Gloriana und ihr Mann –« »Wau!« Ich hob eine Hand. »Heißt das, Irma ist verheiratet?« Er sah mich an. »Na sicher ist sie verheiratet. Was hast du denn gedacht?« »Ich wußte nicht, was ich denken sollte«, sagte ich aufrichtig. »Lebt ihr Mann noch?« »Vor sechs Monaten lebte er noch, als er aus dem Bau kam. Er heißt Otto. Otto Gloriana. Ist doch ein reizender Name, oder? Trink deinen Wein. Ich hab' noch 'ne Flasche kalt gestellt. Irma und Otto führten das, was mein Großvater ein Haus von schlechtem Ruf zu nennen pflegte. Es war keine Billigabsteige. Die Glorianas hatten einen erstklassigen Puff. Ihre Mädchen waren jung und schön. Die Freier zahlten hundert bis fünfhundert, abhängig davon, was sie wollten. Irma war die Mutter, Otto der Wirtschafter. Sie sind vier 180
oder fünf Jahre in dem Geschäft gewesen, und der Laden lief bestens, da sie eine gutbetuchte Klientel hatten, Angehörige der Oberen Zehntausend. Mit dem Gesetz kollidierten sie, weil eines ihrer Mädchen im Heroingeschäft aktiv wurde.« Ich trank mein Glas aus und füllte es nach. »Ein hübsches Bild. Und welche Rolle spielte dabei der Sohn, Frank?« »Er agierte als Rausschmeißer, ließ die Muskeln spielen, wenn einer der Freier über die Stränge schlug.« »Und Hertha?« »Die hatte mit dem Bordell offensichtlich nichts zu tun. Weingartner sagte, sie habe ihr eigenes Unternehmen gehabt. Sie machte, was sie jetzt auch tut: Seancen veranstalten und Horoskope erstellen. Er sagte auch, daß sie eine phantastische Sensitive sei. Einmal hat sie den Bullen in Atlanta geholfen, ein vermißtes Kind zu finden. Weingartner weiß nicht, wie sie's gemacht hat, aber die Spur, die sie ihnen wies, stimmte auf den Punkt.« Er hielt inne, um sich nachzuschenken, und mir blieb ein Augenblick, um über das nachzudenken, was er mir erzählt hatte. Ich glaube, ich war mehr betrübt als schockiert. »Was geschah, nachdem die Bullen den Laden dicht gemacht hatten?« fragte ich. »Otto arrangierte sich. Er war bereit zu brummen, wenn seine Frau und sein Sohn unbehelligt blieben und versprachen, aus der Stadt zu verschwinden.« »Sehr nobel von Otto. Was hat er bekommen?« »Fünf Jahre. Abgesessen hat er anderthalb. Vor sechs Monaten wurde er entlassen. Auf Bewährung. Gegenwärtiger Aufenthaltsort unbekannt.« Ich schaute zu dem Deckenventilator hoch. »Al«, sagte ich fast träumerisch, »hast du vielleicht eine Personenbeschreibung von Otto?« »Ja.« Er blätterte in den Seiten seines Notizbuchs. »Irgendwo hab' ich die. Hier ist sie. Er ist –« 181
Ich unterbrach ihn. »Er ist groß, hat rötliches Haar, ist breitschultrig, sehr gut gekleidet, um die fünfundsechzig.« Al starrte mich an. »Was soll das, zum Teufel?« fragte er heiser. »Hast du vielleicht bei Hertha Unterricht genommen?« »Liege ich richtig?« fragte ich. »Absolut«, gab er zu. »Jetzt erzähl mir, woher du das weißt.« »Otto ist hier. Er hat sich den Namen Charles Girard zugelegt.« Dann erzählte ich Al, wie ich auf die Idee gekommen war, daß Peaches krank geworden sein könnte, wie die Katznapper ärztliche Hilfe gesucht hatten, wie ich die Tierkliniken mit einer Schwachsinnsgeschichte vollgelabert und schließlich einen Tierarzt gefunden hatte, der sich daran erinnerte, Peaches behandelt zu haben, und mir Namen und Adresse des Mannes gab, der sie gebracht hatte. Al schaute mich an und schüttelte voller Erstaunen den Kopf. »Wo wohnt Otto?« »In einer Absteige am Federal Highway. Aber die Pointe habe ich dir noch nicht erzählt, Al. Ich bin heute morgen hingefahren, um Otto einen Besuch abzustatten oder, für den Fall, daß er nicht da sei, zu sehen, ob Peaches in der Gegend sei und gerettet werden könne. Ich habe aber nur einen Blick riskiert und dann Leine gezogen. Roderick Gillsworths Bentley war vor Ottos Hütte geparkt.« Al starrte mich an. »Gillsworth«, wiederholte er, und es klang fast wie ein Zischen. »Ich wußte, daß –« Doch das Schicksal wollte nicht, daß ich erfahren sollte, was Al wußte, weil das Telefon in diesem Augenblick laut zu klingeln begann. Al wartete bis zum dritten Läuten und stemmte sich dann hoch. »Ich gehe an den Nebenapparat im Schlafzimmer.« Er schloß die Tür hinter sich. Ich war nicht beleidigt. Er hatte vollen Anspruch auf Privatsphäre. Vielleicht rief die Lehrerin an, mit der er sich gelegentlich traf. Schließlich kam er heraus. Er hatte ein Paar angestoßene Schuhe 182
angezogen und eine khakifarbene Nylonjacke übergestreift. Er klemmte sich seine Dienstmarke an die Jacke. Nachdem er das getan hatte, nahm er sein Halfter mit allen Anhängseln aus einem Schrank und schlang es sich um die Hüften. Dann sah er mich an. Seinem Gesicht konnte ich absolut nichts entnehmen. Es war steinern. »Im Haus von Roderick Gillsworth hat's gebrannt«, berichtete er. »Ein Feuer in der Küche. Die Nachbarn haben das entdeckt. Die Feuerwehrleute mußten die Tür aufbrechen, um hineinzukommen. Sie löschten das Feuer und suchten nach Gillsworth. Sie fanden ihn in der Badewanne. Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.« Ich schluckte. »Tot?« fragte ich und hörte das Zittern in meiner Stimme. »Ja.« »Kann ich mitkommen?« »Nein. Du müßtest sowieso draußen warten. Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß.« »Al, da gibt's noch was, das ich dir erzählen muß«, rief ich verzweifelt. »Das muß warten. Fahr nach Hause, Archy. Erzähl lieber deinem Vater, was passiert ist.« »Ja. Danke für den Wein.« Wir gingen beide hinaus und blieben stehen, während Al abschloß. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr los. Ich blieb stehen, rauchte eine Zigarette und blickte zu dem sternenübersäten Himmel hoch. Wieder war eine Seele hinübergegangen. Ein weiterer Geist.
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D
ie Tür des Arbeitszimmers meines Vaters stand offen. Er saß an seinem Schreibtisch und bearbeitete einen Stapel Korrespondenz, den er aus dem Büro mit nach Hause gebracht hatte. Er blickte auf, als ich eintrat. »Ich bin beschäftigt, Archy«, sagte er gereizt. »Ja, aber ich habe Neuigkeiten, die du sofort hören solltest, wie ich glaube. Keine guten Neuigkeiten.« Er seufzte und legte seinen Stift beiseite. »Also gut. Worum geht's?« Ich wiederholte, was Al mir erzählt hatte, und sein Gesicht wurde wie das Als steinern. »Ja«, sagte er ruhig, »ich habe heute im Lauf des Abends die Feuerwehrsirenen gehört. Und der Mann ist tot?« »Rogoff zufolge, ja. Er versprach, mich anzurufen, wenn er mehr darüber weiß.« »Glaubt der Sergeant, daß es Selbstmord war?« »Das sagte er nicht, Vater.« »Glaubst du, daß es Selbstmord war?« »Nein.« Ich berichtete ihm von meiner vormittäglichen Begegnung mit dem Dichter. »Er wirkte sehr aufgekratzt, als sei er glücklich darüber, daß Lydias Beisetzung vorbei sei und er sein normales Leben weiterführen könne. Er sagte, er habe heute einiges zu erledigen, einzukaufen und so weiter. Ein Mann, der einen Selbstmord plant, geht doch nicht vorher in einen Supermarkt, oder?« »Ich nehme an, er war nüchtern.« »Soweit ich das beurteilen konnte, ja. Er bot mir zwar einen Augenöffner an, aber zum Spaß. Ja, ich würde sagen, er war völlig nüchtern.« 184
Mein Vater atmete tief ein. »Jetzt werden alle meine Befürchtungen wahr. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge hinterläßt er sein irdisches Erbe, bis auf seine Originalmanuskripte, einer Frau, die vor ihm gestorben ist. Soweit ich weiß, hat er keine näheren Angehörigen.« »Überhaupt niemand?« »Meines Wissens nicht. Würdest du uns bitte einen Port einschenken, Archy? Ich glaube, den könnten wir brauchen.« Ich schenkte ein, und mein Vater winkte mir, auf dem Lehnsessel neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er nippte nachdenklich an seinem Wein. »Wenn ich recht habe und er keine Erben hat, dann, glaube ich, werden Lydias Tante und Vettern Anspruch auf das Vermögen erheben, das Roderick geerbt hat.« Plötzlich war er verärgert. »Warum der Idiot nicht sofort nach dem Tod seiner Frau ein neues Testament gemacht hat, werde ich nie erfahren.« »Du hast aber versucht, ihn zu überzeugen, Vater«, sagte ich in der Hoffnung, ihn beschwichtigen zu können. »Ich hätte hartnäckiger sein müssen.« Er schien ebenso wütend auf sich selbst wie auf Gillsworth zu sein. »Du hast nicht vorhersehen können, was jetzt passiert ist«, erklärte ich. »Ich hätte es vorhersehen müssen«, erwiderte er, da er es ablehnte, sich besänftigen zu lassen. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, daß es bei rechtlichen Dingen nötig ist, immer auf das Schlimmstmögliche vorbereitet zu sein. Dieses Mal habe ich das versäumt, und das Schlimmste ist eingetreten. Du sagtest, Rogoff wird dich anrufen, wenn er Einzelheiten über Rodericks Tod weiß?« »Er sagte, daß er das tun werde.« »Gib mir bitte Bescheid, sobald du etwas von ihm hörst.« »Es könnte sehr spät werden, Vater. Weit nach Mitternacht.« »Dann wecke mich«, sagte er scharf. »Hast du das verstanden?« 185
»Ja.« Ich leerte mein Glas Port und ließ ihn mit seinem Zorn allein. Ich ging nach oben, zog mich aber nicht aus, da ich dachte, es sei durchaus möglich, daß Al sich mit mir irgendwo anders treffen wolle. Ich setzte mich in meinen Drehsessel, legte die Füße auf den Schreibtisch und versuchte, einen Sinn in Gillsworths Tod zu finden. Trotz der aufgeschnittenen Handgelenke des Leichnams würde mich niemand davon überzeugen können, daß der Dichter Selbstmord begangen hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, daß ein lebenslustiger Mann am Morgen ein elegantes Sportjackett trug und sich am Abend selbst umbrachte. Es sei denn natürlich, er hätte im Verlauf des Tages eine katastrophale Niederlage erlitten. Doch dafür gab es bisher keinerlei Beweise. Offensichtlich döste ich ein, denn als das Telefon schrillte, stellte ich fest, daß ich meine Unterarme verschränkt auf den Schreibtisch gelegt hatte und mein Kopf darauf ruhte. Ich wurde hellwach und warf einen Blick auf meine Uhr: fast halb drei morgens. »Rogoff«, sagte er. »Warum sollst du schlafen, wenn ich wach bin?« »Bist du noch immer in Gillsworths Haus, Al?« »Ja. Wenn ich eine Pause einlege und zu dir komme, meinst du, du könntest mir eine Tasse Kaffee stiften?« »Worauf du dich verlassen kannst. Wie wär's mit einem Sandwich?« »Nee. Nur Kaffee, heiß und schwarz. Ich werde nicht lange bleiben.« Ich ging zum Schlafzimmer meiner Eltern und pochte leise. Mein Vater öffnete die Tür so schnell, daß ich vermutete, er hatte nicht geschlafen, obwohl er seinen Schlafanzug aus irischem Leinen trug: eine langärmlige Jacke und eine gestreifte Hose. »Der Sergeant hat angerufen«, sagte ich, in der Hoffnung, Mutter nicht zu wecken. »Er kommt auf eine Tasse Kaffee vorbei.« 186
»Darf ich mich zu euch gesellen?« fragte mein Vater. »Natürlich. Koffeinfreier Kaffee für dich?« Er nickte, und ich ging in die Küche hinunter. Ich setzte den Kessel auf und stellte drei Tassen und Untertassen, Sahne, Zucker und Löffel auf den Tisch. Keine zehn Minuten später hörte ich Reifen auf unserer kiesbestreuten Auffahrt. Ich schaute aus dem Fenster und erblickte Als Kombi. Al sah müde und erschöpft aus, als er hereinkam. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich auf einen der Stühle fallen. Er schüttete einen gehäuften Teelöffel Instantkaffee in seine Tasse, und ich goß kochendes Wasser darüber. Dann kam mein Vater herein. Er hatte sich umgezogen, trug eine Hose, ein am Hals offenes Hemd und Filzpantoffel. Al erhob sich, als er eintrat. Dafür bewunderte ich ihn. Die beiden Männer schüttelten sich wortlos die Hände, und wir setzten uns. Vater und ich tranken koffeinfreien Kaffee. Mit Sahne, aber ohne Zucker. »Er ist tot, Sergeant?« fragte mein Vater. »Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Al. »Die genaue Todesursache muß bis zur Autopsie warten. Ich bin kein Mediziner, aber ich würde sagen, er ist an Blutverlust gestorben.« »Wie deuten Sie das?« fragte mein Vater. »Gar nicht. Noch nicht. Es gibt zu viele Fragen und nicht genügend Antworten. Ich will Ihnen die Umstände kurz schildern. Die Leute von nebenan grillten auf ihrer Terrasse. Einer der Gäste bemerkte Flammen hinter dem Fenster von Gillsworths Küche. Die Männer liefen hinüber, doch die Hintertür war verschlossen. Inzwischen verständigten die Frauen die Feuerwehr. Als die eintraf, mußte die Hintertür aufgebrochen werden. Sie war verschlossen, verriegelt und die Kette eingehängt. Sie brachen auch die Vordertür des Hauses auf. Die war mit einem Schnappschloß verschlossen, aber nicht verriegelt und verkettet.« Al schwieg, um in seinen Kaffee zu pusten, und nippte dann vorsichtig daran. Er war ihm nicht zu 187
heiß, und er nahm einen tiefen Schluck. Mein Vater und ich schlürften unseren behutsam. »Das ist bedeutsam«, meinte ich. »Findest du nicht? Das Schloß vorne eingeschnappt, aber die Tür nicht verriegelt und zugekettet?« »Vielleicht«, sagte Al. »Vielleicht auch nicht. Jedenfalls war es kein großes Feuer. Auf dem Herd stand eine große Bratpfanne. In der Pfanne war Fett – Butter oder Öl. Was genau, haben wir noch nicht feststellen können. Aber es fing Feuer, spritzte herum und entzündete die Vorhänge und die Tischdecke. Als die Feuerwehrleute hineinkamen, war die Herdplatte auf Höchststufe eingeschaltet.« »Dann hat er das Abendessen vorbereitet«, sagte mein Vater. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Genau so sah es aus. Auf dem Regal stand eine Platte mit sechs großen, bratfertigen Krabbenkuchen und im Kühlschrank eine große Schüssel Salat, fertig zubereitet.« »Schnaps?« fragte ich. »Ja, auf dem Küchentisch stand eine geöffnete Literflasche Gin, wovon etwa zwei Schluck fehlten. Dazu ein noch halbvolles Highballglas. Sah wie Gin und Tonic aus. Darin war eine Limonenscheibe. In dem Schrank unter der Spüle stand eine Sechserpackung Chininwasser. Eine der Flaschen war halbleer.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Ein Mann bereitet ein Abendessen vor. Er nimmt einen Drink, mischt einen Salat. Er bereitet die Krabbenkuchen zum Sautieren vor. Und dann beschließt er, sich statt dessen die Handgelenke aufzuschneiden. Leuchtet dir das ein, Al?« »Nein. Könnte ich noch eine Tasse Kaffee haben? Heute nacht werde ich sowieso nicht mehr zum Schlafen kommen.« Ich brühte ihm noch eine Tasse auf. »Fahren Sie bitte fort, Sergeant«, sagte mein Vater. »Wie wurde Gillsworth aufgefunden?« »Die Feuerwehrleute fanden die ganze Geschichte nicht koscher 188
und machten sich auf die Suche nach ihm. Sie fanden ihn in der Wanne des Badezimmers im Erdgeschoß, direkt neben seinem Arbeitszimmer. Er war völlig bekleidet. Auf der Badematte neben der Wanne lag eine blutige Rasierklinge. Seine beiden Handgelenke waren aufgeschlitzt.« »Beide?« fragte ich. »Wenn man sich ein Handgelenk aufschneidet, hat man dann noch genügend Kraft in dieser Hand, um eine Rasierklinge zu ergreifen und sich das andere Handgelenk aufzuschneiden?« »Frag mich nicht«, erwiderte Al. »Ich habe das nie versucht. Für die Geschichte brauchen wir einen Gerichtsmediziner.« »Wies der Leichnam irgendwelche anderen Wunden auf?« fragte mein Vater. »Ja, allerdings. Eine am Hinterkopf, ziemlich weit oben. Das Haar war blutverklebt. Aber er hätte mit dem Kopf auf den Wannenrand schlagen können, nachdem er sich die Handgelenke aufgeschlitzt hatte. Einer Blutspur auf dem Rand nach zu urteilen, sieht es aus, als sei's genau so gewesen. Es ist eine der Fragen, die der Gerichtsmediziner zu beantworten haben wird.« »Was vermutest du, Al?« fragte ich. »Selbstmord oder Mord? Ich frage nicht danach, wessen du dir absolut sicher bist, sondern danach, was du vermutest.« Er zögerte nur einen winzigen Augenblick und sagte dann: »Mord.« »Natürlich!« rief ich triumphierend. »Niemand schlitzt sich mitten während der Vorbereitungen für ein Abendessen die Handgelenke auf.« »Das ist nicht der Hauptgrund, warum ich das für Mord halte«, fuhr Al fort. »Selbstmörder machen manchmal die verrücktesten Sachen, bevor sie ihren ganzen Mut zusammennehmen, um den letzten Schritt zu tun. Nein, etwas anderes veranlaßt mich zu glauben, daß irgendwer Gillsworth die Handgelenke aufgeschnitten hat. Ar189
chy, tu mir einen Gefallen. Zeig mir, wie du deine Handgelenke aufschneiden würdest, wenn du entschlossen wärst, in die ewigen Jagdgründe einzugehen.« Ich starrte ihn an. »Du möchtest, daß ich so tue, als würde ich mir die Pulsadern aufschneiden?« Er nickte. »Nimm deinen Löffel.« Ich nahm den Löffel von meiner Untertasse. Ich faßte ihn mit der rechten Hand und ergriff ihn beim Schöpfteil, so daß der Stiel hervorragte. Ich streckte meinen linken Unterarm aus und drehte die Handfläche nach oben. Ich trug ein kurzärmliges Polohemd. Mein Arm war entblößt. Während mein Vater und Al aufmerksam zuschauten, fuhr ich mit dem Löffelstiel schnell über mein linkes Handgelenk, gerade so fest, daß meine Haut eingedrückt wurde. Dann nahm ich den Löffel in die linke Hand und machte die gleiche ziehende Bewegung über mein rechtes Handgelenk. »Genau das habe ich mir gedacht«, sagte Al. »Was hast du dir gedacht?« »Du hast von der Außenseite deiner Handgelenke nach innen geschnitten. Und das an beiden Handgelenken.« Ich schaute auf meine Unterarme und versuchte dann, mit dem Löffelstiel von der Unterseite jedes Handgelenkes nach oben zu fahren. »Natürlich habe ich das gemacht. Es wäre zwar nicht unmöglich, in der anderen Richtung zu schneiden, aber es ist ungeschickt, und man könnte dabei nicht so viel Kraft einsetzen. Das wäre wie eine Tennisrückhand im Vergleich mit einer Vorhand.« »Aber garantiert«, nickte Al. »Ich habe schon etliche aufgeschlitzte Handgelenke gesehen, bei Selbstmördern und bei Selbstmordversuchen. Der Schnitt wird immer von oben nach unten gemacht. Aber die Schnitte an Gillsworths Handgelenken sahen aus, als seien sie von der Unterseite der Gelenke nach oben gemacht. Das war jedenfalls der Eindruck, obgleich ich zugeben muß, daß ich damit völlig falsch liegen kann. Aber da ist noch etwas: An Gillsworths 190
Handgelenken war nichts zu sehen, was auf ein Zögern schließen ließ, Kratzer und leichte Einschnitte, die ein Selbstmörder manchmal verursacht, bevor er beschließt, aufs Ganze zu gehen. An Gillsworths Handgelenken war nur ein einziger tiefer Schnitt zu sehen. Mann, ich muß zurück. Danke für den Kaffee. Der hat mich auf Vordermann gebracht.« »Ihnen Dank, Sergeant«, sagte mein Vater. »Dafür, daß Sie so mitteilsam waren. Ich versichere Ihnen, daß Archy und ich alles streng vertraulich behandeln werden, was Sie uns erzählt haben.« »Ja«, erwiderte Al, »dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Sie schüttelten sich die Hände, und ich begleitete Al zu seinem Kombi hinaus. »Hast du noch ein paar Minuten Zeit?« fragte ich. Er schaute mich eine Sekunde an und grinste dann. »Etwas, das dein Vater nicht hören sollte?« »Stimmt. Andernfalls würde er mich vor Gericht stellen.« »Sicher habe ich noch ein paar Minuten Zeit. Gillsworth wird nicht aus der Stadt verschwinden.« Ich stieg mit ihm in seinen Kombi. Er holte eine Zigarre heraus, und ich nahm eine Zigarette. Wir brachten unser Kraut zum Brennen, und ich wandte mich ihm zu. »Du erinnerst dich, daß ich dir sagte, ich hätte dir etwas Wichtiges zu erzählen, bevor du gestern abend aus deiner Wohnung aufbrachst? Ich war am Mittwochabend bei den Glorianas auf einer Seance.« Er schien nicht überrascht zu sein. »Und?« »Ich habe mit Lydia Gillsworth gesprochen. Das Medium hat mit ihr über Xatyl, einen Mayaschamanen, Kontakt aufgenommen. Er ist Herthas Kanal zur Geisterwelt. Al, ich hörte Lydia reden. Ich weiß, daß die Worte von Hertha gesprochen wurden, aber ich hätte schwören können, daß es Lydia war. Nur, Hertha kannte sie gut, und wenn das Medium die Gabe der Täuschung besitzt, was offen191
sichtlich der Fall ist, hätte sie Lydias Stimme nachahmen können.« »Worüber hast du mit Lydia gesprochen? Hast du sie gefragt, wer sie umgebracht hat?« »Natürlich.« »Und was hat sie gesagt?« »Sie wurde hysterisch. Sie schrie immer wieder: ›Caprice! Caprice!‹« Das nahm ihn mit. Er wandte mir langsam den Kopf zu, um mich anzusehen, und sein Gesicht drückte totale Verwirrung aus. »Du bist ganz sicher, daß sie das sagte?« »Völlig sicher. Zuerst wurde es mit Lydias Stimme geschrien, aber dann kreischte Hertha mit ihrer eigenen Stimme weiter: ›Caprice!‹ Du weißt, was sie damit meinte, nicht wahr?« »Ja, das weiß ich. Gillsworths Wagen war ein Caprice. In der Nacht, in der sie ermordet wurde, fuhr sie damit von der Seance nach Hause.« »Stimmt. Und was hältst du davon?« Al schwieg ziemlich lange. Er wandte sich ab und starrte durch die Windschutzscheibe geradeaus. »Ich will dir was sagen, Archy. Ich habe vermutet, Gillsworth habe seine Frau umgebracht. Er sagte, er habe von euch aus mit ihr gesprochen, habe von ihr gehört, daß sie gerade eingetroffen sei, und sei sofort nach Hause gefahren, wo er sie tot vorfand. Er rief um elf nach neun an, und ich war fünfzehn Minuten später dort. Nachdem ich seine Geschichte gehört hatte, ging ich in die Garage und befühlte den Motor des Caprice. Ich fand nicht, daß er so heiß war, wie er hätte sein sollen, wenn sie gerade erst von der Seance nach Hause gekommen wäre. Aber das war eine subjektive Beurteilung. Zudem wurde sie in einer warmen Nacht gemacht, und niemand in Südflorida fährt Ende Juni durch die Gegend, ohne die Klimaanlage einzuschalten. Das Wageninnere von Lydias Caprice war nicht so kühl, wie es hätte sein sollen, wenn sie gerade erst zu Hause eingetroffen wäre – aber das 192
ist auch eine ganz persönliche Meinung. Es war nichts, mit dem ich mich hätte an den Staatsanwalt wenden können, aber ich begann über Gillsworth nachzudenken.« »Und was ist mit der Standuhr, die zur Todeszeit umgeworfen wurde und stehen blieb?« »Das bedeutet gar nichts, Archy. Jeder könnte die Uhr auf eine x-beliebige Zeit gestellt und sie dann umgeworfen haben, so daß sie stehen blieb. So ein Alibi läßt sich ganz schlicht fälschen.« »So weit, so gut«, meinte ich. »Aber er hat seine Frau aus dem Arbeitszimmer meines Vaters angerufen.« »Ich weiß, daß er das tat«, erwiderte Al. »Daran führt kein Weg vorbei. Und dann, gestern abend, wurde Roderick kalt gemacht – wenn es denn Mord war. Und das eben glaube ich. Das hilft, ihn als Verdächtigen auszuschließen, oder was meinst du? Es sieht aus, als hätte jemand aus irgendeinem Grund, gleich, ob er nun verrückt war oder nicht, die beiden Gillsworths, Frau und Mann, umbringen wollen. Jetzt aber erzählst du mir, daß diese Sensitive mit der Stimme der Ermordeten ›Caprice! Caprice!‹ geschrien hat. Also muß ich wieder ganz von vorn darüber nachdenken, ob Lydias Wagen wirklich eine Spur zu ihrem Mörder ist. Vielleicht hatte ich auf Anhieb recht, was den kühlen Motor und die Innentemperatur des Wagens anbelangt. Hör zu, Archy, ich muß wirklich in das Haus der Gillsworths zurückkehren. Da gibt's noch eine Menge zu tun.« Ich machte Anstalten, aus seinem Wagen auszusteigen. Aber er hielt mich fest. »Ich werde mit dieser Geschichte noch die nächsten Tage beschäftigt sein. Kümmerst du dich weiter um Otto Gloriana und das Katznapping?« »Die Absicht habe ich.« »Gut. Noch eins. Dieser Detektiv aus Atlanta sagte, Otto sei ein unangenehmer Zeitgenosse. Sei also vorsichtig.« Ich ging wieder ins Haus, schloß ab und legte mich ins Bett. Ich versuchte zu schlafen, doch mein Kopf war ein Kaleidoskop furcht193
erregender Bilder. Es muß gegen fünf Uhr früh gewesen sein, als ich schließlich wegsackte. Ich erwachte kurz vor Mittag und stand eingeseift unter der Dusche, als mein Telefon klingelte. Ich trat milde fluchend unter dem Strahl hervor und nahm den Hörer ab, der sich prompt meinem glitschigen Griff mit einem Fall auf den Fußboden entzog. Nach mehreren Versuchen hatte ich ihn wieder und hielt ihn mit beiden Händen fest. »Hallo?« meldete ich mich. »Was ist denn da los, zum Teufel?« wollte Harry Willigan wissen. »Sind Sie betrunken?« Ich begann mit einer Erklärung, aber er hatte nicht die Zeit oder die Neigung, mir zuzuhören. Er sagte, er sei gerade auf dem Weg zum Flughafen, da er wegen einer geschäftlichen Besprechung nach Chicago müsse. Er werde bis Dienstag fort sein, und wenn ich irgendwelche Neuigkeiten bezüglich Peaches hätte, solle ich Laverne anrufen. Sie wisse, wo er zu erreichen sei. Bevor ich ihm erzählen konnte, daß ich eine heiße Spur zu seiner Liebsten gefunden hatte, legte er auf. Ich duschte zu Ende, zog mich an und rief Meg Trumble an. Wieder meldete sie sich nicht. Sehr frustrierend. Ich begab mich nach unten zum mittäglichen Frühstück und fand Jamie Olsen am Küchentisch sitzend. Er kaute an einem dicken Sandwich, das im wesentlichen aus Scheiben spanischer Zwiebeln zu bestehen schien, die zwischen Roggenbrotscheiben geklemmt waren. Das sah so anregend aus, daß ich mir auch eins machte. Ich vertilgte es zu einer Flasche Bier. »Jamie«, sagte ich, »du erinnerst dich doch an meine Frage, ob Laverne Willigan ein kleines Techtelmechtel habe. Du sagtest, sie setze dem lieben alten Harry angeblich Hörner auf.« »Ja.« »Hast du erfahren, wer das ist?« »Ein feiner Pinkel.« 194
»Ein feiner Pinkel? Das ist alles?« »Ja. Gut angezogen.« »Aber kein Name?« »Nee.« »Also alles, was du gehört hast, ist, daß Lavernes Techtelmechtel ein feiner Pinkel ist – richtig?« »Groß.« »Aha! Ein großer, feiner Pinkel! Jetzt machen wir Fortschritte. Jung? Alt?« »Halb und halb.« »Würdest du sagen, in meinem Alter?« »Kann sein.« »Wird immer besser. Jetzt haben wir also einen großen, feinen Pinkel mittleren Alters. Schlank oder dick?« »Schlank.« »Dunkelhaarig oder blond?« »Brünett.« »Gut aussehend?« »Kann sein. Ich denke, sie hält ihn dafür.« »Exzellent.« Jetzt hatte ich einen großen, schlanken, brünetten und gut aussehenden, feinen Pinkel mittleren Alters. Es gab viele Männer im Großraum Palm Beach, auf die diese Beschreibung paßte. Mich eingeschlossen. Ich schob Jamie einen Zehner zu. Dann ging ich ins Arbeitszimmer meines Vaters und suchte die Nummer des Motels am Federal Highway heraus. Ich rief an und wurde von einer Frauenstimme begrüßt. »Ich möchte bitte mit Mr. Charles Girard sprechen«, sagte ich. »Südreihe, Haus vier.« Ein Klicken war zu hören, während die Verbindung hergestellt wurde, gefolgt vom Läuten. Ich zählte neunmal, bevor das Telefon abgenommen wurde. 195
»Ja?« Eine Männerstimme, tief und belegt. »Mr. Charles Girard?« »Ja. Wer spricht da?« »Mr. Girard, hier ist der Tierarzt, der Ihre Katze kürzlich medizinisch versorgt hat. Ich pflege mich immer nach abgeschlossener Behandlung nach dem Zustand der Tiere zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist. Kostenlos, selbstverständlich. Ihre Katze hieß doch Gertrude, nicht wahr?« »Peaches.« »Natürlich. Das habe ich verwechselt. Und wie geht es Peaches, Mr. Girard?« »Sie ist wohlauf.« »Freut mich, das zu hören. Gut, denken Sie daran, daß wir jederzeit bereit sind, uns um Ihren Liebling zu kümmern, falls das erforderlich sein sollte. Danke sehr, Mr. Girard, und einen schönen Tag noch.« »Gleichfalls«, erwiderte er und legte auf. Über die Ergebnisse meiner diskreten Ermittlungen an diesem Vormittag war ich hocherfreut. Ich bestieg den Miata. Ich fuhr langsam, da ich die Absicht hatte, mich in die Höhle des Löwen namens Otto Gloriana zu begeben, und mir noch eine glaubwürdige Geschichte dafür zurechtlegen mußte, warum ich auf seiner Schwelle auftauchte. Indes fiel mir außer purem Wahnsinn kein entsprechender Schwindel ein. Deshalb beschloß ich, auf mein Improvisationstalent zu bauen. Ich parkte an derselben Stelle wie beim letzten Mal und spazierte durch die Mittagshitze zum Büro des Motels zurück. Dieselbe Frau, mit der ich unlängst gesprochen hatte, thronte auf demselben Hocker hinter demselben Tresen und war über eine Zeitung gebeugt. »Verzeihen Sie«, sagte ich, »aber ist Mr. Girard da?« »Den haben Sie gerade verpaßt«, erwiderte sie ohne aufzublicken. »Er und seine Frau sind vor ein paar Minuten weggefahren.« 196
»Na so was. Und mir hat er erzählt, er sei hier. Ich habe ihn eine Ewigkeit nicht gesehen, und jetzt bin ich den ganzen Weg von Fort Lauderdale hierher gefahren, um ihn zu überraschen. Fährt er immer noch seinen Lincoln Continental?« »Nein, einen Chrysler Imperial.« »Ah, dann muß er den Lincoln verkauft haben. Aber seine Frau ist noch immer diese große, attraktive Blondine?« »Eine Brünette. Stämmig. Hat eine Figur wie eine Bulldogge.« »Herrje!« sagte ich fröhlich lachend. »Dann hat der alte Charlie seine erste Frau wohl auch verkauft. Hat er gesagt, wann er zurück sein wird?« »Nee.« »Ich fahre dann am besten ein bißchen rum, schaue mir die Gegend an und komme später wieder. Danke für Ihre Hilfe.« Ich hielt mich für umwerfend schlau, doch plötzlich sagte sie, ohne aufzublicken: »Sie haben 'ne Menge Informationen zum Nulltarif bekommen, stimmt's?« Ich seufzte, zupfte einen Zwanziger aus meiner Brieftasche und schob ihn über den Tresen. Sie steckte ihn schnell ein. Ich trat ins heiße Sonnenlicht hinaus und spazierte zu Haus vier, Südreihe. Es war größer, als ich es mir vorgestellt hatte, befand sich aber in heruntergekommenem Zustand. Ein Anstrich wäre dringend vonnöten gewesen. Eine verrostete Klimaanlage ratterte in einem Fenster, und auf der schiefen Veranda trauerte ein Liegestuhl, dessen Bezug zerfetzt herunterhing. Ich ging an die Tür und pochte leise. Niemand öffnete, doch hörte ich ein klägliches Miauen. Ich beugte mich dicht am Türpfosten nieder und flüsterte: »Verzweifle nicht, Peaches. Die Kavallerie ist unterwegs.« Dann kehrte ich in dem Bewußtsein nach Hause zurück, daß die Ereignisse sich wahnsinnig schnell entwickelten und es dringend nötig war, mein Tagebuch auf den neuesten Stand zu bringen, damit nichts vergessen wurde, gleich, wie trivial es sein 197
mochte. Zuerst aber rief ich Meg Trumble an, und dieses Mal meldete sie sich. »Meg!« sagte ich. »Wo in aller Welt hast du gesteckt? Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.« »Archy«, sagte sie, und ihre Stimme wirkte ganz aufgedreht, »ich war ja so beschäftigt. Die Namensliste, die du mir gegeben hast, war ein Gottesgeschenk. Vier habe ich bereits besucht, und zwei sind wirklich daran interessiert, einen Fitneßtrainer zu bekommen. Ist das nicht wundervoll?« »Absolut. Wie wär's denn heute abend mit einem gemeinsamen Essen?« »Nur zu gern«, meinte sie prompt. »Es ist nämlich so, daß ich Laverne vor ein paar Minuten angerufen habe, um sie zu fragen, ob wir heute abend gemeinsam zum Essen gehen könnten. Aber sie hat eine Verabredung mit dem Aktivclub. Jetzt bin ich froh darüber, daß sie nicht kann. Ich würde sehr gern mit dir zum Essen gehen.« »Ist's dir recht, wenn ich dich um sieben abhole?« »Super. Können wir wieder ins Café Istanbul gehen? Mir hat das toll gefallen. Bis später!« Ich saß da, zählte zwei und zwei zusammen und bekam als Ergebnis fünf heraus. Nämlich: Harry Willigan war nicht in der Stadt. Seine Frau hatte einen Liebhaber, der irgendwo wartete. Und Laverne konnte mit Meg nicht zum Abendessen, weil sie eine Verabredung im Aktivclub hatte. Dieser Club ist eine gesellschaftliche Einrichtung, der Männer und Frauen überwiegend fortgeschrittenen Alters angehören. Sie treffen sich einmal im Monat, um Vorträgen über aktuelle Themen zu lauschen, die ein Kongreßabgeordneter, ein Professor der Politikwissenschaften, ein reumütiger Kommunist oder der abgesetzte Diktator einer Bananenrepublik halten. Auf den Vortrag folgt eine Frage-und-Antwort-Stunde, an die sich das Auftischen von Kaffee 198
und Haferküchlein anschließt. Meine Mutter ist ein getreues Mitglied und dient dort als Kaffeekannenträgerin. Ich stieg gemessenen Schrittes die Treppe hinunter und fand sie im Gewächshaus, wo sie mit ihren Begonien plauschte. »Ich weiß, daß es heiß ist«, sagte sie, »aber es ist Sommer, und ihr müßt frohen Mutes sein.« »Hallo, Mutter«, sagte ich, ihr einen Kuß auf die samtene Wange hauchend. »Wie fühlst du dich heute so?« »Mein Gott, du bist ja in aufgekratzter Stimmung. Bist du wieder mal verliebt, Archy?« »Gut möglich«, gab ich zu. »Sag mal, Mutter, hast du heute abend eine Zusammenkunft im Aktivclub?« »Aber nein. Das nächste Treffen findet erst am fünfzehnten Juli statt. Warum fragst du?« »Ich bin nur durcheinander. Wir sehen uns beim Cocktail, aber ich habe heute eine Verabredung zum Abendessen.« »Schön für dich. Ich hoffe, es wird nett.« »Das hoffe ich auch.« Den restlichen Nachmittag arbeitete ich an meinem Tagebuch und kritzelte all die Informationen hinein, die ich über den Tod von Roderick Gillsworth erfahren hatte. Ergänzend schrieb ich die Geschichte der Glorianas dazu, wie Al sie mir berichtet hatte, und das, was ich an diesem Tag über Ottos mögliche Verstrickung in die Entführung von Peaches entdeckt hatte. Ich schloß mit einem Kommentar über Laverne Willigans offensichtliche eheliche Untreue und ihren ungeschickten Versuch, sie mit einer schwächlichen Ausrede zu kaschieren. Zufrieden mit der Arbeit des Tages und der Tatsache, daß ich langsam Durchblick und eine Lösung des Falles Gillsworth-Peaches fand, machte ich Feierabend und widmete mich meinem täglichen Schwimmtraining. Dann begab ich mich unter die Dusche und kleidete mich anschließend mit besonderer Sorgfalt. Ich hatte die 199
Absicht, Meg Trumble mit modischer Kluft zu beeindrucken. Deshalb wählte ich ein aus pflaumenfarbiger Baumwolle gestricktes Hemd, eine Sportjacke in Grün, eine Hose aus rehbrauner Seide und Korduanlederschuhe. Mit diesem Kostüm konfrontierte ich die Familie zur Cocktailstunde. »Mein Gott!« keuchte mein Vater. Ich hoffte, daß Meg von mir beeindruckt wäre. Wir würden einen wundervollen Abend verbringen. Ich fuhr los, läutete an ihrer Tür und zitterte voller Erwartung. Meg begrüßte mich mit einem gewinnenden Lächeln. Hinter ihr, im Wohnzimmer, saß Hertha Gloriana und schenkte mir ein ebenso gewinnendes Lächeln. »Hertha wird uns begleiten«, sagte Meg selig. »Ist das nicht wundervoll?«
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er Abend war eine Katastrophe. Niemals habe ich mich so fremd gefühlt. Ich begann mich zu fragen, ob Männer und Frauen nicht nur zwei verschiedene Geschlechter sind, sondern zwei völlig verschiedene Arten. Das begann, als wir im Café Istanbul eintrafen. Ich entschied mich für einen Tisch, aber Meg und Hertha bevorzugten einen anderen. Ich hatte erwartet, neben Meg zu sitzen und daß Hertha, das dritte Rad am Wagen, uns gegenüber Platz nehmen würde. Doch die Frauen bestanden darauf, Seite an Seite zu essen, so daß ich ihnen gegenübersaß. Meine Empfehlungen bezüglich der Speisen wurden überhört, 200
und man stimmte gegen meine Weinauswahl. Ich nahm diese Affronts mit Gelassenheit hin. Doch sie waren nur der Beginn der Salven, die auf mein Ego niedergingen. Hertha und Meg schienen sich in abfälligen Äußerungen über die Farben meiner Kleidung zu überbieten. Noch schlimmer war, daß das Medium mir vorschlug, ich täte gut daran, ihren Gatten um Tips zu bitten, wie man Farbtöne und Gewebe aufeinander abstimmt, um mit einem angenehmen Äußeren aufzuwarten. »Das ist eine prächtige Idee«, sagte ich mit starrem Lächeln, in der Hoffnung, daß mein Zähneknirschen nicht hörbar war. »Und wo ist Frank heute abend?« Meine unschuldige Frage bewirkte bei den beiden einen schallenden Ausbruch von Gelächter, der anhielt, bis unser Salat serviert und der Wein entkorkt wurde. Eine Antwort auf meine Frage erhielt ich nicht, obwohl offensichtlich war, daß die beiden sie kannten. Gibt es etwas Ärgerlicheres als einen Scherz, den man nicht versteht und für dessen Pointe einem auch keine Erklärung gegeben wird? Meine Versuche einer beschwingten Konversation wurden ebenso abgelehnt. Genau genommen schienen die Damen überhaupt nicht an mir interessiert zu sein. Doch sie verbrachten reichlich Zeit damit, miteinander zu flüstern – ein schockierender Verstoß gegen gute Manieren –, und ich erinnerte mich meines unguten Gefühls, als ich die beiden nach der Seance am Mittwochabend eng beieinander sitzend und Händchen haltend gesehen hatte. Schließlich endete das verhängnisvolle Abendessen, und wir fuhren zu Megs Wohnung zurück, wobei Hertha wie zuvor auf Megs Schoß saß. Ich hatte kein Verlangen zu bleiben, da mir schmerzhaft bewußt wurde, daß ich mit meiner Anwesenheit nur störte. Die Proteste der beiden Frauen gegen meinen frühzeitigen Aufbruch fielen pflichtschuldig aus, und ihre Abschiedskundgebungen waren ebenso mechanisch. 201
Mehr gedankenvoll als wütend fuhr ich heim. Meine Pflichten als Chef der Abteilung Diskrete Ermittlungen im Hause McNally und Sohn hatten doch den Vorrang vor meinen Sturm-und-Drang-Aktivitäten. So dachte ich weniger über das unverschämte Verhalten meiner beiden Mitesserinnen als vielmehr über den Verbleib und die derzeitigen Aktivitäten von Frank Gloriana nach. Er und Laverne Willigan hatten wohl das, was Jamie Olson einmal als ›Techtelmechtel‹ bezeichnet hatte. Ich nahm einen Umweg über das Motel am Federal Highway. Lavernes pinkfarbener Porsche war vor Haus vier geparkt. Dann fuhr ich nach Hause und bezog dabei ein wenig Amüsement aus der Vorstellung, wie Harry Willigan reagieren würde, wenn er von der Verstrickung seiner Frau in die Entführung von Peaches erführe. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, sie zu verpfeifen. Das war einfach etwas, was ein Gentleman nie tun würde. Als ich meine Höhle erreichte, fand ich eine gekritzelte Nachricht, die unter meiner Tür durchgeschoben war. Ursi Olson hatte sie verfaßt. Darauf stand, daß Sergeant Rogoff am frühen Abend angerufen habe und um Rückruf bitte. Ich versuchte zuerst, ihn im Polizeipräsidium zu erreichen, erfuhr aber, daß er nicht mehr im Haus sei. Daraufhin rief ich ihn in seinem Mobilheim an, und er nahm nach dem dritten Läuten ab. »McNally.« »Du bist schon so früh zu Hause?« erwiderte er. »Was ist passiert – hat dich deine Freundin aus dem Bett geworfen?« »Du liegst fast richtig. Was ist passiert, Al?« »Eine Menge. Ich habe endlich den Bericht des FBI über die Briefe an Gillsworth und Willigan bekommen.« »Wurden sie auf derselben Maschine ausgedruckt?« »Ja. Zudem liegen mir ein Vorbericht des Gerichtsmediziners und ein paar Untersuchungsergebnisse des Labors vor. Ein paar Tests 202
müssen noch durchgeführt werden, aber langsam werden die Zusammenhänge klar. Wir sollten uns besser sehen.« »Prima. Ich habe dir auch etwas zu erzählen. Ich weiß, wer die Katze geklaut hat. Wann treffen wir uns?« »Morgen früh um zehn. Im Haus der Gillsworths.« »Warum gerade dort?« »Wir werden den Mord rekonstruieren. Du darfst das Opfer spielen.« »Ist meine Lieblingsrolle«, sagte ich. »Bis morgen dann.« Ich spendierte mir einen kleinen Marc und verbrachte ein paar Stunden mit der Durchsicht meines Tagebuches, wobei ich den Einträgen besondere Aufmerksamkeit schenkte, die sich mit Laverne Willigan, ihren Gefühlen gegenüber ihrem Gatten, ihrer Reaktion auf die Entführung von Peaches und dem Klatsch befaßten, den Jamie mir über ihren angeblichen Liebhaber mitgeteilt hatte. Ich gönnte mir einen zweiten Marc und zündete mir eine Zigarette an. Alkohol absorbierend und Nikotin inhalierend – beides mit sorgloser Ungezwungenheit –, sinnierte ich über Lavernes Motiv der Beihilfe zum Katznapping, da ich sicher war, daß sie tief in der Geschichte steckte. Ich schrieb folgendes nieder: »1. Laverne ist eine sinnliche junge Frau mit einem gigantischen Appetit auf Freuden, die das gute Leben offeriert. 2. Sie ist mit Harry verheiratet, einem schlechtgelaunten Knilch, der erheblich älter als sie ist, aber den Drang hat, die zuvor erwähnten Freuden reichlich zu spenden. 3. Sie trifft sich mit einem kecken, gutaussehenden, aber unmoralischen Lebemann, Frank Gloriana. Der ist mit einer Sensitiven verheiratet, mit Hertha, hat aber keine Skrupel, seine Frau zu betrügen, zumal die Möglichkeit besteht, dafür eine kleine Summe zu kassieren. (Oder vielleicht weiß das Medium um seine Untreue, und es ist ihr völlig egal, da sie ebenso unmoralisch ist wie er.) 4. Laverne und Frank werden intim und genießen die Gesellschaft 203
des anderen, hegen aber keinerlei Absicht, ihre jeweiligen festen Gefährten zu verlassen. 5. Frank indes leidet unter der kontinuierlich knappen Kasse (geplatzte Schecks) usw. 6. Frage: Sind Laverne oder Frank auf die Idee gekommen, Peaches zu klauen, um ein hübsches Sümmchen zu kassieren? 7. Antwort: Ich vermute, daß Frank diese Gaunerei ausgeheckt hat, aber Laverne fröhlich mitzieht, da dies ihren Langweiler von Ehemann in Rage bringt. Zudem kann er sich das Erpressungsgeld leisten. Und außerdem trägt es dazu bei, daß sie Frank nicht verliert. 8. Sie schafft die Katze in ihrem Transportbehälter heimlich aus dem Haus ihres Mannes heraus und bringt sie nach Haus vier. 9. Frank schiebt die Erpresserbriefe unter die Eingangstür des Hauses von Harry Willigan. 10. Laverne bringt den Transportbehälter zurück, als sie von ihrer Schwester erfährt, daß mir dessen Fehlen aufgefallen ist. 11. Alles, was zu tun bleibt, ist, das Erpressungsgeld zu kassieren und Peaches ihrem Gatten zurückzugeben. 12. Danach leben alle glücklich weiter.« Ich las diese Notizen, und alles schien mir ganz logisch zu sein – und ganz banal. Ich ging zu Bett und sinnierte darüber, daß es wirklich keine neuen Wege gab zu sündigen. Der Samstagmorgen wartete mit strahlendem Sonnenschein auf. Mein Selbstvertrauen war zurückgekehrt. Das Hoch, in dem ich mich befand, währte allerdings nur fünfundvierzig Minuten, bis zu dem Zeitpunkt, als ich gerade in Vorbereitung meiner Rasur meine Wangen einseifte und einen Anruf von Connie Garcia bekam. »Archy«, jammerte sie, »unsere Orgie heute abend – findet nicht statt!« 204
Augenblicklich wurde der strahlende Tag trübe. Auf typisch männliche Weise hatte ich mich damit getröstet, daß trotz meiner Zurückweisung durch Meg Trumble am Freitagabend ja noch immer Connie meiner am Samstag harrte. »Connie«, sagte ich mit einer Stimme, die vor Enttäuschung fast erstickte, »warum denn nicht?« »Weil ich einen Anruf von meiner Base Lola aus Miami bekommen habe. Sie und Max, ihr Mann, fahren nach Disney World und wollen bei mir vorbeischauen und die Nacht in meiner Wohnung verbringen.« »Lächerlich!« »Ich weiß, Archy, aber ich muß ihnen das zugestehen, weil ich bei ihnen zur Weihnachtszeit ein Wochenende verbracht habe.« Ich seufzte. »Aber zumindest können wir gemeinsam zu Abend essen, oder?« »Archy, Max trägt Bermudashorts mit weißen Halbsocken und schwarzen Schnürschuhen.« »Kein Abendessen«, erwiderte ich entschlossen. »Aber ich will dich sehen«, weinte sie. »Können wir zwei denn nicht einfach zu Mittag essen, auch wenn's anschließend keine Bettfreuden gibt?« »Natürlich können wir das«, sagte ich mutig. »Ich sehe dich am Mittag im Club.« »Du bist ein bewundernswerter Mann«, verkündete sie. »Dem pflichte ich bei.« Ein gutes Frühstück wirkt Wunder auf meine Moral. Die Olsons, die skandinavischer Abstammung sind, haben ein Händchen für Hering. Ursi hält immer mehrere Sorten parat, und so war dies meine Morgenatzung: Hering in Wein, in Senfsauce, in Dillcreme und dazu ein Bückling. Dies alles vertilgte ich mit Schwarzbrot und Butter. Ich weiß, daß eisgekühlter Wodka die passende Nachspülung für eine Heringsmahlzeit ist, doch es war noch zu früh am Morgen. So begnügte ich mich mit schwarzem Kaffee. 205
Solchermaßen erfrischt, steuerte ich den Miata südwärts, um mich mit Al zu treffen. Es war ein prächtiger Tag, klar und mild. Wenn man beabsichtigt, einen Mord zu rekonstruieren, dann war dies genau das richtige Wetter dafür. Ein Mord mutete angesichts der Herrlichkeit von Sonne, Meer und Himmel wie ein Witz an. An einem Tag wie diesem konnte unmöglich jemand sterben. Al wartete in dem geblümten Wohnzimmer des Landhauses der Gillsworths auf mich. Ich fand, daß sein Gesicht vor Erschöpfung eingefallen wirkte, und tat mein Mitgefühl über seine anstrengende Arbeit und seinen offensichtlichen Mangel an ausreichend Schlaf kund. Er zuckte die Schultern. »Das gehört zum Geschäft«, knurrte er. »So ist man ein erfolgreicher Bulle: Arbeite dir den Arsch ab, habe Geduld und bete, daß du Glück hast.« Wir saßen uns in Armsesseln gegenüber, und ich zählte die Beweise auf, die zu meiner Schlußfolgerung führten, daß Laverne Willigan und Frank Gloriana bei diesem Katznapping konspirierten. Al hörte aufmerksam zu und grinste, als ich fertig war. »Ja«, sagte er, »das glaube ich auch. Die beiden haben's miteinander und hecken einen Plan aus, für den Liebling des alten Zausels fünfzig Riesen zu kassieren. Das gefällt mir, gefällt mir wirklich. Glaubst du, daß die Katze noch draußen in dem Motel ist?« »Ich habe sie miauen gehört. Ich kann zwar nicht beeiden, daß es Peaches ist, aber ich vermute es stark.« Er überlegte einen Augenblick. »Klingt so, als sei dieses Haus vier das Befehlszentrum von allem, was läuft. Otto Gloriana wohnt dort, und dort hast du den Bentley von Gillsworth und den Porsche von Laverne gesehen.« »Und die Katze gehört«, erinnerte ich ihn. »Und dazu erzählte die Dame im Büro, Otto sei mit einer Frau weggefahren, die Irma sein könnte.« »Wahrscheinlich war sie's.« 206
»Willst du den Laden durchsuchen, Al?« »Noch nicht. Die Katze ist nicht so wichtig wie die Morde. Ich möchte unsere Karten nicht vorzeitig ausspielen, weil die Kakerlaken sonst vorzeitig verschwinden. Aber ich denke, ich werde einen verdeckten Agenten in einem der anderen Häuser einquartieren, um alles im Auge zu behalten.« »In Ordnung, mach's, wie du willst. Aber jetzt erzähle mir von dem FBI-Bericht.« Er nahm sein Notizbuch heraus und durchblätterte die Seiten, bis er den Abschnitt gefunden hatte, den er suchte. Dann hielt er inne, um sich eine Zigarre anzustecken. Ich wartete geduldig, bis sie zu seiner Zufriedenheit brannte. Dann begann er zu lesen. »Die Maschine ist eine Smith-Corona-PWP-100C-Speicherschreibmaschine mit Picatype. Das Papier ist Southworth-DeLuxe-Four-Star. Verwendet wurde ein Smith-Corona-Kunststoffarbband. Alle Briefe wurden auf derselben Maschine geschrieben, wahrscheinlich von derselben Person.« »Interessant. Aber wozu ist das gut? Was nützt uns das?« Er lächelte mich an. »Archy, du mußt anfangen, wie ein Bulle zu denken. Ich habe gerade einen Polizeianwärter zugewiesen bekommen. Ich werde dem Jungen den Auftrag erteilen, die Gelben Seiten zu durchforsten und eine Liste aller Geschäfte in der Region zu erstellen, die Büromaschinen verkaufen und warten. Er wird jeden Laden besuchen und eine Liste derjenigen anfertigen, die die Smith Corona PWP 100C im Angebot haben. Dann läßt er sich die Namen und Anschriften der Kunden geben, die diese Maschine gekauft haben oder haben warten lassen. Das ist zugegebenermaßen eine Menge Lauferei, aber es muß getan werden, und ich denke, es wird sich bezahlt machen.« Ich überlegte einen Augenblick. »Das ist die harte Tour.« Al schaute mich ein wenig säuerlich an. »Ach ja? Und was wäre der einfachere Weg?« 207
»Laß deinen Rekruten einen zwanzigminütigen Intensivkurs über Speicherschreibmaschinen machen. Sag ihm, daß er sich von einem Bürogeschäft eine Visitenkarte besorgen soll. Schicke ihn zu Frank Gloriana in das Büro an der Clematis Street. Dein Mann trägt natürlich Zivil. Er versucht, Frank eine Smith Corona PWP 100C zu verkaufen. Ich wette, Frank wird sagen: ›Bedaure, aber wir haben schon eine.‹« Al lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel. »Du bist doch ein Gauner! Gott sei Dank stehst du auf unserer Seite, denn sonst würde dir am Ende noch ganz Florida gehören. Ja, das ist eine tolle Idee, und wir werden's ausprobieren, bevor ich den Knaben übers Pflaster traben lasse. Du glaubst wirklich, daß die Briefe aus dem Büro der Glorianas kommen?« »Jede Wette. Da oben gibt's einige Türen, die zu abgeschlossenen Räumen führen, die ich nicht gesehen habe. Es ist einen Versuch wert.« »Das ist es sicher. Danke für den Vorschlag.« »Aber gern geschehen. Al, war's dir ernst mit der Nachstellung des Mordes?« »Sicher meine ich das ernst. Sieh mal, wir haben da einige Beweise. Einzeln betrachtet geben sie alle nicht viel her, aber zusammengenommen ergeben sie möglicherweise einen Mord, der so geplant wurde, daß er wie Selbstmord aussah. Ich erklär's dir, während wir das machen. Ich möchte, daß du jetzt in die Küche gehst. Ich gehe nach draußen und tue so, als sei ich der Verbrecher. Du versuchst, dich so zu verhalten, wie Gillsworth sich deiner Meinung nach in den wenigen Minuten vor seinem Tod verhalten hat.« Ich ging in die Küche, wo noch immer die schwarzen Flecken des verbrannten Öls zu sehen waren. Dort hörte ich das Läuten der Klingel an der Haustür. Ich blieb einen Augenblick stehen und kehrte dann zur Eingangstür zurück. Ich spähte durch das Guckloch. Al stand dort. Ich öffnete die Tür. 208
»In Ordnung«, sagte Al. »Wahrscheinlich hat Gillsworth das Gleiche getan: durch den Spion geschaut, jemand gesehen, den er kannte und einließ.« »Ihn?« fragte ich. »Keine Frau? Oder vielleicht zwei Personen?« »Möglich.« Al trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Jetzt ist der Täter drin, weiß aber nicht, daß Gillsworth eine Pfanne mit Öl auf dem heißen Herd stehen hat. Und bevor Gillsworth ihm das sagen kann, macht der Killer dies.« Er richtete einen Zeigefinger auf mich und hob den Daumen. »Warum die Pistole?« fragte ich ihn. »Weil der Killer Gillsworth ins Badezimmer treiben will, damit er den Selbstmord vortäuschen kann. Eine höfliche Aufforderung genügt dafür nun mal nicht. Jetzt hebe deine Hände hoch und dreh dich um.« Ich befolgte seinen Befehl. Sekunden darauf spürte ich einen leichten Schlag auf dem Hinterkopf. »Was tust du?« fragte ich. »Der Kerl – oder die Dame, wenn du darauf bestehst – schlägt Gillsworth hinten auf die Birne. Die Ärzte haben das herausgefunden: ein kräftiger Schlag, ausgeführt mit dem berühmten stumpfen Gegenstand. Könnte ein Pistolenkolben gewesen sein, der Gillsworth bewußtlos geschlagen hat. Jetzt laß dich nach hinten fallen. Keine Angst, ich fange dich auf.« Etwas nervös kippte ich um. Al faßte mich unter den Achseln und bewegte sich rückwärts durch den Korridor zum Badezimmer, wobei er mich mit sich zog. »Wir wissen, daß es so gemacht wurde, weil die Hacken des Opfers Furchen in den Teppich gezogen haben. Diese wurden fotografiert und die Fasern analysiert. Und nun rate mal, was wir in anderen Spuren gefunden haben.« »Was?« »Katzenhaare.« »Das Motel!« 209
»Du hast's kapiert. Wir haben alle Kleidungsstücke und Schuhe von Gillsworth abgesaugt. Mehr Katzenhaar. Er muß eine Menge Zeit in Haus vier verbracht haben. Das Haar war silbergrau.« »Peaches. Eindeutig.« »Okay, du kannst jetzt aufstehen. Ich werde dich nicht in die Wanne legen. Sie ist noch nicht ausgespült.« Al half mir auf die Beine und schaute auf seine Armbanduhr. »Keine drei Minuten von der Eingangstür bis zum Badezimmer. Ich denke, daß der Mörder Gillsworth über den Wannenrand gehoben hat und ihn dann hat fallen lassen. Dabei hat sich Gillsworth den Kopf auf dem Rand angeschlagen. Er hatte zwei einzelne, verschiedene Verletzungen am Hinterkopf, eine durch den Pistolenkolben verursacht, die andere, als er in die Wanne gesteckt wurde und mit dem Kopf aufschlug. Man kann die Spur am Rand noch sehen.« Ich blickte in die Wanne. Das Blut war getrocknet und klebte am Boden und an den Innenwänden. »War der Abfluß geschlossen?« »Nein. Aber Gillsworth trug einen Frack. Der Schoß verstopfte den Abfluß so, daß das Blut nicht ablaufen konnte. Er liegt jetzt also in der Wanne, das Gesicht nach oben, und ist bewußtlos. Der Killer nimmt eine Rasierklinge und schneidet damit beide Pulsadern durch.« »In der falschen Richtung?« »Ja. Und er läßt die Klinge auf die Badematte fallen, damit es so aussieht, als habe Gillsworth sie dort fallen lassen.« »Gibt es Fingerabdrücke auf der Klinge?« »Nichts Brauchbares.« »Wo kam sie her? Hat sich Gillsworth mit solchen Klingen rasiert?« »Ich wollte sicher sein, daß es sich nicht um einen Raubmord handelte. Deshalb rief ich Marita an, damit sie sich im Haus umschaute. Sie sagte, es fehle nichts. Sie sagte auch, daß es hier keine Rasierklingen gebe. Gillsworth benutzte einen Elektrorasierer. Wir 210
fanden ihn im Badezimmer. Der Killer hat die Klinge also mitgebracht. Was bedeutet, der vorgetäuschte Selbstmord war geplant. Das hätte eine schöne Schlagzeile gegeben: Dichter begeht nach dem tragischen Tod der geliebten Frau aus Herzeleid Selbstmord.« »Und deine Erwähnung Maritas erinnert mich an etwas. Als du und ich uns das letzte Mal in diesem Haus trafen – das war nach der Ermordung von Lydia Gillsworth –, sah ich Marita hier vorfahren. Was hat sie hier gemacht?« Al warf mir einen Blick zu. »Dir entgeht nicht viel, was? Also, nachdem seine Frau ermordet worden war, bat ich Gillsworth, im Haus nachzusehen, ob etwas fehle. Er tat das und sagte, soweit er es beurteilen könne, sei nichts verschwunden. Aber ich rief Marita her, damit sie das überprüfe, da ich mir dachte, eine Haushälterin wisse besser, ob etwas fehle oder nicht.« »Und war's so?« »Ja. Ein Paar Latexhandschuhe. Marita bewahrte sie unter der Spüle auf. Sie benutzte sie, wenn sie Töpfe scheuerte.« »Latexhandschuhe«, wiederholte ich. »Herrlich. Die obersten Fingerabdrücke auf dem Spazierstock, mit dem Lydia getötet wurde, waren doch welche von Latexhandschuhen, oder?« »Stimmt.« Ich holte tief Luft. »Wie bewertest du das, Al?« »Überhaupt nicht«, sagte er fast wütend. »Es ergibt absolut keinen Sinn, daß ein Fremder in das Haus einbricht und nach Latexhandschuhen sucht, bevor er tötet. Das Rätsel muß ich erst einmal bestehen lassen. Aber was hältst du von meiner Theorie von Gillsworths Ermordung?« »Ist plausibel. Nur eine einzige Sache haut nicht hin.« »Und das wäre?« »Du hast eine glaubhafte Schilderung dessen geliefert, wie es geschah, aber du hast kein Wort über das Warum gesagt.« »Warum?« wiederholte er angewidert. »Warum läuft ein Huhn 211
über die Straße?« »Aus dem gleichen Grund, aus dem ein Feuerwehrmann rote Unterhosen trägt. Laß uns endlich gehen, Al. Eine blutige Badewanne ist nicht das passende Dessert nach einem Heringsfrühstück.« Aber er sagte, er wolle noch bleiben, und murmelte etwas von zusätzlichen Messungen. Ich glaubte das nicht. Al ist trotz seiner praktischen Veranlagung so etwas wie ein Romantiker. Ich vermutete, daß er eine Weile durch das unheilvolle Haus spazieren wollte, um über die beiden blutigen Morde nachzudenken, die in diesen Wänden stattgefunden hatten, nach Geistern zu lauschen und vielleicht auf den Grund der scheinbar sinnlosen Morde zu kommen. Ich wollte nur hinaus, unter den blauen Himmel, in den heißen Sonnenschein, und unvergiftete Luft atmen. Das Böse hat einen ganz eigenen Geruch, der nicht nur Übelkeit erregt, sondern auch Angst macht. Ich fuhr direkt zum Pelican Club. Es war ein bißchen früh für meine Verabredung mit Connie Garcia, aber da ich den Morgen damit verbracht hatte, eine Leiche darzustellen, hatte ich dringend eine Blutübertragung nötig. Ich war sicher, daß ein eisgekühlter Daiquiri wieder Röte auf meine Wangen bringen würde. Die Meute der Hungrigen hatte sich noch nicht zum Mittagessen versammelt, doch Simon Pettibone stand hinter der Bar bereit und las, seine Brille auf der Nase, die Zeitung. Er legte den Finanzteil gerade so lange beiseite, um mir meinen Drink zu mixen. Dann wandte er sich wieder seinen Börsenkursen zu, und ich saugte mein Plasma und genoß das ruhige, kühle, düstere Ambiente meines Lieblingswasserlochs. Ein paar Mitglieder spazierten herein, aber es war ein prächtiger Samstagnachmittag, und die meisten Pelikane saßen an ihren Pools oder waren am Ozean, auf Golfplätzen oder beim Tennis. Connie tauchte ein paar Minuten nach zwölf auf. Sie trug einen Denimoverall über einem ausgebleichten T-Shirt. Ihr langes schwar212
zes Haar wurde von einem gelben Band zusammengehalten, und ihre bloßen Füße steckten in ledernen Schnürsandalen. Sie sah aus wie eine Sechzehnjährige, und ich sagte ihr, sie müsse möglicherweise ihren Personalausweis vorzeigen, um einen Drink zu bekommen. Wir begaben uns in das leere Restaurant, und eine gähnende Priscilla führte uns zu unserem Lieblingsecktisch. Connie bestellte einen weißen Cin, und ich nahm noch einen Daiquiri. »Tut mir leid wegen heute abend, Archy«, sagte sie, »aber es gab absolut keine Möglichkeit, Lola und Max abzuweisen. Sie gehören zur Familie.« »Kein Problem. Wenn sie weg sind, werden wir die verlorene Zeit nachholen.« Sie griff über den Tisch und nahm meine Hand. »Versprochen?« »Ich schwöre es.« Pris brachte unsere Drinks und rasselte die Spezialitäten des Tages herunter. Connie und ich optierten übereinstimmend für gemischten Meeresfrüchtesalat mit einer Scheibe Knoblauchtoast. »Ich habe Neuigkeiten für dich«, meinte Connie, nachdem wir bestellt hatten, »und was ich zu sagen habe, wird dir nicht gefallen.« »Bist du schwanger?« »Nein, aber ich hätte gern Kinder. Du nicht?« »Geht nicht. Ich bin männlichen Geschlechts.« »Du weißt, was ich meine«, sagte sie lachend. »Jedenfalls, die schlechte Nachricht ist die: Das Medium hat mich abgelehnt.« »Was!?« Sie nickte. »Ich bekam einen Brief von Hertha Gloriana, einen sehr kühlen Brief. Sie schrieb, ihr sei ganz klar, daß die Person, die ich beschrieben hätte, offensichtlich nicht existiere. Deshalb könne sie kein psychisches Profil erstellen. Den Scheck schickte sie mir zurück. Sie schrieb mir auch, daß ich es nicht wieder versuchen solle, 213
es sei denn, ich wäre ehrlich. Archy, woher wußte sie, daß mein Brief ein Schwindel war? Darin stand nichts, was sie darauf hätte bringen können.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, woher sie das wußte. Aber noch erstaunlicher ist, daß sie dir das Geld zurückgeschickt hat. Wenn die Glorianas eine krumme Tour durchzögen, wie ich dachte, hätte Hertha dir ein fiktives Profil zusammengebastelt und deinen Scheck eingelöst.« »Vielleicht ist sie tatsächlich eine Hellseherin und wußte sofort, daß mein Brief nur ein Trick war.« »Vielleicht.« Unser Essen wurde serviert, und wir sprachen über andere Dinge, während wir unseren Salat genossen und uns eine halbe Flasche Chablis teilten. Connie erzählte mir in allen Einzelheiten von ihren Sorgen und Nöten bei der Planung von Lady Horowitzens Feier zum vierten Juli, aber ich hörte kaum zu. Ich mußte fortwährend an Herthas Reaktion auf den falschen Brief denken. Woher wußte sie das? Connie wollte kein Dessert – sie müsse wieder zu ihrem Logierbesuch zurück. Ich sagte ihr, ich würde noch eine Weile im Club bleiben und sie am Sonntag anrufen. Ich begleitete sie zu ihrem kleinen Subaru hinaus. »Danke fürs Essen, Archy«, sagte sie, »und es tut mir leid, daß ich dich mit der schlechten Nachricht von diesem Brief deprimiert habe.« »Du hast mich nicht deprimiert.« »Aber natürlich. Seit ich dir das erzählt habe, hast du kaum ein Wort gesagt, und wenn Archy McNally nicht plaudert, ist er deprimiert.« »Ich glaube, ich bin eher verwirrt. Connie, du hast nicht zufällig den Brief dabei?« »Doch«, sagte sie und griff in die Gesäßtasche ihres Overalls. 214
»Ich bin froh, daß du mich daran erinnert hast. Ich dachte mir, daß du ihn vielleicht für deine Akten brauchst. Vergiß nicht, mich morgen anzurufen, Süßer.« Sie reichte mir einen gefalteten Umschlag, küßte mich auf die Wange und sprang in ihren Wagen. Ich winkte ihr nach, während sie losfuhr. Dann entfaltete ich den Umschlag, nahm den Brief heraus und las ihn im hellen Sonnenlicht. Er war kühl formuliert und enthielt genau das, was Connie mir bereits erzählt hatte. Er barg keine Überraschungen. Was mich aber schockierte, war, daß er einen gleichmäßigen rechten Rand hatte und ganz offensichtlich auf derselben Speicherschreibmaschine geschrieben worden war wie die Briefe an Lydia Gillsworth und die Erpresserschreiben in Sachen Peaches. Ich kehrte in den Pelican Club zurück und rief von dem Münzfernsprecher hinter der Bar aus im Polizeipräsidium an. In seinem Büro erreichte ich Al nicht, und man weigerte sich, mir zu sagen, wo er zu erreichen sei. Einer Eingebung folgend rief ich daraufhin im Haus von Gillsworth an und hatte Erfolg. »Sergeant Rogoff«, sagte er. »McNally. Du bist noch immer da? Was treibst du denn dort, zum Teufel?« »Ich lese Gedichte.« »Von Gillsworth? Ein schrecklicher Dreck, was?« »Oh, ich weiß nicht. Erotisches Zeug.« »Welches seiner Bücher liest du denn?« »Ich lese kein Buch. Ich führe mir gerade unveröffentlichte Gedichte zu Gemüte, die ich in einer verschlossenen Schublade seines Schreibtisches fand. Ich hab' das Schloß geknackt. War ein Kinderspiel. Darin lag ein Stapel fertiger Gedichte. Sie sind alle datiert und scheinen in den letzten sechs Monaten geschrieben worden zu sein. Und ich sage dir, das ist ganz heißer Stoff.« Ich war völlig platt. »Das kapiere ich überhaupt nicht. Ich habe in ein paar seiner veröffentlichten Dinger geschaut, und glaub mir, 215
sie sind intellektuelles Geschwafel.« »Also das Zeug, das ich gelesen habe, ist wirklich scharf. Vielleicht hat er sich entschieden, seinen Stil zu ändern.« »Vielleicht. Darüber können wir später reden. Im Augenblick habe ich aber weit Wichtigeres für dich.« Ich erzählte ihm, wie die Glorianas psychische Profile per Post verkauften, wie ich zu beweisen versucht hatte, daß das ein Schwindel sei, indem ich Consuela Garcia einen fingierten Brief einer nicht existierenden Frau hatte schicken lassen, und wie Hertha das unechte Schreiben abgewiesen hatte. Und schließlich, daß ihr Ablehnungsschreiben im Format identisch mit den Briefen an Lydia Gillsworth und Willigan war. »Das reicht«, sagte Al entschlossen. »Ich werde den Rekruten zu dem Büro der Glorianas schicken, damit er feststellen kann, daß sie eine Smith-Corona-Speicherschreibmaschine besitzen. Und statt einem verdeckten Ermittler werde ich ein Paar, Mann und Frau, in diesem Motel einquartieren und Haus vier rund um die Uhr beobachten lassen. Und wenn man mir das Personal stellt, lasse ich die Wohnung der Glorianas überwachen.« »Das müßte genügen. Al, Frank Gloriana trägt eine Waffe. Lydia Gillsworth hat mir das erzählt.« »Danke für den Tip. Sag mir, Archy, woher wußte deiner Meinung nach das Medium, daß der Brief, den du ihr geschickt hast, gefälscht war?« »Ich weiß es nicht.« Ich ging an die Bar zurück, um meine Essensrechnung zu unterschreiben. »Mr. Pettibone«, fragte ich, »glauben Sie an Geister?« Er starrte mich einen Augenblick durch seine eckigen Brillengläser an. »Ja, Mr. McNally«, sagte er schließlich. »Daran glaube ich wirklich. Ich glaube, daß manche Verstorbene als Geister zurückkehren und fähig sind, mit den Lebenden zu kommunizieren.« Ich hatte ihn immer für den realistischsten Menschen gehalten, 216
den es überhaupt gibt. Deshalb war es umso verwirrender, daß er die Existenz körperloser Wesen akzeptierte. »Haben Sie je mit dem Geist einer verblichenen Person gesprochen?« fragte ich ihn. »Das habe ich in der Tat, Mr. McNally«, meinte er bereitwillig. »Wie Sie wissen, bin ich Investor an der Aktienbörse. Bei mehreren Gelegenheiten ist mir der Geist von Mr. Bernard Baruch erschienen, dem erfolgreichen Finanzier. Wir treffen uns auf einer Parkbank, und er rät mir, welche Papiere ich kaufen und welche ich verkaufen soll.« »Und befolgen Sie den Rat des Geistes?« »Häufig.« »Gewinnen Sie, oder verlieren Sie?« »Ich mache immer Profit.« »Danke für die Information, Mr. Pettibone«, sagte ich ernst und gab ihm ein stattliches Trinkgeld. Ich fuhr heim, parkte den Miata in der Garage und betrat das Haus durch die Küche. Ursi und Jamie Olson bereiteten gemeinsam ein Rippenstück vom Lamm vor, das es an diesem Abend zu essen geben sollte. Sie blickten auf, als ich hereinkam. »Ursi«, sagte ich ohne Vorrede, »glaubst du an Geister?« »Das tue ich, Mr. Archy«, erwiderte sie sofort. »Ich spreche häufig mit meiner verstorbenen Mutter. Sie ist sehr glücklich.« Ich wandte mich an Jamie. »Und wie steht's mit dir?« fragte ich. »Glaubst du an Geister?« »An einige.« An diesem Abend stellte ich während der Cocktailstunde meiner Mutter dieselbe Frage. »Aber ja doch«, sagte sie leichthin. »Ich selbst habe sie zwar noch nie gesehen, aber Menschen, deren Meinung ich schätze, haben mir erzählt, daß Geister existieren. Mercedes Blairs Mann starb im letzten Jahr, und sie sagt, daß ihr Haus seitdem von seinem Geist aufgesucht wird. Sie weiß das, weil die Toilettenbrille immer hochge217
klappt ist. Egal, wie oft sie sie zuklappt, jedes Mal, wenn sie wiederkommt, ist sie hochgeklappt. Sie sagt, es muß der Geist ihres toten Mannes sein.« Ich schaute meinen Vater an. Seine buschigen Augenbrauen wackelten wild. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß er versuchte, seine Heiterkeit zu unterdrücken. Doch als er sprach, war seine Stimme sanft und gemessen. »Mutter«, sagte er, »ich würde die Aussage von Mrs. Blair nicht als positiven Beweis für die Existenz körperloser Geister bewerten. Es ist ähnlich, als würde man sagen: ›Ich habe gestern nacht einen Geist gesehen. Er lief die Gasse hinunter und sprang über einen Zaun. Und wenn du mir nicht glaubst, bitte, der Zaun ist dort.‹« Ich fragte: »Dann glaubst du also nicht, daß die Geister der Verstorbenen auf die Erde zurückkommen und mit den Lebenden kommunizieren?« Er antwortete bedächtig: »Ich denke, wenn Leute berichten, sie hätten einen Geist gesehen oder mit einem Geist gesprochen, daß sie ganz ernsthaft glauben, die Wahrheit zu sagen. Aber ich nehme an, daß das, was sie berichten, ein Traum oder eine Phantasie ist und daß der Geist, den sie angeblich sehen, eine Erinnerung, eine sehr intensive Erinnerung an einen geliebten Menschen ist.« »Was aber, wenn der Geist, den sie gesehen zu haben behaupten, eine historische Persönlichkeit ist, jemand, den sie unmöglich gekannt haben können?« »Dann erzählen sie Unfug«, erwiderte mein Vater. »Absoluten Unfug.« Ich zog mich nach dem Abendessen in meine Höhle zurück, um Einträge in mein Tagebuch zu machen und um die verwirrenden Eindrücke des Tages zu überdenken. Ich halte mich für einen ziemlich hellen Burschen. Jetzt aber war ich mit einem Rätsel konfrontiert, das mich verwirrte. Woher wußte Hertha Gloriana, daß Connies Brief ein Betrug war? Und wie konn218
te das Medium mit der Stimme von Lydia Gillsworth »Caprice!« schreien und so eine Spur geben, die auch Al beeindruckt hatte? Es war möglich, daß Hertha eine echte psychische Gabe besaß. Doch wenn man die Existenz eines so speziellen Talentes zugab, dann mußte man auch zugeben, daß es Geister und die Kommunikation mit Toten gab. An diesem Nachmittag hatte ich entdeckt, daß mehrere absolut normale Bürger an Geister und andere Manifestationen des Übernatürlichen glaubten. Hatten sie vielleicht recht, und mein Vater lag mit seinem Unglauben falsch?
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ie für die meisten Menschen ist auch für mich der Montag der erste Tag der Woche. Tatsächlich ist er natürlich der zweite, aber üblicherweise wird der Sonntag ja als Tag der Ruhe angesehen, als ein Ferientag, als ein Urlaub von vierundzwanzig Stunden, der dem Gottesdienst gewidmet ist, einem ausgiebigen Mittagsmahl und einfach dem Herumhängen und dem Wiederaufladen der Batterien. Doch wie sich herausstellte, sollte dieser spezielle Sonntag völlig anders verlaufen. Er vertiefte meine Verwirrung und verstärkte meinen Verdacht, daß die Ereignisse sich so schnell entwickelten, daß ein Mithalten nicht möglich war. Es begann damit, daß ich verschlief, und als ich nach unten kam, stellte ich fest, daß meine Eltern bereits zur Kirche aufgebrochen waren. (Die Olsons waren zu ihrer Kirche aufgebrochen.) So berei219
tete ich mir also meine Morgenmahlzeit selber und ließ ein gebuttertes englisches Muffin auf den Boden fallen, mit der Butterseite nach unten. Zudem stieß ich eine volle Tasse Kaffee um. Das Telefon klingelte, als ich den verschütteten Kaffee aufwischte, und ich wollte nicht abnehmen, weil ich sicher war, daß es verhängnisvolle Nachrichten sein würden. Doch nach dem sechsten Läuten hob ich ab. »McNally.« »Archy?« fragte Meg Trumble. »Guten Morgen.« »Guten Morgen, Meg. Welch angenehme Überraschung.« »Was machst du?« »Wenn du's genau wissen willst, ich wische gerade verschütteten Kaffee auf.« Sie lachte. »Archy, Hertha Gloriana ist bei mir, und sie möchte gern mit dir sprechen.« »Sicher. Gib sie mir.« »Nein, nein. Nicht am Telefon. Kannst du zu mir kommen?« »Jetzt?« »Bitte. Wir haben eben etwas Gymnastik gemacht und wollten dann an den Strand. Könntest du schnell kommen, Archy? Es ist wichtig.« »In Ordnung. In einer halben Stunde.« Der Tag entwickelte sich reichlich verworren, und während ich nach Riviera Beach fuhr, wollte ich mir nicht einmal vorstellen, was vor mir lag. Ich fand ein einem frühen Sonntagnachmittag angemessenes Bild vor. Die beiden Frauen trugen Gymnastikkostüme aus hautengem leuchtenden Spandex, Meg einen silbernen Overall und Hertha einen purpurnen Turnanzug und dazu eine pinkfarbene Rennradfahrerhose. Offensichtlich hatten sie ihr Training beendet, da sie schweißnaß glänzten und noch gelinde keuchten. Sie nippten an Gläsern, die mit orangefarbenem Saft gefüllt waren. »Karottensaft, Archy?« fragte Meg. 220
Ich kämpfte mutig meinen Brechreiz nieder. »Nein, danke«, erwiderte ich. »Ein kaltes Bier?« »Ja.« Hertha klopfte auf das Couchkissen neben sich, und ich setzte mich darauf. Meg brachte mir eine geöffnete Dose, die ich dankbar nahm. »Hertha«, sagte sie gebieterisch, »erzähle es ihm.« Das Medium wandte sich mir zu. In diesem Augenblick wirkte Hertha ungewöhnlich attraktiv. Ihre helle Haut war durch das Training gerötet, und in ihren Augen war etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es war mehr als Zufriedenheit, dachte ich. Es war Triumph. »Es geht um Peaches«, begann sie. »Ich hatte eine weitere Vision. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen erzählte, daß ich sie in einem kahlen Raum gesehen hätte? Sie befindet sich in einem kleinen Haus, ähnlich wie ein Bungalow. Ich glaube, es könnte ein altmodisches Motel sein.« Ich nahm einen Schluck von meinem Bier. »Das ist interessant. Haben Sie gesehen, wo sich dieses Motel befindet?« »Ich bin sicher, daß es im Gebiet von West Palm Beach liegt.« »Erzähl ihm, was du noch gesehen hast«, befahl Meg. Hertha zögerte eine Sekunde. »Vielleicht sollte ich das nicht enthüllen«, meinte sie dann, »aber Sie haben mich um meine Hilfe gebeten. Ich hoffe, Sie werden es vertraulich behandeln.« »Natürlich.« »Ich habe meinen Mann in dem Raum mit der Katze gesehen.« Die beiden Frauen schauten mich erwartungsvoll an. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß sie mich zu manipulieren versuchten. Es gab keine andere Möglichkeit, als mitzuspielen. Ich bin ganz gut, wenn's darum geht, den Simpel zu machen. »Das ist ja ein Ding«, erwiderte ich. »Was, um Himmels willen, 221
tut er denn Ihrer Meinung nach da?« »Ich weiß es nicht.« Sie schaute mich mit großen Augen an. »Vermuten Sie, daß er etwas mit dem Katznapping zu tun hat?« »Warum fragen Sie ihn nicht?« schlug ich vor. »Ich will ganz aufrichtig zu Ihnen sein, Archy«, begann sie. Meine Antennen erstarrten. Wenn Leute so etwas zu mir sagen, ist es höchste Zeit, daß ich meine Gesäßtasche zuknöpfe, um sicher zu sein, daß niemand an meine Brieftasche herankommt. »Frank hat ein schreckliches Temperament«, fuhr sie fort. »Ich habe Angst davor, ihn zu erzürnen. Er kann sehr gewalttätig werden.« »Dieses Scheusal prügelt sie«, warf Meg zornig ein. »Ja«, sagte Hertha. »Er hat mich gelegentlich schon geschlagen.« Ich war versucht anzudeuten, daß sie, wenn sie wirklich eine Seherin war, die Schläge doch jedes Mal rechtzeitig genug vorhersehen und sich ducken konnte. Derartiges sagte ich natürlich nicht, sondern: »Wie furchtbar!« »Sie sehen also, daß ich Frank nicht danach fragen kann«, meinte Hertha bekümmert. »Aber ich hoffe, es hilft Ihnen vielleicht, die Katze zu retten.« »Ich bin sicher, daß es helfen wird«, bemerkte ich. »Und danke für Ihren Hinweis.« Ich trank mein Bier aus und sagte den Damen Lebewohl. Sie schauten mich beide nachdenklich an, als ich die Wohnung verließ. Ich fuhr langsam heim und dachte über das nach, was mir soeben erzählt worden war. Es war offensichtlich, daß die beiden Frauen ihre Aufzeichnungen verglichen hatten und Hertha jetzt wußte, daß der ursprüngliche Grund, den ich ihr angegeben hatte, warum ich Peaches finden wollte, falsch war. Sie wußte, daß die Katze gestohlen worden und ich damit beauftragt war, sie wiederzubeschaffen. Nicht ganz so offensichtlich war, woher sie wußte, daß das ver222
mißte Katzenvieh gegenwärtig in einem Motelbungalow eingekerkert war. Entweder sprach sie die Wahrheit und hatte die Katze und Frank in Trance gesehen, oder sie hatte zu Hause eine Unterhaltung mitgehört, durch die sie vom Aufenthaltsort der Katze und von Franks Schuld erfahren hatte. Dann aber wurde mir klar, daß es unwichtig war, woher sie es wußte. Entscheidend war, daß sie beabsichtigte, ihren Mann zu belasten. Die Geschichte der körperlichen Mißhandlung, die sie durch seine Hände erlitten hatte, mochte wahr sein oder auch nicht, jedenfalls hatte Hertha ein tieferes Motiv dafür, daß sie wollte, daß ihr Mann erwischt und vielleicht eine nennenswerte Zeit in den Bau gesteckt wurde. Ich dachte noch immer über dieses Motiv nach, als ich zu Hause anlangte. Ich sah den Lexus in der Garage und wußte, daß meine Eltern aus der Kirche zurückgekommen waren. Als ich ins Haus trat, stand mein Vater in der offenen Tür seines Arbeitszimmers. »Bist du mit einer Frau namens Mrs. Irma Gloriana bekannt?« wollte er wissen. Es war fast ein Vorwurf. »Ja, das bin ich«, erwiderte ich. Er winkte mir, ließ mich in sein Arbeitszimmer eintreten und schloß die Tür. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bedeutete mir, mich auf einen Sessel zu setzen. »Ich denke, es ist besser, du erzählst mir von ihr.« »Es ist eine lange Geschichte, Vater.« »Das Essen wird frühestens in einer Stunde serviert«, meinte er trocken. Gewöhnlich fragt mein Vater nicht nach Einzelheiten meiner diskreten Ermittlungen. Ich glaube, er vermutet, daß ich moralische Kurven schneide und er besser nichts davon weiß. Erfolgreiche Ergebnisse sind alles, was ihn interessiert. Da er über Irma Gloriana informiert sein wollte, erzählte ich ihm von ihr, aber auch von ihrem Ehemann Otto, dem Sohn Frank und der Schwiegertochter 223
Hertha. Ich erstattete auch Bericht über die Seance, der ich beigewohnt hatte, und erzählte, wie es mir gelungen war, Peaches in Haus vier des Motels aufzuspüren. Ich schloß mit einem kurzen Bericht über meine jüngste Zusammenkunft mit Hertha Gloriana und Meg Trumble. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich fertig war, erhob er sich und ging langsam zu dem Beistelltischchen, wo er bedächtig eine seiner Pfeifen mit Silberbeschlag stopfte. Ich wertete das als Erlaubnis, mir eine English Oval anzünden zu dürfen. Er nahm wieder auf seinem Drehsessel Platz und hielt seine gestopfte Pfeife einen Augenblick, bevor er sie entzündete. »Ich schließe daraus, daß du und Sergeant Rogoff die Glorianas eines kriminellen Verhaltens für schuldig haltet«, verkündete er. »Ich kann nicht für den Sergeant sprechen«, erwiderte ich, »aber ich bin überzeugt davon, daß Frank Gloriana mit Laverne Willigan gemeinsame Sache gemacht hat, um die Katze zu stehlen und für sie ein Lösegeld zu erpressen. Ich glaube auch, daß Otto Gloriana, wahrscheinlich Irma und möglicherweise Frank in die Ermordung von Lydia und Roderick Gillsworth verwickelt sind. Aber ich habe keine Ahnung, was ihr Motiv sein könnte.« Er blies eine Rauchwolke an die Decke. »Vielleicht werden wir das morgen erfahren«, bemerkte er. Ich war erstaunt. »Morgen, Vater?« Er nickte. »Kurz nach der Rückkehr von der Kirche habe ich einen Anruf von Mrs. Irma Gloriana erhalten. Eine sehr energische Frau.« »Ja, das ist sie.« »Sie wünscht, mich morgen zu sehen. Sie sagte, es sei eine wichtige Angelegenheit, die Roderick Gillsworth betreffe. Ich hielt es für das Beste, mir anzuhören, was sie zu sagen hat. Wir treffen uns um zehn Uhr in meinem Büro. Ich möchte, daß du dabei bist, Archy.« »Ich freue mich darauf. Darf ich Sergeant Rogoff von der Zu224
sammenkunft erzählen?« Er überdachte diese Bitte lange. Ich hatte gelernt, geduldig zu warten, da ich wußte, daß sein Grübeln irgendwann einmal enden und er zu einer Entscheidung kommen würde. »Ja«, sagte er schließlich, »du kannst es dem Sergeant erzählen. Und sofern es die Umstände erlauben, wird er auch über die Ergebnisse der Zusammenkunft informiert werden. Möglicherweise hilft ihm das bei seinen Ermittlungen. Du sagtest, diese Frau war früher einmal die Madame eines Bordells?« »Ja. Das ist jedenfalls die Auskunft der Polizei von Atlanta.« »Eine vulgäre Frau?« »Nein, das würde ich nicht sagen – obwohl Rogoff vielleicht nicht einer Meinung mit mir ist. Wie du sagtest, ist sie eine energische Frau. Sie ist sehr selbstsicher und ausgesprochen willensstark. Ich betrachte sie als geschäftsführenden Chef der Gloriana-Familie.« Ich zögerte eine Sekunde. »Da ist noch etwas. Sie strahlt eine gewisse Sinnlichkeit aus. Ich glaube, sie ist sich dessen bewußt und benutzt das. Ich schätze, daß sie fast sechzig ist, doch das hat ihre sexuelle Anziehungskraft sicherlich nicht gemindert.« Eine der buschigen Augenbrauen meines Vaters hob sich langsam. Doch er sagte nur: »Interessant.« Dann jedoch, als ich mich zum Gehen erhob, fügte er hinzu: »Für gewöhnlich erachte ich deine Beurteilung von Menschen als sehr scharfsinnig, Archy.« Ein Lob! Wie erfreulich! An diesem Abend rief ich Al an, berichtete ihm von meinem Treffen mit Hertha Gloriana und informierte ihn über die Zusammenkunft meines Vaters mit Irma Gloriana am Montagmorgen. »O Junge«, sagte Al, »ich habe das Gefühl, die Dame wird eine Bombe platzen lassen. Halte mich auf dem Laufenden über das, was geschieht, Archy.« »Hast du deine Spione in dem Motel untergebracht?« »Ja, in Haus fünf, direkt neben Ottos Herberge. Sie haben bereits 225
über Funk Bericht erstattet. Bisher hatte er zwei Besucher. Ich habe sie als Frank und Irma identifiziert. Ruf mich morgen sofort nach dem Treffen bei deinem Vater an.« »Augenblick noch«, rief ich. »Diese erotischen Gedichte, die Gillsworth geschrieben hat – hat er darin irgendwelche Namen genannt?« »Keinen, den du kennst.« »Sag schon, Al, welche Namen hat er genannt?« »Nur einen. Astarte. Ich habe mich schlau gemacht. Göttin der Fruchtbarkeit und der körperlichen Liebe.« »Ich kenne sie gut«, sagte ich. »Sie wohnt in Miami Beach.« Darauf legte er auf. Doch dieser ärgerliche Tag war noch nicht zu Ende. Noch an diesem Abend – ich war in meinem Sanktum und führte mein Tagebuch – rief Laverne Willigan an. »Wieder ein Erpresserbrief, Archy«, sagte sie. »Er ist heute abend unter der Eingangstür durchgeschoben worden.« »Würden Sie ihn mir bitte vorlesen?« Das tat sie. Mit dem Brief wurde Harry Willigan aufgefordert, sich fünfzigtausend Dollar in Fünfzig-Dollar-Noten, unmarkiert und ohne fortlaufende Seriennummer, zu besorgen. Dann hätten er oder sein Stellvertreter das Geld einem Boten auszuliefern. Er werde am Montag um Mitternacht auf dem Parkplatz eines Tag und Nacht geöffneten Supermarktes am Federal Highway warten. Nach meiner Einschätzung war die angegebene Adresse etwa eine Meile von dem Motel entfernt. Nach der Übergabe des Lösegeldes werde der Bote verschwinden, Willigan oder sein Stellvertreter hätten aber auf dem Parkplatz zu bleiben. Sobald die fünfzigtausend Dollar gezählt und die Scheine untersucht und für bedenkenlos befunden worden seien, werde Peaches gesund und munter zurückgegeben werden. Laverne fuhr fort: »In dem Brief steht auch, daß Harry seinen Liebling lebend nicht wiedersehen wird, falls der Bote die Anwesen226
heit von Polizei feststellt oder vermutet.« »Mir gefällt die Abfolge nicht«, erwiderte ich. »Was, wenn die Fünfzigtausend dem Boten übergeben werden, er verschwindet und nicht mit Peaches zurückkommt? Ich finde, die verlangen von Harry, daß er ein sehr großes Risiko eingeht.« »Eine andere Wahl hat er aber doch nicht«, sagte Laverne. »Ich habe Harry in Chicago angerufen und ihm gesagt, was in dem Brief steht. Er hat wie ein Wahnsinniger geflucht, aber schließlich gesagt, daß er darauf eingeht. Er wird morgen früh seine Bank in Palm Beach anrufen und Anweisung geben, das Geld bereitzustellen. Die Bank wird mich anrufen, wenn es abgeholt werden kann. Dann werde ich Sie anrufen. Harry möchte, daß Sie das Geld übergeben und Peaches zurückbringen. Werden Sie das tun, Archy?« »Natürlich. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem es mir nicht gelungen ist, die Katznapper aufzuspüren. Geben Sie mir Bescheid, wenn die Bank das Geld bereithält. Ich hole es dann dort ab. Und morgen werde ich irgendwann bei Ihnen vorbeikommen und den Brief abholen. Falls Sie aus dem Haus gehen, hinterlegen Sie ihn bitte bei Leon.« »Danke, Archy. Ich bin sicher, alles wird gut ausgehen.« »Das glaube ich auch. Kommt Harry am Dienstag zurück?« »Ja. Frühmorgens. Bis dahin sollten Sie Peaches haben.« Nachdem sie aufgelegt hatte, rief ich Al an, um ihn über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Aber ich konnte ihn nicht erreichen und fand schließlich, daß er auch bis morgen warten könne. Dann würden wir einen Plan aushecken, um die Schurken zu vernichten. Der Montag drohte ein ziemlich teuflischer Tag zu werden. Ich hoffte nur, auch noch den Dienstag zu erleben.
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A
m Montagmorgen erwachte ich mit dem schrecklichen Gefühl, etwas vergessen zu haben, was ich hätte tun sollen. Ich kam auf meine Unterlassungssünde, während ich mir das Kinn schabte. Ich hatte vergessen, Connie Garcia am Sonntag wie versprochen anzurufen. Und nicht zum ersten Mal überlegte ich, warum ich diese liebe Frau mit so gedankenloser Vernachlässigung behandelte. Ich war rechtzeitig aufgestanden, um mit meinen Eltern im Eßzimmer frühstücken zu können. Während ich einen beachtlichen Stoß Buchweizenpfannkuchen verringerte, informierte ich den Herrn des Hauses über Laverne Willigans Anruf vom vorhergehenden Abend. Er blickte vom ›Wall Street Journal‹ auf und sah mich an. »Du hast wirklich die Absicht, das Geld den Katznappern persönlich auszuhändigen, Archy?« »Ja. Ich erwarte, daß Sergeant Rogoff einen Plan für eine Falle entwickeln wird.« Er nickte. »Wenn du die fünfzigtausend Dollar auf der Bank erhältst«, riet er mir, »zähle sie, bevor du eine Quittung unterschreibst.« Ich seufzte. »Ja, Vater.« Manchmal behandelt er mich, als sei ich ein Trottel. Bevor ich zur Hazienda der Willigans aufbrach, rief ich Al in seinem Büro an. Er war in überraschend munterer Stimmung. »Weshalb bist du so ausgelassen?« fragte ich ihn. »Es fügt sich alles zusammen, Junge. Ich werde dich später aufklären. Was liegt an?« Ich wiederholte, was mir Laverne Willigan über den Brief der 228
Katznapper erzählt hatte, und informierte Al darüber, wie das Lösegeld gezahlt werden sollte. »Das gefällt mir nicht«, meinte er. »Das Risiko, dabei aufs Kreuz gelegt zu werden, ist zu groß.« »Das habe ich Laverne auch gesagt, aber sie erklärte, Harry habe keine andere Wahl und sei bereit, die fünfzig Riesen auszuspucken.« »Was sie und ihren Freund natürlich glücklich macht, richtig? Okay, Archy, ich werde mir für heute nacht etwas einfallen lassen.« »Willst du die Scheine markieren, wenn ich das Geld von der Bank abgeholt habe?« »Die Zeit haben wir nicht. Und es ist zu gefährlich, falls sie eine Lampe haben, mit der sie die Markierungen erkennen können. Wir werden eine Liste der Seriennummern anfertigen. Das wird vor Gericht reichen. Halte Kontakt. Es wird ein aufregender Tag werden.« »Brauchst du mir nicht erst zu sagen. Al, meinst du, daß du Laverne Willigan aus der Sache heraushalten kannst?« »Es kommt darauf an.« Dann brauste ich zu den Willigans. Leon sagte mir, die Dame des Hauses sei mit ihrer Fußkosmetikerin beschäftigt. Er überreichte mir den letzten Erpresserbrief in einem weißen Umschlag. »Ich vermute, Peaches wird nach Hause kommen.« »Sieht so aus«, stimmte ich zu. »Und ich fange wieder an zu niesen. Aus ist es mit mir, seit ich hierher gekommen bin«, klagte er. Dann düste ich zum McNally-Gebäude, wobei ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit nur unwesentlich überschritt. Ich traf noch so rechtzeitig ein, daß ich in meinem Arbeitskäfig eine Zigarette rauchen konnte, bevor ich mich zu meinem Vater gesellte. Meine Hände zitterten zwar nicht, aber es war erstaunlich, wie sehr die Aussicht auf eine Begegnung mit Irma Gloriana an meinen Nerven zerrte. 229
Ein paar Minuten vor zehn ging ich zum Büro meines Vaters. »Ich halte es für das Beste, Archy«, sagte er, »wenn du einfach nur als Zeuge dienst, als stummer Zeuge. Bitte, laß mich die Fragen stellen. Natürlich kannst du antworten, wenn du angesprochen wirst. Aber ich hätte es lieber, wenn die Konversation auf Mrs. Gloriana und mich beschränkt bliebe.« »Ich werde eine Fliege an der Wand sein«, versicherte ich ihm. Sein Telefon läutete, und er schaute auf die antike Bahnhofsuhr an der Wand über seinem Rollschreibtisch. »Die Dame ist pünktlich.« Er griff zum Hörer. »Ja, führen Sie sie bitte herein.« Mrs. Trelawney öffnete die Tür und trat beiseite, um Irma Gloriana Einlaß zu gewähren. Diese machte zwei Schritte ins Büro, den Blick auf meinen Vater gerichtet. Dann bemerkte sie meine Anwesenheit, starrte mich einen oder zwei Herzschläge lang an und wandte sich wieder an meinen Vater. »Was macht er hier?« forschte sie. »Ich bin Prescott McNally«, erwiderte mein Vater mit sonorer Stimme, »und ich nehme an, Sie sind Mrs. Irma Gloriana. Da Sie bereits die Bekanntschaft meines Sohnes gemacht haben, habe ich ihn gebeten, dieser Zusammenkunft als Zeuge und Berater beizuwohnen. Sie dürfen seiner Diskretion versichert sein.« Irma schüttelte ärgerlich den Kopf. »Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich brauche keinen Zeugen und Berater. Ich bestehe auf einem vertraulichen Gespräch zwischen Ihnen und mir.« »In diesem Fall«, erwiderte mein Vater, »schlage ich vor, daß wir diese Zusammenkunft unverzüglich beenden. Guten Tag.« Ich bewunderte seine Taktik ungemein. Er gewann damit nicht nur die Kontrolle über die Situation, sondern konnte auch feststellen, wie unsicher Irma war. Wenn sie ging, hatte sie das Gefühl, die besseren Karten zu haben. Wenn sie blieb, war ihre Rolle die einer Bittstellerin, der daran lag, ein Geschäft zu machen. Sie stand einen Augenblick stumm da, und mir fiel auf, daß ich sie das erste Mal unschlüssig sah. Sie trug ein maßgeschneidertes 230
Kostüm aus blaßrosa Leinen und dazu eine hochgeschlossene Bluse. Es verbarg nicht die sexuelle Ausstrahlung der Frau, und ich fragte mich, ob mein Vater sich dieser Ausstrahlung bewußt war. Wir warteten. »Also schön«, sagte Irma schließlich. »Wenn Sie es wünschen…« Vater deutete auf einen ledergepolsterten Armsessel. Er setzte sich in seinen Drehsessel und wandte das Gesicht seiner Besucherin zu. Ich blieb stehen. »Mr. McNally«, begann sie forsch, »wie ich höre, waren Sie der Anwalt des verstorbenen Roderick Gillsworth.« »Das ist richtig.« »Dann darf ich annehmen, daß Sie sein Vermögen verwalten?« Er neigte den Kopf, und sie wertete das als Zustimmung. Neben einer schwarzen Kalbslederhandtasche führte sie eine Konferenzmappe mit Reißverschluß mit sich. Mit einer schnellen Handbewegung zog sie sie auf und nahm zwei Blätter weißen Papiers heraus, die zusammengeheftet waren. »Ich habe hier«, begann sie, und ich staunte, wie fest ihre Stimme war, »die Fotokopie eines handgeschriebenen letzten Willens, den Roderick Gillsworth vor ungefähr einem Monat niedergeschrieben hat. Er ist ordnungsgemäß verfaßt, datiert und bezeugt worden. Beigefügt ist die Fotokopie einer eidesstattlichen Versicherung, vom Erblasser und beiden Zeugen in Anwesenheit eines Notars unterzeichnet. Ich glaube, daß diese eidesstattliche Versicherung ein ausreichender Beweis für die Echtheit von Mr. Gillsworths Testament ist.« Sie beugte sich vor, um die Dokumente zu überreichen. Mein Vater nahm die Blätter entgegen. Er sah Irma einen Augenblick ausdruckslos an. Dann begann er zu lesen. »Archy«, sagte er, als er fertig war, »dieses handschriftliche Testament, von Roderick Gillsworth unterzeichnet und von Irma und Frank Gloriana bezeugt, besagt, daß die Originalmanuskripte der Gedichte des Erblassers der Kongreßbibliothek übergeben werden 231
sollen. Alles andere, nämlich das gesamte Vermögen, das Roderick Gillsworth zum Zeitpunkt seines Todes besitzt, wird Irma Gloriana vermacht.« Al hatte recht gehabt. Die Bombe war geplatzt. Die Gelassenheit meines Vaters war wirklich sehenswert. Er ließ sich absolut nicht die Spur des inneren Aufruhrs anmerken, der in ihm toben mußte. Das Gesicht, das er nun Irma zuwandte, war ruhig, und als er sprach, waren seine Stimme und sein Verhalten die personifizierte Freundlichkeit. »Sie waren eine Freundin des verstorbenen Mr. Gillsworth?« erkundigte er sich. »Eine sehr enge Freundin«, erwiderte sie trotzig und hob das Kinn. »Besonders, nachdem seine liebe Frau hinübergegangen war. Ich glaube, ich und meine Familie haben ihm spirituellen Trost gespendet.« »Mein Sohn sagte mir, Ihre Schwiegertochter ist ein Medium.« »Das ist sie. Und sie ist sehr begabt, wie ich hinzufügen möchte.« »Hat Mr. Gillsworth die Seancen besucht, die, wie ich hörte, in Ihrem Hause veranstaltet wurden?« »Gelegentlich. Er wohnte ihnen mit seiner Frau bei.« Mein Vater nickte und schien sich zu entspannen. Er betrachtete die Papiere, die er in der Hand hielt, rollte sie zusammen und schlug damit leicht auf sein Knie. Er sagte nichts, und sein Schweigen beunruhigte Irma ganz offensichtlich. »Gibt es einen Grund, warum dieses Testament nicht sofort vollstreckt werden kann?« fragte sie. »Es ist absolut authentisch.« »Nun, das muß natürlich festgestellt werden«, erwiderte er aalglatt. »Die Unterschrift des Erblassers muß auf ihre Echtheit überprüft werden, ebenso wie die des Notars. Dann muß nach nächsten Angehörigen gesucht werden, falls solche existieren. Außerdem muß ich die Bestimmungen des Staates Florida hinsichtlich der Verfahrensweise bei fotokopierten Testamenten überprüfen.« Letzteres war natürlich absoluter Unsinn. Mein Vater kannte die 232
Gesetze Floridas ebenso gut oder besser als jeder andere Anwalt im Staat. Er hielt Irma einfach hin. »Wie lange werden Sie dazu brauchen?« fragte sie. »Ich weiß, daß es Monate dauert, bis das Testament gerichtlich bestätigt ist. Deshalb möchte ich, daß so bald wie möglich mit all dem begonnen wird.« »Das ist sehr verständlich. Ich werde versuchen, alles so sehr wie möglich zu beschleunigen. Wo befinden sich die Originale dieser Dokumente jetzt?« »In meinem Bankschließfach.« Er nickte. »Und haben Sie einen Beweis – persönliche Briefe von Mr. Gillsworth zum Beispiel –, der Ihre Freundschaft mit dem Erblasser bestätigen könnte?« »Wozu sollte das nötig sein?« fragte sie unwillig. »Sie haben mein Wort darauf. Wir waren enge Freunde.« »Oh, ich zweifle nicht an Ihrem Wort«, gab er zurück. »Doch zuweilen stellen Richter, die Testamente zu bestätigen haben, Nachforschungen an, um sich der Beziehung zwischen Erblasser und Erbe zu vergewissern.« »Nun ja, ich habe einige Briefe von Rod und ein paar unveröffentlichte Gedichte, die er mir geschickt hat, dazu signierte Exemplare von zweien seiner Bücher.« »Ausgezeichnet. Und wo befindet sich dieses Material derzeit?« »Ebenfalls in meinem Bankschließfach.« »Ich schlage Ihnen vor, Fotokopien von allem zu machen, was sich auf Ihre Freundschaft mit Mr. Gillsworth bezieht, und diese Kopien meinem Büro zukommen zu lassen.« »Muß ich das wirklich?« »Ich rate dringend dazu. Es ist meine Pflicht, alle Fragen, die der Vorsitzende Richter stellen könnte, vorauszusehen und darauf vorbereitet zu sein, daß ich sie beantworten kann. Haben Sie eine Vorstellung vom Umfang des Vermögens von Mr. Gillsworth?« 233
Letzteres wurde plötzlich mit scharfer Stimme gefragt, und ich konnte sehen, daß es sie kurz nervös machte. »Aber nein«, erwiderte sie, »nicht genau. Zu der Zeit, als Rod sein Testament machte, sagte er, er besitze nicht viel.« Das, muß ich zugeben, war die Wahrheit. »Hat er Ihnen einen Grund genannt, warum er ein handschriftliches Testament machte, statt zu mir, seinem ständigen Rechtsbeistand, zu kommen und sein letztes Testament in meiner Gegenwart zu ändern?« Auf diese Frage war sie offensichtlich vorbereitet. Ihre Antwort erfolgte sofort und aalglatt: »Er sagte, er wolle das Risiko nicht eingehen, daß Lydia erfahre, daß er sein Testament geändert habe, da Sie ja auch seine Frau vertreten haben.« Das setzte voraus, mein Vater könne eines Vertrauensbruchs schuldig werden; doch er erhob keinen Einspruch. Er stand auf und wartete, bis sie ihre Handtasche und die Mappe an sich genommen hatte. »Danke für Ihren Besuch, Mrs. Gloriana«, sagte er herzlich. »Wenn Sie mir die Kopien der Korrespondenz aus Ihrem Schließfach zukommen lassen, werde ich mit der Vorbereitung eines Antrags auf gerichtliche Testamentsbestätigung und mit den anderen Nachforschungen beginnen, die ich erwähnt habe. Sollten Sie weitere Fragen haben oder Auskunft darüber wünschen, wie der Stand der Dinge ist, seien Sie so frei und rufen Sie mich an.« Sie nickte kühl. Ich fragte mich, ob sie sich zum Abschied die Hände reichen würden. Sie taten es nicht. Er öffnete ihr die Bürotür, und sie schwebte erhobenen Hauptes hinaus. Er kehrte zu seinem Drehsessel zurück, und ich setzte mich auf die Couch. »Wie du sagtest, Archy«, bemerkte er mit einem schiefen Lächeln, »eine beunruhigende Frau.« »Ist in Florida ein handgeschriebenes Testament legal?« fragte ich. »O ja, wenn es so korrekt ist, wie es hier der Fall zu sein scheint. Außerdem dient die beigefügte eidesstattliche Versicherung als Be234
weis für die Echtheit des Testaments.« »Und darf ein Zeuge erben?« »Ja, der Zeuge eines letzten Willens kann nach dem Gesetz Floridas auch Erbe sein. Archy, ich glaube, die Dame und Gillsworth hatten bei der Niederschrift dieses Testaments und der beigefügten eidesstattlichen Versicherung einen Rechtsbeistand. Einige der Formulierungen, die sie benutzte, hat sie von einem Anwalt ausgeborgt, den sie befragt hat. Daraus ergibt sich die Frage: Warum kam sie zu mir? Das Testament, das ich für Gillsworth vorbereitet habe, ist durch diesen handschriftlichen letzten Willen abgelöst worden. Und damit bin auch ich abgelöst. Sie hätte ganz einfach bei dem Anwalt bleiben können, der ihr beigestanden hat, und ihn um die Beantragung der Testamentsbestätigung bitten können. Aber sie kam zu mir. Warum?« »Vater, ich glaube, sie denkt, daß sie, wenn sie dich behält, die Möglichkeit ausschließt, daß du unangenehme Fragen stellst, Schwierigkeiten bereitest und den Empfang dessen, was sie für ihren rechtmäßigen Anspruch hält, verzögerst. Und wenn du zu viele Einwände machst, wird sie dir vorschlagen, dich an ihrer Erbschaft zu beteiligen.« Er schaute mich nachdenklich an. »Ja, ich glaube, du könntest recht haben. Die Dame benutzt mich, und das bereitet mir keine Freude.« Eine Weile saßen wir in düsterer Stimmung da. Dann atmete mein Vater tief ein. »Archy, du hast mir gestern gesagt, du glaubst, daß die Glorianas an der Ermordung von Lydia und Roderick Gillsworth beteiligt seien, daß du aber nicht die geringste Vorstellung hast, was ihr Motiv sein könnte.« Er hielt die Fotokopie des handschriftlichen Testamentes hoch. »Jetzt hast du ein Motiv.« Ich sprang auf. »Ich rufe besser Sergeant Rogoff an«, sagte ich. »Das war ein interessanter Vormittag, nicht wahr?« »In der Tat«, stimmte er mir zu. 235
Auf meinem Weg durchs Vorzimmer genügte Mrs. Trelawney ein Blick, um meinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, daß es besser sei, keine Scherze oder Anspielungen auf unsere Besucherin zu machen. Statt dessen reichte sie mir wortlos eine Notiz: Mrs. Laverne Willigan hatte angerufen; ich möge sie schnellstmöglich zurückrufen. Ich kehrte in meinen Wandschrank zurück, rief im Haus Willigan an, sprach erst mit Leon und hatte schließlich Laverne an der Strippe. Sie erzählte mir, die Bank habe sie benachrichtigt, daß die Fünfzigtausend bereitlägen und ich sie jederzeit abholen könne. Ich dankte ihr und legte sofort auf, da ich befürchtete, sie könne Fragen danach stellen, wie die Übergabe des Lösegeldes geplant sei. Dann rief ich Al an. »Al«, sagte ich, »ich bin in meinem Büro. Irma Gloriana ist gerade gegangen, und du hattest recht. Doch die Bombe, die sie hat platzen lassen, war eine Atombombe. Kannst du kommen?« »Bin schon unterwegs«, rief er. »Fünfzehn Minuten.« Er versprach nicht zu viel. Er kam hereingestürmt und ließ sich auf den unbequemen Stahlsessel neben meinem Schreibtisch fallen. Er steckte sich eine Zigarre an und zückte sein Notizbuch. »Also, schieß los.« Ich erstattete ihm einen vollständigen Bericht über das, was im Büro meines Vaters passiert war. Meine Schilderung fesselte ihn so, daß er seine Zigarre ausgehen ließ und einfach nur zuhörte. Als ich geendet hatte, lehnte er sich zurück, steckte die erkaltete Zigarre wieder an und starrte mich an. »Ein handgeschriebenes Testament ist legal?« fragte er schließlich. »Mein Vater sagt ja. Und ein Zeuge kann Erbe sein.« »Und Irma bekommt alles?« »Alles außer den Originalmanuskripten.« Er zog angewidert eine Grimasse. »Warum hat der Idiot das getan?« 236
»Das ist ganz klar. Sexuelle Besessenheit.« »Du meinst, er war scharf auf sie?« »Genau das meine ich. – Paß auf, Al«, fuhr ich fort, »Lydia war eine wunderbare Frau, aber so etwas wie ein Blaustrumpf. In Palm Beach kursierte das Gerücht, daß die Gillsworths nur dem Namen nach eine Ehe führten.« »Dann geht Gillsworth mit seiner Frau zu einer dieser Seancen und lernt Irma kennen. Peng, Krach und Bumsvallera!« »Irma war alles das, was Lydia nicht war: sinnlich, beherrschend und eine Kokotte, wenn es ihren Zielen dienlich war.« »Und so habgierig wie ein Würger.« »Sie haben also eine Affäre. Gillsworth lernt, daß es im Leben mehr gibt als Gedichte, und Irma rechnet sich aus, daß dieser Narr die Lösung für die Geldprobleme ihrer Familie sein könnte. Schluckst du das alles?« »Jedes Wort«, erwiderte Al. »Deswegen begann er also diese erotischen Gedichte zu schreiben. Der arme Teufel hatte seine Drüsen nicht mehr unter Kontrolle. Früher oder später passiert das uns allen.« »Glaubst du, Gillsworth wußte, daß Otto Irmas Mann ist?« »Das bezweifle ich. Ich vermute, sie hat ihn ihm als ihren Bruder oder Freund verkauft.« »Wahrscheinlich hast du recht. Und jetzt das Drehbuch: Irma erfährt, daß Gillsworth praktisch keinen Penny besitzt, seine Frau aber reichlich Schotter hat.« »Und wenn sie stirbt, erbt ihr Mann den größten Teil ihres Vermögens.« »Und wer ist deiner Meinung nach zuerst auf den Gedanken gekommen?« »Gillsworth«, meinte Al prompt. »Wenn das der Preis war, den er zu zahlen hatte, um Irma weiter beglücken zu dürfen, war er bereit.« 237
»Vielleicht hat Irma versprochen, ihn zu heiraten, wenn Lydia weg vom Fenster war. Das unter der Voraussetzung, daß er nicht wußte, daß sie bereits verheiratet war.« »Und ich wette, Irma hat ihm gesagt, daß er die schmutzige Tat nicht selbst begehen müsse. Ihr sogenannter Bruder oder Freund würde sich um Lydia kümmern – natürlich für ein bescheidenes Honorar.« »Das Honorar war vielleicht, daß Gillsworth dieses handschriftliche Testament niederschrieb, mit dem er Irma alles vermachte. Warum dann aber die Drohbriefe, Al?« »Nur um die Bullen in alle Richtungen zu hetzen, damit sie nach einem Psychopathen suchten, der gar nicht existierte. Ich habe übrigens meinen jungen Kollegen zum Büro der Glorianas geschickt, damit er Frank eine Smith-Corona-Speicherschreibmaschine verkauft. Du hattest recht. Frank besitzt bereits ein Modell PWP 100C.« »Glaubst du, daß er an dem Plan zur Ermordung der Gillsworths beteiligt war?« Al überlegte einen Augenblick. »Das bezweifle ich«, sagte er schließlich. »Er wußte offensichtlich davon – schließlich war er ja Testamentszeuge, nicht wahr? –, aber ich glaube nicht, daß er Beteiligter war. Frank hatte seinen eigenen Plan in Arbeit: die Entführung von Peaches unter der liebevollen Beihilfe von Laverne Willigan.« »Die er wahrscheinlich auf einer Seance kennenlernte. Diese Seancen beginnen dem Freudenhaus zu ähneln, das die Glorianas in Atlanta führten.« »Archy, meinst du, daß das Medium wußte, was vorging?« »Hertha? Ich glaube nicht, daß sie etwas von dem Mordplan wußte. Sie wußte, daß ihr Gatte an Laverne Willigan nascht, aber das war ihr einfach egal. Hertha ist keiner Verbrechen schuldig, Al.« Er lachte. »Hör zu. Gehen wir die ganze Chose noch mal von 238
vorne durch und sehen wir, ob wir irgendwelche Löcher finden.« Also überprüften wir alles noch einmal, und nur ein paar unwichtige Fragen blieben unbeantwortet. So etwa der Zeitpunkt, zu dem Otto Gloriana in West Palm Beach eingetroffen war, wo Irma und Gillsworth ihr Verhältnis pflegten und warum Lydia Gillsworth ihre verschlossene Tür geöffnet hatte, um ihren Mörder einzulassen. »Wir werden diese Dinge klären«, sagte Al zuversichtlich. »Jetzt wissen wir, nach welchen Beweisen wir suchen müssen und was einfach Schrott ist.« »Ich hoffe, du wirst Fakten nicht einfach deshalb unberücksichtigt lassen, weil sie nicht in unsere Theorie passen. Das ist lächerlich – und gefährlich.« »Das ist keine Frage von unberücksichtigten Fakten«, unterbrach er mich. »Das ist eine Frage der Interpretation. Ich will dir ein Beispiel geben. Als Gillsworths Leiche gefunden wurde, hatte er zuvor in der Küche eine Riesenmahlzeit vorbereitet: sechs große Krabbenkuchen und einen gigantischen Salat. Nun gibt es für dieses üppige Mahl drei Interpretationen. Erstens: Er war am Verhungern und wollte alles allein essen. Zweitens: Er bereitete mehr zu, damit er den Rest am nächsten Tag essen konnte. Drittens: Er erwartete einen Gast und bereitete ein Abendessen für zwei zu. Unserer Theorie zufolge ist die dritte Deutung die wahrscheinlichste. Er erwartete Irma Gloriana, mit der er zu Abend essen wollte. Die Türglocke läutet. Er schaut durch den Spion, erblickt sie und schließt die Tür auf. Otto ist beiseite getreten, so daß Gillsworth ihn nicht sehen kann, und in dem Augenblick, als die Tür geöffnet ist, kommt Otto mit seiner Rasierklinge herein. Klingt das einleuchtend? Das ist es, was ich mit dem Interpretieren von Fakten meine. Sie werden erst zu Beweisen, wenn man ihre Bedeutung gewichten kann. Wenn man keine vernünftige Theorie hat, kann man in Fakten ertrinken.« »Danke, Professor«, erwiderte ich. »Ich habe Ihre Lektion ungemein genossen. Natürlich basiert die auf der Überzeugung, daß un239
sere Theorie stimmt.« »Du glaubst das doch?« »Natürlich. Es scheint mir die einzige einleuchtende Erklärung für das, was geschehen ist.« Aber war sie das wirklich? Wider Willen zweifelte ich. »Al«, sagte ich, »die Bank hält das Lösegeld bereit. Begleitest du mich zum Abholen? Du bist der Mann mit der Zimmerflak.« »Natürlich komme ich mit. Du darfst mich dann anschließend zum Präsidium begleiten. Wir müssen das Programm für die Übergabe heute nacht durchgehen.« »Ich hoffe, du hast dir einen effektiven Plan überlegt.« »Er sollte klappen.«
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ch verbrachte den Nachmittag mit Al und einer Abteilung uniformierter Beamter, die ihm zugeteilt worden war. Während mir die Aktion der kommenden Nacht erläutert und meine eigene Rolle dabei erklärt wurde, begriff ich, welch bemerkenswerte Arbeit Al mit der Organisation einer so komplexen Operation in kurzer Zeit geleistet hatte. Natürlich konnte einiges schiefgehen, und wir verbrachten viel Zeit damit, über mögliche Eventualitäten nachzudenken und zu überlegen, wie darauf reagiert werden könne. Aber der Gesamtplan war durchführbar, und wir konnten das Ziel mit ein wenig Glück erreichen. Ich wollte das Lösegeld bei Al lassen, doch er lehnte es ab, die 240
Verantwortung dafür zu übernehmen. Er behielt eine Liste der Seriennummern, welche die Bank umsichtigerweise mitgeliefert hatte. Als ich das Präsidium verließ, trug ich fünfzigtausend Dollar in Fünfzig-Dollar-Scheinen bei mir. Die Bank hatte zum Transport eine Einkaufstasche gestiftet. Natürlich war meine Mutter nicht darüber informiert worden, daß ihr lieber kleiner Junge in ein Unternehmen verwickelt war, das gewalttätig verlaufen konnte. Vater und ich versuchten, unsere Familiencocktailstunde und das Abendessen so zu gestalten, wie unzählige zuvor verlaufen waren. Wir redeten, wir lachten, wir genossen ein halbes Dutzend köstlicher Wachteln, und ich glaube nicht, daß Mutter auch nur die leiseste Ahnung von meiner Beklommenheit hatte. Nach dem Abendessen verließ sie uns, um oben ihr Fernsehprogramm zu verfolgen, und ich widerstand der Versuchung, sie zum Lebewohl zu küssen. Es war wirklich nur ein wenig Unterstützung, die ich bei einer Polizeiaktion leistete, und ich war sicher, daß ich die Sache überstehen würde. Das sagte ich mir immer wieder. Meine Euphorie wurde ziemlich gemindert, als mein Vater mich auf einen Cognac in sein Arbeitszimmer bat. Ich wußte, daß er es gut meinte, aber ich betrachtete dieses Angebot eines alkoholischen Mutmachers etwa so, als reiche man mir eine Augenbinde und die letzte Zigarette. Wenigstens sagte er nicht: »Paß auf.« Er sagte: »Ruf an, sobald es vorbei ist.« Dann ging ich nach oben, um mich umzuziehen. Al hatte vorgeschlagen, ich solle mich schwarz kleiden, und als ich fragte, warum, erwiderte er: »Dann bist du ein schwerer zu treffendes Ziel.« Die anderen Bullen aus seiner Truppe hatten das wahnsinnig komisch gefunden. Gegen neun Uhr kam ich schwarz gekleidet und meine Einkaufstasche mit dem Bargeld in der Hand nach unten. Ich ging zu dem Miata hinaus und blieb stehen, um mich umzuschauen. Es war 241
eine warme Nacht, und über den dunklen Himmel zogen Schäfchenwolken. Sterne waren da und ein blasser Mond, und während ich noch himmelwärts starrte, brummte ein Flugzeug über mir nach Norden. Ich wünschte, ich säße darin. Ich fuhr zum Polizeipräsidium. Al und seine Leute trugen kugelsichere Westen und prüften ihre Waffen, worunter, wie ich bemerkte, Schrotflinten, Tränengas und Rauchbomben waren. Dazu wurde eine Vielzahl elektronischer Geräte getestet. Ich kannte ihre Funktionsweise und ihren Verwendungszweck nicht. Ich machte meinen Oberkörper frei, und ein Techniker ›verdrahtete‹ mich. Es war eine unangenehme Erfahrung, da an mir scheinbar endlose Meter Klebeband verarbeitet wurden. Als er fertig war, war ich mit Mikrofon, Batteriesatz und Sender ausgerüstet. Ich zog Hemd und Jacke wieder an, und wir begaben uns nach draußen, um zu testen, wie wirksam ich als mobile Funkstation war. Al wies mich an, vierzig Meter weit zu laufen, das Gerät einzuschalten und etwas zu sagen. Ich tat wie befohlen. Er winkte mir, ich solle zurückkommen. »Laut und deutlich«, meinte er. »Gehen wir los!« Inmitten der Polizeifahrzeuge befand sich ein knallrotes offenes Sportcabrio, in dem ich saß. Ich scherte bald aus und ließ die Armada ohne mich weiterrollen. Das Drehbuch sah meine Ankunft auf dem Parkplatz des Supermarktes am Federal Highway um Viertel vor zwölf vor. Ich traf pünktlich ein und parkte an einer Stelle, die einen guten Blick auf die Ladenfront bot. Ich schaltete mein Sendegerät ein. »McNally auf Station«, meldete ich mich. Einen Augenblick später kam die Polizistin in Zivil, die Al in dem Laden postiert hatte, heraus und begann, an einer Reklametafel für Hamburger herumzufummeln. Es war das Signal, daß sie meine Worte über ihr stärkeres Funkgerät an die Truppe weitergegeben hatte. Ich lehnte mich zurück, entzündete eine English Oval und fragte 242
mich, warum ich nicht vor Beginn dieses Abenteuers das Klo aufgesucht hatte. All meine Angst, sagte ich mir, ergab sich aus meinem Versuch, diesem schweineköpfigen Willigan zu helfen. Da rollte ein alter Chrysler Imperial langsam auf den beleuchteten Parkplatz und hielt etwa sieben Meter von mir entfernt. »Ich glaube, er ist hier«, sagte ich. »Ein schwarzer Chrysler Imperial. Ein Mann steigt aus und kommt auf mich zu.« Al und ich waren übereinstimmend der Meinung gewesen, daß der Bote nicht Frank Gloriana sein würde. Er konnte kein Verlangen danach haben, von mir als der Katznapper identifiziert zu werden. Die Wahl des Geldboten mußte auf Otto Gloriana treffen, Franks Vater. Als er näherkam, hatte ich absolut keinen Zweifel daran, daß dieser große, rothaarige, breitschultrige Mann von etwa fünfundsechzig Jahren in der Tat Otto Gloriana alias Charles Girard war, ehemaliger Bordellbesitzer und Ex-Knasti, den die Polizei von Atlanta als einen ›Widerling‹ bezeichnet hatte. Was mich überraschte, war sein gutes Aussehen. Er trug einen zerknautschten Anzug und hatte die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Er kam ganz nahe, preßte sich fast an meine Tür. Das war mir recht. Es brachte ihn näher an mein verstecktes Mikrofon. »Sind Sie von Harry Willigan?« fragte er. »Ja.« »Haben Sie die Fünfzigtausend?« »Sind hier«, sagte ich und wollte die Einkaufstüte von dem Beifahrersitz heben, um sie ihm zu überreichen. Doch er trat einen Schritt zurück. »Raus aus dem Wagen!« Ich war erstaunt. »Warum?« »Weil ich Sie umbringen werde«, meinte er freundlich, »wenn Sie das nicht tun.« Er zog seine rechte Hand gerade so weit aus der Jackentasche, daß ich den kurzläufigen Revolver erkennen konnte, 243
der ein .38 Special zu sein schien. Er stand mit dem Rücken zur Schaufensterscheibe des Supermarktes, und niemand war in der Nähe. Ich war sicher, daß unbeobachtet blieb, was er tat. »Sie haben eine Waffe?« fragte ich ungläubig und betete, daß diese Unterhaltung von der Beamtin im Laden empfangen wurde. »Das ist nicht nötig. Nehmen Sie einfach das Geld und bringen Sie die Katze zurück.« Er seufzte. »Sie sind nicht sehr schnell, was? Ich sage es nur noch einmal, und wenn Sie nicht tun, was ich sage, haben Sie drei Augen. Und jetzt steigen Sie langsam aus diesem Kinderwagen. Tragen Sie das Geld. Laufen Sie zu meinem Wagen. Ich werde direkt hinter Ihnen sein.« Ich tat wie befohlen und dachte ärgerlich, daß wir uns auf alle Möglichkeiten vorbereitet hatten, nur nicht darauf, daß ich als Geisel genommen werden würde. Wir erreichten den Chrysler, und die Tür des Fonds wurde von einem Mann geöffnet, der hinter dem Steuer saß. »Einsteigen«, befahl Otto. Das tat ich und stellte die Tasche mit dem Geld auf den Boden des Autos. Ich setzte mich neben den Fahrer. »Frank«, rief ich laut, »ist das eine Überraschung!« »Schnauze!« sagte der ältere Gloriana zu mir. Und zu seinem Sohn: »Fahr los.« Wir verließen den Parkplatz und fuhren auf dem Federal Highway südwärts. Ich schätzte, daß wir außerhalb der Reichweite des Empfängers im Laden waren, sagte aber für alle Fälle: »Wir fahren zum Motel, ja?« Otto zog den Revolver aus seiner Tasche und schlug ihn mir seitlich gegen den Schädel. »Ich sagte, Schnauze halten. Hier rede nur ich.« So blieb ich stumm und verbiß den Schmerz, der meinen Kopf durchzuckte. 244
Wir bogen auf die Zufahrt zu dem Motel ein. Ich wußte, daß zwei Polizeibeamte in Haus fünf und zwei weitere im Hinterraum des Motelbüros waren. Sie waren hier postiert worden, nachdem die Besitzerin sich zur Unterstützung der Polizei bereit erklärt hatte. Aber ich sah keine Polizeiwagen und entdeckte keine Hinweise darauf, daß Scharfschützen eingesetzt waren, um Haus vier im Zielfernrohr zu haben. Ich konnte nur darauf hoffen, daß Al sich meiner trostlosen Lage bewußt war und nun fieberhaft seine Pläne änderte, um meiner Sicherheit Vorzug vor der von Peaches zu geben. Wir hielten vor Haus vier, und Otto rammte mir seine Waffe in die Rippen. »Raus! Nehmen Sie das Geld. Gehen Sie zur Vordertür. Frank, du gehst voran und schließt auf.« In wenigen Augenblicken waren wir drin, die Tür geschlossen und eine Lampe im Korridor eingeschaltet. Ich schaute mich um. Es war ein einfacher Raum, genau wie der, den Hertha in ihrer Vision zu sehen behauptet hatte. Eine Wanne mit Katzenstreu stand ebenfalls da, dazu eine Schüssel Wasser und ein Teller mit Katzenfutter. »Wo ist Peaches?« »Im Kino«, kicherte Frank boshaft. Es waren die ersten Worte, die er sagte. »Zähl das Geld«, befahl sein Vater. Frank schüttete den Inhalt der Tasche auf das Bett und stapelte die Bündel der banderolierten Banknoten aufeinander. Otto und ich blieben stehen. Bis Frank fertig war, fiel kein einziges Wort. »Alles da«, sagte er. »Die Scheine sehen echt aus.« »Sie haben die Nummern«, knurrte Otto, »aber was soll's? Da, wo wir die ausgeben, achtet niemand auf die Nummern.« »Könnte ich jetzt die Katze haben?« fragte ich, da ich fand, daß ich nichts zu verlieren hätte. Otto sah mich düster an. »Ich bin schließlich doch drauf gekommen, wie Sie Charles Girard gefunden haben. Es war der Arzt in 245
der Tierklinik. Das war clever.« Ein oder zwei Minuten lang konnte ich nicht begreifen, woher er wußte, daß ich ihn identifiziert hatte. Dann erinnerte ich mich, daß ich Laverne gegenüber den Namen Charles Girard erwähnt hatte. Zweifellos hatte sie das Frank erzählt, und er hatte seinerseits seinem Vater berichtet, daß ihm Archy McNally, ein geschwätziger Schnüffler, auf der Spur war. »Sie kennen mich also jetzt«, sagte Otto. »Und Sie sind über Frank im Bild. Wir haben wohl keine Wahl, was?« Was er meinte, war glasklar und viel furchterregender als eine brutale Drohung. »Katznapping ist wohl kaum ein Schwerverbrechen«, erklärte ich. »Wie groß kann die Strafe schon ausfallen, die's dafür gibt?« »Wenn man einmal im Bau gewesen ist«, erwiderte er düster, »ist jeder weitere Tag zu viel.« Er starrte mich an, und ich wußte, daß es nicht nur eine Anklage wegen Katznapping war, die ihm Sorgen machte. Dafür würde er nicht töten. Aber er fragte sich, wieviel ich über seine sonstigen Verbrechen wissen oder ahnen mochte, einschließlich der brutalen Morde an den Gillsworths. Schließlich konnte ich sehen, daß er zu einem Ergebnis gekommen war, und seine Entscheidung schien ihn zu entspannen. »Steck das Geld wieder in die Tasche«, sagte er zu seinem Sohn. »Schieb sie unter das Bett. Dann hol die Katze. Wir erledigen die beiden zusammen. Ich hab' einen guten Platz gefunden. Einen verlassenen Kanal.« Frank versteckte das Geld, ging in das Badezimmer und kam mit einem großen Pappkarton heraus, der einmal Schnapsflaschen beherbergt hatte. Er war mit einer dicken Schnur fest verschlossen, und in die Seitenwände waren Luftlöcher geschnitten. Ich hörte ein schwaches Miauen. »Gehen wir«, sagte Otto. Bis zu diesem Augenblick war der Bungalow nur von der Korri246
dorlampe erhellt gewesen. Jetzt aber wurde er plötzlich von grellem Licht durchflutet. »Was ist das, zum Teufel?« kreischte Frank. Otto bewegte sich rasch. Er trat hinter die Holztür und beugte sich vor, um aus dem Vorderfenster zu spähen. »Polizeiwagen«, berichtete er tonlos. »Mindestens vier oder fünf. Und eine ganze Armee von Bullen.« Dann hörte ich Al. Durch das Megaphon klang seine Stimme hart und metallisch. »Haus vier«, dröhnte er. »Kommen Sie alle mit erhobenen Händen durch die Vordertür heraus. Sofort!« Frank wandte sich an seinen Vater. »Was sollen wir tun?« fragte er nervös. Otto ging in das Badezimmer, stellte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und schaute aus dem kleinen Fenster. Er kehrte in den Wohnraum zurück. »Sinnlos. Die Rückseite ist umstellt.« »Bitte«, sagte ich, »ergeben Sie sich. Es ist nur eine Anklage wegen Katznapping. Das ist doch keine Schießerei wert.« »Er hat recht«, meinte Frank. »Laß uns tun, was die verlangen.« Sein Vater schaute ihn angewidert an. »Mach, was du willst. Ich gehe hinaus. Für dich gehe ich nicht wieder in den Bau.« Er griff unter das Bett und zog die Tasche mit dem Geld hervor. Er nahm mehrere Bündel heraus und stopfte sie in seine Taschen. Dann richtete er seinen Revolver auf mich. »Umdrehen«, sagte er. »Sie und ich gehen gemeinsam hinaus, Sie vorneweg!« »Haus vier!« Als Stimme kam krachend. »Kommen Sie mit erhobenen Händen durch die Vordertür heraus. Sie haben genau eine Minute.« Otto trat dicht hinter mich. Er legte eine schwere Hand auf meine linke Schulter und preßte die Mündung seiner Waffe hinter mein rechtes Ohr. »Keine Tricks«, warnte er. »Oder Sie sind tot. Haben Sie verstanden?« »Ja.« 247
»Öffnen Sie jetzt die Tür. Langsam. Gehen Sie langsam hinaus. Dann zu dem Chrysler. Alles hübsch langsam.« Ich tat, was er befahl. Die Polizeischeinwerfer machten mich halbblind. Außer der dunklen Masse der Wagen konnte ich nichts sehen. Ich ging so langsam, wie ich konnte, auf den Chrysler zu. Wir waren neben dem Wagen, als das Megaphon bellte: »Otto! Otto!« Otto war so schockiert darüber, daß die Polizei seinen richtigen Namen kannte, daß er seinen Griff löste und seine linke Hand von meiner Schulter nahm. Der Druck hinter meinem Ohr ließ nach. Mir wurde vage bewußt, daß er sich leicht umgedreht hatte. Ich ließ mich fallen. Ich hoffte, Al und seine Truppe hätten so viel Verstand, den Vorteil zu nutzen, der sich ihnen durch mein plötzliches Fallen bot. Und das taten sie. Ich lag auf dem Boden, und Otto stand noch immer wie gelähmt, als ein ohrenbetäubendes Gewehrfeuer losbrach. Ich hörte Otto aufschreien. Er knickte in die Knie. Dann, als das Feuer weiterging, sackte sein Kopf nach vorn, und er schien sich flach auf den Boden zu werfen. »Feuer einstellen!« bellte Al. »Feuer einstellen!« Die Stille war ohrenbetäubend. Ich blieb da liegen, wo ich mich hatte fallen lassen, und wußte, daß ich lebte. Ich hob vorsichtig den Kopf. Al und zwei Beamte standen neben Otto. Einer von ihnen nahm ihm den Revolver ab. Der andere kniete nieder, um Ottos Gesicht betrachten zu können. »Er ist hin, Sergeant.« »Ja«, sagte Al. »Ein klarer Fall von Bleivergiftung. Ruft den Fleischwagen.« Er wandte sich um und half mir behutsam auf die Beine. Ich stand zitternd da. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er besorgt. »Ich muß mal dringend aufs Klo!« Er lachte, und wir machten uns auf den Weg zum Haus. Zwei 248
Polizisten führten Frank heraus. Sie hielten ihn an beiden Armen fest. Er schaute mich an. »Ich bin froh, daß Sie leben«, murmelte er. »Wirklich.« »Danke«, meinte ich. Er schaute nicht zu der Leiche seines Vaters hin. Wir gingen in den Bungalow. Al begann damit, das verstreute Geld in die Einkaufstasche zu stopfen. Ich steuerte das Badezimmer an. Als ich herauskam, war Al verschwunden. Der Pappkarton stand noch immer mitten auf dem Boden. Ich bückte mich und entknotete die Schnur. Vorsichtig klappte ich den Deckel auf. Ich fürchtete, daß Peaches mir an die Kehle springen würde, weil sie mich möglicherweise für einen ihrer Entführer hielt. Aber sie stieg vorsichtig aus dem Karton, begann sich an meinen Schienbeinen zu reiben und schnurrte wie eine Wahnsinnige. Als Al zurückkehrte, saß ich auf dem Bett. Die Katze lag neben mir und hatte alle vier Pfoten in die Luft gestreckt. Ich kraulte ihren Bauch, und sie hatte die Augen verzückt geschlossen. »Das ist der widerlichste Anblick, dessen Zeuge ich je geworden bin«, brummte Al. »Du bist nur eifersüchtig«, erwiderte ich, »weil das niemand bei dir tut.« »Wieso bist du dessen so sicher?« »Al, kann ich Peaches zu Harry Willigan zurückbringen?« »Ja. Sag ihm, daß wir seine fünfzig Riesen noch eine Weile behalten müssen. Beweismaterial. Er kriegt sie irgendwann wieder. Komm, ich bring' dich zu deinem Wagen.« »Ich muß zuerst meinen alten Herrn anrufen. Ist versprochen.« Ich benutzte das Telefon im Motelbüro. Mein Vater meldete sich so schnell, daß ich wußte, daß er nicht geschlafen hatte. Inzwischen war es zwei Uhr morgens. 249
»Archy hier«, sagte ich. »Mir geht's gut, und die Katze ist gesund und munter.« »Freut mich, das zu hören«, erwiderte er. »Erzähl mir alles, sobald du ausgeschlafen hast.« Al fuhr mich in einem Streifenwagen zu dem Supermarkt zurück. Ich hatte den Pappkarton in Haus vier gelassen, und Peaches hockte auf meinem Schoß. Sie war zufrieden. »Was ist mit Irma?« fragte ich. »Wir haben sie um Mitternacht verhaftet. Sie führt sich als hochmütige, gekränkte Dame auf und will erst reden, wenn sie mit einem Anwalt gesprochen hat.« »Und Hertha?« »Sie war nicht in der Wohnung. Nachbarn sagen, sie hätten sie dort seit zwei oder drei Tagen nicht gesehen. Sie wissen nicht, wo sie ist.« Ich ahnte, wo sie war, aber ich sagte ihm das nicht. Als ich ausstieg, um in den Miata zu wechseln, meinte er beiläufig: »Saubere Arbeit heute nacht, Archy.« »Danke. Du selbst hast dich bewundernswert verhalten. Ich rufe dich an, wenn ich ein bißchen Schlaf bekommen habe. Al, ich glaube nicht, daß Frank ein harter Typ ist. Gib ihm Druck.« »Die Absicht habe ich«, antwortete er grimmig. Ich fuhr los. Peaches hatte sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt. Als wir zu Hause ankamen, dachte ich, sie sei vielleicht hungrig, und bot ihr eine Scheibe Pastrami aus dem Kühlschrank an. Sie fraß sie mit offensichtlichem Genuß. Den Rest der Nacht schlief sie am Fußende meines Bettes. Als ich gegen acht Uhr erwachte, stellte ich fest, daß sie die Pastrami auf den Deckel meines Tagebuchs erbrochen hatte. Man kann nicht immer gewinnen. 250
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ch frühstückte am Dienstagmorgen mit meinen Eltern. Peaches saß geduldig neben dem Tisch im Eßzimmer, und als ich ihr ein Stück Brioche gab, knabberte sie anmutig daran. Eine perfekte Dame. Mutter war begeistert von ihr. Seit Max, unser Golden Retriever, gestorben war, hatten wir kein Tier in der Familie, und ich dachte laut darüber nach, ob wir einen Welpen, vielleicht einen Dandie Dinmont, einladen sollten, in unseren Haushalt einzutreten. Mein Vater versprach, den Vorschlag zu überdenken. Nach dem Frühstück nahm ich ihn beiseite und erstattete ihm kurz Bericht über die Polizeiaktion der letzten Nacht. »Dann ist Otto also tot?« fragte er, als ich fertig war. »Ja.« »Und der Sohn ist in Gewahrsam?« »Ja. Und Mrs. Irma Gloriana ebenfalls. Ich rechne damit, daß Rogoff sie heute verhört.« Er nickte. »Ich würde gerne mit dem Sergeant sprechen. Meinst du, er könnte uns heute abend besuchen?« »Ich bin sicher, daß er schrecklich beschäftigt ist, Vater, aber heute abend wird er gern eine Pause machen wollen.« »Bitte ihn darum. Sage ihm, daß es Roderick Gillsworths handschriftliches Testament betrifft und sich möglicherweise auf seine Ermittlungen auswirken kann.« Er fuhr mit seinem Lexus ins Büro, und ich hob Peaches in meinen Miata und steuerte das Heim der Willigans an. Die Katze saß aufrecht in ihrem Schalensitz, schnüffelte in die Morgenluft und sah eigentlich recht großartig aus. Ich trug sie bei den Willigans die Stufen hoch, doch bevor ich 251
Gelegenheit zum Läuten fand, wurde die Tür aufgerissen, und Harry stürmte mit ausgebreiteten Armen heraus. »Peaches!« schrie er. »Peaches ist wieder zu Hause!« Ich schwöre, daß in seinen Augen Tränen standen. Er streckte die Hände nach seinem Schoßtier aus, doch die Katze hatte andere Pläne. Sie sprang aus meinen Armen, schoß durch die geöffnete Tür und huschte den langen Korridor hinunter. Harry eilte hinter ihr her und brüllte: »Peaches! Papa ist hier! Komm zu Papa, mein Liebling!« Sie verschwanden, und ich betrat das Haus. Ich wanderte durch den Korridor und dann zu dem Rasen hinter dem Haus. Laverne lag rücklings auf einem Liegestuhl und trug einen schrillpinken Bikini in französischem Schnitt. Sie hatte sich einen Plastikschirm über die Augen gezogen. »Guten Morgen, Laverne«, rief ich, während ich mich ihr näherte. Sie hob den Schirm gerade so lange, um mir einen Blick zuwerfen zu können. »Hallo, Archy«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Ich habe gerade Peaches zurückgebracht«, meinte ich. »Sie ist letzte Nacht gerettet worden.« »Ich weiß«, erwiderte sie tonlos. »Wir haben es heute morgen im Radio gehört.« »Würden Sie bitte Harry sagen, daß die Polizei seine Fünfzigtausend hat? Sie behält sie vorübergehend als Beweismaterial. Er wird sie irgendwann zurückbekommen.« »Ich werde es ihm sagen.« Ich weiß nicht, warum ich sie bedauerte. Jeder auf dieser Welt muß für die Dummheiten zahlen, die er macht, und Laverne hatte sich ganz gewiß dumm verhalten. Aber ich vermutete, daß sie ihre Gründe hatte, und offensichtlich genügte ihr das. »Ich werde versuchen, Sie herauszuhalten«, fuhr ich fort, »aber ich bin nicht sicher, ob das möglich ist.« »Aus was heraus?« 252
»Laverne, bitte, die Polizei hat Frank Gloriana festgenommen. Ich weiß nicht, wieviel er ihr erzählen wird.« »Wovon reden Sie eigentlich?« Ich seufzte und begann meinen Rückzug. Ich hatte fast die Verandatür erreicht, als sie »Archy!« rief. Ich machte kehrt. Jetzt saß sie vorgebeugt auf dem Liegestuhl, den Kopf gesenkt. Sie schob den Augenschirm mit nervösen Fingern hin und her. »Glauben Sie wirklich, Sie können mich da heraushalten?« fragte sie und schaute zu mir auf. »Sehen Sie«, erwiderte ich, »Frank ist kein Bursche mit Rückgrat. Er ist imstande, der Polizei zu erzählen, daß er mitgemacht hat, weil er in Sie verliebt war.« Darauf runzelte sie die Stirn. »Das ist lächerlich. Wie könnte er so etwas sagen? Die Erpresserbriefe wurden auf seiner Schreibmaschine geschrieben.« »Das weiß die Polizei bereits. Aber Sie haben doch Peaches in ihrem Transportbehälter fortgeschafft, nicht wahr?« »Das war ein Jux. Frank brauchte Geld, und Harry hat viel. Aber daß Frank in mich verliebt sei, das ist Unsinn. Es war nur ein Flirt zwischen uns.« »Es ist aber anders gelaufen, Laverne. Sie wissen doch, was mit Ihnen passieren wird, wenn Harry das herausfindet?« »Ja«, murmelte sie trübselig. »Er wird mich rausschmeißen. Ohne Abfindung.« »Sie sind ein schreckliches Risiko eingegangen.« »Ich habe mich gelangweilt«, sagte sie schulterzuckend. »Hören Sie, Archy, wenn Sie mich da heraushalten können, werden Sie es nicht bereuen.« Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und lächelte. Sie gab schon eine Menge her. Ich lachte. »Laverne, Sie sind unverbesserlich.« Sie ließ ihre Zunge über ihre glänzenden Lippen gleiten und lächelte noch immer. »Denken Sie darüber nach«, meinte sie. 253
Ich machte, daß ich so schnell wie möglich fortkam, und fuhr in dem Gefühl davon, daß dies der Tag werden würde, an dem alle gegenwärtigen Probleme gelöst wurden. Es gab eine Frage, die ich Hertha Gloriana stellen wollte, und ich glaubte genau zu wissen, wo ich sie finden würde. Ich steuerte den Miata nach Riviera Beach, und eine halbe Stunde später pochte ich an die Tür von Meg Trumbles Wohnung. »Aber Archy«, sagte sie, »das ist ja eine angenehme Überraschung.« Die ›Überraschung‹ konnte ich ihr abkaufen. Das ›angenehm‹ indes war zweifelhaft. Doch sie gestattete mir einzutreten. Hertha kauerte auf der Couch. Sie betupfte sich die Augen mit einem Papiertaschentuch. Trotz der Tränen des Mediums und des eher frostigen Benehmens von Meg wirkten die beiden Frauen sehr anziehend auf mich. Sie trugen superkurze Shorts aus weißem Leinen, dazu Männerarbeitshemden, die über den Hüften zusammengeknotet waren und ein paar Zentimeter Bauchdecke sehen ließen. Und sie stellten prächtig gebräunte Beine zur Schau. »Hast du die Nachrichten gehört?« fragte Meg. »Über Herthas Mann und ihre Schwiegereltern?« »Das habe ich«, erwiderte ich. »Sind Sie schon bei der Polizei gewesen, Hertha?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich finde wirklich, daß Sie das tun sollten«, sagte ich sanft. »Die werden Ihnen Fragen stellen wollen. Bitten Sie darum, mit Sergeant Rogoff sprechen zu dürfen.« »Hertha wußte nichts von dieser Katze«, mischte sich Meg wütend ein. »Ich verstehe nicht, warum sie da hineingezogen werden sollte.« Ich seufzte. »Meg, sie steckt schon drin. Ihr Mann und ihre Schwiegermutter sind verhaftet worden, und ihr Schwiegervater wur254
de erschossen. Wenn sie nicht zur Polizei geht, wird man nach ihr fahnden. Früher oder später wird man sie bestimmt finden, und dann wird man wissen wollen, warum sie nicht freiwillig gekommen ist.« »Vielleicht sollte ich mit der Polizei sprechen«, sagte Hertha ängstlich. »Meg, kommst du mit mir?« Meg setzte sich neben sie und schlang einen Arm um ihre Schultern. »Natürlich tue ich das, Liebling«, erwiderte sie tröstend. »Wir gehen gemeinsam. Nach wem sollen wir doch gleich fragen, Archy?« »Sergeant Al Rogoff. Er ist ein Freund von mir, und ich schlage vor, du sagst ihm, daß du bereits mit mir gesprochen hast. Er wird sehr verständnisvoll sein.« »Was wird er mich Ihrer Meinung nach fragen?« wollte Hertha wissen. »Wahrscheinlich wird er fragen, ob Roderick Gillsworth häufig in Ihr Büro gekommen ist.« Hertha schaute mich mit großen Augen an. »Das ist aber eine seltsame Frage.« »Nun, war's so?« beharrte ich. »Ist Gillsworth in Ihr Büro gekommen und hat mit Frank gesprochen?« »Mehrere Male«, sagte sie und nickte. »Aber sie gingen immer in das Zimmer, in dem wir unsere Drucksachen versandfertig machten. Ich weiß nicht, worüber sie gesprochen haben.« »Erzählen Sie genau das Sergeant Rogoff«, riet ich. »Ich bin sicher, daß ihn das sehr interessiert. Werden Sie hier bleiben?« »Natürlich wird sie das«, antwortete Meg an ihrer Stelle. »Solange sie will. Ich hoffe, für immer.« Hertha wandte sich Meg zu, umarmte sie innig und küßte sie auf die Lippen. »O Liebste«, weinte sie, »was sollte ich ohne dich bloß tun?« Sie flüsterten miteinander, als ich sie verließ. Ich fuhr zum Pelican Club und hoffte, daß ein Tropfen Feuerwasser einen Beitrag zur 255
Restaurierung meines Geisteszustandes leisten werde. Und während ich fuhr, dachte ich über die Seltsamkeiten des menschlichen Verhaltens nach. Ich konnte Megs Wunsch verstehen. Schließlich war sie auf besonders grausame und erniedrigende Weise von einem Mann betrogen worden. Herthas Handlungsweise hingegen verwirrte mich. Sie, die ihre Küsse so freigebig verteilte, war eine sehr körperliche Spiritistin. Im Pelican Club rief ich Al an, und natürlich war er nicht erreichbar. Ich schlürfte mich durch zwei Daiquiris, rief ihn alle zehn Minuten an, ohne daß ich Erfolg gehabt hätte, und erreichte ihn schließlich beim fünften Versuch. Al stand offensichtlich unter Druck, und ich überbrachte ihm kurz die Einladung, an diesem Abend um neun im Haus der McNallys vorbeizuschauen. »Okay«, sagte er und legte auf. Ich blieb zum Mittagessen an der Bar sitzen. Priscilla brachte mir einen Jumbo-Cheeseburger mit Pommes Frites und Krautsalat als Beilage. Dann fuhr ich zur Worth Avenue, um für Connie ein Tennisarmband zu kaufen. Ich hatte diese wunderbare Frau schändlich vernachlässigt. Die vormittägliche Begegnung mit Laverne Willigan, Meg Trumble und Hertha Gloriana hatte mir bewußt gemacht, wie wichtig Connie für mich war. Ich besuchte vier Juweliergeschäfte, bis ich schließlich ein Armband fand, das mir gefiel. Es war schrecklich teuer. Ich ließ es in Silberfolie einpacken und fuhr damit nach Hause. Dort zog ich mich aus und ging zu Bett, um ein Nickerchen zu machen, da ich in der vorangegangenen Nacht nur fünf Stunden mit geschlossenen Augen verbracht hatte. Bevor der Schlaf sein Recht verlangte, dachte ich wieder an meine Erlebnisse dieses Morgens und lachte laut. Ich konnte alle diese Leute einfach nicht ernst nehmen.
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s war ein sonniger Tag gewesen, an dem sich nur ein paar vereinzelte Wölkchen gezeigt hatten, doch als ich gegen sechs Uhr nachmittags aus meinem Nickerchen erwachte, war eine dunkle Wand von Osten herangezogen, und es hatte zu regnen begonnen. Es wehte kein Wind, und der Regen wurde bald zu einem anhaltenden Guß. Gegen neun Uhr wartete ich in der Küche und spähte aus dem Fenster, bereit, mit meinem großen Golfregenschirm hinauszugehen, sobald Al eintraf. Er fuhr mit nur fünfzehn Minuten Verspätung in seinem Kombi vor, parkte dicht bei unserer Hintertür und kam herbeigeeilt, bevor ich auch nur eine Chance hatte, mein Riesendach zu entfalten. Er sah schrecklich aus. Seine Gesichtszüge waren vor Müdigkeit schlaff, und er hatte Schatten unter den Augen. Noch schlimmer war, daß er unsicher wirkte, so, als sei er mit folgenschweren Entscheidungen konfrontiert und wisse nicht, in welche Richtung er gehen solle. Ich führte ihn ins Arbeitszimmer. Mein Vater wartete auf uns, warf einen Blick auf Al und brachte augenblicklich seine Flasche Remy Martin XO herbei. Er hielt diesen Cognac für spezielle Gelegenheiten bereit. Al ließ sich in einen Clubsessel fallen, erhielt sein Glas und nahm einen tiefen Schluck. »Oh, tut das gut.« »Verzeihen Sie, daß ich Sie in einer solchen Nacht hergebeten habe, Sergeant«, sagte mein Vater. »Es hätte warten können.« »Nein«, erwiderte Al, »das glaube ich nicht. Die Dinge entwickeln sich zu schnell. Im Augenblick herrscht ein einziges Durcheinander, und ich hoffe, Sie können dabei helfen, einen Sinn in all das 257
zu bringen, was wir wissen und was wir vermuten.« Ich hatte meinem Vater und mir Brandys eingeschenkt. Er thronte wie üblich hinter seinem Schreibtisch, und ich nahm auf einem der danebenstehenden Armsessel Platz, um ihn und Al im Blickfeld zu haben. »Wie läuft es, Al? Redet Frank Gloriana?« »Ein wenig. Beim Katznapping können wir ihn festnageln. Die Erpresserbriefe wurden auf seiner Schreibmaschine geschrieben, und das Geld wurde bei ihm gefunden. Aber er behauptet, das Ganze sei Laverne Willigans Idee und sie sei diejenige, die die Katze geklaut habe. Er sagt, er habe mitgespielt, weil er wahnsinnig in sie verliebt sei.« »Ich habe befürchtet, daß er so etwas behauptet«, erwiderte ich. »Gibt's überhaupt eine Chance, Laverne aus der Geschichte herauszuhalten?« »Kaum«, meinte Al. »Wir versuchen, mit seinem Anwalt ein Abkommen zu treffen. Wenn Frank uns sagt, was er über den Mordplan seiner Eltern weiß, könnte die Anklage auf Diebstahl und Erpressung beschränkt werden, und er käme vielleicht mit einer Bewährungsstrafe davon.« Mein Vater meldete sich zu Wort. »Wie Sie wissen, Sergeant, vertrete ich Harry Willigan, und mir liegt ebenso viel daran wie Archy, Mrs. Willigan aus einem Prozeß herauszuhalten. Ich gehe davon aus, daß alles unter uns bleibt, was wir heute abend besprechen.« »Einverstanden.« »Gut. Ist dieser Frank Gloriana ein vermögender Mann?« »Er ist völlig pleite. Sein Anwalt wird am Ende als Honorar wohl seine Büromöbel bekommen.« »Ich verstehe«, sagte mein Vater nachdenklich. »Archy, verfügt Laverne deines Wissens über irgendwelche Barmittel?« »Über ihren Kontostand bin ich nicht informiert, Vater, aber ich weiß, daß sie eine beachtliche Schmuckkollektion hat. Geschenke von Harry. Teure Klunker.« 258
»Ausgezeichnet. Sergeant, vielleicht können Sie Frank Glorianas Anwalt vorschlagen, er solle mit Laverne Willigan ein vertrauliches Gespräch führen. Vielleicht ist sie bereit, so viel von ihrem Schmuck zu verpfänden oder zu verkaufen, damit Franks Verteidigung gesichert ist. Als Gegenleistung müßte er natürlich auf die Erwähnung ihres Namens verzichten. Auf diese Vereinbarung, das empfehle ich dringend, sollte man sich jedoch erst einlassen, wenn Frank Ihnen gesagt hat, was er über die Rolle weiß, die seine Eltern bei der Ermordung der Gillsworths gespielt haben. Frank wird sich vielleicht weigern, auf meinen Vorschlag einzugehen, aber ich rechne damit, daß sein Anwalt, wenn Sie ihm die Sache auseinandergesetzt haben, Frank empfehlen wird, ihn anzunehmen – vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß die Staatsanwaltschaft die Anklage auf Diebstahl und Erpressung beschränkt.« »Ja«, sagte Al langsam, »das könnte hinhauen. Wir klären das Katznapping auf, und Frank gibt uns das an Informationen, was er über die Morde weiß. Er kommt mit einem blauen Auge davon. Sein Anwalt bekommt seine Gage. Und Lavernes Name wird aus der Sache herausgehalten. Alle sind glücklich. Ein schlauer Plan, Mr. McNally. Ich werde mit der Staatsanwaltschaft darüber sprechen.« Ich sah, daß er seinen Cognac ausgetrunken hatte und mein Glas langsam leer wurde, erhob mich und schenkte nach, ohne um Erlaubnis zu bitten. Mein Vater hatte keine Einwände, obwohl er seinen Drink kaum angerührt hatte. »Okay, Al«, meinte ich, »soviel zu dem Katznapping. Aber was ist mit den Morden?« Er seufzte schwer. »Hier ist die Kacke am Dampfen. Zuerst einmal muß man wissen, daß die ganze Geschichte damit begann, daß Roderick Gillsworth auf Irma Gloriana scharf war. Wir versuchen einen Gerichtsbeschluß zu erwirken, daß wir ihr Bankschließfach öffnen dürfen, aber auch ohne die Briefe, die er ihr geschrieben hat, 259
haben wir als Beweis sein handschriftliches Testament und die erotischen Gedichte, die er zu schreiben begann, nachdem er sie kennengelernt hatte. Es ist offensichtlich, daß er verrückt nach ihr war.« »Aber er war auch mittellos«, stellte ich fest. »Richtig«, meinte Al. »Was nicht geeignet war, Irmas Herz zu gewinnen. Also schlug Gillsworth, der wußte, daß er der Erbe seiner Frau war, vor, sie zu beseitigen. Irma sagte, sie könne das veranlassen, wenn Gillsworth ihr seinen dann zu erwartenden Reichtum überschreibe. Er wollte Irma wohl heiraten, sobald Lydia tot war, wußte aber nicht, daß Irma bereits verheiratet war. Und sie war nur bereit, ihn zu heiraten, wenn er Witwer war und sie zur Alleinerbin seines Vermögens eingesetzt hatte. Ich denke, er schrieb dieses Testament und unterzeichnete es frohen Herzens, weil er wußte, daß er dieses handgeschriebene Testament jederzeit außer Kraft setzen konnte, indem er einen neuen letzten Willen schrieb für den Fall, daß Irma ihr Versprechen nicht hielt. Habe ich recht, Herr Rechtsanwalt?« »Ja«, sagte mein Vater langsam, »grundsätzlich ist das richtig. Das vor dem Tod zuletzt aufgesetzte Testament hat Vorrang. Aber da gibt es etwas, was Sie über dieses handschriftliche Testament wissen sollten, Sergeant. Es wurde vor etwa einem Monat aufgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt lebte Lydia Gillsworth noch. Die Gesetze Floridas besagen, daß der überlebende Ehegatte eines Erblassers einen Anspruch auf dreißig Prozent des Vermögens des Erblassers hat, unabhängig von der Verfügung des Erblassers.« Al war verblüfft. »Heißt das, Gillsworths handschriftliches Testament war null und nichtig, als es geschrieben wurde?« »Nicht unbedingt«, erwiderte mein Vater. »Doch wenn Gillsworth vor Lydia gestorben wäre und ein entsprechendes Vermögen hinterlassen hätte, hätte Lydia sein Testament entweder anerkennen oder es anfechten und so ihre rechtmäßigen dreißig Prozent beanspruchen können. Doch die ganze Frage ist rein akademisch, da Lydia 260
vor Gillsworth starb. Wenn er vor ihr gestorben wäre, hätte er kein Vermögen gehabt, das er ihr hätte hinterlassen können.« »Nun ja«, sagte Al kopfschüttelnd, »ich weiß nur, daß Gillsworth in dem Augenblick, als er dieses Testament schrieb, sein eigenes Todesurteil unterzeichnete. Ich denke, daß Irma und Otto Gloriana das von Anfang an geplant haben, aber Gillsworth war zu sehr auf Irma fixiert, um das zu merken. Zuerst erledigten sie Lydia. Das machte Gillsworth zu einem reichen Mann. Dann wurde er selbst umgelegt, damit er Irma gemäß seinem letzten Willen reich machte.« »Wahrscheinlich haben Sie recht, Sergeant«, stimmte mein Vater zu. »Aber wieviel können Sie beweisen?« »Daß Otto Gloriana Lydia den Schädel mit einem Spazierstock einschlug? Hier reichen die Beweise zur Anklageerhebung nicht aus. Aber bei der Ermordung Gillsworths liegen die Dinge ganz anders, da ein Selbstmord vorgetäuscht wurde. Wichtigster Beweis ist, daß wir eine Packung Rasierklingen im Haus vier des Motels fanden. Otto rasierte sich damit. Dieselbe Marke lag auf der Badematte neben Gillsworths Leiche.« Mein Vater war offensichtlich enttäuscht. »Kaum ein überzeugender Beweis«, sagte er. »Ich stimme Ihnen zu«, meinte Al. »Aber wir haben etwas viel Besseres. Irma Gloriana behauptet, daß sie ihren Mann begleitet hat, als er das Haus von Gillsworth betrat, um ihn zu töten. Sie erklärt zwar, nicht Zeugin des Mordes gewesen zu sein, doch Otto habe vorher seine Absicht geäußert, Gillsworth umzubringen, und sich dessen anschließend gerühmt.« Mein Vater und ich waren erstaunt. »Warum, zum Teufel, sollte sie das zugeben?« rief ich. »Das macht sie zur Mittäterin.« »Warum?« sagte Al angewidert. »Weil sie glaubt, damit aus der Geschichte heraus zu sein. Otto ist tot. Er kann weder widerlegen, 261
was sie sagt, noch sich sonst verteidigen. Also behauptet seine Witwe jetzt, er allein sei der Mörder. Irma zufolge war sein Motiv, den Mann zu töten, der eine Affäre mit seiner Frau hatte. Er hatte es gemerkt, wie Irma sagt, und schwor Rache. Er wußte, daß sie im Haus von Gillsworth zum Abendessen verabredet war, setzte ihr eine Waffe an den Kopf und zwang sie zu läuten, um so Zutritt zum Haus zu erlangen und Gillsworth zu töten. Sie sagt, sie habe Todesangst vor Otto gehabt, einem Mann, der wegen seiner Gewalttätigkeit bekannt ist und bereits gesessen hat; an der Ermordung von Gillsworth sei sie total unschuldig. Sie wurde dazu gezwungen, war in Todesangst. Und da sie nicht an der Ermordung beteiligt war, ist sie frei wie ein Vogel und kann Gillsworths Vermögen erben. Sie könnte damit durchkommen. Das ist genau die Art von Geschichte, die eine Jury ihr abkaufen würde, sollte ihr je der Prozeß gemacht werden. Und sie hat einen verdammt cleveren Anwalt, der ihr wahrscheinlich einen hübschen Prozentsatz des Vermögens von Gillsworth als Honorar berechnen wird.« Vater und ich blieben stumm. Al hatte recht. Irma Gloriana hatte eine Verteidigung ausgeheckt, mit der sie durchkommen konnte. Wenn sie ihre Geschichte dem Richter und den Geschworenen mit der ganzen Überzeugungskraft vortrug, zu der sie, wie ich wußte, fähig war, standen ihre Chancen gut, den Gerichtssaal als freie Frau zu verlassen. Ihre einzige Sorge würde sein, wie lange es dauern würde, bis Gillsworths Testament bestätigt war und sie seine Millionen kassieren konnte. Ich stand wütend auf, um unsere Gläser nachzufüllen. »Herr Rechtsanwalt«, sagte Al, »es trifft doch zu, daß laut Gesetz des Staates Florida ein Mörder nichts von seinem Opfer erben kann, nicht wahr?« Mein Vater nickte. »Dann werde ich«, fuhr Al entschlossen fort, »diese Dame überführen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Sie ist schuldig wie 262
nur was, und ich will nicht, daß sie auch nur einen Cent bekommt.« Während ich all dem zuhörte, sah ich plötzlich klar. Ich wandte mich an die beiden Männer. »Da gibt es etwas, das ihr wissen solltet«, sagte ich, »und ich denke, es wird der Sache der Gerechtigkeit dienen. Otto Gloriana hat Lydia nicht ermordet. Und Irma tat es auch nicht. Gillsworth ermordete seine Frau.« Mein Vater schaute mich so traurig an, als sei ihm endlich klar geworden, daß sein einziger Sohn völlig durchgedreht war. »Unmöglich, Archy«, brachte er mit belegter Stimme hervor. »Du und ich haben in diesem Raum gesessen und gehört, wie Gillsworth mit seiner Frau telefonierte. Sie lebte, als er uns verließ.« Ich machte eine richtige Schau daraus, auf meine Armbanduhr zu blicken. »Verdammt!« sagte ich. »Es ist schon spät, und ich hatte Binky Watrous versprochen, ihn zu Hause anzurufen. Darf ich dein Telefon benutzen, Vater?« Er funkelte mich wütend an. »In diesem Augenblick willst du ein Privatgespräch führen? Hat das nicht Zeit?« »Nein«, erwiderte ich. »Es ist wichtig.« »Also gut«, sagte er verärgert. »Mach's kurz.« Ich benutzte das Telefon auf seinem Schreibtisch, wählte eine Nummer und wartete einen Augenblick. »Binky?« fragte ich. »Archy McNally hier. Wie geht's? Freut mich, das zu hören. Sag mal, wie wär's mit einem Abendessen morgen im Pelican Club? Gut. Gegen acht? Na, herrlich. Bis dann, Binky.« Ich legte auf und wandte mich an meinen Vater und Al. »Mit wem habe ich gerade gesprochen?« fragte ich sie. Sie schauten einander an, und dann sagte Al: »Na, du hast mit einem Knaben namens Binky gesprochen.« »Binky Watrous ist in Portofino«, sagte ich sanft. »Er ist dort seit zwei Wochen und wird noch zwei weitere dort verbringen. Ich habe mit einem Freizeichen gesprochen.« Natürlich kapierten sie sofort. Al schlug sich die Hand vor die 263
Stirn, stand dann auf und begann erregt im Kreis herumzulaufen. »Reingelegt«, stöhnte er, und seine Stimme war ein Gurgeln. Mein Vater schüttelte fassungslos den Kopf. »Vater«, sagte ich, »du und ich, wir haben nicht gehört, daß Gillsworth mit seiner Frau sprach. Wir hörten ihn reden, aber das war auch alles, was wir hörten. Wir haben einfach vorausgesetzt, seine Frau lebe und unterhalte sich mit ihm.« Er seufzte schwer. »In meinem ganzen Berufsleben habe ich stets versucht, die Menschen und ihr Handeln zu durchschauen, und doch habe ich mich von Gillsworth täuschen lassen. Der Mann war ein perfekter Schauspieler.« »Das mußte er auch sein«, betonte ich. »Sein Schicksal hing davon ab. Ich vermute, er ermordete seine Frau etwa eine Stunde, bevor er hier eintraf. Er ermordete sie vorsätzlich, um ihr Vermögen zu erben und Irma Gloriana heiraten zu können, genau so, wie der Sergeant es geschildert hat. Er hat die Standuhr eine Stunde vorgestellt und sie umgeworfen, damit sie stehen blieb. Dann zog er sich frische Kleidung an und kam in unser Haus.« »Augenblick mal«, wandte Al ein, der sich wieder setzte. »Wenn das stimmt, was du sagst, dann traf Lydia eine Stunde vor dem Zeitpunkt zu Hause ein, den Gillsworth nannte. Aber Irma hat gesagt, Lydia sei länger auf dieser Seance geblieben.« »Das ist ganz einfach«, erwiderte ich. »Irma hat dich belogen. Sie hat Gillsworth ein Alibi geliefert. Und ihr Preis für diese Lüge war das handschriftliche Testament.« »Ja«, meinte mein Vater, »das klingt glaubhaft.« Al stieß einen Fluch aus. »Ich hatte diesen Vogel von Anfang an in Verdacht«, sagte er wütend. »Der Ehegatte ist bei einem Mordfall immer erste Wahl. Aber ich kam nicht an diesem Anruf vorbei, den er von hier aus gemacht hat. Wie bist du auf den Trick mit dem toten Telefon gekommen, Archy?« »Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Vielleicht deshalb, weil ich 264
selbst ein Schwindler bin – wenn es die Situation erfordert.« »Wir wurden benutzt«, brummte mein Vater verärgert. »Roderick Gillsworth hat uns benutzt.« »Ja«, stimmte ich zu, »uns, seinen Anwalt und den Sohn seines Anwalts – perfekte Zeugen, die sein Alibi bestätigen sollten. Wir spielten eine wichtige Rolle in seinem Plan.« »Augenblick mal«, sagte Al plötzlich. »Archy, du behauptest, Gillsworth habe seine Frau ermordet und dann seine Kleidung gewechselt. Das kaufe ich dir ab, weil seine saubere Kleidung mich davon überzeugte, daß er unschuldig war. Aber was hat er mit seinen blutverschmierten Klamotten gemacht? Wir haben sofort nach unserem Eintreffen das ganze Haus danach durchsucht. Wir haben keine blutigen Kleidungsstücke gefunden. Er hatte weder die Zeit, sie zu verbrennen, noch sie irgendwo zu vergraben. Was hat er also damit gemacht?« Ich weiß nicht, warum ich dann sagte, was ich sagte. »Caprice!« rief ich. »Hast du Lydias Wagen durchsucht, Al?« Er starrte mich an. »Ich habe den Motorblock befühlt, um seine Temperatur zu prüfen, und ich habe den Kopf in den Wagen gesteckt, um festzustellen, wie lange die Klimaanlage schon ausgeschaltet war. Aber ich habe nicht den Kofferraum durchsucht.« Er stand auf. »Ich denke, ich werde das sofort tun. Ich habe noch die Schlüssel von Haus und Garage. Es ist gut möglich –« »Ich begleite dich«, unterbrach ich ihn. »Darf ich mich anschließen?« fragte mein Vater. Al zog seinen Regenmantel an und ging zu seinem Kombi hinaus. Ich nahm meinen großen Regenschirm. Mein Vater legte seine Regenjacke aus elfenbeinfarbigem, halb durchsichtigem Vinyl an. Er und ich liefen zu dem Lexus hinaus, und wir folgten Als Wagen südwärts zum Haus der Gillsworths. Wir fuhren auf die Auffahrt, stiegen aus, und ich spannte meinen Regenschirm auf. Al schloß das Garagentor auf. Wir gingen hinein, und Al schaltete das 265
Licht ein. Der graue Bentley stand dicht neben dem weißen Caprice. Diese beiden stummen, leeren Wagen, deren Eigentümer ermordet worden waren, strahlten etwas unbeschreiblich Trauriges aus. Al untersuchte das Kofferraumschloß des Caprice. »Das bekomme ich so nicht auf«, meinte er. »Dazu braucht man einen Chirurgen.« Er ging zu seinem Wagen hinaus und kam mit einer schweren Brechstange zurück. »Schauen Sie in die andere Richtung, meine Herren«, meinte er übertrieben scherzhaft. »Dann können Sie nicht gegen mich aussagen.« Aber wir schauten dennoch zu, wie er das flache Ende in die Lücke neben dem Schloß rammte und dann sein ganzes Gewicht auf die Brechstange legte. Das Schloß sprang knirschend auf. Al hob den Kofferraumdeckel. Ein blauer Plastikmüllsack lag unmittelbar neben dem Reserverad. »Volltreffer«, sagte Al leise. Er benutzte die Brechstange, um den Sack aufzuschlitzen, und zog dann den Inhalt heraus. Wir sahen Hausschuhe, T-Shirt und eine Khakihose. Und ein Paar Latexhandschuhe. Alles war mit dunklem Blut befleckt. »Er hat nicht viel angehabt«, stellte ich fest. »Hast du erwartet, er würde seine Frau in Frack und Zylinder umbringen?« fragte Al. Er ließ den Sack mit der Kleidung im Kofferraum und klappte den Deckel zu. »Ich werde das Telefon im Haus benutzen. Für das Zeug brauche ich Labortechniker. Ich denke, damit ist der Fall klar.« »Aber ganz sicher«, sagte ich. »Die Kleidung wird anhand der Wäschemarken als die Gillsworths identifiziert werden und das Blut als das von Lydia. Das handschriftliche Testament und diese Briefe, die er an Irma geschrieben hat, liefern das Motiv. Hertha Gloriana hat mir erzählt, daß Gillsworth häufig in das Büro kam und er und Frank in ein Nebenzimmer gingen, um miteinander zu sprechen. Frank wird wahrscheinlich bestätigen, daß Gillsworth die Drohbriefe an seine Frau verfaßt und verschickt hat. Du hast einen klaren 266
Fall, Al.« »Dem pflichte ich bei«, meinte mein Vater. »Ich glaube, daß das Gericht nach Vorlage des eben entdeckten Beweismaterials es als erwiesen ansehen wird, daß Roderick Gillsworth seine Frau ermordet hat. Meine Glückwünsche, Sergeant. Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen.« Al war verwirrt. »Welcher Wunsch?« »Sie wollten nicht, daß Irma Gloriana auch nur einen Cent bekommt. Da bewiesen ist, daß Gillsworth seine Frau tatsächlich umgebracht hat, ist er nicht berechtigt, Erbe ihres Vermögens zu sein. Und deshalb wird Irma, selbst wenn sie freikommt, nichts von Gillsworth erben.« Al verließ die Garage und wandte sein Gesicht dem Himmel zu. »Danke, lieber Gott.«
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D
ie Party zum vierten Juli, die Lady Cynthia Horowitz gab, wurde von weit über hundert angesehenen Einwohnern von Palm Beach besucht, von denen die meisten sich kannten. Es war eine Gesellschaft, auf der man schwarze Schleifen zu tragen hatte, und die Damen nutzten die Gelegenheit, um endlich einmal ihre Tennisklamotten ablegen und in neue Abendgewänder schlüpfen zu können, die sie in Designerboutiquen an der Worth Avenue erstanden hatten. Es war eine außergewöhnliche Fete, über die noch Wochen später gesprochen wurde. Im Poolbereich hinter dem Horowitzschen 267
Haus waren drei Bars aufgebaut worden, eine sechsköpfige Tanzkapelle spielte, und die Büffets waren so schwer mit exotischen Eßwaren beladen, daß sich die Balken bogen. Diese Fete war von Connie Garcia, Lady Horowitzens Sekretärin, geplant und vorbereitet worden. Kurz nach unserer Ankunft verließ ich meine Eltern, angelte mir von der nächsten Bar einen Drink und machte mich auf die Suche nach Connie. In der Tasche meines Dinnerjacketts steckte das Tennisarmband. Es war eine Nacht der Wiedergutmachung. Ich fand sie beim Verlesen der Anklage gegen den Bevollmächtigten eines Partyservices, der offensichtlich nicht wie versprochen Amarettotorte geliefert hatte. Ich wartete, bis Connie mit ihrer Tirade fertig und der arme Kerl in Schande davongejagt worden war. Dann erst trat ich näher. Connie sah absolut umwerfend aus. Sie trug ein hautenges silbernes Kleid aus einem metallischen Gewebe, und mit ihrem langen schwarzen Haar und ihrer prächtigen Sonnenbräune bot sie ein Bild, das mich zu der Frage veranlaßte, warum ich anderen Frauen auch nur einen Blick schenkte. Den Blick, den sie mir schenkte, kann ich nur als vernichtend bezeichnen. »Ich will mit dir nicht sprechen«, sagte sie kalt. »Connie, ich –« »Du hast mich nicht angerufen.« »Connie, ich –« »Dir war völlig egal, ob ich lebe oder tot bin.« »Connie, ich –« »Ich will dich nie wiedersehen. Niemals, niemals wieder!« »Connie!« rief ich. Ich zog das in Geschenkpapier gewickelte Päckchen aus meiner Tasche, reichte es ihr und sprach ernst und schnell, um jeder Unterbrechung vorzubeugen. »Nichts, was du mir sagen könntest, ist schlimmer als das, was ich mir selbst gesagt habe. Ich habe mich grausam und herzlos benommen und schäme mich des268
sen. Ich möchte, daß du dieses Geschenk annimmst. Ich weiß, daß es keine Entschuldigung für mein schändliches Verhalten geben kann, aber diese kleine Gabe sagt dir, was ich für dich empfinde.« Sie nahm das Geschenk vorsichtig entgegen und schaute mich dabei etwas weicher an. Dann erwiderte sie aber: »Dies wird nichts zwischen uns wieder in Ordnung bringen. Das weißt du doch?« »Natürlich. Es ist als Bitte gedacht, dir durch mein künftiges Verhalten beweisen zu dürfen, wie aufrichtig ich die Vernachlässigung der letzten Zeit bedaure und daß ich entschlossen bin, dich künftig mit der Achtung und der Liebe zu behandeln, die du verdienst. Nun öffne es.« Sie riß die Verpackung auf, öffnete den Deckel und nahm das Geschenk heraus. Ich sah, wie ihre schimmernden Augen sich weiteten. Sie war überwältigt. »Wundervoll!« rief sie, und eine innige Umarmung belohnte mich. Sie bestand darauf, das Armband sofort zu tragen, und schwor, es nie wieder abzulegen. Dann schmiedeten wir Pläne. Nach dem Feuerwerk, das für Mitternacht geplant war, würde sie noch bleiben müssen. Ihre Anwesenheit war so lange erforderlich, bis die meisten Gäste gegangen waren. »Wahrscheinlich werde ich nicht vor zwei Uhr wegkommen«, sagte sie. »Kannst du auf mich warten, Archy?« »Das kann ich«, meinte ich. »Mit Freuden. Aber ich fürchte, ich werde den Drinks nicht widerstehen können. Gegen zwei Uhr früh liege ich vielleicht im Koma.« »Das können wir uns nicht leisten«, erwiderte sie. »Ich möchte, daß du heute nacht wach und liebevoll und im Vollbesitz deiner Kräfte bist. Ich schlage dir folgendes vor: Ich gebe dir meine Hausschlüssel, und du gehst in meine Wohnung, wann du willst, und wartest dort auf mich. Ich werde dort sein, sobald ich mich hier losmachen kann.« 269
Und genau so taten wir's. Ich verließ die Party mit glänzenden Augen, noch bevor das Feuerwerk begann, und fuhr zu Connies Wohnung, die sich im vierzehnten Stock eines Hochhauses mit Blick auf den Lake Worth befindet. Ich fühlte mich wie zu Hause, da ich schon viele Male zuvor dort gewesen war. Einen Wodka in der Hand trat ich auf den Balkon und schaute zu, wie das Feuerwerk in West Palm Beach begann. Ich wußte, daß ich ein paar Stunden Zeit hatte, bis Connie kam, aber ich schwor mir, nur mäßig zu trinken und nüchtern zu bleiben. Und dieses einsame Warten gab mir Gelegenheit, über all das nachzudenken, was während der vergangenen vierzehn Tage geschehen war. An dem verregneten Dienstag waren mein Vater und ich, nachdem wir von der Garage der Gillsworths nach Hause gefahren waren, in sein Arbeitszimmer gegangen, um einen Schlummertrunk zu nehmen. Wir sprachen über den Ausgang der Ermittlungen in Sachen des Katznappings und der beiden Morde und tauschten Platitüden über die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens. Dann schaute mein Vater mich mit einem sonderbaren Lächeln an. »Archy«, sagte er, »du glaubst sicher, daß Lydias Geist zurückgekehrt ist, um ihren Mann zu verfolgen.« »Ja«, erwiderte ich. »Ich vermute so etwas.« »Unsinn, Archy.« Jetzt aber, da ich auf dem Balkon saß, am Wodka nippte und das Feuerwerk betrachtete, fragte ich mich, ob es nicht vielleicht doch eine übernatürliche Welt jenseits von Vernunft und Logik gab. Hertha Gloriana hatte gewußt, daß der Brief, den sie von Connie bekommen hatte, getürkt war, und sie hatte das Zimmer, in dem Peaches gefangengehalten wurde, gut beschrieben. Dafür mochte es vernünftige Erklärungen geben. Sicher aber gab es keine logische 270
Erklärung dafür, daß Hertha während der Seance mit Lydias Stimme »Caprice! Caprice!« schrie. Und was war der Grund, daß ich so prompt »Caprice!« gerufen hatte, als Al fragte, wo die blutverschmierte Kleidung des Mörders versteckt sein könnte? Ich grübelte lange Zeit darüber nach, dachte an Herthas psychische Talente, an die Existenz von Geistern und die unbegreiflichen Kundgebungen des Übernatürlichen, die ich unlängst erlebt hatte. Das Feuerwerk endete im selben Augenblick, als ich zu dem Schluß kam, daß ich die Wahrheit nie erfahren würde. Dann aber erkannte ich, daß das ganze Thema gefährlich ernst zu werden drohte, und so erinnerte ich mich entschlossen daran, daß das Leben ein Scherz ist. Und als Connie schließlich erwartungsvoll eintraf, eilte ich zu ihr und umarmte sie, begierig auf Stunden der Freude und der Lust.
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